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**** NACH § 117 GOBT AUTORISIERTE FASSUNG ****
*** bis 12.35 Uhr ***
Deutscher Bundestag
215. Sitzung
Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Beginn: 9.00 Uhr
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, Sie doch so bald wiederzusehen. Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und b sowie Zusatzpunkt 8 auf:
41. a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11819 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11820 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11821 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Hierzu soll eineinhalb Stunden debattiert werden. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann wollen wir so verfahren.
Der erste Redner in unserer Debatte ist der Kollege Michael Grosse-Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir gestern bis kurz vor Mitternacht debattiert haben, ist es nur angemessen, dass wir heute Morgen mit einem wichtigen Thema beginnen: mit einer Grundlage der Demokratie bzw. der parlamentarischen Daseinsberechtigung, nämlich mit dem Wahlrecht.
Wir behandeln heute die 22. Novelle des Bundeswahlgesetzes, und wir nehmen aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli dieses Jahres zwei Anpassungen beim Verfahren der Sitzverteilung vor. Erstens wird dabei der Effekt des negativen Stimmgewichtes, der bei der Umrechnung von Stimmen in Parlamentssitze zur Verfälschung des Wählerwillens führen kann, in Angriff genommen. Zweitens wird das Thema Überhangmandate urteilsgemäß berücksichtigt. Beides - das finde ich wichtig - werden wir durchführen, ohne die Grundpfeiler unseres deutschen Wahlsystems in irgendeiner Form zu beeinträchtigen. Ich halte das für gut so, weil die Bürger in Deutschland, wie ich glaube, ihrem Wahlrecht vertrauen; sie sind mit der personalisierten Verhältniswahl ein Stück weit vertraut und können auch künftig auf diese Grundlage setzen.
Auch im Ausland gilt unser Modell durchaus als nachahmenswert. Zu den vielen Vorzügen unseres Wahlsystems gehört jedenfalls meiner Einschätzung nach, dass politische Mehrheitsverhältnisse im Parlament adäquat abgebildet sowie stabile Regierungen und ein handlungsfähiges Parlament garantiert werden. Deswegen haben wir daran nichts geändert. Ich glaube, das ist in unser aller Interesse, weil wir hier ein Erfolgsmodell vorweisen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das negative Stimmgewicht kann man intensiv diskutieren; im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gibt es Definitionen dazu. Um es kurz zu sagen: Letztlich geht es darum, dass ein Zugewinn bei den Stimmen am Ende zu weniger Mandaten führen kann. Es ist recht naheliegend, dass das vielleicht nicht das ideale Ergebnis ist. Deswegen ist schon mit der Wahlrechtsnovelle von 2011 die Listenverbindung abgeschafft worden: Durch die Einführung von Ländersitzkontingenten konnten wandernde Sitze, die im alten Wahlrecht noch möglich waren, vermieden werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Lösungsansatz dem Grunde nach bestätigt. Ländersitzkontingente dürfen sich aber nicht, wie in der Novelle von 2011 noch vorgesehen, nach der Wahlbeteiligung in dem jeweiligen Bundesland bestimmen; das entscheidende Kriterium sollte der Bevölkerungsanteil sein, um das negative Stimmgewicht effektiv zu bekämpfen.
Mit der heutigen Novelle setzen wir nun die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes um. Nach dem Kompromissmodell, das wir heute in erster Lesung behandeln, werden die 598 Sitze in einem ersten Schritt auf die Bundesländer verteilt. Ein Bundesland wird dabei künftig so viele Sitze erhalten, wie es Anteil an der deutschen Wohnbevölkerung hat. In einem zweiten Schritt werden diese Sitze dann auf die jeweiligen Landeslisten der Parteien verteilt. Dabei erhält jede Landesliste so viele Sitze, wie ihr nach Zweitstimmen zustehen. So weit zur groben Systembeschreibung.
Zum zweiten Punkt. Eine weitere wichtige Anpassungsmaßnahme betrifft die Überhangmandate. Sie sind die Konsequenz unseres bewährten Wahlsystems mit den zwei Stimmen. Sie garantieren, dass Kandidaten, die einen Wahlkreis direkt gewonnen haben, unabhängig vom Zweitstimmenergebnis tatsächlich ins Parlament einziehen. Angesichts der Arbeit der Kollegen vor Ort ist dies eine durchaus sinnvolle Möglichkeit, deren Arbeit und deren Einsatz vor Ort zu honorieren oder eben zu sanktionieren; das ist der richtige Grundgedanke.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil die Zulässigkeit von Überhangmandaten im Grundsatz bestätigt, aber auf eine gewisse Zahl beschränkt. Wir als einbringende Fraktionen haben intensiv über die Umsetzung dieser Vorgaben beraten. Schließlich haben wir uns darauf verständigt, dass Überhangmandate bestehen bleiben sollen, aber im weiteren Verlauf der Sitzverteilung ein Vollausgleich aller Überhangmandate vorgenommen werden soll. Das bedeutet, dass für jedes anfallende Überhangmandat weitere Ausgleichsmandate an die anderen Parteien vergeben werden. Ziel dieses Verfahrens ist es, dass am Ende der Proporz nach Zweitstimmen wieder vollständig hergestellt ist. Damit setzen wir die zweite Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes um.
Wir standen vor einer großen Aufgabe. Wir hatten auch eine große Verantwortung. Ich bin davon überzeugt, dass die einbringenden Fraktionen nach intensiven Beratungen dieser Verantwortung sehr gerecht geworden sind. Ich glaube fest, dass wir eine verfassungsgemäße Lösung gefunden haben.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es uns gelungen ist, der möglichen Versuchung zu widerstehen, eine radikale Änderung unseres Wahlsystems durchzuführen.
Dazu hätte man sich hinreißen lassen können; aber wir haben es geschafft, auch bei unterschiedlichen Interessenlagen ein Stück weit dem Wunsch des Gerichtes, formuliert durch den Präsidenten, nachzukommen, das neue Wahlrecht auf eine möglichst breite parlamentarische Grundlage zu stellen.
- Herr Wiefelspütz, ich wollte Sie in meiner Rede eigentlich noch positiv erwähnen; das habe ich jetzt gerade gestrichen.
Ungeachtet dieser Tatsache ist die Reihenfolge der Redner angesichts der Bedeutung der Fraktionen nicht zufällig. Infolgedessen glaube ich, dass die CDU ihren großen Anteil daran hat. Wir können uns nun wechselseitig garantieren, dass wir der Verantwortung nachgekommen sind, und aus meiner Sicht völlig zu Recht feststellen, dass wir eine schwierige Aufgabe fraktionsübergreifend gut gelöst haben.
- Das Lob von rot-grüner Seite macht mich nicht nur verlegen, sondern es verwirrt mich auch ein bisschen.
Wir wollen bei dem ganzen Lob nicht vergessen: Ein Wermutstropfen bleibt, nämlich die Tatsache, dass durch dieses Ausgleichssystem eine Vergrößerung unseres Parlamentes nicht auszuschließen ist. Das ist ein Kritikpunkt, den wir aufnehmen müssen. Ich lege allerdings Wert darauf, dass dieser Umstand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes geschuldet ist und gerade auch dem Wunsch, den ich angesprochen habe und der bestätigt worden ist: dass man auf einer breiten interfraktionellen Grundlage eine Entscheidung treffen muss. Da muss man eben Kompromisse machen, man muss abwägen.
Der Kollege Wiefelspütz wird sich, wie mancher andere Kollege, daran erinnern, dass wir schon seit Beginn der 90er-Jahre über die Verkleinerung des Parlamentes beraten, dass wir 1998 beschlossen, eine Verkleinerung durchzuführen, und dass bei der Bundestagswahl 2002 erstmals eine Verkleinerung durchgesetzt wurde. Das als Beleg dafür, dass hier nicht Kolleginnen und Kollegen sitzen, die grundsätzlich nur darauf achten, dass das Parlament vergrößert wird. Dass es zu einer Vergrößerung des Parlamentes kommen kann, ist einer verfassungsgemäßen, bundesverfassungsgerichtlich vorgegebenen Maßgabe geschuldet, insgesamt den Vorgaben nachzukommen und auf breiter parlamentarischer Basis Kompromisse zu schließen. Daraus ergibt sich jetzt die Möglichkeit der Vergrößerung.
Wir sollten aber auch darauf hinweisen, dass diese Vergrößerung nicht allein mit Bezug auf das Jahr 2009 berechnet werden darf. 2009 waren es 24 Überhangmandate, 1990 waren es 6, und bei den Wahlen 2002 fielen insgesamt nur 5 Überhangmandate an. In dieser Debatte darf man nicht übertreiben, auch deshalb nicht, weil wir in Deutschland auch bei dieser maßvollen Erhöhung der Anzahl der Sitze immer noch, gemessen an der Bevölkerung, das zweitkleinste Parlament in Europa haben. Auch nach dem neuen Wahlrecht vertritt ein deutscher Abgeordneter mehr Bürger als zum Beispiel ein französischer oder ein britischer Abgeordneter. Er vertritt mehr Bürger als fast jeder andere Abgeordnete in einem europäischen Land. Wir sind immer noch, was die Größe des Parlaments bezogen auf die Einwohnerzahl angeht, eines der kleinsten Parlamente in Europa.
Dennoch möchte ich aus Sicht der Union darauf hinweisen, dass es auch verschiedene andere Lösungsmodelle gab, zum Beispiel ein Kompensationsmodell. Das hätte zu regionalen Verwerfungen geführt. Der Kollege Krings wird darauf in seinem Wortbeitrag gleich eingehen.
Wir haben Wert darauf gelegt, dass ein Wähler in Kiel nicht irgendwann feststellen muss, dass er jemanden in Konstanz am Bodensee gewählt hat. Ich glaube, es ist sinnvoll, dass man wissen und feststellen kann, dass man dort, wo man gewählt hat, einen Abgeordneten ins Parlament geschickt hat. Das ist, jedenfalls aus meiner Sicht, ein wichtiger Aspekt.
Ich will darauf hinweisen, dass uns nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes viele gesagt haben: Das mit der schnellen Umsetzung im Parlament wird schwierig; da kann man wahrscheinlich gar nicht viel Hoffnung haben; machtpolitische Motive werden wahrscheinlich eine schnelle Einigung verhindern. Es ist nicht so gekommen. Wir haben es geschafft, in intensiven Verhandlungen, die eben nicht von machtpolitischen Motiven dominiert waren, einen überparteilichen Konsens in recht kurzer Zeit hinzubekommen. In nicht einmal sechs Monaten haben sich vier der fünf Fraktionen verständigt.
Die Fraktion Die Linke hat sich bewusst, auf meine Anregung hin, an den Beratungen beteiligt, aber - das muss ich schon sagen - leider nicht konstruktiv. Sie können nicht Idealmodelle vorstellen, gar nicht kompromissbereit sein und sich dann hier hinstellen - ich gehe mal davon aus, dass das gleich so sein wird - und sagen, dass Sie das einzige Modell haben, das nicht zu einer Vergrößerung führt.
Frau Wawzyniak, Sie können damit zwar populär werden,
aber Sie handeln damit nicht verantwortungsbewusst; das sage ich Ihnen.
Sie hätten eine andere Aufgabe gehabt. Es ist leicht, es besser zu wissen, aber schwer, es besser zu machen. Das werden wir wahrscheinlich in Ihrer Rede gleich feststellen.
Ich will zum Schluss sagen: Herzlichen Dank allen Kollegen!
Wir mussten Abstriche machen. Ein noch größerer Dank gebührt aus meiner Sicht den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die noch stärker als wir zu Wahlrechtsexperten wurden. Sie haben uns sehr stark unterstützt. Schließlich danke ich auch den Experten des Bundesinnenministeriums. Was wir denen im Vorfeld und zwischendurch an Arbeit aufgegeben haben, war nicht wenig. Ich bitte, dieses Lob und diesen Dank auszurichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen stellen die unmittelbarste Form politischer Teilhabe des Bürgers in der parlamentarischen Demokratie dar. Wahlen dienen der Ermittlung des Volkswillens, der sich in letzter Hinsicht im Parlament durch unsere Mandate manifestiert. Fragen des Wahlrechts tangieren also fundamentale Elemente unserer Demokratie. Sie müssen mit großer Verantwortung behandelt werden. Ich bin sehr davon überzeugt, dass die einbringenden Fraktionen dieser Verantwortung in sehr vernünftigem Maße gerecht geworden sind.
Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit und hoffe, dass dieses von uns jetzt eingebrachte Wahlrecht nicht nur Akzeptanz beim Bundesverfassungsgericht findet, sondern auch in der breiten Bevölkerung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
Thomas Oppermann (SPD):
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr haben wir hier schon einmal über das richtige Wahlrecht gestritten. Damals gab es vier Gesetzentwürfe, einen der Linken, einen der SPD, einen der Grünen und einen der Koalition. Die weitere Geschichte ist bekannt: Die Koalition hat mit ihrer Mehrheit ihren Gesetzentwurf gegen die Minderheit durchgesetzt.
Wir haben in Karlsruhe geklagt. Das Urteil, der Richterspruch aus Karlsruhe war eindeutig: Das Wahlrecht, wie Sie es verabschiedet haben, ist verfassungswidrig. Die Botschaft aus Karlsruhe, die damit verbunden war, war eindeutig: Wahlrecht darf nicht als Machtrecht missbraucht werden. Das Wahlrecht ist nicht dazu da, nach den Machterhaltungsbedürfnissen der Mehrheit gestaltet zu werden.
Vielmehr ist das Wahlrecht das vornehmste demokratische Recht der Bürgerinnen und Bürger.
Nach unserem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird in Wahlen und Abstimmungen vom Volk ausgeübt. Das bedeutet, dass die Wahlen das Verfahren sind, in dem die Staatsgewalt vom Volke auf das Parlament übertragen wird. Dieses Verfahren muss sehr genau und präzise gestaltet sein. Es muss fair und transparent sein, und es muss verlässlich und berechenbar sein.
- Es muss nicht unbedingt so sein, lieber Kollege Wieland, dass jeder Einzelne die komplexe Mechanik des Wahlrechtes versteht.
Aber er muss sich darauf verlassen können, er muss darauf vertrauen dürfen, dass seine Stimme am Ende die Wirkung hat, die er mit dieser Stimme verbindet.
Am besten ist natürlich ein Wahlrecht, das im Einvernehmen der konkurrierenden Parteien hier im Bundestag verabschiedet wird. Schade, dass sich die Linken diesen Ruck nicht geben konnten.
Sie haben ja auch einen Vorschlag gemacht und könnten sich in diesem Wahlrecht auch wiederfinden.
Ehrlich gesagt, da ist Ihnen der billige Punkt, den Sie jetzt noch machen wollen, wichtiger als der wertvolle Konsens der Demokraten in diesem Hause. Hier verpassen Sie wieder einmal eine Chance; das muss ich ganz ehrlich sagen.
Ihnen hätte ich eigentlich zugetraut, dass Sie diese Chance erkennen; aber Sie haben das leider wieder nicht geschafft.
Ich bin froh, dass wir nach den Irrungen und Wirrungen der Koalition beim Wahlrecht jetzt zu einem gemeinsamen Entwurf von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP kommen. Das ist ein großer Schritt nach vorne.
Das Wahlrecht selber bleibt in seinen Grundzügen natürlich erhalten. Es hat sich seit der ersten Bundestagswahl 1949 bewährt. Es war eine kluge Entscheidung des Parlamentarischen Rates, genau genommen des Ausschusses des Parlamentarischen Rates, der sich mit dem Wahlrecht befasst hat, dieses Wahlrecht, das eine Kombination aus Personal- und Verhältniswahl ist, in Deutschland einzuführen.
Die Union wollte übrigens im Parlamentarischen Rat das Mehrheitswahlrecht durchsetzen. Auch das Mehrheitswahlrecht hat ja Vorzüge.
Es schafft eine enge Bindung zwischen den Wählern und den Gewählten. Es sorgt für eindeutige Mehrheitsverhältnisse. Es hat aber den Nachteil, dass letztlich zu viele Wählerstimmen unter den Tisch fallen. Deshalb hat die SPD zusammen mit den kleinen Parteien im Parlamentarischen Rat dafür gesorgt, dass wir ein Verhältniswahlrecht bekommen, aber kein reines Verhältniswahlrecht, wie wir es in der Weimarer Republik hatten. Dieses hatte bekanntlich dazu geführt, dass die Parteienlandschaft total zersplitterte.
Das hat am Ende den radikalen und extremen Kräften geholfen, sich an die Macht zu putschen.
Deshalb war es eine kluge Entscheidung, die Persönlichkeitswahl, die Direktwahl in den Wahlkreisen zu kombinieren mit der Verhältniswahl, die dafür sorgt, dass sich das ganze Spektrum der Meinungen und Interessen einer Gesellschaft auch im Parlament wiederfindet. Entscheidend für die Zusammensetzung des Parlaments sind die Zweitstimmen. Entscheidend ist, was für ein Parlament die Wähler am Ende haben wollen. Bei der Verhältniswahl haben wir, um der Zersplitterung der Parteienlandschaft entgegenzuwirken, zum Glück die Fünfprozentklausel.
Ich bedaure in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass das Bundesverfassungsgericht die Fünfprozentklausel bei den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt hat. Ich möchte von dieser Stelle aus keine Urteilskritik betreiben; aber mir persönlich fällt es schwer, diese Entscheidung nachzuvollziehen.
