Expertengremium: Latenter Antisemitismus bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung

Inneres/Unterrichtung - 29.11.2011

Berlin: (hib/STO) Etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland weisen nach Angaben eines Expertengremiums latenten Antisemitismus auf. Diese Größenordnung gäben die vom „unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus“ ausgewerteten demoskopischen Untersuchungen übereinstimmend an, heißt es in einem als Unterrichtung durch die Bundesregierung (17/7700) vorliegenden Bericht des Gremiums zum Antisemitismus in Deutschland.

Darin wird „das rechtsextremistische Lager als nach wie vor wichtigsten Träger des Antisemitismus“ in der Bundesrepublik benannt. Dieser Befund werde „insbesondere durch die Tatsache unterstrichen, dass mehr als 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten durch Täter begangen werden, die dem rechten Spektrum zugeordnet werden“. Während der Antisemitismus im rechtsextremen Spektrum zum konstitituven Bestandteil der Ideologie und des Lagerzusammenhalts gehöre, sei dies beim Linksextremismus nicht der Fall, schreibt der 2009 vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) einberufene Expertenkreis weiter. Trotzdem gebe es unter Linksextremisten „auch Positionen, die einen antisemitischen Diskurs befördern können“. Als neuer Träger von Antisemitismus erweist sich dem Bericht zufolge inzwischen auch der Islamismus. Offen bleibt laut Expertenkreis die Frage, „ob und inwieweit der von extremistischen Islamisten auch in Deutschland propagierte islamistische Antisemitismus unter den hier lebenden Muslimen verbreitet ist“.

Wie aus der rund 200 Seiten umfassenden Unterrichtung weiter hervorgeht, nimmt die Bundesrepublik im Vergleich mit anderen europäischen Ländern hinsichtlich der Verbreitung antisemitischer Einstellungen einen Mittelplatz ein. Dabei sei zu betonen, dass Deutschland „trotz einer beständigen Auseinandersetzung mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und trotz einer weitgehenden öffentlichen Tabuisierung des Antisemitismus“ im Allgemeinen höhere Werte erreiche als Italien, Großbritannien, Niederlande und Frankreich. Dass die Bundesrepublik im europäischen Vergleich trotzdem einen mittleren Platz einnehme, sei „vor allem auf zum Teil extrem hohe Antisemitismuswerte in Polen, Ungarn und Portugal zurückzuführen“.

Der Bericht zeigt den Autoren zufolge, dass „in der deutschen Mehrheitsgesellschaft in erheblichem Umfang antisemitische Einstellungen in unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen vorhanden sind, die wiederum auf weitverbreiteten Vorurteilen und tief verwurzelten Klischees beziehungsweise auf schlichtem Unwissen über Juden und Judentum basieren“. Angesichts moderner Kommunikationsformen, wie sie insbesondere im Internet bestünden, sei „eine Verbreitung dieses Gedankenguts kaum zu unterbinden“. Die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus im öffentlichen Diskurs, die bisher für die Bundesrepublik kennzeichnend gewesen sei, drohe damit „entscheidend an Wirksamkeit zu verlieren“. Besonders gefährlich erscheine die „Anschlussfähigkeit des bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichenden und nicht hinreichend geächteten Antisemitismus für rechtsextremistisches Gedankengut“.

Zugleich verweist der Expertenkreis darauf, dass in Deutschland „auf den unterschiedlichen Ebenen von Staat und Gesellschaft gute Voraussetzungen für eine aktive Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bestünden. Künftig müsse es „um die Optimierung und den abgestimmten Ausbau beziehungsweise die Ergänzung vorhandener Strukturen gehen“. Dazu bedürfe es des Zusammenwirkens von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, Kirchen und Initiativen sowie „spezifischer Maßnahmen auf den einzelnen Ebenen von Politik und Gesellschaft“, schreiben die Autoren des Berichts. Zugleich legen sie eine Reihe konkreter Handlungsvorschläge vor. So empfehlen sie beispielsweise, dass die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ antisemitische Stereotypisierungen und antisemitische Inhalte im Internet thematisiert und ihrerseits entsprechende Empfehlungen erarbeitet oder dass über die bestehenden Angebote für Opfer rechtsextremer Gewalt hinaus speziell auch für Opfer antisemitischer Übergriffe Hilfsangebote bereitgestellt werden.

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