Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Protokolle > Tagesaktuelles Plenarprotokoll > Vorläufiges Protokoll der 184. Sitzung vom 14. Juni 2012
**** NACH § 117 GOBT AUTORISIERTE FASSUNG ****
*** bis 15.20 Uhr ***
Deutscher Bundestag
184. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012
Beginn: 9.01 Uhr
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Ich möchte Sie zu Beginn unserer Plenarsitzung darauf aufmerksam machen, dass unser Kollege Hans-Ulrich Klose heute seinen 75. Geburtstag feiert.
Lieber Kollege Klose, mit diesem Beifall des ganzen Hauses kommen nicht nur die guten Wünsche für die nächsten Jahre zum Ausdruck, sondern zweifellos auch die große Sympathie und die große Wertschätzung, derer Sie sich im ganzen Hause erfreuen. Ich weiß, dass heute Abend auch aus diesem Anlass die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft zu einer besonderen Veranstaltung zusammentritt, die sicherlich Gelegenheit bieten wird, dieses besondere Ereignis auch in einer besonderen Weise zu würdigen. Noch einmal alle guten Wünsche!
Am 22. Mai hat der Kollege Bernhard Brinkmann, den wir heute nach längerer Krankheit wieder unter uns begrüßen können, seinen 60. Geburtstag gefeiert. Auch ihm möchte ich auf diesem Wege herzlich gratulieren.
Wir freuen uns, dass Sie wieder dabei sind, und wünschen Ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute und eine stabile Gesundheit.
Wir haben in den zurückliegenden Tagen immer mal wieder weitere Geburtstage von Kollegen gefeiert. Ich darf nur die etwas auffälligeren erwähnen: Der Kollege Hans-Christian Ströbele hat seinen 73., die Kollegin Helga Daub ihren 70. und der Kollege Wolfgang Bosbach seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ihnen allen gelten unsere guten Wünsche.
Bedauerlicherweise hat die Kollegin Nicolette Kressl mit Wirkung vom 1. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist die Kollegin Annette Sawade nachgerückt. Im Namen des Hauses darf ich sie herzlich begrüßen.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Schließlich müssen wir vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die SPD-Fraktion schlägt vor, für die Kollegin Aydan Özoguz die gerade begrüßte Kollegin Annette Sawade als Schriftführerin zu wählen. Das ist eine der schnellsten parlamentarischen Karrieren, an die ich mich erinnern kann. Wir wollen einmal sehen, ob das auch die notwendige Mehrheit findet. Ist jemand gegen diesen Vorschlag? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Dann sind Sie gleich am ersten Tag Ihrer Mitgliedschaft in diesem Hause in dieses wichtige Amt gewählt. Ich darf die allgemeine Freude auf die Zusammenarbeit um die besondere Freude der Zusammenarbeit hier oben ergänzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:
Umstrittene Nutzung des Auslandsnachrichtendienstes für den Transport eines von BM Niebel privat gekauften Teppichs
(siehe 183. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 52
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksache 17/9738 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
A. f. Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 53
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/9939 -
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP:
Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht verankern
- Drucksache 17/9956 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss
A. f. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
A. f. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
A. f. Kultur und Medien
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen
- Drucksache 17/9931 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 29 und 53 e abgesetzt. Darüber hinaus kommt es in der Zusatzpunktliste zu Änderungen im Ablauf, die dargestellt sind.
Darf ich von Ihrem Einvernehmen ausgehen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum G-20-Gipfel am 18./19. Juni 2012 in Los Cabos (Mexiko)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nächste Woche wird in Los Cabos in Mexiko der diesjährige G-20-Gipfel stattfinden. Seit Beginn der Finanzkrise 2008/2009 hat sich die G 20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit etabliert. Geboren ist dieses Forum aus der Erfahrung der wechselseitigen Abhängigkeit, in der wir auf der Welt zusammenleben, insbesondere nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Seither ist die Agenda der G 20 von der allein akuten Krisenbewältigung hin zu einer wirklich breiten globalen Zusammenarbeit erweitert worden. Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit ist deshalb heute umfassend zu verstehen. Alle Themen, die auf der Tagesordnung stehen, ordnen sich dieser gemeinsamen internationalen Zusammenarbeit unter.
Erstens wird es um das sogenannte Green Growth gehen. Es steht auf der G-20-Agenda der diesjährigen mexikanischen Präsidentschaft ganz oben. Ich begrüße, dass Mexiko hier einen Schwerpunkt setzt, auch mit Blick auf den danach stattfindenden Gipfel Rio+20 in Brasilien. Grünes Wachstum ist ein Thema für alle G-20-Staaten, egal ob sie Schwellen- oder Industrieländer sind; denn nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gilt das Prinzip der gemeinsamen, wenn auch im Einzelfall unterschiedlichen Verantwortung. Es müssen Wege gefunden werden, mit denen Wirtschaftswachstum, Klima- und Umweltschutz weltweit in Einklang gebracht werden können. Das kann nur geschehen, wenn wir die Wachstumsdynamik so gestalten, dass sie von Innovationen und grünen Technologien, Verfahren und Produkten getragen wird. Es geht also darum, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen. Das Ganze wird dann Inclusive Green Growth genannt. Das Ergebnis, wenn dieser Grundsatz beherzigt wird, ist das, was unter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ diskutiert wird.
Es geht hier allerdings um sehr konkrete Dinge. Wir dürfen nicht vergessen, dass von den 7 Milliarden Menschen, die auf der Welt leben, 1 Milliarde akut von Hunger bedroht ist. Das heißt, es geht darum, Hunger zu bekämpfen, die Biodiversität zu erhalten, dem Klimawandel zu begegnen. Wir wissen, dass Fortschritte, wenn es um verbindliche internationale Abkommen geht, in diesem Bereich eher im Schneckentempo erzielt werden. Es ist ein gutes Signal, dass es in Durban gelungen ist, wenigstens die Absicht zu verfestigen, dass wir ein weltweit bindendes Klimaabkommen brauchen. Aber der Weg ist mühsam. Doch genau das liegt im Interesse des gesamten Deutschen Bundestages bzw. der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wird sich die deutsche Delegation, geführt von Umweltministerium und Entwicklungsministerium, bei Rio+20 genau dafür einsetzen.
In Los Cabos werden wir darüber beraten, welchen Beitrag die grüne Ökonomie für eine nachhaltige Entwicklung leisten kann, auch und gerade im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung und der Sicherung der Ernährung. Es geht um nachhaltige Produktion und Produktivität im Agrarsektor. Es geht darum, die Situation der Kleinbauern zu verbessern. Wir werden insbesondere über spezielle Finanzierungsmechanismen für Kleinbauern beraten. Es ist deshalb sehr wichtig, dass es vor kurzem gelungen ist, eine Einigung über die freiwilligen Leitlinien zu den Landnutzungsrechten zu erzielen. Das mag uns aus unserer Perspektive hier heute Morgen sehr fern vorkommen. Für Millionen von Menschen kann es aber eine Zukunft bedeuten. Wir haben über die entsprechende Agenda schon beim G-8-Gipfel in Camp David diskutiert und dort eine neue Allianz zur Ernährungssicherung geschaffen. Dies soll im Rahmen der G 20 fortgesetzt werden. Ziel ist es, in den nächsten zehn Jahren 50 Millionen Afrikanern aus der Armut zu helfen - ich glaube, ein zutiefst menschliches Anliegen.
Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet G 20 auch bei einem zweiten Thema, nämlich der Beschäftigung. Gerade dieses Ziel wird im Rahmen der G 20 von der Gruppe der Gewerkschaftsvertreter und der Internationalen Arbeitsorganisation sehr intensiv verfolgt. Es geht hier vor allen Dingen um den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Das ist nicht nur ein Problem in Europa, sondern ein weltweites Problem. Es wird deshalb auch in Los Cabos diskutiert. Es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen zur Förderung der Jugendbeschäftigung. Da geht es um den reibungslosen Übergang von der Schule in den Beruf, praxisorientierte Ausbildung, die Förderung von beruflicher Ausbildung. Ich glaube, Deutschland kann und wird hier seinen Erfahrungsschatz aus dem dualen Berufsausbildungssystem sehr gut einbringen.
Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir das schaffen wollen, wir es nur gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften schaffen werden. Wir in Deutschland haben gerade in der Krise 2008/2009 gute Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft gemacht. Dieses Beispiel kann, glaube ich, weltweit Schule machen.
Drittens gehört zu dem Thema der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der freie Handel. Hier ist ein deutliches Wort notwendig, und ich werde dort auch entsprechend auftreten. Das Bekenntnis zum freien Handel ist zu oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Monitoringberichte der internationalen Organisationen zeigen, dass die G 20 ihre Selbstverpflichtung in Sachen Protektionismus bislang nicht immer ernst genug genommen hat. WTO, OECD und UNCTAD haben zuletzt Ende Mai mit Sorge darauf hingewiesen, dass mittlerweile fast 4 Prozent des Handels der G-20-Staaten von solchen handelsbeschränkenden Maßnahmen betroffen sind. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, wirksame Instrumente zu schaffen, um dieser Entwicklung entschieden zu begegnen. Protektionismus verhindert Wachstum. Wir brauchen nicht tagelang über Wachstum zu sprechen, wenn wir anschließend nicht bereit sind, im Sinne von freiem Handel alles zu tun, um Wachstum zu fördern.
Das Thema wird in Los Cabos sehr konkret werden; denn wir haben bei der G 20 ein sogenanntes Stillhalteabkommen zur Begrenzung des Protektionismus, das Ende 2013 ausläuft. Wir müssen es in Los Cabos verlängern, und zwar möglichst weit in die Zukunft hinein, weil internationaler Handel Impulse für Innovation, Wachstum und Beschäftigung schafft. Wir wissen, dass die Doha-Runde stockt. Deshalb müssen wir vor allen Dingen regionale und bilaterale Ansätze voranbringen. Die Europäische Union führt hierzu strategische Gespräche mit wichtigen Partnern in Asien und Lateinamerika. Deutschland ist bei diesen Verhandlungen immer ein konstruktiver Partner.
Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verlangt viertens und nicht zuletzt die Stärkung der Institutionen. Wir haben seit 2009 eine erstaunliche, auch sehr schnelle Entwicklung gehabt, bei der internationale Organisationen gestärkt wurden. Das gilt insbesondere für den Internationalen Währungsfonds. Der Internationale Währungsfonds muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, seine überaus wichtige Aufgabe zugunsten aller Mitgliedsländer wahrzunehmen. Deshalb war es wichtig, dass es auf der Frühjahrstagung des IWF gelungen ist, die Ressourcen aufzustocken. Wir erinnern uns: Zusätzliche finanzielle Mittel in Höhe von 430 Milliarden US-Dollar, davon allein rund 150 Milliarden Dollar aus der Euro-Zone, sprechen hier eine eigene Sprache.
Jetzt geht es aber auch um die Umsetzung der 2010 beschlossenen IWF-Quotenreform. Hier geht es um die neue Machtbalance, die letztlich widerspiegelt, wie sich die ökonomischen Verhältnisse weltweit verändert haben. Das heißt, die Schwellenländer werden einen größeren Einfluss im IWF bekommen. Deutschland hat diese Quotenreform national fristgerecht umgesetzt, aber das haben noch nicht alle gemacht. Ich meine, es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit auch für die internationale Zusammenarbeit, dass alle Mitgliedstaaten dieser Quotenreform gerecht werden, damit der IWF auch arbeiten kann.
Der IWF hat nicht nur die Rolle, finanzielle Mittel in Notfällen bereitzustellen, sondern er entwickelt sich auch immer mehr zu einem Überwachungs- und Beratungsgremium. Er hat ja bei der Bekämpfung der europäischen Schuldenkrise eine ganz wichtige Aufgabe im Rahmen der Troika. Ich will an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, meine Damen und Herren, dass es die Troika war - der IWF an vorderster Stelle mit dabei -, die die Programme für Griechenland, für Portugal und für Irland ebenso wie Programme für andere europäische Länder, die wie zum Beispiel Lettland nicht im Euro-Raum sind, entwickelt hat, und dass deshalb diese Programme auf internationalem Fundament ruhen und aus diesem Grunde auch umgesetzt werden müssen.
Die Themen grünes Wachstum, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, freier Handel, Stärkung der Institutionen sind von größter Bedeutung. Aber machen wir uns nichts vor: So wichtig all diese Themen sind, so sehr werden sie in Los Cabos alle im Schatten eines Themas stehen, das seit gut zwei Jahren auch uns, Deutschland, Europa und die Welt nahezu unablässig beschäftigt, nämlich die Staatsschuldenkrise in Europa. Sie wird zentrales Thema in Los Cabos sein. Sie wird die Beratungen - so sehe ich voraus - auch dominieren.
Damit - daran gibt es nicht den geringsten Zweifel - wird gerade auch unser Land, wird Deutschland einmal mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
Es ist so: Alle Augen richten sich auf Deutschland, weil wir die größte Volkswirtschaft im europäischen Raum und weil wir eine große Exportnation sind. Deshalb möchte ich noch einmal daran erinnern: Es ist zwar viel passiert seit dem letzten Gipfel in Cannes - Aufstockung des Rettungsschirms, strukturelle Reformen in vielen Ländern, Verhandlungen um den Fiskalvertrag; wir sind auf dem Weg, uns in Europa intensiver als jemals zuvor abzustimmen und die Union weiter zu vertiefen -, aber das wird nichts daran ändern, dass die aktuelle Situation dort auf der Tagesordnung steht.
Wir beachten immer, dass die Stärkung des Wachstums und die Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. Im Übrigen sind alle Programme, die von der Troika verabschiedet wurden, genau diesem Ziel geschuldet. Diese beiden Säulen gehören in der Krise in Europa zusammen. Beide Säulen sind unverzichtbar. Beiden Säulen liegt die Überzeugung zugrunde, dass wir die Krise nur nachhaltig überwinden können, wenn wir an ihren Wurzeln ansetzen: an der massiven Verschuldung und vor allem an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten wie auch an der mangelnden Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit Europas, die entsteht, wenn es seine eigenen Regeln nicht einhält.
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur eine schonungslose Analyse unserer eigenen Erfahrungen in Europa weist uns den Weg aus der Krise.
Immer wieder haben wir in Europa unsere Ziele nicht eingehalten. Im Jahre 2000 wurde von den Staats- und Regierungschefs beschlossen, dass man 2010 der dynamischste Kontinent der Welt sein wolle. Wir haben dies erkennbar nicht erreicht.
Ich sage auch: Angefangen hat diese Entwicklung bei der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion vor 20 Jahren. Eigentlich sollte sie auf dem Fundament einer politischen Union aufgebaut werden.
Es gab damals zwei große Konvente bzw. Gruppen, die zwei Aufgaben hatten: Die eine hatte die Aufgabe, die Währungsunion zu schaffen, die andere die Aufgabe, die politische Union zu schaffen. Anschließend hat man die Währungsunion beschlossen, die politische Union aber nie realisiert.
Deshalb ist es unsere Aufgabe, heute das nachzuholen, was damals versäumt wurde, und den Teufelskreis von immer neuen Schulden, von nicht eingehaltenen Regeln zu durchbrechen. Ich weiß, dass das mühsam ist, dass das schmerzhaft ist, dass das langwierig ist. Es ist eine Herkulesaufgabe, aber sie ist unvermeidlich. Alles andere wäre Augenwischerei und würde uns in noch schwierigere Probleme führen - vielleicht nicht morgen, aber mit aller Sicherheit in ziemlich kurzer Zeit, meine Damen und Herren.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Frage stellen, die uns beschäftigen muss, mit der man sich ja auch weltweit beschäftigt: Wie konnte eigentlich die internationale Finanzkrise 2008/2009 entstehen?
Sie konnte entstehen und fatale Wirkungen entfachen, weil immer wieder Fakten ignoriert wurden, Wechsel auf die Zukunft gezogen wurden, Kräfte überschätzt wurden und riskante Instrumente finanzieller Art angewandt wurden. So ist die Immobilienkrise entstanden, so wurde zu viel Liquidität bereitgestellt, so konnten neue Finanzprodukte entwickelt werden - ein Teufelskreis, den wir für die Zukunft durchbrechen müssen.
Wir müssen verstehen: Erfolgreich werden wir nur sein, wenn alle - ich betone: wirklich alle -, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die europäischen und internationalen Institutionen genauso wie die Gesellschaften unserer Länder, bereit und in der Lage sind, die Fakten anzuerkennen und die Kräfte jeweils realistisch einzuschätzen und sie zum Wohle des Ganzen auch wirklich einzusetzen. All denen, die in diesen Tagen in Los Cabos wieder auf Deutschland schauen, die von Deutschland den Paukenschlag und die Lösung erwarten, die Deutschland von Euro-Bonds, Stabilitätsfonds, europäischen Einlagensicherungsfonds, noch mehr Milliarden und vielem mehr überzeugen wollen, sage ich deshalb: Ja, Deutschland ist stark, Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Und ich sage: Deutschland setzt diese Stärke und diese Kraft auch ein, und zwar zum Wohle der Menschen - nicht nur in Deutschland, sondern auch im Dienste der europäischen Einigung und auch im Dienste der Weltwirtschaft.
Warum tun wir das? Weil wir überzeugt sind: Europa ist unser Schicksal und unsere Zukunft. Und weil wir überzeugt sind: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Aber wir wissen ebenfalls: Auch Deutschlands Stärke ist nicht unendlich; auch Deutschlands Kräfte sind nicht unbegrenzt. Deshalb besteht unsere besondere Verantwortung als größte Volkswirtschaft in Europa darin, unsere Kräfte glaubwürdig einzuschätzen, damit wir sie für Deutschland und Europa mit voller Wirkung einsetzen können. Das gelingt nur, wenn wir unsere Kräfte nicht überschätzen, sondern wenn wir glaubwürdig Schritt für Schritt unseren Weg zu einer politischen Union gehen.
Alle Mittel, alle Maßnahmen, alle Pakete wären am Ende Schall und Rauch, wenn sich herausstellen sollte, dass sie über Deutschlands Kräfte gehen, dass sie Deutschland überfordern. In dem Moment würden alle Maßnahmen, die jetzt gefordert werden, ihre Wirkung sofort verlieren, und wir würden von den Märkten wieder abgestraft. Deshalb sage ich: Wir sind verpflichtet, zum Wohle unseres Landes, aber auch zum Wohle Europas zu arbeiten. Das heißt, wir dürfen uns nicht nach dem Mittelmaß richten, nach der schnellen Lösung suchen, sondern wir müssen das Beste für unser Handeln versuchen.
Diese scheinbar einfachen Vergemeinschaftungsüberlegungen, ganz abgesehen davon, dass sie verfassungsrechtlich gar nicht machbar sind, sind somit völlig kontraproduktiv. Sie würden das Mittelmaß für Europa zum Maßstab erklären. Wir würden damit unseren Anspruch aufgeben, unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb zu halten. Wir würden die Fehler der Anfangszeit des Euro, als die Märkte uns mit fast einheitlichem Zins beurteilt haben, jetzt politisch wiederholen. Damit würden wir eben nicht an der Wurzel unseres Problems ansetzen, sondern die Probleme allenfalls kurzfristig verschleiern.
Manchen Marktteilnehmern mag das recht sein - das kann ich verstehen -; aber wir machen Politik doch nicht im Auftrag der Märkte, sondern wir machen sie für die Zukunft der Menschen in unserem Lande.
Wir haben unverändert das Ziel, dass Europa stärker aus dieser Krise hervorgeht, als es in sie hineingegangen ist. Deshalb müssen wir umfassend unsere Strukturen reformieren. Es gibt ganz einfache Ausarbeitungen, zum Beispiel der Weltbank, wo beschrieben steht, wie Europa seinen Glanz wiederherstellen kann: „Restoring the lustre of the European economic model“. Allein schon in diesem Titel drückt sich aus, dass bei uns etwas nicht richtig gelaufen ist.
Wir müssen mehr Innovationen haben. Wir brauchen mehr neue Technologien. Wir müssen den Binnenmarkt vervollständigen. Wir müssen einen Arbeitsmarkt in Europa schaffen, auf dem mehr Mobilität herrscht. Wir müssen unsere Mittel, die Strukturfondsmittel, die Kohäsionsfondsmittel, besser einsetzen. Wir müssen Bürokratie abbauen. Über alles das sprechen wir jetzt auch im Zusammenhang der Vorbereitung des Rates mit den Vertretern der Oppositionsfraktionen. Ich glaube, das sind gute Gespräche. Dass wir all das nicht ausreichend getan haben, dass wir die Regeln immer wieder nicht eingehalten haben, hat Europa Vertrauen gekostet - Vertrauen auf den Märkten und bei den Investoren. Dieses Vertrauen muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden.
Meine Damen und Herren, nehmen wir Spanien. Spanien macht - nach langer Zeit - die richtigen Reformen. Der spanische Ministerpräsident tut dies mit großem Mut und großem Engagement.
Aber Spanien sitzt auf den Folgen einer Immobilienblase, die durch unverantwortliches Handeln in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Deshalb war es auch richtig, dass Spanien sich anschickt, einen Antrag zu stellen, um die Solidarität Europas in Anspruch zu nehmen, damit die Folgen dieser Vergangenheit bewältigt werden können. Denn wir wissen: Banken müssen vernünftig kapitalisiert sein, um den Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten. Das ist die Lehre von 2008/2009.
Natürlich wird dies auch eine Konditionalität für die Zukunft des spanischen Bankensektors beinhalten. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass wir in Deutschland ebenfalls relativ leidvolle Erfahrungen mit der Umstrukturierung einiger Banken sammeln mussten. Je schneller der Antrag von Spanien gestellt werden kann, umso besser ist es.
Am Fall Spanien können wir aber auch noch ein Weiteres sehen. Vor einem halben Jahr hat die neu geschaffene europäische Bankenaufsicht einen Stresstest für alle Banken in Europa durchgeführt. Bei diesem Stresstest damals haben die nationalen Bankenaufseher sehr viel mitgesprochen. Meine Damen und Herren, das Ergebnis können wir heute besichtigen: Die spanischen Banken befinden sich in einer anderen Lage, als es der Stresstest erscheinen ließ.
Deshalb geht es - das kann man an diesem Beispiel exemplarisch sehen - in Europa um unabhängige Aufsicht, zum Beispiel im Bankensektor. Ich hätte nichts dagegen, wenn die Europäische Zentralbank hier künftig eine stärkere Rolle einnimmt, damit sie auch Aufsichtsbefugnisse bekommt, die uns davor schützen, dass nationale Einflüsse uns Probleme verschleppen lassen.
Wir brauchen eine glaubwürdige Bankenaufsicht. Wir brauchen auf der Ebene der EU eine klarere Beurteilung, wie wir Strukturfondsmittel besser in Maßnahmen und Investitionen lenken, um Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu stärken. Die Tatsache - das ist bereits ein Schritt dessen, was wir im sogenannten Six-Pack miteinander beschlossen haben -, dass die Europäische Kommission heute Länderberichte für jedes Land vorlegt
und darin die Wettbewerbsschwächen schonungslos analysiert, ermöglicht es uns natürlich auch, die Strukturfondsmittel in Zukunft sehr viel zielgerichteter einzusetzen.
Es ist vollkommen richtig: Auch Deutschland werden Hausaufgaben aufgegeben. Herr Trittin, wenn wir dann über die bessere Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie sprechen, werden wir sicher ganz schnell zusammenkommen; denn gerade im Dienstleistungsbereich wird Deutschland immer mangelnde Wettbewerbsfähigkeit vorgeworfen.
Ich weiß, dass das uns allen schwerfällt. Ich sage aber auch: Wenn wir ein glaubwürdiger Partner in Europa sein wollen, müssen auch wir unsere Hausaufgaben machen und können nicht immer sagen, dass uns das gerade nicht passt.
Meine Damen und Herren, der Fiskalpakt ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil er ein erster Schritt ist, mehr Gemeinsamkeit mit mehr Kontrolle auf europäischer Ebene zu verbinden. Es wird ganz wichtig sein, zu berücksichtigen, dass nationale Kompetenzen nur dann abgegeben werden können, wenn klar ist, dass Vergemeinschaftung auch immer mit unabhängiger Kontrolle der europäischen Institutionen verbunden ist. Haftungen und Kontrollen gehören zusammen. Alle anderen Diskussionen führen nur zu einer Scheinlösung unserer Probleme.
Europa hat sich aufgemacht, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden. Wir sind hier mit Sicherheit in einem Wettlauf mit den Märkten. Das spüren wir jeden Tag. Ich kann uns aber nur dringend raten - und ich werde in Los Cabos dafür eintreten -, dass wir diesen Weg Schritt für Schritt weitergehen, damit das Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen, ein ehrliches und ein vernünftiges Fundament ist. Es ist unsere gemeinsame politische Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern Europas und vor der Geschichte unseres Kontinents, diesen Weg erfolgreich zu gehen. Das Ergebnis wird darüber befinden, wie die zukünftigen Generationen leben können, ob weiter in Wohlstand oder ob Europa als Ganzes zurückfällt. Deshalb ist dies eine wahrhaft historische Aufgabe, meine Damen und Herren.
Diese Aufgabe können wir nicht mit weniger Europa lösen - darum geht es in diesem Parlament bei den allermeisten glücklicherweise auch nicht -, sondern nur mit mehr Europa, aber mit Europa auf einem guten Fundament.
Wenn die G 20 als G 20 überzeugend agieren wollen, dann muss in Los Cabos auch klar werden, dass nicht die Euro-Zone allein die Voraussetzung für ein starkes und nachhaltiges Wachstum weltweit schaffen kann. Die G 20 insgesamt haben eine Verantwortung. Dann muss klar werden, dass alle Partner in der G 20 alle Anstrengungen unternehmen müssen, um zu einem stabileren, stärkeren und nachhaltigeren Wachstum zu kommen.
Alle müssen wir der Versuchung widerstehen, Wachstum erneut mit mehr Schulden zu finanzieren. Wenn wir in Los Cabos einen Aktionsplan verabschieden, der aufbauend auf den Ergebnissen der G-20-Gipfel in Seoul und Cannes kurz- und mittelfristige Maßnahmen einzelner Länder zur Stärkung und Stabilisierung auflisten wird, muss genau das unser Credo sein. Es ist unverzichtbar, dass die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wesentliches Element dieses Los-Cabos-Action-Plans sein wird. Ich werde das sehr deutlich machen. Deutschland hat sich eindeutig zum Schuldenabbau und zu einer nachhaltigen Wirtschaft bekannt. Deutschland geht mit Blick auf die Einhaltung der sogenannten Toronto-Ziele - auch ein G-20-Beschluss, nämlich die Halbierung des Defizits bis 2013 zu erreichen - mit gutem Beispiel voran.
Wenn der Los-Cabos-Aktionsplan dazu beitragen soll, dass wir als G 20 das Vertrauen in eine stabile weltwirtschaftliche Entwicklung tatsächlich stärken, dann müssen alle Staaten daran mitwirken. Alle müssen bereit sein, ihre spezifischen Schwachpunkte zu überwinden: die Europäische Union - ich habe darüber gesprochen - durch die Überwindung der Konstruktionsmängel der Wirtschafts- und Währungsunion; die USA, indem sie ihr Haushaltsdefizit reduzieren; China und die anderen Schwellenländer müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie eine höhere Wechselkursflexibilität zulassen.
Die Ursachen der schwächelnden Weltwirtschaft liegen wahrlich nicht nur in der Euro-Zone. Ausgangspunkt der Krise waren die weltweiten Turbulenzen an den Finanzmärkten vor gut vier Jahren, die deutliche Regulierungslücken offenbarten. Das Vertrauen der Menschen in das weltweite Finanzsystem ist dadurch erheblich erschüttert worden.
Seitdem haben wir in der G 20 eine Reihe von wichtigen Maßnahmen beschlossen und auch umgesetzt: stärkere Kapitalausstattung für Banken, Regulierung der Derivatemärkte, Regeln für Ratingagenturen, eine Beaufsichtigung aller Fondsmanager und die Neuordnung und Stärkung der Finanzmarktaufsicht. Dass es nicht gelungen ist, global den Schwung zu nutzen und zu sagen: „Wir müssen auch die Akteure der Finanzmärkte einheitlich und global besteuern“ als Lehre aus der Finanzmarktkrise, gehört zu dem, was ich als negativ sehe.
Deshalb werde ich auch weiter darauf drängen, dass die Agenda zur Regulierung der Finanzmärkte nicht aus den Augen verloren wird. Wir haben noch wichtige Aufgaben, zum Beispiel bei der Beaufsichtigung und Regulierung der Schattenbanken, zu erledigen. Wir müssen sicherstellen, dass überall auch die Hedgefonds erfasst werden. In Europa haben wir sie einer Aufsicht unterworfen, aber nicht weltweit. Auch die konsequente Umsetzung der Konkretisierung der G-20-Beschlüsse zur Regulierung der systemisch wichtigen Finanzinstitute, der sogenannten SIFIs, ist unerlässlich.
Meine Damen und Herren, es ist gut und es ist wichtig, dass wir uns in der G 20 zu allen Fragen austauschen, die unsere Welt bewegen. Wir haben in diesem Gremium entschieden, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Nur mit einem solchen kooperativen Ansatz wird es gelingen, Lösungen für die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu finden: von der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Schuldenabbau über die Strategien zum Schutz der Umwelt und des Klimas bis hin zur Bekämpfung des Hungers und der Armut.
Wir sind eine Welt. Los Cabos wird das in diesen Tagen einmal mehr unter Beweis stellen. Ich füge hinzu: Los Cabos wird es unter Beweis stellen müssen, wenn wir den Menschen weltweit dienen wollen. Deutschland nimmt seinen Teil dieser gemeinsamen Verantwortung wahr.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Sitzungswochen haben wir eine Regierungserklärung zum G-8-Gipfel gehört. Heute gibt es eine zum G-20-Gipfel. Beide Regierungserklärungen wurden mitten in der tiefsten europäischen Krise gehalten: Rezession in weiten Teilen Europas, Einbrüche im globalen Wachstum. Vielleicht hat vor zwei Wochen der eine oder andere im Hause gedacht: Das alles hat mit uns nichts zu tun. - Das war ein großer Irrtum. Wenn ich das sage, ist es kein Schlechtreden der gegenwärtigen Lage, aber wir müssen auf die eigenen Wachstumszahlen dieses Jahres und insbesondere des vierten Quartals im letzten Jahr schauen.
Meine Damen und Herren, die Krise kommt bei uns an. Sie bedroht uns. Die Menschen haben Angst, sogar Wut, weil zum x-ten Mal Milliarden in die Hand genommen werden, um Banken zu retten. Sie haben Zweifel, ob die höchsten Erwartungen, die sie an die Politik haben, erfüllt werden. Ich frage Sie, Frau Merkel: Welche Bedrohungen und welche Ängste der Menschen spiegeln sich in Ihrer Regierungserklärung wider? Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie nicht von vornherein mit allen G-20-Partnern einer Meinung sind. Aber wo sind die deutschen Vorschläge, wo sind die deutschen Initiativen, wo ist die deutsche Vorreiterrolle bei der Regulierung von Finanzmärkten?
Ich sage Ihnen: Wer soll die Verantwortung für mutige Wege nach vorn übernehmen, wenn nicht ein Land mit über 80 Millionen Einwohnern und der stärksten Volkswirtschaft in Europa? Sie legen sich in die Furche und warten ab. Das ist nicht genug. Genau das werfen wir Ihnen vor, Frau Merkel.
Ginge es allein um Wachstumsraten und Arbeitsplätze, wäre das in der Tat dramatisch genug. Aber die Menschen - das sage ich Ihnen - verzweifeln an der schieren Ungerechtigkeit. Machtlos haben sie mit ansehen müssen, wie Verantwortungslosigkeit und grenzenlose Bereicherung eine Finanzwelt zum Einsturz gebracht haben. Millionen von Träumen, zum Beispiel vom eigenen Haus und von der Altersversorgung, sind dabei untergegangen. Die Menschen haben mit Empörung gesehen, dass für die Milliardenkatastrophen, die angerichtet worden sind, nicht die dafür Verantwortlichen, sondern die Steuerzahler in Anspruch genommen worden sind. Ein Jahr nachdem Staaten mit Milliardenhilfen die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt haben, gibt es plötzlich keinen Schuldigen mehr. Jetzt sollen wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben. Die Krise ist plötzlich eine Staatsschuldenkrise, obwohl alle wissen könnten, dass gerade die Staatsschulden unmittelbar vor der Pleite von Lehman Brothers in fast allen europäischen Staaten historisch niedrig waren. Wer heute unterschiedslos von Staatsschuldenkrise redet, der verhilft den Akteuren auf den Finanzenmärkten zur Flucht aus der Verantwortung.
Noch schlimmer für unser Land und die Situation in Europa ist: Wer angesichts einer so unzureichenden und deshalb notwendigerweise falschen Diagnose handelt, kann nur zu einer falschen Therapie kommen. Deshalb, Frau Merkel, greifen Ihre Erklärungen hier im Deutschen Bundestag zu kurz.
Was die Menschen jenseits von Empörung schlicht und einfach zur Verzweiflung treibt, ist, dass das Desaster in der Finanzenwelt alles verändert hat: zum Beispiel die Hoffnung, dass die Reformrendite bei uns ankommt und sie endlich dazu führt, dass nach Jahren des Verzichts wieder etwas zu verteilen ist, und anderswo - vielleicht nicht in Deutschland - die Hoffnung auf Arbeit und Ausbildung.
Für alle in Europa steht in dieser Krise wieder fast alles auf dem Spiel, nur auf den Finanzmärkten geht es weiter wie gehabt. Da wird nicht nur wieder kräftig verdient, sondern so, als sei nichts geschehen, spielen diejenigen, die über Jahre hinweg Geldschöpfung mit immer windigeren Produkten und völlig verantwortungslosen Bewertungen betrieben haben, jetzt Schicksal für die Volkswirtschaften, und zwar ausgerechnet mit denen, die das Schlimmste zu verhindern versuchen.
Wenn wir das alles so weiterlaufen lassen, dann reden wir sehr bald nicht mehr über verloren gegangenes Vertrauen der Märkte, sondern dann werden wir über das verloren gegangene Vertrauen der Menschen in die Demokratie reden müssen. Die Zweifel sind doch schon jetzt übergroß, ob die Politik gegen die globalen Finanzmärkte etwas ausrichten kann. Wie soll das erst werden, wenn wir den Menschen vermitteln, dass wir nicht einmal mehr den Ehrgeiz, den Anspruch dazu haben?
Frau Merkel, ich unterstelle nichts. Ich zitiere nur einen Satz aus dem aktuellen Pressebriefing der Bundesregierung zum G-20-Gipfel. Dort heißt es ganz lapidar: Bei der Finanzmarktregulierung sind keine neuen Initiativen zu erwarten. - Frau Bundeskanzlerin, vor knapp drei Jahren beim Gipfel in Pittsburgh, als alle noch unter dem Schock der Lehman-Brothers-Pleite standen, haben sich die G-20-Staaten ein sehr ambitioniertes Versprechen gegeben. Das haben Sie alle hier in guter Erinnerung: kein Markt, kein Akteur, kein Produkt auf den internationalen Finanzmärkten ohne Regulierung und ohne Aufsicht. Verkehrsregeln sollten dort geschaffen werden, wo sie nicht bestehen oder wo sie in der Vergangenheit beiseite geräumt worden sind. Das war damals in Pittsburgh nicht nur ein hoher Anspruch, sondern das war das, was die Menschen von der Politik erwartet hatten und was Sie den Menschen in Deutschland - als Lehre aus der Krise - versprochen haben.
Und jetzt, meine Damen und Herren, heißt es: Es sind keine neuen Initiativen zu erwarten. - Ich hoffe inständig, dass das nicht wahr ist. Deutschland war einmal Taktgeber auf der Ebene der G 20. Wir können und wir dürfen diesen Teil der Krisenaufarbeitung nicht einfach links liegen lassen. Es gibt dort noch riesige Baustellen. Wir brauchen mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten. Wir haben noch weitgehend unregulierte Bereiche wie den Schattenbankensektor. Wir haben die Gefahr nicht gebannt, dass die Pleite einzelner Institute zur Krise der gesamten Weltwirtschaft führt. Noch immer gibt es jede Menge hochspekulativer Finanzinstrumente, die keinen vernünftigen Zweck erfüllen und allenfalls als Brandbeschleuniger in der jetzigen Krise wirken.