Klar ist: Niemand in Deutschland will auf das Zweistimmenwahlrecht verzichten. Dabei wird es bleiben. Aber wir müssen zwei Korrekturen anbringen. Die eine Korrektur ist beim negativen Stimmgewicht notwendig. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Stimmabgabe der Wählerinnen und Wähler den von ihnen gewünschten Effekt haben muss. In bestimmten Konstellationen kann es jedoch vorkommen, dass man der Partei, die man wählt, mit der Stimmabgabe schadet - darum wird vom negativen Stimmgewicht gesprochen - und einer anderen Partei nützt. Das ist eine etwas absurde Konsequenz unseres Wahlrechtes.
Wir schließen das Auftreten des negativen Stimmgewichts aus, indem wir die Wahlgebiete jetzt voneinander trennen. Das heißt, die Wählerstimmen werden nicht mehr verrechnet. So haben wir mit einem handwerklichen Kunstgriff dafür gesorgt, dass das negative Stimmgewicht nicht mehr auftreten kann.
Das zweite große Problem, das wir zu korrigieren hatten, sind die Überhangmandate. Die Überhangmandate sind ein Stachel im Fleisch der durch das Grundgesetz gebotenen Gleichheit der Wahl. Überhangmandate sind sozusagen ein leistungsloser politischer Einfluss für die Parteien, die davon begünstigt werden.
Die Union hatte zuletzt 24 Überhangmandate. Das ist der Gegenwert von 1,6 Millionen Wählerstimmen. Diese Wählerstimmen haben Sie in der Bevölkerung bei den Zweitstimmen nicht bekommen.
- Herr Kauder, ich will doch nur das Ausmaß des Fortschrittes beschreiben, den wir bald gemeinsam realisieren. Da muss ich schon einmal auf diesen Punkt zurückkommen.
- Sich mit Ihnen zu versöhnen, ist nicht immer ganz einfach.
Aber so wenige Tage vor Weihnachten will ich am Ende meiner Rede den Versuch noch einmal machen, Herr Kauder.
Indem wir die Überhangmandate neutralisieren, indem wir sie ausgleichen, kommen wir zu dem korrekten Wahlergebnis. Damit sorgen wir dafür, dass am Ende die Wählerinnen und Wähler darüber bestimmen, wie sich der Bundestag zusammensetzt und wie die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag aussehen, und dass nicht mehr Zufälligkeiten bzw. die Absurdität des jetzigen Wahlrechts die Mehrheiten in diesem Hause festlegen. Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt zu einer gemeinsamen Regelung gekommen sind. Dass die Überhangmandate von jetzt ab keine Rolle mehr spielen werden, ist durchaus historisch zu nennen.
Der Bundestag muss deshalb auch nicht unverhältnismäßig groß werden. Ich habe es ausrechnen lassen: Je mehr Stimmen die SPD bekommt, desto kleiner wird der Bundestag.
Es gibt also vernünftige Anreizstrukturen.
Ich freue mich, dass die nächste Bundestagswahl auf der Grundlage eines verfassungskonformen Wahlrechts durchgeführt werden kann.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich beginne mit der Feststellung: Heute ist ein guter Tag für dieses Land,
weil wir gemeinsam ein Wahlrecht beschlossen haben
- weil wir beschließen werden, Herr Wieland; ich kann es gar nicht abwarten -, weil wir als Demokraten gezeigt haben, dass die Gemeinsamkeiten stärker sind als die Unterschiede. Wir haben, glaube ich, einen guten Kompromiss gefunden.
Wir wollten mehrere Prinzipien unter einen Hut bringen: Erstens. Der Bundestag soll - so der Ausgangspunkt der Überlegungen der Koalition - nicht vergrößert werden. Zweitens. Das negative Stimmgewicht soll abgeschafft werden. Drittens. Es darf keine Verzerrung durch föderalen Proporz geben. Es sollen also proportional nicht mehr Baden-Württemberger, sosehr ich sie schätze, als Brandenburger im Bundestag vertreten sein. Viertens wollten wir uns mit der Frage befassen: Wie halten wir es mit dem subjektiven Wahlrechtsschutz? Das haben wir dann aber separat gemacht.
Diesen Mühen haben sich auch Linke und Grüne unterzogen. Auch sie haben sich für ein Wahlrecht ausgesprochen, durch das eine Vergrößerung des Bundestages verhindert wird.
Lediglich die sozialdemokratische Partei hat von Anfang an nur Modelle auf den Tisch gelegt, die zu einer Vergrößerung des Bundestages führen. Die SPD-Fraktion empfindet das offensichtlich als keinen so gravierenden Nachteil wie die anderen Fraktionen in diesem Hause. Vier Fraktionen also haben sich der Mühe unterzogen, ein Bundestagswahlrecht vorzuschlagen, durch das der Bundestag nicht vergrößert wird. Unsere sozialdemokratischen Kollegen haben die Vergrößerung gleich eingeplant.
Wir haben erlebt, dass Karlsruhe das Bundestagswahlrecht verworfen hat, weil es in Teilen verfassungswidrig war.
- Herr Wiefelspütz, ich wünsche Ihnen, dass Sie von Ihrer Fraktion auch noch Redezeit eingeräumt bekommen.
Wir haben erlebt, dass die Verfassungsrichter im Zusammenhang mit den Überhangmandaten nun die Zahl 15 für zulässig halten. Aus Art. 38 Grundgesetz wurde abgeleitet, dass jetzt 15 Überhangmandate und nicht wie bisher 30 Überhangmandate - dies war die Rechtsprechung von 1997 - zulässig sind.
Wir haben diese Veränderung zur Kenntnis genommen und einen neuen Anlauf für ein gemeinsames Wahlrecht unternommen. Ich finde, das ist relativ gut gelungen.
Was sind die Alternativen? Die Linke schlägt uns heute ein Wahlrecht vor, bei dem der Osten am Ende schlecht wegkommt.
Das verwundert auf den ersten Blick. Als CDU-Abgeordneter braucht man danach in Brandenburg etwa 360 000 Stimmen, um ein Mandat zu erringen, während man in Baden-Württemberg nur etwa 60 000 Stimmen benötigt. Ihnen ist der baden-württembergische Wähler also sechsmal lieber als der brandenburgische. Das verwundert schon ein wenig.
- Herr Wieland, Sie haben dieses Modell auch eine Zeit lang favorisiert.
Diese föderale Verzerrung ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar.
Sie von den Grünen haben uns dann noch vorgeschlagen: Diejenigen Kollegen der CSU, die ihren Wahlkreis in Bayern gewonnen haben, sollten aufgrund der fehlenden Verrechnungsmöglichkeit gleich nach Hause geschickt werden. Am besten solle überhaupt kein Vertreter aus dieser Partei im Bundestag zugelassen werden.
Auch diese Idee, dass jemand, der seinen Wahlkreis direkt gewonnen hat, einfach zu Hause bleiben kann, weil er einem grünen Wahlrechtsmodell zum Opfer gefallen ist, hat uns nicht überzeugt.
Man kann über Überhangmandate unterschiedlicher Auffassung sein.
Ich bin auch der Meinung, dass man eher das Verhältniswahlrecht etwas stärken sollte als die Zahl der Überhangmandate zu groß werden zu lassen.
Allerdings ist Ihre Feindschaft gegen Überhangmandate, lieber Herr Oppermann, doch eher jüngeren Datums.
Man erinnere sich an die Zeit, als Sie mit Ihrem Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Vertrauensfrage zu bestehen hatten. Die haben Sie nur gewonnen, weil Sie seitens der SPD Überhangmandate hatten. Damals spielte die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate keine Rolle; Sie haben sie vielmehr als äußerst legitim dargestellt und für in Ordnung gehalten. Insofern glaube ich, dass sich Ihre sozialdemokratischen Überzeugungen je nach aktueller politischer Befindlichkeit gelegentlich ändern.
Heute debattieren wir in erster Lesung über ein, wie ich finde, gutes Wahlrecht. Wir werden eine Anhörung durchführen und zur Kenntnis nehmen, ob wir einzelne Teile, zum Beispiel in der Begründung, verbessern und vereinfachen und sprachliche Änderungen vornehmen können, um das Ganze etwas verständlicher zu machen.
Den Anhängern eines Einstimmenwahlrechts, die es in der öffentlichen Debatte durchaus auch gibt, sage ich aber noch einmal: Ich kann nicht nachvollziehen, warum ein Wahlrecht, bei dem der Wähler eine Stimme hat, demokratischer sein soll als ein Wahlrecht, bei dem der Wähler zwei Stimmen und damit ein höheres Maß an Einfluss hat.
Von daher bin ich ein ausgesprochen großer Anhänger des Zweistimmenwahlrechts.
Mit der ersten Stimme kann man denjenigen wählen, den man vor Ort schätzt, und mit der Zweitstimme kann man dann die Partei seiner Präferenz wählen.
Herr Wieland, ich hätte auch einen konkreten Vorschlag, wen Sie wählen können. Ich kann Sie nur einladen: Kommen Sie bei uns vorbei. Wir erklären Ihnen das genauer.
- Jeder kann helfen, Herr Wieland.
Wir haben in dieser Legislaturperiode auch beim subjektiven Wahlrechtsschutz etwas erreicht. Auch das haben wir breit diskutiert und gemeinsam vereinbart. Wir werden uns noch dafür einsetzen, dass im Ausland lebende Deutsche auch hier wählen können, wenn sie gewisse Voraussetzungen erfüllen.
Ich finde, das ist eine Fülle von guten Veränderungen. Als Demokraten haben wir gezeigt, dass wir solche Veränderungen durchaus auch im gemeinsamen Gespräch erreichen können - ohne Schärfe gegeneinander und mit guten Ergebnissen.
Dem Wähler draußen kann ich sagen: Das perfekte Wahlrecht wird es nie geben. Jedes Wahlrecht wird gewisse Anomalien haben, weil beispielsweise hinter einem Mandat in Berlin aufgrund geringerer Wahlbeteiligung weniger Wähler stehen als hinter einem Mandat in anderen Gebieten mit höherer Wahlbeteiligung. Wir werden uns also daran gewöhnen müssen, dass es immer kleinere Anomalien im Wahlrecht gibt.
Ich glaube, das bringt die Demokratie nicht ins Wanken. Wenn das bestehende, bewährte Zweistimmenwahlrecht erhalten bleibt, dann haben wir vielmehr einen großen Beitrag zur Stärkung der repräsentativen Demokratie geleistet.
Ich freue mich auf die Anhörung und werde froh sein, wenn wir als Juristen irgendwann weniger als in der Vergangenheit mit mathematischen Dingen konfrontiert werden; denn es ist durchaus auch anstrengend, die jeweiligen Auswirkungen der Veränderungen genau auszurechnen. Ich danke aus allen Fraktionen denen, die daran mitgewirkt haben, allen Mitarbeitern und dem BMI. Ich glaube, wir haben ein gutes Ergebnis gefunden.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über drei Gesetzentwürfe zu zwei Wahlrechtsthemen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe zum Sitzzuteilungsverfahren. Hier geht es um die spannende Frage: Wie werden eigentlich aus den Prozenten Mandate, und was passiert dabei mit den Direktmandaten? Dazu gibt es einen Gesetzentwurf der anderen Fraktionen und einen der Linken.
Darüber hinaus haben wir einen Allparteienantrag zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche vorliegen. Das ist im Übrigen der Beweis: Wenn die Inhalte stimmen, kann man etwas gemeinsam machen. Zum Dank dafür haben Sie Herrn Grindel heute gar nicht hergeholt.
Ich wollte mich nämlich ausdrücklich bei ihm dafür bedanken, dass er den Kauder-Quatsch nicht mitmacht, dass da, wo „CDU/CSU“ draufsteht, nicht auch „Linke“ draufstehen kann.
Jetzt kommen wir zum Gesetzentwurf zum Sitzzuteilungsverfahren. Noch einmal zum Hintergrund: Die Koalitionsmehrheit hatte einen Gesetzentwurf beschlossen. Er ist vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden. Wir haben Ihnen das gleich gesagt. Hätten Sie auf uns gehört, müssten wir diese Debatte jetzt nicht führen.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Bedingungen genannt, die für die Verfassungsmäßigkeit eines Sitzzuteilungsverfahrens vorliegen sollen: Zum einen darf der Effekt des negativen Stimmgewichts nur in vernachlässigbarem Umfang auftreten. Zum anderen dürfen Überhangmandate nur in einem Umfang auftreten, mit dem der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufgehoben wird. Noch einmal: Negatives Stimmgewicht bedeutet, mehr Stimmen führen zu weniger Sitzen und umgekehrt. Überhangmandate sind die Mandate, die entstehen, wenn man mehr Direktmandate gewinnt, als einer Partei nach Zweitstimmen zustehen.
Jetzt haben Sie alle - außer uns - einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorgelegt. Wenn ich diesen detailliert beschreiben müsste, bräuchte ich erstens diese wunderbare Anzeigetafel für eine Powerpoint-Präsentation, und zweitens wären dann meine elf Minuten Redezeit sehr schnell vorbei.
Die Kurzfassung lautet wie folgt: Die auf ein Bundesland anfallenden Mandate sind abhängig von der Bevölkerungszahl. Dabei fallen pro Bundesland doppelt so viele Mandate an wie Wahlkreise. Innerhalb der Bundesländer erfolgt die Verteilung an die Parteien mittels der Methode, dass in den Ländern die pro Landesliste erzielte Zahl der Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor geteilt wird. Von der Anzahl der Mandate werden dann die Direktmandate abgezogen.
Soweit in einzelnen Landeslisten mehr Direktmandate als Listenmandate vorhanden sind, wird die Zahl der Bundestagssitze erhöht. Die so erhöhte Gesamtzahl wird dann entsprechend der Zweitstimmen an die Parteien verteilt. Dazu wird die Anzahl der Zweitstimmen der Parteien durch einen Parteiendivisor geteilt. Klingt kompliziert, ist kompliziert! Man kann es sehr verkürzt sagen: Die Anzahl der Mandate wird erst auf die Bundesländer umgerechnet und dann auf die Parteien.
Nun ist es so, dass das Bundesministerium des Innern Berechnungen angestellt hat und deshalb sagt: Dieses Modell hätte seit 1994 immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der Bundestagssitze geführt. In der Begründung des Gesetzentwurfs selbst steht:
Eine Vergrößerung der Zahl der zu vergebenden Sitze kann … auch dann nötig werden, wenn keine Partei Überhangmandate erzielt hat ...
Wahlrecht.de kommt zu dem Ergebnis, dass es faktisch immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der Bundestagssitze kommt, obwohl der Bundestag entschieden hat, ab der Bundestagswahl 2002 nicht mehr aus 656 Abgeordneten zu bestehen, sondern aus 598 Abgeordneten.
Jetzt kommen wir einmal zum regionalen Proporz. Der Bundeswahlleiter hat eine Berechnung auf Basis des Wahlergebnisses von 2009 gemacht. Jetzt wird es für die SPD in Mecklenburg-Vorpommern interessant. Bei 598 Sitzen erhielte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern drei Sitze, bei 671 Sitzen erhielte sie zwei Sitze. Ich würde mich bei meinen Genossen bedanken.
Für die CDU in Sachsen-Anhalt sieht es nicht viel besser aus. Bei 598 Sitzen bekäme die CDU in Sachsen-Anhalt sechs Sitze, bei 671 Sitzen bekäme sie noch fünf Sitze. Auch da würde ich mich herzlich bedanken. - Fakt ist: Auch in Ihrem Gesetzentwurf wird der regionale Proporz nicht wirklich hergestellt. Man kann ein solches Gesetz machen, muss es aber nicht.
Der Hammer ist, dass in Ihrem Gesetzentwurf nicht einmal der Punkt „Alternativen“ vorkommt, so, als gäbe es überhaupt keine Alternativen. Ich sage Ihnen: Weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir das Zuteilungsmodell ab. Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, wäre eine zahlenmäßige Vergrößerung des Parlaments hinzunehmen.
Die verfassungsgemäße Alternative ist der Gesetzentwurf der Linken. Wir hatten den Vorschlag schon einmal in einem umfangreicheren Antrag eingebracht. Wir weisen in unserem Gesetzentwurf selbstverständlich darauf hin, dass es auch andere Modelle gibt. Die Linke hat hier mindestens einen Seriositätsvorsprung.
Die vorgelegte Alternative ist in jedem Fall verfassungsgemäß. Ich zitiere aus der Anhörung im Innenausschuss am 5. September 2011. Der Sachverständige Strohmeier sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt komplett die Verfassungswidrigkeit im Bundeswahlgesetz. Der Sachverständige Pukelsheim sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt das negative Stimmgewicht. Der Sachverständige Grzeszick sagte: Das absolute negative Stimmgewicht wird durch den Gesetzentwurf der Linken vermieden. Der Sachverständige Schorkopf sagte: Der Entwurf hat den Vorteil, dass er das absolute negative Stimmgewicht beseitigt.
Was schlagen wir eigentlich vor? Wir schlagen vor, zu errechnen, wie viele Mandate sich bundesweit für eine Partei ergeben. Davon werden die auf eine Partei bundesweit entfallenden Direktmandate abgezogen. Entstehen ausnahmsweise Überhangmandate, wird ausgeglichen, bis das Zweitstimmenergebnis wiederhergestellt wird. Sehr verkürzt kann man sagen: erst die Verteilung der Mandate an eine Partei, dann an die Bundesländer.
Ein ähnliches Modell ist das Modell Pukelsheim III. Beide Modelle - unser Modell und Pukelsheim III - hätten seit 1994 lediglich im Jahr 2009 zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages geführt.
Jetzt kann man sich fragen, warum wir ein Modell vorschlagen, nach dem die Mandate zuerst an die Partei und erst dann an die Länder verteilt werden, statt wie Sie alle ein Modell, das erst die Mandate an die Bundesländer und dann an die Partei verteilt. Ganz einfach: Es heißt Bundestagswahl, weil eine Bundespartei gewählt wird. Es ist eben keine verbundene Wahl von Landesparteien zur Bildung eines Bundestages.
