Navigationspfad: Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 2010 > 04.07.2010
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 05. Juli 2010)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Die Bundespräsidentenwahl vom vergangenen Mittwoch, bei der der neue Amtsinhaber Christian Wulff als Kandidat von Union und FDP erst im dritten Wahlgang die erforderliche Mehrheit erzielt hatte, war nach Ansicht des Politologen Eckhard Jesse keine Niederlage für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Er teile „die Einschätzung, Frau Merkel habe bei dieser Wahl eine ‚Klatsche‘ erhalten, ganz und gar nicht”, sagte Jesse in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 05. Juli 2010). „Es ging um die Wahl zwischen Gauck und Wulff, es stand nicht Angela Merkel zur Debatte“, fügte er hinzu. Wer Gauck seine Stimme gegeben habe „wollte nicht unbedingt Angela Merkel schaden“.
Auch einen Zusammenhang zwischen der Bundespräsidentenwahl und der Zukunft der schwarz-gelben Koalition sah Jesse nicht. Über das neue Staatsoberhaupt sagte er, Wulff sei „ein Mann, der integrieren kann”. Er könne „mit seiner sympathischen Art und seiner jungen Familie” große Zustimmung gewinnen. „Polarisierung ist seine Sache nicht”, fügte der Chemnitzer Professor hinzu.
Das Interview im Wortlaut:
Professor Jesse, sind Sie überrascht vom Ausgang der Bundespräsidentenwahl?
Jesse: Nein, das bin ich nicht. Ich habe mit einem dritten Wahlgang gerechnet, weil es innerhalb der Koalition ganz offensichtlich gebrodelt hat. Zum ersten Mal standen mit Christian Wulff und Joachim Gauck zwei liberal-konservative Kandidaten zur Wahl. Es wäre ein Pyrrhussieg für Frau Merkel gewesen, wenn alle Delegierten von Union und FDP für Christian Wulff gestimmt hätten.
Das sieht sie vermutlich anders. Auch viele Kommentatoren sprechen von einer Niederlage der Bundeskanzlerin.
Jesse: Ich teile die Einschätzung, Frau Merkel habe bei dieser Wahl eine „Klatsche“ erhalten, ganz und gar nicht. Es ging um die Wahl zwischen Gauck und Wulff, es stand nicht Angela Merkel zur Debatte. Es haben sich einige Wahlmänner offen dazu bekannt, Gauck zu wählen, andere haben das leider nicht getan. Wer Gauck seine Stimme gegeben hatte, wollte nicht unbedingt Angela Merkel schaden. Ich finde es sehr positiv, dass Sigmar Gabriel und andere nach der Wahl nochmals herausgestellt haben, dass es um eine Entscheidung zwischen zwei Personen ging. Ralf Stegner, der SPD-Landeschef in Schleswig-Holstein, hat gesagt, die Koalition sei am Ende – das ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen.
Sie haben schon 1996 in einem Aufsatz „Joachim Gauck for president“ gefordert und jetzt noch kurz vor der Wahl angeregt, Merkel solle ihren Kandidaten Wulff zurückziehen. Warum?
Jesse: Ich halte Joachim Gauck für eine authentische Person, die ein hohes Maß an Integrationsfähigkeit hat. Er hätte eine Aufbruchstimmung erzeugen können, die wir dringend brauchen. Er ist einerseits kein „Parteimensch“, schürt aber andererseits keine Ressentiments gegen unsere Parteiendemokratie. Er ist rhetorisch brillant, hat großes Charisma und, anders als viele in der Politik, ist das Gegenteil eines stromlinienförmigen Menschen. Sein Plädoyer für Freiheit ist vor allem deshalb so glaubwürdig, weil er aus seiner eigenen Biographie heraus weiß, wovon er spricht. Gauck hätte der gemeinsame Kandidat aller vier demokratischen Parteien sein können. 20 Jahre nach der deutschen Einheit hätten wir mit ihm einen Präsidenten gehabt, dem Lagermentalität fremd ist. Dies wäre ein Schritt zur viel beschworenen inneren Einheit gewesen – ein Paukenschlag!
Mehr noch als Wulff scheint Joachim Gauck bei den Menschen im Land auf große Zustimmung zu stoßen. Hätte Angela Merkel darauf nicht reagieren müssen?
Jesse: Es wäre ein Zeichen der Stärke, nicht der Schwäche gewesen, wenn sie diese Stimmung aufgegriffen hätte. Sie hat die Begeisterung für den Kandidaten Gauck massiv unterschätzt. SPD und Grüne hätten sich dann hinter die Bundeskanzlerin stellen müssen, weil sie ja selbst immer wieder hervorgehoben haben, dass es sich um eine Personenwahl gehandelt hat, bei der es allein darum ging, den besseren Kandidaten auszuwählen. Hätte Merkel darauf reagiert, hätte sie einen großen Coup landen können und den Coup von SPD und Grünen „gekontert“. Dennoch muss man auch ganz deutlich sagen: Trotz der großen Begeisterung gerade im Internet sind alle Versuche, Demonstrationen für Gauck auf die Beine zu bringen, gescheitert. Die Begeisterung war überwiegend virtuell, Gauck war für viele eher Projektionsfläche für unerfüllte Sehnsüchte, zum Teil unpolitische.