Frau Merkel, es mag sein, dass in Ihrem Pressebriefing durchaus zu Recht formuliert ist, dass Initiativen von anderen nicht zu erwarten sind. Aber genau das muss doch hier im Deutschen Bundestag unser Thema sein. Weil solche Initiativen von anderen nicht zu erwarten sind, müssen wir da ran. Nicht andere, sondern wir in Deutschland sind in der Verantwortung. Genau das erwarten wir von Ihnen.
Nicht nur wir haben etwas anderes erwartet, zum Beispiel von dieser Regierungserklärung, sondern auch diejenigen, die uns beim Kampf gegen die Zügellosigkeit auf den Märkten unterstützen und die wir an unserer Seite wissen, haben etwas anderes erwartet von einer Kanzlerin, die noch vor zwei Jahren nichts dagegen hatte, sich überall in der Welt als Klimakanzlerin zu präsentieren. Aber die medialen Meriten in diesem Bereich sind zurzeit - das wissen wir alle - eher rückläufig. Wir haben verstanden: Nach Rio fahren Sie nicht.
Aber das ist nicht das Einzige, was auffällt: Das Klima spielt auch beim G-20-Gipfel eine Rolle; Green Growth ist das Stichwort dort, Sie haben es eben selbst erwähnt. Wir waren auch deshalb auf diese Regierungserklärung gespannt, weil wir wissen wollten, wie die deutschen Vorschläge zu diesem Thema aussehen. Wir haben gehört: Sie „begrüßen“ die Überlegungen der G-20-Partner. Aber was heißt das? Auch hier: Passivität statt Ehrgeiz. Wir Deutsche hätten zu diesem Thema doch wirklich etwas zu sagen gehabt. Wo können Investitionen zu mehr Energieeffizienz führen, wenn Energie in den kommenden Jahren stetig teurer und knapper wird? Von wem erwarten wir denn solche Vorschläge dazu? Etwa von den Amerikanern, die sich gerade mit billigem Shell-Gas von dieser Debatte abkoppeln? Oder von Brasilien, Russland oder Mexiko - den Förderländern, die ein Interesse an der Knappheit und an den hohen Preisen haben? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzler, hier sind wir gefragt und niemand anders; hier müssen unsere Vorschläge kommen.
Ich vermute, am Ende mangelt es gar nicht an Vorschlägen aus Ihren Fachministerien. Ich glaube, Sie selbst hadern mit solchen Überlegungen zur Wachstumspolitik. Sie haben sich in einer Vorstellung von der Gesundschrumpfung der Wirtschaft so eingegraben, dass Ihnen die Umkehr im Augenblick besonders schwer fällt. Ich weiß, Sie bestreiten das, und Sie sagen, dass wir seit zwei Jahren in Europa, auch auf den europäischen Räten, über Wachstum reden. Es wundert mich nicht, dass dort darüber geredet wird. Aber genau in diesen zwei Jahren sind wir hier im Deutschen Bundestag nicht vorangekommen. Ich darf doch daran erinnern, dass die Versuche von Opposition und Regierung, gemeinsame Entschließungsanträge zu formulieren, genau an diesen Unterschieden gescheitert sind.
In der Vergangenheit habe ich versucht, das zu verstehen: Es hat Ihnen sogar in den Kram gepasst, die Opposition als diejenigen darzustellen, die als Verletzer eines rigorosen Sparkurses in der Öffentlichkeit zu brandmarken sind. Aber das, Frau Merkel, ist Ihnen weder gelungen, noch hatten Sie recht. Dass die Merkel-Sarkozy-Arznei nicht wirkt, sagen Ihnen inzwischen auch die Experten, die Sie lange auf Ihrer Seite hatten.
Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn eine Lehre aus der Krise ist, dass wir uns langfristig unabhängiger von den Finanzmärkten machen müssen, dass wir die Neuverschuldung zurückfahren müssen, dann ist Konsolidierung in der Tat Pflicht. Ich habe es hier beim letzten Mal gesagt: Wir streiten nicht über die Notwendigkeit von Konsolidierung; aber wir streiten sehr wohl und sehr grundsätzlich darüber, wie Konsolidierung zu erreichen ist. Da bleibt mein Credo, was ich seit zwei Jahren von dieser Stelle aus vertrete: Haushaltsdisziplin und Ausgabenkontrolle sind unverzichtbar. Aber genauso wahr ist: Wenn das die ganze Antwort auf die europäische Krise ist, wenn 27 europäische Staaten gleichzeitig nichts anderes tun, als ihre Haushalte zusammenzustreichen, dann ist das eben kein Weg aus der Krise, sondern der direkte Weg in die Rezession; das ist der falsche Weg.
Sparen, Haushaltsdisziplin: Das ist eine ganz wichtige Säule eines richtigen Ansatzes, um aus der Krise zu kommen; aber es ist eben nur eine Säule. Strukturreformen gehören dazu, aber eben auch Maßnahmen und Instrumente zum Erhalt von Wachstum. Das ist kein Teufelswerk. Vielmehr können wir - das empfehle ich - Anleihe bei unseren eigenen Erfahrungen nehmen: Zweimal im vergangenen Jahrzehnt haben wir eine tiefe Krise durchschreiten müssen; wir haben das erfolgreich getan, weil wir einen klugen Mix aus Einsparen, Strukturreformen, aber auch Maßnahmen zum Erhalt des Wachstums gefunden haben. Das haben wir nicht zufällig getan, sondern deshalb, weil wir die Erfahrung hatten, dass das, was in der Krise an Arbeitsplätzen und industriellen Kapazitäten wegbricht, nach der Krise eben nicht automatisch wiederkommt. Die zweite Erfahrung ist: Wir haben über Jahre versucht, erfolglos gegen eine Krise anzusparen. Ohne Wachstum steigen die Schulden, und ohne Wachstum gelingt der Weg aus der Krise nicht.
Ich unterschreibe alle Alltagssätze, die in solchen Fällen gesagt werden. Dass jeder Staat innerhalb des gemeinsamen Währungsraums seine Aufgaben zu erfüllen hat: ja, natürlich. Ich unterschreibe den Satz, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist; auch das stimmt. Aber zur ganzen Erfahrung gehört doch, meine Damen und Herren: Immer neue Rettungsschirme helfen nicht, wenn wir das Wachstum in Europa komplett abwürgen. Diese Politik ist jedenfalls gescheitert; wir stehen gerade vor deren Ruinen.
Nun sind wir vielleicht auf dem Weg, in den Verhandlungen, die wir gerade führen, zu Annäherungen zu kommen. Wir haben uns gestern auf die Besteuerung der Finanzmärkte geeinigt. Damit nehmen wir eine Hürde - ich betone: eine wichtige Hürde -, die einer Ratifizierungsentscheidung jedenfalls für uns im Wege stand. Wir wissen auch - Frau Merkel, Sie haben das angedeutet -: Noch nicht alle Hürden sind überwunden. Lassen Sie uns deshalb mit einigem Ehrgeiz und auch mit einigem Anspruch in den nächsten Tagen an dem Thema Wachstumsinstrumente arbeiten.
Das sage ich deshalb, weil wir wissen und ahnen können, dass unsere Gespräche in den nächsten Tagen wieder unmittelbar überlagert werden durch Nachrichten aus Griechenland und vielleicht aus Spanien, die sich auf die Titelseiten drängen. Gerade dann, wenn andere Themen unsere Verhandlungen überlagern, könnte ein kluges Signal aus Deutschland zeigen, dass Konsolidierung und Wachstum nicht getrennt zu sehen sind, dass wir sie nicht als Gegensatz behandeln dürfen, sondern dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Das könnte ein gelungener Beitrag zur europäischen Krisenstrategie sein. Wir sind jedenfalls bereit, daran mitzuwirken.
Ein Letztes. Wenn die Krise so dramatisch ist, wie wir sie in unseren öffentlichen Reden, auch hier im Deutschen Bundestag, beschreiben, dann ist meine Bitte: Hören Sie auf mit der Strategie der roten Linien! Diese Strategie hat uns nach meiner Überzeugung in den letzten zwei Jahren viel Glaubwürdigkeit geraubt. Es gibt keine rote Linie, die Sie - das zeigen die Geschehnisse der zurückliegenden zwei Jahre - nicht innerhalb von sechs Monaten überschritten und scheinbar eherne Grundsätze dabei über Bord geworfen hätten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Ich bin gleich fertig.
Wir müssen uns nicht heute über das weitere Vorgehen einigen, aber klar ist: Die europäische Krisenstrategie wird auf zwei Säulen ruhen müssen, nämlich kurzfristige Krisenintervention und langfristiger Wiederaufbau des Vertrauens. Dazu wird ein Vorschlag gehören, mit dem wir zeigen, wie wir mit den Altschulden umgehen müssen. Deshalb ist der europäische Schuldentilgungsfonds ein Thema, das wir auf der Tagesordnung halten müssen,
auch wenn wir kurzfristig nicht zu gemeinsamen Vereinbarungen kommen wollen. Wir werden darüber sprechen müssen, in Europa, im Europäischen Parlament, auch hier im Deutschen Bundestag. Auch ich habe vor zwei Jahren nicht geahnt, über was wir alles in diesem Parlament mit Blick auf die europäische Krise nachdenken und entscheiden müssen. Ich weiß nur: Wir sind noch lange nicht am Ende, und Sie werden dieses Parlament in seiner Gesamtheit noch mehr brauchen, als Sie heute ahnen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
Rainer Brüderle (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der G-20-Gipfel wird viele Themen auf der Tagesordnung haben. Die wichtigsten werden die Währungsfragen sein. Währungsfragen sind immer auch Machtfragen. China schließt fast im Monatsrhythmus neue Währungsabkommen ab, vor allem mit den anderen BRICS-Staaten und mit Japan, dem Konkurrenten in Asien. Das Ziel ist klar: mehr Unabhängigkeit vom Dollar. China stellt den Leitwährungsstatus der Amerikaner schon seit langem infrage. Russland favorisiert eine Kunstwährung über den IWF.
Europa ist einen anderen Weg gegangen. Wir haben den Dollarstatus mit unserer Gemeinschaftswährung infrage gestellt. Europa spürt jetzt den rauen Wind der internationalen Finanzmärkte.
- Ach, Herr Trittin. - Wir müssen nun unsere hausgemachten Probleme lösen; denn sie waren Ursache der Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden: hohe Staatsverschuldung und fehlende Strukturreformen in einer Reihe von Mitgliedstaaten.
Aber es gibt auch interessierte Kräfte von außerhalb, etwa Ratingagenturen, die manchmal einen sehr patriotischen Knick in ihrer Optik haben. Die Angelsachsen diesseits und jenseits des Atlantiks raten uns: Macht mehr Schulden und lockert die Geldpolitik, das rettet eure Währung! Die angelsächsische Finanzlobby und ihre Verbündeten bei den Linken in Europa und in Deutschland - das ist eine unheilige Allianz der Inflation.
Banklizenz für Rettungsschirme und Euro-Bonds sind die Vermögensvernichtungswaffen dieser Inflationsallianz aus Wall Street und europäischen Sozialisten.
Wir machen das anders. Die christlich-liberale Koalition mit Bundeskanzlerin Frau Merkel an der Spitze steht für Stabilität.
Die christlich-liberale Koalition steht für gutes Geld. Sie steht für Wachstum und Beschäftigung. Deutschland ist so gut wie kein anderes Land der westlichen Welt durch die Krise gekommen. Das hat Gründe.
Wir sind den Stabilitätsweg gegangen. Wären wir den Ratschlägen der weniger Erfolgreichen gefolgt, würde die Inflation schon galoppieren.
Seit Samstag ist klar: Spanien wird wegen seiner Bankenkrise unter den Rettungsschirm gehen. Anders als Griechenland hat Spanien seine sonstigen Strukturprobleme ernsthaft angepackt. Deshalb ist es derzeit sinnvoll, von einer umfassenden Troika-Mission abzusehen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unserem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble danken. Er hat durchgesetzt, dass die spanischen Banken keine Direktzahlung erhalten, sondern das Land unter den Schirm muss. Das hat er mit viel Geschick gemacht.
Europa wird harte Auflagen machen, was die Restrukturierung der Institute angeht.
Die Euro-Zone ist noch nicht über den Berg. Vom kleinen Zypern und vom großen Italien kommen in dieser Woche sehr gemischte Signale. Deshalb ist es so wichtig, dass wir zügig den ESM und den Fiskalpakt auf den Weg bringen. Die Welt wartet auf ein starkes Signal von Europa. Wir wollen nicht, dass es mit der Unsicherheit so weitergeht. Deutschland muss eine Führungsrolle übernehmen. Die Zeiten des Kalten Krieges und des Sonderstatus von Deutschland sind vorbei.
Russland übernimmt nächstes Jahr die G-20-Präsidentschaft. Es will besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten und eine Strukturreform auf den Weg bringen. Uns wird die Führungsrolle in Europa zugetraut. Wir müssen sie annehmen.
Wir stehen als christlich-liberale Koalition für eine Politik von Maß und Mitte. Maß und Mitte haben andere verloren. Ich fand das, was der frühere Außenminister von den Grünen letzte Woche zur Schuldenkrise erklärt hat, wirklich unsäglich. Er ruft: Es brennt! Es brennt! - Das ist an Schäbigkeit und Selbstgefälligkeit nicht zu überbieten.
Joschka Fischer hat die währungspolitischen Brandsätze selbst gelegt. Der 5-Millionen-Arbeitslose-Joschka-Fischer,
der Nullwachstum-Joschka-Fischer, der Stabilitätsvertragsbrecher Joschka Fischer erzählt uns großzügig, wie die Welt funktioniert. Er hat die damalige Aufnahme von Griechenland in die Euro-Zone zu verantworten, obwohl Griechenland die Voraussetzungen nicht erfüllt hatte. Wir löschen jetzt das Feuer, das die Wachstumsfeinde von den Grünen gelegt haben.
Das Schlimme ist: Die Kassandra aus dem Grunewald gibt bei den Grünen immer noch die Richtlinien vor.
Er fordert schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme. Herr Trittin widerspricht nicht. Herr Trittin kuscht. Dafür war Herr Kollege Trittin kürzlich auf einer Konferenz der Hochfinanz. Ihren Parteifreunden haben Sie das verschwiegen. Sie haben offenbar Angst vor der Kritik aus dem eigenen Verein. Links unten anfangen und rechts oben ankommen - das ist das Motto von Herrn Trittin.
Es ist offenbar ein langer Weg vom Kommunistischen Bund Westdeutschland zur Bilderberg-Konferenz der Hochfinanz.
Ihre neuen Freunde von der Hochfinanz haben mir etwas ins Ohr geflüstert: Herr Trittin fordert jetzt die Bankenunion für Europa. Die Einlagensicherung soll nach seinem Willen europäisiert werden. Herr Trittin will, dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch für ausländische Investmentbanker haftet. Das ist Ihre Politik.
Das ist grüne Politik der sozialen Kälte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das steht in einer Linie mit Ihrer armutsfördernden Energiepolitik. 5 Mark für einen Liter Benzin, Dauersubventionen in Milliardenhöhe für Solardächer, die in China produziert werden, Dosenpfand, Handypfand, Plastiktütenverbot - Sie sind die Partei der Bioschickeria in Deutschland.
Bisher zeigen Sie auch einen wenig verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Fiskalpakt. Herr Trittin will vielleicht noch mitmachen, aber Ihre linksgrüne Basis sieht das wohl anders. Für die Grünen kommt der Strom aus der Steckdose und das Geld aus dem Automaten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen Sie sich von dieser grünlackierten Schickimicki-Partei nicht in Geiselhaft nehmen.
Wir haben Verantwortung für Deutschland und für Europa. Ich bin dem Kollegen Müntefering sehr dankbar; denn er hat zur rechten Zeit die Augenbrauen mahnend hochgezogen. Herr Gabriel hatte etwa ein Jahr lang für die Euro-Bonds die Trommel gerührt. Ich habe eine Liste mit vielen Zitaten von Herrn Gabriel dabei, in denen er sich mit Vehemenz für die Einführung von Euro-Bonds ausspricht. Seit neuestem findet er die Idee skurril, weil es dabei um eine Vergemeinschaftung der Schulden geht. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis!
„Erst grübeln, dann dübeln“, hätte ich früher gesagt. Jetzt sage ich im Gabriel-Format: Erst Münte fragen, dann twittern.
Der Weg in den Zinssozialismus ist nun also zu. Wir sollten jetzt auch nicht den Weg in den Schuldensozialismus gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD den Facharbeitern bei Volkswagen und bei Daimler erklären will, dass sie mit ihren Steuern die Altschulden von Italien, Spanien und Griechenland tilgen sollen. Das wäre nämlich der Weg in den Schuldensozialismus.
Aber ich habe wahrgenommen, dass die Leidenschaft für diese Schuldenvergemeinschaftungsstrategie bei den Sozialdemokraten nicht sehr ausgeprägt ist. Ihnen geht es jetzt um die Beteiligung der Hochfinanz an den Krisenkosten. Das wollen auch wir.
Wir sind uns einig: Die Riester-Vorsorge, die Kleinanleger und die Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand dürfen nicht negativ betroffen sein. Verlagerungswirkungen wollen wir ausschließen.
Sie als Opposition wollen das Wünschbare, wir als Regierungskoalition bieten Ihnen das Machbare. Machen Sie mit, und verknoten Sie sich nicht in kleinlicher Parteipolitik. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für Deutschland und für Europa. Es ist wahr, was Herr Steinmeier sagt: Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, leidet auch die Demokratie. - Deshalb: Schluss mit den Illusionen, wir könnten durch Zinssozialismus und Schuldensozialismus die Probleme Europas lösen! Hier ist jetzt die Stunde der Wahrheit. Zwei plus zwei bleibt vier, auch für Sozialisten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss Ihnen sagen, Herr Brüderle: Ihr Internationalismus ist wirklich unter Stammtischniveau. Das, was Sie hier geboten haben, geht einfach nicht.
Ich sage Ihnen auch: Ich verstehe Ihren Versuch, die FDP zu retten, aber Sie retten die FDP nicht mit Pöbeleien gegen die Grünen. Das ist so nicht zu erreichen. Machen Sie eine eigenständige Politik!
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang Ihrer Rede über Armut und über Hunger auf der Erde gesprochen. Sie haben auch wichtige ökologische Projekte genannt, über die auf dem G-20-Gipfel gesprochen werden soll. Das alles sind wichtige Themen. Ich würde gerne zu all diesen Themen etwas sagen. Aber ich habe nur elf Minuten Redezeit. Deshalb konzentriere ich mich auf das, was Sie zur Krise, zur Finanzkrise, zur Euro-Krise und zum diesbezüglichen Verhalten der Bundesregierung gesagt haben.
Sie haben den schönen Satz gesagt - er ist wirklich einmalig -, Sie machen keine Politik für die Märkte. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin: Die Finanzmärkte ziehen Sie und Ihre gesamte Regierung am Nasenring durch Europa. Das ist die Wahrheit. Sie machen exakt das, was die wollen.
Aus Italien hören wir Horrormeldungen. Es gibt die Bankenkrise in Spanien. Sie fürchten die Wahlen in Griechenland. Was kommt denn dabei heraus? Wie auch immer die Wahlen in Griechenland ausgehen: Die Linken werden dort gestärkt. Was haben wir in Frankreich erlebt? Dass Präsident Sarkozy, der Ihre Politik betrieb, abgewählt und Präsident Hollande gewählt wurde. Merken Sie denn nicht, was passiert, Frau Bundeskanzlerin? Ihre Europapolitik wird in Europa abgewählt. Sie nehmen das aber nicht zur Kenntnis.
Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerungen, und Sie korrigieren sich auch nicht, obwohl es dafür höchste Zeit wäre. Ich sage Ihnen: Diese Art der Ignoranz halte ich für nicht hinnehmbar.
Kommen wir zur Bankenkrise in Spanien. Der Ministerpräsident von Spanien hat zunächst gesagt, er wolle auf gar keinen Fall Geld vom Rettungsschirm. Warum hat er das gesagt? Weil er die Troika fürchtet und weiß: In dem Moment, in dem der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission bei ihm das Sagen bekommen, schränkt dies die Souveränität Spaniens unheimlich ein. Aber er hat dies nicht durchgehalten und musste sich dann doch an den Rettungsschirm wenden. Gerade erst hörten wir, dass auch Herr Monti, der Ministerpräsident von Italien, sagte, er werde sich nicht an den Rettungsschirm wenden. Ich sage Ihnen: Auch er wird umfallen, und wir werden dasselbe erleben.
Immerhin macht die Bankenkrise in Spanien eines deutlich: dass der von Ihnen verwendete Begriff „Schuldenkrise“ falsch ist. „Schuldenkrise“ heißt nämlich, dass die Staaten zu viel Geld ausgeben. Durch die Verwendung dieses Begriffs wollen Sie erreichen, dass die Leute in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und auch in Deutschland sagen: Ja, wahrscheinlich haben wir zu hohe Löhne. Wahrscheinlich haben wir zu hohe Renten. Wahrscheinlich haben wir in den verschiedenen Bereichen zu hohe Ausgaben.
- Sie sagen ja sogar, dass es so ist. - Genau das ist aber falsch. Denn was zeigt die Bankenkrise in Spanien? Die Banken und Hedgefonds sorgen dafür, dass die Staatsschulden der Länder immer weiter steigen.
Deshalb muss man diese Krise „Finanzkrise“ nennen und darf nicht von einer „Schuldenkrise“ sprechen. Alles andere ist eine Vernebelung.
Diese Krise beweist noch etwas. Sie beweist ganz klar: Nicht zu hohe Renten, zu hohe Löhne, zu hohe Sozialleistungen oder zu hohe Investitionen in anderen Ländern sind die Ursachen der hohen Schulden, sondern das vollständige Versagen der Banken und Hedgefonds.
Jetzt passiert Folgendes: Spanien werden aus dem Rettungsschirm etwa 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Spanien gibt dieses Geld dann den Banken, damit sie wieder liquide sind und wirtschaften können.
An dieser Stelle möchte ich jedoch auf zwei Aspekte hinweisen:
Erstens. Wenn diese 100 Milliarden Euro nicht zurückgezahlt werden, dann haften - Herr Schäuble, da müssen Sie mir zustimmen - auch die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, und zwar für 27 Prozent dieses Geldes.
Sie nehmen die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler also in Haftung. - Das ist das eine.
Zweitens. Die spanischen Banken bekommen diese 100 Milliarden Euro, weil sie nicht mehr liquide sind. Erklären Sie doch einmal dem Inhaber einer kleinen GmbH in Deutschland, an wen er sich wenden soll, wenn er nicht mehr liquide ist. Er hat keine Chance. Die Banken und Hedgefonds hingegen bekommen so viel Geld, wie sie brauchen. Die Großaktionäre haben es besonders bequem; denn für Schulden haften sie nicht. Das übernehmen ja immer die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Wenn die Unternehmen aber Gewinn machen, dann verteilen die Großaktionäre diesen unter sich. Deshalb sage ich: Wenn 100 Milliarden Euro an die privaten Banken fließen, dann müssen sie vergesellschaftet werden, damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht nur haften, sondern endlich auch am Gewinn beteiligt werden.
Im Übrigen: Die Linken in Griechenland haben doch recht. Sie wollen das Spardiktat beenden. Es wird dafür auch höchste Zeit. Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Situation der Rentnerinnen und Rentner und der Facharbeiterinnen und Facharbeiter in Griechenland ist. Das geht so nicht! Ich frage Sie: Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Die Aussage, die Sie in diesem Zusammenhang immer wieder verbreitet haben, stimmt nicht. Sie sagen, Tsipras wolle die Schulden nicht zurückzahlen. Das ist völlig falsch. Er will nur einen anderen Weg gehen. Er will Steuergerechtigkeit herstellen. Er will die Steuerhinterziehung bekämpfen. Dafür ist es wirklich höchste Zeit, übrigens nicht nur in Griechenland - dort allerdings in besonderem Maße -, sondern auch in Deutschland.
Er will investieren. Wenn er investiert, dann hat er höhere Steuereinnahmen, und wenn er höhere Steuereinnahmen hat, dann kann er auch die Schulden zurückzahlen. So wie Sie es den Griechen vorgeben, indem Sie sagen: „Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen runter, immer weniger investieren“, geht es nicht. Wo sollen denn dann die Steuern herkommen? Sie ruinieren das Land. Das ist der völlig falsche Weg, wenn wir den Euro retten wollen.
Interessant ist auch, dass Sie sagen, mit den Linken dort wollen Sie gar nicht verhandeln. Zum Glück hat die EU-Kommission gesagt, sie wolle doch mit denen verhandeln. Sie ist einen Schritt weiter als unsere Bundeskanzlerin.
- Na ja, mit mir schon.
Das liegt aber nur daran, dass Sie dazu gezwungen sind. Sonst würden Sie das ja nicht machen, Herr Kauder. Den anderen, Herrn Tsipras, wollten Sie ja nicht empfangen.
Abgesehen davon könnten wir Griechenland doch folgenden Vorschlag machen: Die Rüstungsausgaben, die bei den Griechen über 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und bei uns nur über 1 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, in einem ersten Schritt halbieren! Dann müssten allerdings auch die Kieler Werke auf ihre Einnahmen aus dem Verkauf von U-Booten, die sie nach Griechenland liefern wollen, verzichten. Das ist auch vertretbar, meine ich.
Es gibt noch etwas, was mich in ganz Europa - in Griechenland genauso wie in Deutschland - ärgert. Deshalb schlage ich Ihnen hier einmal US-Recht vor. Das ist doch auch selten! Dieses US-Recht galt sogar unter Bush, der wirklich vieles, aber kein Linker war.
Welche Situation haben wir? Die Reichen in Europa entziehen sich all ihrer Steuerpflichten. In Griechenland gibt es zum Beispiel 2 000 reiche Familien, denen 80 Prozent des Vermögens gehören. Aber sie bezahlen natürlich keine Steuern, weil sie das Vermögen nach außen verlagert, ihren Wohnsitz woanders haben usw. Wir kennen das aus Deutschland. Die reichen Deutschen haben ihren Wohnsitz in Österreich, in der Schweiz, in Liechtenstein, in Monaco oder auf den Seychellen etc., nur um hier keine Steuern zu bezahlen.
Ich sage Ihnen: Hier müssen wir US-Recht einführen. Wir müssen die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft binden. Das brauchen wir in ganz Europa.
Das heißt Folgendes: Sie können hinziehen, wohin sie wollen. Aber sie müssen ihren Einkommensteuerbescheid und, wenn es die Vermögensteuer endlich wieder gibt, ihren Vermögensteuerbescheid an ein einziges in Deutschland zuständiges Finanzamt schicken. Die griechischen Familien müssen dies an ein einziges in Griechenland zuständiges Finanzamt schicken. Dort rechnet man aus, ob sie in dem jeweiligen Land mehr bezahlen müssten. Hinsichtlich der Differenz erhalten sie dann einen Steuerbescheid. So machen das die USA. Dadurch haben sie beachtliche Einnahmen. Wer diese Bescheide nicht einreicht, der begeht eine Straftat. Das müssen wir endlich in ganz Europa und auch hier in Deutschland durchsetzen.
Vor kurzem hat Joschka Fischer - das ist von Herrn Brüderle ja aufgegriffen worden - die gesamte Politik kritisiert. Er hat zu Recht gesagt: Mit der drastischen Sparpolitik wird die Euro-Zone gegen die Wand gefahren. Die Brände werden nicht mit Wasser, sondern mit Kerosin gelöscht. - Er kritisiert damit die Bundesregierung, aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch SPD und Grüne. Sie haben bisher jedem Schritt der Bundesregierung zugestimmt. Sie halten hier immer kritische Reden und machen dann bei allem mit. Das ist doch das Problem, das auch von Joschka Fischer kritisiert wird.
Ich sage Ihnen noch etwas: Der Fiskalpakt ist nicht nur - ich habe das hier schon einmal begründet - grundgesetzwidrig, sondern er zementiert auch Sozialkürzungen, einen Wettbewerb nach unten und Hartz IV für Europa und zerstört den europäischen Sozialstaat.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie fahren heute ja zu Hollande.
- Sie sind schon wieder zurück. Umso besser! - Ich sage Ihnen nur Folgendes: Die französische Sozialdemokratie will nachverhandeln. Wenn Sie der Ratifizierung des Vertrages zustimmen, dann zerstören Sie den Plan des französischen Präsidenten, nachzuverhandeln.
Sie haben anfangs von einem Wachstumspakt geredet. Dann ging es nur noch um ein Wachstumspaket, jetzt geht es nur noch um Wachstumsimpulse. Mein Gott, lassen Sie sich doch nicht so durch Europa ziehen, sondern machen Sie diesbezüglich endlich einmal eine eigenständige Politik!
Ich komme jetzt noch einmal zu Hollande, weil Sie mir nicht glauben. Er hat gesagt: Die französischen Truppen müssen bis Ende 2012 aus Afghanistan abgezogen werden. - So einen Satz habe ich von der deutschen Sozialdemokratie noch nie gehört.
Er hat gesagt, er nehme den späteren Renteneintritt zurück, man solle in Frankreich wieder Rente ab 60 Jahre beziehen.
Ich darf Ihnen dazu sagen: Die Durchschnittsrente bei voller Erwerbstätigkeit beträgt in Deutschland 1 100 Euro und in Frankreich 1 700 Euro. Sie haben dafür gesorgt, dass wir eine so niedrige Rente haben und dass wir die Rente erst ab 67 beziehen können. Mein Gott, wären Sie doch wenigstens so wie die französische Sozialdemokratie! Dann hätten wir in Deutschland endlich wieder eine Sozialdemokratie.
Was müssen wir in Europa wirklich machen?
Erstens. Wir brauchen ein Ende der Spardiktate. Die Spardiktate sind falsch, ungerecht und gescheitert.
Zweitens. Wir brauchen stattdessen ein Programm für Investitionen und Wachstum; denn nur mit Wachstum lassen sich die Haushaltsdefizite abbauen. Wir sorgen auf diese Art und Weise auch für mehr Beschäftigung. Dadurch haben wir dann mehr Steuereinnahmen. Dadurch können auch die Schulden getilgt werden. Das gilt für alle Länder, auch für Deutschland.
Der Teufelskreis aus Banken- und Staatsschuldenkrise muss beendet werden. Warum kann denn nicht eine staatliche europäische Bank bei der EZB Geld aufnehmen und zum gleichen niedrigen Zinssatz direkt an Spanien oder andere Länder weitergeben? Dann hätten wir endlich ein Ende der Spekulation um den Euro. Warum müssen wir zwischendurch immer wieder private Banken reichmachen, wie Sie das ständig betreiben?
Ich sage ganz klar: 1 Billion Euro hat die Europäische Zentralbank den großen privaten Banken in Europa zur Verfügung gestellt: 1 Billion Euro für drei Jahre für 1 Prozent Zinsen! Was machen die Banken mit dem Geld? Sie geben es Italien, Spanien und anderen Ländern für 5 Prozent Zinsen. Zwischendurch machen sie die Großaktionäre reich. Erklären Sie doch einmal dem Facharbeiter oder dem Bäckermeister in Deutschland, wieso er letztlich für dieses Geld haftet.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen außerdem Steuergerechtigkeit; das wird höchste Zeit. Wir brauchen eine Millionärssteuer. Die Zahl der Millionäre nimmt zu. Diese könnten sich eine solche Steuer leisten. Mit welcher Begründung bleiben die eigentlich verschont? Was haben denn die Hartz-IV-Empfängerin, der Facharbeiter oder der Bäckermeister falsch gemacht, sodass es zu dieser Krise gekommen ist? Nichts!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Die Großaktionäre haben etwas falsch gemacht. Sie haben die falschen Geschäfte gemacht und verdienen daran. Sie werden nicht zur Kasse gebeten. Das müssen Sie endlich beenden.
Ich weiß, Herr Präsident. Ich komme zum letzten Satz.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie wissen, dass ich Ihnen fast immer länger zuhören könnte, als Ihre Fraktion überhaupt Redezeit hat. Aber in einem gewissen Umfang bin ich an die Einhaltung unserer Geschäftsordnung gebunden.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Das zeigt, dass die Linke schon deswegen ein besseres Wahlergebnis braucht, damit wir hier längere Redezeiten bekommen.
Aber abgesehen davon, sage ich Ihnen noch eines, Frau Bundeskanzlerin: Sie wollen jetzt eine politische Union in Europa. Das kommt sehr spät. Das war schon bei der Einführung des Euro dringend erforderlich. Aber was für eine politische Union wollen Sie? Eine der Spaltung! Wir kämpfen weiter gegen ein Europa der Knebelung, der zerstörerischen Sparpolitik,
gegen ein Europa der Banken und für ein friedliches, demokratisches und soziales Europa. Anders wird es nicht gehen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gysi, nur eine Anmerkung zu Ihnen: Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr Redezeit hier im Deutschen Bundestag, sondern Sie bräuchten mehr Redezeit auf den Parteitagen der Linken, um noch einmal deutlich zu machen, worum es bei Ihnen wirklich geht. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, man sei handlungsfähig, in der eigenen Truppe aber Hass festzustellen, das passt einfach nicht zusammen.
Aber jetzt zur Sache. Dieses G-20-Treffen findet in einer außergewöhnlich schwierigen Zeit statt, in der viele Menschen aufgewühlt sind und sich die Frage stellen: Wie soll es weitergehen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt? Sie hören dann zwei Strategien, die grundsätzlich richtig sind und die auch von der SPD und von Frank Steinmeier als richtig dargestellt worden sind: auf der einen Seite Konsolidierung, weniger Schulden, also Solidität, und auf der anderen Seite Wachstum, Solidarität mit denen, die in Schwierigkeiten sind. Dies ist zunächst unbestritten. Darum wird es jetzt in Mexiko gehen.
Aber da die Volkswirtschaft keine mathematische Formel ist, bei der eins plus eins gleich zwei ist, sondern zu der auch Einschätzungen gehören, zu der es gehört, Menschen davon zu überzeugen, dass man einen bestimmten Weg gehen muss, versucht eine ganze Reihe von Politikern wieder einmal, den schweren Teil des Weges, nämlich die Solidität, nicht so ernst zu nehmen und stattdessen etwas Leichteres vorzuschlagen, nämlich Wachstumsperspektiven zu formulieren.
Wir haben aber in den Krisensituationen 2008 und 2009 gesehen, wie schwer es ist, eine Krise zu bewältigen, Solidität herzustellen und Wachstumsimpulse zu geben. Natürlich haben wir in der Krise 2008, 2009 und 2010 auch Wachstumsimpulse gegeben. Aber wir haben dafür auch einen Preis bezahlen müssen.
Der letzte Haushalt in dieser Krisensituation wies bei der Neuverschuldung einen Ansatz von über 80 Milliarden Euro aus. Danach war eine wirklich sparende Politik notwendig. Wenn wir auf dem Weg weitergemacht hätten, von dem Sie, Herr Steinmeier, jetzt sprechen - immer weiter neue Schulden, um das Wachstum zu fördern -,
dann müssten Sie mehr Zinsen zahlen, als Sie Einnahmen an Steuern haben. Das kann nicht funktionieren.
Das ist an Ihrem Weg grottenfalsch.
Deswegen müssen wir sagen: Ja, zwei Dinge gehören zusammen. Erstens geht es um die Perspektive: Es muss konsolidiert werden.
Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, wie die Weltwirtschaftskrise 2008 entstanden ist. Aus dieser Weltwirtschaftskrise ist all das gekommen, womit auch wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben. Es war damals die Entscheidung der amerikanischen Politik, dass jeder, unabhängig davon, ob er es sich leisten kann oder nicht, eine Immobilie haben soll. Dafür wurde Geld in den Markt gegeben. Wachstum - auf Pump - wurde vorgetäuscht. Das geht eine Zeit lang gut, aber dann kommt der Tag, an dem zurückgezahlt werden muss. Wenn das dann nicht geht, dann bricht das Ganze so zusammen, wie es in Amerika und Spanien der Fall war.
Deswegen kann ich nur vor dem warnen, was jetzt andiskutiert wird. Wachstum auf Pump löst kein einziges Problem und ist ungerecht gegenüber den nachwachsenden Generationen. Deswegen kann das so nicht sein.
Die Botschaft daraus heißt also zweitens: Wir dürfen bei der Lösung der Probleme kein einziges Signal geben, das in Richtung Wachstum auf Pump weist. Das Signal, das Sie immer wieder geben wollen, heißt: Schwamm drüber, was in der Vergangenheit war, Vergemeinschaftung der Schulden! - Diejenigen, die etwas besser gewirtschaftet haben, zahlen dann die ganze Veranstaltung.
Diese Botschaft ist falsch, weil daraus die Konsequenz gezogen wird: Wir brauchen gar nicht wirklich zu konsolidieren; am Schluss wird immer eine Lösung gefunden, bei der diejenigen zahlen, die sich angestrengt haben, und die anderen, die sich nicht angestrengt haben, davonkommen. Das ist keine Lösung. Deswegen war der Weg immer richtig, zu sagen: Wir wollen Konsolidierungsmaßnahmen, und wir unterstützen durch Rettungsschirme, aber das alles muss auch Konsequenzen haben.
Jetzt erwarte ich natürlich, dass diese Konsequenzen dann auch eingehalten werden. Es gibt den einen oder anderen Hinweis aus Europa, noch einmal mit Griechenland zu reden. Ja, von mir aus können wir mit Griechenland reden. Aber was einmal als Bedingung dafür, dass geholfen wird, vereinbart worden ist, muss eingehalten werden; sonst hält sich niemand mehr daran.
Das erwarte ich auch. Deshalb dürfen keine anderen Signale gegeben werden.
Auf dem Gipfel in Mexiko werden große Themen angesprochen, beispielsweise die Nachhaltigkeit in der Umweltpolitik. Wir in Deutschland und in Europa haben gravierende Entscheidungen in der Energiepolitik und darüber hinaus getroffen, damit der Klimawandel bekämpft wird und der CO2-Ausstoß reduziert wird. Aber einige derjenigen, die uns tagtäglich große Ratschläge erteilen, was gemacht werden muss, weigern sich, sich auch an diese Verpflichtungen zu halten. Das geht nicht. Es kann unmöglich sein, dass große Wachstumszentren in der Welt den Umweltschutz nicht so ernst nehmen wie diejenigen, die nicht so groß sind. Dabei hilft es nichts, zu sagen: Wir haben über viele Jahre hinweg gar nicht so hohe CO2-Ausstöße gehabt.
Es geht doch um die Beurteilung der jetzigen Situation. Deswegen kann ich die Vereinigten Staaten von Amerika nur auffordern, für Nachhaltigkeit nicht nur in der Finanzpolitik, sondern auch im Umweltschutz zu sorgen. Da haben die Amerikaner noch einiges zu leisten. Ich bitte die Bundeskanzlerin daher, dies ernsthaft einzufordern.
Ein Thema, das sich gerade auf dem bevorstehenden Gipfel in Mexiko anbieten würde, steht nicht auf der Tagesordnung. Wenn es um Wachstum und Armutsbekämpfung geht, dürfen wir nicht vergessen, dass ein Grund, warum Armut nicht in ausreichendem Maße bekämpft werden kann, das internationale Verbrechen ist. Gerade mit Blick auf Mexiko müssen wir überlegen, wie wir international agierende Drogen- und Verbrecherbanden bekämpfen können. Vieles in Afrika ist nicht möglich, weil Bürgerkrieg herrscht. Vieles in Südamerika ist nicht möglich, weil Banden Kriege führen. Daher bitte ich herzlich, dass wir uns beim nächsten internationalen Gipfel damit befassen. Ein Teil der Armutsproblematik sind Bürgerkriege und Kriege, die von Banden angezettelt werden, um sich persönlich zu bereichern. Auch das gehört auf die Agenda.
Ich glaube, dass wir in Europa auf dem richtigen Weg sind. Aus Europa muss nun ein starkes Signal kommen. Herr Steinmeier und Herr Trittin, wir können in Gesprächen durchaus eine gute Lösung finden. Wir sollten Ihre Vorstellungen und das, was wir verantworten können, zusammenbringen, um ein gemeinsames Ergebnis im Zusammenhang mit dem ESM und dem Fiskalpakt hinzubekommen.
Ich bitte allerdings darum, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt machbar ist. In Europa haben wir nämlich das Problem: Kaum ist ein Problem richtig gelöst, kommt schon wieder ein ganzer Wust an neuen Vorschlägen. Ich sage Ihnen daher: Ein Altschuldenfonds ist zurzeit überhaupt kein Thema. Wenn Sie ständig über neue Themen diskutieren und dann sagen: „Das machen wir aber nicht“, dann tragen Sie nicht zur Beruhigung der Märkte bei, sondern sorgen für Irritationen. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns das, was jetzt auf der Tagesordnung steht, verabschieden und so den Märkten ein gutes Signal geben. Erst dann sollten wir darüber reden, wie wir Europa weiterentwickeln können. Aber den Märkten ständig etwas hinzuhalten und dann zu sagen: „Das machen wir aber nicht“, macht den Appetit der Märkte immer größer und die Handlungsfähigkeit immer kleiner. Deswegen: Beschränken wir uns jetzt auf die Entscheidungen zu ESM und Fiskalpakt; denn diese sind notwendig, um voranzukommen.
Ich habe die Bitte, die entsprechenden Entscheidungen rasch zu treffen. Ich weiß, Herr Kollege Trittin, dass es auch Überlegungen gibt, die Vorlagen zu ESM und Fiskalpakt erst zu verabschieden, nachdem der europäische Gipfel zu Ende gegangen ist, also nicht Ende Juni, sondern erst, wenn die Bundeskanzlerin vom Gipfel zurückgekommen ist.
Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt und sage es hier noch einmal: Eine solche Position stellt einen schlimmen Rückfall in die Zeit vor den Regelungen dar, die wir für die Parlamentsbeteiligung beschlossen haben. Herr Trittin, Sie fordern doch vor jedem großen Gipfel eine Regierungserklärung, damit wir hier im Deutschen Bundestag unsere Wünsche und Vorstellungen formulieren können, die die Bundesregierung bei solchen Gipfeln vertreten soll. Dazu kann ich nur sagen: Ja, genau richtig. Deswegen wollen wir, bevor die Bundeskanzlerin zu dem entscheidenden Gipfel nach Brüssel fährt, hier im Deutschen Bundestag unsere Bedingungen für ESM, Fiskalpakt und ein Wachstumsprogramm formulieren und nicht erst, wenn in Europa bereits einstimmig beschlossen worden ist. Parlamentsbeteiligung kann nicht nur bedeuten, dem, was auf europäischer Ebene beschlossen wurde, einfach zuzustimmen. Deswegen sage ich: Wer sich den anstehenden Entscheidungen im Juni verweigert, nimmt die Parlamentsbeteiligung in diesem Hohen Haus nicht ernst.
Ich bitte Sie daher, dies zu berücksichtigen und gemeinsam mit uns ein starkes Signal zu geben.
Der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wünschen wir viel Erfolg und eine glückliche Hand bei dem, was in Mexiko zur Entscheidung ansteht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, jetzt ist doch wohl die Stunde der Wahrheit und der Verantwortung, auch für diesen Deutschen Bundestag, was die weiteren Entscheidungen in Europa betrifft. Jetzt ist der Sommer gekommen, in dem es auch darum geht, Europa und den Euro zu verteidigen. Es ist die Stunde der Wahrheit. Ich muss an dieser Stelle einmal auf die Karnevalsrede von Herrn Brüderle eingehen. Sie halten hier eine Veräppelungsrede, während woanders in Europa, in Griechenland zum Beispiel, sich die Leute fragen, was mit ihrem eigenen Geld geschieht. Dass Sie diese Stunde für eine Karnevalsrede nutzen, finde ich ehrlich gesagt nicht angemessen.
Sie haben uns zugerufen, die Stunde der Wahrheit sei jetzt gekommen. Dazu sage ich: Für die FDP ist die Stunde der Wahrheit schon 2008 gekommen. Wir haben angesichts der Bankenkrise eine Finanztransaktionsteuer gefordert, damit auf dem Finanzmarkt das passiert, was auch in der realen Wirtschaft üblich ist, nämlich dass bei Transaktionen Steuern anfallen. Seit dieser Zeit wehren Sie sich wie die Zicke am Strick. Das ist die Wahrheit. Wir hätten schon vor vier Jahren weiter sein können.
Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit und der Verantwortung für diesen Deutschen Bundestag. Ich sage Ihnen und auch der Bundeskanzlerin: Das heißt aber nicht, dass wir einfach irgendeiner Vorlage der schwarz-gelben Bundesregierung zustimmen; denn zur Wahrheit gehört die Verantwortung. Dieser Bundestag hat die Verantwortung, mit der Austeritätspolitik, mit dem Kaputtsparen endlich Schluss zu machen; er muss sich für Investitionen einsetzen und Solidarität in Europa organisieren. Darin liegt unsere Verantwortung.
Es geht nicht darum, über irgendetwas abzustimmen, sondern in dem Paket, das unter der Überschrift „Solidarität“ verabschiedet werden soll und bei dem es darum geht, Europa und den Euro zu retten, muss auch tatsächlich Solidarität und Zukunft drin sein.
Ihre Rede, Frau Merkel, bestand aus vielen warmen Worten. Sie reden über die neue Agenda der G 20. Man müsse Wege finden, das Soziale, das Ökologische und das Ökonomische miteinander zu verbinden. Tun Sie es doch einfach! Entscheiden Sie doch endlich über Programme, die dies inhaltlich umsetzen! Wir wollen mehr als Worte wie die, dass das Wachstum von Innovation und grüner Ökonomie getragen werden müsse. Ich bin davon überzeugt, dass von Innovationen und grünen Technologien die größten Wachstumsimpulse ausgehen. Effizienz, Einsparung, neue Energien sind die Stichworte, und zwar nicht nur für Europa, sondern auch zum Beispiel für Afrika.
Frau Merkel hat darüber geredet, dass im Rahmen der G 20 Programme zur Förderung der Kleinbauern beschlossen werden sollen. Es gehe darum, 50 Millionen Afrikaner aus der Armut zu befreien. Das ist eine große Zahl. Jeder Einzelne dieser 50 Millionen Afrikaner wird sagen, dass ihm dies wichtig ist. Ich muss Ihnen aber ehrlich sagen: Es reicht nicht, nur Investitionen von außen für 50 Millionen Afrikaner zu tätigen. Das Problem des Hungers auf der Welt hat sich doch verschärft. Vor zehn Jahren wollten wir die Zahl von 500 Millionen hungernden Menschen halbieren. Was ist geschehen? Nach zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt. Wir haben heute 1 Milliarde hungernde Menschen. Jetzt kommen Sie mit einem Programm zur Förderung von Kleinbauern.
Ich sage Ihnen: Wer wirklich nicht auf Kosten anderer leben will, wer wirklich Green Growth will und im Rahmen der G 20 und auf europäischer Ebene Verantwortung trägt, der muss auch einmal an das Eingemachte gehen. Das haben Sie an keiner Stelle getan, selbst an dieser nicht. Sie müssten sich in diesem Zusammenhang einmal zur europäischen Agrarreform und zu den Exportsubventionen äußern.
Sie können in die G 20 einbringen, dass der Norden nicht mehr auf Kosten des Südens leben sollte, auch was die Ernährung und die Landwirtschaft betrifft. Sie haben keine konkreten Maßnahmen an dieser Stelle genannt.
Sie reden über Protektionismus; ja, den gibt es. Aber dann reden Sie doch mal über den Protektionismus, den Europa selbst und Deutschland an der Stelle auf Kosten anderer auslösen.
Sie haben gesagt - Frank-Walter Steinmeier hat das schon angesprochen -, wir bräuchten Initiativen zur Regulierung der Finanzmärkte, auch für Los Cabos. Aber da ist nichts gekommen. Wo ist denn eigentlich Ihre Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte?
Sie haben mal gesagt, es sollten kein Markt und kein Instrument unreguliert bleiben. Aber dann muss man das Thema doch sowohl in der EU als auch international jedes Mal wieder auf die politische Agenda bzw. auf die Tagesordnung setzen. Dazu habe ich von Ihnen an dieser Stelle kein Wort gehört.
Als Sie davon redeten, wir bräuchten jetzt eine schonungslose Analyse, bin ich zunächst zusammengezuckt, jedoch bezog sich Ihre „schonungslose Analyse“ fast nur auf die Staatsschuldenkrise. Aber ich sage Ihnen: Es geht auch um eine Bankenkrise; es geht um das Verhalten der Finanzmärkte. An der Stelle müssen Sie auch Angebote machen, und zwar auf europäischer und auch auf internationaler Ebene. Das hat gefehlt.
Meine Frage bzw. unsere Frage an Sie ist: Wann wollen Sie eigentlich angesichts der Situation in Spanien, in Italien und in Griechenland, die man kaum zu beschreiben braucht, sowie angesichts der Jugendarbeitslosigkeit dort endlich aktiv werden? In bestimmten Jugendaltersgruppen sind 50 Prozent arbeitslos. Die jungen Leute kommen gut ausgebildet von den Unis und gehen quasi über lange Zeit ins Nichts. Diese Jugendlichen sind Europas Zukunft. Was bieten wir diesen Jugendlichen an?
Ich meine, dass jetzt die Verantwortung des Bundestages und der Bundesregierung darin liegt, Europa in dieser Stunde der Wahrheit und Verantwortung zu sagen: Ja, jetzt strengen wir uns an. Jetzt hören wir endlich auf, immer nur auf Sicht zu fahren. Jetzt hört Deutschland endlich auf, die Handtasche und das Portemonnaie darin geschlossen zu halten sowie hier nur eine Rede über die begrenzten deutschen Fähigkeiten zu halten.
Für meine Begriffe ist hier eines entscheidend, nämlich die Sorge. Ich finde, dass wir und auch Sie, Frau Merkel, die Aufgabe haben, angesichts der Sorge der Menschen, wie viel sie noch zahlen können - diese Sorge verstehen wir -, nicht nur das Portemonnaie zuzuhalten, sondern in diesem Land wirklich offen zu erklären: Wir dürfen Europa nicht kaputtsparen. Deutschland hat ein Interesse an einem prosperierenden Europa und an der Hilfe für die Krisenländer jetzt, weil es auch um unsere eigene Zukunft geht, die in Europa liegt. So müssen wir handeln! - Diese Sätze habe ich von Ihnen vermisst.
Treten wir doch einmal für eine Europäische Union ein! Frau Merkel, es reicht nicht, nur hin und wieder mal davon zu sprechen, wenn die Kritik an Ihnen zu scharf wird. Ich meine, dass man jetzt klar sagen muss: Schluss mit der einseitigen Fokussierung lediglich auf Konsolidierung! - Das ist nicht die einzige Antwort. Wir wollen die Konsolidierung nicht aufgeben, aber wir müssen ein zweites Standbein haben, wenn wir nicht im Laufe dieses Sommers den Euro endgültig gefährden wollen.
Ich will zu meinem Kollegen, Herrn Kauder, sagen: Sie führen an der Stelle aus, es ginge uns nur um Wachstum auf Pump. Das ist - ehrlich gesagt - Quatsch.
Es geht uns nicht darum, die Konsolidierungsbemühungen aufzugeben. Es geht uns auch nicht darum, dass Haushalte nicht konsolidiert werden, sondern dass wir wirklich am Kern der Probleme anfangen und dass wir zum Beispiel die Themen der europäischen Bankenaufsicht und der Kontrolle der Eigenkapitalsicherung anpacken.
Es geht uns darum, zu sehen - das weiß auch jeder Privathaushalt -: Du kannst nicht nur sparen, sondern du musst dich auch um die Einnahmeseite der Zukunft kümmern.
Man muss ermöglichen, dass etwas wächst. Hier nenne ich nur etwa grüne Technologien, moderne Automobile sowie die chemische Industrie. Man muss ermöglichen, dass der Anlagenbau modern wird, meine Damen und Herren.
Dann dürfen wir uns nicht getrennt betrachten, sondern wir sind Deutschland in Europa. Wenn es Europa schlechtgeht, geht es Deutschland nicht sofort schlecht, aber der Tag kommt, an dem es sich tatsächlich auch in den Auftragsbüchern Deutschlands zeigt. Deshalb haben wir das Interesse, gemeinsam vorzugehen. Und deshalb haben wir das Interesse, nicht nur Sparpakete aufzulegen, sondern - das sage ich ganz klar - Spanien, Italien und anderen Ländern den enormen Zinsdruck zu nehmen. Wir brauchen einen Schuldentilgungsfonds, wie Ihr Sachverständigenrat ihn vorgeschlagen hat.
Das hat im Übrigen auch das Europäische Parlament mit den Stimmen Ihrer Kolleginnen und Kollegen von der FDP gestern beschlossen. Denn nur bei reduziertem Zinsdruck gibt es auch in diesen Staaten einige Möglichkeiten mehr, nach vorne zu gehen, zu investieren und etwas Neues zu entwickeln.
Wir brauchen als zweites Standbein einen Investitionspakt für Europa. Die Eigenkapitalmittel der EIB müssen erhöht werden, und darüber hinaus müssen immer mehr Mittel gebunden werden für die Modernisierung der Wirtschaft, für ökologisch sinnvolle Investitionen - in Schiene, Stromnetz, Breitbandausbau -, weil dort die Jobs der Zukunft - auch für andere Wirtschaftszweige - geschaffen werden. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer. Wir müssen weitere Schritte hin zu einer Bankenunion vollziehen. Das alles gehört dazu, dass wir tatsächlich zu einer politischen Union kommen und die Defizite aufarbeiten.
Lassen Sie mich einen letzten Satz zu Rio sagen. Ich finde es schon bedauerlich, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie nicht zur Rio-Folgekonferenz fahren. Wer über Nachhaltigkeit redet, darf nämlich nicht nur grüne Luftblasen produzieren, sondern sollte in Rio zeigen, dass es mit einer anderen Wirtschaft wirklich ernst gemeint ist. Herr Kauder redete so schön über Fortschritt und Nachhaltigkeit.
Wissen Sie: Dann muss man auch Taten folgen lassen. Hollande fährt nach Rio. Auch wenn Sie dahin nur kurz fahren würden, wäre es ein politisches Zeichen, dass man auf dieser Ebene ernsthaft weitermachen will.
Es wäre im Übrigen längst richtig, wenn auch Ihre Koalition die Blockaden aufgäbe. Fangen Sie nicht bei Rio an, sondern fangen Sie damit an, einzusehen, dass es ein Elend war und die deutsche Wirtschaft zurückwirft -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Künast.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- mein letzter Satz -, dass Sie zum Beispiel bei der EU-Effizienzrichtlinie so lange blockieren, wie Sie es getan haben. Da hätte man für Privathaushalte jede Menge Energie einsparen können.
Lassen Sie uns endlich die Bremsen lösen und losgehen.
Was wir brauchen, sind ein Deutschland in Europa und ein Europa, das wirklich an sich selber glaubt, das eine Vision hat, dass wir in Europa zusammenleben wollen, das solidarisch Schulden miteinander trägt -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin!
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- und das dafür sorgt, dass es wirklich eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, aus der Jobs entstehen und in der nicht nur die alten Industrien gepampert werden.
Sie haben eine lange Rede gehalten, Frau Bundeskanzlerin. Aber Sie haben nicht die Zeichen für den Weg nach vorne gesetzt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Künast, Sie haben bereits vor längerer Zeit Ihren letzten Satz angekündigt.
- Na ja, es kann sich bislang keine Fraktion über mangelnde Großzügigkeit in der Bewirtschaftung der Redezeit beklagen.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Künast, was Sie uns mit dem Bild der „Zicke am Strick“ sagen wollten, weiß ich nicht.
Was ich aber weiß, ist, welchen Titel eine Ausgabe des Spiegels im Frühjahr 2010 hatte: „Grüne kämpfen gegen die Wunderwaffe Wachstum“. Dabei hat er sich auf ein Papier von Ihnen, Frau Künast, und von Herrn Trittin bezogen. Darin haben Sie Folgendes gesagt: „Wir halten den Abbau des Wachstumszwangs … für erforderlich“. Das war Ihre Politik. Damit lagen Sie zu 100 Prozent falsch.
Das haben Sie damals gesagt, und Sie haben damit den Eindruck geschaffen, eine schicke Truppe zu sein. Sie haben der Welt eingeredet, mit Wachstum müsse Schluss sein und es gebe mittlerweile einen ganz anderen Weg, wie man den Wohlstand in Europa in Zukunft sichern könne.
Als der Bundeswirtschaftsminister im Frühjahr dieses Jahres an alle Vernünftigen in Europa appelliert hat: „Wir brauchen wieder Wachstum, um aus dieser Krise herauswachsen und gleichzeitig unseren Sozialstaat stabilisieren zu können“, da hat Herr Trittin in der ihm eigenen Art bescheiden gelächelt. Inzwischen haben Sie erkannt, dass in ganz Europa das Thema Wachstum als zentraler Bestandteil der Hoffnung erkannt worden ist.
Sie fahren durch Europa - auch die Sozialdemokraten - und reden plötzlich von Wachstum, nachdem wir dieses Thema vorgegeben haben.
Nur: Weil Sie von grüner Seite sich jahrelang den Kopf darüber zerbrochen haben, wie man Wachstum am besten abbauen sollte, und nicht darüber, wie man Wachstum schaffen kann,
fällt Ihnen heute nichts dazu ein, wie man ein Wachstumskonzept für Europa entwickeln kann. Als Herr Trittin letzte Woche gefragt worden ist, ob denn ein neues Wachstumskonzept mit neuen Schulden einhergehen solle, hat er geantwortet, das sei für ihn keine dogmatische Frage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns ist das eine Frage der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes. Selbstverständlich können Wachstumsprogramme nicht durch neue Schulden in Europa finanziert werden.
Dass ein solcher Unsinn von den Grünen immer noch in der Öffentlichkeit vertreten wird, zeigt doch, dass sie sich in Wahrheit nicht dem Kern des Problems in Europa zugewandt haben.
Auch die Sozialdemokraten müssen in dieser Frage Ehrlichkeit an den Tag legen. Sich hinzustellen und zu fordern, Europa dürfe nicht so viel sparen, aber gleichzeitig zu sagen, Deutschland spare nicht genug, passt irgendwie nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deswegen laden wir Sie ein, unseren Kurs des Fiskalpaktes und der Stabilisierungspolitik in Europa zu unterstützen. Diese Politik hat aber immer zur Voraussetzung, dass Schuldenbremsen so, wie wir sie in der deutschen Verfassung implementiert haben, für ganz Europa gelten müssen. Der Ausstieg aus dem Schuldenstaat muss für ganz Europa eine Selbstverständlichkeit werden
und darf nicht von Ihnen durch Hintertüren immer wieder infrage gestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zur Wachstumsfrage: Wir können mit einer Besteuerung der Realwirtschaft, sei es durch eine Finanzmarktbesteuerung oder durch höhere Ertragsteuern, keinen Beitrag für Wachstum in Europa leisten.
Deswegen haben wir gemeinsam gesagt - ich bin auch sehr froh, dass die Sozialdemokraten sich auf diesen Kompromiss der Vernunft verständigen konnten -:
Wer Wachstum schaffen will, darf nicht die Realwirtschaft zusätzlich belasten. Bleikugeln am Bein der Wirtschaft und des Mittelstandes in Europa schwächen Europa und stärken Europa nicht.
Deswegen sagen wir gemeinsam: Wir wollen einen Weg zu einer solchen Steuer gehen. Wir wollen diesen Weg aber nicht zulasten von Wachstumschancen in Europa gehen, weil wir wissen, dass das uns alle schwächen würde.
Deswegen stehen wir zu diesem Kompromiss.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Ich glaube, es ist ein Kompromiss der Vernunft. Er wird gemeinsam auszufüllen sein. Wir werden darüber auch noch im Konkreten zu diskutieren haben. Wir sollten uns aber nicht auseinanderdividieren lassen. Wachstum schafft man nicht durch Belastung der Wirtschaft, sondern Wachstum schafft man, indem man neue Kräfte der Freiheit in Europa mobilisiert.
Dazu laden wir Sie ein; dafür stehen wir zur Verfügung - und nichts anderes.
Wir sollten dankbar sein, dass die Bundeskanzlerin mit Härte einen Konsolidierungskurs in Europa einfordert. Das muss der erste Schritt sein. Deswegen appelliere ich an Sie: Sagen Sie Ja zum Fiskalpakt. Sagen Sie Ja zum Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir haben es in der Hand, die gemeinsame Währung schon im nächsten Monat mit einem klaren Signal zu stabilisieren.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, jetzt müssen Sie wirklich zum Abschluss kommen.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Wir sollten uns nicht auf die Ebene von politischem Klein-Klein begeben und damit die Märkte zusätzlich verunsichern. Die Lösung liegt auf dem Tisch. Greifen wir zu. Gemeinsam schaffen wir das.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist unbestritten, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung die Dynamik der vergangenen Jahre noch nicht erreicht hat. Genauso unbestritten ist, dass die Konsequenzen der internationalen Finanzkrise immer noch in der Konjunktur-, in der Wachstumsentwicklung spürbar sind. Darum ist es auch richtig, dies alles jetzt beim G-20-Gipfel gemeinsam zu diskutieren. Schließlich erleben wir als Folge dieser Finanzkrise, dass nicht nur in den europäischen, sondern auch in vielen anderen Industriestaaten die Staatsverschuldung zu hoch ist. In manchen europäischen Ländern haben wir zusätzlich mit den Gefahren der Rezession zu kämpfen.
Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich: In dieser Zeit ist es nicht angebracht, irgendwelche Schuldzuweisungen von einem Staat zum anderen Staat vorzunehmen. Was wir jetzt brauchen, ist vielmehr, dass jeder Staat seine Hausaufgaben auch selber macht und sich der Probleme bewusst ist, die im eigenen Land bestehen, diese auch angeht und gemeinsam mit anderen verantwortungsvoll diskutiert.
In Deutschland stehen wir noch vergleichsweise gut da. Deutlich wird das an den Arbeitslosenzahlen, an der Erwerbstätigenentwicklung insgesamt. Wir sind wieder Konjunkturlokomotive in Europa.
Meine Damen und Herren, das kommt nicht von allein. Das ist immer noch zurückzuführen auf die Politik der letzten Jahre, auf die Politik, die schon in der letzten Legislaturperiode Markenzeichen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel war, nämlich den Dreiklang „Konsolidieren, Reformieren und Investieren“. Alles drei war gleichermaßen wichtig. Keines der drei Ziele darf allein stehen.
Daran ist auch deutlich geworden, dass Haushaltskonsolidierung, solides Wirtschaften, sparsames Wirtschaften kein Gegensatz zu Wachstumsimpulsen ist. Das haben wir in Deutschland bewiesen, und das ist auch der Kurs in Europa. Dieser Kurs muss uns in Europa und darüber hinaus weiter tragen. Deshalb ist auch der Fiskalvertrag so bedeutend und wichtig für uns. Damit wird der Grundstock für eine Stabilitätsunion in Europa gelegt mit einer rechtlichen Fixierung, die wesentlich weiter geht als das, was bisher auf europäischer Ebene vereinbart wurde. Mit dieser rechtlichen Fixierung eines soliden Haushaltens in den einzelnen europäischen Staaten kann auch wieder Vertrauen geweckt werden, was notwendig ist: Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik der einzelnen europäischen Staaten. Deshalb ist es ein Akt der staatspolitischen Vernunft und nichts anderes, diesem Fiskalvertrag nicht nur zuzustimmen, sondern ihn auch schnell zu verabschieden.
Natürlich ist es dabei nicht nur legitim, sondern auch geboten, über notwendige Wachstumsimpulse zu reden. Das tun wir übrigens nicht erst seit wenigen Tagen und Wochen, sondern schon seit langem. In dem ganzen Prozess der Entscheidungen über die Stabilisierung der europäischen Währung, bei jedem Gipfel war das ein Thema. Nun sind wir in einer Phase, in der wir diese Gespräche konkretisieren, in einer Phase, in der konkret nachgedacht wird beispielsweise über höheres Kapital bei der Europäischen Investitionsbank, über Projektanleihen, über Änderungen und Verschiebungen beim EU-Haushalt, bei den Kohäsionsfonds und bei vielem anderen mehr. Das alles ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig.
Das, was bei der Wachstumsdiskussion aber auf keinen Fall zielführend ist, ist die Diskussion über Programme - Wachstumsprogramme oder wie auch immer sie genannt werden -, die durch zusätzliche Schulden finanziert werden. Es muss uns immer klar sein: Konsolidierung und Wachstum gehören zusammen. Zu Wachstum kommt es nicht, wenn nicht die erste Stufe, nämlich die Haushaltskonsolidierung, stattfindet.
Zu Wachstum kommt es auch nicht, wenn nicht die notwendigen Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpolitischen Bereich getätigt werden.
Wenn jetzt in einigen europäischen Ländern die Diskussion darüber aufkommt, schon vorgenommene Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpolitischen Bereich wieder zurückzunehmen
oder auch notwendige Reformen gar nicht anzugehen, dann, meine Damen und Herren, versündigt man sich an dem Ziel der Wachstumsimpulse, an dem Ziel, die Staaten voranzubringen und für eine solide wirtschaftliche Entwicklung zu sorgen.
Wenn es so kommt, dann wird man auch die Zeche dafür bezahlen müssen, nämlich in Form fehlender oder schlechterer Bonität, höherer Zinsen für die Staaten und nicht zuletzt sinkenden Vertrauens in die Finanzpolitik und in die Politik dieser Staaten. Das, meine Damen und Herren, ist das Allerschlimmste;
denn Vertrauen in die Politik, Vertrauen in ein solides Wirtschaften, das ist die Grundlage dafür, dass sich die Wirtschaft gesund entwickeln kann.
Zur Finanztransaktionsteuer ist schon vieles gesagt worden; ich brauche das nicht zu vertiefen. Ich darf für die CSU nur sagen: Bei uns rennen all diejenigen, die eine Besteuerung der Finanzmärkte auf europäischer Ebene wollen, offene Türen ein. Wir werden den Bundesfinanzminister bei seinen Bemühungen, hier europaweit voranzukommen, mit aller Tatkraft unterstützen.
Nun hat sich in den Oppositionsparteien mittlerweile erfreulicherweise eine doch etwas skeptische Haltung gegenüber Euro-Bonds, die früher immer gleich als Erstes thematisiert wurden, eingestellt. Ich begrüße das sehr. Es zeigt, dass durchaus Lernbereitschaft vorhanden ist. Der Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds ist letztlich jedoch nichts anderes als die Einführung von Euro-Bonds durch die Hintertür.
Wenn man meint, damit die Probleme zu lösen, dann ist man auf einem völlig falschen Weg. Mit einer Vergemeinschaftung der Schulden nehmen wir den einzelnen Ländern jeden Druck, selbst etwas dagegen zu tun. Es ist volkswirtschaftlich sinnlos. Es ist rechtlich nicht möglich. Es ist ein Verrat an den deutschen Interessen. Deshalb werden wir dieses nicht zulassen.
Wir brauchen ein hohes Maß an Verantwortung in unserem politischen Handeln: Verantwortung bei den Krisenländern, Verantwortung bei allen Industrieländern, nicht nur bei den europäischen, Verantwortung in besonderer Weise auch von Deutschland. Die Erwartungen Europas in unser Land sind groß. Diese Erwartungen sind nicht nur von der Regierung und den Koalitionsfraktionen zufriedenzustellen, sondern sie gehen das ganze Haus an. Ich stelle mit Zufriedenheit fest - das möchte ich ausdrücklich anerkennen -, dass wir bei der Vorbereitung der Entscheidung über ESM und Fiskalvertrag in guten Gesprächen sind.
Bei dieser Gelegenheit betone ich vor allem: Das, was die Bundeskanzlerin in den vergangenen Monaten und Jahren an Verantwortung unter Beweis gestellt hat, war und ist eine großartige Leistung.
Sie hat mit Durchsetzungskraft und Hartnäckigkeit nicht nur deutsche Interessen immer vertreten, sondern sie hat auch dazu beigetragen, dass wir auf einem guten Weg zu einer nachhaltigen und dauerhaften Stabilitätsunion in Europa sind. Deshalb werden wir sie auf diesem Weg weiterhin unterstützen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Poß erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion.
Joachim Poß (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Hasselfeldt, ich gebe gerne zu, dass die Frau Bundeskanzlerin in einem Fach eine Meisterin ist: Sie ist eine Meisterin in der Feindbildpflege. Das hat sie heute Morgen wieder bewiesen, indem Sie einen Popanz über die schuldenhungrigen Sozis und Grünen an die Wand gemalt und nichts Sachliches zu dem Thema berichtet hat.
Damit wird ein Thema tabuisiert, das uns alle - auch Sie - einholen wird. Im Bericht der sogenannten Viererbande zum Europäischen Rat Ende des Monats wird dieses Thema auftauchen.
Und Sie sollten sich ganz grundsätzlich wegen der Schulden hier nicht so aufblasen, egal ob Herr Kauder oder Herr Brüderle - Sie und alle anderen Fraktionsvorsitzenden treffen sich jetzt mit der Kanzlerin; das ist in Ordnung -; denn dazu haben Sie doch keinen Anlass. Schließlich beschließen Sie heute Nachmittag eine Neuverschuldung, die fast doppelt so hoch ist wie in diesem Jahr.
Was reden Sie da von Verschuldung? Reden und Handeln fallen auch hier wieder total auseinander. Das ist sozusagen Ihr Markenzeichen. Daran ändert sich nichts.
Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung, und wir setzen sie auch durch. Offenkundig hat sich die Bundeskanzlerin dazu entschlossen, den gelben Koalitionspartner - Herr Wissing, ein besonders berüchtigter Protagonist, will die Steuer verhindern - zu domestizieren, um das Vernünftige durchzusetzen.
Frau Merkel hat zweieinhalb Jahre gebraucht, um ein Stück Vernunft in der Koalition durchzusetzen. Es ist doch kein Grund, auf diese überfällige Leistung stolz zu sein.
Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung durchsetzen, alleine schon deshalb, um nicht mehr Schulden machen zu müssen. Wir brauchen sie für die Konsolidierung wie auch für Wachstumsinitiativen; auch das ist der Sinn dieser Finanzmarktbesteuerung.
Also: Sie haben keinen Anlass zu irgendeinem Stolz. Das, was Frank-Walter Steinmeier hier festgestellt hat, nämlich dass von Ihnen null Initiative im Hinblick auf den nächsten G-20-Gipfel kommt - es wären viele Initiativen zu ergreifen; diese wurden thematisiert -, ist vollkommen richtig.
Ihnen ist die Initiative abhandengekommen. Und warum? Weil Sie in Ihrer eigenen Koalition in wichtigen zentralen Fragen wie der Finanzmarktbesteuerung eben nicht einer Meinung waren. Welche Position sollte die Bundeskanzlerin denn dann auf internationalen Gipfeln nachhaltig vertreten? Ein nachhaltiges Auftreten war ja gar nicht möglich.
Es ist schon beschämend, dass in diesem Parlament von der Koalition bei der Frage der Finanzmarktbesteuerung bis in den heutigen Morgen hinein taktiert, verweigert und blockiert worden ist. Es ist beschämend, dass es Frau Merkel zweieinhalb Jahre lang nicht gelungen ist, in dieser Frage eine klare Linie in ihrer Koalition durchzusetzen, und dass sie sich vom kleinen Koalitionspartner FDP hat auf der Nase herumtanzen lassen. Damit ist jetzt Schluss!