Zum Einwand, der regionale Proporz würde in unserem Gesetzentwurf nicht ausreichend berücksichtigt: Er wird in der Tat nicht vollständig hergestellt, aber das ist in Ihrem Gesetzentwurf auch nicht der Fall. Ich verweise auf die Beispiele der CDU in Sachsen-Anhalt und der SPD in Mecklenburg-Vorpommern.
Unser Gesetzentwurf hat aber Vorteile. Es gibt kein negatives Stimmgewicht. Das Problem der Überhangmandate wird gelöst, und es kommt nicht zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Das sind drei Vorteile auf einmal. Das gibt es tatsächlich - bei der Linken.
Diese drei Vorteile überwiegen den Nachteil, dass es nicht zu einem hundertprozentigen Ausgleich des regionalen Proporzes kommt. Solange wir am Zweistimmenwahlrecht festhalten, wird es nie möglich sein, alle vier Prinzipien zu 100 Prozent zu erfüllen. Deswegen muss man eine Abwägung vornehmen. Wir sagen: Unser Gesetzentwurf hat drei Vorteile und erfüllt alle Kriterien des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb bitten wir, ihm zuzustimmen.
Es ist bereits auf die Allparteiengespräche hingewiesen worden. SPD und Grüne haben ursprünglich das Modell Pukelsheim III präferiert. Das Modell ähnelt unserem, sieht aber zugunsten des regionalen Proporzes vor, als Mindestmandatszahl die Zahl der Direktmandate um 10 Prozent zu erhöhen. Wir waren bereit, uns auf dieses Modell einzulassen. Wir sind im Übrigen immer noch dazu bereit, uns darauf einzulassen.
- Das heißt, wenn Sie und die Grünen zu dem Modell zurückkehren, dann sind wir gerne bereit, das weiter mitzutragen. Aber Sie wollten sich unbedingt ganz schnell mit Union und FDP einigen. Wir stehen bereit, Pukelsheim III gemeinsam mit Ihnen zu verabschieden.
Ich wiederhole: Weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir Ihr Modell ab. Denn es führt zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, müsste selbstverständlich die zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestages hingenommen werden.
- Na klar, Herr Wiefelspütz, Sie dürfen immer.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie wollen eine Zwischenfrage zulassen. Dann halte ich die Redezeit an. - Bitte schön, Herr Wiefelspütz.
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Verehrte Frau Kollegin Wawzyniak! Sie haben - ich hoffe, es schadet Ihnen nicht, wenn ich das jetzt sage - sich sehr seriös an den Beratungen des neuen Wahlrechtes beteiligt. Es ist kurz vor Weihnachten.
Man kann das Wahlrecht sehr unterschiedlich gestalten. Ich halte das Modell, das Sie vorschlagen, für verfassungskonform. Halten Sie denn das, was voraussichtlich mit großer Mehrheit vom Deutschen Bundestag verabschiedet wird - ich greife den Beratungen etwas voraus -, für verfassungsgemäß, oder ist das, was der Bundestag beschließen wird, aus Ihrer Sicht verfassungswidrig?
Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Herr Wiefelspütz, ich kann Ihre Frage kurz beantworten: Ich werde meiner Fraktion nicht empfehlen, gegen dieses Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Zu dem Gesetzentwurf bezüglich der Auslandsdeutschen. Eine neue Regelung ist nötig, weil das Bundesverfassungsgericht die geltende Regelung als verfassungswidrig ansieht. Wir alle haben die Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - trotz des Kauder-Unsinns, dass der Name der Linken nicht auf einer gemeinsamen Vorlage stehen darf -
gemeinsam umgesetzt.
Wir hätten uns sehr gewünscht, dass in diesem Zusammenhang auch das Wahlrecht für Menschen, die seit mindestens fünf Jahren hier in Deutschland leben und trotzdem nicht wählen dürfen, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen, geklärt worden wäre. Das war nicht möglich. Aber seien Sie sicher: Eine kraftvolle Linke-Fraktion wird das in den nächsten Bundestag erneut einbringen.
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich Ihnen sagen, dass wir aus meiner Sicht noch zwei Probleme zu klären haben. Das eine ist - hier befinden wir uns in Gesprächen - die Prozenthürde bei der Europawahl. Das andere ist das Wahlrecht für Menschen, die unter Vollbetreuung stehen. Ich weiß, dass das in allen Fraktionen umstritten ist. Wir sollten darüber seriös diskutieren. Ich freue mich auf die Anhörung. Vielleicht gibt es doch die Möglichkeit, sich wenigstens auf Pukelsheim III zu einigen. Dann muss ich nicht wiederholen: Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, die nicht zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestags führt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Weihnachten,
und es gibt einen Gesetzentwurf, den immerhin vier Fraktionen gemeinsam eingebracht haben. Bedauerlich ist, dass es nicht möglich war, die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses vom Mittwoch in der heutigen Tagesordnung des Deutschen Bundestags zu berücksichtigen.
Hier blockiert die Koalition die Einigung. Die Bürger wissen nicht, welches Steuerrecht am 1. Januar 2013 gilt. Das ist unnötig.
Aber Sie sind so durcheinander aufgestellt und auf andere Themen konzentriert, dass Sie nicht in der Lage sind, mit uns gemeinsam zu entscheiden.
Zurück zum Thema. Was uns vorliegt, ist ein Kompromiss. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt - die Union hat schließlich auch mitgemacht -, dass die Linke an den Wahlrechtsgesprächen beteiligt wird. Für mich ist das eine demokratische Selbstverständlichkeit, für andere leider nicht. Ich finde aber, dass Sie Ihrem Anliegen, stärker an interfraktionellen Gesprächen beteiligt zu werden, mit Ihrem Ausstieg aus den Verhandlungen nicht wirklich einen guten Dienst geleistet haben.
Ich habe große Sympathien für den inhaltlichen Ansatz Ihres Gesetzentwurfs. Aber es gab nun einmal verschiedene Interessen in diesem Hause. Die Koalition hatte andere Modelle favorisiert - quasi einen Aufschlag von 50 Abgeordneten auf die Gesamtzahl und dann Verteilung -,
in der Hoffnung, dass das gerade einmal so reicht und es nicht zu mehr als 15 Überhangmandaten kommt. Das hätte ein großes verfassungsrechtliches Risiko zur Folge gehabt, entsprach aber dem Anliegen der Koalition, die eigenen Überhangmandate zu behalten, in der Hoffnung, trotz einer Minderheit bei den Stimmen die Mehrheit der Sitze im nächsten Deutschen Bundestag zu bekommen.
Ein Kompromiss ist - das habe ich während Ihrer Rede bei Wikipedia nachgeschlagen -
„die Lösung eines Konflikts durch gegenseitige freiwillige Übereinkunft unter beiderseitigem Verzicht auf Teile der jeweils gestellten Forderungen.“
Wir haben - im Gegensatz zu Ihnen - in der letzten Wahlrechtsdebatte einen Gesetzentwurf eingebracht, der keine Vergrößerung des Bundestags zur Folge gehabt hätte. Wir hatten noch Pukelsheim III favorisiert. Aber das war mit der Koalition nicht zu machen. So haben wir dem Kompromiss zugestimmt, was uns nicht leichtgefallen ist.
Wir dürfen aber die eigentliche Frage nicht aus den Augen verlieren: Was ist das Ziel dieser Wahlrechtsreform?
- Wir haben ein politisches Ziel. Es geht nicht um Haltungsnoten, Frau Kollegin, auch nicht um Unterwerfung oder um Besiegen des anderen. Vielmehr geht es darum, dass wir den Charakter des Wahlrechts erhalten und ihm gerecht werden.
Da ist das Ziel, dass der Wählerwille unverfälscht in den Stärkeverhältnissen des Deutschen Bundestags zum Ausdruck kommt;
denn das Wahlrecht hat diese Funktion, und die dürfen wir nicht beschädigen. Wir haben gesagt: Wenn wir dieses Ziel erreichen, sind wir bereit, mit den anderen Fraktionen über den Weg dorthin zu reden und den aus unserer Sicht zweit- oder auch nur drittbesten Vorschlag zu akzeptieren. Wir haben hier nicht die Mehrheit und können unseren Vorschlag nicht einfach durchsetzen. Deshalb muss man sich aufeinander zubewegen. Ich finde es grundsätzlich richtig, egal ob man die Mehrheit hat oder nicht, im Wahlrecht einen breiten Ansatz zu verfolgen, der von möglichst vielen Fraktionen getragen wird.
Die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien sind durch den vorgeschlagenen Entwurf gewährleistet. Ich würde sagen: Einen Schönheitspreis für normenklare Formulierung werden wir mit diesem Gesetzentwurf sicher nicht gewinnen.
Man muss den Text mindestens zweimal oder dreimal lesen, um ihn wenigstens im Ansatz zu verstehen. Wir werden deshalb im Ausschuss einen verbesserten Formulierungsvorschlag zur Diskussion stellen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht bei seinem letzten Wahlrechtsurteil es schon aufgegeben hat, uns zu ermahnen, einen verständlichen Gesetzestext zu formulieren - im vorletzten Urteil hat es uns das noch mitgegeben -: Wir sollten ein verständliches Wahlrecht formulieren.
Dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe - Herr Ruppert, Herr van Essen, Sie lachen selbst - werden wir nicht hundertprozentig gerecht, um es einmal freundlich auszudrücken. Ich würde sagen: Man kann es einfach nicht verstehen. Das verstehen noch nicht einmal alle Juristen. Es verstehen einige Wahlrechtsexperten, und am Ende versteht es hoffentlich wenigstens der Bundeswahlleiter; denn er soll das Gesetz anwenden.
Für den Vorschlag, den wir machen, zahlen wir einen hohen Preis. Das muss man ganz offen bekennen. Er kann zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Deutschen Bundestages führen, die der Arbeitsfähigkeit des Hauses nicht förderlich ist und die Mehrkosten verursacht. Wenn wir diesen Weg gehen, müssen wir uns deshalb meines Erachtens bei der zweiten und dritten Lesung verpflichten, dass wir in der nächsten Wahlperiode im Lichte des Wahlergebnisses daran arbeiten, dass nach Möglichkeit schon die Entstehung von Direktmandaten verhindert wird, damit ein Ausgleich von vorneherein entfällt.
Das kann man mit verschiedenen Methoden erreichen. Man kann das durch eine Wahlkreisreform mit dem Ziel der Verringerung der Zahl der Wahlkreise erreichen, man kann es auch mit dem Vorschlag von mehr Demokratie erreichen, der Mehrpersonenwahlkreise durch Zusammenlegung mehrerer Wahlkreise bildet.
Darüber sollten wir im nächsten Deutschen Bundestag in Ruhe diskutieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürfen wir in diese Mechanismen gar nicht mehr eingreifen, weil Kandidatenaufstellungen auf Grundlage der Teile des Wahlrechts, die nicht verfassungswidrig sind, bereits stattgefunden haben.
Wir sollten in den Ausschussberatungen für den Bericht auch deutlich sagen, welche Alternativen insgesamt auf dem Tisch lagen: unser alter Gesetzentwurf, der Gesetzentwurf der Linken, Pukelsheim III, Ihr Modell, um 50 Sitze zu erhöhen. Wir sollten auch deutlich machen, worin die jeweiligen Vor- und Nachteile bestehen.
Die Modelle, die in puncto Verhältniswahlrecht optimal sind - ohne zahlenmäßige Vergrößerung des Parlaments -, haben den Nachteil einer regionalen Proporzverzerrung, den Sie nicht in Kauf nehmen wollten. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass der regionale Proporz ein verfassungsrechtlich legitimes Interesse des Gesetzgebers ist, aber es verfassungsrechtlich nicht erforderlich ist, dass man ihm gerecht wird. Man kann ihm aber Rechnung tragen, wobei man allerdings einen Preis dafür zu zahlen hat. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf. Ich denke, der Gesetzentwurf ist ein anständiger Kompromiss. Er hat auch die Schwächen eines Kompromisses, sodass jeder ein bisschen unzufrieden und ein bisschen zufrieden ist.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Günter Krings das Wort.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vier Fraktionen des Deutschen Bundestages legen dem Haus heute einen guten und ausgewogenen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor. Das Voraburteil, dass dieser Gesetzentwurf gut und ausgewogen ist, will ich mit vier Zielen untermauern, die durch Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs erreicht werden, sie sind für ein gutes Wahlrecht entscheidend:
Erstens. Durch seine Verabschiedung wird sich eine weitestgehende Beseitigung des negativen Stimmgewichts ergeben. Ich formuliere das bewusst etwas vorsichtig, weil es so weit beseitigt wird, wie das Verfassungsgericht es verlangt.
Zweitens. Damit verbunden ist eine Beseitigung der Überhangmandate in ihrer Wirkung, natürlich nicht eine Beseitigung der Mandate selber.
Drittens. Damit verbunden ist auch - das ist ebenso wichtig - die Vermeidung einer extremen Ungleichverteilung von Bundestagsmandaten innerhalb von Deutschland. Der Kollege Ruppert hat hier bereits sehr eindrucksvolle Zahlen vorgelegt. Es darf natürlich nicht sein, dass das Gewicht einer Wählerstimme für eine Partei in einem Bundesland fünf- oder sechsmal größer ist als in einem anderen Bundesland. Auch das vermeiden wir.
Viertens. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine grundlegende Abkehr vom Prinzip der personalisierten Verhältniswahl verbunden. Jeder Bundesbürger behält zwei Stimmen. Er kann einmal eine Parteiliste und einmal einen Direktkandidaten wählen. Das ist ein bewährtes und gutes System.
Wenn man diese Ziele diskutiert, dann muss man gar nicht alle Verästelungen des Wahlrechts verstehen oder erklären können. Die Erreichung dieser Ziele stößt auf eine ganz hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, also außerhalb unseres Hauses.
Es ist richtig: Kein Wahlgesetz ist alternativlos. Auch dieser Gesetzentwurf ist natürlich nicht ohne Alternative. Das beweist schon der Umstand, dass im vergangenen Jahr vier verschiedene Modelle in den Deutschen Bundestag eingebracht und dort diskutiert worden sind. Es gab neben dem Entwurf der Koalition auch drei Entwürfe aus der Opposition. Keiner dieser vier Gesetzentwürfe hat aber alle die vier eben genannten Kriterien erfüllt. Keiner dieser vier Gesetzentwürfe war also geeignet, alle diese vier Ziele zu erreichen. Hält man die Erreichung der vier genannten Ziele für notwendig, dann bleibt keine andere Lösung übrig, dann muss man den Weg, den wir mit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf gegangen sind, gehen.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns keine Abkehr von unserem bewährten Wahlrechtsystem empfohlen. Das Gericht wusste natürlich, dass es uns mit der neuen, der deutlich strengeren Rechtsprechung aus diesem Jahr zu den Überhangmandaten realistischerweise nur den Weg zu unserem jetzigen Vorschlag eines Ausgleichs von Überhangmandaten weisen konnte.
Insbesondere war klar, dass die Forderung des Gerichts, unter anderem vom Gerichtspräsidenten artikuliert, dass ein neuer Gesetzentwurf in einem fraktionsübergreifenden Konsens entwickelt werden sollte, nur im Wege eines solchen vollen Ausgleichs zu erfüllen ist. Meine Damen und Herren, man darf hier und heute also mit vollem Recht sagen, dass bei diesem Gesetzentwurf nicht nur vier Fraktionen Pate gestanden haben, sondern dass auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bei diesem Gesetzentwurf Pate gestanden hat.
Ich mache auch keinen Hehl aus Folgendem: Wenn wir, wie es auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts fordern, dauerhaft sicherstellen wollen, dass grundlegende Änderungen im Wahlrecht nur in einem fraktionsübergreifenden Konsens hergestellt, also mit großen Mehrheiten beschlossen werden sollen, dann ist es schon sinnvoll, die Grundzüge des Wahlsystems in der Verfassung, im Grundgesetz, zu verankern. Das liegt durchaus in der Logik der Hinweise aus Karlsruhe. Dem gerecht zu werden, war uns in der Kürze der Zeit nicht möglich. Ich bin der Auffassung, dass wir uns das durchaus als Projekt für die nächste Wahlperiode vornehmen sollten.
Natürlich ist die Lösung eines Vollausgleiches von Überhangmandaten - darauf ist hingewiesen worden - mit einer bitteren Pille verbunden, nämlich mit der möglichen zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Ich sage das auch als Redner der einzigen Fraktion in diesem Hause, die von diesem Ausgleich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht profitieren wird. Unsere Mandatszahl wird, wenn man Berechnungen nach dem geplanten Wahlrecht auf der Grundlage der alten Wahlergebnisse oder aber auch Wahlprognosen zugrunde legt, eben nicht steigen. Alle anderen Fraktionen profitieren von dem Ausgleich. Ich weise aber noch einmal darauf hin: Wir haben als einzige Fraktion dieses Hauses keinen, jedenfalls keinen signifikanten Anteil an dieser Vergrößerung.
Ich habe natürlich großes Verständnis für die Kritik an der Konsequenz einer möglichen zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Ich habe aber kein Verständnis für Kritiker, die zwar die vier eingangs benannten Ziele als richtig und wichtig ansehen, aber die aus dem System des Ausgleichs folgende Konsequenz nicht akzeptieren wollen. Man kann über das richtige Wahlrecht politisch streiten. Man kann aber nicht über die Regeln der Logik streiten. Die Logik zeichnet genau dieses Ergebnis vor.
