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Vorabmeldung zu Interviews in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 01. August 2011)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Nach mehr als zwei Jahrzehnten deutscher Einheit wirkt die Berliner Mauer nach Einschätzung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) “immer weniger” nach. “Bei den Jungen spielt sie überhaupt keine Rolle mehr”, sagte Schäuble, der 1990 als Bundesinnenminister den Einigungsvertrag mit der DDR ausgehandelt hatte, in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Die jüngere Generation finde, “dass das schon alte Geschichten sind”. Nachwirkungen gebe es dagegen bei den Älteren. “Die Mauer wirkt nach, so lange Menschen leben, die sie erlebt und erlitten haben”. Für die Zukunft spiele sie aber keine Rolle mehr.
Mit Blick auf den Bau der Mauer vor 50 Jahren sagte Schäuble, im Laufe der Jahre habe man sich fast nicht mehr vorstellen können, dass sie irgendwann fallen würde. “Natürlich haben wir auch später daran festgehalten, die Teilung zu überwinden, aber nicht gewusst, wann dies realistisch der Fall sein würde. Denn wie sollte das gehen – angesichts der Erfahrungen der Volksaufstände von 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn und dann 1968 beim Prager Frühling – ohne das Risiko eines neuen Krieges?” Dieses Risiko habe “richtigerweise niemand eingehen” wollen, resümierte der CDU-Parlamentarier und betonte: “ Die Hoffnung aufgegeben haben wir aber nie”.
Der SPD-Politiker Egon Bahr, beim Mauerbau am 13. August 1961 Sprecher des West-Berliner Senats, sagte der Wochenzeitung, damals habe der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) “direkt per Brief“ US-Präsident John F. Kennedy um Unterstützung gebeten. “Dann kam Vizepräsident Lyndon B. Johnson am 19. August mit Kennedys Antwortbrief: Die Mauer könnte nur durch Gewalt beseitigt werden und Krieg wollten die USA nicht”.
Bahr, der als ein Architekt der Ost- und Entspannungspolitik während Brandts späterer Kanzlerschaft gilt, betonte, dem damaligen Berliner Senat sei klar gewesen, dass niemand helfen würde, die Mauer zu beseitigen. “Die Mauer durchlässig zu machen, war dann unser Ausweg mit dem Passierscheinabkommen 1963”, fügte er hinzu. Das sei einen Tabubruch gleichgekommen: “Man musste mit denen verhandeln, die die Autorität hatten, Passierscheine auszustellen”. Das sei die DDR-Regierung gewesen, “die es aus Bonner Sicht ja nicht gab, da die DDR nicht als Staat anerkannt wurde”.
Darüber habe sich eine hitzige Diskussion entwickelt, die weitergegangen sei, als Brandt “als Kanzler formulierte, dass die DDR ein Staat sei, auch wenn sie für uns nicht Ausland sein dürfe”, erinnerte sich der frühere Bundesminister. Die Debatte habe damals die Innenpolitik “bis zum Moskauer Vertrag und darüber hinaus” geprägt. Der damalige Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) habe darüber “eine große Zukunft verloren”. Barzels Auffassung zufolge habe der 1972 vom Bundestag ratifizierte Moskauer Vertrag kommen müssen, doch sei er mit der Möglichkeit konfrontiert gewesen, ”dass seine Partei über diese Frage auseinanderfiel”. Sein Nachfolger im CDU-Vorsitz, Helmut Kohl, habe dann als Bundeskanzler zehn Jahre später die Ostpolitik fortgesetzt und “auch die Erfolge eingeheimst”.
Das Interview mit Wolfgang Schäuble im Wortlaut:
Sie haben 1961 Abitur gemacht, im Schwarzwald. Wie real war für einen 18-Jährigen wie Sie der Bau der Mauer?
Schäuble: Wir hatten nach dem Abitur eine Reise nach Berlin gemacht, noch vor dem Bau der Mauer. Ich war zum ersten Mal aus unserer Kleinstadt nach Berlin gereist und fasziniert von dieser Großstadt. Daher war es für mich unvorstellbar, dass kurze Zeit später eine Mauer mitten durch Berlin gebaut werden konnte. Deswegen fühlte ich mich ganz unmittelbar betroffen.