Auf unseren Druck und weil es anders einfach nicht geht,
musste die FDP jetzt klein beigeben. Das ist Fakt. Die FDP musste klein beigeben und nichts anderes. Das hätte man viel eher haben können.
Deswegen ist die aktuelle Entwicklung gut. Sie ist auch noch aus einem anderen Grunde gut: Für die Menschen in unserem Lande ist mit den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre einiges gehörig in Schieflage geraten. Die Menschen empfinden es als zutiefst ungerecht, wie die Lasten der Krise verteilt worden sind und dass die Krisenverursacher in der Finanzbranche viel zu gut davongekommen sind. Das muss korrigiert werden.
Das meinen im Übrigen nicht nur die Anhänger der Oppositionsparteien, das meinen auch Ihre eigenen Anhänger. Das erfährt man, wenn man einmal mit ihnen spricht. Diejenigen, die normalerweise FDP oder CDU bzw. CSU wählen, sagen: So kann das nicht weitergehen.
In diesen Tagen erleben wir, dass die Lobbyisten wieder mobil machen, auch in den Medien. Davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Die Finanztransaktionsteuer kann so konstruiert werden, dass schlimme Effekte auf Altersversorgung usw. eingedämmt und in Grenzen gehalten werden können. Es ist das alte Spiel: Die vermeintlichen Interessen der Kleinen werden vorgeschoben, damit diejenigen, die bisher kassiert haben, auch weiterhin gehörig kassieren können. Dieses Spiel läuft hier ab, meine Damen und Herren!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Joachim Poß (SPD):
Wir machen dieses Spiel nicht mit. Wir hoffen, dass wir gemeinsam - auch wenn Sie dabei Bauch- oder andere Schmerzen haben - zu einer vernünftigen Lösung in der Bundesrepublik Deutschland,
in Europa, möglichst in der Euro-Zone kommen werden und zusammen mit anderen Partnern zu einer verstärkten Zusammenarbeit finden werden.
Mal sehen, wie Sie sich weiter verhalten werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, wie auch Sie, zwei Stunden lang dieser abwechslungsreichen Debatte gelauscht. Am Ende einer Debatte frage ich mich immer: Was sind denn die Erkenntnisse für die hoffentlich zahlreichen Zuschauer an den Fernsehgeräten und für die Damen und Herren, die unsere Debatte hier mit hoffentlich großem Interesse unmittelbar verfolgen?
Nach meiner Einschätzung gibt es drei wesentliche Erkenntnisse.
Erstens spüren die Menschen, dass auch wir Politiker nicht auf alle Fragen, nicht auf alle Herausforderungen der weltweiten Zukunft perfekte, allumfassende Antworten haben. Sie merken, dass auch die Politik um den richtigen Weg ringt. Ich hoffe aber, die Menschen spüren auch, dass es einen wesentlichen Fortschritt in unserer politischen Generation gibt.
Ich will einmal 25 Jahre zurückblicken: Vor 25 Jahren herrschten der Kalte Krieg, Sprachlosigkeit und Feindschaft. Auf dieser Welt standen sich Blöcke gegenüber. Heute sprechen wir über den G-20-Gipfel, auf dem die führenden 20 Nationen dieser Erde vertreten sind - sie generieren 90 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts -: Australien, natürlich die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland, China, Indien, Brasilien, Argentinien, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika. Ich will das bewusst auch einmal den jungen Zuhörern sagen. Man könnte sagen, dass die ganze Welt miteinander spricht.
Die Nationen sprechen miteinander über drei Ziele - ich habe das einmal herausgesucht; auch das sollten wir deutlich machen -: Sie sprechen über das Ziel, ökonomische Stabilität und nachhaltiges Wachstum für unseren Planeten zu organisieren. Sie sprechen gemeinsam über das Ziel, Risiken zu reduzieren und zukünftige finanzielle Krisen zu vermeiden. Sie sprechen gemeinsam über das Ziel, eine neue internationale Finanzarchitektur zu errichten. Meine Damen und Herren, da hat sich auf diesem Planeten doch Gott sei Dank etwas geändert.
John F. Kennedy hat gesagt:
Unsere Probleme sind von Menschen gemacht. Deshalb können sie von Menschen gelöst werden.
Wenn er mit diesen Sätzen recht hatte, dann sollte eine wesentliche Erkenntnis des heutigen Tages sein: Es wäre doch gelacht, wenn die 20 bedeutendsten Staats- und Regierungschefs, die 20 unterschiedlichen, aber größten Nationen dieser Erde es nicht gemeinsam schaffen, die Probleme dieses Planeten auch in der Zukunft für kommende Generationen gemeinsam zu lösen.
Ich glaube, die Menschen spüren ein Zweites: Ja, Sparen und Konsolidieren sind unpopulär und schwierig. Es fordert Opfer, und wir reden über Verteilung: Wen belastet das mehr? Wen belastet das weniger? Was ist gerecht? - Aber, meine Damen und Herren, die Menschen spüren auch, dass Wachstum nur wenige Voraussetzungen haben kann:
Eine Voraussetzung ist relativ einfach - einige Länder dieser Erde verzeichnen es -: Bevölkerungszuwachs. Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen: In Europa, insbesondere in Deutschland, ist das nicht der Fall.
Eine zweite Möglichkeit, für nationales Wachstum zu sorgen, ist Verschuldung, also Wachstum auf Pump. Wir stellen wahrscheinlich gemeinsam fest: Das ist ein Teil - wahrscheinlich die wesentliche Ursache - der Probleme, über die wir heute reden.
Dann bleibt nur ein dritter Weg für Wachstum übrig. Ich will ihn in dieser Debatte deutlich herausarbeiten, weil er eine Stärke der Bundesrepublik Deutschland ist: Es bleibt der Weg übrig, Wachstum durch Innovation, Ideen, Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns da einmal zufrieden und stolz sein: Was der deutsche Mittelstand und deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren bewiesen haben, sind Innovationsfähigkeit, Ideenreichtum, Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Das ist weltweit ein Statussymbol dieser Bundesrepublik Deutschland. Also lassen Sie uns bei anderen stolz und zufrieden für unseren Weg werben.
Im Übrigen will ich an dieser Stelle eines ausdrücklich sagen: Auch die Qualifikation und die Einsatzbereitschaft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Standortvorteil dieser Bundesrepublik Deutschland, auf den wir stolz sein sollten. Denn das ist die Grundlage unseres Wachstums; momentan sind wir Stabilitätsanker in Europa.
Wer glaubt, fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit der Reduzierung des Renteneintrittsalters bekämpfen zu können, der ist noch nicht wirklich in diesem Jahrhundert mit seinen demokratischen, medizinischen und anderen Entwicklungen angekommen. Wer glaubt, durch die Vergemeinschaftung von Schulden die richtigen Anreize für einen verantwortungsvollen Umgang mit Geld zu setzen, der schätzt die Motive der Menschen wieder einmal falsch ein. Darüber ist übrigens Ihr Sozialismus, lieber Herr Gysi, schon einmal gestolpert: Er hat schlicht und ergreifend die Motive von Menschen falsch eingeschätzt. Wenn wir ehrlich über die Motive von Menschen reden, dann müssen wir feststellen, dass es natürlich Anreize zum Sparen, zum verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen geben muss. Insofern ist die Vergemeinschaftung von Schulden genau der falsche Weg.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass gestern die Troika der SPD im Élysée-Palast Vorwahlkampf veranstaltet hat.
- Ja, das habt ihr gut organisiert. - Ich hätte mir nur eines gewünscht: Zur Ehrlichkeit hätte es auch gehört, dem neuen französischen Präsidenten zu sagen, dass seine Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsalters genau das falsche Signal der zweitwichtigsten Volkswirtschaft der Euro-Zone an die Märkte ist. Auch hier müsste die SPD sich ehrlich machen und nicht parteitaktisch argumentieren.
Die dritte Erkenntnis ist, dass gerade in krisenhaften Zeiten die Menschen ihrer politischen Führung vertrauen möchten - auch wenn sie wissen, dass es nicht auf alles eine perfekte Antwort gibt - und dass sie Ehrlichkeit und Verlässlichkeit erwarten. Es wundert mich deshalb nicht, dass alle Umfragen unter der Bevölkerung ergeben, dass die Bundeskanzlerin gerade in Bezug auf diese Werte hohes Ansehen genießt. Man spürt, dass Angela Merkel mit Sachkunde, Ehrlichkeit und Berechenbarkeit auf internationaler Ebene versucht, für Deutschland und für Europa den richtigen Weg auch in das kommende Jahrzehnt zu organisieren.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch die Opposition bereit ist, den Fiskalpakt und die notwendigen Schritte in Europa zu unterstützen; denn wenn es um historische Fragen geht, dann sollte es in Deutschland keinen Unterschied zwischen Opposition und Regierung geben. Ich wünsche mir nicht nur, dass die Bundesregierung uns auf dem G-20-Gipfel gut vertritt, sondern ich wünsche mir auch, dass insbesondere die Sozialdemokraten der europäischen Rettung, dem Fiskalpakt zustimmen und von Deutschland das klare Signal an die internationale Staatengemeinschaft ausgeht: Wir stehen zu unserer Verantwortung, wir wollen konsolidieren und trotzdem wachsen, und wir denken dabei insbesondere an die Menschen, die jeden Tag fleißig für unseren gemeinsamen Wohlstand arbeiten.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist solidarisch. Deutschland ist solidarisch, wenn es darum geht, den freien Handel weltweit zu fördern, weil er allen hilft. Deutschland ist solidarisch bei der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit. Deutschland ist auch beim Klimaschutz solidarisch; denn hier gehen wir voran.
Deutschland ist auch in Europa solidarisch. Deutschland kann aber nur so lange solidarisch sein, solange es selbst stark ist, und wir sind stark, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben.
- Wir in Deutschland. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Agenda 2010 unsere Bemühungen auf dem Arbeitsmarkt unterstützt, indem sie Rahmenbedingungen geschaffen hat, die dazu beigetragen haben, dass unser Arbeitsmarkt so stark ist wie nie zuvor. Während andere Staaten in Europa mit der höchsten Arbeitslosigkeit aller Zeiten zu kämpfen haben, verzeichnet Deutschland die höchste Beschäftigungsquote der Nachkriegszeit. Das ist das Ergebnis einer Politik, die auf Konsolidierung und Wachstum setzt. Wir haben uns nicht nur auf einen der beiden Aspekte konzentriert, sondern wir haben sie in Übereinstimmung gebracht,
und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch auf den Gütermärkten.
Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, deutscher Produkte und deutscher Dienstleistungen ist so gut wie nie. Wir sind gut aufgestellt. Wir haben auch in den Bereichen Finanzmarkt und Haushaltskonsolidierung gehandelt. Wir haben sowohl für die Häuslebauer als auch für die deutsche Wirtschaft, vor allem für den Mittelstand, Kredite bereitgestellt, damit er seine Investitionen weiter vorantreiben kann.
In Europa sieht es anders aus. In Europa brennt es zum Teil offen, zumindest schwelt es. Deutschland ist bereit zur Solidarität. Deutschland ist bereit, sich an dem Feuerwehreinsatz zu beteiligen und zu löschen. Aber auch beim Löschen gilt es, den alten Feuerwehrgrundsatz des Selbstschutzes zu beachten. Wachstum darf nicht auf Pump finanziert werden. Um für Wachstum zu sorgen, braucht man die richtigen Instrumente. Ich gebe Herrn Steinmeier zwar recht, wenn er sagt, dass Deutschland mutig vorangehen soll. Aber wir dürfen nicht kopflos handeln; denn das wäre der direkte Weg in den Abgrund. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Euro-Bonds verweisen. Sie sind - wie es der Kollege Brüderle sehr treffend ausdrückt - Zinssozialismus, sie sind süßes Gift. Durch sie wird kein einziges Problem gelöst; vielmehr werden notwendige Maßnahmen zur Restrukturierung verzögert. Sie verhindern, dass notwendige Strukturreformen auf den Weg gebracht werden. Das haben mittlerweile offensichtlich selbst die Sozialdemokraten erfreulicherweise eingesehen.
Euro-Bonds sind nicht das, wofür sie manche halten. Der EU-Kommissionspräsident sagt immer, dass wir Euro-Bonds brauchen, weil die Anleger sich dann am Stärksten orientieren würden. Genau das ist aber nicht der Fall. Das wissen wir spätestens, seitdem der Chef des chinesischen Investitionsfonds CIC in der letzten Woche gesagt hat, dass China nicht in Euro-Bonds investieren würde, weil man sich dann nicht am stärksten, sondern am schwächsten Glied der Kette orientieren würde.
Das sollten wir uns einmal vergegenwärtigen: Euro-Bonds hätten nicht nur zur Folge, dass Strukturreformen nicht durchgeführt würden, sie würden uns auch nicht hinsichtlich der Finanzierung während der Krise helfen.
Ernst Hinsken und ich waren in der letzten Woche mit dem Wirtschaftsminister in Saudi-Arabien. Auch der saudi-arabische Finanzminister hat uns in aller Deutlichkeit gesagt, dass man in deutsche Anleihen investiert, weil man Vertrauen in Deutschland hat. Man würde nicht in Euro-Bonds investieren, weil man im Moment nicht sehe, dass die Probleme in Europa in der Form gelöst werden, wie das notwendig ist. Das sollte ein Alarmsignal für uns sein. Wir sollten das Thema Euro-Bonds nicht weiterverfolgen, weil Euro-Bonds das Problem nicht lösen. Sie sind das Gegenteil: Sie sind Brandbeschleuniger und nicht zum Löschen der Krise in Europa geeignet.
Das Gleiche gilt für den Altschuldentilgungsfonds. Die Kollegin Hasselfeldt hat das Thema vorhin angesprochen. Das wäre die Einführung von Euro-Bonds durch die Hintertür.
Ich glaube, jeder sollte seine Hausaufgaben machen. Auch wir haben noch genug Hausaufgaben zu machen. Wir haben 2 Billionen Euro Schulden, 2 000 Milliarden Euro Schulden, die wir selber abzutragen haben. Das entspricht nach wie vor 80 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts. Wir sind auf dem richtigen Weg, weil die Wirtschaft bei uns schneller wächst als die Verschuldung ansteigt. Deshalb konnten wir die Verschuldungsquote im letzten Jahr um 1 bis 2 Prozentpunkte nach unten fahren. Das wird erfreulicherweise auch in diesem Jahr der Fall sein. Insofern stimmt die Richtung.
Wir können und wollen auch keine Bankenunion einführen, die im Augenblick von manchen vorgeschlagen wird. Wir wollen eine europäische Bankenaufsicht. Insofern wollen wir eine Bankenunion, und diesbezüglich gibt es in der Tat noch einiges zu tun. Es kann nicht sein, dass die nationale Bankenaufsicht nur für national tätige Banken zuständig ist und die europäische Bankenaufsicht nur für grenzüberschreitende Tätigkeiten. Hinsichtlich der Finanzmarktregulierung gibt es da noch das eine oder andere zu verbessern.
Genauso wenig sinnvoll wie die Vergemeinschaftung von Schulden ist es, durch eine europäische Einlagensicherung das europäische Vermögen zu vergemeinschaften. Weder eine Vergemeinschaftung von Schulden noch eine Vergemeinschaftung von Vermögen ist die Lösung. Im Moment versucht man an allen Ecken und Kanten in Europa, uns in die Transferunion zu locken oder zu zwingen. Dass dieser nicht erfolgversprechende Weg nicht eingeschlagen wird, das garantieren die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion in diesem Haus sowie die Bundesregierung, die die notwendigen Schritte bisher immer durchgesetzt hat.
Wir freuen uns über jede Unterstützung. Die Grünen fordern aber leider zum Großteil das Gegenteil und sagen, dass sie Euro-Bonds wollen. Ich bin mir noch nicht so richtig sicher, was die SPD will. Ich weiß nicht, was am Ende herauskommt, wenn das Trio Infernale öfter nach Paris fährt. Ich bin mir nicht sicher, ob man dann am Ende nicht doch wieder umfällt und Euro-Bonds fordert, in welcher Form auch immer.
Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit auch: Wir wollen, dass der ESM und der Fiskalpakt zusammen verabschiedet werden, weil sie zusammengehören.
Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen Seite steht ein dauerhaftes Rettungsinstrumentarium für schwierige Situationen und auf der anderen Seite stehen klare Regeln, was Haushalt, Wachstum und Konsolidierung in Europa anbelangt. Beides gehört untrennbar zusammen. Wir werden nie und nimmer das eine ohne das andere verabschieden. Beide Dinge gehören untrennbar zusammen.
Bei aller Freude über die deutsche Situation: Wer nicht immer besser wird, hört auf, gut zu sein. Wir sollten aufhören,
die Agenda 2010 schlechtzureden. Die SPD und andere ihrer Kameradinnen distanzieren sich davon oder wollen sie rückgängig machen. Die Agenda 2010 war notwendig. Wir brauchen jetzt aber keine Agenda 2010, sondern eine Agenda 2020 oder eine Agenda 2030, die Wachstumsfesseln löst, die Technologieoffenheit, Technologiebegeisterung schafft, die den Arbeitsmarktmotor in Fahrt hält,
die die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessert, die bei Innovationstätigkeit, bei steuerlicher Förderung von Forschungsfinanzierung und anderem entsprechend positiv wirkt. Nur dann haben wir die Chance, dass Deutschland weiterhin so stark bleibt, wie es ist, und seine Solidarität in Europa und weltweit leisten kann.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer (Entgeltgleichheitsgesetz)
- Drucksache 17/9781 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
A. f. Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Andrea Nahles für die SPD-Fraktion das Wort.
Andrea Nahles (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Blick in die Zukunft beginnen. Anlässlich des Equal Pay Day am 10. März 2015 gibt das Statistische Bundesamt eine Pressemitteilung heraus. Die Überschrift lautet: Verdienstunterschiede von Frauen und Männern gehen erstmals zurück. Weiter heißt es in der Pressemitteilung: Wiesbaden - Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen war in Deutschland im Jahr 2014 um 15 Prozent niedriger als der von Männern. Damit hat sich der unbereinigte Gender Pay Gap erstmals seit Jahren verringert. Dies ist das messbare Ergebnis des Entgeltgleichheitsgesetzes, das am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist. - Das ist doch einmal eine schöne Nachricht.
Sie haben es hier heute in der Hand. Sie können dafür sorgen, dass diese schöne Nachricht tatsächlich den Weg in die deutschen Zeitungen findet, indem Sie heute dem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zustimmen. Wir müssen in Deutschland endlich mit dem Skandal aufräumen, dass es einen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Diesen Lohnunterschied gibt es aus einem einzigen Grund: weil die Frauen Frauen sind. Das ist Entgeltdiskriminierung. Das muss man so benennen, und das muss man beseitigen.
Wir erleben in dieser Frage vonseiten der Bundesregierung vor allem Appelle. Im Hintergrund wird dieses Thema auch noch wie eine heiße Kartoffel von einem Ministerium zum anderen geschoben.
Es im Grunde genommen egal, ob sich Frau von der Leyen der Sache mal wieder wildernd im Ressort ihrer Kollegin annimmt oder ob Frau Schröder es selbst macht, unter dem Strich bleibt leider folgende Botschaft für die Frauen in Deutschland: Eine schlechtere Interessenvertretung für Frauen in dieser Frage hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich sage Ihnen: Frau von der Leyen ist wirklich sehr gut darin - ich muss das loben -, alle zentralen Probleme des Arbeitsmarktes anzusprechen. Konkrete Lösungen werden aber nicht angeboten, geschweige denn umgesetzt.
Einer der zentralen Gründe für schlechte Löhne von Frauen in Deutschland ist schlicht und ergreifend - das ist ganz simpel -, dass es zu viele Frauen gibt, die in prekären Teilzeitbeschäftigungen festhängen und keinen Weg finden, dort herauszukommen. Das ist eines der Probleme.
Das zweite Problem ist, dass einige Tätigkeiten - meist sind es Dienstleistungen - insgesamt schlechter bewertet bzw. entlohnt werden. Dies geschieht nicht zufällig; denn zu 70 oder 80 Prozent werden diese Tätigkeiten von Frauen ausgeführt. Viele Tätigkeiten von Frauen werden also schlichtweg weniger hoch bewertet. Das sind zentrale Gründe für die Entgeltungleichheit.
Wir legen hier und heute einen Gesetzentwurf vor, der einen gesetzlichen Rahmen schafft. Dieser gesetzliche Rahmen verpflichtet die Tarifpartner und die Verantwortlichen in den Betrieben, sich um dieses Problem zu kümmern. Wir, die Politik, können dieses Problem in den Betrieben vor Ort nicht selbst lösen. Aber wir können wenigstens einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der sie dazu verpflichtet, dieses Thema regelmäßig auf die Tagesordnung zu setzen, damit die vorhandenen Probleme gelöst werden können. Das ist mehr als die warmen Worte und die Appelle seitens dieser Bundesregierung. Das ist der große Vorteil unseres Gesetzentwurfs.
Frau Schröder hat Lohnmessmethoden ausprobieren lassen. Ich sage Ihnen klipp und klar: Darüber freuen wir uns. Es handelt sich dabei allerdings um Lohnmessmethoden, die immer wieder zu einer „überraschenden“ Erkenntnis führen. Viele Firmen, die diese Lohnmessmethoden anwenden, stellen doch tatsächlich fest: Ups, bei uns gibt es eine Lohndiskriminierung.
Jetzt kommt der spannende Punkt: Danach passiert nichts mehr. Genau das ist das Problem, das wir mit unserem Gesetzentwurf anpacken. Dass nichts getan wird, haben wir nämlich lange genug erlebt.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, an dem diese Regierung etwas tun will; das ist wirklich wunderbar und großartig. Einer der Hauptgründe für die schlechtere Entlohnung von Frauen sind bekanntlich familienbedingte Erwerbsunterbrechungen. Was macht diese Bundesregierung?
Sie legt ein Programm zur Förderung familienbedingter Erwerbsunterbrechungen vor.
Es nennt sich „Betreuungsgeld“.
Da, wo diese Bundesregierung endlich einmal konkret wird und etwas tut, geht es voll in die Hose.
Das Betreuungsgeld wird nämlich weitere Lohndiskriminierung und -ungleichheit in Deutschland zur Folge haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gab seit Jahrzehnten keine Regierung in Deutschland, die die Interessen der Frauen schlechter vertreten hat als die jetzige. Auch dass diese Regierung von einer Frau angeführt wird, bringt den Frauen in Deutschland unter dem Strich nichts.
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein echtes Problem. Sie ist nicht nur ein Problem der Gleichstellung, sondern betrifft auch die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die dadurch empfindlich gestört wird.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie, liebe Bundesregierung, herzlich darum bitten, endlich Butter bei die Fische zu tun.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht: Wenn ich von einer Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern in Deutschland in Höhe von 23 Prozent spreche und zu diesem Thema Pressemitteilungen verfasse, dann stoße ich bei vielen Menschen auf Unverständnis. Viele sagen: 23 Prozent? Das kann doch gar nicht sein. Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Mann 23 Prozent mehr verdient als die Frau, die zum Beispiel neben ihm am Fließband steht. - Tatsächlich: Diesen Fall wird man selten antreffen.
Denn bei der Lohnlücke von 23 Prozent handelt es sich nicht um einen individuellen Lohnunterschied, sondern um den Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst aller Männer und dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst aller Frauen.
Der Unterschied ist deshalb so groß, weil Männer viel öfter als Frauen Vollzeit arbeiten und weniger oft familienbedingt auf Berufstätigkeit verzichten, weil also mehr Männer als Frauen erwerbstätig sind.
Man kann sich fragen: Ist die Lohndifferenz die Konsequenz individueller Entscheidungen? Ist sie also unproblematisch? Müssen wir uns mit diesem Thema also nicht beschäftigen? Nein, wer so argumentiert, der macht es sich zu einfach.
Es gibt tatsächlich bestimmte Diskriminierungstatbestände. Ein Beispiel ist der Fall einer Berufseinsteigerin, die trotz des gleichen Studienabschlusses schlechter bezahlt wird als ihr männlicher Kollege. Man kann vermuten, dass eine mögliche Schwangerschaft und eine potenzielle Familienzeit schon eingepreist werden. Hier hat die junge Frau ganz individuell ein Problem.
Besonders problematisch wird diese Lohnlücke von 23 Prozent im Alter. Dann nämlich entwickelt sich die Lohndifferenz zu einer Rentendifferenz von über 59 Prozent. Das ist logisch, weil Frauen, die weniger verdient haben, später geringere Rentenansprüche haben. Genau das, die fehlenden eigenen Rentenansprüche, sind der Grund für die drohende Altersarmut von Frauen. Vor diesem Hintergrund sind das Fehlen von Entgeltgleichheit und vor allem die Ungleichheit der Renten große Probleme, sowohl auf individueller Ebene als auch deshalb, weil wir alle davon betroffen sind.
Über die Ursachen haben wir in diesem Haus oft diskutiert.
Für den größten Teil der Lohnlücke gibt es objektive Gründe, nämlich die horizontale und die vertikale Segregation des Arbeitsmarktes. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie müssen nicht so überrascht tun. Ich denke, diese Fakten sind Ihnen bekannt: Frauen sind in den besser bezahlten Berufen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter schlechter vertreten.
Das führt zu schlechterer Bezahlung. Hinzu kommt, dass Frauen mehr und längere Erwerbsunterbrechungen haben. Sie arbeiten meist Teilzeit mit wenigen Stunden. Das erklärt 15 Prozent der Entgeltlücke. Die anderen 8 Prozent ergeben sich tatsächlich durch Diskriminierung und eine ungerechte Bewertung von Frauenarbeit.
Ansatzpunkte dafür, wie man diese Lohnlücke schließen kann, gibt es zahlreiche.
Bei vielen ist auch die Politik gefragt,
und vieles wird auch bereits getan. Das fängt bei dem Bemühen an, Mädchen und Frauen auch für die besser bezahlten technischen Berufe zu gewinnen, und geht bis zu den Initiativen gegen die langen Erwerbsunterbrechungen und die hohe Teilzeitquote,
etwa durch den Ausbau der Krippenplätze, durch den Ausbau von Ganztagsschulen und durch den Ausbau der nachschulischen Betreuung. Das ermöglicht nämlich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und führt dazu, dass es weniger Erwerbsunterbrechungen und weniger Teilzeitarbeit, also auch bessere Einkommen gibt.
Hier ist jetzt das Stichwort „Betreuungsgeld“ gefallen.
Liebe Kollegin Frau Nahles, Sie haben das gesagt. Ich bin, wie Sie wissen, nicht der größte Verfechter des Betreuungsgeldes,
aber wie Sie sich in den letzten Wochen über junge Familien geäußert haben,
die im ersten und zweiten Lebensjahr ihres Kindes gerne mehr Zeit mit ihm verbringen und nicht nach wenigen Wochen wieder Vollzeit ins Berufsleben einsteigen wollen,
ist wirklich empörend und schlimm. Das kritisiere ich hier wirklich deutlich.
Es muss doch, wenn man ein einjähriges Kind hat, möglich sein, die Arbeitszeit etwas zu reduzieren, um mehr Zeit mit dem Kind verbringen zu können. Für Sie ist jede Person, die nicht gleich wieder Vollzeit einsteigt, eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater.
Ich bin die Letzte, die sagt, dass Kitabetreuung schlecht für ein Kind ist, aber das, was Sie fordern, nämlich Frauen und Männer direkt wieder in den Arbeitsmarkt, ist nicht das, was sich die meisten jungen Familien wünschen.
Es muss doch möglich sein, auch einmal stundenweise auf die Berufstätigkeit zu verzichten, und zwar für Männer und für Frauen. Wenn wir das den Männern und Frauen ermöglichen,
dann haben wir an diesem Punkt auch kein Problem mehr mit Entgeltungleichheit. Das wünschen sich junge Familien. Hier tun wir wirklich aktiv etwas gegen Entgeltungleichheit.
Das beste Erfolgsmodell ist das Elterngeld. Mit dem Elterngeld und den Partnermonaten ermöglichen wir jungen Familien nämlich genau das.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Dagmar Ziegler (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es sachlich falsch ist, wenn Sie - wie wiederholt getan - der SPD-Fraktion unterstellen, dass sie Familien unterschiedlich behandeln will und dass sie vorschreibt, wo ein Kind besser betreut wird, und dass dies eine bösartige Unterstellung in Bezug auf unsere Position ist?
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ich stelle fest, dass es eine bösartige Unterstellung in Bezug auf unsere Position ist, zu behaupten, die CDU/CSU-Fraktion wolle junge Familien vom Arbeitsmarkt fernhalten.
Diese bösartige Unterstellung wiederholen Sie regelmäßig. Sie vermitteln den Eindruck, dass nur die Person eine gute Mutter oder ein guter Vater ist, die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nimmt.
Wer das nicht tut, ist ein Heimchen am Herd und nimmt die „Fernhalteprämie“ in Anspruch. Das ist nicht das, was junge Familien heute wollen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gestatten Sie noch eine weitere Nachfrage, liebe Kollegin?
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ich würde gerne zum Thema Entgeltgleichheit zurückkommen, weil ich glaube, dass wir über das andere Thema in den nächsten Wochen noch ausgiebig diskutieren werden. Wir reden heute über Entgeltgleichheit, und ich glaube, auch an diesem Punkt gibt es vieles zu tun. Ein maßgeblicher Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, über die wir gerade diskutieren.
Auch hier gibt es viele Initiativen der Bundesregierung, etwa die Initiative familienbewusste Arbeitszeiten, das „audit berufundfamilie“, die Familienpflegezeit.
All das führt dazu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich ist.
Jetzt sind aber die Politiker nicht die Einzigen, die Verantwortung tragen.
Wie es in Ihrem Gesetzentwurf richtig anklingt, haben auch die Tarifparteien und die Unternehmen eine Verantwortung; denn die Lohnlücke von 23 Prozent setzt sich eben aus vielen kleinen Lohnlücken zusammen, aus ein bisschen Entgeltungleichheit in vielen Betrieben. Deshalb gilt es, Unternehmen für das Thema Entgeltungleichheit zu sensibilisieren. Das Bundesfamilienministerium hat das aus der Schweiz kommende Tool Logib-D weiterentwickelt und bietet es den Unternehmen an. Hiermit kann man erkennen, wo im Betrieb Entgeltunterschiede bestehen, und diese Probleme gemeinsam angehen.
Die SPD greift dieses Thema in ihrem Gesetzentwurf auf - was ich grundsätzlich begrüße -, dass sich viele Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Was Sie aber vorschreiben wollen, ist, dass jedes einzelne Unternehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern ein Lohnfeststellungsverfahren durchführt.
Das sind über 300 000 Unternehmen in Deutschland. All diese 300 000 Unternehmen sollen ein Lohnfeststellungsverfahren durchführen und dann das Ergebnis der Antidiskriminierungsstelle melden. 300 000 Berichte an die Antidiskriminierungsstelle - ich frage mich, ehrlich gesagt, was das bringen soll.
Mit 300 000 Datensätzen wird die Antidiskriminierungsstelle schlecht arbeiten können. Deshalb bin ich sehr skeptisch, ob dies der geeignete Weg ist.
Ich erkenne an, dass Sie von dem Willen getragen sind, dafür zu sorgen, dass sich mehr Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Ich erkenne auch an, dass Sie die Tarifpartner in die Pflicht nehmen wollen.
Ich finde allerdings, man muss früher ansetzen. Die Tarifpartner haben nämlich schon bei den Verhandlungen über Gehälter bzw. über Tarifverträge die Verantwortung, sich zu fragen: Was ist eine angemessene Bezahlung für eine gewisse Qualifikation? Wie bewerten wir frauenspezifische Tätigkeiten? Legen wir hier überhaupt gute und vergleichbare Kriterien an? Diese Verantwortung haben die Tarifparteien schon bei den Verhandlungen über Tarifverträge und Löhne.
An diesem Punkt haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirklich eine Verantwortung, der sie gerecht werden müssen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss; denn ich finde, das Thema Entgeltgleichheit in Deutschland ist für unser Land ein wirklich wichtiges Thema.
Ich erkenne in diesem Gesetzentwurf Ihren guten Willen an. Aber zustimmungsfähig ist er aus den genannten Gründen nicht. Sie sind etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu konstruktiven, besseren Lösungen kommen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke.
Cornelia Möhring (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch aus Sicht der Linken ist es natürlich unbedingt erforderlich, dass wir endlich gesetzliche Regelungen treffen, um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern zu beseitigen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie zwar durchaus einen Schritt in die richtige Richtung, aber er ist, wie ich finde, nicht ausreichend.
Sie können mit Ihrem Vorschlag zwar Ungleichheiten in den Betrieben aufzeigen, aber konsequent beseitigen können Sie damit die Ungleichheit nicht.
Problematisch finde ich, dass Sie damit die Forderung nach einem Verbandsklagerecht, zum Beispiel für die Antidiskriminierungsstelle, faktisch aufgeben. Betroffene müssen auch nach Ihrem Vorschlag weiterhin in mühseligen Einzelklagen gegen Diskriminierungen dieser Art vorgehen. Das dauert viele Jahre, verschlingt viel Geld der Betroffenen und ist kein wirksamer Ersatz für die Möglichkeit, als Verband im Rahmen eines Bußgeldverfahrens - was Sie vorhaben - zu klagen. Es wäre aber bitter nötig, hier wirkliche Schritte konsequent zu gehen.
Wir haben hier schon gehört: Frauen erhalten auch im Jahre 2012 durchschnittlich immer noch ein Viertel weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie exakt das Gleiche tun, die gleiche Ausbildung und den gleichen Verantwortungsbereich haben. Das ist ungeheuerlich und gehört genau wie die ungleiche Bezahlung gleichwertiger Tätigkeiten endlich auf den Müllhaufen der Geschichte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen an dieser Stelle Lilly Ledbetter vorstellen bzw. diejenigen, die sie kennen, an sie erinnern. Auf ihre Geschichte geht der Equal Pay Day zurück, mit dem seit 2008 auf die ungleiche Bezahlung aufmerksam gemacht wird. Wir wissen, dass auch in diesem Jahr Frauen 84 Tage länger arbeiten müssen, bis sie auf den gleichen Lohn wie die Männer kommen.
Lilly Ledbetter war Angestellte einer Reifenfirma in den USA und stellte kurz vor ihrer Pensionierung fest, dass sie während der 19 Arbeitsjahre für dieselbe Arbeit rund 200 000 Dollar weniger Gehalt bekommen hat. Sie zog mit ihrer Klage bis zum obersten Gericht. Präsident Obama unterzeichnete wenige Tage nach seinem Amtsantritt ein Gesetz, den Lilly Ledbetter Fair Pay Act, mit dem Entgeltdiskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft und Hautfarbe unterbunden werden soll. Das brauchen wir auch,
und zwar ohne Schlupflöcher und zusätzlich mit dem Recht auf einen Diskriminierungsausgleich versehen. Denn auf ähnliche Differenzen kommen wir auch hierzulande.
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen, wie viel weniger eine Frau über 35 bis 40 Berufsjahre mit gleicher Ausbildung und bei gleicher Arbeit bekommt als ein Mann. Eine Großhandelskauffrau erhält circa 564 Euro weniger Monatsgehalt. In 40 Jahren kommen wir auf eine Summe von knapp 271 000 Euro. Bei einer Köchin beträgt die monatliche Differenz 210 Euro. Das sind nach 40 Jahren immerhin stattliche 100 000 Euro. Einer Ärztin entgehen in 35 Jahren 441 000 Euro, nur weil sie eine Frau ist. Wenn wir gleichwertige Arbeiten vergleichen, nämlich die einer Erzieherin und die eines Maschinenschlossers, muss die Kollegin, die sich um unser aller Nachwuchs kümmert, für 231 000 Euro weniger Gehalt arbeiten als der Mann.
100 000, 231 000, 270 000, 440 000 Euro: Ich meine, das sind schon stattliche Summen. Dabei sind die entgangene Altersvorsorge und die geringere Lebensqualität noch nicht einmal mit eingerechnet.