Für mich wird daher am Ende der Wahlrechtsdebatte sehr deutlich, dass zu Beginn dieser Debatte vor wenigen Jahren einige Kritiker, des alten Koalitionsentwurfs zumal, ihre Angriffe nicht wirklich zu Ende gedacht haben. Ich erwarte daher von jedem Kritiker, egal ob hier im Haus oder außerhalb des Hauses, dass er klipp und klar sagt, welches der konsentierten Ziele des Wahlsystems er opfern möchte. Gehen wir das also noch einmal kurz durch:
Erster Punkt. Beseitigung des negativen Stimmgewichts. Wer das nicht will und so vielleicht eine Vergrößerung verhindern will, handelt nach beiden Urteilen aus Karlsruhe klar verfassungswidrig.
Zweite Möglichkeit. Man könnte eine Vergrößerung verhindern, indem man Überhangmandate nicht ausgleicht. Jedenfalls ab der interessanten Grenze von 15 Überhangmandaten wäre das klar verfassungswidrig. Eine solche Lösung, 15 Überhangmandate bestehen zu lassen und nicht auszugleichen, wäre mit den Oppositionsfraktionen nicht machbar gewesen. Der Konsens wäre dann aufgegeben.
Dritte Möglichkeit. Wir nehmen föderale Ungerechtigkeiten in Kauf, das war der Ansatz der Linken, und zwar nicht irgendwelche föderalen Ungerechtigkeiten, sondern bizarre Verzerrungen der Vertretung von Abgeordneten im Deutschen Bundestag aus den einzelnen Bundesländern. Möglich wäre dann etwa, dass eine Partei in einem Bundesland 20 bis 30 Prozent der Zweitstimmen bekommt, aber keinen einzigen Abgeordneten aus diesem Bundesland im Deutschen Bundestag hat.
Nach einem Gesetzentwurf, der im Bundestag eingebracht wurde, würde es sogar möglich sein, dass direkt gewählte Abgeordnete, die als Wahlkreissieger aus einer Bundestagswahl hervorgegangen sind, in bestimmten Fällen ihr Mandat nicht antreten können.
Meine Damen und Herren, darüber kann man aus Ihrer Sicht offenbar sprechen. Ich finde, das wäre das stärkste Gift für die Akzeptanz des Wahlrechts und für die Akzeptanz unserer Demokratie. Es ist gut, dass wir das gemeinsam verhindert haben.
Die vierte Option. Man könnte als Kritiker natürlich sagen: Wir wollen etwas ganz anderes. Wir wollen ein ganz anderes Wahlrecht, also beispielsweise ein reines Verhältniswahlrecht. Damit liebäugeln vielleicht die einen oder anderen auf der linken Seite des Hauses, jedenfalls auch, so haben wir gehört, ein paar Wissenschaftler. Ich frage nur: Wo bleibt bei einem reinen Verhältniswahlrecht in einem 80-Millionen-Volk die Anbindung zwischen Bundestagsabgeordnetem und Volk? Das mag vielleicht in einem kleinen überschaubaren Land gehen, aber nicht in einem Land unserer Größenordnung. Der Vorwurf, wir säßen hier im Raumschiff Berlin und hätten den Blick für die Probleme verloren, hätte wahrscheinlich erstmals seine Berechtigung, wenn wir eine reine Verhältniswahl mit Listen von mehreren Hundert Kandidaten hätten.
Natürlich könnte man auch ein reines Mehrheitswahlrecht einführen. Damit würde man das Problem auch beseitigen. Die Union sähe das gelassen. Das hieße nach aktuellen Prognosen, dass wir knapp 60 Prozent der Mandate im Deutschen Bundestag bekommen würden. Das ist eine komfortable, solide Mehrheit. Aber es wäre kein faires Wahlrecht, weil es kleine Parteien und deren Interessen nicht berücksichtigen würde. Dass wir das nicht wollen, beweist, dass wir nicht unsere eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen, sondern die Interessen aller Parteien, dass wir eben einen echten Interessenausgleich wollen.
Um eine mögliche zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestags in Grenzen zu halten, wäre die Union natürlich auch bereit gewesen, die vom Verfassungsgericht gesetzte Grenze von 15 Überhangmandaten anzunehmen, auch wenn sie wenig erklärbar erscheint, und erst ab dem 16. Überhangmandat auszugleichen, so schwierig das sein mag. Aber wir haben akzeptiert, dass das für die Opposition kein gangbarer Weg ist. Von daher haben wir auch akzeptiert, dass die mögliche zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestags etwas stärker ausfallen könnte.
Auch unser Koalitionsentwurf aus dem letzten Jahr war von dem Ziel getragen, dass der Bundestag nicht oder allenfalls um ganz wenige Sitze vergrößert wird. Das war der berühmte mikroinvasive Eingriff in das bewährte Wahlrecht, eben nur durch den Grundsatz der Listentrennung. Ich will ausdrücklich zugestehen: Auch die Entwürfe von Grünen und Linken zeugten von dem Bemühen, eine Vergrößerung zu vermeiden, aber eben unter Inkaufnahme von wirklich grotesken Nachteilen in regionaler und föderaler Hinsicht,
die in einem demokratischen Wahlrecht nicht akzeptabel sind.
Das Verfassungsgericht hat grundsätzlich bestätigt, dass auch unser Ansatz vom letzten Jahr eine Lösung für das Problem des negativen Stimmgewichts bedeutet hätte.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Krings, Frau Wawzyniak würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Geht das?
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Ja, gern. Das soll sie tun.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Herr Krings, ich würde Sie einfach nur gern fragen wollen, was Sie Ihren Mitgliedern - „Mitglieder“ heißt das bei Ihnen - in Sachsen-Anhalt sagen.
Ich habe vorhin ausgeführt: 598 Sitze - 6 Mandate. Nach der Vergrößerung: 671 Sitze - 5 Mandate. Wie erklären Sie Ihren Mitgliedern in Sachsen-Anhalt, dass sie nach Ihrer Reform am Ende ein Mandat verlieren?
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Ich kann die Zahlen ausdrücklich nicht bestätigen. Ich weiß nicht, woher diese so exakten Berechnungen kommen. Es mag bestimmte Fallkonstellationen geben, bei denen sich die Mandatszahl durch Rundung um ein Mandat nach oben oder unten verändern kann. Und ich erinnere mich genau, dass Zahlen - auch die vom BMI vorgelegten - von Ihnen immer kritisiert werden. Es würde mich deshalb sehr wundern, wenn Sie jetzt mit solchen Zahlen operieren. Die Linken sind aber auch dafür bekannt, dass Sie Positionen und Begründungen austauschen. Das will ich Ihnen ausdrücklich zugestehen.
Aber entscheidend ist doch, dass wir heute schon durch die Existenz von Überhangmandaten eine gewisse unvermeidbare föderale Verzerrung haben. Die Vorschläge Ihrer Fraktion - ursprünglich auch der Grünen; auch die SPD fand sie ganz sympathisch - hätten diese föderalen Verzerrungen deutlich verschlimmert. Die Situation, die wir durch Überhangmandate systembedingt hinnehmen müssen, wäre dann deutlich verschlimmert worden, indem dann nämlich ein Bundesland nicht nur nicht in den Genuss von Überhangmandaten kommt, sondern auch noch zusätzlich den Preis für Überhangmandate in anderen Ländern hätte zahlen müssen. Also: Sie hätten eine ohnehin im System angelegte föderale Ungerechtigkeit potenziert. Genau das haben wir vermieden. Genau das zeichnet die Qualität des Gesetzentwurfes aus.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat bereits im letzten Jahr einen Entwurf vorgelegt, der - nach Aussage des Verfassungsgerichts - das Problem des negativen Stimmgewichts gelöst hätte. Allerdings hat das Verfassungsgericht, das wissen wir, im laufenden Spiel die Tore verschoben. Die jüngste Entscheidung, die uns zu diesem Wahlrecht gebracht hat, war in der Begründung in mancher Hinsicht schon bemerkenswert. Ich will einen einzigen Satz aus der Entscheidung zitieren. Als man feststellte, man dürfe nur noch 15 Überhangmandate ausgleichslos zulassen, sagte der Senat - Zitat, Randziffer 144 -:
Der Senat ist sich bewusst, das die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann.
Ich hoffe, dass ich im Namen des ganzen Hauses sagen kann: Ein solcher Verzicht auf Begründungen sollte im Verfassungsgericht keine Schule machen.
Als Gesetzgeber haben wir aus Karlsruhe immer stärkere Anforderungen in Bezug auf die Rationalität bei der Gesetzesbegründung zu berücksichtigen. Ich nenne die Hartz-IV-Regelsätze. Ich nenne die Pendlerpauschale und andere Dinge, bei denen uns ins Stammbuch geschrieben worden ist, dass wir sie rationaler begründen müssen. Ich fände es schön, wenn auch künftig, was bisher immer der Fall war, auch das Gericht selbst sich wieder dieser Regel unterwirft. Sie gilt für den Gesetzgeber, gilt aber auch für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Insgesamt, Frau Präsidentin, bin ich der Auffassung, dass wir einen guten und ausgewogenen Entwurf haben, dass wir die Qualität des Bundestages nicht nur an seiner Größe messen dürfen.
Ich glaube, dass wir immer noch selbstbewusst sagen können: Gemessen an der Bevölkerungszahl werden wir das zweitkleinste Parlament in der Europäischen Union bleiben. Aus dem Grunde bin ich gespannt auf die Beratungen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Ich komme zum Ende. - Wir werden in den Beratungen mögliche Verfeinerungen noch einmal diskutieren. Im Kern haben wir einen guten Entwurf dank der guten Mithilfe des Bundesinnenministeriums. Dafür vielen Dank!
Für die Geduld der Präsidentin bedanke ich mich auch.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich habe gar keine Geduld. Das verstehen Sie ganz falsch.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz.
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wahlrecht ist Wettbewerbsrecht in der Demokratie und deshalb von überragender Bedeutung. Unser Wahlrecht hat der Sache nach Verfassungsrang. Auch wenn wir heute wichtige Änderungen besprechen, will ich doch hervorheben, dass wir mit unserem Wahlrecht seit 1949 ganz hervorragende Erfahrungen gemacht haben, auch in der Umsetzung. Wir haben seit 1949 immer verfassungskonforme Bundestagswahlen erleben dürfen. Sie sind auch im Detail, im operativen Durchführen der Wahlen geradezu perfektionistisch umgesetzt worden. Das ist uns gleichsam selbstverständlich geworden. Viele erwarten das. Wenn man sich aber in der Welt umschaut, ist es das nicht. Mich hat in den letzten Wochen und Monaten interessiert, wie der amerikanische Präsident gewählt wird. Ich war neugierig.
Es ist das reine Chaos, was rechtlich und technisch in den USA läuft.
Man muss aber gar nicht so weit weg schauen. Ich will das auf den europäischen Kontext beziehen. Herr Oppermann hat das mit der Fünfprozentklausel angedeutet. Ich finde, die Art und Weise, wie wir unser Europäisches Parlament in der Europäischen Union wählen, hoch bedenkenswert und problematisch. „One man, one vote“ gilt in Europa nicht. Das ist ein riesiges Legitimationsproblem. Darüber muss man, glaube ich, auch in Deutschland sehr viel mehr reden.
Aber das ist jetzt nicht unbedingt unser Thema. Ich will nur sagen: Man sollte heute auch die Tatsache hervorheben, dass wir hier in Deutschland ein ganz vorzügliches Wahlrecht haben, das große Vorzüge hat und ein wesentlicher Teil unserer politischen Kultur geworden ist. Das ist eine große Leistung in unserem Land.
Gleichwohl haben wir in den letzten Jahren Probleme an diesem Wahlrecht erkannt. Wir sind heute Morgen hier zusammengekommen, um diese Probleme zu beheben. Das erste Problem - das kann ich Ihnen nicht ersparen - heißt: CDU/CSU und FDP.
- Wir haben drei Probleme. Das erste Problem sind Sie. Wir können ja alle bis drei zählen, ich komme schon noch dahin. Sie sind deshalb das Problem, weil Sie so vermessen gewesen sind, zu glauben, Sie könnten alleine ein Wahlrecht auf den Weg bringen - ohne SPD, ohne Bündnisgrüne, ohne Linkspartei.
Das ist ein unglaublicher Vorfall.
Da haben Sie die Sache so richtig vor die Wand gefahren. Ich räume aber ein, unter Menschen und unter Parteien gilt: Jeder hat eine zweite Chance
oder auch eine dritte Chance. Hier will ich freimütig sagen: Diese zweite oder dritte Chance - Sie Besserwisser, Herr Wieland - haben Sie genutzt.
Wahlrecht geht nur gemeinsam. Auch das ist eine wichtige Botschaft.
Das zweite Problem ist das negative Stimmgewicht. Das dritte Problem sind die Überhangmandate.
- Lieber Herr Wieland, es ist kurz vor Weihnachten, ich freue mich auf eine Frage von Ihnen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Wieland, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen. Bitte schön.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin, schön, dass Sie sowohl Geduld wie auch Aufmerksamkeit für das Plenum haben. - Herr Kollege Wiefelspütz, wieso nennen Sie mich einen Besserwisser, wo Sie doch wissen, dass meine Hauptkritik an dem gefundenen Kompromiss der Schönheitsfehler ist, dass dieser Kompromiss nicht heißt: „Wiefelspütz II/Pukelsheim III“? Das wäre doch sprachlich nicht zu toppen gewesen und jedem Grundschüler eingängig.
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Lieber Kollege Wieland, wir sind dabei, ein nach meiner Einschätzung ganz ordentliches Wahlrecht zu verabschieden, wobei der Begriff „Kompromiss“ diesen Namen auch verdient. Kompromisse haben bei uns ja nicht immer einen guten Ruf, auch das ist hier schon angedeutet worden. Aber das Ergebnis ist wirklich brauchbar, solide, vor allen Dingen auch verfassungskonform, fair und gerecht. Es wird von allen getragen.
Sprachlich ist das Ganze jedoch ganz schwierig und kaum zu verstehen.
- Die Sprache ist schon schlimm genug; wenn man sich jetzt aber vorstellt, es hieße „Wiefelspütz II/Pukelsheim III“ - das wäre ein Anschlag auf die deutsche Sprache, lieber Herr Wieland. Davon kann ich nur dringend abraten.
Sie verschlechtern dieses wunderbare Ergebnis, über das wir heute reden, nachhaltig.
Wir hatten die Aufgabe, negatives Stimmgewicht zu beseitigen und Überhangmandate zu neutralisieren. Das ist gelungen. Da will ich freimütig sagen: Das ist eine Leistung aller. Wir haben fair beraten, jedenfalls im zweiten und dritten Anlauf, und zwar in einer guten Atmosphäre.
Kompromisse haben in Deutschland leider nicht immer einen guten Ruf. Das ist ganz falsch. Auch in der veröffentlichten Meinung gab es den einen oder anderen kritischen Hinweis. Da schlägt sich sehr häufig Besserwisserei nieder. Diejenigen, die glauben, wir könnten hier ein Patentrezept vorlegen, verkennen, dass wir einen Kompromiss finden müssen, der von allen getragen wird.
Natürlich gibt es zu dem Modell, das wir gefunden haben, Alternativen. Einige davon sind angesprochen worden, gar nicht einmal abschließend. Entscheidend ist aber, dass man sich zusammensetzen und eine breite Mehrheit erreichen muss. Das können die Kritiker nicht - das ist kein Vorwurf -, sondern das müssen wir hier leisten. Wir haben es aber auch geleistet.
Das Ergebnis lässt sich sehen. Wir werden mit einem verfassungsgemäßen Wahlrecht in die nächste Bundestagswahl hineingehen. Das kann man von uns erwarten und verlangen. Das haben wir geleistet, auch wenn es im zweiten oder dritten Anlauf war. Insgesamt gesehen können wir eine zufriedenstellende Lösung vorlegen. Diese Lösung wollen wir gerne verteidigen bzw. im Einzelnen auch noch sprachlich verbessern; das ist angedeutet worden.
Eins sollte uns allen aber auch klar sein - das will ich zum Schluss noch sagen -: Es gibt kein perfektes Wahlrecht und wird auch kein perfektes Wahlrecht geben. Bei uns in Deutschland hat es sich entwickelt: mit zwei Stimmen, mit Listen und Direktmandaten. Jedes Wahlrecht kann an der einen oder anderen Stelle wegen mathematischer Besonderheiten Fallstricke enthalten und zu Problemen führen. Deswegen wird das Wahlrecht weiterhin beobachtet werden müssen - nicht, um es in irgendeiner Weise zu manipulieren. Das Problem bei dem Wahlrecht, das wir voraussichtlich Ende des nächsten Monats verabschieden werden, besteht darin, dass sich der Bundestag unter Umständen vergrößern wird, und zwar in einem Umfang, den wir alle nicht wollen. Deswegen muss man dieses Wahlrecht weiterhin beobachten.
Ich hoffe, dass sich die Vergrößerung des Bundestages in Grenzen halten wird. Niemand im Hause will einen Deutschen Bundestag mit 800 oder 850 Sitzen. Ich halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, dass es dazu kommen wird. Aber 20, 30 oder 40 Sitze mehr, das ist durchaus im denkbaren Bereich. Das halten wir allerdings insgesamt gesehen - das darf ich sagen - für vertretbar. Wenn ich alles rundherum abwäge und auch die Tatsache berücksichtige, dass wir ein verfassungskonformes, faires und wettbewerbsgerechtes Wahlrecht haben, dann kann ich feststellen, dass wir zwar keinen Grund zur Selbstzufriedenheit haben, aber dass heute eine ordentliche Arbeit vorgelegt worden ist. Es lohnt sich aber auch, den Gesetzentwurf noch weiter zu beraten und zu verbessern.