Hatten Sie damals damit gerechnet, den Fall der Mauer zu erleben?
Schäuble: Da wir uns alle zunächst gar nicht vorstellen konnten, dass die Stadt durch eine Mauer geteilt wird, konnten wir uns zunächst auch nicht vorstellen, dass die Mauer bleibt. Im Laufe der Jahre konnte man sich dann umgekehrt fast nicht mehr vorstellen, dass sie irgendwann fallen würde. Natürlich haben wir auch später daran festgehalten, die Teilung zu überwinden, aber nicht gewusst, wann dies realistisch der Fall sein würde. Denn wie sollte das gehen – angesichts der Erfahrungen der Volksaufstände von 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn und dann 1968 beim Prager Frühling – ohne das Risiko eines neuen Krieges? Dieses Risiko wollte richtigerweise niemand eingehen. Die Hoffnung aufgegeben haben wir aber nie.
Nach dem Mauerfall waren Sie mit dem Aushandeln des Einigungsvertrags stark an der Gestaltung der Einheit beteiligt. Wenn Sie an diese immense Belastung denken, was ist bestimmend: Stolz auf das Geleistete, Ärger über Fehler, Freude über die Aufgabe oder Erleichterung, das nicht noch mal machen zu müssen?
Schäuble: (lacht) Nein! Für jemanden, der politisch interessiert und tätig ist, war das natürlich ein Traum. Es war ja schon im Sommer 1989 zu spüren, dass sich die Entwicklung beschleunigte. Dann fiel die Mauer, und es ging jeden Tag schneller. Ich sagte als Innenminister früher als andere: Wenn es zur Einheit kommt, müssen wir darauf vorbereitet sein. Deswegen haben wir ab dem Jahreswechsel 1989/90 mit den Vorbereitungen für den Einigungsvertrag begonnen und konnten dann ja auch die Verhandlungen schnell abschließen. Sicher haben wir dafür viel, sogar sehr viel gearbeitet, aber etwas Schöneres, als an einer solchen einmaligen Aufgabe arbeiten zu dürfen, gibt’s gar nicht.
Wird die Leistung ihrer DDR-Verhandlungspartner – Günther Krause, Lothar de Maizière – hinreichend gewürdigt?
Schäuble: Nein. Deren ungeheures Engagement und Leistung während der Verhandlungen rund um die deutsche Vereinigung sind in der alten Bundesrepublik nie genügend gewürdigt worden. Die Menschen in der DDR mussten über Nacht alles neu machen. Wenn man die Arbeit der 1990 gewählten Volkskammer sieht, ist es unglaublich, in welcher Geschwindigkeit die das geschafft haben, mit Entschiedenheit, Mut, Improvisationskraft. Das waren nicht „Laienschauspieler“, wie ein Mitglied der damaligen Bundesregierung sagte. Ganz im Gegenteil!
Wie würden Sie einem Kind die Bedeutung des Einigungsvertrages erklären?
Schäuble: Einem Kind müsste man nur erklären, dass Deutschland als Folge von Hitler und dem Zweiten Weltkrieg fast 45 Jahre lang gegen seinen Willen geteilt war und die Menschen in der DDR das durch eine friedliche Revolution beseitigt haben, als sie die Chance dazu hatten. Als klar wurde, dass die beiden Teile Deutschlands wieder zusammen kommen wollten, mussten wir als Regierungen der beiden Teile den Rahmen für diese Vereinigung setzen. Weil sich in den 45 Jahren die Lebensverhältnisse in allen Beziehungen sehr unterschiedlich entwickelt hatten, war es die wichtigste Aufgabe des Einigungsvertrags, dafür zu sorgen, dass die Vereinigung einigermaßen geordnet verläuft. Das war nicht einfach, aber es ging gut. Wenn Sie schauen, welche Umwälzungen und Spannungen etwa Länder jetzt im Arabischen Frühling aushalten müssen, dann haben wir das damals in Deutschland ganz gut zustande gebracht.
