Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2009 > 06.12.2009
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 7. Dezember 2009),
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin schließt die Einsetzung eines weiteren Untersuchungsausschusses zu dem Nato-Luftangriff auf zwei Tanklastwagen in Afghanistan nicht aus. Das sei „möglich, aber nicht notwendig, wenn der Verteidigungsausschuss regelmäßig Öffentlichkeit herstellt“, sagte der Grünen-Politiker in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 7. Dezember). Der Verteidigungsausschuss soll nach dem Willen aller Fraktionen als Untersuchungsausschuss die Vorgänge um den Luftangriff aufklären. Trittin betonte, die Koalition könne sich überlegen, ob sie dabei „in der Regel bei Zeugeneinvernahmen die Öffentlichkeit zulässt“. Andernfalls müsse sie „gewahr sein, dass es einen Untersuchungsausschuss daneben gibt“.
Der Fraktionschef äußerte zugleich scharfe Kritik am schwarz-gelben „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“, das der Bundestag am Freitag beschlossen hatte. Man könne nicht einfach den Kommunen in einer finanziell schwierigen Situation 1,6 Milliarden Euro und den Ländern fünf Milliarden Euro wegnehmen, sagte Trittin mit Blick auf den Bundesrat, der dem umstrittenen Gesetz noch zustimmen muss.
Zudem solle dies für „offensichtlich absurde Projekte“ geschehen, fügte er hinzu: „Warum soll man Leute, die den Spitzensteuersatz zahlen, über den Kinderfreibetrag mit zusätzlich 400 Euro beschenken, während gleichzeitig die 1,8 Millionen Kinder in ‚Hartz IV‘-Bedarfsgemeinschaften völlig leer ausgehen? Das erschließt sich auch einem einfach kalkulierenden Ministerpräsidenten der CDU nicht, der dafür nicht mit der Streichung von Lehrerstellen oder Einsparungen bei der inneren Sicherheit zahlen will“ , betonte Trittin. Jetzt sollten die Stimmen Sachsens und Schleswig-Holsteins „mit zusätzlichen Steuermitteln für abenteuerliche Projekte gekauft werden“.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Trittin, trotz des besten Abschneidens der Grünen bei einer Bundestagswahl stellen sie wieder die kleinste Fraktion, kommen also in Debatten erst zu Wort, wenn die Kameras meist schon abgeschaltet sind. Ein schweres Handicap?
Es ist ein Nachteil. Aber wir haben in den ersten Sitzungswochen bewiesen, dass wir uns nicht hinter den größeren Oppositionsfraktionen verstecken müssen. Wir haben die Regierung getrieben und einen zentralen Anteil daran, dass die Koalition schon nach 30 Tagen zu einer Kabinettsumbildung gezwungen war.
Die Kabinettsumbildung kam wegen des Rücktritts des Arbeits- und früheren Verteidigungsministers Jung im Zusammenhang mit dem Nato-Luftangriff bei Kundus. Damit wird sich jetzt ein Untersuchungsausschuss befassen. Was versprechen Sie sich davon?
Erstens Aufklärung über die tatsächlichen Geschehnisse in Kundus, die zu diesem Fehler geführt haben. Zweitens die Klärung der Frage, warum uns die Kanzlerin am 8. September in ihrer Regierungserklärung nicht die ganze Wahrheit und der damalige Verteidigungsminister die Unwahrheit gesagt haben, obwohl schon aus deutschen Militärquellen und nicht nur von der Presse Berichte über zivile Todesopfer vorlagen. Und wir erwarten eine Antwort auf die Frage, wie der neue Verteidigungsminister zu der Auffassung kommen konnte, dieser Anschlag sei nicht nur militärisch gerechtfertigt, sondern unabweisbar gewesen. Er hat diese Einschätzung mittlerweile korrigiert, seine ursprüngliche Bewertung bleibt aber unverständlich. Dieser Luftschlag war definitiv nicht unabweisbar, sondern er beruhte auf der Verletzung elementarer Einsatzregeln. Das konnte Guttenberg schon dem Bericht des ISAF-Kommandierenden entnehmen.
Zum Untersuchungsausschuss soll sich der Verteidigungsausschuss erklären, der generell nicht öffentlich tagt.
... davon aber abweichen kann.
Die Opposition erwägt deshalb einen weiteren Untersuchungsausschuss.
Der ist möglich, aber nicht notwendig, wenn der Verteidigungsausschuss regelmäßig Öffentlichkeit herstellt. Die Koalition kann sich überlegen, ob sie den schnellen und pragmatischen Weg des Verteidigungsausschusses geht und in der Regel bei Zeugeneinvernahmen die Öffentlichkeit zulässt – oder sie muss gewahr sein, dass es einen Untersuchungsausschuss daneben gibt.
Die neue Familienministerin Köhler erbt den Streit ums Betreuungsgeld. Auch wenn ihre Partei ein solches Betreuungsgeld eh nicht wollte, müssten Sie doch das Gutscheinmodell der FDP den CSU-Plänen zur Direktauszahlung vorziehen?