Insgesamt möchte ich mich für meine Fraktion bei allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Alle haben an einem Tisch gesessen - auch die Linke, was ich für richtig halte. Die Bandbreite der Diskussionen war groß, und der Kompromiss war schnell gefunden und überzeugend. Insoweit hat der Deutsche Bundestag gezeigt, was er zu leisten imstande ist, wenn er muss. Wenn wir alle bereit sind, nicht nur an unsere eigenen Interessen zu denken - auch wenn es legitim ist, dass die Parteien an ihre Interessen denken -,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege!
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
- sondern auch die jeweiligen Interessen der anderen und vielleicht auch noch die Interessen des Gemeinwesens zu beachten und zur Kenntnis zu nehmen, dann kommt dabei etwas Vernünftiges heraus. Deswegen, glaube ich, kann man mit diesem Ergebnis wirklich gut leben.
Schönen Dank fürs Zuhören.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Jörg van Essen hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Jörg van Essen (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Wiefelspütz dankbar, dass er darauf hingewiesen hat, welch gutes Wahlrecht wir in Deutschland haben. Ich glaube, es gibt kaum ein faireres Wahlrecht als das, was wir seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland haben. Es ist auch überhaupt kein Wunder, dass dieses Wahlrecht für viele der neuen Demokratien, nachdem die Diktaturen in den Ländern im Osten von den Bürgern abgewählt worden waren, Modell war. Dass das so ist, ehrt uns.
Trotzdem ist unser Wahlrecht auch ein kompliziertes Wahlrecht. Die Fairness ist einem Mischsystem - Mehrheitsentscheidungen im Wahlkreis, das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf Bundesebene - geschuldet. Deshalb gibt es immer wieder Friktionen zwischen den verschiedenen Prinzipien. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, diese Friktionen hinzunehmen und bestimmte Bereiche, beispielsweise das negative Stimmgewicht, das wir jetzt hatten, nicht überzubetonen. Solche Probleme gibt es immer, aber solange die Gesamtarchitektur stimmt, glaube ich, sind wir gut beraten, es bei dieser Gesamtarchitektur zu belassen.
Die Beratungen haben gezeigt, dass es eine hoch explosive Mischung ist, wenn Rechtswissenschaft auf Mathematik trifft.
Als Jurist, der einen Mathematiker zum Bruder hat, erlebe ich das auch im privaten Bereich.
Das Ergebnis ist dann leider ein Text - der Kollege Beck hat es angesprochen -, der für viele schwer verständlich ist. Ich gebe zu: Ich gehöre auch dazu. Aber anders ist es nicht zu schaffen. Das macht einen Teil der Probleme deutlich, unter denen wir bei unserer Arbeit zu leiden hatten.
Dass es aber den Mathematikern im Übrigen nicht anders geht, sehen wir im Zusammenhang mit dem Begriff „Pukelsheim III“, der mehrfach hier in der Debatte erwähnt worden ist. Für diejenigen, die nicht so im Thema sind wie wir, muss man es vielleicht erklären: Professor Pukelsheim ist ein Mathematikprofessor, der sich insbesondere mit den Fragen des Wahlrechts befasst.
- So genau kenne ich ihn nicht, als dass ich das beurteilen könnte, Herr Wiefelspütz. Aber die Tatsache, dass auch er als besonderer Spezialist im Wahlrecht offensichtlich drei Anläufe brauchte - Pukelsheim III ist das dritte Modell -,
macht deutlich, dass es offensichtlich selbst für die Spezialisten in der Mathematik eine schwierige Thematik ist.
Ich würde gerne insbesondere einen Aspekt ansprechen, nämlich die Größe des Bundestages. Es war interessant, dass die zu erwartende Größe des Bundestages ein besonderer Kritikpunkt war, als die Fraktionen ihre Einigung verkündet hatten. Selbst solch dümmliche Bemerkungen wie jene, dass der Bundestag dann das zweitgrößte Parlament der Welt nach dem chinesischen Volkskongress sei, wurden veröffentlicht.
- Vom Bund der Steuerzahler, wenn ich mich recht entsinne, Frau Künast.
Es ist natürlich schlichter Unsinn.
- Nein, Herr Wiefelspütz. Sie haben geredet; das hätten Sie dann vortragen können.
Schauen wir uns die Größe benachbarter Parlamente an. Frankreich, Italien und Großbritannien haben etwa ein Viertel weniger Einwohner als wir; sie alle haben circa 60 Millionen Einwohner. Das französische Parlament hat 577 Abgeordnete, das italienische Parlament hat 630 Abgeordnete, also 32 Abgeordnete mehr als wir bei einem Viertel weniger Bürgern, und das englische Parlament hat 650 Abgeordnete, also erheblich mehr als wir. Wenn man nach Osten schaut, sieht man: Polen hat etwa die Hälfte unserer Einwohnerzahl und 460 Abgeordnete.
All das macht deutlich: Der Bundestag ist eines der kleinsten Parlamente. Ich halte das auch für gut so; es ist unser gemeinsamer Wille, dass wir es so halten. Aber insofern kann eine maßvolle Vergrößerung des Bundestages, wie ich finde, hingenommen werden. Selbst bei 671 Abgeordneten - das ist eine Zahl, die aus einer Hochrechnung herrührt - wäre unser Parlament noch erheblich kleiner als all die Parlamente in den großen Nachbarstaaten um uns herum. Ich weise darauf hin: Demokratie kostet auch Geld. Alle Erfahrung in der Geschichte zeigt, dass Nichtdemokratie für den Bürger am teuersten kommt. Ich finde also, dass eine vernünftige Größe des Parlaments zu einer Demokratie dazugehört.
Ich würde gerne eine letzte Bemerkung machen. Wir haben als Koalition die Kritik des Bundesverfassungsgerichts zu hören bekommen - die Kritik betraf nicht alle; wir waren als Koalition dafür verantwortlich -, dass es beim ersten Versuch zu lange gedauert hat. Diese Kritik war berechtigt, und sie wird von uns akzeptiert. Aber ich bin dem Kollegen Krings dankbar, dass er deutlich macht: Es darf auch Kritik in umgekehrte Richtung geben. Das, was wir in dem Urteil zur Möglichkeit von „etwa 15“ Überhangmandaten lesen konnten, ist etwas, das man sich in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht wünscht.
Auch sonst muss ich selbst nach mehrfacher Lektüre dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichtes sagen: Ich kann mich daran erinnern, dass es Urteile gab, die sich mir besser erschlossen haben als dieses.
Nichtsdestotrotz: Das Wahlrecht ist eines der Kernrechte in einer Demokratie. Deshalb ist das Signal, das wir heute senden: Vier Fraktionen haben sich auf ein neues Modell geeinigt. Es ist ein ausgesprochen gutes Modell. Es ist eine gute Nachricht für unser Land, dass es möglich wurde; darüber freue ich mich ganz außerordentlich. Deshalb danke ich für die wirklich guten Beratungen, die wir zwischen allen Fraktionen geführt haben.
Ganz herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wolfgang Wieland hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind ja nun in der Weihnachtszeit, der Zeit des Schenkens.
Manchmal sagt man als Beschenkter: Das Geschenk wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. So geht es mir mit dem Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes zu den Auslandsdeutschen vom Juli dieses Jahres, über den wir hier reden müssen. Da war die sogenannte kleine Runde der Innenpolitiker sehr schnell, noch schneller als die große Runde, auch dank der straffen Führung des Kollegen Grindel; so selten ich ihn loben kann, so wenig will ich die Gelegenheit jetzt verpassen.
Der Kollege Oppermann und ich sind beide wohlerzogen,
deswegen kritisieren wir das Bundesverfassungsgericht nicht so scharf. Ich will es daher mit den Worten des Minderheitenvotums von Frau Lübbe-Wolff machen.
Sie hat geschrieben:
Sollten die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten
- das sind wir -
gemeint haben, dass man sich an ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zumindest dann gefahrlos orientieren kann,
wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass sie innerhalb des Gerichts jemals umstritten gewesen wäre, muss der vorliegende Beschluss sie überraschen.
Er hat überrascht.
Ohne jede Vorwarnung wurde ein Wahlrecht, das es im Grunde während der gesamten Nachkriegszeit gab, nunmehr für verfassungswidrig erklärt, und uns wurde ein Problem beschert. Das muss man so sagen. Ob wir es gut gelöst haben, werden wir sehen. Die Lösung war relativ simpel: Wir nehmen den Text dieser Entscheidung und schreiben ihn wörtlich in einen Gesetzentwurf nach dem Motto „Sie werden sich das nächste Mal nicht selber für verfassungswidrig erklären“.
Das ist logisch, beschert den Beschwerdeführerinnen aber Steine statt Brot.
Die Beschwerdeführerinnen waren zwei in Belgien lebende Deutsche, die noch nie in Deutschland gelebt hatten und fragten: Warum macht ihr diese schematische Dreimonatsfrist? Wir sind Deutsche, wir orientieren uns - heute ja kein Problem über die neuen Medien - nach Deutschland, wir wollen wählen, also das allgemeine Wahlrecht im Sinne eines Wahlrechts für alle Deutschen. - Dem kann man durchaus nahetreten.
Wir sind heute angesichts von Wahlbeteiligungen von teilweise unter 50 Prozent dankbar für jede Wählerin, für jeden Wähler. Egal ob Biodeutscher, Beutedeutscher oder Namibiadeutscher, der immer noch glaubt, dass es noch einen Kaiser gibt:
Wer Deutscher ist, soll wählen können.
- Ich sehe, der Gedanke belebt. Mir ist selbst ein Wähler von Dieter Wiefelspütz lieber als ein Nichtwähler. So weit gehe ich.
Aber auch diese Möglichkeit hat das Gericht wohl versperrt. Es wird ausgeführt - ich zitiere -:
Danach ist die Möglichkeit, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen, für die Wahlteilnahme unabdingbar. Hieran fehlt es bei mangelnder Vertrautheit mit den Verhältnissen in Deutschland.
Ein bisschen Vertrautheit muss sein. Wir müssen das Kunststück vollbringen, aus dem Grundgedanken des Gerichts - eigentlich sollten alle Deutschen wählen können, aber ein bisschen müssen sie mit Deutschland schon vertraut sein - einen Paragrafen zu machen.
Unser Vorschlag ist, was Normenunklarheit angeht, nicht zu übertreffen, das muss man deutlich sagen.
„Aus anderen Gründen“ vertraut, ohne irgendein Beispiel - das ist schwierig. Die Alternative wäre eine elende Kasuistik mit Typgruppen: Pendler oder wer das alles sein kann. Die schwierige Frage, die Frau Lübbe-Wolff aufwirft, ob die Zugehörigkeit zu einem Karnevalsverein ausreichen würde, wollten wir im Gesetzestext nicht beantworten.
Dafür gibt es gute Argumente. Ich als Preuße sehe gute Argumente dafür, dass man das reichen lässt. Für viele Kollegen hier ist das der eigentliche Lebensinhalt.
Aber auch wir konnten nicht jede Streitfrage klären.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin, das ist mein letzter Satz. - Deswegen haben wir klugerweise gesagt: Wir bitten die Sachverständigen, uns in der Anhörung bessere Formulierungen vorzuschlagen. Wir konnten nicht mehr leisten als das, was Ihnen vorliegt.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Stephan Mayer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute über das vielleicht wichtigste Gesetz für die Arbeit des Deutschen Bundestages, weil es für unsere Arbeit konstitutiv ist. Manche zählen es zum materiellen Verfassungsrecht. Es geht um das Bundeswahlgesetz.
Wir setzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli dieses Jahres um, das - mit Verlaub; das ist schon mehrere Male gesagt worden - nicht einfach umzusetzen und in der einen oder anderen Hinsicht durchaus auch etwas schwer nachzuvollziehen ist. Dieser gelungene Kompromiss vermeidet das Phänomen des negativen Stimmgewichts. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Der zweite wichtige Aspekt ist, dass es uns gelungen ist, die Wirkung von Überhangmandaten unter Inkaufnahme von Ausgleichsmandaten und einer möglichen deutlichen Erweiterung des Bundestages zu beseitigen.
In der ersten Stufe der Verteilung der Bundestagssitze - das wird auch in Zukunft so sein - erfolgt eine länderweise Verteilung der Sitze auf die Landeslisten. Verbindungen von Listen werden in Zukunft ausgeschlossen sein. In der zweiten Stufe erfolgt dann zur Vermeidung von Überhangmandaten eine Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze im Bundestag, und zwar so weit, bis bei einer anschließenden bundesweiten Oberverteilung auf die Parteien und einer Unterverteilung auf die Landeslisten alle Wahlkreismandate auf Zweitstimmenmandate der Parteien angerechnet werden können.
Es kommt zu einer deutlichen Erweiterung des § 6 des Bundeswahlgesetzes. Das ist unter den Gesichtspunkten der Verständlichkeit, der Normenklarheit und der leichten Lesbarkeit des Gesetzes mit Sicherheit nicht schön. Der Gesetzentwurf stellt aber einen Kompromiss dar. Diesbezüglich halte ich es mit dem früheren US-Außenminister und Nobelpreisträger Henry Kissinger, der gesagt hat:
Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Parteien damit unzufrieden sind.
Meine Unzufriedenheit bezieht sich vor allem darauf, dass ich durchaus die Gefahr sehe, dass es mit der nächsten Bundestagswahl zu einer deutlichen Vergrößerung des Deutschen Bundestages kommt. Ich glaube, auch diesbezüglich sollten wir einen Blick über die Landesgrenzen werfen - das ist schon angesprochen worden -: Ein Vergleich der nationalen Parlamente in Europa macht deutlich, dass der Deutsche Bundestag selbst bei einer Erhöhung der Mandatszahl um 100 im Vergleich zur Bevölkerungszahl immer noch das zweitkleinste Parlament in der Europäischen Union nach dem spanischen Parlament wäre. Ich glaube, wenn man einen solchen Vergleich bezogen auf die Bevölkerungszahl anstellt, kommt man sehr wohl zu dem Schluss, dass es noch akzeptabel ist, dass nach dem jetzt zur Debatte stehenden Bundeswahlrecht eine Vergrößerung des Bundestages ansteht.
Ich möchte aber schon zu bedenken geben, dass irgendwann einmal die Grenze der Arbeitsfähigkeit eines Parlaments erreicht ist. Wenn man irgendwann einmal über 700 oder 750 Abgeordnete zählen würde, dann wäre es unabhängig vom Vergleich mit der Bevölkerungszahl schwierig, das Parlament arbeitsfähig zu halten.
Demokratie kostet Geld. Auch diesbezüglich kann man einen interessanten Vergleich anstellen: Wie viel kostet eigentlich der Deutsche Bundestag? Wie viel kosten wir Parlamentarier, unsere Mitarbeiter, die Mitarbeiter des Deutschen Bundestages, alles drum herum? Dies kostet einen Bundesbürger im Jahr einen einstelligen Euro-Betrag. Es ist ganz interessant, auch für die Diskussion mit der Bevölkerung, dass das Parlament nicht so teuer ist, wie viele glauben. Demokratie kostet nun einmal Geld. Jede andere Staatsform wäre für Deutschland und für die Deutschen mit Sicherheit weitaus teurer.
Ich bin sehr froh darüber, dass sich die Grünen mit ihrer kruden Idee, dass einem direkt Gewählten das Mandat zu entziehen ist, wenn in dem Bundesland Überhangmandate anfallen würden, nicht durchsetzen konnten.
Lieber Herr Kollege Wieland, so kann nur eine Partei argumentieren,
die nicht Gefahr läuft, außerhalb von Berlin überhaupt Direktmandate zu gewinnen.
Es ist nun einmal aufgrund unseres personalisierten Verhältniswahlrechts so,
dass die Verbindung zwischen dem direkt gewählten Wahlkreisbewerber und den Bürgerinnen und Bürgern in seinem Wahlkreis ganz wichtig ist. Ihre Herangehensweise und Ihre Sichtweise lassen wirklich tief blicken, wenn Sie sagen - ganz perfide -: Der Wahlkreisbewerber hat dann sein Mandat gar nicht gewonnen, deswegen muss es ihm gar nicht entzogen werden.
Was ist denn das für eine Denkweise, zu meinen, dass ein direkt gewählter Abgeordneter, unabhängig davon, mit welchem Prozentsatz er gewonnen hat, sein Mandat nicht errungen hat und nicht in den Deutschen Bundestag einziehen darf?
Ich glaube, das ist eine Verhöhnung des Wählerwillens. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen.
Es ist schade, dass sich die Linken dem Kompromiss, der jetzt gefunden wurde, nicht anschließen konnten. Der Gesetzentwurf, der von den Linken vorgelegt wird, würde zwar eine Vergrößerung des Bundestages vermeiden, was durchaus - das möchte ich betonen - ein erstrebenswertes Ziel ist, aber dies würde mit deutlichen föderalen Verzerrungen und entsprechenden Wechselwirkungen zwischen den Landeslisten einhergehen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Linken, bei Ihrem Gesetzentwurf besteht die konkrete Gefahr, dass es zu einer deutlichen Überrepräsentanz von Abgeordneten einer Partei in bestimmten Bundesländern kommt und gleichzeitig zu einer deutlichen Unterrepräsentanz von Abgeordneten derselben Partei in anderen Bundesländern.
Ich glaube, das würde auch dem Wunsch, dass es im Deutschen Bundestag eine möglichst ausgewogene Repräsentanz der Bundesländer gibt, nicht genügen.
Sie bringen auch wieder - steter Tropfen höhlt den Stein - die Idee, die Fünfprozentklausel abzuschaffen, in Ihren Gesetzentwurf ein. Das fordern Sie nicht zum ersten Mal. Ich glaube, Ihnen sitzt die Angst vor der anstehenden Bundestagswahl im Nacken. Wir werden auch diesem Wunsch wieder eine deutliche Absage erteilen.