Der Osten liegt etwa bei Einkommen und Wirtschaftskraft weiter hinter dem Westen. Müssen wir das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse aufgeben?
Schäuble: Nein, man muss sich nur im Klaren sein, was damit gemeint ist. Gleichwertig heißt ja nicht, dass alles überall gleich ist. In vielfältiger Beziehung sind die Verhältnisse in Deutschland nicht nur zwischen Ost und West unterschiedlich. Wir brauchen ein hinreichendes Maß an Gleichwertigkeit und fairem Ausgleich – das funktioniert ganz ordentlich. Und die Unterschiedlichkeit Deutschlands, auch kulturell, ist eine seiner Stärken. Die Vielfalt seiner Menschen auch im Temperament ist ein Reichtum: Der Schwarzwälder ist anders als der Ostfriese und der Mecklenburger anders als der Oberbayer. Selbst in Baden-Württemberg gibt es Unterschiede in der Mentalität von Schwaben und Badenern.
Wie sehr wirkt die Mauer noch nach?
Schäuble: Ach, immer weniger. Bei den Jungen spielt sie überhaupt keine Rolle mehr. Die jüngere Generation findet, dass das schon alte Geschichten sind. Etwas übertrieben könnte man deren Wahrnehmung so beschreiben: Ob Sie von Napoleon oder von der Mauer erzählen, ist fast gleich: Das ist irgendwann früher einmal gewesen, in einem vergangenen Jahrhundert. Bei den Älteren: Klar wirkt es nach. Das ist wie bei denen, die den Krieg durchlitten haben – die werden das bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Auch die Mauer wirkt nach, so lange Menschen leben, die sie erlebt und erlitten haben, aber für die Wirklichkeit des Lebens, für die Zukunft spielt sie keine Rolle mehr.
Das Interview mit Egon Bahr im Wortlaut:
Als vor 50 Jahren die Mauer gebaut wurde, waren Sie Sprecher des Berliner Senats beim Regierenden Bürgermeister Willy Brandt. Was sind Ihre Erinnerungen an den 13. August?
Bahr: Um korrekt zu sein, muss man sagen: Es wurde zunächst gar keine Mauer gebaut. Es wurden Stacheldrahthindernisse errichtet, da man in der DDR und in Moskau nicht wusste, wie der Westen reagiert. Sie haben dann drei Tage gewartet, und als im Westen nichts passierte, begann am 17. August – ein Donnerstag – der Bau der Mauer. Aber politisch begann sie natürlich am 13. August. An dem Tag wurde ich in Nürnberg auf dem Parteitag der SPD herausgeholt vom damaligen Chef der Berliner Senatskanzlei mit den Worten: „Du musst sofort herkommen. Die sperren den Osten ab.“ In Berlin traf ich Willy Brandt, der sich – von einer Wahlkampfreise kommend – ein Bild von der Lage am Brandenburger Tor gemacht hatte. Er war wütend, weil die alliierten Kommandanten keine Weisungen hatten, und erreichte immerhin, dass sie Jeeps auf die Straße schicken. Die Berliner sollten nicht glauben, die Westmächte hätten sie im Stich gelassen.
Was folgte dann?
Bahr: Brandt bat US-Präsident John F. Kennedy um Unterstützung; direkt per Brief an allen Regierungen vorbei – was nicht gut ankam, aber erfolgreich war. Die USA verlegten 1.500 Soldaten über Helmstedt nach Berlin. Dann kam Vizepräsident Lyndon B. Johnson am 19. August mit Kennedys Antwortbrief: Die Mauer könnte nur durch Gewalt beseitigt werden und Krieg wollten die USA nicht. Zweitens: Die Mauer bedeutet, dass die Sowjets nicht expandieren wollen. Sie ist drittens im Grunde das Eingeständnis einer Niederlage. Moskau hatte ursprünglich gefordert, die drei Westsektoren Berlins müssten eine „freie Stadt“ werden. Brandt hatte das eine „vogelfreie Stadt“ genannt.
