Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2010 > Führung durch den Reichstag
Eigentlich darf niemand außer den Abgeordneten den Plenarsaal betreten - aber Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel. "Tja, wir sind eben etwas ganz Besonderes", sagt der 16-jährige Dustin Dziembala, der mit vier anderen Schulkameraden und Lehrerin Maria Brandt von Ilvesheim nach Berlin gereist ist. Die Schüler besuchen die zehnte Klasse der Schlossschule, der einzigen staatlichen Sehbehindertenschule Baden-Württembergs.
Startpunkt ist das Paul-Löbe-Haus. Volker Wagner, der die Führung leitet, bringt sie zur Einstimmung zum Kopf des "Hausherren" Paul-Löbe. Sofort beginnt Soni Flack mit dem Betasten: Ohren, Nase, Brillengestell, Kopfform und Augen. "Sieht ganz nett aus", stellt die 19-Jährige fest, die seit ihrer Geburt vollständig blind ist. Soni ist die einzige aus der Gruppe, die sich nur durch Tasten ein Bild machen kann.
Ihre Mitschüler können noch etwas mehr sehen, machen sogar Fotos: "Damit ich meiner Familie zu Hause alles zeigen kann, und damit ich tolle Erinnerungsfotos aus Berlin habe", sagt die aufgeweckte Ines Matic, die wie Kristina K. begeistert alles Mögliche fotografiert. Den Kopf von Paul-Löbe, die Fensterputzer, ihre Mitschüler, den Plenarsaal - alles für die Ewigkeit abgespeichert.
"Oh, schön kühl hier. Die Sitze sind so weich, da fühlt man sich ja gleich wie Gott im Himmel - nur das Tässchen Kaffee fehlt", sagt Soni später begeistert, als sie sich im Plenarsaal auf einen Abgeordnetenstuhl niederlässt. "Guck mal hier, wow! Krass! Ist das ein Wahnsinns-Rednerpult", begeistert sich die 16-jährige Melanie Mäule, die sich von Ines in Rednerposition fotografieren lässt.
"Irgendwie komme ich mir aber vor wie im Zirkus. So viele Leute auf den Zuschauertribünen, die ganzen Kameras; das ist irgendwie komisch", findet Dustin. "Aber die sind bestimmt neidisch, dass sie da oben sitzen müssen und wir hier unten rumlaufen können", sagt er schmunzelnd, dabei den Blick auf die Tribüne gerichtet. Beim Zugehen auf den Rednerpult stellt er fest, dass der Bundestag sehr behindertengerecht ist: "Durch den Silberstreifen am Ende der Stufen, die ich leicht wahrnehmen kann, fällt es mir viel einfacher, mich hier zu bewegen."
Unmittelbar neben dem Eingang zum Plenarsaal stehen ein Modell vom Reichstag und vom Regierungsviertel. Soni kann es kaum erwarten und fängt so schnell mit Tasten an, so dass ihre Lehrerin sie zurückhalten muss. "Das ist echt toll, ich kann mir den Reichstag richtig gut vorstellen. Die Kuppel sieht aus wie eine Melone, das ist lustig", sagt die aus Indien stammende Schülerin grinsend.
Ihre flotten Finger huschen so schnell über das Modell, dass man es kaum mit den Augen verfolgen kann. Das nebenstehende Modell vom Regierungsviertel ist sogar mit Blindenschrift ausgestattet.
Die Schüler stehen zu ihrer Sehbehinderung und haben sich mit ihrer Situation arrangiert. "Die schlimmsten Blindenwitze erzählen sowieso die Blinden", weiß die Lehrerin.
Melanie hat wie ihre Mitschüler etliche Scherze parat und bekommt sich manchmal vor Lachen gar nicht mehr ein: "Leute, die nicht über eigene Witze lachen können, die haben einfach ein Problem." "Genau, außerdem muss man nicht gleich sein Testament machen, nur wenn man eine Behinderung hat", stimmt Dustin zu. "Wir Sehbehinderten gehen auch gerne ins Kino: "Prince of Persia" ist der beste Film überhaupt." Soni nickt und fügt grinsend hinzu: "Schließlich kommen ja kaum noch Stummfilme." (mar)