Es wurde schon erwähnt: Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf auch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli dieses Jahres hinsichtlich des aktiven Wahlrechts von Auslandsdeutschen um. Hier ist es wichtig, dass wir für im Ausland lebende Deutsche eine Möglichkeit schaffen, an Bundestagswahlen teilzunehmen. Der Gesetzentwurf enthält die Konkretisierung, dass man über 14 gewesen sein und ununterbrochen mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben muss. Dieser Zeitraum darf auch nicht mehr als 25 Jahre zurückliegen. Die Alternative ist, dass man persönlich oder unmittelbar mit dem politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland vertraut ist. Ich glaube, dass es mit dieser offenen Formulierung möglich ist, dass die Deutschen, die im Ausland leben und an der Bundestagswahl teilnehmen wollen, dies auch in Zukunft tun können.
Kein Kompromiss ist perfekt. Aber, ich glaube, mit diesem Kompromiss, den vier Fraktionen heute vorlegen, wird eine solide, eine rechtmäßige und vor allem eine verfassungsgemäße Grundlage für die Durchführung der nächsten Bundestagswahlen geschaffen. Ich möchte vermuten, dass dieses Bundeswahlrecht nur einmal zur Anwendung kommen wird. Wahrscheinlich wird es im Laufe der nächsten Wahlperiode wieder zu einer Novellierung des Bundeswahlrechtes kommen. Das ist nun einmal so. Das Bundeswahlrecht ist nicht starr, ist nicht fix, ist nicht apodiktisch, es unterliegt natürlich einem steten Wandel.
In diesem Sinne sollten wir die weiteren Beratungen sehr stringent angehen. Die Anhörung zu den Gesetzentwürfen ist für den 14. Januar 2013 geplant. Ich hoffe, dass es in den Wochen danach zu einer Verabschiedung unseres Gesetzentwurfes kommen wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich freue mich jetzt sehr, als zweiter Frau in dieser Debatte Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion das Wort zu geben.
Gabriele Fograscher (SPD):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Wahlrecht ist der Grundpfeiler unserer Demokratie, und es ist die Legitimation jedes einzelnen Abgeordneten hier im Hause.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
So heißt es in Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz.
Der Parlamentarische Rat konnte sich 1949 nicht auf eine Festschreibung des Wahlsystems im Grundgesetz verständigen. So wurde das erste Bundeswahlgesetz zunächst von den Ministerpräsidenten der Länder erlassen. Zur Bundestagswahl 1953 wurde erstmals nach einem vom Bundestag selbst erlassenen Gesetz gewählt; nach diesem Gesetz hatten die Wählerinnen und Wähler eine Stimme. Zur Bundestagswahl 1957 wurde dann die Zweitstimme eingeführt. Das bis zur Bundestagswahl 2009 gültige Wahlrecht entsprach im Wesentlichen dem Wahlrecht von 1957. Seitdem gab es die Wahl mit verbundenen Landeslisten, das heißt, das Auftreten des negativen Stimmgewichts war möglich. Der Effekt des negativen Stimmgewichts wurde 2005 bei der Nachwahl in einem Wahlkreis in Dresden offensichtlich. Dies war der Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht dieses Wahlrecht 2008 in Teilen für verfassungswidrig erklärte. Es sah den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt.
Die Lösung dieses Problems haben Sie von den Koalitionsfraktionen zunächst im Alleingang versucht.
Sie sind damit in Karlsruhe gescheitert. Wir begrüßen es, dass Sie jetzt wieder zu der guten Tradition zurückgekehrt sind, das Wahlrecht auf der Grundlage einer breiten Mehrheit in diesem Hause zu erarbeiten, einzubringen und zu verabschieden.
Was soll das neue Wahlrecht leisten? Die Gleichheit der Stimmen soll hergestellt werden. Dafür muss das negative Stimmgewicht beseitigt werden. Die einfachste Lösung wäre, vom Zwei-Stimmen-Prinzip Abstand zu nehmen. Das wollen wir aber nicht; denn im Grundsatz hat sich das Wahlrecht seit 1957 bewährt.
Stattdessen geben wir das bisher gültige Prinzip der verbundenen Landeslisten auf. Dies war ein Vorschlag der Regierungsfraktionen. Wir wollen, dass sich das Zweitstimmenverhältnis der Parteien in der Sitzverteilung im Bundestag widerspiegelt. Überhangmandate verzerren dieses Verhältnis. Deshalb werden in Zukunft alle Überhangmandate ausgeglichen. Dies entspricht dem Vorschlag, den wir als SPD-Bundestagsfraktion bereits eingebracht haben.
Dies könnte - das ist mehrfach erwähnt worden - zu einer Vergrößerung des Bundestages führen. Deshalb werden wir die Entwicklung beobachten und gegebenenfalls reagieren müssen.
Wir wollen den Länderproporz erhalten. Bei der letzten Bundestagswahl hat die CDU in Baden-Württemberg zehn Überhangmandate errungen. Damit war Baden-Württemberg im Bundestag im Verhältnis zu den anderen Bundesländern überrepräsentiert. Deshalb wollen wir in Zukunft einen bundesweiten Ausgleich von Überhangmandaten.
Der Gesetzentwurf der Linken löst zwar das Problem des negativen Stimmgewichts, der Überhangmandate und der Größe des Bundestages, führt allerdings zu einer erheblichen Verzerrung der Länderverhältnisse. Deshalb erhält er nicht unsere Zustimmung.
Wir wollen nicht, dass sich die Fraktionsstärken und somit die Mehrheitsverhältnisse durch das Ausscheiden von Abgeordneten während der Wahlperiode ändern können. Durch den Ausgleich der Überhangmandate sind jetzt alle Mandate mit Zweitstimmen unterlegt, sodass frei werdende Sitze durch Nachrücker von der jeweiligen Landesliste nachbesetzt werden können.
Der Innenausschuss wird - auch das wurde schon erwähnt - am 14. Januar 2013 eine Anhörung durchführen, um noch offene Fragen zu klären. Unbefriedigend bleibt nach wie vor die schwer zu verstehende Fassung des § 6 Bundeswahlgesetz. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die fehlende Normenklarheit bereits beanstandet. Hier erwarten wir noch Anregungen von den Sachverständigen.
Gegenstand der Anhörung wird auch die ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Regelung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche sein. Die jetzt vorgeschlagene Formulierung entspricht zwar der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts, scheint uns aber zu unbestimmt und zu interpretierbar. Deshalb werden wir versuchen, mithilfe der Sachverständigen eine bessere Formulierung zu finden.
Ein Thema, das wir nicht aus den Augen verlieren wollen, das heute in der Debatte aber wenig angesprochen wurde, ist der Ausschluss vom Wahlrecht, in § 13 Bundeswahlgesetz geregelt. Im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention müssen wir die Anregungen und Bitten von Behindertenverbänden, die ein inklusives Wahlrecht fordern, sehr ernst nehmen. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention haben wir die Pflicht, gleiche Bürgerrechte für Menschen mit Behinderung konsequent umzusetzen. Barrierefreiheit, einfache Sprache und eine Möglichkeit für Analphabeten sind wichtige Voraussetzungen für die demokratische Teilhabe von Menschen mit Handicaps. Deshalb bitte ich Sie von der Regierungskoalition, darüber mit uns noch einmal ins Gespräch zu kommen, um das im Sinne der vielen Betroffenen zu regeln.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen zum Wahlrecht und danke für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Ich bitte um Nachsicht, dass ich nun als Mann hier spreche und Ihnen sieben freudlose Minuten bereite, aber vielleicht führt mein Vortrag ja dazu, dass Sie das eine oder andere doch noch freundlich aufnehmen. - Ich will mich zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche äußern.
Eine Bemerkung vorab: Lieber Kollege Beck, die Forderung nach weiterer Abschaffung von Direktwahlkreisen kann man wirklich nur erheben, wenn man weit, weit weg von der täglichen Wahlkreisarbeit ist, die direkt gewählte Abgeordnete, von denen wir in unserer Fraktion ja viele haben, leisten. Die Wahlkreise in den neuen Ländern, aber auch in Flächenländern wie Niedersachen und Baden-Württemberg sind schon jetzt so groß, dass man dort kaum flächendeckend Präsenz zeigen kann. Ihre Forderung würde Bürgerferne und weniger Bürgernähe bedeuten. Das ist schon ein erstaunlicher Beitrag eines grünen Abgeordneten, den Sie hier geleistet haben.
Jetzt aber genug des Streits; denn beim Wahlrecht für Auslandsdeutsche - das hat der Kollege Wieland hier ja schon gesagt - sind wir uns alle, bis hin zur Linken, einig.
Minderheitenvotum von Frau Lübbe-Wolff hin oder her: Wir müssen uns mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen.
Bisher waren Auslandsdeutsche alleine unter einer Voraussetzung wahlberechtigt, nämlich dann, wenn sie sich mindestens drei Monate in ihrem Leben ununterbrochen auch tatsächlich in Deutschland aufgehalten haben. Dieser Regelung lag der Gedanke zugrunde, dass als wahlberechtigte Bürger nur Deutsche gelten sollen, die aufgrund eigener Erfahrung mit den politischen Verhältnissen in Deutschland vertraut sind.
Eines ist ganz deutlich - auch für die Zukunft -: Allein die Beobachtung des politischen Prozesses vom Ausland aus unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel reicht nicht aus. Außerdem konnte durch das sogenannte Sesshaftigkeitserfordernis in der Tat klar definiert werden, an welchem Ort man ins Wählerverzeichnis aufgenommen werden muss.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechtigung dieser Dreimonatsregel durchaus anerkannt, aber es hat sich aus Anlass der hier bereits angesprochenen zwei Wahlprüfungsbeschwerden gegen die ausschließliche Gültigkeit dieses Prinzips der Sesshaftigkeit gewandt und gesagt, es gebe erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, wenn alleine auf diesen Grundsatz abgestellt wird.
Dazu hat das Bundesverfassungsgericht darauf verwiesen - das gehört auch zu den Änderungen bzw. Ergänzungen des Wahlrechts, die wir jetzt vornehmen -, dass sich eine Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen schwerlich einstellen kann, wenn der entsprechende deutsche Wahlbürger die Dreimonatsfrist zu einem Zeitpunkt erfüllt hat, als er lediglich Kleinkind gewesen ist.
Die zweite Personengruppe sind solche Auslandsdeutsche, die die Bundesrepublik schon vor so langer Zeit verlassen haben, dass die von ihnen erworbenen eigenen Erfahrungen in den aktuellen politischen Verhältnissen unseres Landes und in der heutigen Realität keine Entsprechung mehr finden.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich dann auch noch der eben von Herrn Wieland angesprochenen dritten Fallgruppe zugewandt. Dabei handelt es sich um Personen, die zwar zu keinem Zeitpunkt mindestens drei Monate lang ununterbrochen in Deutschland ansässig gewesen sind, jedoch trotzdem mit den politischen Verhältnissen sehr wohl vertraut und von ihnen betroffen sein können, etwa weil sie als Grenzgänger ihren Beruf in der Bundesrepublik ausüben oder weil sie durch ihr Engagement in Vereinen, Parteien oder sonstigen Organisationen in erheblichem Umfang am politischen Leben unseres Landes teilnehmen.
Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht die alte Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 1 Bundeswahlgesetz für nichtig erklärt und uns als Gesetzgeber zu einer entsprechenden Änderung aufgefordert. Wir haben - ich will das betonen - im großen Einvernehmen aller Fraktionen reagiert.
Das Sesshaftigkeitserfordernis von drei Monaten wird um zwei bedeutsame weitere Erfordernisse ergänzt: Zum einen muss der mindestens dreimonatige ununterbrochene Aufenthalt nach Vollendung des 14. Lebensjahres erfolgt sein. Zum anderen darf er nicht länger als 25 Jahre zurückliegen.
Mit der Altersgrenze von 14 Jahren nehmen wir im Interesse der Einheit der Rechtsordnung Bezug auf andere Vorschriften, bei denen man von diesem Alter an eine für eigenverantwortliche Entscheidungen hinreichende Reife und Einsichtsfähigkeit annimmt. Das betrifft den Beginn der Strafmündigkeit und die Religionsmündigkeit.
Mit der Einführung der Fortzugsfrist von 25 Jahren wird eine bereits früher im Bundeswahlgesetz einmal gültige Frist wieder aufgegriffen. Sie erscheint auch deshalb sinnvoll, weil damit von uns ein Zeitraum erfasst wird, in den die wohl grundlegendste Änderung der politischen Verhältnisse in Deutschland, nämlich der Prozess der Wiedervereinigung, gefallen ist.
Um die Fallkonstellation des der Wahlprüfungsbeschwerde zugrundeliegenden Sachverhalts aufzugreifen, haben sich die Fraktionen entschieden, in § 12 Abs. 2 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes eine neue Nr. 2 einzuführen, mit der auch demjenigen Auslandsdeutschen das Wahlrecht gegeben wird, der aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben hat und von ihnen betroffen ist.
Wir können uns das alles in der Anhörung natürlich noch einmal anschauen. Aber ich finde, es dient der Einigkeit zwischen den Fraktionen in dieser Frage, wenn wir mit dieser Formulierung praktisch den Begründungstext des Urteils aus Karlsruhe abbilden.
In der Gesetzesbegründung haben wir dann - lieber Herr Wieland, das haben Sie wahrscheinlich aus Zeitgründen nicht mehr erwähnt -
zur Unterstützung unserer Änderung
- wenn wir in einer Debatte zum Asylrecht wären und das ein Angriff hätte sein sollen, hätte ich gesagt, Sie hätten das böswillig verschwiegen; aber jetzt bin ich davon ausgegangen, dass Sie dazu aus Zeitgründen nichts haben sagen können -
Tatbestandsvoraussetzungen aufgeführt - das ist in der Tat in der Sache wichtig -, anhand derer die Wahlämter vor Ort Gruppen definieren können, bei denen man vom Vorliegen der Voraussetzungen ausgehen kann, also zum Beispiel Ortskräfte mit deutscher Staatsangehörigkeit an Auslandsvertretungen, Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen oder Außenhandelskammern, Abkömmlinge von deutschen Beamten bei der EU-Kommission, die im Bundesgebiet tätig sind, Zeitungskorrespondenten oder, wie gesagt, die von mir benannten Grenzgänger. Die Tatsachen, die für die Aufnahme in das Wählerverzeichnis sprechen sollen, sind glaubhaft zu machen.
Ich will hier ein Thema kurz ansprechen, das uns beschäftigt hat, nämlich: In welcher Gemeinde müssen die Auslandsdeutschen ihren Eintrag ins Wählerverzeichnis beantragen? Bei denen, die sich schon mehr als drei Monate in Deutschland aufgehalten haben, kommt als Anknüpfungspunkt natürlich die letzte Heimatgemeinde in Betracht. Die Auslandsdeutschen, die noch nie oder zumindest weniger als drei Monate in Deutschland waren, müssen sich an dem Ort melden - darauf haben wir uns verständigt -, aus dem sich ihre Betroffenheit von den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik ergibt. Das wird in aller Regel der Arbeitsort oder der Ort sein, an dem das gesellschaftliche Engagement in einer Organisation stattfindet, auf das auch abgestellt werden kann.
Was wir bewusst nicht gemacht haben, ist, einen Vorschlag aufzugreifen, dass wir ein Wahlamt oder eine Gemeinde sozusagen als Auffangbecken für Auslandsdeutsche benennen, weil dieses dem Grundsatz der Vergleichbarkeit der Größe der Wahlkreise möglicherweise widersprechen würde. Dies wäre der Fall, wenn man zum Beispiel sagen würde: Auslandsdeutsche kommen grundsätzlich in den Wahlkreis Berlin-Mitte.
Ich kann nur sagen: Wenn wir immer so entspannt, fröhlich und sachlich diskutieren würden, wie das bei diesem Gesetzentwurf geschehen ist, würden wir in unserem Land weiterkommen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vielen Dank für die freudvolle Entspannung, Herr Grindel.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/11819, 17/11820 und 17/11821 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alterssicherung und Altersarmut von Frauen in Deutschland
- Drucksachen 17/9431, 17/11666 -
Hierzu liegt auch ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Verabredet ist es, hierzu eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so verabredet.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort der Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke.
Yvonne Ploetz (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Können Sie sich das Gefühl vorstellen, wenn Sie Ihren beiden Enkeln Weihnachtsgeschenke kaufen wollen, dies aber nicht geht, weil Ihnen schlichtweg das Geld fehlt, und das, obwohl Sie wirklich jeden Cent zur Seite legen, auch dann, wenn es am Ende des Monats nicht mehr für ein richtiges Essen reicht? So geht es Frau Hoffmann, die mich vor kurzem in meiner Sprechstunde besucht hat.
Frau Hoffmann hat eine Minirente von 480 Euro, obwohl sie ihr Leben lang hart gearbeitet hat. Ihren beiden Kindern hat sie den besten Start ins Leben ermöglicht. Frau Hoffmann war Friseurin und in den letzten Jahren vor der Rente in Minijobs als Reinigungshilfe tätig. Zum Amt, so sagt sie, will sie nicht. Sie schämt sich. Ich finde, diese Scham sollte jeder Seniorin und jedem Senior erspart bleiben.
Kein Mensch, der ein Leben lang hart gearbeitet hat, sei es im Beruf, für die Familie oder für die Gesellschaft, darf im Alter mit Sozialhilfe abgespeist werden.
So wie Frau Hoffmann geht es vielen älteren Menschen, insbesondere Frauen. Es ist die klassische Konstellation: raus aus dem Beruf, Kinder erziehen, Angehörige pflegen und parallel zum Teilzeitjob ehrenamtlich tätig sein.
