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„Das Glas ist nicht nur halbvoll, sondern gut gefüllt": Aus Sicht von Memet Kilic ist inzwischen eine starke Präsenz türkischstämmiger Bürger in der deutschen Politik zu beobachten, bis hin zur Übernahme von Ministerämtern und derzeit fünf Bundestagsmandaten. Mit Ressentiments habe man in Parteien und Parlamenten nicht zu kämpfen, so der integrationspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, der auch Vizevorsitzender des Zuwanderungs- und Integrationsrates ist, im Interview. Zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Gastarbeiter-Anwerbeabkommens, das eine der größten Völkerwanderungen der Neuzeit ausgelöst hat, plädiert Kilic dafür, das kommunale Wahlrecht auch Bürgern aus Nicht-EU-Ländern zu gewähren. Der Vertrag vom 30. Oktober 1961 sollte helfen, den Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft zu decken. Ankara wollte den angespannten Arbeitsmarkt entlasten und durch die Überweisungen der Gastarbeiter die defizitäre Handelsbilanz ausgleichen. Das Interview im Wortlaut:
Nach 1961 durften türkische Gastarbeiter zunächst nur zwei Jahre in der Bundesrepublik bleiben. Heute gibt es Türken in vielen Betriebsräten, Abgeordnete mit türkischen Wurzeln sitzen in Gemeinderäten, in Landtagen und im Bundestag, zwei Landesministerinnen sind türkischstämmig, die Grünen haben einen türkisch-schwäbischen Vorsitzenden. Offenbar hat der Vertrag von 1961 auf ungeplante, urwüchsige Weise eine politische Revolution ausgelöst.
Das ist nicht zu hoch gegriffen. Die Einwanderer vom Bosporus haben sich nicht nur als leistungsfähige Arbeitnehmer erwiesen, die politischen Aktivitäten können sich ebenfalls sehen lassen. Eine Rolle hat dabei gespielt, dass nach den Militärputschen von 1971 und 1980 viele Türken auch aus politischen Gründen in die Bundesrepublik kamen, und deren Kinder sind ebenfalls häufig politisch engagierten. Nach 50 Jahren lässt sich beim Blick auf die politische Präsenz türkischstämmiger Bürger sagen, dass das Glas nicht nur halbvoll, sondern gut gefüllt ist.
Dieses Mitmischen in der Politik scheint zu etwas Normalem geworden zu sein, was ehedem unvorstellbar war. Oder sehen Sie noch Defizite?
Das Engagement von Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe hängt von den Möglichkeiten ab, die sich auftun. Die bieten sich vor allem bei Gewerkschaften. Auch in den Parteien sind eigentlich keine Ressentiments gegenüber solchen Mitgliedern zu spüren, bei den Grünen werden sie geradezu gefördert. Bei der Union war das anfangs etwas anders, aber auch dort beobachte ich Fortschritte. Würde das kommunale Wahlrecht nicht nur EU-Ausländern, sondern allen hierzulande längerfristig lebenden Einwanderern eingeräumt, würden sich die politischen Aktivitäten türkischstämmiger Bürger weiter intensivieren. Die Bereitschaft zu politischem Engagement ist stark ausgeprägt. Natürlich kann alles noch besser werden. Man sollte bedenken, dass ein deutscher Pass zwar bei Kandidaturen für Parlamente, aber nicht für die Mitarbeit in Parteien und Gewerkschaften nötig ist.
Wie erging es Ihnen persönlich als Kandidat bei Bundestagswahlen im Wahlkreis Pforzheim? Wirkten sich Ihre türkischen Wurzeln aus?
Nun, allein schon wegen des Namens kann ich meine Herkunft nicht verbergen, in Wahlkämpfen gehe ich damit offensiv um. 2005 waren noch gewisse Irritationen zu bemerken, weil die Leute einen solchen Kandidaten nicht gewohnt waren. Das war aber 2009 vorbei, da spielte das keine Rolle mehr. Ich stieß auf Sympathie nicht nur bei Migranten, sondern auch bei den angestammten deutschen Einwohnern. In meiner Sprechstunde tauchen Leute aus allen Bevölkerungskreisen auf. Wegen meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Politiker kommen zu mir türkischstämmige Bürger besonders dann, wenn sie von Problemen betroffen sind, die mit den staatlichen Beziehungen zwischen Berlin und Ankara zu tun haben, etwa von Einreiseverboten in die Türkei aus politischen Gründen. Überwiegend aber werde ich wie alle Abgeordneten mit Rentenfragen, Konflikten im Straßenverkehr oder Nachbarschaftsstreitigkeiten konfrontiert.
Wie sehen Ihre Erfahrungen im Bundestag aus? Haben türkischstämmige Parlamentarier mit Ressentiments und Widerständen zu kämpfen? Gilt man als Exot?
Nein, davon kann keine Rede sein. Wir sind Teil der normalen politischen Auseinandersetzung, die sich in erster Linie zwischen Koalition und Opposition abspielt. Unsere Herkunft ist im politischen Alltag ohne Belang. Der Umgang ist kollegial.
Unterscheidet sich im Bundestag die Politik türkischstämmiger Abgeordneter von jener anderer Volksvertreter? Landet man automatisch beim Fachgebiet Integration? Sind die Religionsfreiheit und die Gleichbehandlung der Religionen durch den Staat besonders wichtige Anliegen?
Druck, integrationspolitischer Sprecher zu werden, wurde in meiner Fraktion nicht auf mich ausgeübt. Aber die Übernahme solcher Funktionen liegt bei Parlamentariern mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Erfahrungen nahe. Ich habe um mein Amt offensiv gekämpft. Ansonsten sehe ich keine politischen Positionen, die mit der ausländischen Herkunft zu tun haben könnten. Auch die bedeutsame Frage der Religionsfreiheit muss man nicht besonders in den Vordergrund rücken, schließlich finden sich die entsprechenden Garantien im Grundgesetz mit seinem Postulat eines Wertepluralismus in der Gesellschaft. Aber natürlich ist darauf zu achten, dass die Religionsfreiheit in der Praxis auch realisiert wird.
Haben Sie Tipps parat für türkischstämmige Bürger, die sich politisch engagieren wollen und vielleicht eine Kandidatur für den Bundestag anstreben?
Man muss seine Überzeugungen glaubwürdig vertreten und sich als Marathonläufer verstehen, der nur mit Ausdauer ans Ziel gelangt. Es gilt, sich durchzukämpfen und angesichts von Rückschlägen nicht zu resignieren. Aber dies trifft auf alle Politiker zu und nicht nur auf jene mit türkischen Wurzeln, das ist die politische Normalität.
(kos)