Das ist schlicht Lohnraub.
Liebe Frauen im ganzen Land, wenn wir überlegen, was uns durch diesen Lohnraub entgangen ist und noch entgeht, muss ich sagen: Es ist viel zu viel, um nett „Bitte, bitte macht das nicht wieder!“ zu sagen.
Für Raub müssen Räuber eigentlich lange in den Knast, für Diebstahl und Betrug übrigens auch. Wir könnten doch in diesem Falle von so einer schweren Strafe absehen und den vorenthaltenen Lohn in ein zinsloses Darlehen verwandeln. Wenn Frauen in Rente gehen, gibt es die Rückzahlung cash oder auf die schwäbische Art: als Häuschen.
Bis wir das erkämpft haben, streiten wir auch weiterhin für ein Gesetz, das Entgeltungleichheit gar nicht erst entstehen lässt. Damit es eine echte Durchsetzungschance gibt und nicht die Einzelnen den mühseligen Klageweg beschreiten müssen, brauchen wir zusätzlich das Recht der Verbände, zu klagen. Dem Antrag der Linken dazu dürfen Sie dann im Oktober gerne zustimmen, wenn Sie es ernst meinen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion.
Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundgesetz bestimmt in Art. 3 Abs. 2 und 3, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf. Trotzdem wissen Sie und ich, dass Frauen in Deutschland außerhalb des öffentlichen Dienstes im Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen. Das wollen wir nicht nur ändern; das müssen wir ändern.
- Wartet mal ab!
Dass die SPD-Fraktion zu ihrer Allzweckwaffe greift und sagt: „Ein Gesetz muss her“, ist nichts Neues.
Zudem ist der Gesetzentwurf widersprüchlich. In der Begründung heißt es, der Staat als Handelnder solle sich so weit wie möglich zurückhalten. So weit, so gut: Diesen Satz können wir Liberalen mittragen. Dagegen heißt es aber schon im nächsten Absatz der Begründung wörtlich:
Die Verpflichtung zur Untersuchung betrieblicher Entgeltsysteme kann allerdings nicht ohne staatliche Einwirkung durchgesetzt werden.
Denn die SPD-Fraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert in unserem Lande nichts. Das ist der elementare Unterschied zwischen uns und Ihnen.
Gerade die Tarifautonomie ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft und ein Grund, warum unser Land wirtschaftlich erfolgreich ist. Ein Gesetz, das die Tarifhoheit der Tarifpartner untergräbt, kommt für die FDP-Fraktion nicht infrage.
Außerdem käme auf die Unternehmen ein neues Bürokratiemonster zu. Das steht im krassen Gegensatz zu den Bemühungen der christlich-liberalen Koalition um den Bürokratieabbau. Anstatt die Tarifautonomie auszuhebeln, sollte die SPD-Fraktion mit den Gewerkschaften reden.
Typische Frauenberufe werden trotz individueller Lohnverhandlungen ja bekanntlich häufig schlechter bewertet und vergütet als klassische Männerberufe. Hier können die Gewerkschaften gegensteuern.
Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten festgestellt: Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und entsprechend handeln. Wir sind dabei, dies zu ändern; das wissen Sie. Stichwort „Logib-D“: Hinter diesem sperrigen Begriff steckt ein sehr wichtiges Instrument. Es geht um Transparenz. Offenlegung der Gehälter ist der beste Weg zu fairen Gehaltsstrukturen.
Ich bin sicher: Wenn klar ist, in welchen Bereichen und auf welcher Ebene Differenzen bei den Gehältern bestehen, schafft dies nicht nur für das Unternehmen Klarheit.
Unter Bewerbern wird sich schnell herumsprechen, welches Unternehmen Männer besser bezahlt als Frauen.
Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir drei Ursachen im Blick behalten. Erstens. Frauen sind in Berufszweigen, in denen es nur wenige Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsentiert.
Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe im unteren Einkommensniveau. Eine Diplompädagogin verdient heute durchschnittlich 2 500 Euro, während ein Absolvent eines Studiengangs für Umwelttechnik schon beim Einstiegsgehalt mit 1 000 Euro darüber liegt. Die Berufswahl ist noch immer eines der entscheidenden Kriterien für die Gehaltsentwicklung.
Die dritte Ursache ist hinlänglich bekannt. Je länger die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg. Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarmachen; darauf müssen wir hinwirken. Die Lohnlücke, die während der Familienphase entsteht, wird häufig nicht mehr geschlossen; darauf wurde schon mehrmals hingewiesen. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch weniger Rente. Nach Berechnungen des DIW klafft die Einkommensschere in höheren Positionen am meisten auseinander. Das ist ein Skandal. Hier sind die Unternehmen und auch die Frauen in der Pflicht.
Am Dienstag veröffentlichte das Forsa-Institut das Ergebnis einer Umfrage, das die Situation widerspiegelt. „Der Frauenanteil bei Weiterbildungen ist hoch“, ist das Ergebnis. Schön! Aber die Männer ziehen aus ihrem Weiterbildungsengagement einen größeren Nutzen. Während über die Hälfte von ihnen aufgrund ihrer Fortbildung mehr Verantwortung oder eine Beförderung erhalten hat, sind es bei den Frauen deutlich weniger. Der Auftraggeber der Studie, die Fernschule ILS, kommt zu dem Schluss - ich zitiere -:
Daher sollten insbesondere Frauen Initiative zeigen und ihr persönliches Engagement stärker in den Vordergrund stellen …
Dass Frauen selbstbewusster ihre Rechte einfordern und ihre Karriere verfolgen, ist nicht das einzige Ziel, das wir gemeinsam verfolgen müssen, wohl aber ein wichtiges. Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz: Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe. Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbstverständlich sein. Politik, Unternehmen und Frauen müssen gemeinsam an einem Strang ziehen.
Ein weiteres Gesetz ist aus Sicht der FDP-Fraktion nicht der richtige Weg; da sind wir wieder einmal anderer Meinung als Sie. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf der SPD nicht zustimmen.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen und Fakten sind bekannt. Wir müssen nicht mehr beweisen, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Auch die Ursachenforschung liegt bereits hinter uns. Wir wissen: Es geht hier um Entgeltdiskriminierung. Das ist auch kein neues Phänomen. Seit Jahren diskutieren wir über die Ungerechtigkeit der mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Wir Grüne haben Lösungen und Konzepte entwickelt sowie einen entsprechenden Antrag eingebracht. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf der SPD vor, den wir sehr begrüßen. Trotzdem müssen wir in den Debatten hier im Bundestag immer und immer wieder bei Adam und Eva beginnen. Die Beharrlichkeit, das Thema auszusetzen, nervt einfach und wird diesem Thema wahrlich nicht gerecht.
An die Regierungsfraktionen gerichtet, kann ich nur sagen: Wenn Sie weiterhin meinen, dass der Verweis auf mehr Kinderbetreuung und auf die Tarifautonomie ausreicht, Frau Schön, oder wenn Ministerin Schröder vorschlägt, Frauen sollten einfach mehr technische Berufe erlernen, damit sie mehr verdienen, haben Sie das Problem in seiner Reichweite einfach nicht verstanden.
Es geht nicht allein darum, dass Arbeit gleich bezahlt wird, sondern auch darum, gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit durchzusetzen. Es geht darum, die Kriterien, nach denen Arbeit bewertet wird, geschlechtsneutral auszugestalten. Anders ausgedrückt: Es geht um den gesellschaftlichen Wert von Arbeit von Frauen, also auch um Wertschätzung.
Realität in Deutschland ist aber: Die schlecht bezahlten Berufe sind noch immer Frauensache. So werden beispielsweise in den typischen Frauenberufen im sozialen Bereich die dort unentbehrlichen Fähigkeiten wie soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Teamgeist ganz selbstverständlich erwartet. Die Anforderungen sind hoch, und die Frauen tragen viel Verantwortung für Menschen. Dennoch wird ihre Arbeit nicht ausreichend wertgeschätzt. Das ist nicht fair und schon gar nicht gerecht.
Aber die Entgeltdiskriminierung ist nicht allein ein Nischenproblem der klassischen Frauenberufe; sie zieht sich vielmehr quer durch alle Beschäftigungsfelder. Wieder an die Adresse der Ministerin Schröder: Natürlich verdient eine studierte Bauingenieurin mehr als eine Altenpflegerin, aber - und hier liegt das Problem - sie verdient dennoch weniger als ihr männlicher Kollege. Das soll die Ministerin erst einmal den vielen gut ausgebildeten und motivierten jungen Frauen erklären. „Augen zu und durch“ ist einfach zu wenig.
Um den Dornröschenschlaf, in dem Sie sich offenbar befinden, noch ein wenig mehr zu stören, hier ein paar Zahlen: In Baukonstruktionsberufen verdienen Frauen rund 30 Prozent weniger als Männer, Physikerinnen erhalten 24 Prozent weniger und Grafikerinnen in der Regel 33 Prozent. Die Lohnlücke in der Gebäudereinigung liegt bei 26 Prozent und selbst für Callcenter ist eine weibliche Beratung 22 Prozent günstiger. Zudem bekommen Frauen weniger Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Gewinnbeteiligung, und sie werden seltener befördert als Männer. Diese traurige Realität gilt es endlich zu ändern.
Wem diese Aufzählung immer noch nicht reicht, für den habe ich noch folgende Zahlen: Frauen mit Hochschuldiplom verdienen durchschnittlich 3 534 Euro, Männer hingegen 4 590 Euro. Das ist eine unvorstellbare Differenz von satten 1 056 Euro. Je älter die Akademikerin ist, desto größer ist der Gehaltsunterschied. Sollten diese Zahlen den Regierungsfraktionen bislang nicht geläufig sein, so kann ich diese zur Horizonterweiterung gerne zur Verfügung stellen.
Mittlerweile müsste also klar sein, dass freiwillige Regelungen zu nichts geführt haben. Die Strategie ist gescheitert;
denn die alten Strukturen sind beharrlich. Notwendig ist eine faire Bewertung von Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um typische Frauen- oder Männerberufe handelt. Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen.
Ein Gesetzentwurf und ein Antrag liegen jetzt vor. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen und auf die Anhörung. Natürlich werde ich auch einige Fragen an die SPD haben: Wie soll beispielsweise die kursorische Prüfung aussehen? Können damit wirklich ausreichend Verdachtsmomente aufgedeckt werden? Warum sollen die Prüfungen der Tarifverträge nicht mehr im Mittelpunkt stehen? Sind die sogenannten sachverständigen Personen wirklich überall notwendig? Kurzum: Wir werden eine interessante Diskussion haben. Ganz wichtig: Wir werden endlich inhaltlich über Konzepte diskutieren können.
Mit Blick auf die Regierungsfraktionen möchte ich diese Diskussion heute mit einem Satz Goethes beschließen. Ich zitiere:
Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun.
Liefern Sie also nicht nur Lippenbekenntnisse! Beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit der Entgeltdiskriminierung und vor allem mit Lösungen! Vorschläge, wie das gehen kann, liegen ja auf dem Tisch. Damit die Arbeit von Frauen nicht länger zum Schnäppchenpreis zu haben ist. Es muss Schluss sein mit dem Dauerrabatt von 23 Prozent.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun ist Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion an der Reihe.
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Müller-Gemmeke hat Goethe zitiert. Dem will ich nicht nachstehen.
Es gibt ein sehr schönes Zitat von Goethe, das für Ihre Rede genauso zutrifft wie vermutlich für den Gesetzentwurf. Es lautet:
Meine Damen und Herren, ich bin kein Jurist.
Aber wenn ich so einen Gesetzentwurf zu beurteilen habe, schaue ich mir zunächst das Recht, die Gesetze, an, um eine gewisse Grundorientierung zu bekommen. Dann stößt man natürlich - die Kollegin Bracht-Bendt hat das schon erwähnt - auf Art. 3 des Grundgesetzes.
Weiterhin stößt man auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, in dem es ganz deutlich heißt: Benachteiligungen sind unzulässig, auch mit Bezug auf das Arbeitsentgelt.
Hinzu kommen eine Reihe von europäischen Regelungen, die deutlich sagen: Bei gleicher Arbeit ist gleiches Entgelt für Männer und Frauen eine Selbstverständlichkeit.
Die Rechtslage ist zunächst einmal eindeutig. Verehrte Frau Ferner, das hat die rot-grüne Bundesregierung im Jahre 2002 offensichtlich auch so gesehen. Sie zitieren den Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation aus dem Jahr 2002. Sie malen die tarifliche Entgeltdiskriminierung dort in relativ drastischen Farben.
Ich habe mir diesen Bericht angeschaut und mich gefragt: Was hat denn die rot-grüne Bundesregierung damals gemacht?
Hat sie mutig Initiativen ergriffen? Hat sie Gesetzgebungsverfahren eingeleitet? Nein, das hat sie nicht gemacht.
Die rot-grüne Bundesregierung hat gesagt: Wir machen mal eine Konferenz darüber und schauen dann weiter.
Dann habe ich mich gefragt: Woher kommt denn das? Das kommt nicht zuletzt daher, Frau Ferner, dass im Bericht steht - ich zitiere jetzt -:
Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Rechtslage sind unmittelbare Lohndiskriminierungen heute so gut wie nicht mehr festzustellen.
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle; das ist doch ganz klar. Frauen sind in besser bezahlten Positionen unterrepräsentiert und überrepräsentiert in Berufen, in denen weniger bezahlt wird. Sie unterbrechen aufgrund familiärer Verpflichtungen ihre Berufstätigkeit häufiger und arbeiten öfters in geringfügiger Teilzeit mit langfristig negativen Folgen für die Einkommensentwicklung.
Rund zwei Drittel der geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede, also der Großteil, gehen auf diese strukturell unterschiedlichen arbeitsplatzrelevanten Merkmale von Männern und Frauen zurück.
Ein Drittel der Lohnlücke lässt sich nicht auf diese sozialstrukturellen Ursachen zurückführen. Hier ist von geschlechtsspezifischer Entgeltdiskriminierung auszugehen. Auf dieses Drittel fokussiert im Grunde genommen der Gesetzentwurf der SPD.
Was wollen Sie? Vereinfacht: mehr Staat.
Da ist die Rede von Antidiskriminierungsverbänden und von der Antidiskriminierungsstelle, die sowohl Antidiskriminierungsverfahren als auch sachverständige Personen nach etwas unklaren und wenig eindeutigen Kategorien zertifizieren soll. An dieser Stelle fühle ich förmlich schon bei den Arbeitgebern eine gewisse Unruhe, was die Folgekosten und bürokratischen Auflagen angeht.
Aber auch die Gewerkschaften bekommen etwas ab: Tarifverträge sollen einer Überprüfung unterzogen werden können - beinahe mit einem Generalverdacht gegen die Sozialpartner.
Dabei sind die Tarifvertragsparteien zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. - Glauben Sie ernsthaft, dass es in Deutschland eine einzige Gewerkschaft gibt, die eine Diskriminierung beim Entgelt in ihren Tarifverträgen zulässt? Ich glaube das nicht. Als überzeugter Gewerkschafter kann ich nur sagen: Wir brauchen keinen Staatskommissar für Tarifverträge.
Das alles soll dann auch kaum Folgekosten verursachen. Für die Betriebe ab 15 Personen könnten - das schreiben Sie verschämt in Ihrem Gesetzentwurf - Kosten nicht beziffert werden. Die Bürokratiekosten setzen Sie mit 2 Millionen Euro an, was grotesk niedrig ist. Die Kosten für die Sachverständigen werden komplett unterschlagen.
Dann wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die betrieblichen Interessenvertretungen gesetzlich verpflichten, sich um die Herstellung von Entgeltgleichheit zu kümmern. Ein Blick ins Gesetz hilft ja bisweilen bei der Klärung der Rechtslage; denn genau diese Verpflichtung ist bereits im Betriebsverfassungsgesetz festgeschrieben: Der Betriebsrat hat die Einhaltung des Diskriminierungsverbotes zu überwachen und sich aktiv für eine tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern einzusetzen.
An dieser Stelle bringt es also nichts, wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf alten Wein in neue Schläuche fließen lassen. Es wird vielmehr ein ganz anderes Problem deutlich: Immer weniger Beschäftigte in unserem Land werden von einem Betriebsrat vertreten. In der Privatwirtschaft waren dies im Jahr 2009 nur noch 44 Prozent der Beschäftigten. Dabei wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern über das gesamte Einkommensspektrum hinweg geringer sind als in Betrieben ohne Betriebsrat. Daher mein Petitum: Lassen Sie uns die betriebliche Mitbestimmung weiter befördern!
Lassen Sie uns vor allem dort aufklären, wo Belegschaften aus Angst vor Repressalien keinen Betriebsrat gründen!
Ihr Gesetzentwurf dagegen führt für die Betriebe und für die öffentliche Hand zu mehr Verwaltung und Kosten und gefährdet Arbeitsplätze. Das ist angesichts der Bedeutung des Themas bedauerlich. Der Gesetzentwurf enthält auch eine Überlegung, die ich sinnvoll finde, nämlich die Stärkung der Individualrechte.
Wichtig ist gerade ein Recht auf Auskunft darüber, welche Kriterien für die Bemessung des Entgelts bzw. die Entgeltfindung herangezogen worden sind. Eine solche Transparenz erhöht den Druck zur Schaffung von mehr Gerechtigkeit beim Arbeitsentgelt für Männer und Frauen beinahe natürlich. Ich denke aber auch, dass dies in Betriebsvereinbarungen durchaus festgeschrieben werden kann. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Regelung.
Meine Damen und Herren, die gesetzlichen Regelungen sind weitgehend vorhanden. In der Bildung dient die Wiederholung der Stofffestigung, in der Gesetzgebung nicht. Wir brauchen kein neues Gesetz, das mehr Bürokratie hervorbringt. Wir müssen die bestehenden Regelungen besser umsetzen.
Deswegen brauchen wir auch diesen Gesetzentwurf der SPD nicht, der zwar die Denkungsart der SPD trefflich illustriert, zur Problemlösung aber kein wirklich konstruktiver Beitrag ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Elke Ferner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon seltsam: Immer wenn es darum geht, die grundgesetzlich verankerten Rechte von Frauen Realität werden zu lassen, ist das Geschrei auf der rechten Seite des Hauses wirklich groß. Eingriff in die unternehmerische Freiheit, zu viel Bürokratie - das hören wir immer an dieser Stelle. Aber was ist das denn für ein Freiheitsverständnis, insbesondere liebe Kollegen von der FDP? Unternehmerische Freiheit bedeutet doch nicht, dass es dem Unternehmer überlassen ist, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer, wenn sie dieselbe oder eine gleichwertige Arbeit machen.
Wir leben hier in einem Rechtsstaat und nicht in einer Bananenrepublik. Weil wir in einem Rechtsstaat leben, haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot, beide verankert in Art. 3 Grundgesetz, durchzusetzen. Es reicht eben nicht aus, liebe Frau Schön, am Equal Pay Day zu beklagen, dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen bei uns 23 Prozent beträgt. Wir müssen am Tag danach auch etwas dagegen tun, zuallererst Frau Schröder und Frau von der Leyen. Aber auch da kommt leider im Moment überhaupt nichts.
Frau Schröder macht das Angebot, das völlig untaugliche Logib-D-Verfahren gerade einmal 200 Unternehmen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das reicht bei weitem nicht aus. Wie ich höre, rennen die Unternehmen Frau Schröder auch nicht gerade die Tür ein, um in den Genuss dieses Verfahrens zu kommen. Es lohnt sich nämlich für die Unternehmen, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer. Solange Unternehmen mit Lohndiskriminierung Geld verdienen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden sie auch nicht von selber damit aufhören.
Eine der ersten Forderungen der Frauenbewegung Ende des vorletzten Jahrhunderts war „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.
Es ist ein Armutszeugnis, dass wir weit über 100 Jahre später immer noch so gewaltige Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern haben. Nach Estland und der Slowakei liegen wir in der EU an drittletzter Stelle.
Ich finde, dass man die Frauen in unserem Land mit dieser Ungerechtigkeit nicht alleinlassen darf. Wir wollen ihnen helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Wer eine gesetzliche Regelung wie die, die wir hier vorschlagen, ablehnt, muss auch sagen, wie er oder sie die Entgeltgleichheit auf anderem Weg durchsetzen will.
Das habe ich von Ihnen bisher aber nicht gehört - weder von einem Mitglied der Regierungsfraktionen noch von der Arbeitsministerin noch von der sogenannten Frauenministerin. Frau Merkel empfiehlt den Frauen schon einmal, einfach besser zu verhandeln, wenn es um ihr Geld geht. Ich kann dazu nur sagen: Was für ein Zynismus!
Solange Frauen ihr gutes Recht vor Gericht gegenüber ihrem Arbeitgeber einklagen müssen, wird sich nichts ändern. Eine Frau, die ihren Job behalten will, wird auch wohl kaum gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht ziehen. Deshalb ist das Erste, was geleistet werden muss, Transparenz in die Lohn- und Gehaltsstrukturen in den Betrieben zu bringen. In Österreich gibt es dazu bereits ein Gesetz. Das EU-Parlament hat am 24. Mai in einer Entgeltinitiative mehr Transparenz und vor allen Dingen auch die Möglichkeit von Sammelklagen gefordert. Nur die Bundesregierung und CDU/CSU und FDP weigern sich bisher, die Lohndiskriminierung von Frauen zu beseitigen. Sie werden nächstes Jahr mit Sicherheit bitter zu spüren bekommen, dass das so nicht geht.
Die Lohndiskriminierung - das haben wir eben gehört - steigt mit dem Lebensalter. Trotz des Diskriminierungsverbotes werden viele Teilzeitbeschäftigte und insbesondere Minijobberinnen schlechter bezahlt als Vollzeitkräfte. Die Lohndiskriminierung findet auch bei akademischen Berufen statt, genauso wie bei Fachkräften oder bei ungelernten Kräften. Manchmal ist sie auch in Tarifverträgen angelegt, wie man aus dem Tarifvertragsregister ersehen kann.
Eines ist klar: Das regelt sich nicht von alleine. Wir legen diesen Gesetzentwurf heute vor, damit wir mehr Transparenz bekommen. Vor allen Dingen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, damit sich etwas ändert.
Wir sagen ganz klar: Es muss geprüft werden. Wie soll man Entgeltdiskriminierung denn anders feststellen, als dass man einmal schaut, wie die Gehaltsstrukturen sind? Wir geben Regelungen vor, die zunächst einmal auf innerbetriebliche Maßnahmen setzen. Wir vertrauen da auch sehr auf die Betriebsräte und die Gewerkschaften. Natürlich bleibt dabei am Ende auch das Individualrecht erhalten, Frau Kollegin.
Frauen können es sich nicht mehr leisten, während ihres Erwerbslebens mehrere Hunderttausend Euro - das wurde angesprochen - liegen zu lassen. Wir können es uns nicht mehr leisten, so viel Geld liegen zu lassen und im Alter eine schlechtere Rente zu haben, im Fall der Arbeitslosigkeit weniger Lohnersatzleistungen zu bekommen oder eine Grundsicherung beziehen zu müssen, obwohl wir unser Leben lang genauso hart gearbeitet haben wie die männlichen Kollegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, nehmen Sie sich dieses Themas endlich an. Hören Sie endlich auf, auf Analysen zu verweisen, die wir alle kennen, und nichts zu tun. Wir müssen das Problem angehen. Weit über 100 Jahre nach der erstmaligen Erhebung dieser Forderung ist jetzt die Zeit gekommen, etwas zu verändern, damit Frauen endlich denselben Lohn für dieselbe Arbeit bekommen wie Männer.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Fraktion.
Jörg von Polheim (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wie so oft bei Ihnen gilt auch hier: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht.
Sie wollen - das ist bekanntlich eine Ihrer besten Übungen - mit Ihrem sogenannten Entgeltgleichheitsgesetz wieder eine neue Bürokratieebene einziehen. Damit, glauben Sie, ist das Problem gelöst.
Als Familienunternehmer kann ich Ihnen aus der Praxis berichten, dass der Mittelstand als Rückgrat unserer Gesellschaft in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden muss.
Ihre komplizierten und überflüssigen Regeln erreichen das Gegenteil. Die unternehmerische Handlungsfreiheit muss erhalten bleiben.
Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes widerspricht dem Gedanken der unternehmerischen Freiheit grundlegend und ist auch ordnungspolitisch völlig verfehlt.
Vertragsfreiheit und Tarifautonomie sind unabdingbare Grundlagen einer funktionierenden Marktwirtschaft.
Typisch für Sie ist der Reflex, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in die Pflicht zu nehmen. Sie sprechen von sogenannten sachverständigen Personen, denen eine wesentliche Rolle bei der Behebung von Informationsdefiziten zukäme. Aber Sachverständige sollten in erster Linie von den Tarifparteien kommen, auch von den Unternehmen. Damit sind wir wieder beim alten Hut der SPD: Sie fordern eine staatliche Bevormundung der Tarifparteien.
Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die Haushalte machen Sie sich einen schlanken Fuß. Außerdem bemühen Sie sich noch nicht einmal, eine seriöse Gegenfinanzierung vorzulegen. Der Etat der Antidiskriminierungsstelle soll einfach belastet werden.
- Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, dann fällt Ihnen noch Mövenpick ein. Das ist typisch.
An dieser Stelle will ich noch einmal bekräftigen, dass wir Liberale die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie als absolut schützenswert erachten. Wir sind bewusst gegen einen gesetzlichen Eingriff. Wir treten für Chancengleichheit und transparente Gehaltsstrukturen von Männern und Frauen ein,
für welche vor allem die Qualifikation entscheidend ist.
Es mangelt auch nicht an einer Rechtsgrundlage zur Entgeltgleichheit.
- Wer brüllt, hat nicht unbedingt recht; das wissen Sie. - Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz legt bereits umfassend und eindeutig fest, dass für gleiche Arbeit gleicher Lohn zu zahlen ist. Woran es mangelt, ist die Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung. Die wollen wir allerdings ohne staatlichen Zwang erreichen.
Recht gibt uns auch die gestern in den Medien veröffentlichte Erhebung der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Darin wird festgestellt, dass der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der DAX-30-Unternehmen seit Anfang 2011 um mehr als ein Drittel gestiegen ist -
und das alles ohne staatlich verordnete Frauenquote, nur durch freiwillige Vereinbarung. Sie sehen, meine Damen und Herren: Nicht alles muss Vater Staat regeln.
Der erste Gleichstellungsbericht hat das auch gezeigt. Darin wird insbesondere auf die strukturellen Unterschiede im Lebensverlauf von Frauen und Männern hingewiesen. Zentraler Punkt, der Frauen im Wettbewerb mit Männern in der Karriereplanung noch immer benachteiligt, ist die nicht ausreichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Frauen nehmen noch immer den weitaus größeren Teil der Elternzeit.
Wer über Jahre nicht im Betrieb ist, verpasst Karrierechancen, die später im Lebensverlauf nicht wiederkommen und schließlich zu Entgeltungleichheit führen.
Unsere Antwort darauf ist nicht die Zwangsquote, sondern der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten
und die Einrichtung familienfreundlicher Unternehmen.
So hat die Bundesregierung unter anderem dafür gesorgt, dass 4 Milliarden Euro in die U-3-Betreuung fließen. Modellprojekte wie die „Kommunale Familienzeitpolitik“ führen zu einer besseren Verzahnung der regionalen Kinderbetreuungsangebote und damit letztlich zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung.
Ich wiederhole: Entgeltgleichheit ist kein rechtliches Problem, sondern eines der Umsetzung der vorhandenen Möglichkeiten. Der Staat kann nicht die Aufgaben der Wirtschaft und der Gesellschaft übernehmen. Sie sorgen mit Ihrer Vorlage nur dafür, dass der deutsche Amtsschimmel immer besser im Futter steht und immer lauter wiehert. Wir Liberalen jedenfalls werden dazu nicht die Hand reichen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke.
Yvonne Ploetz (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum verdient eigentlich eine Grafikdesignerin rund ein Drittel weniger als ein Grafikdesigner? Warum verdient eigentlich eine Buchhalterin rund ein Viertel weniger als ein Buchhalter? Das sind nicht die Ausnahmen; das ist die Regel. Arbeitnehmerinnen wird in Deutschland rund ein Viertel ihres Lohns vorenthalten, und das ist einfach völlig inakzeptabel. Jeder und jede hat das Recht auf eine faire Bezahlung.
Nirgendwo in Europa geht die Lohnschere derart weit auseinander wie in Deutschland: nicht in Frankreich, nicht in Griechenland, nicht in Bulgarien. Sie wird sich auch nicht schließen lassen, wenn wir nicht endlich Unternehmen gesetzlich dazu verpflichten, gleiche Löhne für gleiche Arbeit zu zahlen.
Das kann mit einem Entgeltgleichheitsgesetz passieren, wie es von der SPD im Entwurf vorgelegt wurde. Unsere Diskussionspunkte hat meine Kollegin schon genannt.
Ich möchte etwas weiter gehen, weil die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau nur die Spitze des Eisbergs ist. Im Laufe eines Arbeitslebens kommen bei Frauen sehr viele Diskriminierungen am Arbeitsmarkt zusammen. Bekäme man nach dem gesamten Erwerbsleben, also für die Zeit vom Schulabschluss bis zur Rente, einen Lohnzettel, dann stünde bei den Frauen unter dem Strich im Vergleich zu den Männern nicht ein Minus von 23 Prozent, sondern ein Minus von 50 Prozent. Das liegt an der unfairen Bezahlung. Das liegt daran, dass meist immer noch Frauen die Erziehung von Kindern und die Pflege der Eltern übernehmen. Das liegt daran, dass Frauen viel zu oft in Minijobs ohne soziale Absicherung arbeiten. Das liegt daran, dass Frauen mit Dumpinglöhnen abgespeist werden.
Vor zwei Tagen wurde bekannt, dass in Kitas immer mehr Erzieherinnen als Leiharbeitnehmerinnen zu 1 000 Euro brutto beschäftigt werden.
Diese Frauen bringen eine unglaublich hohe Qualifikation mit. Sie tragen eine große Verantwortung bei der Erziehung unserer Kinder. Sie müssen Vertrauen aufbauen. Diese Frauen kann man nicht beliebig ausleihen und mit Hungerlöhnen unterhalb des Existenzminimums abspeisen.
Das Mindeste, was ich von Ihnen als Regierende erwarte, ist ein Verbot der Leiharbeit in diesem sensiblen Bereich.
Für die Frauen steigt übrigens auch das Risiko, im Alter arm zu werden. Arbeitet eine Frau ein Leben lang in einem 400-Euro-Job - das sind in Deutschland derzeit 5 Millionen Frauen -, dann hat sie einen Rentenanspruch von 139,95 Euro monatlich. Es kann nicht Ihr Ernst sein, dass Sie die 5 Millionen Frauen, die heute nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, morgen sehenden Auges in die Altersarmut schicken wollen.
Mit welchem politischen Konzept wollen Sie diese Frauen auffangen? Ich kann keines erkennen. Wir haben eines: Wir wollen eine Mindestrente von 1 050 Euro und gute Arbeit für jeden und jede.
Streiten Sie doch endlich mit uns gegen Hungerlöhne! Jede Frau und jeder Mann muss für eine Stunde Erwerbstätigkeit mindestens 10 Euro erhalten. Diese Verrohung und diese Entsicherung am Arbeitsmarkt müssen endlich ein Ende haben.
Nun kommt die Sommerzeit. Dies ist eigentlich die Urlaubszeit. Haben Sie sich einmal auf der Straße umgehört, wie viele Menschen sich noch einen Urlaub leisten können? Welche Familie mit Kindern, welche Frau, die weniger Urlaubsgeld erhält als ein Mann, oder welche Alleinerziehende mit zwei Kindern kann sich einen Urlaub leisten? Es ist doch so: Die, die einen Urlaub am dringendsten nötig haben, um endlich eine Woche der Existenznot und der Armut zu entfliehen, können von einem Urlaub nur träumen. Das ist wirklich eine Schande.
Stellen Sie sich endlich auf die Seite von Alleinerziehenden! In Deutschland gibt es eine unglaubliche Armut bei Kindern und Jugendlichen. Das hängt in vielen Fällen mit der Existenznot der Mütter zusammen. Um Kindern und Jugendlichen eine Perspektive für ihr Leben zu bieten, müssen Sie die finanzielle Existenz ihrer Mütter sichern. Sie müssen dafür sorgen, dass aus Überlebensstrategien, die wir häufig beobachten, endlich wieder Strategien des Lebens werden.
Dabei ist das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ immer aktuell. Nur wenn die Kinderbetreuung wirklich stimmt, müssen die Frauen keine prekäre Beschäftigung annehmen, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. In Deutschland werden aber nur 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren ganztags betreut. In Dänemark sind es 64 Prozent. Dort geht die Gleichung „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ auf. Trotz dieser ernüchternden Zahlen veranstalten Sie ein selbstherrliches Theater um das Betreuungsgeld. Ich sage Ihnen: Unser Widerstand ist Ihnen sicher, wenn Sie Milliarden verschwenden, statt Kitaplätze auszubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen Sie, was ich denke? Wenn wir die Diätenerhöhung aller Abgeordneten im Bundestag einmal an die Erhöhung der Löhne von Frauen in der Gesellschaft koppeln würden, dann hätten wir bald die Entgeltgleichheit. Darauf wette ich.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns Deutschland im europäischen Vergleich anschauen, werden wir feststellen, dass wir in bestimmten Punkten weit zurückliegen: Wir liegen zurück bei der Kinderbetreuung. Wir liegen zurück bei der Vollerwerbstätigkeit von Frauen. Wir liegen zurück bei Frauen in Führungspositionen. - Nur in einem Punkt sind wir Europameister: bei der Entgeltungleichheit von Frauen und Männern.
Dass eine Frau im Schnitt ein Vierteljahr länger arbeiten muss, um dasselbe Jahresgehalt wie ein Mann zu erhalten, ist ein politischer Skandal in diesem Land.
Die Zahlen sind genannt worden. Ich will sie nicht wiederholen.
Die Position der Familienministerin ist ein weiterer Skandal.
Sie sagt: Die Frauen sind selber schuld. Entweder verhandeln sie nicht richtig oder arbeiten Teilzeit. Demzufolge sind sie die Urheber der Lohnungleichheit. - Das ist die Antwort der Familienministerin. Sie kämpft jetzt dafür, dass sie die Federführung bei diesem Thema bekommt; aber sie hält es ja noch nicht einmal für notwendig, an der Debatte teilzunehmen. Das ist die Wertschätzung, die sie diesem Thema zukommen lässt: Sie bezieht noch nicht einmal Position dazu.
Schlimmer noch: Sie macht die Lohnungleichheit zu einem Privatproblem der Frauen; demnach sind die Frauen anscheinend selber schuld daran. Sie privatisiert ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Deswegen wollen wir nicht, dass sie hier die Federführung erhält; dann wäre wirklich Hopfen und Malz verloren.
Herr Kollege, ja, wir wollen die Aufwertung der typischen Frauenberufe. Wir wollen nicht, dass Frauen massenweise Männerberufe ergreifen, um auf ein gleiches Entgelt zu kommen, sondern wir wollen die Aufwertung der Frauenberufe, weil unsere Gesellschaft diese Berufe braucht. Wir brauchen auch mehr Männer in diesen Berufen.
Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: den Erzieherinnenmangel. In Deutschland fehlt es uns nicht nur an Betreuungsplätzen, sondern auch an Personal, auch an männlichem Personal. Wenn wir es nicht schaffen, den Beruf der Erzieherin qualitativ aufzuwerten und besser zu entlohnen, dann werden Sie keinen einzigen Mann für diesen Beruf gewinnen, und schon jetzt ist die Suche nach qualifizierten Frauen extrem schwierig. Vermutlich wird in Zukunft überhaupt keine Frau mehr diese Ausbildung machen. Wozu drei und mehr Jahre lernen, wenn man dafür den schlechtesten Lohn erhält? Das ist der Grund, warum wir Entgeltgleichheit in diesem Land wollen. Wir benötigen diese Berufe, und dort wird überaus anspruchsvolle Arbeit geleistet. Darum müssen wir sie aufwerten und besser anerkennen.