Gab es Anzeichen für den Mauerbau?
Bahr: Wir waren im April 1961 hellhörig geworden bei einem Kommuniqué der NATO. Im Grunde war dessen Wortlaut eine Einladung an die Sowjets, mit dem Ostsektor zu machen, was sie wollten. Denn da war nicht mehr von einer Garantie für den Vier-Mächte-Status die Rede, sondern für die Lebensfähigkeit der drei Westsektoren. Unmittelbar vor dem 13. August hatten die Westalliierten ungewöhnlich dichten LKW-Verkehr auf den Autobahnen beobachtet. Die sowjetische Antwort war: Nichts sei in Vorbereitung, was die Rechte der westlichen Alliierten berühren wird. Das stimmte sogar. Berührt wurden nur die Rechte der Berliner.
Die West-Berliner Polizei musste auf Geheiß der Westmächte die Mauer absichern. Wie bitter war diese Erfahrung?
Bahr: Es gab Studenten, die sich 1961 zutrauten, die Mauer in die Luft zu jagen. Für die West- Alliierten war aber klar, der Status quo durfte nicht gefährdet werden. Sie wollten keinen Krieg, nicht wegen der Deutschen und wegen der Berliner noch viel weniger. Also wiesen sie den Berliner Senat an, seine eigene Polizei einzusetzen zum Schutz der Mauer. Das war bitter. Noch bitterer aber war etwas anderes: Es wurde offensichtlich in dem Augenblick, als der Ostdeutsche Peter Fechter über die Mauer klettern wollte, angeschossen wurde, 50 Minuten schreiend auf der Ostseite liegend starb und ein US-Soldat, der aufgefordert wurde zu helfen, sagte: „Ich darf nicht. Meine Kompetenz endet hier.“ Da war der Vorhang weggezogen vom Vier-Mächte-Status. Es war klar, dass jede der vier Nationen ihre Souveränität auf den eigenen Sektor beschränkt.
War es enttäuschend für Sie, dass der Westen die Mauer hingenommen hat?
Bahr: Uns als Berliner Senat war klar, dass uns niemand helfen würde, sie zu beseitigen. Wir wollten uns allerdings nicht damit abfinden. Die Mauer durchlässig zu machen, war dann unser Ausweg mit dem Passierscheinabkommen 1963. Das kam einem Tabubruch gleich: Man musste mit denen verhandeln, die die Autorität hatten, Passierscheine auszustellen. Das waren nicht die USA, nicht die Bundesregierung, nicht mal die Sowjets, sondern die DDR-Regierung, die es aus Bonner Sicht ja nicht gab, da die DDR nicht als Staat anerkannt wurde.
Wie waren die Reaktionen?
Bahr: Es entwickelte sich eine hitzige Diskussion. Berlins CDU-Chef Franz Amrehn sagte: „Mit Gefängniswärtern verhandelt man nicht.“ Brandt antwortete: „Kleine Schritte sind besser als große Worte.“ Amrehn entgegnete: „Die Wunde muss offen bleiben.“ Brandts Antwort: „Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht den Menschen nützt.“ Die Debatte ging in der Bundesrepublik in dem Augenblick weiter, in dem Brandt als Kanzler formulierte, dass die DDR ein Staat sei, auch wenn sie für uns nicht Ausland sein dürfe. Sie prägte die Innenpolitik bis zum Moskauer Vertrag und darüber hinaus. Rainer Barzel hat darüber eine große Zukunft verloren, als Unions-Fraktionschef, CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat. Er war der Auffassung, dass der Moskauer Vertrag kommen müsse. Aber er war konfrontiert mit der Möglichkeit, dass seine Partei über diese Frage auseinanderfiel. Helmut Kohl hat dann als Bundeskanzler zehn Jahre später die Ostpolitik nicht revidiert, er hat sie fortgesetzt –und er hat Recht gehabt. Er hat sie fortgesetzt und hat auch die Erfolge eingeheimst.
Hatten Sie schon beim Passierscheinabkommen eine neue Ostpolitik im Auge?
