Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Textarchiv > 2012 > Europarat-PV Beck
Die mangelhafte Versorgung von Flüchtlingen und Vertriebenen im Nordkaukasus mit Wohnungen und Jobs kritisiert Marieluise Beck. In einem Klima von "Korruption und Gewalt" in Tschetschenien gingen sie oft leer aus, sagt die Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen im Interview. Das Schicksal dieser Leute gerate angesichts der auch vom "russischen Statthalter Ramsan Kadyrow erzwungenen Befriedung" in Vergessenheit, beklagt die Abgeordnete. Beck ist Berichterstatterin bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die bei ihrer Frühjahrssession vom 23. bis 27. April 2012 in Straßburg über die Lage der Flüchtlinge in den russischen Teilrepubliken Tschetschenien, Inguschetien und Nordossetien diskutiert. Die Grünen-Politikerin ist Beauftragte des Europaratsparlaments für Russland, die Ukraine und Weißrussland. Das Interview im Wortlaut:
Frau Beck, das Parlament des Europarats will auf Flüchtlinge und Vertriebene in Tschetschenien, Inguschetien und Nordossetien aufmerksam machen. Wie kommt es, dass diese Leidtragenden der Auseinandersetzungen im Nordkaukasus aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind?
Konflikte unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges geraten schnell in Vergessenheit. Die komplizierte Situation speziell in Tschetschenien ist zudem von außen schwer zu durchschauen. Einerseits hat Moskau durchaus Geld investiert, um die äußere Fassade des Landes zu renovieren, das Land wirkt zuweilen wie ein Potemkinsches Dorf. Andererseits sorgt die vom russischen Militär wie von den Leuten des russischen Statthalters Ramsan Kadyrow ausgehende Gewalt für eine erzwungene Befriedung. Man sollte im Übrigen islamistische Gewalt nicht übersehen, auch die Zahl sogenannter Ehrenmorde steigt. In dieser Gemengelage tritt das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Hintergrund.
Mit welchen Schwierigkeiten haben diese Leute zu kämpfen?
Wer aus Nachbarregionen nach Tschetschenien zurückkehrt, stößt oft auf eine Mauer der Ablehnung. Man wird nicht als Leidtragender kriegerischer Auseinandersetzungen eingestuft, sondern als jemand, der seine Haut retten wollte. In einer solchen Situation fällt es sehr schwer, Wohnungen oder Arbeitsplätze zu ergattern, woran Mangel herrscht. Vielfach bleibt Flüchtlingen und Vertriebenen der Status als Opfer von Terrorismus oder staatlicher Gewalt versagt, und dann gibt es auch keine behördliche Hilfe beim Kampf um Jobs und Wohnraum.
Warum sind diese Schwierigkeiten noch nicht überwunden? Der Bericht des Europaratsparlaments verweist darauf, dass das wirtschaftsstarke Russland zur Lösung der Probleme sehr wohl in der Lage ist.
Für Moskau ist die Lage kommod. Kadyrows repressives Regime hat in Tschetschenien fast alles unter Kontrolle. Das bremst den Moskauer Eifer, sich im Nordkaukasus zu engagieren. Per Saldo fließt im Übrigen durchaus mehr Geld aus Moskau nach Grosny als in umgekehrter Richtung. Allerdings versickert ein Teil dieser Hilfen in diversen Taschen, nicht zuletzt in Kadyrows System. Die Mischung aus Korruption und Gewalt lässt Flüchtlinge und Vertriebene oft leer ausgehen.
Im Auftrag des Europaratsparlaments prüfen Sie in der Ukraine, in Russland und in Weißrussland, wie es um die Beachtung von Grundrechten steht. Wieso existieren über zwei Jahrzehnte nach der Wende in Osteuropa noch erhebliche demokratisch-rechtsstaatliche Defizite?
Wir im Westen hatten angesichts des Drangs nach Freiheit die Illusion, nach dem Umsturz würden sich die Gesellschaften zügig und gradlinig in eine demokratisch-rechtsstaatliche Richtung entwickeln. Wir haben auch die Fähigkeit alter Kräfte unterschätzt, sich unter neuen Bedingungen zu behaupten und die Entfaltung einer echten Demokratie auszubremsen. Ein Musterbeispiel ist Russland, wo Wladimir Putin zusammen mit seiner ehemaligen Geheimdienst-Entourage das Sagen hat. In der Ukraine hatten die Kräfte der Orange-Revolution nicht die Substanz, um sich nach vorübergehendem Erfolg langfristig zu behaupten. Von Weißrussland unter dem autokratischen Staatschef Alexander Lukaschenko ganz zu schweigen. Osteuropa hat noch einen langen Weg vor sich.
Welche Probleme machen den Ländern, die Sie untersuchen, besonders zu schaffen?
Von einer unabhängigen Justiz kann kaum gesprochen werden. In Russland verlaufen viele Gerichtsverfahren willkürlich, man denke nur an Michail Chodorkowski. Häufig werden politische und wirtschaftliche Konflikte mit Hilfe des Strafrechts bereinigt, wenn etwa Unternehmer über konstruierte Vorwürfe enteignet werden. Es ist haarsträubend, dass in der Ukraine über 99 Prozent der Angeklagten letztlich verurteilt werden, Prozesse werden vom Staatsanwalt dominiert, Richter und Verteidiger haben wenig zu sagen. Oppositionelle wie etwa Julia Timoschenko oder Juri Luzenko werden durch Einsatz des Strafrechts politisch kaltgestellt. In Russland steht es schlecht um die Pressefreiheit, kritische Journalisten, die schon mal bedroht oder gar ermordet werden, haben es schwer, sich Gehör zu verschaffen. Die Opposition wird behindert. Ähnlich sieht es in der Ukraine aus, auch wenn dort die Lage für Medien und Regierungsgegner noch etwas besser ist. In Weißrussland läuft freiheitlich-rechtsstaatlich gar nichts mehr.
Kann der Europarat in den betreffenden Nationen etwas bewirken? Oder ist das ein Kampf gegen Windmühlen?
Politik ist nun mal das Bohren dicker Bretter. In Osteuropa hat der Europarat durchaus einen gewissen Einfluss. Kritische Berichte unseres Parlaments leisten demokratischen Kräften Schützenhilfe. Regierungen sind interessiert, negative Straßburger Expertisen über ihre Politik möglichst zu vermeiden. Gewicht hat vor allem der Menschenrechtsgerichtshof, dessen Urteile dazu beitragen, dem Rechtsstaat Bahn zu brechen.
(kos)