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Fast drei Monate nach Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist zur Neuregelung des Wahlrechts hat der Bundestag gegen die Stimmen der Opposition eine Novellierung des Bundeswahlgesetzes beschlossen. In namentlicher Abstimmung votierten 294 Abgeordnete für einen Gesetzentwurf der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion (17/6290) in modifizierter Fassung (17/7069). Dagegen stimmten 241 Parlamentarier. Alternative Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen von SPD (17/5895), Die Linke (17/5896) und Bündnis 90/Die Grünen (17/4694) scheiterten dagegen im Parlament. Vertreter der drei Oppositionsfraktionen kündigten an, gegen das nun beschlossene Modell vor dem Verfassungsgericht zu klagen.
Mit der Novelle reagiert der Bundestag auf ein Urteil des Karlsruher Gerichts vom 3. Juli 2008, in dem der Gesetzgeber verpflichtet wurde, das Wahlrecht "spätestens bis zum 30. Juni 2011" zu reformieren. Wie die Richter in ihrer Entscheidung (Az: 2 BvC 1/ 07, 2 BvC 7/ 07) urteilten, verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil "ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann". Dieser paradoxe Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen, als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.
Nach dem jetzt verabschiedeten Koalitionsentwurf soll die bisher mögliche Verbindung von Landeslisten einer Partei abgeschafft werden. Damit könnten die in einem Bundesland errungenen Zweitstimmen einer Partei nicht mehr mit den in einem anderen Land erzielten Zweitstimmen verrechnet werden. Durch den Verzicht auf Listenverbindungen werde die Häufigkeit des Auftretens des negativen Stimmgewichts "erheblich reduziert". Ergänzt werden soll die Neuregelung "um eine Sitzverteilung auf der Grundlage von Sitzkontingenten der Länder, die sich nach der Anzahl der Wähler in den Ländern bestimmen".
Ist die Zahl der Zweitstimmen einer Partei, die in den 16 Ländern nicht zu einem Sitz geführt haben, größer als die im Bundesdurchschnitt für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl, sollen zum Ausgleich weitere Mandate vergeben werden. Diese weiteren Sitze sollen dabei zunächst den Landeslisten einer Partei zugeteilt werden, auf die Überhangmandate entfallen sind.
Die SPD-Fraktion sah in ihrer Vorlage vor, die Zahl der Abgeordneten gegebenenfalls "so weit anzupassen, dass Überhangmandate im Verhältnis der Parteien zueinander vollständig ausgeglichen werden". Mit einer solchen Gesetzesänderung entfalle das negative Stimmgewicht "bis auf seltene und unvermeidliche Ausnahmefälle", schrieb die Fraktion.
Nach den Gesetzentwürfen der Linksfraktion und der Grünen sollten Direktmandate künftig bereits auf der Bundesebene und nicht mehr auf Länderebene auf das Zweitstimmenergebnis angerechnet werden. Sofern dann in Fällen wie bei der nur in Bayern vertretenen CSU, bei der die Anrechnung auf Bundesebene nicht möglich ist, dennoch Überhangmandate entstanden wären, hätten diese nach dem Willen der Linksfraktion mit Ausgleichsmandaten kompensiert werden. Die Grünen-Fraktion sah dagegen vor, dass in solchen Fällen entstandene Überhangmandate nicht mehr zuerkannt werden. Unbesetzt bleiben sollten dabei "diejenigen überschüssigen Sitze, die den geringsten prozentualen Stimmanteil aufweisen".
Unions-Fraktionsvize Günter Krings (CDU) kritisierte in der Debatte, die Vorstellungen der Links- und der Grünen-Fraktion führten zu "verfassungspolitischen Kollateralschäden" und einer "erheblichen föderalen Ungleichheit". Das SPD-Modell wiederum löse nicht das Problem des negativen Stimmgewichts. Dagegen löse der Koalitionsentwurf "bei allen realistischen, lebensnahen Wahl-Szenarien" die Aufgabe, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Ursache für dessen Entstehung sei die Verbindung von Landeslisten bei gleichzeitiger Existenz von Überhangmandaten. Die Koalition habe mit ihrem Modell den Vorschlag des Verfassungsgerichts aufgegriffen, "aus der Listenverbindung eine Listentrennung zu machen". Auch habe das Gericht darauf verwiesen, dass es dabei das Folgeproblem der "unberücksichtigt bleibenden Reststimmen" gebe. Dieses Problem habe die Koalition gelöst, indem diese Reststimmen aus den Länder "bundesweit eingesammelt" und zu Zusatzmandaten addiert werden können. Krings warf zugleich der Opposition vor, sie habe sich im Streit um die Wahlrecht-Reform Konsensangeboten der Koalition verweigert.
