Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2011 > Demokratiebewegung in Russland
Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien sehen in den Protesten in Russland gegen die Duma-Wahlen ein hoffnungsvolles Zeichen. In einer fraktionsübergreifend beantragten Aktuellen Stunde würdigten die Abgeordnete am Donnerstag, 15. Dezember 2011, die friedlichen Demonstrationen vom vergangenen Wochenende als Ausdruck einer Zivilgesellschaft, die sich mit der Kreml-Politik der „gelenkten Demokratie“ nicht mehr abfinden wolle. Die Abgeordneten forderten von der russischen Führung eine Überprüfung der Duma-Wahl vom 4. Dezember, die Freilassung verhafteter Demonstranten und die Gewährleistung von Meinungs- und Pressefreiheit.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die Abstimmung beobachtet hatte, hat die Wahl als „weder frei, noch fair“ bezeichnet. Nach dem offiziellen vorläufigen Ergebnis hatte die Regierungspartei „Edinaja Rossija“ („Einiges Russland“) am Sonntag vor zwei Wochen einen Stimmenverlust von etwa 15 Prozent gegenüber den Wahlen von 2007 hinnehmen müssen.
Sie kam demnach auf knapp 50 Prozent der Stimmen. Russische Oppositionsgruppen warfen der russischen Regierung Verstöße gegen das Wahlrecht in mehreren Tausenden Fällen vor. Am vergangenen Wochenende demonstrierten in Moskau und anderen Städten mehrere Zehntausende Menschen gegen die Wahl und die Politik des Kremls.
Der Protest vom Wochenende habe „das zynische Modell der gelenkten Demokratie widerlegt“, sagte für die Unionsfraktion der Außenexperte Dr. Andreas Schockenhoff als erster Redner der Debatte und fuhr fort: „Eine Demokratie mit solchen Attributen funktioniert nicht.“ Der inszenierte Ämtertausch zwischen Premier Putin und Noch-Präsident Medwedew gelte vielen Russen nicht als Ausweis von Stabilität, sondern stehe für „Stillstand und Stagnation“.
Die demokratisch gesinnten „neuen Russen“ aus der wachsenden Mittelschicht hätten den Nichteinmischungsvertrag zwischen Kreml und Gesellschaft aufgekündigt. Sie seien „Mutbürger“, auf die der russische Staat als wichtigste „Modernisierungspartner“ genauso angewiesen sei wie nunmehr der Westen im politischen Dialog mit Russland, sagte Schockenhoff.
Als Ursache der Proteste nannte Franz Thönnes (SPD) neben den von der OSZE registrierten Wahlverstößen bei der Duma-Wahl vor allem den Eindruck vieler junger Russen, getäuscht und politisch gegängelt worden zu sein.
Neben einer umfassenden und objektiven Untersuchung der Wahlfälschungsvorwürfe forderte Thönnes die russische Führung auf, bei Präsidentschaftswahl im kommenden März die Wahlstandards des Europarats zu gewährleisten und unabhängige Beobachter nicht zu behindern. Es gelte nun, mit diesen Forderungen nicht nachzulassen, dabei aber stets die „Hand zur Korporation“ mit Russland ausgestreckt zu lassen, sagte der Außenexperte der Sozialdemokraten.
Als „Lebenszeichen der Zivilgesellschaft“ wertete Michael Link (FDP) die Proteste, die nicht nur viele Menschen im Westen überrascht habe, sondern auch den Kreml. Es zeige sich, dass die Russen die Kreml-Partei „Einiges Russland“ nicht nur abnicken wollen, sondern wirklichen politischen Wettbewerb wünschten. Die von der russischen Führung so häufig vorgetragene Stabilität sei mehr als eine Bestätigung des Status quo, sagte Link.
Stabil sei ein Land dann, wenn in ihm ein Regierungswechsel auf friedlichem und demokratischem Weg möglich ist. Als langfristiges Ziel nannte der Liberale die „völlige Visafreiheit“. „Wir brauchen eine Willkommenskultur“, sagte Link, damit junge Russen hier studieren und arbeiten und ihre Erfahrungen mit nach Hause bringen könnten.
Der Außenexperte der Linksfraktion, Wolfgang Gehrcke, forderte die sofortige Visafreiheit, „das wäre für Deutschland vernünftig und für Russland vernünftig“. Gehrcke mahnte, die Diskussion vor dem Hintergrund der deutsch-russischen Geschichte „nicht von oben herab“ zu führen. Er plädierte dafür, bei den Protesten genauer hinzuschauen.
Unter den Demonstranten seien auch nationalistische und rechtsextreme Gruppen gewesen, denen man eine deutliche Absage erteilen müsse, sagte Gehrcke. Das Duma-Wahlergebnis drücke sicherlich ein Protest der Mittelschichten gegen „den Zynismus der Macht“ aus, sagte der Linken-Abgeordnete, es enthalte jedoch auch „sozialen Protest“ von Armen und Modernisierungsverlierern.
Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) erinnerte daran, dass Putin in Deutschland als „lupenreiner Demokrat“ bezeichnet und von „vielen Seiten hofiert“ worden sei. Der viel zitierte „Wandel durch Annäherung“ entpuppe sich häufig als „Wandel durch Anbiederung“, sagte die grüne Sprecherin für Osteuropapolitik. Sie verwies auf Äußerungen des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft: Dieser hätte den angekündigten Wiederantritt Putins zur Präsidentenwahl öffentlich begrüßt und sich von einer weiteren Amtszeit Stabilität versprochen.
Ein Land, in dem Journalisten um ihr Leben fürchten müssten und in dem „Zehntausende Unternehmer“ staatlicher Willkür ausgesetzt seien, weil sich Beamte im Staatsapparat deren Betriebe einverleiben wollten – ein solches Land sei nicht stabil, sagte Beck. Die hohen Hürden bei Einreise und Arbeitserlaubnis in der EU, nannte Beck „einen Skandal“: „Wir brauchen Reisefreiheit für junge Menschen“, sagte die Abgeordnete. (ahe)