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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 11. Januar 2010),
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, hat der Deutschen Bahn AG vorgeworfen, unter dem Druck des geplanten Börsenganges den Kunden „endgültig vergessen zu haben“. Schick sagte in einem Streitgespräch mit Hermann-Otto Solms (FDP) in der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungsdatum: 11. Januar 2010), die Bahn habe zudem „wichtige Instandhaltungsmaßnahmen“ vernachlässigt, wie das Beispiel der Berliner S-Bahn zeige. Die Vorstellung sei absurd, dass eine Erledigung der Aufgaben über den Markt immer eine Effizienzsteigerung bringe.
Solms widersprach: Der Grundgedanke bleibe, dass die Deutsche Bahn im Wettbewerb bessere Leistungen bringe. „Wenn die Kunden heute noch den Telefonverkehr im staatlichen Monopol hätten, dann hätten wir immer noch unsere Drehscheibentelefone“, sagte der Vorsitzende des Arbeitskreises Wirtschaft und Finanzen der FDP-Fraktion und Vizepräsident des Bundestages.
Das Streitgespräch im Wortlaut
Herr Solms, Herr Schick, wie sollte das Verhältnis von Markt und Staat aussehen?
Solms: In der Theorie setzt der Staat in der sozialen Marktwirtschaft die Regeln für das Geschehen auf den Märkten fest und überwacht deren Einhaltung. Der Staat kann aber selbst nicht mitspielen, weil man nicht gleichzeitig Schiedsrichter und Spieler in der Wirtschaft sein kann.
Schick: Zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch die Organisation des sozialen Ausgleichs und die Bereitstellung öffentlicher Güter, mit denen wir gemeinsame Anliegen finanzieren.
Solms: Unbestritten.
Viele Regierungen in Industrieländern haben in den vergangenen Jahrzehnten große Bereiche privatisiert. Ändert sich dieser Kurs der Politik durch die Krise?
Schick: Hoffentlich ja. Fakt ist doch, dass einzelne Privatisierungen, die zunächst gut klangen, in der Praxis dann zu teuren Lösungen für die Bürger und Bürgerinnen geführt haben.
Zum Beispiel?
Schick: Das haben manche Kämmerer etwa bei der Müllabfuhr festgestellt. Anderes Beispiel: In meinem Heimatstädtchen Hechingen gab es zwei Jahre hintereinander eine große Überschwemmung, jeweils ein Jahrhundertereignis. Früher wären die Leute gegen die Schäden durch die Pflichtversicherung für Gebäude abgesichert gewesen. Durch die von der Europäischen Union vorangetriebene Deregulierung im Versicherungsbereich konnten sich manche Bürger nach der ersten Flut gegen dieses Risiko nicht mehr absichern und sind durch die zweite jetzt ökonomisch ruiniert.
Herr Solms, müssen wir umdenken?
Solms: Alle Regeln müssen immer wieder überprüft werden.
War man zu nachlässig bei den Regeln für privatisierte Wirtschaftsbereiche?
Solms: Grundsätzlich werden auf dem Markt Produkte und Leistungen im Wettbewerb erzeugt. Damit ist sichergestellt, dass es Druck für effizienteres Wirtschaften gibt. Der Staat muss dafür sorgen, dass der Markt funktioniert. Wenn sie die Anbieter jedoch aus dem Wettbewerb holen und Aufgaben im staatlichen Monopol erledigen, dann fehlt jeder Anreiz, effizienter vorzugehen...
Was bedeutet dies konkret?
Solms: Wenn die Kunden heute noch den Telefonverkehr im staatlichen Monopol hätten, dann hätten wir immer noch unsere Drehscheibentelefone. Jeder Fortschritt wäre ausgeschaltet, weil es kein Interesse daran gäbe. Die staatliche Bundesbahn hat eben auch gut funktioniert, wenn es da nur nicht die Kunden gegeben hätte.
Schick: Unter dem Druck des geplanten Börsengangs hat die Bahn dann die Kunden aber endgültig vergessen und wichtige Instandhaltungsmaßnahmen zum Beispiel bei der Berliner S-Bahn vernachlässigt.
Solms: Dies spricht nicht gegen den Grundgedanken, dass die Bahn im Wettbewerb bessere Leistungen erbringt.
