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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 12. Oktober 2009),
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat der letzte sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow die Umwälzungen des Jahres 1989 gewürdigt. In dem Jahr seien „Veränderungen vonstatten gegangen, die noch wenige Jahre zuvor undenkbar schienen“, sagte Gorbatschow in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 12. Oktober). So habe von der Berliner Mauer „manch einer geglaubt“, sie werde „ewig stehen“. Die Veränderungen seien jedoch kein Zufall gewesen, sondern „haben den Sehnsüchten der Menschen entsprochen“, betonte der Friedensnobelpreisträger, der mit seiner „Perestroika“-Politik maßgeblich zur Überwindung des Kalten Krieges beigetragen hatte.
Zugleich warf er dem damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker schwere Versäumnisse vor. Honecker habe „immer wieder zu verstehen gegeben, dass die notwendigen Reformen in der DDR bereits vor Jahren vollzogen worden seien“. Es habe sich aber herausgestellt, dass er damit „den Wechsel in der DDR-Führung“ von Walter Ulbricht zu sich selbst im Jahr 1971 gemeint habe.
Honecker habe „in den letzten Jahren des Bestehens der DDR eine Reihe von Fehlern gemacht“, kritisierte Gorbatschow weiter. Schließlich sei die DDR innerhalb des Warschauer Paktes das am höchsten entwickelte Land gewesen und hätte „bei einer kompetenten Führung über viele Möglichkeiten verfügt“. Vermutlich wäre dann „auch die deutsche Wiedervereinigung anders abgelaufen“. Die DDR habe diese Gelegenheit jedoch zu einem Zeitpunkt verpasst, als sich in Osteuropa und vor allem in der Sowjetunion „bereits kardinale Veränderungen vollzogen hatten“.
Gorbatschow wandte sich in diesem Zusammenhang gegen in einigen deutschen Zeitungen aufgetauchte Behauptungen, er habe eine Verschwörung zum Sturz Honeckers angezettelt. „So etwas hat es nicht gegeben und konnte es auch nicht geben“, betonte er. Schon kurz nach seiner Wahl zum KPdSU-Generalsekretär im Frühjahr 1985 habe die sowjetische Führung allen Staatsoberhäuptern des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe erklärt, sich nicht in deren innere Angelegenheiten einzumischen. Von dieser Haltung sei man „nie abgewichen“.
Vielmehr habe er „die Kollegen aus der DDR mit größter Offenheit und Ausführlichkeit über den Verlauf der Perestroika in der UdSSR, über ihre Ziele und Aufgaben sowie über die Schwierigkeiten informiert, mit denen wir konfrontiert waren“, erläuterte der frühere Staatspräsident. Gründe für ein solches Gespräch habe es gegeben, „denn wir wissen ja, dass das Volk der DDR Veränderungen herbeigesehnt“ habe. Honecker, der im Zuge der friedlichen Revolution in der DDR Mitte Oktober 1989 gestürzt wurde, habe darauf aber nicht reagiert.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Gorbatschow, wenn Sie sich an den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 zurückerinnern: Welche Episode steht Ihnen da besonders vor Augen?
Wenn ich eine Episode herausgreifen soll, dann ist das der abendliche Umzug am Vorabend des 7. Oktober. An diesem Tag hat die DDR ihren 40. Jahrestag begangen. Und an der Tribüne, auf der die führenden Repräsentanten der DDR und die Ehrengäste gestanden haben, bewegte sich wie ein brennender Fluss ein grandioser Fackelzug vorbei. Das waren vor allem Jugendliche, Funktionäre und aktive Mitglieder der Freien Deutschen Jugend.
Sie trugen Transparente und skandierten lautstark Losungen. Ich stand neben Hone-cker. Seiner Miene nach zu urteilen, schien er zufrieden zu sein, und er hat sogar im Takt mitgewippt. Er hat den Verlauf des Umzuges anscheinend wie üblich als Zeichen der Unterstützung für seinen Kurs betrachtet. Die Losungen haben jedoch etwas anderes besagt. Einige Gruppen haben „Gorbi, Gorbi!“ gerufen, andere trugen Transparente mit der Aufschrift „Gorbatschow, bleib bei uns!“ Sie haben die Ideen der in der UdSSR eingeleiteten Perestroika begeistert unterstützt. Damit haben die Bürger der DDR wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht, was sie wollten, nämlich Veränderungen.
