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„Bei Verkehrsprojekten muss mehr Bürgerbeteiligung und mehr direkte Demokratie praktiziert werden": Dies ist aus Sicht Dr. Anton Hofreiters eine zentrale Konsequenz aus dem Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 (S 21). Beim Thema Bürgermitsprache solle der Bundestag gesetzgeberisch aktiv werden, so der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Blick auf die Volksabstimmung am Sonntag, 27. November 2011, bei der die Baden-Württemberger endgültig über S 21 entscheiden sollen. Bei Verkehrsvorhaben müssten künftig alle Fakten frühzeitig auf den Tisch, mahnt der Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen im Interview. Im Fall von S 21 hätten auch die Bundestagsabgeordneten viele Informationen erst im Zuge von Heiner Geißlers Schlichtung erhalten. Das Interview im Wortlaut:
Angenommen, S 21 würde nach dem Referendum nicht verwirklicht: Was geschieht mit den 530 Millionen Euro, die im Bundesetat für dieses Projekt eingeplant sind? Wird das Parlament mit diesem Geld dann andere Verkehrsvorhaben bezuschussen?
Bei dieser Summe handelt es sich um sogenannte Sowieso-Kosten. Die 530 Millionen Euro fließen nicht in das Bahnhofsprojekt als solches, sondern sind für die Finanzierung des Anschlusses dieser Station an die Neubaustrecke Richtung Ulm gedacht. Diese Anbindung muss auf jeden Fall verwirklicht werden, unabhängig davon, ob der oberirdische Kopfbahnhof modernisiert oder ob eine neue unterirdische Station errichtet wird. Sollte es zu Letzterem nicht kommen, wird der Anschluss vielleicht etwas billiger werden.
Bei S 21 diente der Bundestag oft als Forum, um der einen oder anderen Seite politisch-mediale Vorteile in diesem Clinch zu verschaffen. Ist das eine sinnvolle Form des parlamentarischen Umgangs mit solchen Konflikten? Welche Lehren sollte der Bundestag aus seinen Erfahrungen mit S 21 ziehen?
Bei Verkehrsprojekten müssen künftig alle Daten und Fakten frühzeitig auf den Tisch. Je offener und transparenter solche Verfahren ablaufen, desto weniger werden die Auseinandersetzungen ideologisch geprägt sein und desto sachlicher kann auch im Bundestag gestritten werden. In Stuttgart erhielten selbst die Bundestagsabgeordneten erst im Zuge der Fernsehübertragungen von Heiner Geißlers Schlichtung mit ihrem Faktencheck viele Informationen zu S 21, die ihnen zuvor unbekannt waren. Das ist nicht akzeptabel.
Die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg will mit dem Plebiszit den hitzigen Konflikt um S 21 befrieden, da es so oder so eine demokratisch legitimierte Entscheidung geben wird. Sollte man das Instrument eines Referendums bei umstrittenen Verkehrsvorhaben wie Autobahnen, Bahnlinien oder Flughäfen generell häufiger einsetzen?
Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass bei Verkehrsprojekten mehr Bürgerbeteiligung und mehr direkte Demokratie praktiziert werden muss. Es wäre sehr hilfreich, wenn der Bundestag auf diesem Feld gesetzgeberisch aktiv werden würde. Aber es ist stets sehr genau zu überlegen, wer über solche Vorhaben abstimmen kann und wer nicht. In der Nachbarschaft von Flughäfen, Bahnstrecken oder Autobahnen, wo die Bevölkerung direkt betroffen ist, ist die Ablehnung solcher Vorhaben meist sehr groß, in weiter entfernten Regionen sieht das indes anders aus. Große Verkehrsprojekte haben aber oft eine überregionale Bedeutung, auf Autobahnen oder in Fernzügen sind ja nicht nur Leute aus der näheren Umgebung unterwegs.
Wie lässt sich denn dieses Problem lösen?
Ein Weg könnte sein, sich an der Schweiz zu orientieren. Dort wird auf nationaler Ebene über generelle Leitlinien der Verkehrspolitik abgestimmt, während über die konkrete Umsetzung einzelner Bahn- oder Straßenprojekte vor Ort entschieden wird. Beispielsweise könnte hierzulande auf Bundesebene ein Plebiszit über den Ausbau der Bahn samt Richtlinien zur Vertaktung von Verbindungen stattfinden. In den jeweiligen Regionen würden die Bürger dann über die Verwirklichung dieser Vorgaben befinden.
Geißlers Schlichtung bei S 21 ist auf viel Resonanz gestoßen. Sind solche Vermittlungen ein Weg, um beim Streit um große Verkehrsvorhaben allseits akzeptierte Lösungen zu ermöglichen?
Im Stuttgarter Fall war Geißlers Schlichtung der Versuch, einen völlig verfahrenen Konflikt zu einem späten Zeitpunkt noch in vernünftige Bahnen zu lenken. Das war ein Rettungsversuch in letzter Minute, sozusagen eine Notfallmedizin. Eine frühzeitig praktizierte Bürgerbeteiligung, die diesen Namen verdient, kann hingegen dazu führen, dass es zu einer solchen Eskalation wie in Stuttgart gar nicht erst kommt.
Wird im Verkehrsausschuss vom Montag an große Erleichterung herrschen, weil man nach dem Plebiszit den leidigen Streit um S 21 endlich los ist?
Ich fürchte, dass dieses Thema den Bundestag noch lange beschäftigen wird. Großprojekte dieser Art pflegen ein zähes Eigenleben zu entwickeln. So dauert die oft konfliktträchtige Bauphase recht lange, in Stuttgart wird ein Jahrzehnt veranschlagt. Und wenn S 21 über das Referendum gestoppt werden sollte, dann stellt sich die rechtlich komplizierte Frage nach der Auflösung der zwischen Bahn, Bund, Land sowie Stadt und Region Stuttgart geschlossenen Verträge. Der Bundestag wird auch künftig gefordert sein. (kos)