Das Gutscheinmodell macht eine unsinnige Idee nicht besser. In beiden Fällen werden diejenigen, die am meisten auf frühkindliche Bildung angewiesen sind – Kinder aus sozial schwachen Schichten und aus Haushalten mit Migrationshintergrund – aus entsprechenden Einrichtungen ferngehalten. Das ist ein Schlag gegen die Integration. Frau Köhler kommt ja aus der Innenpolitik: Die Erfahrung mit Integrationsfragen wie der Notwendigkeit, die deutsche Sprache zu beherrschen, sollte sie dazu bewegen, dieses rein ideologisch motivierte Projekt zu beerdigen. Es ist schon schlimm genug, dass die CSU das Hotelgewerbe mit unsinnigen Wohltaten beglückt; sie sollte nicht noch familienpolitischen Schaden anrichten dürfen.
Sie spielen mit dem Hotelgewerbe auf das vom Bundestag jüngst beschlossene „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ an. Dem muss der Bundesrat noch zustimmen – trotz heftiger Kritik auch CDU-geführter Länder an dem Vorhaben. Hat die Kanzlerin und CDU-Chefin ihren Laden da noch im Griff?
Im Bundesrat wird nicht nach Parteiprogramm abgestimmt, sondern nach Länderinteressen. Es müsste jedem einleuchten, dass man nicht einfach den Kommunen 1,6 Milliarden Euro und den Ländern 5 Milliarden Euro wegnehmen kann in einer finanziell schwierigen Situation mit massiven Einnahmeverlusten. Und das für offensichtlich absurde Projekte: Warum soll man Leute, die den Spitzensteuersatz zahlen, über den Kinderfreibetrag mit zusätzlich 400 Euro beschenken, während gleichzeitig die 1,8 Millionen Kinder in „Hartz IV“-Bedarfsgemeinschaften völlig leer ausgehen? Das erschließt sich auch einem einfach kalkulierenden Ministerpräsidenten der CDU nicht, der dafür nicht mit der Streichung von Lehrerstellen oder Einsparungen bei der inneren Sicherheit zahlen will. Jetzt sollen die Stimmen Sachsens und Schleswig-Holsteins mit zusätzlichen Steuermitteln für abenteuerliche Projekte gekauft werden.
In der Steuer- oder auch der Gesundheitspolitik scheint Schwarz-Gelb die Opposition fest zusammenzuschweißen.
Die Vorstellung, der Pharma- und der Ärztelobby die Kassen aufzumachen und die Arbeitnehmer alle Zusatzkosten zahlen zu lassen, ist schon abenteuerlich. Das wird eine sehr erbitterte Auseinandersetzung.
Mit Schwarz-Gelb auf der einen und Rot-Rot-Grün auf der anderen Seite?
Es gibt in der Opposition immer wieder Gemeinsamkeiten, und in einer konfrontativeren Situation, wie sie unter Schwarz-Gelb kommen wird, werden solche Momente häufiger werden. Es gibt in der Opposition Konkurrenz, auch Kooperation, aber es gibt keine Koalition in der Opposition.
Kann es mit der Linken in vier Jahren eine rot-rot-grüne Machtoption für die Grünen geben?
Ich mache mir derzeit keine Gedanken über die anderen Parteien oder das Jahr 2013. Wir machen jetzt Opposition und haben als Grüne alles zu tun, Schwarz-Gelb schleunigst zu beenden. Dafür werden wir die Koalition in den nächsten vier Jahren vor uns hertreiben – wenn sie so lange durchhält. Nach dem ersten Monat bin ich mir da nicht so sicher. Da von einem Fehlstart zu sprechen, wäre noch beschönigend.
Grüne Anliegen wie den Atomausstieg können Sie nur in der Regierung sichern. Als Umweltminister haben Sie den Ausstiegkonsens ausgehandelt – da muss es doch schmerzen, wenn jetzt Laufzeitverlängerungen kommen.
Noch ist es nicht so weit. Schwarz-Gelb hat das in den Koalitionsvertrag geschrieben, will es aber vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr nicht anrühren. Das ist aber für Anlagen wie Biblis und Brunsbüttel ein erhebliches Problem, weil deren Reststrommengen dann am Ende fast abgelaufen sind. Bei einer Laufzeitverlängerung müssten zudem neue Genehmigungsverfahren für alle dezentralen Zwischenlager erfolgen, die nur für die Atommüllmenge entsprechend der Restlaufzeit genehmigt sind. Hinzu kommt der politische Preis für die Union, die zumindest vortäuscht, sich mit Norbert Röttgen in der Umweltpolitik zu modernisieren. Diese Modernisierung würde durch eine ideologische Entscheidung zugunsten der Stromkonzerne erschlagen. Leider hat Röttgen mit der Benennung eines Atomlobbyisten als Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit ein fatales Signal gesetzt.
Röttgen, Ihr Nachnachfolger im Ministeramt, sagt auch, der Energieverbrauch in Deutschland könnte bis 2050 fast vollständig mit erneuerbaren Energien gedeckt werden. Das unterstützen Sie doch?
Es ist immer lustig, wenn Positionen, für die wir mal ausgelacht wurden, mit zehn Jahren Verspätung als Ausweis der Modernität von Konservativen dienen sollen. Zu den Reden fehlt aber die Handlung; vielmehr blockiert die aktuelle Energiepolitik der Koalition die Ansätze des Ministers, die er auf dem Papier richtig beschrieben hat. Dabei ist es in der Tat so: Wenn wir beim Klimaschutz das Ziel ernst nehmen, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, müssen wir 2050 hundert Prozent unserer Energie für Strom, Wärme und Mobilität erneuerbar erzeugen. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern eine Banalität.
Jürgen Trittin (55), Bundesumweltminister von 1998 bis 2005, ist seit dem 6. Oktober Grünen-Fraktionschef im Bundestag.
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