Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität
Für eine Beschränkung der wirtschaftlichen Wachstumsraten auf 1,8 Prozent im globalen Schnitt plädiert der Schweizer Ökonom Prof. Dr. Hans Christoph Binswanger. Vor der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ unter Vorsitz von Daniela Kolbe (SPD) erklärte der Professor am Montag, 27. Juni 2011, eine solche Mäßigung sei notwendig, um den begrenzten ökologischen Ressourcen Rechnung zu tragen und um Finanzkrisen als Folge einer ungezügelten Vermehrung der Geldmenge samt eines unbegrenztes Wachstum entgegenzuwirken. Die Sitzung wird zeitversetzt am Dienstag, 28. Juni, ab 9 Uhr im Parlamentsfernsehen und im Web-TV auf www.bundestag.de übertragen.
Binswanger: "In einer begrenzten Welt ist unbegrenztes Wachstum nicht möglich.“ Die Wachstumsraten sollten nicht auf Null gesenkt, aber spürbar eingedämmt werden. Die Ausweitung der Geldmenge könne beschränkt werden, indem man Banken verpflichte, ihre als Buchgeld an Investoren vergebenen Kredite vollständig bei Zentralbanken zu hinterlegen und abzusichern.
Zudem forderte der 82-Jährige Änderungen beim Unternehmensrecht von Aktiengesellschaften mit dem Ziel, Gewinndruck und Wachstumszwänge zu vermindern.
Nach den Erläuterungen Binswangers vor den Abgeordneten und Sachverständigen der Kommission sind die Kreditfinanzierung von Firmen und damit die seit der Aufhebung der Goldbindung eigentlich unbeschränkte Geldschöpfung durch die Banken der Motor des wirtschaftlichen Wachstums.
Investitionen von Unternehmen würden mit Hilfe von Krediten getätigt, deren Refinanzierung inklusive Zinsen nur über Wachstum möglich sei. Auch der Gewinn der Firmen müsse über Wachstum erwirtschaftet werden. Ein Nullwachstum sei nach der Logik dieses Systems unmöglich.
Aus Sicht des Schweizer Wissenschaftlers birgt die im Prinzip unbegrenzte Wachstumsspirale jedoch ökonomische und ökologische Risiken in sich. Werde etwa im Zuge einer ungezügelten Wachstumsdynamik die Geldvermehrung zu stark ausgeweitet, wandere Geld in die Spekulation, wodurch Finanzkrisen nach dem Muster von 2008/2009 heraufbeschworen werden könnten.
Auch stehe einer unbegrenzten Wachstumsdynamik die Knappheit der nutzbaren natürlichen Ressourcen entgegen. Eine Steigerung der Energie- und Rohstoffeffizienz helfe indes nicht viel, wenn die globalen Wachstumsraten auf dem heutigen Niveau von vier bis fünf Prozent verblieben.
Binswanger sagte, eine hundertprozentige Hinterlegung der von Banken vergebenen Kredite bei den Zentralbanken verschaffe diesen die Möglichkeit, die Vermehrung der Geldmenge aktiv zu steuern und so von vornherein in einem sinnvollen Rahmen zu halten.
Zusätzlich werde die Wachstumsdynamik verlangsamt, wenn bei Aktiengesellschaften nur noch ein Teil der Aktien an den Börsen gehandelt werden dürfe. Weniger Wachstumsdruck geht laut Binswanger auch von Firmen aus, die als vollhaftende Gesellschaft oder als Stiftungen konzipiert sind.
In einer Stellungnahme zu Binswangers Ausführungen bezeichnete es der CDU-Abgeordnete Dr. Matthias Zimmer als Hauptproblem der Finanzkrise von 2008/2009, dass sich die Geldströme von der realen wirtschaftlichen Produktion abgekoppelt hätten.
Die SPD-Parlamentarierin Edelgard Bulmahn betonte, Geld werde auch benötigt, um Investitionen in Innovationen wie etwa in energiesparende Techniken zu finanzieren.
Der Sachverständige Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué kritisierte, in Binswangers Modell komme der technische Fortschritt als Wachstumsfaktor nicht vor.
Der Sachverständige Dr. Norbert Reuter sagte, in entwickelten Ländern werde es künftig ohnehin kaum noch höhere Wachstumsraten geben. Dort zeichne sich sogar die Gefahr einer Schrumpfung mit entsprechenden Krisen ab.
Für die Abgeordnete Kerstin Andreae von Bündnis 90/Die Grünen ist zur Eindämmung der Spekulation eine Finanztransaktionssteuer besser geeignet als eine Änderung des Aktienrechts.
Die Enquete-Kommission soll das rein ökonomisch und quantitativ ausgerichtete Bruttoinlandsprodukt als Messgröße für gesellschaftliches Wohlergehen weiterentwickeln und etwa um ökologische, soziale und kulturelle Kriterien ergänzen. Letztlich soll durch das Gremium erarbeitet werden, was als qualitatives Wachstum gilt und dass dazu auch die Entkoppelung des Ressourcenverbrauchs von der Steigerung der Wirtschaftsleistung gehört. (kos)