Mittlerweile haben zwei von drei Frauen eine Rente unterhalb der Grundsicherung. 83,5 Prozent der Frauen haben eine Altersrente von unter 850 Euro, davon wiederum ein Viertel von unter 250 Euro. Die Durchschnittsrente einer Frau ist halb so hoch wie die eines Mannes. Das gilt im Westen wie im Osten. Auch im Osten sinken die Renten von Jahr zu Jahr.
Für die Frauen gilt: Die meisten bleiben abhängig von ihrem Mann oder vom Staat. Das alles hat mit Würde im Alter nichts zu tun.
Die Bundesregierung möchte nun Frauen wie Frau Hoffmann mit der sogenannten Lebensleistungsrente unter die Arme greifen. Ich finde, diesen Etikettenschwindel muss man den Menschen erklären: Man soll 40 Jahre Beitrag zahlen, man soll jahrzehntelang privat vorsorgen, um dann 10 bis 15 Euro mehr als die Grundsicherung, die Sozialhilfe im Alter, von 707 Euro zu bekommen.
Ich möchte das Wort „Lebensleistungsrente“ kurz analysieren. Lebensleistung und Rente haben, wie jeder weiß, der einmal im Jahr - bleich und mit flatternden Fingern - einen Brief mit dem Statusbescheid seiner Rentenversicherung aufschlitzt, rein gar nichts mehr miteinander zu tun. So stand es vor wenigen Wochen im Stern geschrieben. - Und, ja, das wird noch viel mehr der Fall sein, wenn Sie, wie geplant, das Rentenniveau von derzeit 50 auf 43 Prozent senken werden.
Ich bitte Sie eindringlich: Lassen Sie das bleiben! Wir brauchen kein niedriges, sondern ein höheres Rentenniveau.
Wenn Sie unbedingt etwas senken wollen, dann nehmen Sie bitte die Rente mit 67 zurück.
Das würde insbesondere Frauen zugute kommen. Wir wissen schon heute, dass gerade einmal 11,7 Prozent der Frauen im Alter von 64 Jahren noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, davon gerade einmal 5,8 Prozent der Frauen Vollzeit. Hier zeigt sich wieder ganz deutlich, wie Sie Politik gegen die Realitäten machen, und zwar Sie alle: FDP, CDU/CSU, Grüne und SPD.
Ja, wir brauchen einen Mindestlohn von 10 Euro und eine Mindestrente, wenn wir den Kampf gegen Altersarmut wirklich aufnehmen und gewinnen wollen.
Aber zurück zur Lebensleistungsrente nach von-der-Leyen-Art. Ich habe schon erklärt, wo die beiden Haupthürden liegen. Man braucht 40 Beitragsjahre, und man soll jahrzehntelang privat vorgesorgt haben, um dann im Alter 10 bis 15 Euro mehr als die Grundsicherung zu bekommen. Ich finde, das ist ganz böse Satire. Sie verhöhnen damit die Menschen und ihre Arbeit regelrecht.
10 Euro mehr: Das reicht gerade mal für ein Eis mit dem Enkel.
Ich finde, man darf den Menschen im Land nichts vormachen. Wir wissen doch genau, dass eine Frau im Leben nicht auf 40 Versicherungsjahre kommt, sondern nur auf 30.
Und die private Vorsorge? Ja, Frauen haben mehr Riester-Verträge als Männer abgeschlossen. Aber die Hälfte aller Frauen hat keinen Riester-Vertrag. Andere Verträge werden auf ruhend gestellt oder nicht voll bespart. Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass jahrzehntelange Einzahlungen in der gewünschten Höhe eben nicht zu den Irrungen und Wirrungen eines normalen Lebens passen, und schon gar nicht zu dem Leben einer Frau, die im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Sie kann das Geld für die private Vorsorge doch nirgends mehr abknapsen.
Das ist aber nicht der einzige Haken. Ich will einen weiteren nennen. Die Riester-Rente wird auf die Grundsicherung im Alter angerechnet. Das heißt, die Grundsicherung wird um den angesparten Betrag gekürzt. Das Geld der Sparerin oder des Sparers verpufft in diesem Fall regelrecht. Ich finde, das ist ganz absurd. Das ist ein absurder Systemfehler, genauso wie die Zerschlagung der gesetzlichen Rente zugunsten der privaten Vorsorge von Anfang an der Fehler eines Systems war, das sich die Politik von Wirtschaftsinteressen diktieren lässt.
Die Hälfte aller Frauen in meinem Alter hat heute schon Angst vor Altersarmut; das ist nicht ganz unbegründet. Das hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen dankenswerterweise ganz klar benannt. Die Altersarmut wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark zunehmen. Aber, Frau Arbeitsministerin, eine Ministerin darf nicht dabei stehen bleiben, Probleme aufzuzeigen, sondern muss Lösungen entwickeln,
Lösungen dafür, dass Millionen Frauen eben nicht direkt von der prekären Beschäftigung in die Altersarmut rutschen.
Nehmen wir als Beispiel die Minijobs. Eine Minijobberin hat nach 45 Versicherungsjahren einen Rentenanspruch von 139,95 Euro im Monat. Das zeigt doch wieder: Minijobs sind für Frauen der ganz sichere Weg in die Altersarmut. Und was machen Sie? Sie weiten diese Sackgasse noch aus. Wir sagen: Legen Sie sie endlich still!
Das, was ich hier angesprochen habe, sind Fakten, die aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zur Altersarmut von Frauen hervorgehen. Sie als Regierung kommentieren all diese erschreckenden Zahlen so: Es
... kann von einer besonders unzureichenden sozialen Absicherung von Frauen bzw. einer besonderen Betroffenheit von Armut im Alter generell nicht die Rede sein.
Das ist das nächste Adventsmärchen der christlich-liberalen Regierung - völlig herzlos, unengagiert und lebensfremd. Wir alle wissen: Die Weihnachtszeit ist auch die Zeit der Besinnung. Wir können für die Frauen nur hoffen, dass Sie zur Besinnung kommen.
Danke schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir im Deutschen Bundestag einmal ausführlich über die Alterssicherung der Frauen sprechen. Es ist so, dass vor allen Dingen in Westdeutschland viele Frauen in den vergangenen Jahrzehnten spätestens mit der Geburt des ersten Kindes ganz und sogar auf Dauer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Manche Frauen haben sich - ich denke dabei an meine eigene Mutter - die in wenigen Berufsjahren erworbenen Rentenansprüche auch noch auszahlen lassen, sodass gar keine eigene Altersrente anfallen wird. Für sie bedeutet Altersversorgung für Frauen, von der Altersversorgung des Mannes abhängig zu sein. Das ist der Grund, warum die durchschnittliche Rentenzahlung an Frauen so niedrig ist. Aber bemerkenswert ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Wandel, was die eigenständige Alterssicherung von Frauen angeht, vollzogen hat. Es wäre daher gut gewesen, wenn diejenigen, die eine Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt haben, auch die Antworten aus dieser Anfrage hier vorgetragen und nicht verschwiegen hätten.
Die Erwerbstätigenquote der Frauen, das heißt der Anteil von Frauen in Erwerbstätigkeit an der weiblichen Bevölkerung in Deutschland, ist im Jahr 2011 bei 67,8 Prozent angelangt. Das ist, wenn man den Zeitraum von 2002 an nimmt, eine Steigerung um 8,8 Prozent. Sie liegt damit deutlich über der Steigerung der normalen Erwerbstätigenquote in Deutschland.
Auch bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen haben wir eine Steigerung um 2 Prozent. Der Anteil der Frauen, die eine eigene Alterssicherung aufgebaut haben, ist von 1999 bis 2011 von 83 Prozent auf 91 Prozent gestiegen.
- Auch dazu sage ich etwas, Frau Ferner. - Wenn man jetzt das Niveau der Alterssicherung der Frauen mit dem der Männer vergleicht, dann stellt man fest, dass das Alterssicherungsniveau der Frauen 1999 noch bei 39 Prozent des Niveaus der Männer lag, aber bis 2011 immerhin schon auf 43 Prozent gestiegen ist.
Schauen wir uns die Dynamik in Westdeutschland an, Frau Ferner. Wie sieht es bei den jüngsten Altersjahrgängen aus, was die Rente anbelangt? In der jüngsten Altersgruppe hatten 1999 bereits 87 Prozent der Frauen eine eigene Alterssicherung und 2011 immerhin 92 Prozent. Was übrigens erstaunlich ist: Bei der zusätzlichen Altersversorgung, zum Beispiel der Riester-Rente oder der betrieblichen Altersversorgung, sind die Frauen besser als die Männer. Das heißt, Frauen handeln in Sachen Altersvorsorge durchaus klug, klüger noch als die Männer. Das muss man anerkennen.
- Die Frauen rufen natürlich zu Recht: Da auch.
Ein zentraler Punkt gerade der Union war und ist, dass wir angesichts der Tatsache, dass nach wie vor hauptsächlich Frauen die Erziehungs- und Pflegeleistung bei uns in Deutschland erbringen, diese Erziehungs- und Pflegeleistung bei der Rente anerkennen.
Deshalb waren wir es, die die Anerkennung von Kindererziehungszeiten überhaupt ins Rentenrecht aufgenommen haben.
Deshalb waren auch wir von der Union es, die die Anerkennung von Pflegeleistungen ins Rentenrecht aufgenommen haben. Auch das ist eine wichtige Reform.
Wir haben mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, das am 1. Januar in Kraft treten wird, die Leistung noch einmal verbessert.
Ich verstehe die Unruhe bei den anderen Fraktionen. Die haben in ihrer Regierungszeit nichts für die Anerkennung von Pflege- und Erziehungsleistung getan.
Wir, die Union, waren es.
Um zu einer eigenständigen Alterssicherung der Frauen beizutragen, kommt es wesentlich auf die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen an.
Wir haben 2007 mit der Einführung des Elterngeldes einen wichtigen Schritt unternommen,
der es möglich macht, dass Frauen aus dem Erwerbsleben für ein Jahr aussteigen, um Kinder zu erziehen
- Männer machen Gott sei Dank immer mehr auch davon Gebrauch -, und anschließend wieder schneller ins Berufsleben zurückkommen. Mit der Idee der Großelternzeit hat übrigens Frau Bundesministerin Schröder eine weitere gute Idee entwickelt,
wie die positiven Effekte des Elterngeldes in flexibler Weise genutzt werden können.
Mit dem Anfang 2012 in Kraft getretenen Familienpflegezeitgesetz wird es zudem Beschäftigten erleichtert, ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen und auch weiterhin Rentenansprüche zu erwerben.
Am 1. Januar 2013 tritt eine Neuregelung zu Minijobs in Kraft, die nicht unwesentlich ist. Wir kehren nämlich das bisherige System um. Künftig ist auch bei Minijobs eine Einzahlung in die Rentenversicherung die Regel und nicht die Ausnahme, selbst wenn man auf der Basis von Minijobs nie eine anständige Rente erwerben kann. Das ist richtig.
- Frau Ferner, Sie wissen, wie viele Menschen dauerhaft in ihrem Leben nur Minijobs ausüben und nichts anderes.
Auch wenn der Minijob in der Regel nur einen Teil der Berufsbiografie umfasst, ist es wesentlich, dass auch in der Zeit, in der man einen Minijob hat, Rentenversicherungsbeiträge gezahlt und entsprechende Ansprüche erworben werden.
Durch den gezielten quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung, insbesondere auch mit dem zum 1. August nächsten Jahres in Kraft tretenden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, schaffen wir eine weitere Voraussetzung dafür, dass Familie und Beruf für Frauen und Männer in Deutschland besser vereinbar sind.
Ich darf noch einmal erwähnen, dass wir, der Bund, dafür kräftig Geld in die Hand nehmen: 4 Milliarden Euro für die Schaffung und den Betrieb von Kindertageseinrichtungen und jetzt zusätzliche 580 Millionen Euro für weitere 30 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren.
Im Parlament liegt zurzeit ein Betreuungsgeldergänzungsgesetz zur Beratung, mit dem wir vorsehen, dass Frauen - oder natürlich auch Männer -, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen, einen zusätzlichen Finanzzuschuss vom Staat erhalten, wenn sie dieses Geld für eine zusätzliche Altersversorgung ansparen.
Auch das ist ein wichtiger Beitrag, um die eigenständige Altersversorgung von Frauen zu stärken und zu unterstützen.
- Der Kollege Strengmann-Kuhn redet in diesem Fall von „Geldverschwendung“. Ich finde, jeder Euro für die Altersversorgung ist nicht Geldverschwendung, sondern gut angelegtes Geld.
Um erwerbstätige Eltern, gerade mit kleinen und mittleren Einkommen, zu entlasten, hat sich die Bundesregierung in ihrer Demografiestrategie darauf verständigt,
familienunterstützende und haushaltsnahe Dienstleistungen zu stärken. Das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“ fördert die Familienfreundlichkeit in der Personalpolitik der Unternehmen, und im Rahmen der Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ unterstützt die Bundesregierung aktuell gemeinsam mit den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle in der betrieblichen Praxis. Deswegen ist eine der allerwichtigsten Maßnahmen, neben den rentenrechtlichen, dass wir durch entsprechende Gestaltung einer familienfreundlichen Arbeitswelt dafür sorgen, dass Männer und Frauen mit Familie, mit Kindern die Chance haben, im Arbeitsleben zu bestehen und eigenständige Altersversorgungsansprüche aufzubauen. Das ist der Kern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Auflistung dieser frauen- und familienpolitischen Maßnahmen, die ich hier kurz vorgenommen habe, zeigt: Wir haben in der Tat noch viel vor uns. Unter der Regierungsverantwortung von Angela Merkel, unter der Regierungsverantwortung von Ursula von der Leyen und Kristina Schröder haben wir so viele die Position und Situation von Frauen stärkende Entscheidungen getroffen wie nie zuvor in der deutschen Politik.
Es ist richtig, dass wir über eine eigene Alterssicherung der Frauen diskutieren, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass die historische Entwicklung dazu geführt hat, dass viele Frauen von Altersarmut bedroht sind.
Aber die vorliegenden Entwicklungsfaktoren zeigen: Wir machen einen Sprung nach dem anderen nach vorn, um die Situation von Frauen im Erwerbsleben und die Situation der Frauen, was die Alterssicherung anbelangt, deutlich zu verbessern. Auf diesem Weg wollen wir vorangehen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Elke Ferner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Weiß, eines muss man Ihnen lassen: Wie Sie die Tatsachen verdrehen, was Sie eben getan haben, ist schon bewundernswert.
Diese Wahlperiode kann man zumindest unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellungspolitik wirklich nur als Stillstandswahlperiode wahrnehmen und nicht als Fortschrittswahlperiode.
Altersarmut von Frauen fällt nicht vom Himmel, sondern sie hat Ursachen, Herr Weiß. Wer Altersarmut vermeiden will, muss deshalb an den Ursachen ansetzen und nicht an den Symptomen. Altersarmut ist das Ergebnis von Erwerbsarmut. Die Erwerbsarmut von Frauen ist das Ergebnis von falschen Rahmenbedingungen, die immer noch das Ein-Ernährer-Modell der Nachkriegszeit privilegieren, obwohl die gesellschaftliche Realität schon längst eine andere geworden ist.
Frauen sind mehr denn je auf eine eigenständige Existenzsicherung angewiesen, auch wenn sie verheiratet sind oder in einer Partnerschaft leben.
Wir haben bei der Frage der Vermeidung von Altersarmut kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit.
Wir alle wissen: Nur wer lange möglichst durchgängig Vollzeit zu guten Löhnen sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, wird im Alter eine auskömmliche Rente erhalten. Das gilt für Frauen wie für Männer.
Deshalb muss man auch beim Arbeitsmarkt ansetzen, Frau von der Leyen; man darf nicht auf eine sogenannte Lebensleistungsrente setzen, die nicht die Lebensleistung in Form von langjähriger Erwerbsarbeit belohnt, sondern ausschließlich die langjährige private Vorsorge.
Herr Weiß, Sie haben eben auf das Erwerbsleben abgehoben. Was habe ich von Ihnen denn zum Thema Mindestlöhne gehört? Nichts habe ich von Ihnen gehört!
Ein Mindestlohn würde den meisten Frauen sofort helfen, und zwar beim aktiven Einkommen und auch bei den Altersbezügen.
Deshalb fordern wir die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Zwei Drittel der Niedriglöhner sind Frauen. Die Verweigerungshaltung der schwarz-gelben Koalition bei der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns führt bei Frauen zu einem höheren Armutsrisiko im Alter.
Wer, Frau von der Leyen, als Arbeitsministerin hinnimmt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, am Ende des Monats nicht von ihrem Einkommen leben können, sondern zum Sozialamt bzw. zum Jobcenter gehen müssen, hat als Rentenministerin nicht das Recht, drohende Altersarmut zu beklagen.
Wir werden nach der kommenden Bundestagswahl einen gesetzlichen Mindestlohn einführen und damit die Situation für 5,8 Millionen Frauen und Männer verbessern - bei den aktiven Bezügen und bei der Altersversorgung.
Kommen wir zum Thema Minijobs. Anstatt Minijobs einzuschränken oder wenigstens den bestehenden Missbrauch zu unterbinden, haben Sie die Minijobgrenze um 50 Euro auf 450 Euro angehoben. Damit vergrößern Sie nicht nur das Heer der bisher über 7 Millionen Menschen, die in einem Minijob sind, sondern insbesondere auch das Armutsrisiko im Alter für Frauen.
Das, was Sie eben gesagt haben, Herr Weiß, dass wir jetzt sozusagen eine Regel-Ausnahme-Umkehr haben, glauben Sie doch selber nicht. Sie haben in Ihr eigenes Gesetz geschrieben, dass 90 Prozent der Betroffenen das gar nicht in Anspruch nehmen werden, sondern aus der Versicherungspflicht herausoptieren werden.