Ohne Ihre Politik als Generalsekretär der KPdSU ab 1985 wäre die Überwindung des Kalten Krieges 1989/90 kaum vorstellbar. Haben Sie den Eindruck, dass dies noch hinreichend gewürdigt wird?
Das Jahr 1989 ist selbst in dieser stürmischen Zeit ein besonderes Jahr gewesen. Es hat sehr viele schicksalhafte Ereignisse bereitgehalten. Der Kalte Krieg ist beendet worden, in der UdSSR haben Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten stattgefunden und zugleich sind auch in anderen Ländern Osteuropas demokratische Wahlen abgehalten worden. Und die Berliner Mauer, von der manch einer geglaubt hatte, sie werde ewig stehen, ist gefallen. Kurz gesagt, in diesem Jahr sind solche Veränderungen vonstatten gegangen, die noch wenige Jahre zuvor undenkbar schienen. Aber das war kein Zufall. Die Veränderungen haben den Sehnsüchten der Menschen entsprochen.
Heute sehen wir, wie die gegenwärtigen Politiker wieder dorthin zurückkehren. Wir sehen, dass die Ideen aus der Zeit der Beendigung des Kalten Krieges auch in unserer Zeit immer häufiger gefragt sind. Ich meine, dass dies die überzeugendste „Würdigung“ dessen ist, was wir vor 20 Jahren getan haben.
Sie haben im Juni 1989 erklärt, dass die Sowjetunion den anderen Staaten des Warschauer Paktes nicht mehr das politische System vorschreiben wolle. Hielten Sie es damals für möglich, dass es noch im selben Jahr in diesen Ländern zu einem Umsturz kommen würde?
Nicht erst 1989, sondern bereits viel früher, und zwar im Frühjahr 1985, buchstäblich wenige Tage nach meiner Wahl zum Generalsekretär. Damals hat sich die sowjetische Führung mit allen Staatsoberhäuptern der Mitgliedsländer des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe getroffen. Und ihnen allen gegenüber haben wir unverhohlen erklärt: Von heute an seid ihr für die Lage in euren Ländern selbst verantwortlich. Wir werden uns nicht in eure inneren Angelegenheiten einmischen. Das war unsere grundsätzliche Haltung. Seinerzeit haben uns viele nicht geglaubt und gemeint, es handele sich um die übliche Erklärung und in Wahrheit werde alles so bleiben, wie es war. Wir aber sind von unserer diesbezüglichen Haltung nie abgewichen.
Bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung haben sie deren Führung zu Reformen aufgerufen. Wäre die DDR reformierbar gewesen, wenn Honecker früher Ihrem Kurs gefolgt wäre?
Es ist nicht ganz richtig zu sagen, ich hätte die DDR-Führung zu Reformen „aufgerufen“. Dies hätte unserem vorhin erwähnten Grundsatz widersprochen. Umso unbegründeter und unsinniger sind deshalb die vor nicht allzu langer Zeit in einigen deutschen Zeitungen aufgetauchten Behauptungen, ich hätte eine „Verschwörung“ zum „Sturz“ Honeckers angezettelt. So etwas hat es nicht gegeben und konnte es auch nicht geben. Wir haben etwas anderes getan. Meine Genossen und ich haben die Kollegen aus der DDR mit größter Offenheit und Ausführlichkeit über den Verlauf der Perestroika in der UdSSR, über ihre Ziele und Aufgaben sowie über die Schwierigkeiten informiert, mit denen wir konfrontiert waren. Wir haben gewissermaßen geschildert, was sich bei uns tut und welche Erfahrungen wir dabei gesammelt haben. Und damit haben wir zum Ausdruck bringen wollen: „Wenn euch diese Erfahrungen interessant und nützlich erscheinen, dann nutzt sie.“ Und Gründe für ein solches Gespräch waren vorhanden, denn wir wissen ja, dass das Volk der DDR Veränderungen herbeigesehnt hat. Aber Honecker hat darauf nicht reagiert. Er hat immer wieder zu verstehen gegeben, dass die notwendigen Reformen in der DDR bereits vor Jahren vollzogen worden seien.
