Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Herr Sejmmarschall!
Herr Professor Schröder! Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!
"Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!" hatte Erich Honecker noch Anfang Oktober 1989 anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gesagt. Vier Wochen später fiel die Mauer, weniger als ein halbes Jahr danach war die kommunistische Regierung durch freie Wahlen gestürzt, ein Jahr später der Staat aufgelöst: Die DDR hatte sich durch Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit der Bundesrepublik Deutschland vereinigt. Es waren nicht Ochs und Esel, es waren die Menschen, die den Sozialismus 1989 nicht nur aufhielten, sondern ihn ersetzten: durch die Freiheit. Einigkeit und Recht und Freiheit.
In diesen Tagen und gerade heute gilt unsere besondere Sympathie und Solidarität den Menschen im Iran, die nach Wahlen, an deren offiziellem Ergebnis sie begründete Zweifel haben, in eindrucksvollen Demonstrationen für Freiheit und Demokratie eintreten.
Um die Freiheit ging es den Menschen auch am 17. Juni 1953. Der Tag gehört deshalb zu den herausragenden Daten der jüngeren deutschen Geschichte. In der Begründung zu dem Bundesgesetz, das den 17. Juni noch im selben Jahr zum gesetzlichen Feiertag bestimmt hat, heißt es:
Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden.
Die Geschichte des 17. Juni 1953 ist, für sich betrachtet, die Geschichte einer Niederlage. Der Aufstand der Menschen in der DDR war brutal niedergeschlagen worden, und doch waren die Erhebungen von 1953 in der Rückschau der Beginn eines letztlich erfolgreichen Kampfes für die Freiheit. Fritz Stern, der als Junge mit seiner deutsch-jüdischen Familie 1938 aus Breslau vertriebene amerikanische Historiker, sagte bei seiner Rede zur Gedenksitzung des Deutschen Bundestages am 17. Juni 1987, also zwei Jahre vor dem Fall der Mauer:
Aus der heutigen Sicht kann man sehen, dass die damaligen Kämpfer mehr erreicht haben sowohl Erstrebtes wie Ungeahntes , als man nach ihrer Niederlage vor sowjetischen Panzern hätte erwarten können. Der 17. Juni wurde zu einem Vorboten von Aufständen und Reformen: Die Menschen der Nachbarländer der DDR, die Polen, die Ungarn, die Tschechen, haben auf ihre eigene großartige Weise versucht, ihre Forderungen durchzusetzen … Der 17. Juni hat einen Prozess eingeleitet, in dem immer erneute Forderungen Reformen erzwungen haben.
Viele Menschen in Westdeutschland werden den 17. Juni allerdings vor allem als arbeitsfreien Tag in Erinnerung haben, weniger als einen nationalen Gedenktag, vielmehr als einen Ausflugstag bei häufig schönem Wetter. Und wenn wir ehrlich sind, war das Gedenken an den 17. Juni 1953 in der alten Bundesrepublik für viele eher ein Ritual und in der früheren DDR, wie die Bundeskanzlerin es einmal knapp formulierte, ein "Untag" vermutlich bei jedem Wetter.
Seit der Wiedervereinigung haben wir die Möglichkeit, ein gemeinsames Verständnis des 17. Juni als eines nationalen wie eines europäischen Gedenktags in Ost und West zu entwickeln, ein Verständnis, das unser Gedenken an diesen Tag als Teil des Erinnerns der europäischen Freiheits- und Einheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts ansieht. Der Fall der Mauer vor 20 Jahren war nicht der Anfang, sondern der glückliche Abschluss einer Entwicklung, die viele Jahre früher begonnen und nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Mittel- und Osteuropa stattgefunden hat.
Ich freue mich deshalb, zur heutigen Gedenkfeier im Deutschen Bundestag neben zahlreichen Botschaftern dieser und anderer Staaten mit einer großen Delegation den polnischen Sejmmarschall, Bronislaw Komorowski, begrüßen zu können und mit ihm die Mitglieder des Präsidiums des polnischen Parlaments, die zur inzwischen jährlichen gemeinsamen Sitzung unserer beiden Parlamentspräsidien gestern und heute nach Berlin gekommen sind.
An die polnischen Verdienste um Freiheit und um die Einheit Deutschlands und Europas wird künftig ein Mauerstück der ehemaligen Danziger Lenin-Werft erinnern, das wir unmittelbar im Anschluss an diese Veranstaltung an der Ostfassade des Reichstagsgebäudes auf dem Friedrich-Ebert-Platz der Öffentlichkeit übergeben. Es handelt sich um einen Teil jener Mauer, über die Lech Walesa vor 29 Jahren, genau am 14. August 1980, sprang, um den Streik zu organisieren, der zur Gründung der Solidarnosc-Gewerkschaft führte. "Zur Erinnerung an den Kampf der Solidarnosc für Freiheit und Demokratie und an den Beitrag Polens zur deutschen Wiedervereinigung und für ein politisch geeintes Europa", so lautet der Text der an dieser Mauer angebrachten Bronzetafel. Sie ist ein Zeichen, ein sichtbares Zeichen der Erinnerung an eine oft nicht einfache, nicht immer glückliche, aber jedenfalls gemeinsame Geschichte unserer beiden Länder, die in der Formulierung des unvergessenen großen polnischen Papstes Johannes Paul II. "der Wille Gottes zu Nachbarn gemacht hat".
Schon seit geraumer Zeit erinnert eine andere Gedenktafel an die Freundschaft zwischen Deutschland und Ungarn und die souveräne Entscheidung eines damals nicht gänzlich souveränen Landes zur Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich und die damit verbundene Entwicklung zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und Europas.
Mit Polen verbindet uns Deutsche der 17. Juni übrigens auch noch auf eine andere Weise als die Erinnerung an den Aufstand im Jahre 1953. Am 17. Juni 1991 nämlich unterzeichneten Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki in Bonn den deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Über diesen Vertrag sagte 1995 bei einer Veranstaltung von Bundestag und Bundesrat zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der damalige Außenminister Polens, Wladyslaw Bartoszewski, er bilde zusammen mit der Gemeinsamen deutsch-polnischen Erklärung vom 14, November 1989 und dem Deutsch-Polnischen Grenzvertrag "den Abschluss der tragisch belasteten Zeit in den gegenseitigen Beziehungen von Deutschen und Polen, eine optimistische Vorankündigung eines neuen Gefüges im Rahmen der gemeinsamen europäischen Ordnung". Am 17. Juni 1953 war von einer "optimistischen Vorankündigung eines neuen Gefüges im Rahmen der gemeinsamen europäischen Ordnung" keine Rede. Die damaligen Ereignisse wurden von Teilnehmern wie Beobachtern eher als eine tragische Episode wahrgenommen denn als Beginn einer neuen Epoche, als die sie sich heute darstellen.
Bis 1990 gab es nicht einmal die Möglichkeit, im Deutschen Bundestag einen Repräsentanten der Deutschen zu Wort kommen zu lassen, die damals gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Unfreiheit den Aufstand geprobt haben. Wir sind dankbar, dass mit Professor Richard Schröder heute jemand die Ereignisse des 17. Juni 1953 schildert und erläutert, der als Mitglied der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer maßgeblich an der Vollendung der Geschichte beteiligt war, die damals scheinbar gescheitert ist: der Weg der Deutschen zu Einigkeit und Recht und Freiheit.