Der FDP-Abgeordnete Stefan Ruppert betonte, im Gegensatz zur SPD hätten die Koalition sowie Die Linke und die Grünen einen Vorschlag gemacht, der "verfassungsrechtlich in Bezug auf das negative Stimmgewicht in Ordnung ist". Das Modell der Links- und der Grünen-Fraktion würde indes dafür sorgen, dass man in Brandenburg sechs Mal so viel Stimmen brauche wie in Baden-Württemberg. "Sie verwüsten ganze Landesverbände", bemängelte Ruppert. Dies sei nicht zu rechtfertigen. Die Koalition habe eine sorgfältige Abwägung aller Argumente vorgenommen und könne sich mit ihrer Entscheidung in Karlsruhe "gut sehen lassen".
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, hielt der Koalition vor, ihre Vorlage komme zu spät, beseitige das negative Stimmgewicht nicht und neutralisiere auch nicht die Überhangmandate. Diese Mandate, mit denen sich die Union an der Macht klammern wolle, seien verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. Sie seien verfassungswidrig, weil sie denjenigen Wählern ein doppeltes Stimmengewicht geben, die durch Stimmensplitting dafür sorgen, dass neben dem direkt Gewählten ein weiterer Kandidat in das Parlament kommt. Auch führten Überhangmandate zu einer "regionalen Ungleichverteilung der Mandate" und verletzten die Chancengleichheit der Parteien. Auch könnten sie "die Mehrheit im Deutschen Bundestag umdrehen". Für dessen Zusammensetzung seien die Zweitstimmen maßgebend, doch könne es bei vielen Überhangmandaten dazu kommen, "dass die Parteien, die eine Mehrheit der Stimmen haben, eben nicht mehr eine Mehrheit der Mandate haben". Damit durchgesetzt werde, dass jede Stimme gleichviel wert ist, werde seine Fraktion vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.
Für die Linksfraktion sagte ihre Parteivize Halina Wawzyniak, mit dem Koalitionsmodell werde der "unitaristischen Charakter" von Bundestagswahlen aufgehoben. Auch würden erst 16 getrennte Wahlgebiete geschaffen, doch solle es bei der Berechnung der Fünf-Prozent-Hürde und der Reststimmenverwertung wieder ein Bundeswahlgebiet geben. Das sei in sich unlogisch. Das Koalitionsmodell habe "erhebliche verfassungsrechtliche Probleme". Wawzyniak hielt zudem der Koalition eine "Arroganz der Macht" vor und fügte hinzu, das führe "unweigerlich nach Karlsruhe".
Der Parlamentarische Fraktions-Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, betonte, das Wahlrecht solle den Wählerwillen grundsätzlich "eins zu eins in Mehrheitsverhältnissen im Parlament" abbilden und dürfe ihn nicht "durch Tricks in sein Gegenteil verfälschen". Diesem Anspruch werde die Koalitionsvorlage nicht gerecht. Schwarz-Gelb sei zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zu Gesprächen über die Fraktionsgrenzen hinweg bereit gewesen , um zu einer verfassungsgemäßen Lösung der von Karlsruhe gestellten Fragen zu kommen. Der Grund sei, dass sich die Koalition mit dem Gesetz die Chance eröffnen wolle, "ohne Mehrheit beim Volk sich eine Mehrheit im Parlament zu ergaunern". Dies sei ein "Anschlag auf die parlamentarische Demokratie". Darauf werde seine Partei mit einer Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht reagieren. Auch werde man gemeinsam mit den SPD-Abgeordneten eine Normenkontrollklage in Karlsruhe einreichen. (sto)