Bahr: Nein, das hat sich erst entwickelt. Wir haben in Berlin natürlich nach vorn gedacht über eine neue deutsche Position gegenüber dem Osten und in der Zusammenarbeit, immer unter der Prämisse: Die Rechte der vier Mächte bleiben, sollen uns aber nicht hindern, das Notwendige zu tun. Willy Brandt hat das 1963 in einem Vortrag vor der Evangelischen Akademie in Tutzing dargelegt. Ich habe für meinen Diskussionsbeitrag einen Punkt aus Brandts Rede genommen unter der Überschrift „Wandel durch Annäherung“. Wir ahnten nicht, wie viel Staub das aufwirbeln würde. Unsere Methodik war: Will man etwas erreichen, muss man sich dem zuwenden, von dem man es erreichen will. Das heißt, dem Osten nicht den Rücken zuwenden, sondern Zusammenarbeit anbieten. Das war auch der Kern in Kennedys Satz „Wer den Status Quo ändern will, muss ihn anerkennen“.
Wie wurde daraus die neue Ostpolitik?
Bahr: Erst als Brandt 1966 Außenminister wurde, nahm das als ein Konzept Gestalt an. Wir haben es mit Henry Kissinger, damals außenpolitischer Berater des US-Präsidenten, besprochen. Obwohl er skeptisch war, hat er uns das System der „Backchannels“ vorgeschlagen, also der direkten Gesprächskanäle nach Moskau, die er schon etabliert hatte. Das haben wir 1969 in der sozialliberalen Koalition übernommen und waren in einem Dreiecksverhältnis zwischen Bonn, Washington und Moskau, das sich bewährt und dazu beigetragen hat, die Verträge überhaupt machen zu können im gegenseitigen Vertrauen, weil in voller Information.
In der sozialliberalen Koalition waren Sie als Staatssekretär im Kanzleramt an den Verhandlungen über den Moskauer Vertrag und den Warschauer Vertrag, das Transitabkommen und den Grundlagenvertrag mit der DDR beteiligt. Welcher Vertrag war der wichtigste?
Bahr: Der Moskauer Vertrag. Von ihm ging alles aus. Nur die Sowjetunion war in der Lage, die Beschlüsse des Warschauer Paktes zu ändern. Das konnten wir doch nicht in Ost-Berlin erreichen, auch nicht in Warschau. Der entscheidende Punkt: Im Moskauer Vertrag war die Grenzfrage enthalten. Letztlich haben wir uns auf die Formel geeinigt, dass alle Grenzen, egal wer sie wann, wo, wie gezogen hatte, nur im gegenseitigen Einvernehmen geändert werden können.
Es gibt die Kritik, die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition hätte die DDR stabilisiert.
Bahr: Diese Kritik verkennt die Realitäten. Die größte Enttäuschung war doch in der Nachkriegszeit, dass die Politik der Stärke nicht funktionierte. Man sagte: Die Wiederbewaffnung wird mit einer Logik der Stärke zur Wiedervereinigung führen. Das passierte aber nicht. Im Gegenteil. Die deutschen Staaten drifteten weiter auseinander. Es gab im Übrigen auch in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges ein Verständnis dafür, dass der Status quo der geteilten Stadt nicht angetastet wird. Die Rücksicht darauf band beide deutschen Seiten und das haben auch die vier Alliierten so gesehen.
Wie haben Sie den Mauerfall am 9. November 1989 erlebt?
Bahr: Ich habe am Abend im Fernsehen gesehen, wie die Menschen auf der Mauer tanzen. Mein erster Gedanke war: Das ist der Anfang vom Ende der DDR. Der zweite war: Schade, dass das mein Vater nicht mehr erlebt hat. Willy Brandt rief an und fragte: „Weißt Du, was los ist?“ „Ja.“ „Staunste, was?“ „Ja.“ „Hättste nicht geglaubt?“ „Nein.“ Im Flugzeug, auf dem Weg zur Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus am 10. November 1989, hat Brandt seine Rede verfasst, einschließlich des Satzes „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“.
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