Es geht - das hat meine Kollegin Beate Müller-Gemmeke bereits gesagt - um die Wertschätzung der Arbeit, die die Frauen gerade in diesen Dienstleistungsberufen erbringen.
Wenn wir über Lohnungleichheit reden, dann beschränkt sich das nicht auf das aktuell bezogene Gehalt, sondern es geht auch um die Konsequenzen. So führt die Lohnlücke zu einer durchschnittlichen Rentenlücke von 59 Prozent. Das können Sie doch nicht ignorieren! Sie ignorieren den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Sie wollen noch nicht einmal darüber reden.
Warum? Weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen. Heutige Lohnungleichheit führt zu späterer Altersarmut. Auch diesem Problem müssen wir uns stellen, und zwar heute und nicht erst in der Zukunft.
Was wollen wir Grüne? Wir wollen gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. Wir wollen die Quote und ein Gleichstellungsgesetz; denn flexibel waren wir in diesem Land schon lange genug. Jetzt wollen wir konkrete Taten und verbindliche Regelungen sehen. Dafür stehen die Grünen ein.
Ich will noch ein letztes Argument bringen. Wir reden über Wertschätzung, über Anerkennung der Arbeit, über die Anerkennung der Erziehungsleistungen von Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte bringen. Wer in diesem Land redet aber über die Anerkennung und Wertschätzung der Arbeit von Müttern, die arbeiten, um ihre Existenz zu sichern, und gleichzeitig Kinder erziehen?
Wer redet über die Anerkennung der Arbeitnehmerinnen, die das Ganze deshalb auf sich nehmen, weil sie nicht von Hartz IV leben wollen? Wer redet über diese Doppelbelastung von Frauen? Sie definitiv nicht. Diese Belastung ist jedoch ein Problem in unserer Gesellschaft. Darum müssen wir uns kümmern.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Katharina Landgraf für die CDU/CSU-Fraktion.
Katharina Landgraf (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frauen werden in Deutschland durchschnittlich schlechter bezahlt und seltener befördert als Männer. Das ist eine Tatsache, die leider nicht zu leugnen ist. Frauen erhalten auch seltener Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld oder Gewinnbeteiligungen. Das zeigt die neueste Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung. Bei den Frauen spielt auch der Freizeitausgleich für Überstunden eine deutlich größere Rolle, sicher familienbedingt; denn eine Barauszahlung erhalten eher die Männer. Die Summe der Ergebnisse dieser Umfrage lässt vermuten, dass weibliche Beschäftigte auch in naher Zukunft den Lohnabstand kaum aufholen werden. 31 Prozent der Männer, aber nur 21 Prozent der Frauen gaben an, dass sie in ihrem gegenwärtigen Betrieb schon einmal befördert worden sind.
Lassen Sie mich kurz die Gründe für dieses Dilemma erläutern. Meiner Ansicht nach gibt es drei wesentliche Ursachen für die Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern: Erstens. Frauen fehlen in bestimmten Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter. Zweitens. Frauen haben häufigere und längere familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und -reduzierungen als Männer. Drittens. Typische Frauentätigkeiten werden trotz individueller und kollektiver Lohnverhandlungen immer noch schlechter bewertet und bezahlt.
In einigen Fällen werden Frauen aber auch schlechter bezahlt, weil sie einfach Frauen sind. Ein Teil des Lohnunterschiedes lässt sich nicht mit den eben genannten Ursachen erklären; das ist eben einfach Diskriminierung.
Beispielsweise werden Frauen im Hinblick auf eine potenzielle Schwangerschaft oft schon zu geringeren Einstiegsgehältern angestellt. Das ist ein unhaltbarer Zustand, nicht nur, weil es ungerecht ist, sondern auch aus wirtschaftspolitischer Sicht.
- Beschweren Sie sich doch nicht, wenn Sie mit mir einig sind.
Wir versuchen zusammen mit Akteuren aus der Wirtschaft, die Ursachen der Entgeltungleichheit mit konkreten Maßnahmen zu bekämpfen. Durch bessere Rahmenbedingungen wollen wir die Karrierechancen von Frauen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern.
Hier einige Beispiele: die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“, das Programm „Perspektive Wiedereinstieg“,
der Girls‘ Day, die MINT-Initiativen, der stetige Ausbau der Kinderbetreuung und die Partnermonate beim Elterngeld. Wir müssen über die Konsequenzen des Berufswahlverhaltens der Mädchen informieren und helfen, Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.
Weil Frauen besonders häufig für Dumpinglöhne arbeiten müssen, ist die Forderung nach einem Mindestlohn als Lohnuntergrenze in diesem Zusammenhang ein wichtiges Thema.
Da sind wir seit unserer letzten Debatte im März zum Equal Pay Day ein gutes Stück vorangekommen: Ende April hat die Unionsfraktion ein Konzept für die Einführung einer Lohnuntergrenze vorgestellt. Das Eckpunktepapier sieht vor, eine tarifoffene, allgemeine Lohnuntergrenze einzuführen. Über deren Höhe entscheidet nicht der Staat, sondern entscheiden die Tarifpartner. Somit bleibt die Tarifautonomie gewahrt.
Die Kanzlerin wird das Thema in den Koalitionsausschuss einbringen, und ich bin zuversichtlich, dass wir uns noch in dieser Legislaturperiode einigen werden.
Das wird ein guter Schritt auf dem Weg zu einer gerechteren Entlohnung für Frauen sein.
Ein weiteres Problem ist der schon erwähnte geringe Anteil von Frauen auf höheren Leitungsebenen. Frauen liegen derzeit bei der Besetzung von gut dotierten Führungspositionen in der Wirtschaft weit zurück; das ist schon gesagt worden. Es ist zwar zu begrüßen, dass die 30 DAX-Unternehmen den Frauenanteil in Spitzenpositionen erhöhen wollen; doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
Um tatsächliche Erfolge verzeichnen zu können, ist ein Gesetz
- dieses Mal wirklich ein Gesetz - mit verbindlichen und messbaren Vorgaben nötig.
Die entsprechenden Diskussionen und Beratungen laufen derzeit. - Die Diskussionen laufen doch!
Beim Abbau der Lohnunterschiede sind alle gefordert, nicht nur wir in der Politik. Vor allem Arbeitgeber müssen dazu beitragen, und zwar rasch, damit nicht wieder etliche Jahre ins Land ziehen, in denen nichts passiert. Ein wichtiger Helfer für die Unternehmen ist dabei das Analyseprogramm Logib-D. Damit kann die Höhe des durchschnittlichen Unterschieds der Monatsgehälter von Frauen und Männern in Unternehmen ermittelt werden,
außerdem auch die Ursache des Unterschiedes. Die Teilnahme ist freiwillig und kostenlos.
Deshalb appelliere ich heute an dieser Stelle wieder an die Unternehmen, sich möglichst alle an der Selbstkontrolle zu beteiligen.
Im Rahmen der Gesamtstrategie müssen wir die Frauen stark und selbstbewusst machen, damit sie die Lohnverhandlungen für sich nutzen können. Es wird zwar von Ihnen immer wieder abgestritten, aber das ist ein ganz persönlicher Fakt. Starke und selbstbewusste Frauen werden angesichts des Fachkräftemangels gerade jetzt ihre Qualifikationen nutzen.
- Von Schuld rede ich hier gar nicht, Frau Ferner. Die Frauen sollen ihre Qualifikationen nutzen. - Dazu gibt es Hilfestellungen und Programme aus dem Familienministerium. Denn Männer haben weniger Probleme damit, sich gut zu präsentieren und für eine angemessene Vergütung zu streiten.
Besonders vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und, wie erwähnt, des Fachkräftemangels können und dürfen wir auf qualifizierte und hochmotivierte Frauen nicht verzichten.
Weil diese entsprechend entlohnt werden müssen, brauchen wir gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.
Das ist nicht nur im Sinne der Gleichberechtigung, sondern auch im Interesse der Wirtschaft.
Ich teile also das Anliegen der SPD, aber nicht den Lösungsansatz. Der Einsatz von sachverständigen Personen, die aufklären und das bestehende Entgeltsysteme in den Betrieben prüfen sollen, führt zu einem bürokratischen Monster. Im Streitfall müssen dann trotzdem wieder die Gerichte entscheiden. Damit haben wir nichts gewonnen und nur eine weitere Instanz dazwischen geschaltet.
Der bessere Weg ist die kreative Einsicht, prinzipiell alle leistungsbezogen zu bezahlen. Das ist der beste Weg für die gewünschte Entgeltgleichheit.
Daher rate ich von einem solchen Gesetz, wie es die SPD-Fraktion hier vorgelegt hat, ab.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Willy Brandt hat einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, wie es um Gleichberechtigung in unserem Land steht: Emanzipation komme voran wie eine Schnecke auf Glatteis. Recht hat er, vor allem, wenn ich mir diese schlappe Regierung und die Regierungsfraktionen anschaue.
Wir werden dieser Schnecke mit unserem Gesetzentwurf Flügel verleihen, damit sich endlich was bewegt. Wir haben es nämlich satt, weitere Jahrzehnte auf die Durchsetzung von gleichen Löhnen für gleiche und gleichwertige Arbeit zu warten.
Meine Damen und Herren, schauen Sie mich an! Frauen meiner Generation erhalten fast 60 Prozent weniger Lebenserwerbseinkommen als Männer. Sie verdienen weniger, sie haben im Alter deshalb nur halb so viel Rente.
Lohndiskriminierung zieht sich durch das ganze Leben. Diese Ungerechtigkeit dürfen wir nicht länger zulassen.
Mit unserem Gesetzentwurf können wir Entgeltdiskriminierung aufdecken und diesen Rechtsbruch wirksam bekämpfen. Worauf warten wir also noch? Wir wollen Taten sehen!
Frauen haben in Bezug auf ihre Bildungsabschlüsse die jungen Männer längst überholt. Beruflicher Erfolg ist ihnen wichtig. Trotzdem werden sie auch heute noch auf alte Rollenbilder zurückgeworfen. Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, machen genau das: mit Ihrem Betreuungsgeld,
mit der Flexiquote und mit den unwirksamen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sie bekämpfen die Lohnlücke nicht und nageln Frauen so in überholten Mustern fest.
- Natürlich stimmt das! - Frauen sind aber schon lange keine Zuverdienerinnen mehr. Sie sind auf eigene existenzsichernde Löhne angewiesen, und sie haben ein Recht darauf.
Traurige Tatsache ist: Frauen haben in Deutschland nach wie vor ein Viertel weniger Lohn als Männer, und sie haben auch immer noch deutlich schlechtere Karrierechancen. In Führungspositionen muss man Frauen mit der Lupe suchen.
Klar ist doch: Die Freiwilligkeitsvereinbarungen mit der Wirtschaft sind gescheitert. Wir haben daraus gelernt. Schon in der Großen Koalition haben wir Ihnen gemeinsam mit unserem damaligen SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt. Sie haben das blockiert und bis heute keinen wirksamen Weg zur Lösung des Problems aufgezeigt.
Wir machen jetzt wieder Nägel mit Köpfen. Erstens. Wir schaffen mit unserem Gesetz Transparenz. Solange Frauen nicht wissen, was ihre Kollegen verdienen, wie sollen sie da erkennen, dass sie benachteiligt werden? Das ändern wir.
Zweitens. Wir lassen Frauen nicht länger im Regen stehen. Natürlich können Frauen schon heute gegen Lohndiskriminierung klagen. Aber wer macht denn das, immer mit dem Risiko im Nacken, zu verlieren und möglicherweise nie wieder einen guten Arbeitsplatz zu finden? Wir lösen dieses Problem.
Drittens. Wir stärken Unternehmensverantwortung. Wir schaffen den gesetzlichen Rahmen und überlassen es den Unternehmen und Tarifparteien, Entgeltdiskriminierung aufzudecken und zu beheben. Besser geht es doch nicht.
Viertens. Wir legen das Bürokratiemonster an die Kette. Wir brauchen keine neuen staatlichen Stellen, um Lohngerechtigkeit durchzusetzen. Unser Gesetzentwurf sieht ein Minimum an Bürokratie vor. Unternehmen, die gerechte Löhne zahlen, müssen dies nur offenlegen, und fertig sind sie.
Verstoßen Unternehmen allerdings gegen das Lohngleichheitsgebot, hat das Konsequenzen. Wir haben in unserem Gesetzentwurf Bußgelder bis zu 500 000 Euro festgeschrieben. Das ist richtig so; denn ansonsten wäre das Gesetz ein zahnloser Tiger.
Und wie sieht es mit der finanziellen Belastung der Unternehmen aus?
Keine Frage, durch unser Gesetz werden Kosten anfallen für die Berichte und möglicherweise für Sachverständige und natürlich auch durch die Zahlung gerechter Löhne, wenn vorher diskriminiert wurde. Das Tolle an unserem Vorschlag ist aber, dass nur die tief in die Tasche greifen müssen, denen unsere Grundrechte egal sind, und das ist auch richtig so.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit unserem Gesetzentwurf ist uns ein guter Wurf gelungen. Wir schaffen Gerechtigkeit, und wir machen Schluss mit der beschämenden 23-Prozent-Lücke zwischen Männer- und Frauenlöhnen. Unterstützen Sie deshalb unseren Gesetzentwurf!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie werden nicht überrascht sein: Wir tun uns schwer, Ihren Gesetzentwurf zu unterstützen.
Ich will Ihnen auch sagen, warum: Es ist Tatsache, dass Frauen in ganz Europa weniger verdienen als Männer - da brauchen wir gar nicht um den heißen Brei herumzureden -,
und in Deutschland ist die Quote höher als im europäischen Durchschnitt. Dass Frauen im Schnitt 23 Prozent weniger verdienen als Männer - bereinigt sind es 8 Prozent -, wurde von den Kollegen bereits angesprochen.
Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.
Wir haben gemeinsam das Ziel, die Entgeltungleichheit abzuschaffen.
- Doch, Frau Kollegin. - Aber der Weg dahin unterscheidet uns ganz gewaltig. Statt ein bürokratisches Monster zu schaffen, das allenfalls geeignet ist, dem von den Grünen vorgelegten Entwurf eines Whistleblower-Schutzgesetzes, über den wir heute Nachmittag diskutieren werden, eine Grundlage zu geben, halten wir es für sinnvoller, uns erst einmal die Ursachen anschauen: Woran liegt die Entgeltungleichheit,
und wie schaffen wir es, diese abzubauen?
Die Ursachen sind vielfältig. Es ist nicht damit getan, festzustellen, dass der böse Arbeitgeber sagt: Das ist eine Frau; die bekommt deshalb weniger Geld. - Ursache ist, dass die Qualifikation und das Berufsverhalten bei vielen jungen Frauen anders ausgeprägt sind.
In diesen Tagen fand die 50-Jahr-Feier der Bundes der technischen Beamten statt. Dort wurde ausgeführt: Wir tun uns schwer, Frauen für sogenannte MINT-Berufe - Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik - zu begeistern. Wenn sie ein entsprechendes Studium oder eine entsprechende Lehre absolviert haben, sind die weiblichen Bewerber aber vielfach besser, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben. Das heißt, die Frauen können das.
Warum stellen Arbeitgeber sie trotzdem nicht ein bzw. zahlen ihnen etwas weniger?
Das liegt schlichtweg daran - die Kollegin hat das bereits ausgeführt -, dass die Möglichkeit der Familienplanung eingepreist wird. Da wird gesagt: Ja, es kann sein, dass sie ausfällt.
- Frau Kollegin Ferner, Sie brauchen sich gar nicht so aufzublasen.
Wir haben vor vier Jahren in der Großen Koalition mit dem Ausbau der Kinderkrippenangebote und mit dem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der im nächsten Jahr in Kraft tritt, Möglichkeiten zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den Weg gebracht. All das ist Ihnen doch bekannt.
Die Qualität bzw. der Wert der weiblichen Arbeit - die mangelnde Wertschätzung haben Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zu Recht moniert - wird dadurch gewaltig erhöht werden, dass die Frauen sagen können: Wenn ich schwanger werde, muss ich nicht drei Jahre zu Hause bleiben, sondern ich kann, wenn ich will, bereits nach einem Jahr wieder meinem Beruf nachgehen. - All dies haben wir gemeinsam mit Ihnen von der SPD auf den Weg gebracht.
Das sollten Sie doch noch wissen.
Um den Unterschieden wirksam begegnen zu können,
müssen wir uns die Ursachen genau anschauen. Wir haben derzeit - auch das wird zur Herstellung von Entgeltgleichheit beitragen - etwa 1 Million Arbeitsplätze in Deutschland, die nicht besetzt werden können. Das hat Kollege Brauksiepe erst gestern im Ausschuss ausgeführt. Das heißt, wir werden die qualitativ hochwertige Arbeit der Frauen in Zukunft noch viel stärker brauchen als vor fünf oder zehn Jahren.
Auf dem Markt hat sich einiges getan, Frau Ferner; da sind wir ganz gut dabei. Wir müssen auch in Deutschland aufpassen, dass wir die Frauenerwerbsquote erhöhen, dass wir die Möglichkeiten für Frauen, berufstätig zu sein, verbessern. Das werden wir tun.
Die Arbeitgeber werden merken, dass wir hier qualifizierte gut ausgebildete Frauen haben, und sie werden sich bemühen, diese verstärkt einzustellen. Darum sollten wir uns kümmern, bevor wir über Zuwanderung und andere Maßnahmen nachdenken.
Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt - ich habe bereits darauf hingewiesen -, das Berufswahlverhalten zu beeinflussen, aber natürlich auch die Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.
- Nein, das Betreuungsgeld ist - das wissen Sie so gut wie ich, Frau Kollegin - keine Fernhalteprämie, wie Sie es stigmatisieren.
Natürlich kann das Betreuungsgeld auch dann gezahlt werden, wenn eine junge Frau berufstätig ist. Sie sollten der Bevölkerung keine Unwahrheiten erzählen; denn so kommen wir nicht weiter.
Individuelle und kollektive Lohnverhandlungen haben die traditionell schlechtere Bewertung der typischen Frauenberufe bislang noch nicht nachhaltig überwinden können. Schließlich unterbrechen und reduzieren Frauen ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und länger als Männer. Nach längeren familienbedingten Erwerbsunterbrechungen und damit verbundenen Einbußen beim Gehalt können Frauen den Einkommensvorsprung ihrer männlichen Kollegen oft nicht mehr aufholen; darauf wurde bereits hingewiesen.
Ob die Garantie auf ein Familienhäuschen am Ende des Berufslebens der richtige Weg ist, Frau Kollegin Ploetz, wage ich zu bezweifeln. Das wird die Einstellungsquote von Frauen wohl nicht merklich erhöhen. Ich halte das eher für problematisch. Lange Familienphasen und eine hohe Teilzeitquote sind daher typisch für Frauenerwerbsverläufe.
Die Entgeltungleichheit ist ein Kernindikator der Gleichstellung. Ihre Überwindung ist unser zentrales gleichstellungspolitisches Anliegen. Wie bereits dargelegt, sind die Ursachen komplex und vielfältig und eng miteinander verbunden.
- Wir haben schon etwas gemacht. - Daher liegen die Möglichkeiten der Überwindung der verschiedenen Ursachen bei unterschiedlichen Akteuren. Um hier etwas zu erreichen, reicht es nicht aus, diesem Problem mit der gesetzgeberischen Keule, noch dazu - dies hat Frau Kollegin Landgraf völlig zu Recht ausgeführt - mit einem bürokratischen Monster in Form von Überwachung und Entgeltberichten zu begegnen. Wichtiger ist vielmehr, die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen, angefangen bei der Ausbildung bis hin zur Vermittlung, entsprechend zu verbessern. Das ist das geeignetere Mittel.
Ich habe mir Ihren Antrag angeschaut, liebe Frau Kollegin Nahles.
- Gesetzentwurf, Entschuldigung. - Dort steht unter „B. Lösung“:
Der Staat als Handelnder soll sich hier hingegen so weit als möglich zurückhalten. Das Handeln derjenigen, die für die Entgeltsysteme zuständig sind, soll durch behördliches Eingreifen nicht ersetzt werden.
Das klingt gut. Wenige Seiten weiter, in § 12 Ihres Gesetzentwurfes, lese ich:
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterzieht auf Veranlassung Tarifverträge, die Entgelte betreffen, einer kursorischen Prüfung ...
- Ja, dazu komme ich gerade. -
Veranlassung besteht insbesondere
a) bei Abschluss eines neuen Tarifvertrages, der Entgelte betrifft. ...
Die meisten Tarifverträge betreffen Entgelte.
b) auf Verlangen von Beschäftigten aus einem Betrieb ohne Betriebs- oder Personalrat, deren Entgelt durch die Anwendung dieses Tarifvertrages bestimmt wird;
Die meisten Entgelte werden durch die Anwendung eines Tarifvertrages bestimmt.
c) auf Verlangen einer zuständigen Tarifvertragspartei oder eines Antidiskriminierungsverbandes.
Ich kann Sie nur bitten, sich einmal das Grundgesetz aus der Schublade vor Ihnen zu holen. In Art. 9 Abs. 3 Satz 2 steht zur Koalitionsfreiheit:
Abreden, die dieses Recht einschränken ..., sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.
Ich glaube, es ist allemal richtiger und wichtiger, dass sich die Tarifvertragsparteien tatsächlich um die Aushandlung von gleichen Lohnbedingungen kümmern. Dies sollte nicht durch ein Gesetz geschehen, das durch die Überprüfung ein bürokratisches und sicher nicht mit 2 Millionen Euro bezahlbares Monster aufbauen würde.
Im Übrigen - auch dazu bedarf es eines ausdrücklichen Hinweises - sind die Tarifvertragsparteien bereits heute
- Frau Ferner, hören Sie zu, dann können Sie noch etwas lernen -
zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. Die Bundesregierung, das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet umfangreiche Arbeitshilfen für Tarif- und Betriebspartner zur Überprüfung bestehender Regelungen an. Soweit Betriebsräte und Tarifvertragsparteien in den Gesetzentwurf einbezogen werden, werden nach meiner Auffassung die verfassungsrechtlichen Grenzen der kollektiv- und individualvertraglichen Regelungsebenen nicht beachtet. Insofern halte ich verfassungsrechtliche Bedenken an Ihrem Gesetzentwurf durchaus für gegeben.
Lassen Sie einmal Ihre Juristinnen - Kollegen Kramme ist leider nicht mehr anwesend - einen Blick darauf werfen; diese können Ihnen sagen, ob der Gesetzentwurf verfassungsrechtlich korrekt ist.
Meine Damen und Herren, Ihr Lösungsansatz ist falsch. Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt, wie ich bereits ausgeführt habe, das Berufswahlverfahren zu beeinflussen und die Attraktivität der MINT-Berufe mit entsprechender Bezahlung zu steigern. Dass wir in der christlich-liberalen Koalition erst vor eineinhalb Jahren im Bereich der Pflege einen Mindestlohn eingeführt haben - in der Pflege arbeiten ja sehr viele Frauen -, gehört im Übrigen auch zur politischen Korrektheit und zur Ehrlichkeit.
Die Vorschläge Ihres Gesetzentwurfs - die Verpflichtung zur Prüfung der Entgeltsysteme, die Erstellung von Entgeltberichten, der massive Stellenausbau bei der Antidiskriminierungsstelle und die Einführung und Qualifizierung sogenannter sachverständiger Personen - tragen nach meiner Auffassung dazu bei, eine überbordende Bürokratie aufzubauen. Außerdem weisen Sie der Antidiskriminierungsstelle mit Ihren Vorschlägen zu weit reichende Befugnisse zu.
Darüber hinaus - das hatte ich bereits ausgeführt - halte ich einen Verstoß gegen die Tarifvertragsfreiheit für gegeben. Ich glaube, Sie geben den Frauen in puncto Entgeltgleichheit mit diesem Gesetzentwurf Steine statt Brot. Wir sollten daran arbeiten, die Qualifizierung, die Vermittlung und natürlich auch den Wert der Arbeit der Frauen für die Arbeitgeber - da bin ich bei Ihnen, Frau Müller-Gemmeke - gerade angesichts des in Zukunft drohenden Fachkräftemangels stärker herauszustellen. Dadurch werden wir mehr erreichen, als wenn wir mit einem bürokratischen Monster versuchen, die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen gesetzlich zu unterbinden.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion das Wort.
Christel Humme (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wer diese Debatte bis jetzt verfolgt hat, stellt eines fest: Wir sind uns im Parlament alle einig, dass bei der Entlohnung von Männern und Frauen schreiende Ungerechtigkeit herrscht. Aber es gibt hier eine Fraktion und eine Regierung, die kein Konzept haben, daran etwas zu ändern.
Insofern bin ich sehr stolz, Ihnen mit unserem heute vorliegenden Gesetzentwurf eine Lösung anbieten zu dürfen. Ich glaube, wir können die bestehende Ungerechtigkeit nur durch gesetzliche Regelungen beseitigen.
Die Vertreter der Regierungsfraktionen sagen: Die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen hat viele Ursachen. Zum Beispiel fehlen Frauen in technischen Berufen. - Ich sage Ihnen: Auch die Frauen, die so mutig sind, Maschinenbauingenieurinnen zu werden, verdienen im Monat 750 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Das ist eine Ungerechtigkeit. Wenn Sie sagen: „Je älter die Frauen sind, desto größer ist ihr Karriereknick“ - ich glaube, Herr Lehrieder hat das gesagt -, dann muss ich Ihnen entgegnen: Das ist falsch. Sehen wir uns doch einmal die Zahlen zu den Berufsanfängern und Berufsanfängerinnen an: Der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, die drei Jahre Berufserfahrung haben, beträgt 19 Prozent. Das heißt, in Deutschland besteht für Frauen immer noch das Risiko, schlechter bezahlt zu werden als Männer.
Das ist die traurige Realität, die wir zur Kenntnis nehmen müssen.
Herr Zimmer - Sie dürfen mir ruhig zuhören -, Sie haben gesagt, es gebe genug Gesetze. Ja, ich gebe Ihnen recht. Das Grundgesetz gibt es seit über 60 Jahren. Seit 1994 ist der Staat verpflichtet, die Gleichstellung durchzusetzen und für gleiche Entlohnung zu sorgen. Trotzdem tut sich nichts. Die Entgeltgleichheit ist bei uns in Deutschland ein Prinzip ohne Praxis.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich habe mich gefreut, als das Europäische Parlament vor drei Wochen, am 24. Mai dieses Jahres, beschlossen hat, dass Unternehmen mit mehr als 30 Mitarbeitern in Zukunft ihre Gehaltsstrukturen offenlegen sollen. Wir sind gespannt, was daraus wird. In unserem Gesetzentwurf haben auch wir den Ansatz gewählt, zuerst einmal Transparenz herzustellen.
Wie sieht die Arbeitswirklichkeit denn aus? Frauen können nicht für bessere Löhne streiten, weil sie nicht wissen, wie viel ihre männlichen Kollegen verdienen. Viele Männer nennen die Höhe ihres Gehaltes nicht. Sie verstecken sich hinter der Aussage: Das darf ich nicht. - Wir brauchen, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, Transparenz. Darum verpflichten wir private und öffentliche Unternehmen, Entgeltberichte zu erstellen und ihre Entgeltstrukturen offenzulegen.
Mir haben viele Frauen, die einem Betriebsrat angehören, beispielsweise bei Thyssen, aber auch in anderen Unternehmen, gesagt: Bitte macht ein Gesetz, das Transparenz herstellt. Wenn Transparenz herrscht, sind wir nämlich in der Lage, vieles im Interesse der Frauen schon früher zu verbessern. - Unser Gesetzentwurf sieht nicht nur vor, Transparenz herzustellen. Vielmehr wollen wir auch für den Fall, dass es zu Ungerechtigkeiten kommt, ein Verfahren vorsehen, mit dem eine Lösung gefunden werden kann.
Die Ministerin Schröder sagt: Ich stelle die Logib-D-Software im Internet zur Verfügung. Die Unternehmen können sie freiwillig herunterladen. 200 Unternehmen erhalten eine kostenlose Beratung.
Glauben Sie denn wirklich, dass das zu einer Veränderung führen wird? Ich glaube das nicht. Darum ist es richtig, die Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf zu verpflichten, ein Lohnmessverfahren anzuwenden, damit sich gleicher Lohn einstellt.
Last, not least müssen wir natürlich für die Durchsetzung sorgen. Hier gibt es die Möglichkeit eines Bußgeldes. Wir brauchen durch diesen Gesetzentwurf einen kleinen, sanften Druck; das ist ganz wichtig. Wir haben aber gesagt - das ist vollkommen richtig, Herr Lehrieder -: Der Staat soll sich so weit wie möglich heraushalten. So wenig Staat wie möglich, aber so viel Staat wie unvermeidlich! Darum sehen wir auch ein Bußgeld vor.
Herr Lehrieder, Sie sagen, das sei zu bürokratisch. Ich sage Ihnen: Das Tabu, über Löhne zu sprechen, nützt in erster Linie dem Arbeitgeber. Er kann, wenn es keine Transparenz gibt, mit einzelnen Personen Löhne aushandeln, die unter dem durchschnittlichen Lohnniveau liegen. Ich frage mich: Warum nennen Sie es Bürokratie, wenn wir die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die selbstverständlichen Grundrechte stärken wollen? Ich sehe das nicht als Bürokratie, sondern als Selbstverständlichkeit an.
Genauso ist es keine Bürokratie, wenn wir Unternehmen auffordern, endlich das zu tun, was schon in den Gesetzen steht. Im Gegenteil: Die Unternehmen müssten eigentlich schon heute Entgeltberichte erstellen, damit sie keine Ungerechtigkeit bei der Entlohnung zulassen können. Dies müsste selbstverständlich sein. Sie tun es aber nicht. Darum, glaube ich, müssen wir sie per Gesetz dazu verpflichten.
Frau Schön, Sie haben natürlich Recht: Dieses Gesetz alleine wird die Welt nicht verändern. Weil es bei uns in Deutschland so viele strukturelle Diskriminierungen gibt, brauchen wir zusätzliche, flankierende Maßnahmen. Dazu gehören natürlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die partnerschaftliche Aufteilung von Elternzeit, der Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit und der gesetzliche Mindestlohn. Ich sage Ihnen aber: Auf keinen Fall gehört das Betreuungsgeld dazu.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/9781 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführung beim Familienausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte nun um ein wenig Geduld und Aufmerksamkeit.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 52 a bis 52 g sowie Zusatzpunkt 2 auf:
52. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959 zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9697 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9698 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November 1984 zur Errichtung der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft
- Drucksache 17/9699 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013 (BBVAnpG 2012/2013)
- Drucksache 17/9875 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
A. f. Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
A. f. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten
- Drucksache 17/9932 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. Gesundheit (f)
Rechtsausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
A. f. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Memet Kilic, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visapolitik liberalisieren
- Drucksache 17/9951 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
A. f. Wirtschaft und Technologie
A. f. Menschenrechte und humanitäre Hilfe
A. f. die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Ulrich Schneider, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweckgebundene und steuerfreie Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen für bürgerschaftliches Engagement nicht auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch anrechnen
- Drucksache 17/9950 -
Überweisungsvorschlag:
A. f. Arbeit und Soziales (f)
Sportausschuss
Finanzausschuss
A. f. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksache 17/9738 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
A. f. Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis 53 d und 53 f bis 53 m sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 53 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung des Übereinkommens vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen
- Drucksache 17/9343 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
- Drucksache 17/9843 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer Verabschiedung
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9843, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9343 anzunehmen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Markenrechtsvertrag von Singapur vom 27. März 2006
- Drucksache 17/9691 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
- Drucksache 17/9991 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9991, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9691 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/9692 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
- Drucksache 17/9953 -
Berichterstattung: Abg. Martin Burkert
Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9995 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Johannes Kahrs
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Sven-Christian Kindler
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt auf Drucksache 17/9953, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9692 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober 2003 zur Gründung des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/9696 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)
- Drucksache 17/9955 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Harald Ebner
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt auf Drucksache 17/9955, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9696 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 53 f bis 53 m: Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 53 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 437 zu Petitionen
- Drucksache 17/9760 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 437 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 438 zu Petitionen
- Drucksache 17/9761 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 438 ist bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 439 zu Petitionen
- Drucksache 17/9762 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 439 ist bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 440 zu Petitionen
- Drucksache 17/9763 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 440 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 441 zu Petitionen
- Drucksache 17/9764 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 441 ist bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 442 zu Petitionen
- Drucksache 17/9765 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 442 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 443 zu Petitionen
- Drucksache 17/9766 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 443 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 444 zu Petitionen
- Drucksache 17/9767 -
Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/9939 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes
- Drucksache 17/9918 -
Bei dieser Gelegenheit können wir hier vorne wechseln. Viel Glück bei der Abstimmung, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt 6 ist eben gerade vom Präsidentenkollegen Thierse aufgerufen worden.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 17/9918 den Kollegen Michael Grosse-Brömer vor.
- So viel Zeit muss sein, die Ovation zu geben.
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren: Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint.
Die Wahl erfolgt mit rosa Stimmkarte und rosa Wahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren eigenen Namen trägt.
Die Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Diese Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführern an den Wahlurnen Ihren rosa Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt?
- Nein, noch nicht. Ein Schriftführer der Koalition fehlt hier vorne, oben rechts fehlt ein Schriftführer der Opposition. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, ihr Ehrenamt einzunehmen.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass das Amt des Schriftführers ein Ehrenamt ist, das alle immer sehr gerne wahrnehmen. Insofern bitte ich nun, die Pflicht zu erfüllen.
Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne somit die Wahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe somit die Wahl.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Eintritt in den nächsten Tagesordnungspunkt müssen wir die Sitzung kurz unterbrechen, bis die Vorbereitungen zu der gleich stattfindenden Wahl abgeschlossen sind. Die Sitzung ist unterbrochen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Planung darf ich Ihnen mitteilen, dass die Sitzungsunterbrechung noch etwas länger dauern wird. Ich bitte um Ihr Verständnis. Die Sitzung wird noch für etwa 15 weitere Minuten unterbrochen. Dann geht es mit der Wahl der Mitglieder des Sondergremiums weiter.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen die unterbrochene Sitzung wieder auf.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:
Wahl der Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
- Drucksache 17/9919 -
Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Drucksache 17/9919 vor.
Dieses Gremium ersetzt das am 26. Oktober 2011 nach früherem Recht gewählte Gremium gleichen Namens, das sich jedoch nie konstituiert hatte.
Ich darf Sie erneut um Ihre Aufmerksamkeit für einige erforderliche Hinweise zum Wahlverfahren bitten, das von dem der soeben durchgeführten Wahl abweicht.
Wir wählen jetzt gleich neun ordentliche Mitglieder sowie neun Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.
Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, den Stimmkartenfächern in der Lobby entnehmen können. Weiterhin benötigen Sie zwei Stimmkarten sowie einen Wahlumschlag. Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahlausweis vor.
Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der neun ordentlichen Mitglieder; die gelbe Stimmkarte ist für die Wahl der neun stellvertretenden Mitglieder. Auf jeder der beiden Stimmkarten können Sie jeweils neun Kreuze machen. Für jeden Kandidaten, also in jeder Zeile, dürfen Sie nur ein Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“ anbringen. Eine Stimmabgabe ist ungültig, wenn neben dem Kandidatennamen mehr als ein Kreuz oder kein Kreuz markiert wurde oder der Name durchgestrichen wurde. Ungültig sind Stimmkarten, die Zusätze enthalten.
Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre beiden Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und müssen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen. Anderenfalls wäre die Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer werden darauf achten.
Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen, müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl. Kontrollieren Sie daher bitte, ob der Wahlausweis Ihren Namen trägt.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das geschehen? - Nein, das ist noch nicht geschehen. Es fehlen noch Schriftführerinnen und Schriftführer. Ich darf noch einmal darum bitten, dass alle Schriftführerinnen und Schriftführer ihr Amt wahrnehmen.