Hätte die Linke die Chance gehabt, sich mit der Wahl Gaucks von ihrer DDR-Vergangenheit zu distanzieren?
Jesse: Da bin ich gänzlich anderer Auffassung. Es ist rational nicht nachzuvollziehen, dass SPD und Grüne vor der Wahl gesagt haben, es handele sich um eine Wahl zwischen Wulff und Gauck und die Wahlmänner sollten nach ihrem Gewissen handeln, und dann gänzlich anders gehandelt haben. In dem Moment, in dem der dritte Wahlgang erreicht war, marschierten Vertreter von SPD und Grünen zur Linken mit der Botschaft, diese könne sich nun ein für alle Mal von der Vergangenheit lösen und ihre Demokratiefähigkeit beweisen. Das war absurdes Theater. Und hat im Übrigen wohl dazu geführt, dass manche Repräsentanten der Union Wulff ihre Stimme gegeben haben, um sicher zu gehen, dass Gauck nicht von Rot-Rot-Grün gewählt würde – als eine Art Vorbote für ein solches Bündnis.
Wird Christian Wulff nun ein guter oder ein schlechter Bundespräsident?
Jesse: Christian Wulff ist ein Mann, der integrieren kann. Seine Themen Migration und Integration scheinen mir sehr wichtig zu sein; er wird sich dafür engagieren, ohne engherzig parteipolitisch zu denken. Er kann mit seiner sympathischen Art und seiner jungen Familie große Zustimmung gewinnen. Polarisierung ist seine Sache nicht.
Kann ein bis zuletzt aktiver Ministerpräsident auf einmal überparteilich sein?
Jesse: Das hat ein Geschmäckle. Wulff hätte den Mut haben müssen, drei Wochen vor der Bundespräsidentenwahl das Amt des Ministerpräsidenten niederzulegen. Ein Mann wie Wulff wird diese beiden Ämter zwar zu trennen wissen, aber er wird es dadurch in der Wahrnehmung der Bevölkerung zunächst schwer haben.
Die Wahl hat die Bevölkerung stärker als bisherige Bundespräsidentenwahlen bewegt. Spricht das Ihrer Ansicht nach für die alte Forderung, der Bundespräsident solle vom Volk gewählt werden?
Jesse: Eine hohe Zustimmungsrate allein ist kein Argument für diese Überlegung. Die Wahl hat die Menschen deshalb so beschäftigt, weil Horst Köhler so überraschend zurückgetreten ist und Joachim Gauck ein so überraschender Kandidat war. Ein Bundespräsident muss für das ganze Volk da sein und ich denke, von dieser Wahl geht das Signal aus, dass die Parteien die Grenzen der Parteiendemokratie erkannt haben. Reines Parteibuchdenken bei der Wahl des Bundespräsidenten schadet der Demokratie. Der Vorschlag, den Präsidenten einmal für sieben Jahre durch das Volk wählen zu lassen, wäre überlegenswert.
Welche Kandidaten werden wir in Zukunft zu erwarten haben?
Jesse: Während viele davon ausgehen, dass nach dem Rücktritt Horst Köhlers künftig eher „Parteisoldaten“ zum Tragen kommen, glaube ich es gerade umgekehrt: Wir werden bei kommenden Wahlen eher einen Präsidenten vom Typus Köhler erhalten – vom Ende seiner Amtszeit wollen wir nicht reden – als einen Präsidenten vom Typus Wulff.
Horst Köhler hat seinen Rücktritt mit mangelndem Respekt vor dem Amt begründet. Wie viel Respekt muss dem Bundespräsidenten eigentlich entgegengebracht werden?
Jesse: Da der Bundespräsident stilbildend und überparteilich wirken soll, ist es notwendig, dass man ihm Respekt entgegen bringt. Es ist aber in einer offenen demokratischen Gesellschaft selbstverständlich, dass man ihn kritisieren kann – prinzipiell selbst in der Weise, wie es bei Köhler geschehen ist. Man hat in den vergangenen Wochen oft gehört, dass Horst Köhler andere Beweggründe für seinen Rücktritt hatte als genannt Das weiß ich nicht, aber es dürfte vieles dafür sprechen.
Nachdem Angela Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer ihren Kandidaten nun durchgebracht haben, ein Blick in die Zukunft: Hält die Koalition jetzt leichter bis 2013 durch?
Jesse: Ich glaube, wenn die Umfragen so schlecht bleiben, wie sie derzeit sind, ist die Koalition schon allein deswegen gezwungen, durchzuhalten. Frau Merkel hat den schlimmen Fehler gemacht, sechs Monate lang nicht „durchzuregieren“. Sie hatte mit der FDP eine Bundesratsmehrheit, die sie um jeden Preis behalten wollte, und hat daher vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen wichtige Entscheidungen nicht getroffen. Dennoch: Einen Zusammenhang zwischen der Bundespräsidentenwahl und der Zukunft der Koalition sehe ich nicht.
Prof. Eckhard Jesse (61) ist Inhaber des Lehrstuhls für „Politische Systeme, Politische Institutionen“ an der TU Chemnitz
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