Schick: Es spricht aber gegen die Vorstellung davon, dass eine Erledigung der Aufgaben über den Markt immer eine Effizienzsteigerung bringt, die im Interesse der Bürger und Bürgerinnen dieses Landes ist. Wir haben immer noch an vielen Stellen eine interessegruppengeleitete oder ideologische Fixierung auf die Privatisierung. Nehmen wir als Beispiel die Erledigung von staatlichen Aufgaben durch private Unternehmen, beispielsweise den Bau von Schulen. Solch ein „Private-Public-Partnerchip“ – dies kann sehr sinnvoll sein...
Solms: Ja.
Schick: Aber reihenweise sind Kommunen von cleveren Fondsleuten und Juristen über den Tisch gezogen worden. Jetzt zahlen die Bürger drauf. Kommunale Räte haben vielfach „Cross-Border-Leasing“-Verträge unterschrieben, die sie nicht einsehen oder verstehen konnten. Wir brauchen bei solchen Vorhaben eine Überprüfungsinstanz, die so etwas verhindert.
Solms: Das sagt doch nur aus, dass dies schlecht gemacht ist. Selbstverständlich sind immer unterschiedliche Interessen vorhanden. Jeder versucht seine Interessen in einer vielfältigen Gesellschaft durchzusetzen. Es geht gar nicht anders. Was ist das Problem bei der Deutschen Bahn? Es ist nie gelungen, sie wirklich unter Wettbewerbsdruck zu setzen. Bei der Telekom ist das dagegen gelungen, schauen sie, wie preiswert sie heute telefonieren können.
Reicht Effizienz als einziger Maßstab zur Begründung von Privatisierungen aus?
Solms: Nein, da gibt es zusätzlich die Notwendigkeit, für Gerechtigkeit zu sorgen – dafür gibt es die Instrumente der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Damit muss die Politik dafür sorgen, dass es keine ausbeutungsähnlichen Situationen gibt. Dies können sie nicht allein durch einen Wettbewerb auf dem Markt erreichen – das ist doch klar.
Schick: Deswegen braucht man einen Mindestlohn.
Solms: Nein, deswegen braucht man Tarifautonomie und ein Mindesteinkommen in Form eines Bürgergelds, also eines garantierten Grundeinkommens unter der Voraussetzung der Bedürftigkeit und der Bereitschaft zu arbeiten.
Herr Schick, ist der derzeitige Kurs der Bundesregierung richtig, die Steuern zu senken?
Schick: Ich sorge mich angesichts der Steuersenkungen durch die Bundesregierung um die Zukunft, denn durch die Schuldenbremse wird später ein gigantischer Konsolidierungsdruck erzeugt. Und dann wird die Frage nicht mehr sein: Ist es effizient, etwas zu privatisieren? Vor dem Bankrott stehende Kommunen und Bundesländer werden dann nämlich aus fiskalischem Druck alles mögliche privatisieren, um hinterher feststellen zu müssen, dass dies langfristig teurer wird für die öffentliche Hand.
Sollte man es anders machen?
Schick: Ja, man muss realisieren, dass eine komplexe Gesellschaft wie die unsrige mit der hohen Bevölkerungsdichte viele öffentliche Güter braucht, gerade auch um wirtschaftlich leistungsfähig zu sein. Es ist für uns alle schlecht, dass das Einkommen der Eltern die Bildungschancen und die Gesundheit der Kinder so stark bestimmt. Der Generalangriff auf die öffentlichen Güter wie das Bildungs- und Gesundheitssystem beunruhigt mich sehr.
Solms: Das ist eine Chimäre, die jetzt von der Opposition aufgebaut wird.
Schick: Und was sagt der Sachverständigenrat zu Ihrer Steuerpolitik? „Tagträumerei“.
Solms: Der Sachverständigenrat ist noch vor kurzem für Steuerentlastungen aus wachstumspolitischen Gesichtspunkten angetreten. Am Anfang der großen Koalition von CDU/SPD hat man die größte Steuererhöhung der Geschichte der Bundesrepublik durchgesetzt, damit hätte man locker einen ausgeglichenen Haushalt erreichen können. Welchen Fehler hat man gemacht? Die Ausgaben sind stärker gestiegen als die Einnahmen und das Sozialprodukt.
Sollte die Regierung auch sparen?
Solms: Sicher müssen wir schauen, wo überall im Staat Steuerverschwendung betrieben wird. Außerdem müssen wir die Abläufe vereinfachen. Ist es richtig, dass die Bundesagentur für Arbeit heute bei 3,5 Millionen Arbeitslosen über 100.000 Beschäftigte hat? Vor fünf Jahren hatte sie bei fünf Millionen Arbeitslose nur 87.000 Beschäftigte. Dies ist ein Beispiel für Verschwendung, die wir uns nicht leisten können.