- Am Ausgabetisch fehlt noch ein Schriftführer aus der Koalition. Ich darf die Parlamentarischen Geschäftsführer um Hilfestellung bitten. - Kollege Paul Lehrieder übernimmt das. Ich bedanke mich sehr herzlich.
Jetzt sind alle Plätze besetzt. Ich eröffne nun die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses - jetzt frage ich vorsichtshalber auch die von mir heute schon humorvoll erwähnten Schriftführerinnen und Schriftführer - ihre Stimmkarten abgegeben? - Das ist der Fall.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später bekannt gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. - Bitte schön, Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau der Energieversorgung, den wir uns vorgenommen und wozu wir im letzten Jahr große politische Pakete beschlossen haben, ist bekanntlich kein Sprint, sondern ein Marathonlauf.
Mancher hat vielleicht gedacht, mit dem Verabschieden der Gesetze sei schon alles getan. Das Gegenteil ist aber der Fall. Es geht jetzt erst richtig los, und die Mühen der Ebene kommen jetzt auf uns zu.
Aus meiner Sicht gibt es bei diesem Thema drei große Herausforderungen:
Die erste ist, die notwendigen Erzeugungskapazitäten zur Verfügung zu stellen, und zwar sowohl Kapazitäten aus erneuerbaren Energieträgern als auch Back-up-Kapazitäten aus klassischen, konventionellen Kraftwerken. Das soll heute nicht unser Thema sein.
Die zweite Herausforderung ist die Speicherung, da die erneuerbaren Energien ja bekanntlich fluktuierend sind, weil die Sonne auch bei fortschreitendem Klimawandel nachts nicht scheinen wird und der Wind auch nicht immer bläst.
Die dritte ganz zentrale Herausforderung sind die Netze. Die Netze bilden das Nervensystem des Umbaus der Energieversorgung. Diese Netze sind intelligent zu gestalten, das heißt, die Fluktuation muss zukünftig im Rahmen der Netze berücksichtigt werden können. Vor allem müssen wir die Netze nachfrageorientiert steuern können, damit die Energieverbraucher intelligent mit dem erzeugten Strom beliefert werden können. Das klassische Thema ist selbstverständlich der Transport, der dort ansteht. Last, but not least leisten die Netze auch einen entscheidenden Beitrag zur Vollendung des Binnenmarktes im Energiebereich; denn solange wir, ökonomisch ausgedrückt, die Elastizität der Nachfragekurve nicht erhöhen, wir die Nachfrage also nicht flexibler machen und Wettbewerb nur auf der Angebotsseite besteht, wird der Wettbewerb nicht so funktionieren, wie wir alle uns das gemeinsam wünschen.
Der Netzentwicklungsplan, der jetzt vorgestellt wird, ist quasi die Generalanleitung für den Umbau der Netze, so wie wir ihn uns vorstellen.
Es ist nicht so, dass bisher nichts passiert ist. Mit Stand von heute wurden immerhin 214 Kilometer der wichtigsten Vorhaben umgesetzt. Das bedeutet erfreulicherweise eine gewisse Beschleunigung gegenüber dem, was wir noch im letzten Jahr zum Teil befürchtet haben. Die Lage ist aber komplex. Es gibt nämlich verschiedene Planungsebenen.
Die klassische Planung obliegt den Ländern. Wir haben schon vor Jahren die Herausforderungen gesehen. In der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem Energieleitungsausbaugesetz festgelegt, dass die Verfahren im Hinblick auf 24 prioritäre Maßnahmen beschleunigt werden. Im letzten Jahr haben wir mit dem NABEG die Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung der jetzt neuen Projekte geschaffen.
Der Netzentwicklungsplan ist also nicht nur die Anleitung, sondern er soll vor allem auch Transparenz bei dem schaffen, was dort vorgesehen ist, sodass die Bürger das auch nachvollziehen können. Es soll Transparenz geschaffen werden, um dann hoffentlich auch bezüglich der Planungen Akzeptanz zu erreichen, die zwingend notwendig ist, weil wir bekanntlich Schwierigkeiten haben, diese Planungen so schnell umzusetzen, wie es nötig ist.
Wir brauchen Transparenz aber auch bezüglich der Kosten, weil das, was wir dort unternehmen, keine billige Veranstaltung werden wird. Ich möchte die Herausforderungen nur einmal von der Größenordnung her skizzieren, um zu verdeutlichen, worüber wir reden und was wir vor uns haben:
Nach dem Netzentwicklungsplan brauchen wir allein für das Übertragungsnetz einen Neubau in einer Größenordnung von rund 3 800 Kilometern. 4 000 Kilometer müssen modernisiert werden. Das verursacht Kosten von 20 Milliarden Euro.
Das Verteilnetz, das den Strom in der Fläche verteilen soll, muss um 195 000 Kilometer erweitert werden. Das verursacht Kosten in einer Größenordnung von 27 Milliarden Euro.
Die Einführung sogenannter Smart Meterings, womit die Netze intelligent gemacht werden sollen, verursacht 5 Milliarden Euro.
Ein anderes Projekt ist die bis 2020 geplante Offshoreanbindung. Wenn wir hier eine Leistung von 13 Gigawatt realisieren wollen, brauchen wir dafür mindestens noch einmal 13 Milliarden Euro. Zur Erzeugung einer Leistung von 1 Gigawatt benötigen wir etwa 1 Milliarde Euro.
Zum Bau der Interkonnektoren nach Norwegen fällt demnächst die Entscheidung. Wir hoffen, dass wir den Zuschlag für den Bau des ersten Interkonnektors bekommen, also nicht die Briten, sondern wir Deutsche.
Insgesamt reden wir also über eine Größenordnung von mindestens 70 Milliarden Euro, die bis 2020 allein in den Netzausbau zu investieren sind. Das ist eine gigantische Herausforderung. Dafür brauchen wir alle. Dafür brauchen wir auch die Länder, die sich zwar bisher verbal vor Begeisterung überschlagen haben. Aber sie müssen parteiübergreifend auch in dem Sinne Gas geben, dass sie bei der Planung vor Ort Ressourcen, und zwar Personal und Geld, zur Verfügung stellen. Sie müssen vor allem auch mithelfen, dass das NABEG so ausgefüllt wird, dass es tatsächlich zu einer Planungsbeschleunigung kommt, sodass die Projekte, die ich gerade genannt habe, auch umgesetzt werden können.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Pfeiffer, Sie wissen, was das rote Licht vor Ihnen bedeutet?
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Diese Aufgabe ist noch ambitionierter als all die Aufgaben, die ich versucht habe in fünf Minuten darzustellen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Es waren fast sechs Minuten.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Das war fast nicht möglich. Aber es wird morgen bei einer ähnlichen Debatte die Gelegenheit zur Fortsetzung bestehen.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Pfeiffer. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte schön, Herr Kollege Garrelt Duin.
Garrelt Duin (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir von dem Titel dieser Aktuellen Stunde erfahren haben,
waren wir schon ein bisschen erstaunt - das ist wohl wahr -,
besonders aber nach der ersten Rede in dieser Aktuellen Stunde, die von Ihnen beantragt worden ist.
Den ersten Schritt zur Netzentwicklung haben wir gemeinsam getan. Die hier anwesenden Minister werden gleich an der Ministerpräsidentenkonferenz teilnehmen, die zwar ein ganz wichtiger Termin - heute ist diesbezüglich ein ganz wichtiger Tag - für unser Vorhaben ist. Aber das Wort „Meilenstein der Energiewende“
ist einfach eine Nummer zu groß für das, was Sie in den letzten 13 Monaten für Deutschland getan haben. Das passt überhaupt nicht zusammen.
Lieber Herr Minister Rösler, ich habe heute Ihr Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen. Ich zitiere daraus drei kurze Sätze: Erster Satz: Wir brauchen „Markt, Wettbewerb und Transparenz“. Zweiter Satz:
Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen ... festzulegen ...
Dritter Satz:
Das ist ein Ausgangspunkt mehrerer Optionen. Wir stehen erst am Anfang unserer Überlegungen.
Das ist vollkommen nichtssagend. Wir befinden uns seit einem Jahr in diesen Diskussionen. Wir könnten schon viel weiter sein, wenn Sie nicht diese doppelte Ausstiegsnummer hingelegt hätten. Das, was Sie heute, im Juni 2012, zu diesem Thema zu sagen haben, ist verdammt dünn und zu wenig, um der Herausforderung in diesem Bereich gerecht zu werden.
Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte nennen, von denen ich überzeugt bin, dass wir sie gemeinsam mit den Ländern über eine möglichst breite Mehrheit hier im Hause hinbekommen müssen.
Das Erste ist in der Tat die Verabschiedung eines Bundesbedarfsplangesetzes im Jahre 2012 auf der Grundlage der vorliegenden Szenarien.
Das Zweite, das wir miteinander klären müssen, ist, dass wir ein ganz intensives Monitoring des Netzausbaus brauchen, aber nicht nur bezogen auf die Übertragungsnetze, sondern auch unter Einbeziehung der Verteilnetze. Hierüber wird oft sehr einfach diskutiert. Wir müssen eine Anpassung der Anreizregulierungsverordnung vornehmen, um gerade auch im Bereich der Verteilnetze - Stichwort „Smart Grids“ - voranzukommen.
Wenn das in Ihren Überlegungen nicht enthalten ist, springen Sie zu kurz.
Das Dritte ist die Deckung des Kapitalbedarfs zur Finanzierung des Netzausbaus. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. In einer Fragestunde habe ich den Parlamentarischen Staatssekretär Otto gefragt, wie er denn zum Thema „deutsche Netz AG“ stehe. Darauf hat er, wie ich finde, sehr vernünftig geantwortet, auch das könne man nicht ausschließen.
Es geht in dieser Zeit aber nicht mehr darum, was man nicht ausschließen kann, sondern es geht darum, dass man klare Bekenntnisse abgibt. Die aktuellen Probleme sind doch offensichtlich. Deswegen brauchen wir parteiübergreifend das klare Bekenntnis und auch das Signal an die Marktteilnehmer: Wir wollen eine deutsche Netz AG. Wir beteiligen uns daran. Wir gehen mit in diese Verantwortung. Aber wir wollen nicht nur Geld geben, sondern wir wollen auch etwas zu sagen haben. - Das ist der entscheidende Punkt, über den wir uns noch verständigen müssen.
Ein reiner Renditewettlauf nach dem Motto „Wer kann das meiste Geld mit welchem Netz verdienen?“ wird nicht zum Ziel führen. Der Markt allein, wie Sie es heute noch einmal zum Ausdruck gebracht haben, wird es nicht bringen.
Im Übrigen brauchen wir zwingend eine Intensivierung der Aktivitäten zur Erforschung und Entwicklung innovativer Netztechnologien. Denn es geht auch im Sinne der Akzeptanz, um die wir gemeinsam in ganz Deutschland an den verschiedenen Orten ringen, darum, nicht einfach nur zu übernehmen, was dort an Vorschlägen vorliegt, sondern durch kluge Politik dafür zu sorgen, eine Überdimensionierung des Ausbaus zu vermeiden. Es muss nicht jeder Kilometer, der bisher zur Diskussion steht, am Ende gebaut werden, wenn man bei der Speichertechnologie und bei intelligenten Netzstrukturen vorankommt und sehr viel stärker auf Dezentralität setzt, als es in vielen Überlegungen zurzeit der Fall ist.
Lassen Sie mich - weil Sie gleich zur Ministerpräsidentenkonferenz fahren - abschließend sagen: Wir alle im Bundestag sind mit unseren Parteien mehr oder weniger stark in den Landesregierungen vertreten. Wir haben dort alle miteinander Verantwortung. Aber aus diesem Hause muss als Rückendeckung an Sie das Signal ausgehen, dass wir uns auch in dem Sinne dessen, was unser Kommissar in Brüssel, Herr Oettinger, sagt, nicht 16 völlig verschiedene Pläne für den Ausbau der Netze leisten können. Das muss gebündelt werden.
Die Skepsis in den Ländern ist dadurch verursacht, dass die beiden Häuser, deren Vertreter hier sitzen - Herrn Altmaier will ich dafür noch nicht in Verantwortung nehmen -, diese Bündelungsfunktion und das stringente Vorgehen bisher nicht dargestellt haben. Es ist viel Zeit ins Land gegangen, ohne die notwendigen Erfolge zu erzielen.
Nehmen Sie deswegen auch aus dieser Aktuellen Stunde die Botschaft mit: Wir brauchen ein einheitliches Vorgehen über die Grenzen hinweg, vor allen Dingen über die 16 Ländergrenzen hinweg. Sonst werden wir uns hier wiedertreffen, ohne die Ziele beim Netzausbau erreicht zu haben, die für den Industriestandort, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland dringend notwendig sind.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Garrelt Duin. - Nächster Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister Philipp Rösler. Bitte schön, Herr Bundesminister Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Vor einem Jahr haben wir hier gemeinsam die Gesetze zur Umsetzung der Energiewende in Deutschland verabschiedet. Wir wollen den Ausstieg aus der Kernenergie. Wir wollen als Ersatz einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber wir unterscheiden uns,
die Opposition auf der einen Seite und die Regierungskoalition auf der anderen Seite.
Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien, koste es, was es wolle. Ihnen ist es vollkommen egal, wer am Ende die Zeche zu zahlen hat.
Sie denken nicht eine Sekunde an die 80 Millionen Menschen, die 40 Millionen Haushalte und die 4 Millionen kleine und mittelständische Unternehmen, die all das bezahlen müssen. Wir denken auch an die Bezahlbarkeit von Energie in Deutschland.
Es geht nicht nur um die umweltfreundliche Produktion durch erneuerbare Energien, sondern auch um Versorgungssicherheit. Es geht um das Thema Netzstabilität. Deswegen brauchen wir große, neue Netzstrukturen in unserem Land.
Wir haben das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das Energiewirtschaftsgesetz und auch die Anreizregulierungsverordnung auf den Weg gebracht. Wir haben für Investitionssicherheit gesorgt, die wirtschaftliche Effizienz auch beim Ausbau der Netze weiter gesteigert und Planungen beschleunigt.
Entgegen Ihrer Unterstellung ist der Bund in Bezug auf den Netzausbau in Deutschland absolut im Zeitplan. Ende Mai haben wir den Netzentwicklungsplan vorgelegt bekommen.
Alle beteiligten Akteure - der Bund, die Übertragungsnetzbetreiber, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und die Bundesländer - haben innerhalb von zwölf Monaten aus dem Nichts heraus einen völlig neuen Plan auf den Weg gebracht: 3 700 Kilometer Fernübertragungstrassen in Deutschland.
Jetzt kennen wir den Bedarf, um den Strom aus dem Norden in den Süden zu transportieren. Jetzt haben die Menschen einen sichtbaren und greifbaren Erfolg in den Händen, der beweist: Wir sind beim Umsetzen der Energiewende in Deutschland absolut im Zeitplan.
Die Menschen brauchen auch Ehrlichkeit, Frau Höhn.
Denn angesichts einer Gesamtstrecke von 3 700 Kilometern müssen wir mit den Menschen vor Ort intensiv sprechen, wenn es darum geht, die Trassen durch die Regionen zu führen.
Wir brauchen daher Ehrlichkeit. Die legen Sie schon längst nicht mehr an den Tag. Sie verleugnen die Notwendigkeit neuer Netze. Überall da, wo es konkret wird, stellen Sie sich auf die Seite der Demonstranten, die gegen neue Netze protestieren. Das ist doch die Wahrheit. Das ist unehrlich und unseriös.
Wir brauchen nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch die Zwillingsschwester der Ehrlichkeit, die Transparenz, gerade wenn es um die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger geht. Schon sehr frühzeitig, im ersten Entwicklungsstadium, sind die Menschen eingeladen, wenn es darum geht, gemeinsam über die konkreten Trassenführungen zu diskutieren. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn die Trassen feststehen, wenn die Entscheidungen gefallen sind, dann müssen wir auch alles dafür tun, dass die Entscheidungen umgesetzt werden können. Wir können uns nicht mehr leisten, dass Klagewelle auf Klagewelle gegen Netzentscheidungen läuft.
Deswegen fordere ich hier genauso wie bei anderen Infrastrukturgroßprojekten: Es reicht eine gerichtliche Instanz aus, um neue Netze in Deutschland auf den Weg zu bringen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, beim Netzausbau künftig nur noch das Bundesverwaltungsgericht als Entscheidungsinstanz gelten zu lassen.
Dass das funktionieren kann, haben die Großprojekte im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung gezeigt. Das zeigt auch das Energieleitungsausbaugesetz; Sie haben es eben selber angesprochen.
- Es stimmt, es geht nicht voran. 1 800 Kilometer neue Leitungen sind geplant gewesen. Nur 200 Kilometer Leitungen sind bislang gebaut worden. Aber vergessen wir einmal nicht die Verantwortlichkeit!
- Fachlich liegen Sie total daneben, Herr Kollege. - Die Zuständigkeit für das EnLAG liegt ausschließlich und alleine bei den Bundesländern.
Überall da, wo Trassen über Ländergrenzen hinweg geführt werden sollen, geraten diese Projekte ins Stocken. Ich sage Ihnen: Wir müssen mit der Kleinstaaterei Schluss machen. Keine 16 eigenständigen Energiekonzepte!
Wir können es nur gemeinsam schaffen - Bund, Länder und Kommunen -, und zwar nur unter Einbeziehung der europäischen Ebene. Wir brauchen Grenzkuppelstellen an der Grenze zu Frankreich genauso wie an der Grenze zu Polen. Deswegen muss man die Energiewende auch europäisch denken, übrigens nicht nur, wenn es um den konkreten Netzausbau, sondern auch, wenn es um die Regulierung geht.
- Herr Duin, ich verstehe Ihren Einwurf so, dass Sie fest an unserer Seite stehen, wenn es darum geht, erneut über Umweltschutzvorgaben nachzudenken.
Wir müssen darüber reden, wie wir Planung und Bau beschleunigen können, genauso wie damals bei der Realisierung von Autobahnen im Zuge der deutschen Einheit. Viele Maßnahmen konnten wir damals umsetzen, weil Regeln zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden. Dies brauchen wir heute wieder. Die Zuständigkeit liegt nicht mehr alleine auf Bundesebene, sondern auch auf europäischer Ebene. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der Europäischen Kommission darüber reden, wie es ermöglicht werden kann, Umweltstandards für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft zu setzen, damit Netzplanung und Netzausbau schneller vorangetrieben werden können. Wir brauchen nämlich beides: Naturschutz und neue Netze, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
- Ganz konkret können Sie sich künftig den Netzentwicklungsplan ansehen, Herr Kollege.
Entsprechend den Vorgaben des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben, werden wir weiter vorangehen. Jetzt liegt der Plan vor. Wir werden gemeinsam auf seiner Grundlage ein Bundesbedarfsplangesetz und eine Verordnung entwickeln, um künftig erstmalig bundesweit Netze planen und bauen lassen zu können. Wir werden mit den Menschen vor Ort sprechen. Wir werden auch mit unseren europäischen Partnern reden, um Planungserleichterungen auf europäischer Ebene um- und durchzusetzen. Anders wird die Energiewende nicht zu machen sein.
Aber der Netzentwicklungsplan, den Sie jetzt in Händen halten, ist in der Tat - ob es Ihnen nun gefällt oder nicht - ein Meilenstein, wenn es darum geht, die Energiewende gleichermaßen für die Menschen und die Unternehmen in Deutschland umzusetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Johanna Voß. Bitte schön, Frau Kollegin Johanna Voß.
Johanna Voß (DIE LINKE):
Danke schön. - Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dieser Rede fange ich erst einmal damit an, zu sagen, was diesem Netzentwicklungsplan ganz entscheidend fehlt: Er steht unter ganz falschen Vorgaben. Das, sehr geehrter Herr Rösler, ist sehr transparent.
Bei der zugrunde liegenden Marktsimulation gab es ein Ziel, nämlich die Minimierung der Erzeugungskosten. Der Fokus dieses Plans liegt also auf dem rein betriebswirtschaftlichen Aspekt. Man will folglich nicht das bestmögliche Netz bauen, sondern das kostengünstigste. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Selbst die Netzbetreiber sagen: Dieser Plan bildet nicht das einzig mögliche Netz ab; er bildet vielmehr das Netz ab, das unter diesen gesetzten Prämissen nötig ist. - Natürlich müssen die Kosten betrachtet werden; sie dürfen jedoch nicht das einzige Kriterium für alle Planungen sein.
Außerdem steht nirgends im Netzentwicklungsplan, was denn nun „kostengünstig“ ist. Das Wirtschaftlichkeitskriterium wird im ganzen Netzentwicklungsplan nirgends definiert, obwohl es Grundlage aller Berechnungen ist. Damit sind die Berechnungen nicht nachvollziehbar. Wir stellen fest: Unter dieser Prämisse bleibt die Sinnhaftigkeit auf der Strecke.
Reden wir über ein weiteres Problem: Es fehlt eine Koordination von Stromerzeugung und Stromverbrauch. Die Strombörse versagt hier. Die Koordination ist aber ein zentraler Faktor für den Stromnetzausbau. Dieses Problem kann der Netzentwicklungsplan allein auch nicht lösen. So treibt dann die Planlosigkeit den Stromnetzausbaubedarf in schwindelerregende Höhen. Weitere Treiber des Ausbaubedarfs im Plan ist, dass das Anfahren und Abregeln von Kraftwerken durch die Netzbetreiber, der sogenannte Redispatch, und das Einspeise- und Lastmanagement, nicht einbezogen werden. Diese Maßnahmen können aber einen ganz entscheidenden Einfluss auf das Einsparen von Stromtrassen haben. Dieses Einsparpotenzial gilt es zu nutzen.
Kommen wir damit zum Kernpunkt. Der Netzausbaubedarf hängt davon ab, wo welche erneuerbaren Energien geplant werden und welche Strategie der Erzeugung und des Verbrauchs von Energie überhaupt gefördert werden soll. Ein sinnvoller Bundesfachplan „Stromnetze“ muss daher konsequent vom Endpunkt her, von 100 Prozent Versorgung mit erneuerbaren Energien, gedacht und geplant werden. Der Auf- und Ausbau zukünftiger Stromspeicher muss berücksichtigt und einbezogen werden. Das alles leistet dieser Netzentwicklungsplan nicht.
Ein weiterer Punkt: Die Großverbraucher - Alu-, Stahl-, Auto- und Chemieindustrie - müssen ihren Beitrag zur Netzstabilität leisten. Dazu braucht es gezielt Anreize für mehr Energieeffizienz.
Die wichtigste Forderung bleibt aber: Stromnetze zurück in die öffentliche Hand. Nur so überlässt man den Bau der großen Stromautobahnen und der kommunalen Verteilnetze nicht der Willkür und den alleinigen Interessen privater Unternehmen. Das hätte schon längst erkannt werden müssen. Eine öffentliche Netzgesellschaft, wie auch Garrelt Duin sie gefordert hat, kann leisten, was die vier Netzbetreiber auch bei noch höheren Renditen nicht leisten können. Strom gehört zu unserer Grundversorgung, und der Zugang dazu muss demokratisch organisiert sein.
Eine öffentliche Netzgesellschaft mit Vertreterinnen und Vertretern von Umweltverbänden, Gewerkschaften und weiteren relevanten Gruppen kann das leisten. Nur wenn die Netze wirklich wieder in öffentlicher Hand und demokratisch organisiert sind, muss nicht mehr lange über die Offenlegung von Daten gestritten werden. Dann werden die Netze wirklich nur dort gebaut, wo sie volkswirtschaftlich und ökologisch nötig sind. Dann wird eine sinnvolle Gesamtplanung zur Integration der erneuerbaren Energien möglich. Die fehlende Koordination des Ausbaus erneuerbarer Energien führt sonst unwiderruflich zu unwirtschaftlichen Netzstrukturen. Selbst die Netzbetreiber bemängeln immer wieder, dass ein Masterplan für den Ausbau der erneuerbaren Energien fehlt. Das sind also noch nicht einmal linke Spinnereien.
Es geht hier also um eine wichtige politische Weichenstellung. Die Frage ist: Für welche Art der Stromerzeugung sollen die Netze geplant werden? Der Aufschwung dezentraler, erneuerbarer Stromerzeugung muss fortgesetzt werden. Orientiert sich die Politik aber weiter an den alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren Interessen privater Konzerne, fördert sie vor allem zentrale Offshoreparks und andere fossile Großprojekte, so wird die Energiewende verhindert. Eine Versorgung mit Strom aus zu 100 Prozent erneuerbaren Energien rückt dann in weite Ferne. Genau diese Entscheidungen stehen an.
Der Netzentwicklungsplan krankt an falschen und fehlenden Voraussetzungen. Solange kein Masterplan vorliegt, solange Wirtschaftlichkeit oberstes, vages Kriterium bleibt, solange Redispatch, Last- und Einspeisemanagement nicht berücksichtigt werden, so lange werden wir Netze bekommen und bezahlen, die wir eigentlich nicht brauchen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen haben allen Grund, weiter zu kämpfen. Die Linke wird dabei an ihrer Seite stehen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Voß. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver Krischer. Bitte schön, Kollege Oliver Krischer.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wirtschaftsminister Rösler, ich habe von Ihnen jetzt neun Minuten lang Phrasen und Plattitüden zum Thema Energiepolitik gehört. Sie sind sich nicht zu billig, hier noch die Plattitüde zu verbreiten, die Opposition würde im Land herumlaufen und den Netzausbau verhindern.
Wenn ich vor Ort in Sachen Konfliktfälle unterwegs bin, stoße ich auf schwarze Bürgermeister und Ihre gelben Parteikollegen, die sich in Populismus ergehen und Netzausbau verhindern.
Das ist die Realität.
Ich will hier mit einem Gerücht aufräumen. Es entsteht immer der Eindruck, als ob Bürgerinitiativen und Bürgerengagement den Netzausbau in Deutschland verhindern würden. - Ja, es gibt Diskussionen, es gibt Kritik, es gibt auch Auseinandersetzungen. Doch die wahren Probleme beim Netzausbau liegen darin, dass es Intransparenz und fehlende Steuerung gibt. Weiterhin ist das alles bisher als „Geheime Kommandosache“ der Übertragungsnetzbetreiber gelaufen. Dagegen hätten Sie schon lange etwas tun können. Da waren Sie in der Verantwortung. Beim EnLAG hätten Sie etwas tun können. Da ist von Ihnen nichts gekommen.
Sie haben es eben selbst gesagt: Sie haben diesen Netzentwicklungsplan aus dem Nichts gemacht. Das zeigt doch, dass Sie drei Jahre lang hier überhaupt nichts zustande gebracht haben.
Dann sage ich Ihnen: Sie verbreiten Horrorzahlen im Zusammenhang mit dem Netzausbau und argumentieren dann, deshalb sei die Energiewende nicht finanzierbar. Das ist Ihre Botschaft, die Sie als Minister streuen.
Dazu sage ich Ihnen: Netzausbau müsste in Deutschland auch ohne Energiewende stattfinden. Bis in die 70er-Jahre hinein sind große Investitionen getätigt worden. Aber danach ist in Übertragungsnetze im Wesentlichen nicht mehr investiert worden. In Deutschland stehen Masten, die noch aus Kaisers Zeiten stammen und die irgendwann einmal erneuert werden müssen, Energiewende hin oder her. Ich glaube, so manche Horrorzahl, die verbreitet worden ist, würde sich relativieren, wenn man betrachten würde, was auch ohne Energiewende investiert werden müsste.
Aber es ist völlig richtig: Wir brauchen den Ausbau und die Optimierung der Netze im Rahmen der Energiewende. Denn wir müssen natürlich von der zentralen zur dezentralen Erzeugung kommen. Dabei ist das Verteilnetz ein ganz entscheidender Punkt. Herr Rösler, auch dazu habe ich von Ihnen keine einzige Silbe gehört. Das einzige, was Sie im Kopf haben, sind große Übertragungsnetze, die zwar ein wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil sind. Die Verteilnetze haben Sie überhaupt nicht auf dem Schirm.
Dann haben Sie uns jetzt einen Plan vorgelegt, den Sie „Meilenstein“ nennen. Das ist aber bestenfalls ein erster Schritt, den Sie ein Jahr, nachdem Sie das Gesetz verabschiedet haben, gehen. Ich finde: schnell ist anders. Auch finde ich es hochinteressant, welche verschiedenen Szenarien mit den entsprechenden Berechnungen und welchen Erzeugungsmix Sie beim Ausbau der erneuerbaren Energien zugrunde gelegt haben. Aber interessanterweise berücksichtigen Sie zum Beispiel Ihre eigenen Effizienzziele und Einsparungen nicht. Das kommt in Ihrem Plan nicht vor.
Auch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fehlt, den Sie immer propagieren und über den Sie in der letzten Sitzungswoche erzählt haben, dass Sie dazu jetzt ein ganz tolles Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz gemacht haben.
Es fehlen die Aspekte Speichertechnologie und Lastmanagement. All das taucht in diesem Netzentwicklungsplan überhaupt nicht auf. Das kann in der Konsequenz doch nur bedeuten: Entweder glaubt Ihre eigene Bundesnetzagentur nicht daran, dass Sie die Ziele umsetzen, oder Sie verfolgen sie überhaupt nicht. Das ist doch eine Bankrotterklärung sondergleichen.
Dann zum Thema Öffentlichkeitsbeteiligung: Wir alle wissen und es ist völlig klar, dass man den Netzausbau in Deutschland auf allen Verteilungsebenen nur mit den Menschen machen kann, indem man mit ihnen redet. Sie haben nun den Plan vorgelegt. Danach sagen Sie per Pressekonferenz aus Bonn: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr habt jetzt sechs Wochen Zeit, eine Stellungnahme zu einem Konvolut von 300 Seiten abzugeben. - Das ist keine Bürgerbeteiligung, das ist ein Witz. Das sage ich Ihnen ganz klar.
- An dieser Stelle, Herr Kollege, wäre es richtig, vor Ort, also dezentral, Veranstaltungen durchzuführen und zu kommunizieren, was Sie zu tun gedenken, und nicht von oben herab zu verkünden, was jetzt stattfinden soll. Aber das finde ich in Ihren Planungen nicht.
Es wird am Ende so sein, dass Sie das Ganze hier schnell durchpeitschen. Aber dann haben Sie tatsächlich an vielen Stellen Menschen gegen sich, dann wird es schwierig mit der Umsetzung, und dann jammern Sie wieder über die Bürgerinitiativen und wahrscheinlich über die Opposition, die das Ganze angeblich weltverschwörungsmäßig zu verhindern versucht. Das ist Ihre Politik, und die wird am Ende, glaube ich, scheitern.
Zum Schluss will ich nur eines sagen: Dieser Netzentwicklungsplan beinhaltet etwas Positives, etwas, was vor zwei Jahren noch unvorstellbar war. Da haben wir HGÜ-Trassen durch Deutschland gefordert, um den Strom schnell transportieren zu können. Damals haben uns die Netzbetreiber und die Regierung gesagt: Das geht gar nicht. Jetzt auf einmal ist das machbar. Das ist ein Erfolg, und das ist vor allen Dingen ein Tiefschlag für die Verantwortlichen der dena-Netzstudie II, mit der Sie uns hier im Zusammenhang mit dem Netzausbau immer wieder traktiert haben. Dies zeigt, dass das, worauf Sie sich bisher berufen haben, nicht das Papier wert ist, auf dem es steht. Wenn wir den Netzausbau voranbringen wollen, dann werden wir hier klare Prioritäten setzen und uns vor allen Dingen für HGÜ-Trassen entscheiden müssen. Sie haben diese Trassen bisher immer bekämpft, während wir sie mit vorangebracht haben. Mit der Politik, die Sie hier begonnen haben, wird es, fürchte ich, im Endeffekt nichts werden.
Danke schön.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Krischer. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Man muss sich schon einmal die Frage stellen, wem es hier eigentlich um die Sache und wem es um die Frage der parteipolitischen Profilierung geht.
Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, ein so wichtiges Thema wie dieses, bei dem es wirklich um den Flaschenhals unserer Energiewende geht - bisher habe ich gemeint, wir alle miteinander wollen sie -, einen derart scheinheiligen Parteienstreit vom Zaun zu brechen und so zu tun, als ob man dem politischen Gegner Zeitverzug und Ähnliches vorhalten könnte, und das auch noch, Kollege Krischer, in einer so offenkundig platten Art.
Ich kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Sie sind zu spät; das geht zu langsam“, und mich auf der anderen Seite hinstellen und sagen: „Ja, wir wissen schon; Sie wollen es am Ende durchpeitschen.“ - Was wollen wir denn jetzt? Es wäre schön, wenn Sie einmal sagen würden, was Sie sich an dieser Stelle vorstellen. Ich glaube, wir sind an dieser Stelle auf einem sehr guten, sehr soliden Weg. Wir haben einen Netzentwicklungsplan. Dem ging keine staatliche Planwirtschaft voraus, kein Oktroi von oben; vielmehr wurde miteinander etwas entwickelt. Es wurden drei Szenarien aufgezeigt; man hat verschiedene Ausbaualternativen skizziert. Auf dieser Basis ist man im Rahmen einer Konsultation mit der Bundesnetzagentur zu dem Punkt gekommen, dass man gesagt hat: So wollen wir das Ganze ausbauen.
Ich habe nicht vernommen, dass uns das im Raum stehende Maximum an Investitionskosten, 27 Milliarden Euro, irgendwie verleiten könnte, zu sagen „Das wird zu teuer“ oder: „Das geht nicht.“ Es handelt sich um eine Planung; da sind Schlussfolgerungen unangemessen. Das, was der Kollege Krischer vorhin abgeleitet hat, ist ganz seltsam. Er sagte, der Bundeswirtschaftsminister sei aufgrund der Kosten dagegen, die Energiewende fortzuführen. Das ist eine unglaubliche Unterstellung, und er wird der Sache so nicht gerecht.
Man wird in diesem Rahmen deutlich die Notwendigkeiten ausloten und feststellen müssen, wie viel Geld man braucht. Ja, in der Tat gibt es Maßnahmen, um die Strecken, die jetzt in Planung sind, zu reduzieren, um dafür Sorge zu tragen, dass das Ganze kostengünstiger wird. Warum denn auch nicht? Herr Kollege Duin, wir werden die Frage klären: Wer wird das am Schluss machen? Ich als Ökonom sage Ihnen ganz offen: Ich halte sehr viel davon, die deutschen Übertragungsnetze in einer unabhängigen Netzgesellschaft zusammenzuführen. So steht es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag.
Ich halte sehr viel davon, zumindest die neuen Netze, mit denen wir in der Tat Probleme bekommen könnten, im Rahmen einer solchen Gesellschaft aufzubauen. Es spricht gar nichts dagegen, in diesem Rahmen beispielsweise die HGÜs auszubauen und die Frage zu klären, wer was macht.
Nun sind da aber mehr Akteure als nur die Netzbetreiber betroffen. Ich habe die Bundesnetzagentur schon angesprochen und möchte betonen, dass wir auch da, Herr Wirtschaftsminister, noch einmal über die Frage der investitionsorientierten Regulierung diskutieren müssen. Die Bundesnetzagentur braucht natürlich noch eine klarere Definition von unserer Seite, was wir damit meinen. Das heißt, dass wir andere Voraussetzungen insbesondere für den Ausbau der Verteilnetze schaffen müssen, sodass dieser letztendlich auch geschieht.
Ich möchte abschließend noch einmal ganz klar an die Politik appellieren. Der Appell an die Bundesländer, den ich hier gehört habe, war richtig. Man kann hier aber nicht einseitig nach Farben aufteilen, sondern
- da gebe ich Ihnen recht - da sitzen alle in einem Boot.
Alle müssen sich überlegen, wie sie mit dieser Frage umgehen und wie sie die Energiewende beschleunigen können.
Da gehören natürlich die rot-grün regierten Länder genauso dazu.
Ich bitte Sie noch einmal ganz deutlich: Hören Sie auf, Zeithorizonte auszumalen, von denen Sie genau wissen, dass sie nicht realistisch sind. Man kann hier doch nicht auf der einen Seite sagen, alles müsse noch schneller gehen, es gehe nicht schnell genug, und auf der anderen Seite noch mehr Bürgerbeteiligung und weiß Gott noch was fordern.
