Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2010 > Dispozinsen
Einmütig wie selten haben Vertreter aller fünf Bundestagsfraktionen am Donnerstag, 30. September 2010, die Praxis vieler Banken gegeißelt, von ihren Kunden für Dispositionskredite Zinsen im zweistelligen Bereich zu verlangen. Manche dieser Forderungen grenzten an Wucher, so die einhellige Meinung. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis war hingegen umstritten: Die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen (17/3059) und Die Linke brachten jeweils einen Antrag (17/2913) ein, um Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite zu deckeln. Die Regierungsfraktionen sahen dagegen auch die Verbraucher in der Verantwortung und verwiesen auf eine Studie zur Untersuchung der Zinserhebung durch die Banken, die das Bundesministerium für Verbraucherschutz kürzlich in Auftrag gegeben hat.
Brisant ist das Thema, da die Europäische Zentralbank den Leitzinssatz im Mai 2009 als Reaktion auf die Finanzkrise auf ein historisches Tief gesenkt hat: Die Banken können sich seither zu einem Zinssatz von rund einem Prozent Geld leihen. Diese Vergünstigung geben sie aber nicht etwa durch geringe Dispozinsen an ihre Kunden weiter. Dies werteten alle Fraktionsvertreter als Problem.
Die verbraucherpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Caren Lay, sprach von "Dispo-Abzocke". Jeder sechste Bankkunde stecke zurzeit im Minus. Vor allem Erwerbslose und Geringverdiener seien auf Dispositionskredite und die von der Bank geduldete Überziehung des Girokontos angewiesen, weil dies häufig die einzige Möglichkeit für sie sei, an Geld zu kommen.
Dass die Banken den niedrigen Leitzinssatz der Europäischen Zentralbank nicht an ihre Kunden weitergebe, sondern stattdessen im Durchschnitt Dispozinsen von zwölf Prozent verlange, sei "skandalös". Die Linke fordere deshalb die Dispozinsen an den Basiszinssatz zu koppeln. "Zinsen müssen angemessen sein, Zinsexzesse auf Verbraucherkosten darf es nicht geben", sagte Lay. Das Problem bisher sei die mangelhafte Regulierung.
Die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Julia Klöckner (CDU), sagte, dass Bürger mitunter 17 oder 20 Prozent Überziehungszinsen zahlen müssen, "halte ich für unanständig". Eine Obergrenze einzuziehen, sei aber falsch und gehe an der "marktwirtschaftlichen Realität" vorbei.
Die Höhe der Zinsen für Dispokredite hänge auch von den anderen Angeboten der jeweiligen Bank ab, etwa um Betriebskosten für Angebote wie kostenlose Kontenführung oder ein großes Filialnetz auszugleichen. "Da müssen wir genau hinschauen, damit wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht einen Bärendienst erweisen", sagte Klöckner.
Bei einer starren Grenze könnte es sein, dass kleinere Banken im ländlichen Raum schließen müssten.
Der CDU-Rechtspolitiker Marco Wanderwitz erläuterte, warum Zinsen auf Dispositionskredite höher sind als bei allen anderen Kreditformen: Der Dispositionskredit sei "ein kurzfristig nutzbares Angebot zur Steigerung der finanziellen Flexibilität" der Kunden.
Diese könnten sich innerhalb ihres Disporahmens schnell mit Geld versorgen, ohne zusätzliche Sicherheiten zu stellen und sich einer nochmaligen Risikoprüfung zu unterziehen – und diese Flexibilität habe ihren Preis, betonte Wanderwitz. Wer längerfristig Kredit brauche, solle deshalb lieber einen anderen Kredit beantragen.
Da jedoch die Spanne der aktuell verlangten Dispozinsen zwischen sieben und 17 Prozent "schwer nachvollziehbar" sei, habe das Bundesministerium für Verbraucherschutz eine "ausführliche Studie" zum Zinsanpassungsverhalten der Banken in Auftrag gegeben. "Dort sehe ich die Baustelle", sagte Wanderwitz. "Aber darüber sollten wir sprechen, wenn wir das Ergebnis der Studie haben."
Die SPD-Verbraucherexpertin Kerstin Tack kritisierte hingegen genau diesen Zeitaufschub. Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner habe es bereits im vergangenen Jahr als "nicht akzeptabel" bezeichnet, dass die Banken die niedrigen Leitzinsen nicht an die Verbraucher weitergäben. Seitdem habe sich aber nichts getan, so Tack.
Mit der neuen Studie gehe nur noch mehr Zeit ins Land, obwohl die Erhebung der Stiftung Warentest vorliege. Es gebe "akuten Handlungsbedarf" und kein Erkenntnisdefizit.
Der verbraucherpolitische Sprecher der FDP, Dr. Erik Schweickert, sah auch die Verbraucher in der Verantwortung. "Nicht nur der Staat hat lange über seine Verhältnisse gelebt." Häufig beginne das Schuldenmachen damit, dass die Konten überzogen würden. Der Notpuffer Dispokredit werde von vielen mittlerweile als ganz normale Geldbeschaffung gesehen, und das sei problematisch:"Es gibt kein Recht auf billige Schulden", sagte Schweickert.
Wer die Dispozinsen seiner Bank als zu hoch empfinde, könne zudem die Bank wechseln. Wenn Banken aber einen Dispozinssatz von 17 Prozent verlangten, grenze das an Wucher. Offenbar trete dieses Problem in "regionalen Clustern" auf. Deshalb habe er inzwischen das Bundeskartellamt aufgefordert, die Geschäftspraktiken der Banken zu prüfen.
Nicht jeder Kunde, der im Dispo sei, lebe über seine Verhältnisse, stellte dagegen Nicole Maisch, verbraucherpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, klar. Es gebe Menschen, die unverschuldet in Not geraten, und viele, die in der Wirtschaftskrise auf Kurzarbeit gehen mussten und "keine andere Möglichkeit haben, als auch mal das Konto zu überziehen“. Auch ein Bankwechsel bringe nicht viel, wenn alle Institute einer Region ähnlich hohe Dispozinsen verlangten.
Angesichts der Diskrepanz zwischen dem niedrigen Leitzins und den hohen Dispozinsen glaube sie eher an Marktversagen, so Maisch. Ihre Fraktion fordere in ihrem Antrag deshalb eine gesetzliche Obergrenze für Überziehungszinsen.
In einem solchen Korridor sei genug Spielraum für betriebswirtschaftliche Erwägungen der einzelnen Banken. Zudem müsse die Finanzaufsicht verbessert werden. "Wenn solche Wucherzinsen möglich sind, zeigt das, dass noch Einiges im Argen liegt", sagte Maisch. Die beiden Anträge wurden an den Rechtsausschuss überwiesen. (mey)