Schick: Auch ich sehe, wie der Staat an vielen Stellen das Geld zum Fenster herauswirft. Aber die Bundesregierung hat nun wirklich keinen Kurs der Konsolidierung eingeschlagen. Man kann jetzt Konjunkturimpulse über öffentliche Investitionen setzen – oder man entlastet die reiche Hälfte der Gesellschaft über die Einkommensteuer. An welchem Punkt steht Deutschland? Wir sehen im öffentlichen Bereich massive Finanzierungsdefizite, wo wir beispielsweise wie bei der Bildung eine positive Rendite haben könnten. Das Geld sollten wir hier als Konjunkturimpuls bereitstellen und mit einer langfristig positiven Rendite für die Gesellschaft verknüpfen.
Solms: Die Koalition hat beim Sparen die Bildung ausgenommen – deswegen trifft Ihre Kritik nicht.
Schick: Doch, Sie nehmen den für die Bildungsfinanzierung zuständigen Ländern das Geld weg. Deswegen protestieren die ja dagegen.
Solms: Die Länder profitieren doch von mehr Wachstum ebenso wie der Bund. Sie können auch nicht immer nur vom Staat her denken: Die Bürger müssen es bezahlen, es geht um die Menschen. Der durchschnittliche Ganztagsbeschäftigte verdient etwa 37.000 Euro im Jahr – der hat eine Grenzbelastung von 58 Prozent für Abgaben und Steuern. Die Leute wollen dafür nicht mehr arbeiten, dies macht in ihren Augen keinen Sinn und ich kann das verstehen. Sie wollen mindestens die Hälfte des Verdienten behalten. Dies stärkt die Leistungsbereitschaft und die Investitionsbereitschaft der privaten und unternehmerischen Haushalte. Darauf kommt es an. Sonst halten wir die nachwachsenden Generationen nicht in unserem Land.
Schick: Gerade wenn man an die künftigen Generationen denkt, darf man keine gigantische Verschuldung anhäufen. Die Prognose der OECD geht für Deutschland für das Jahr 2013 Richtung 90 Prozent. Angesichts dessen ist es unverantwortlich, mit Steuersenkungen anzufangen, die sich nicht selbst finanzieren.
Solms: Sie finanzieren sich laut anerkannter Gutachter zu 50 Prozent selbst.
Schick: Da gibt es auch andere Gutachten, aber trotzdem, nehmen wir einmal 50 Prozent als gesetzt an – dies bedeutet aus der anderen Hälfte haben wir einen zusätzlichen Schuldenaufbau.
Solms: Nein, man muss entsprechend die Ausgaben senken.
Schick: Sie tun so, als würde das den Menschen nichts wegnehmen. Es ist verkürzt zu sagen, die Leute haben nichts von dem Geld, was sie nicht direkt bekommen. Sie profitieren doch von der Renten- und Krankenversicherung oder öffentlichen Leistungen wie der Schulausbildung.
Solms: Sie müssen schauen, wie die Menschen reagieren.
Schick: Es ist ein Fehler, den Menschen immer nur die individualistische Sicht nahezubringen, dass der Staat ihnen Geld wegnimmt. Dies ist eine Denkweise, mit der sie jedes Gemeinwesen kaputt machen können. Wir müssten an Silvester einen zweiten Tag der Steuerzahler feiern, weil der Bürger dann an 365 Tagen öffentliche Leistungen bezogen hat – oft kostenlos.
Was bedeutet dies für die Politiker?
Schick: Wir müssen für eine realistische Sicht auf die Dinge werben. Und den Menschen sagen: Es gibt einen Teil des Einkommens, den bekommt man ausgezahlt, weil man persönlich Leistungen erbracht hat. Und einen Teil bekommt man in Form von öffentlichen Gütern, die wir über den Staat nun einmal gemeinsam finanzieren.
Solms: Das ist theoretisch richtig und schön gedacht. Es kommt aber auf die Balance an.
Schick: Nein, das ist die konkrete Entscheidung, vor der unser Land steht: öffentliche Investitionen, von denen alle etwas haben, oder mehr Geld für die reichere Hälfte der Menschen in unserem Land.
Solms: Sie müssen immer die Reaktionen der Bürger beachten. Der Souverän ist der Bürger, nicht der Staat. Wenn er überfordert wird, wehrt er sich. Wir müssen eine Abgaben- und Steuerbalance finden, die der Bürger akzeptiert.
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