Sie müssten vielmehr über Ihren Schatten springen und sagen, was Sie tun wollen, um die Verfahren zu beschleunigen. Ich glaube nicht, dass das mit mehr Instanzen und noch mehr Bürgerbeteiligung, als in Deutschland ohnehin schon institutionalisiert ist, geht, sondern ich bin der Überzeugung, dass dieselben Maßstäbe gelten müssen, die damals bei dem Infrastrukturausbau im Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu Recht galten.
Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum diese nicht auch die Maßstäbe bei diesem für diese Republik wirtschaftspolitisch so wichtigen Projekt sein sollten. Ich bitte da um ein bisschen Unterstützung und Großmut vonseiten der Opposition.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. - Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf Hempelmann.
Rolf Hempelmann (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende“ - das klingt so, als müsste jemand sich selbst loben, weil er von niemand anderem mehr gelobt wird. Dafür, muss ich ganz ehrlich sagen, habe ich eine Menge Verständnis.
Wir hatten in dieser Woche den EU-Kommissar Oettinger - übrigens immer noch eingeschriebenes Mitglied der CDU - im Wirtschaftsausschuss zu Gast. Sein Zeugnis über das, was Sie Energiewende nennen, klang doch ein bisschen anders als das, was aus dem Titel dieser heutigen Veranstaltung herausklingt.
Er sprach sehr deutlich von einer komplett fehlenden Koordination der Energiepolitik sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch zwischen Bund und Ländern. Er beklagte ganz ausdrücklich das energiepolitische Chaos von 16 Bundesländern, das eben nicht bundespolitisch koordiniert wird. Er beklagte den deutschen Alleingang in Europa und die Verstimmung, die Sie bei den europäischen Nachbarn ausgelöst haben. Er beklagte das ambitionslose Vorgehen der Koalition und dieser Bundesregierung beim Thema Energieeffizienz und Energieeinsparung; das sind mit Sicherheit gerade im Rahmen einer Energiewende zentrale Herausforderungen. Außerdem beklagte er die fehlende Abstimmung Ihrer Einzelmaßnahmen, das fehlende Gesamtkonzept.
Wenn Sie heute einen Netzentwicklungsplan vorstellen, dann ist das im Grundsatz ein richtiger Schritt. Aber wir - und nicht nur wir, sondern offenbar auch der Energiekommissar in Brüssel - erkennen nicht, dass dieser Netzentwicklungsplan in ein Gesamtkonzept eingebettet ist. Sie haben ja auch keines. Wie sollte er dann darin eingebettet sein?
In einem Gesamtkonzept würde sehr deutlich werden, wie viel Netzausbau wir brauchen, wie viel wir auf der Verteilnetzebene und auf der Übertragungsnetzebene machen können, was wir mit dem intelligenten Ausbau der Netze erreichen können und was wir erreichen können, indem wir bei dem Speicherausbau oder auch bei dem Lastmanagement vorankommen, also bei dem Abrufen von Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, sowohl privat als auch in der Industrie.
In einem solchen abgestimmten Gesamtkonzept hat dann ein Netzentwicklungsplan einen Platz. Sie liefern einen isolierten, von diesen Fragen völlig losgelösten Plan, der wahrscheinlich schon deswegen zukünftig immer wieder einer Überarbeitung bedarf.
Die beiden Herren haben offenbar privaten Diskursbedarf.
Das muss ja nicht schlecht sein; das kann uns vielleicht auch weiterhelfen.
Sie haben gesagt, dass Sie das alles so wunderbar mit den Ländern abgestimmt haben. Dazu muss man heute nur einmal in die Zeitungen schauen. Da stellt man fest, dass Herr Rösler beispielsweise Vorgaben für den Natur- und Vogelschutz außer Kraft setzen will, an die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie heranwill. Gleichzeitig äußert sich der energiepolitische Sprecher der CDU im Landtag Thüringen wie folgt:
Schutzgüter wie Fauna und Flora und das Landschaftsbild dürfen bei der Abwägung nicht permanent ins Hintertreffen geraten.
So viel zu Ihrer Abstimmung zwischen Bund und Ländern, so viel auch zur Einigkeit in der Koalition.
Sie werfen anderen vor, Projekte zu behindern. In Wirklichkeit ist es so, wie Kollege Krischer gerade schon gesagt hat, dass Sie nicht in der Lage sind, bei Ihrem Projekt Ihre eigenen Leute mitzunehmen.
Das, was wir vor uns haben, meine Damen und Herren, ist hochkomplex. Wir haben zehn Jahre verloren,
weil Sie der Fantasie einer Laufzeitverlängerung nachgehangen haben. Wir müssen jetzt alles gleichzeitig und in sehr viel kürzerer Zeit schaffen. Denken Sie daran: Der NEP, der Netzentwicklungsplan, ist ein Plan. Denken Sie daran: Es gibt im Energieleitungsausbaugesetz Trassen, die einer Vollendung bedürfen. Wenn wir uns die Realität und nicht nur Ihren Plan anschauen, dann stellen wir fest: Von den 900 Kilometern sind 200 Kilometer realisiert. Wir brauchen aber die Pilotprojekte, weil wir von denen lernen wollen, weil wir für die weiteren Trassen die Erfahrungen brauchen, zum Beispiel dazu, wie es sich mit den unterirdischen Kabellösungen auf längeren Strecken verhält und welche technologischen Vorkehrungen wir dort zu treffen haben.
Es ist einiges zu den Herausforderungen im Bereich der Regulierung und der Finanzierung der Netze gesagt worden; ich will das nicht wiederholen, sondern nur deutlich machen: Viele Fragen haben Sie heute unbeantwortet gelassen, so wie wir das von Ihnen gewöhnt sind.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Klaus Breil. Bitte schön, Kollege Klaus Breil.
Klaus Breil (FDP):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Ende Mai ist der Netzentwicklungsplan unter www.netzentwicklungsplan.de veröffentlicht.
Dieser Netzentwicklungsplan ist ein bedeutender Schritt für die Energiewende.
Herr Kollege Hempelmann, ich weiß nicht, ob Sie auch mit der Industrie reden; ich jedenfalls tue das sehr intensiv
und erfahre da sehr viel Zustimmung.
Ich möchte Sie alle noch einmal daran erinnern, dass es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt. Bis 2022 werden wir alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet haben.
Bis dahin werden wir 35 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. 2050 soll dieser Anteil bei 80 Prozent sein.
Alle diese neuen Anlagen entstehen keineswegs nur an ehemaligen Kraftwerksstandorten. Viele neue Einspeisepunkte verändern die Anforderungen an unsere Energieinfrastruktur. Das Stromnetz war ursprünglich für wenige große Stromerzeugungsanlagen konzipiert. Jetzt muss ein flexibles und leistungsfähigeres Stromnetz her, und zwar mit Hochdruck. Ich glaube und hoffe, dass Sie erkennen, dass es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt.
Im letzten Jahr haben wir den Übertragungsnetzbetreibern deshalb mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes einen Auftrag erteilt. Bereits jetzt haben die Übertragungsnetzbetreiber geliefert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplanes legen sie den für die nächsten zehn Jahre benötigten Netzausbaubedarf dar.
Vier Szenarien geben uns einen Überblick über das, was auf uns zukommt, wohin wir wollen, und wofür wir uns einsetzen. Ein funktionierendes Stromnetz ist Garant für Versorgungssicherheit und Netzstabilität sowie für das Funktionieren des Industriestandortes Deutschland.
Wie beim Kraftwerksbau oder den Kosten für Energie ist auch beim Netzausbau eines besonders wichtig: Wir dürfen die Akzeptanz nicht aus den Augen verlieren. Daher gilt bei der Arbeit am Netzentwicklungsplan: Optimierung und Verstärkung des Netzes geht vor Neubau von Leitungen. Das spart Geld und verringert die Reibungsverluste vor Ort durch Widerstände von Bürgerinnen und Bürgern. Auch damit müssen wir bei dieser Mammutaufgabe rechnen. Deshalb müssen wir die Bürger mitnehmen und sie einladen, mitzumachen.
Auf der genannten Internetseite können sich Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Verbände unter dem Titel „Neue Netze für neue Energien“ bis zum 10. Juli zu den veröffentlichten Eckpunkten der Stromnetzausbauplanung äußern. Bis gestern sind 120 Stellungnahmen eingegangen. Das ist für den Anfang ein respektabler Zwischenstand.
- Kollege Krischer, welchen Vorschlag hätten Sie zu machen? Sie bemängeln Dinge, aber Sie machen keinen Vorschlag. Sie nennen keine Zahlen. Wir haben Sie mehrfach gefragt. Sie kritisieren nur, machen aber keine konkreten Vorschläge.
Wir ermuntern die Bürgerinnen und Bürger, diese Chance noch mehr zu nutzen. Auch an dieser Stelle möchte ich das betonen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diese Idee der christlich-liberalen Regierung ist bisher einmalig in der Energiepolitik. Der Netzentwicklungsplan ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen und nachhaltigen Energieinfrastruktur.
In ähnlicher Form kennen wir das aus der Verkehrspolitik: Der erste Bundesverkehrswegeplan stammt bereits aus dem Jahr 1973.
In der Energiewirtschaft hat sich bisher noch niemand da herangetraut. Doch jetzt endlich, im Jahr 2012, zieht Schwarz-Gelb beim Stromnetzausbau nach.
Ende Oktober erhalten wir nach Überprüfung durch Wissenschaft und Bundesnetzagentur eine Empfehlung für einen Bundesbedarfsplan. Das heißt: Noch in diesem Jahr werden wir uns in diesem Haus sehr konkret mit dem Verlauf der Stromtrassen beschäftigen. Im Winter werden wir den notwendigen Netzausbau in einem Gesetz festlegen. Damit werden konkrete Trassen justiziabel, also auch gerichtlich durchsetzbar. Umso wichtiger ist es daher, sich jetzt einzubringen, Herr Krischer. Die Übertragungsnetzbetreiber laden jetzt dazu ein; die Bundesnetzagentur in ein paar Wochen. Dafür werden wir dann beschlossene Leitungsneubauprojekte besser und schneller umsetzen. Das ist vorbildliche Bürgerbeteiligung.
Vielen Dank.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß. Bitte schön, Kollege Thomas Bareiß.
Thomas Bareiß (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Duin, Sie haben Ihre Rede mit der Verwunderung über die jetzige Debatte, unsere Aktuelle Stunde, eingeleitet. Mich erstaunt es nicht, dass Sie verwundert sind. Sie haben in den letzten Monaten eine Debatte über das Ausstiegsszenario geführt.
Wir aber sprechen nicht über den Ausstieg, sondern über den Einstieg.
Wir müssen über den Einstieg sprechen, damit wir eine Energiewende vollziehen können. Deshalb ist diese Debatte auch so wichtig.
Ich bin dankbar dafür, dass wir diese Debatte führen und zeigen können, welche Konzepte Schwarz-Gelb hat.
Wir haben in den letzten Monaten die Energiewende Schritt für Schritt vorangetrieben. Wir haben die Projekte, die notwendig sind, vorangebracht. Wir haben schon vor drei Jahren mit dem EnLAG gezeigt, dass wir das Thema Leitungsausbau für wichtig erachten.
Wir haben 24 konkrete Projekte genannt und gehen mit diesen Projekten Schritt für Schritt voran. Wir haben vor einem Jahr das Energiewirtschaftsgesetz mit einer großen Novelle vorangebracht. Wir haben dafür gesorgt, dass wir trotz schnellen Zubaus von erneuerbaren Energien eine gewisse Netzstabilität erhalten und garantieren können. Wir haben vor einem Jahr das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das NABEG, auf den Weg gebracht; der Minister hat es vorhin ausgeführt. Jetzt wiederum bringen wir auf seiner Basis den Netzentwicklungsplan voran und setzen damit einen weiteren Meilenstein im Rahmen unserer Energiewende. Wir schaffen es damit auch, einen Fehler von Rot-Grün beim damaligen Kernenergieausstieg auszubügeln.
Mit dem jetzigen Gesetz versuchen wir, ein Stück weit den Zubau von erneuerbaren Energien mit der Infrastruktur und mit dem Netzausbau zu synchronisieren. Das gilt in einem nächsten Schritt auch für den Speicherausbau, der ebenfalls dazugehört. Das ist nur eine von zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen beides im Auge behalten, und mit dem jetzigen Netzentwicklungsplan wird uns das gelingen.
Damit können wir in den nächsten Jahren verhindern, dass wir Windstrom, den wir teilweise schon jetzt abregeln müssen, nicht nutzen können, weil es nicht genügend Infrastruktur gibt und weil die Netze nicht vorhanden sind. Wir benötigen Stromautobahnen, um den Strom abfließen zu lassen; nur so schaffen wir es, die Windströme aufzufangen und im Netz zu integrieren.
Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass der Strom in Deutschland nach wie vor bezahlbar bleibt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Energiewende wird nur dann gelingen, wenn wir den Menschen zeigen, dass wir das Ganze richtig angehen und dass Strom bezahlbar bleibt. Auch deshalb ist der Ansatz, den wir heute diskutieren, so wichtig. Daran müssen wir weiter festhalten.
Wir müssen es schaffen, dort in erneuerbare Energien zu investieren, wo sie am sinnvollsten und am wirtschaftlichsten sind. Herr Krischer, Sie sagen, die Energieversorgung der Zukunft werde komplett dezentral sein. Sie irren sich. Die Energieversorgung wird teilweise dezentral sein, aber in vielen Bereichen wird sie auch sehr zentral sein. Denn in der Zukunft müssen wir die Windräder dort aufbauen, wo am meisten Wind vorhanden ist und wo der Windstrom am kostengünstigsten produziert werden kann.
Deshalb wird die Gewinnung des Windstroms in den nächsten Jahren im Norden unseres Landes dramatisch aufgebaut werden, und deshalb brauchen wir die Stromautobahnen vom Norden in den Süden. Sie irren in Ihrer Annahme; denn wir brauchen diese Leitungen dringend. In den nächsten Jahren werden wir erleben, dass der Abstand zwischen Produzent und Verbraucher im Bereich der Infrastruktur in vielen Bereichen nicht abnehmen, sondern eher zunehmen wird.
Daher ist es dringend notwendig, diese Stromautobahnen zu bauen. In den nächsten zehn Jahren benötigen wir 3 800 Kilometer Leitungen. Darüber hinaus haben wir noch EnLAG-Projekte fertigzustellen; das betrifft 900 Kilometer Leitungen. Das heißt: In den nächsten zehn Jahren benötigen wir 4 700 Kilometer Stromautobahn; wir müssten also jeden Werktag 2 Kilometer Leitungen bauen. Wenn man sich die bisherige Geschwindigkeit - inklusive der Altlasten von Rot-Grün - von bis zu 14 Tagen Bauzeit für 2 Kilometer Leitungen vergegenwärtigt, dann erkennt man: Wir haben noch ein ordentliches Stück Wegstrecke vor uns, um unser Ziel tatsächlich zu erreichen.
Mein letzter Punkt. Wir können viel über Rahmenbedingungen oder technische Stellschrauben diskutieren. Ob die Leitungen dann tatsächlich gebaut werden können, hängt damit zusammen, ob wir vor Ort die notwendige Akzeptanz erhalten. Für unsere politische Führung bedeutet es eine Mammutaufgabe, vor Ort dafür zu sorgen, dass die Kommunen in dieser Frage mitziehen. Die zu bauenden 4 700 Kilometer Leitungen müssen vor Ort entsprechende Akzeptanz finden. In dem Zusammenhang habe ich, wie meine Vorredner, oft die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die hier die großen Sprüche bezüglich des Ausbaus der Erneuerbaren klopfen, vor Ort wiederum die Durchsetzung der Projekte verhindern.
Deshalb kann ich Sie nur immer wieder auffordern: Machen Sie von Rot-Grün mit bei unserer Energiewende. Sorgen Sie mit dafür, dass in Deutschland die entsprechende Infrastruktur gebaut und so in unsere Zukunft investiert wird.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion das Wort.
Ulrich Kelber (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Praktisch alle Vorrednerinnen und Vorredner haben zu Recht auf den hohen Zeitdruck bei der Netzmodernisierung hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu überlegen, wodurch der Zeitdruck entstanden ist.
Es ist ziemlich genau sechs Jahre her, da haben in einem Raum gut 50 Meter von hier, auf der gleichen Ebene des Reichstagsgebäudes, die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD zusammengesessen. Herr Pfeiffer, ich weiß nicht, ob Sie damals ebenfalls in diesem Raum waren. Bundesumweltminister Gabriel schlug vor, dass wir in Deutschland Leitungen zur Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung, gerade von den meisten mit HGÜ abgekürzt, also Stromautobahnen bauen sollten. Daraufhin lachte der Koalitionspartner der CDU/CSU: Ihm sei von den Energiekonzernen gesagt worden, so etwas bräuchte man in Deutschland nicht;
man wolle das nicht in die Arbeit der Koalition aufnehmen. Was, glauben Sie, habe ich gedacht, als ich den neuen Netzentwicklungsplan bekommen habe, dessen Kern der Bau von vier Stromautobahnen ist?
Man sollte auch darüber sprechen, was da passiert ist.
Ich habe zu diesem Netzentwicklungsplan auch Fragen. Erstens: Wir brauchen Kostentransparenz. Wir haben jetzt gelesen, dass über einen Zeitraum von zehn Jahren Kosten in Höhe von 20 Milliarden Euro anfallen. Ich frage auch die Übertragungsnetzbetreiber: Wie viele dieser Investitionen sind denn ohnehin notwendige Ersatzinvestitionen bei einem 35 Jahre alten Netz? Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass man jede Ersatzinvestition, die man in den 90er-Jahren und den frühen Jahren des vergangenen Jahrzehnts unterlassen hat, jetzt den erneuerbaren Energien zuschiebt, nachdem man damals die großen Gewinne gemacht hat.
Auch dazu gehört Ehrlichkeit. Wer gestern beim Frühstück der Übertragungsnetzbetreiber dabei war, hat mitbekommen, dass auf meine Nachfrage hin zugestanden wurde, dass man nicht zwischen solchen notwendigen Ersatzinvestitionen und dem Zubau, den die Erneuerbaren notwendig machen, differenziert hat. Es bleibt dabei: Nach 1999, nach der Liberalisierung, sind die Netzinvestitionen halbiert worden. Was wir jetzt benötigen, ist in etwa die Investition, wie sie die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren bereits einmal gestemmt hat, für eine sichere Energieversorgung.
Nehmen wir die Ersatzinvestitionen heraus und verwenden wir die Zahlen, die laut Netzentwicklungsplan ohne das sogenannte Startnetz entstehen, unterhalten wir uns in Deutschland über eine jährliche Abschreibungsrate - es sind ja immerhin Investitionen, die für 40 Jahre getätigt werden - von 250 bis 375 Millionen Euro. 50 Hertz, einer der vier Übertragungsnetzbetreiber, hat gesagt: Durch diese Investition werden allein in Thüringen Kosten für den Netzbetrieb in Höhe von 130 Millionen Euro im Jahr eingespart. Es gibt weitere Regionen in Deutschland, in denen damit Kosten eingespart werden. Auch diese Nettorechnung sollten wir aufmachen.
Ich erwarte eine differenzierte Betrachtung auch der Bundesnetzagentur dazu, ob wir mit einem dezentraleren Ausbau an bestimmten Stellen auch noch Kosten einsparen können. Es geht am Ende darum, die Systemkosten zu optimieren, und es wäre Aufgabe der Ministerien, nicht immer nur Einzelbetrachtungen vorzunehmen, nicht nur zu sagen: Jetzt versuchen wir, bei den Netzkosten herunterzukommen; jetzt versuchen wir es mit dieser Fördergeschichte; jetzt geben wir hier einen Zuschuss. - Am Ende müssen die Systemkosten auf dem Weg zu 100 Prozent erneuerbaren Energien optimal sein.
Ich habe in den letzten Wochen die geschätzten Kollegen von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion - Breil, Pfeiffer, Bareiß - genauso wie den Minister Rösler gehört, die gesagt haben: Man muss den Ausbau der Erneuerbaren an die Netzentwicklung anpassen. Was ich vermisst habe, ist die Frage: Muss man nicht die gesamte Energieversorgung und die Netzentwicklung einander anpassen? Da hat keiner davon gesprochen, dass man den Neubau von fossilen Kraftwerken an der Küste, der dort stattfindet, weil die Gasanlandung und die Kohleanlandung etwas preisgünstiger als im Südwesten der Republik sind, verbieten sollte. Die Kraftwerke nutzen aber die gleichen Netze, Herr Kollege Breil. Sie wollen also die Netze mit fossiler Energie verstopfen und dann sagen: Für die Erneuerbaren brauchen wir jetzt noch mehr, und das ist viel zu teuer.
Das sind die Fragen zum Netzentwicklungsplan, die man auch stellen kann. Aber wer die Äußerungen der Übertragungsnetzbetreiber verfolgt hat, wer weiß, dass es um 250 bis 375 Millionen Euro pro Jahr geht, der weiß eines: Dieser Netzentwicklungsplan liefert kein Argument gegen 100 Prozent erneuerbare Energien. Wir wissen, dass es auch mit fossilen Energien immer teurer würde: Ersatzinvestitionen in Kraftwerke, Ersatzinvestitionen in Netze müssten auch dann stattfinden, weil alles veraltet ist. Dieser Netzentwicklungsplan zeigt: 100 Prozent Erneuerbare dezentral sind machbar, bezahlbar und ökonomisch sinnvoll.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
Horst Meierhofer (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kelber, wenn Sie sich einmal kurz zu mir richten könnten: Das Problem ist doch vielmehr, dass wir insgesamt ein Problem mit den verschiedenen Ländern haben. Das ist das Entscheidende. Das sage ich auch Herrn Krischer und all den anderen, die jetzt erklären: Ihr habt doch mit eurer schwarz-gelben Bundesregierung - - Das spielt keine Rolle. Die verschiedenen Landesregierungen haben immer etwas andere Interessen, als wir sie auf Bundesebene haben. Deswegen sollten wir doch gemeinsam so ehrlich sein, festzustellen, dass eine gemeinsame Entwicklung der Netze und eine gemeinsame Energiepolitik unser gemeinsames Ziel sein sollten und wir deswegen in der Opposition genauso wie in der Koalition dafür sorgen müssen, dass wir unsere Länder dazu bewegen, es gemeinsam hinzubekommen. Da hilft es nicht, zu erklären: Ihr habt die gleichen Probleme. Ich würde gerne darauf verzichten, dass wir uns in Bezug auf die Vergangenheit gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Vielmehr sollten wir uns endlich um die Zukunft kümmern und darum, dass es vorangeht.
- Herr Kelber, schauen wir uns doch einmal an, was Sie gemacht haben. Solange Sie an der Regierung waren, ist doch gar nichts passiert.
Sich zu beschweren, dass es so langsam geht, und herumzumeckern, ist wirklich lächerlich. Bleiben wir doch bei den Fakten, das gilt auch für Sie. Sie haben kein Netzausbaubeschleunigungsgesetz vorgelegt. Auch in anderen Bereichen waren Sie untätig.
Ich bin der Meinung, dass es jetzt vorwärtsgehen muss. Wir müssen das gemeinsam schaffen. Ich glaube auch, dass es gelingen kann.
Die Hochspannungsleitungen, also die 380-kV-Leitungen, werden wir auf jeden Fall brauchen. Es nützt nichts, darüber nachzudenken, ob wir dezentral produzieren sollten, weil klar ist, dass gerade der Offshore- und der Onshorewindbereich im Nordosten in den nächsten Jahren zunehmen wird. Das ist doch unser gemeinsames politisches Ziel. Gleichzeitig wissen wir, dass wir im Süden und im Südwesten an der Rheinschiene den meisten Strom brauchen. Darum müssen wir uns kümmern.
Die Maßnahmen hätten von Anbeginn parallel laufen müssen. Es ging von vornherein nicht um die Frage, ob man erneuerbare Energie fördern soll, sondern darum, zu klären, ob man die gesamte Stromversorgung statt auf zentralen auf dezentralen Kraftwerken aufbauen will; denn wenn ich eine dezentrale Versorgung will, dann muss ich dafür sorgen muss, dass die Infrastruktur rechtzeitig zur Verfügung steht. In der Vergangenheit wurde für manche Netze bis zu 20 Jahre gebraucht. Eine Photovoltaikanlage kann innerhalb weniger Stunden auf dem Dach installiert werden, falls die nächste Kürzung ins Haus stehen sollte. All das zeigt, dass man frühzeitig mit dem Ausbau der Netze beginnen muss;
hier hinken wir hinterher. Leider wurde das von allen Vorgängerregierungen versäumt. Inzwischen sind wir uns alle einig, dass es jetzt schneller gehen muss.
Wir müssen den Netzausbau beschleunigen. Natürlich wissen wir, dass die Menschen vor Ort Probleme haben, wenn hinter ihrem Grundstück eine Großleitung verlegt werden soll, die den Wert des Grundstücks reduzieren wird. Ihnen ist dann auch egal, wer welches Parteibuch hat. Die Probleme sind grundsätzlicher Art. Deswegen wird es wichtig sein, dass wir die Menschen frühzeitig einbeziehen. Stuttgart 21 beispielsweise hat bewiesen, dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist, wenn man lange über ein Thema debattiert, sondern dass es sogar kontraproduktiv sein kann. Wenn ich 10 oder 15 Jahre über die gleiche Infrastrukturmaßnahme debattiere, dann hat das zur Folge, dass irgendwann einmal die Akzeptanz in der Bevölkerung sinkt. Darum bin ich der Meinung, dass wir die Menschen sehr viel früher als in der Vergangenheit einbeziehen müssen, wir müssen allerdings auch schneller Entscheidungen treffen. Das wird dazu führen, dass wir schneller handeln können als in der Vergangenheit. Das bedeutet natürlich auch, dass man den Instanzenweg nicht ausweitet, sondern verkürzt. Das ist die andere Seite der Medaille. Wenn man das will, dann muss man offen damit umgehen und die Probleme benennen. Will man das nicht, dann muss man eine Alternative aufzeigen, wie man den Netzausbau sonst noch beschleunigen kann. Dazu habe ich von Ihnen leider noch keine Antwort gehört. Ich würde mich freuen, etwas darüber zu hören.
Wir müssen uns nicht nur über die Hochspannungsnetze Gedanken machen, sondern auch über Niederspannungs- und Verteilnetze vor Ort. In diesem Zusammenhang gehört es zur Wahrheit dazu, zuzugeben, dass wir grundsätzlich die Debatte über die Einspeisung von erneuerbaren, volatilen Energien anders führen müssen. Das heißt für mich nicht, dass wir das EEG abschaffen müssen, sondern das heißt, dass wir das EEG schneller beenden als in der Vergangenheit vorgesehen, und zwar ohne dass wir das System durch ein anderes ersetzen, sondern indem man sagt: Die Menschen müssen weniger einspeisen - übrigens nicht weniger produzieren - und gleichzeitig mehr selber verbrauchen. Wenn uns das gelingt, dann sparen wir zumindest im Verteilungsbereich an den Netzausbaukosten, und zwar riesige Summen.
Wenn man bedenkt, was wir in den letzten Jahren für die erneuerbaren Energien ausgegeben haben, dann sieht man, dass wir so nicht weitermachen können. Hier im Bundestag sollte es Common Sense sein, dass wir die Summe von 150 Milliarden Euro - wir haben uns 2011 verpflichtet, im Bereich erneuerbare Energien so viel zu investieren - nicht einfach so fortlaufend erhöhen können.
- Oder sogar bis 185 Milliarden Euro, Hans-Josef Fell. Das hängt davon ab, wie es weitergeht. Mittlerweile sind wir vielleicht auch schon bei 200 Milliarden Euro. Es spielt keine Rolle.
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Summe in Zukunft deutlich weniger wird. Das wird uns gelingen, wenn die Menschen weniger Einspeisevergütung erhalten, als sie selber für Strom bezahlen; denn dann lohnt es sich natürlich, den Strom selbst zu verbrauchen. Da müssen wir hinkommen. Hier brauchen wir Unterstützung.
Für die Menschen soll der Anreiz geschaffen werden, den Anteil am Eigenverbrauch zu erhöhen, nicht 0 bis 20 Prozent, sondern vielleicht auf bis zu 50 Prozent. Wenn sie einen höheren Eigenverbrauch haben, erhalten sie einen höheren Einspeisesatz. Wenn sie mehr als 50 Prozent einspeisen wollen, könnten wir die Vergütung senken. All das schafft Anreize, das Netz zu entlasten und den Strom dezentral zu verbrauchen. Es müssen Anreize dafür geschaffen werden, dass die Leute, die Strom produzieren, ihn endlich auch verbrauchen und ihn nicht nur zur Verfügung stellen.
- Hören Sie doch einmal zu. Dann kommen wir vielleicht endlich mal vorwärts. Dieser ständige Protest - nein, nein, nein! - und die Forderung, die Förderung nicht so stark zu kürzen, wird uns keinen Zentimeter weiterbringen.
Deswegen sinkt doch die Akzeptanz in der Bevölkerung. Der Grund, warum wir Geld zum Fenster hinausschmeißen, ist doch, dass keiner von Ihnen bereit ist, nach links und rechts zu schauen, solange die Lobbyisten aus der Photovoltaikindustrie Nein sagen.
Das ist genau das Problem. Ihr müsst innovativer werden. Ihr müsst euch zum Beispiel überlegen, wie man es schafft, dass diejenigen, die volatilen Strom produzieren, sich jemanden für das Back-up suchen, zum Beispiel einen Biogaskraftwerks-, einen Wasserkraftwerks- oder einen Gaskraftwerksbetreiber. Nichts dergleichen kommt von Ihrer Seite. Wenn es die richtigen Innovationen gibt, dann geht es, glaube ich, voran.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Horst Meierhofer (FDP):
Herr Präsident, liebe Kollegen, herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich merke, es gibt auch hier noch Investitionsbedarf. Sie sollten ein bisschen Herzblut und Hirnschmalz investieren.
Wenn wir das gemeinsam aufbringen, dann können wir, glaube ich, das Problem lösen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Letzter Redner in der Debatte ist Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion.
Jens Koeppen (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heutzutage kein Problem mehr, Strom aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Die Herausforderung besteht darin, ihn an die richtige Stelle zu bekommen bzw. ihn dort zu produzieren, wo man ihn braucht. Deswegen ist eine gute Netzinfrastruktur selbstverständlich notwendig.
Ich erinnere an die Ethik-Kommission, die wir vor rund einem Jahr gemeinsam gelobt haben. In dem Schlussbericht heißt es, dass die Stromnetze und ihr Ausbau der wichtigste Prüfstein für das Gemeinschaftswerk sind. Dort steht auch, dass entscheidend ist, dass der erzielte Konsens auf Dauer angelegt ist. Das will ich unterstreichen. Ich muss sagen, dass Ihre heutigen Attacken gegen den Netzausbau nicht zu dem Lob von damals passen. Diese Debatte erinnert mich eher an das Verhalten der brandenburgischen Landesregierung, die den Konsens hinsichtlich des Atomausstiegs bereits wenig später infrage gestellt hat, weil einige brandenburgische Kommunen aufgrund des Atomausstiegs geringere Steuereinnahmen von Vattenfall bekommen. Kann man mit einem solchen Politikverständnis in der Energiepolitik vorankommen? Ich bin da skeptisch.
- Herr Kelber, Fakt ist doch, dass wir mehr Netze brauchen. Wir müssen erkennen, dass die Netze Lebensadern der Energiewende sind. Für den Netzausbau ist nicht die Anzahl der Kilometer entscheidend. Herr Krischer, diesbezüglich können wir einen Konsens herstellen. Wir brauchen uns gar nicht darüber zu streiten, ob das 4 600, 3 800 oder 2 500 Kilometer sind. Das ist aus meiner Sicht nicht relevant. Relevant ist die Qualität des Ausbaus: Wie schaffen wir es, technologieoffen und innovationsfreudig Kapazitätserweiterungen zu organisieren, die sich zum Beispiel aus der Verwendung von Hochtemperaturseilen, einer dezentralen Stromeinspeisung oder Speichermöglichkeiten für die fluktuierenden Energien ergeben?
Erkenntnisse hinsichtlich der Machbarkeit laufen komplett unter dem Radar. Wir müssen feststellen, dass einige, statt Netze zu errichten, Energiekapazitäten nur am Ort erzeugen wollen. Das wird nicht funktionieren. Das ist eine Vision, die wir haben sollten und haben; für die zügige Umsetzung der Energiewende brauchen wir aber gute Netze.
Stellen Sie sich einmal vor, Berlin wäre gekrönt mit Windrädern. Ich denke, das ist eine städtebaulich relativ abscheuliche Vorstellung. Solche Experimente können wir uns wahrlich nicht leisten. Die Idee, sich autark zu versorgen, ist schön. Kollege Meierhofer hat das bereits gesagt. Ich selbst habe eine Photovoltaikanlage auf meinem Dach. Laut installierter Leistung könnte ich mich selbst versorgen. Das ist gar keine Frage. Wenn es aber um Leistung mal Zeit geht, also um die elektrische Arbeit, dann sieht das schon anders aus.
Selbst wenn ich mich zu 80 oder sogar 90 Prozent selbst versorgen könnte, brauchte ich für die restlichen 20 oder 10 Prozent ein Netz, das sicherstellt, dass die Energie zu jeder Zeit zu mir kommt. Das gilt nicht nur für mich, sondern für die ganze Wirtschaft. Wir brauchen eine gute Netzinfrastruktur, und zwar auch dann, wenn man sich vor Ort bzw. in einem Bundesland durch die installierte Leistung selbst versorgen könnte.
Der Netzausbau ist nicht zum Nulltarif zu haben. Deswegen müssen wir den Leuten sagen, dass Eingriffe in die Natur und das Landschaftsbild stattfinden werden. Aber im Gegenzug werden wir auch etwas bekommen: Wir bekommen den von einem Großteil der Bevölkerung geforderten Umbau der Energieversorgung, also den Atomausstieg. Wir bekommen dafür, dass ein Großteil der Energie aus regenerativen Energiequellen stammt. Wir bekommen dafür, dass wir die gefährliche Energieabhängigkeit von unsicheren Drittstaaten reduzieren können. Wir bekommen dafür auch, dass unsere Energieversorgung wesentlich klimafreundlicher und umweltverträglicher wird. Das sollte uns die Investitionen in die Netzinfrastruktur wert sein.
Deshalb ist für mich der Netzentwicklungsplan ein Meilenstein. Ich unterstütze die Aussage von Umweltminister Altmaier, der gesagt hat: Nicht der einzelne Kilometer ist für den Erfolg der Energiewende relevant, sondern dass das System funktioniert. In diesem Sinne müssen die am Erfolg interessierten Bundesländer mit uns gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar in die richtige Richtung. Das pure Festhalten an und das Pflegen von Landesegoismen wie zum Beispiel bei CCS, bei der PV-Vergütung und der Gebäudesanierung helfen uns nicht weiter.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir aufgrund der Detailprobleme beim Netzausbau, die es natürlich gibt, nicht den gesamten Netzausbau infrage stellen sollten. Von Deutschland geht eine Signalwirkung aus. Ein solches Megaprojekt gab es noch nicht in einem Industrieland mit solch einem hohen Energiebedarf. Wir können die Energiewende in Deutschland nur mit der notwendigen Infrastruktur meistern. Wir sehen den Netzentwicklungsplan daher wirklich als Meilenstein der Energiewende an. Viele in Europa und in der Welt warten ab und schauen auf uns. Ich bin ganz sicher: Deutschland wird es packen. Wenn es einer packen kann, dann Deutschland. Wenn wir es dann geschafft haben, werden viele unserem Beispiel folgen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
[Der folgende Berichtsteil der
184. Sitzung - wird am
Freitag, den 15. Juni 2012,
auf der Website des Bundestages veröffentlicht.]