Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2010 > Europäisches Parlament (EP)
Abordnen oder wählen? Diese Frage stellt sich, wenn es darum geht, welche 15 neuen Mitglieder in das Europäische Parlament entsendet werden. Dass es künftig mehr Abgeordnete geben wird, liegt in der Tatsache begründet, dass bei der letzten Wahl noch der Vertrag von Nizza in Kraft war. Danach gehörten dem Europaparlament 736 Abgeordnete an. Seit Dezember 2009 gilt jedoch der Vertrag von Lissabon, wonach im Parlament 751 Abgeordnete sitzen. Da zudem während der laufenden Legislaturperiode demokratisch gewählte Abgeordnete nicht "zurückgeschickt" werden können, gibt es bis zum Sommer 2014 im Europaparlament noch drei "Überhangmandate". Statt der im Lissabon-Vertrag festgelegten Obergrenze von 751 Sitzen soll es 754 Sitze haben.
Ein Vorschlag der spanischen Ratspräsidentschaft, der auch von Frankreich unterstützt wird, sieht vor, dass die zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Parlaments aus der Mitte der nationalen Parlamente heraus benannt werden sollen. Gegen eine solche "Benennungspraxis" richtet sich ein Antrag von CDU/CSU und FDP (17/1179), der am Donnerstag, 6. Mai 2010, ab 19.50 Uhr 45 Minuten lang abschließend beraten wird.
Darin heißt es, der spanische Vorschlag weiche vom Lissabon-Vertrag ab, weshalb es ”grundlegende Bedenken" dagegen gebe. In der Vorlage wird weiter gefordert, dass die Bundesregierung den Bundestag gemäß dem Gesetz zur Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union fortlaufend über die weiteren Beratungen unterrichten solle.
Auch solle sie ihre eigene Haltung zu den im Vorschlag der spanischen Regierung enthaltenen Optionen deutlich machen. Wissen wollen die Koalitionsfraktionen zudem, welche "schwerwiegenden Gründe" es gegebenenfalls notwendig machen, die zusätzlichen Mandate nicht auf Grundlage der letzten Europawahlen oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen zu vergeben.
Auch die Sozialdemokraten fordern in ihrem Antrag (17/235) ein "Einvernehmen zwischen Bundestag und Bundesregierung" in der Frage der Erweiterung des Europaparlaments. Sie lehnen es ab, dass die zusätzlichen Mitglieder durch die nationalen Parlamente bestimmt werden dürfen.
Der SPD-Europaexperte Axel Schäfer nannte ein solches Vorgehen in der ersten Lesung der Anträge im Bundestag im Dezember 2009 inakzeptabel. "Parlamentarier", betonte Schäfer, "werden nicht delegiert." Zum Koalitionsantrag und zum SPD-Antrag liegt eine Beschlussempfehlung des Europaausschusses vor (17/1460).
Auch die Grünen lehnen eine Ernennung der Abgeordneten durch nationale Parlamente ab, wie aus ihrem Antrag (17/1417) hervorgeht, der am 6. Mai ebenso wie ein Antrag der Linksfraktion (17/1568) direkt abgestimmt werden soll.
Dass unter den deutschen Europapolitikern aller Fraktionen Einigkeit in der Ablehnung der Abordnungspraxis herrscht, wurde auch in einer öffentlichen Sitzung des Europaausschusses des Bundestages am 5. März, an der auch zahlreiche Europaabgeordnete teilnahmen, deutlich.
Übereinstimmend wurde die Forderung erhoben, die neuen Abgeordneten entweder in einer Nachwahl zu ermitteln oder entsprechend dem Ergebnis der Europawahl im Juni 2009 nachrücken zu lassen.
Jo Leinen, Europa-Abgeordneter der SPD, erinnerte dabei daran, dass bis 1979 die Abgeordneten des Europaparlaments entsandt worden seien. Seither würden sie jedoch direkt gewählt. Seine Fraktion lehne es ganz klar ab, die ”Uhr zurückzudrehen". ”Eine Ernennung ist nicht akzeptabel", sagte er. Auch Frankreich, das sich derzeit für eine solche ”Abordnungspraxis" ausspreche, müsse in der Lage sein, das Problem über ”Nachrücker" zu regeln.
Eine Benennung sei mit den Grundsätzen des Vertrages von Lissabon nicht vereinbar, sagte Michael Link von der FDP-Bundestagsfraktion. Daher habe seine Fraktion ”schwerwiegendste Bedenken gegen ein solches Verfahren".
Peter Dieter Jahr (CDU), Mitglied der Unionsgruppe in der EVP-Fraktion des Europaparlaments, sprach von einem ”Systembruch", wenn neue Abgeordnete nicht durch Wahl oder Nachrücken in das Parlament kämen. Mit den Abgeordneten der französischen Assemblée nationale müsse sehr nachhaltig, aber auch freundschaftlich darüber gesprochen werden, ob nicht für die zwei nachrückenden französischen Europaparlamentarier das Prinzip Wahl oder Nachrücken greifen könne.
Aus Sicht von Alexander Ulrich, Bundestagsabgeordneter der Fraktion Die Linke, hätte es zu der aktuellen Situation nicht kommen müssen. Man hätte dem Grundsatz ”Wenn es Veränderungen gibt, dann erst nach der nächsten Wahl" folgen sollen. Da die Europawahl 2009 entsprechend der Vorgaben des Vertrages von Nizza abgelaufen sei, wäre es laut Ulrich ”logisch" gewesen, Veränderungen erst mit der Wahl 2014 greifen zu lassen.
Der Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Michael Cramer, lehnte eine Verschiebung auf 2014 ab. Für den Fall, dass die Verhandlungen mit Kroatien erfolgreich seien, würde das bedeuten, dass das Land von 2012 bis 2014 keine Abgeordneten im Europaparlament hätte.
Wie schon seine Vorredner sprach sich auch Cramer gegen eine Entsendung durch nationale Parlamente aus. ”Das geht überhaupt nicht", sagte er. Seiner Ansicht nach braucht es auch keine neue Wahl, sondern ein Nachrückverfahren. Würde man anders vorgehen, besteht aus seiner Sicht die Gefahr, dass potenzielle Nachrücker ihr Mandat einklagen können.