Wie sich herausstellte, hat er damit den Wechsel in der DDR-Führung gemeint, das heißt die Ablösung Walter Ulbrichts durch ihn selbst. Man kann sagen, dass Honecker in den letzten Jahren des Bestehens der DDR eine Reihe von Fehlern gemacht hat. Denn die DDR war innerhalb des Warschauer Paktes das am höchsten entwickelte Land und hätte bei einer kompetenten Führung über viele Möglichkeiten verfügt. Wäre dem so gewesen, dann wäre vermutlich auch die deutsche Wiedervereinigung anders abgelaufen. Doch die DDR hat diese Gelegenheit zu dem Zeitpunkt verpasst, als sich in Osteuropa und vor allem bei uns in der Sowjetunion bereits kardinale Veränderungen vollzogen hatten.
Im Bundestag haben Sie vor zehn Jahren auf das Verständnis des russischen Volkes für das Streben der Deutschen nach Wiedervereinigung verwiesen und hinzugefügt, dass dieses Verständnis mit der Hoffnung auf „beiderseits vorteilhafte deutsch-russische Beziehungen“ verbunden sei. Hat sich diese Hoffnung erfüllt?
Ich sage häufig, dass die größten Helden der Wiedervereinigung ungeachtet aller Verdienste der Politiker zwei Völker gewesen sind, nämlich das deutsche und das russische. Die Deutschen haben ihren Willen zur Einheit bekundet. Die Russen haben den Deutschen das Recht auf Einheit zugestanden und an die Unumkehrbarkeit der demokratischen Entwicklung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes im Feuer des Zweiten Weltkrieges geglaubt.
Im Verlauf der mit der Wiedervereinigung verbundenen Ereignisse hat sich gegenseitiges Vertrauen entwickelt. Dieses wurde zu einem wichtigen Faktor der deutsch-russischen Beziehungen. Dieses Vertrauenskapital ist in den von unseren Ländern unterzeichneten „Großen Vertrag“ eingebettet worden. Dieser hat eine umfangreiche Zusammenarbeit vorgesehen, die für beide Seiten vorteilhaft gewesen ist.
Man muss sagen, dass Deutschland seine mit diesem Vertrag übernommenen Ver-pflichtungen erfüllt hat und weiter erfüllt. Die Bundesrepublik hat sich nicht nur an diese Verpflichtungen gehalten, sondern auch die Initiative zur Herstellung der Zu-sammenarbeit der entwickelten Länder des Westens mit unserem Land übernommen. Ich bin überzeugt, dass das positive Zusammenwirken unserer Länder auch künftig nicht nur für diese selbst, sondern ebenso für die europäische Staatengemeinschaft und die Weltgemeinschaft von Vorteil sein wird.
1989 und 1990 wurde in der internationalen Zusammenarbeit plötzlich möglich, was vorher undenkbar schien. Wenn Sie heute Bilanz ziehen, würden Sie sagen, dass Europa diese Chance genutzt hat?
Mitunter entsteht der Eindruck, dass sich anstelle der in der Zeit der Beendigung des Kalten Krieges niedergerissenen Hindernisse und Mauern neue Barrieren aufzutun begonnen haben. Sie tauchen vor allem in den Köpfen der Menschen und nicht selten in denen der Berufspolitiker auf. Das hat zu schwerwiegenden Folgen geführt. In Europa haben Kriege getobt und ist Blut geflossen.
Ich kann aber nicht sagen, dass Europa seine Chance endgültig vertan hat. Es ist in der Lage, die neuen Prüfungen der Geschichte zu meistern.
Mir scheint, dass der Ausweg in einer Umgestaltung von Politik und Wirtschaft im Weltmaßstab und vor allem im europäischen Rahmen gesucht werden muss. Dazu bedarf es einer neuen Struktur der europäischen Institutionen. Darüber denken die handelnden Politiker heute ernsthaft nach. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass sich in der Diskussion zu diesem Thema auch der russische Präsident Dmitrij Medwedew mit dem Vorschlag des Abschlusses eines neuen europäischen Sicherheitsvertrages zu Wort gemeldet hat.
Die globale Krise macht der Welt schwer zu schaffen. Sie hat aber auch eine positive Seite. Sie veranlasst zum Nachdenken darüber, dass kein Land im Alleingang mit ihr fertig werden kann. Die Welt des Argwohns und der gegenseitigen Feindschaft muss durch eine Welt der allumfassenden Zusammenarbeit abgelöst werden.
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