Wir reden bei 400 Euro übrigens über einen Rentenanspruch von 4,15 Euro im Monat. Das reicht nicht zum Leben und zum Sterben schon gar nicht. Das wissen Sie genauso gut wie wir.
Wir brauchen nicht mehr ungeschützte, sondern mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Ich finde, der DGB hat ein sehr interessantes Modell dazu vorgelegt, auf dessen Basis eine Neuordnung der Minijobs erfolgen könnte. Darüber hinaus müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, um den Missbrauch endlich zu bekämpfen. Wer von den Beschäftigten weiß denn, dass er oder sie Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat, dass bezahlter Urlaub gewährt werden muss, dass tariflich bezahlt werden muss? Und was tun die Arbeitgeber, obwohl sie eigentlich mehr bezahlen müssen in Form der pauschalen Abgaben? Sie setzen genau an den Stellschrauben an! Deshalb lohnt es sich am Ende des Tages für den Arbeitgeber, einen solchen Minijob anzubieten. Wir wollen aber mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
- Bitte schön. - Herr Präsident?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich konnte nicht so schnell sein wie die Kollegin Ferner. - Bitte schön.
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Frau Kollegin, Sie sind ja stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion.
Können Sie mir vielleicht Auskunft darüber geben, wie viel Minijobber Sie in Ihrer Fraktion beschäftigen?
Elke Ferner (SPD):
Das Thema hatten wir schon bei der letzten Debatte.
Wenn Sie sich die Zahlen genau angucken, dann werden Sie feststellen, dass die Zahl der Minijobber in Ihrer Fraktion und auch in der FDP-Fraktion prozentual gesehen
deutlich höher ist als in der SPD-Fraktion.
Die SPD-Fraktion selber - die Fraktion! - hat einen Minijobber in der Pressestelle. Wie das bei den Abgeordneten aussieht, kann ich Ihnen nicht sagen, weil diese Zahlen nur einer Kommission des Ältestenrats zur Verfügung gestellt werden und im Prinzip nichtöffentlich sind. Eines aber kann ich Ihnen sagen: Wenn wir eine andere Regelung für eine auf den Monat bezogen niedrig bezahlte Beschäftigung hätten, dann hätten wir alle hier andere Beschäftigungsverhältnisse. Die Bundestagsverwaltung wertet jedes Arbeitsverhältnis, das mit weniger als 400 Euro im Monat vergütet wird, als Minijob und meldet das auch so an. Wir haben gar keine andere Wahl, als so anzumelden.
Aber gucken Sie sich erst einmal Ihre eigenen Zahlen an, bevor Sie auf uns zeigen! Dann können wir gern noch einmal darüber reden.
Teilzeitarbeit führt auch zu einer niedrigen Rente im Alter. Wir stellen hier einen traurigen Rekord auf. Nach den Niederlanden sind wir das Land mit dem höchsten Anteil an Teilzeitarbeit. Fast die Hälfte aller Frauen im Westen arbeitet Teilzeit; im Osten sind es immerhin 34 Prozent. Aus Untersuchungen wissen wir - in den letzten Wochen gab es noch eine Untersuchung vom Statistischen Bundesamt -, dass die meisten Teilzeitbeschäftigten eine höhere wöchentliche Arbeitszeit wünschen, sie aber nicht bekommen. Teilzeitbeschäftigung bringt aber nicht nur eine geringere Rente mit sich, sondern in der Regel auch eine Dequalifizierung. Teilzeitbeschäftigte nehmen deutlich weniger an Fortbildungen und Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung teil als Vollzeitkräfte. Sie werden im Übrigen auch schlechter bezahlt.
Das, was die Bundesregierung macht, ist aber wirklich der Hammer. Frau von der Leyen, Sie sollten sich einmal die Homepage Ihres Ministeriums ansehen. Dort gibt es einen sogenannten Teilzeitrechner. Man gibt sein früheres Gehalt, seine frühere Stundenzahl und seine jetzige Stundenzahl ein - Frau von der Leyen interessiert das offenkundig nicht -, und dann wird ein Stundenlohn ausgeworfen, netto. Welch Wunder, er ist natürlich bei der Teilzeitarbeit höher als bei der Vollzeitarbeit. Was sagt uns das aber? Besser wäre es, wenn ausgerechnet worden wäre, welche Rente sich dabei ergibt. Dann hätte man feststellen können, dass bei einer Arbeitszeit von 20 Stunden mit einem Durchschnittseinkommen nicht 28, sondern nur 14 Euro Rente pro Jahr herauskommen. Offenkundig hat die Bundesregierung überhaupt kein Interesse daran, dass mehr Frauen, wie von ihnen gewünscht, arbeiten können, nämlich vollzeitnah und nicht nur Teilzeit oder „kleine Teilzeit“.
Ein weiteres Thema ist Equal Pay. Der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen ist immer noch sehr groß. Wir sind immerhin um einen Prozentpunkt besser geworden. Der Unterschied beträgt nur noch 22 Prozent statt 23 Prozent. Ganz klasse! Herr Weiß hat uns gerade angepriesen, dass die Rente der Frauen immerhin schon 42 Prozent des Niveaus der Männer beträgt. Das ist toll. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die sogenannten typischen Frauenberufe schlechter bezahlt werden als die Männerberufe, aber auch damit, dass Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld gezahlt wird als den Männern. Was fällt der Bundesregierung dazu ein? Sie unterstützen den Equal Pay Day mit Geld. Sie führen ein Messverfahren, das Logib-D-Verfahren, ein - das aber kein vernünftiges Messverfahren ist - und bieten den Unternehmen an, es freiwillig anzuwenden. Das ist alles. Wir haben den Entwurf eines Entgeltgleichheitsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Sie machen nichts. Sie haben noch nicht einmal ein Konzept - von wegen „Strategie“, Herr Weiß. Ich sage Ihnen: Wir werden nach der Bundestagswahl in diesem Haus ein Gesetz zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit beschließen, weil wir andere Mehrheiten haben werden.
Auch bei der Bewertung der sogenannten typischen Frauenberufe ist noch einiges zu tun. Warum derjenige, der unsere Waschmaschine repariert, ein höheres Einkommen bekommt, als diejenige, die unsere Kinder erzieht, erschließt sich mir nicht. Das hat etwas mit Gerechtigkeit, vor allen Dingen aber mit Wertschätzung zu tun.
Wir haben auch über Rahmenbedingungen zu sprechen. Rahmenbedingungen sind beispielsweise das Steuerrecht. Unser Steuerrecht privilegiert immer noch die Einverdienerehe mit dem Ehegattensplitting, mit der Steuerklasse V. Die Steuerklasse V ist eine der wesentlichen Hürden für Ehefrauen, wieder erwerbstätig zu werden, nachdem sie für die Kindererziehung ausgesetzt haben. Diese Steuerklasse V gehört abgeschafft und ersetzt durch das Faktorverfahren. Auch beim Ehegattensplitting müssen wir Änderungen vornehmen. Es ist nicht einzusehen, dass die Ehe begünstigt wird. Wir wollen eine Individualbesteuerung für neue Ehen, bei der die Unterhaltsverpflichtung gegenseitig steuerlich berücksichtigt wird. Dann ist die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt anders; denn dann präjudiziert nicht mehr die steuerliche Besserstellung die Entscheidung, ob man Vollzeit erwerbstätig ist oder nicht.
Ein weiteres Thema ist die Teilung der Arbeit im Erwerbsleben, aber auch in der Familie. Dazu brauchen wir - das ist richtig, Herr Weiß - etwas anderes als die Dauerpräsenzkultur, die wir jetzt haben. Wo sind denn die Initiativen zu familienfreundlichen Arbeitszeiten? Wo sind die Initiativen dafür, dass man für einen befristeten Zeitraum seine Arbeitszeit auf Teilzeit oder vollzeitnahe Teilzeit reduzieren kann? Wo sind denn die Initiativen für ein besseres, geschlechtergerecht ausgestaltetes Elterngeld? Von Ihnen haben wir dazu bisher nichts gehört.
Ein wesentlicher Punkt bei der Rente ist der Nachteilsausgleich für diejenigen, die ihre Erwerbsbiografie nicht mehr umschreiben können. Da muss ich Ihnen sagen: Nehmen Sie sich ein Beispiel an unseren Vorschlägen! Ich greife nur einmal den Punkt „Solidarrente“ heraus, also die Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Würde diese Regelung zum 1. Januar in Kraft treten, machte das für diejenigen, die, sagen wir einmal: von 1992 bis Ende dieses Jahres die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient haben, 147 Euro mehr an Rente aus. Das bekommen Sie mit Ihrer Lebensleistungsrente nicht hin. Da geht es lediglich um Cent-Beträge am Tag, um nicht mehr und um nicht weniger.
Wir haben hierzu Konzepte vorgelegt. Auf Ihre Konzepte warten wir noch. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden sich in dieser Koalition auf nichts einigen können. Eines ist klar: Wenn wir die Altersarmut überwinden wollen, dann müssen wir die Erwerbsarmut überwinden. Das geht nur mit einer anderen Bundesregierung.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat der Bundesregierung eine Große Anfrage mit dem schönen Titel „Alterssicherung und Altersarmut von Frauen in Deutschland“ zur Beantwortung vorgelegt, die wir heute hier debattieren. Weil die Linken ja immer ein Haar in der Suppe finden müssen,
kommen sie auf Basis der genannten Zahlen zu dem Ergebnis, um die Alterssicherung von Frauen in Deutschland sei es sehr schlecht bestellt. So heißt es jedenfalls in Ihrem Entschließungsantrag. Zum Beleg führt die Kollegin Ploetz hier aus, dass die Frauen eine sehr niedrige Rente hätten - ich habe mir die Zahlen notiert -: 83,5 Prozent unter 850 Euro.
Dazu möchte ich Folgendes anmerken: Wenn wir über Alterssicherung reden, Frau Kollegin Ploetz und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, dann müssen wir das netto verfügbare Gesamtalterseinkommen vor Augen haben. Dann reden wir aber nicht nur über Rente. Bei Frauen - das ist in dem Ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht auch so ausgeführt worden - ist zunächst natürlich die eigene erworbene Rente von Bedeutung, also das Ergebnis von Erwerbsarbeit unter dem Gesichtspunkt der Beitragsäquivalenz. Die Bundesregierung weist darauf hin, dass es darüber hinaus auch abgeleitete Leistungen und Leistungen des sozialen Ausgleichs gibt, die bei Frauen in besonderer Weise zum Tragen kommen.
Wenn man das Ganze zusammenführt, dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Das hätten Sie der Antwort auf die Große Anfrage oder zumindest dem Ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht, nämlich der Tabelle C.4.1a, entnehmen können. Dort werden das persönliche Nettoeinkommen und das äquivalenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen von Verheirateten und Alleinstehenden, auch nach Geschlecht differenziert, dargestellt. Alleinstehende Frauen haben demnach im Schnitt ein persönliches Nettoeinkommen von 1 292 Euro; ebenso hoch ist natürlich auch ihr äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto. Bei verheirateten Frauen sieht es ganz anders aus. Sie haben zwar nur ein persönliches Nettoeinkommen von 686 Euro, aber ein äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto von 1 585 Euro.
Deswegen lautet eine Antwort auf Ihren Entschließungsantrag: So wie Sie die Sache angehen, ist es nicht richtig. Ich weiß, es geht Ihnen um eine Standardisierung, darum, eine bestimmte These zu transportieren. Das ist ja Ihr Geschäftsmodell, mit dem Sie sich im politischen Wettbewerb versuchen zu behaupten. Die Zahlen geben das, was Sie behaupten, nämlich es sei um die Alterssicherung von Frauen in Deutschland sehr schlecht bestellt, jedoch nicht her.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ja, klar.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben mit Ihrem Redebeitrag den Eindruck erweckt, es sei alles gar nicht so schlimm. Sie agieren mit Durchschnittszahlen nach dem Motto: Wenn der eine null Euro hat und der andere 1 Million Euro, dann haben beide im Durchschnitt eine halbe Million. Zu den armen Frauen haben Sie kein Wort verloren. Ich würde Sie doch bitten, einmal dazu Stellung zu nehmen, dass von dem Zeitpunkt der Einführung der Grundsicherung im Alter bis heute die Anzahl derer, die im Alter Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen, um 69 Prozent zugenommen hat und dass zwei Drittel davon Frauen sind.
Insgesamt müssen heute schon 436 000 Menschen im Alter Grundsicherung in Anspruch nehmen. Das ist aber nur die offizielle Zahl. Es gibt eine Studie der Armutsforscherin Irene Becker, in der eine Dunkelziffer genannt wird; denn insbesondere viele Frauen sagen - die Kollegin Ploetz hat vorhin darauf hingewiesen -: Ich gehe nicht zum Sozialamt. Ich möchte eine Rente haben; ich möchte keine Sozialleistungen. - Diese Dunkelziffer liegt zwischen 60 und 68 Prozent, sodass wir schon heute von 1,1 bis 1,4 Millionen armen alten Menschen ausgehen müssen. Zwei Drittel davon sind Frauen. Der ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: In den neuen Bundesländern erhalten weit über 90 Prozent der Menschen nur die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung; bei den Frauen sind es sogar 95 Prozent. In diesem Fall können Sie nicht sagen: Da gibt es noch andere Alterseinkommen. - Die Betroffenen erhalten heute nichts aus Betriebsrenten, Lebensversicherungen oder Ähnlichem.
Das heißt, es gibt sehr viele ältere Frauen, die nichts anderes haben als diese mickrigen Rentenbeträge.
Deswegen ist meine Frage an Sie: Wie steht denn Ihre Fraktion bzw. wie steht die Koalition zu der Forderung, endlich dafür zu sorgen, dass Müttern auch für die Kinder, die vor 1992 geboren sind, drei Entgeltpunkte auf dem Rentenkonto gutgeschrieben werden? Wie stehen Sie also zur Frage der Kindererziehungszeiten, und wie stehen Sie zur Rente nach Mindestentgeltpunkten? - Die Kollegin Ferner hatte das angesprochen. Alleine diese beiden Maßnahmen würden dazu beitragen, dass Hunderttausende - mittelfristig Millionen - von älteren Frauen aus der Altersarmut herauskämen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Sie haben ja drei Punkte angesprochen. Sie werden ein bisschen länger stehen bleiben müssen, Herr Kollege Birkwald, wenn ich entsprechend Ihrer Fragen detailliert antworten soll.
Der erste Punkt ist die Grundsicherung im Alter. Dazu möchte ich grundsätzlich noch etwas ausführen. Wir haben in Deutschland so eine Neigung, ein Problem im sozialen Bereich zu identifizieren, dann eine Leistung zu gestalten, um dieses Problem anzugehen, aber dann hinterher „Skandal!“ zu rufen, wenn genau diese Leistung in Anspruch genommen wird. So funktioniert das im Moment bei der Grundsicherung im Alter. Wir haben sie ja nicht erfunden; das war Rot-Grün. Die Grundsicherung im Alter wurde ausdrücklich eingeführt, um Armut im Alter zu vermeiden. Aber jetzt sagen Sie, Herr Birkwald: Wenn jemand die Grundsicherung im Alter in Anspruch nimmt, dann ist er arm. - Die Inanspruchnahme von Grundsicherung bedeutet entweder Armutsvermeidung oder Armut. Ich glaube, die Wahrheit liegt eher bei dem, was sich die Kollegen von Rot-Grün damals gedacht haben: Die Grundsicherung vermeidet Armut.
Der Frau Hoffmann, die Sie ihn Ihrem Beitrag zitiert haben, Frau Kollegin Ploetz, muss man wirklich sagen: Die Grundsicherung ist damals auch eingeführt worden, um zu vermeiden, dass es „verschämte“ Armut gibt.
Es gibt einen Anspruch auf Grundsicherung. Diejenigen, bei denen die Rente nicht reicht, haben das Recht - das ist ein soziales Recht, das wir als Leistung in unserem Sozialstaat eingeführt haben -, diese Leistung in Anspruch zu nehmen.
Ich bin immer noch bei Ihrer ersten Frage, Herr Kollege Birkwald. Sie haben die Situation der Frauen, die Grundsicherung beziehen, beschrieben. Aber wenn man eine Gesamtsicht herstellen will, dann muss man doch auch sagen, dass insgesamt unter 3 Prozent derjenigen, die älter als 65 sind, überhaupt Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen. Das zeigt doch sehr deutlich, dass das stimmt, was ich eingangs gesagt habe, nämlich dass die Skandalisierungsthese nicht trägt. Bei den allermeisten Personen in Deutschland reicht die eigene Altersvorsorge aus.
Der zweite Punkt ist die Situation der Frauen in den neuen Bundesländern. Sie wissen so gut wie ich, Herr Birkwald, dass die Frauen in den neuen Bundesländern aufgrund der geschlossenen Erwerbsbiografien, die es in einer Vielzahl von Fällen gibt, eine deutlich höhere eigene Rente erhalten.
Es ist richtig, dass sich das mit der privaten Vorsorge und der betrieblichen Altersvorsorge alles erst entwickeln muss. Aber ich glaube, der Trend muss uns ermutigen, der in dem Ergänzenden Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht in der Tabelle C.4.2 dargestellt worden ist: Je jünger die Frauen sind, desto höher ist der Anteil der eigenen Alterssicherung; denn heute erwerben, anders als früher, als ein anderes Partnerschaftsmodell gelebt wurde, mehr und mehr Frauen ihre eigenen Rentenansprüche. Deswegen kann man das, was Sie gesagt haben, nicht so stehen lassen.
Zu Ihren anderen Fragen. Kindererziehungszeiten, Rente nach Mindestentgeltpunkten: Darüber diskutieren wir derzeit in der Koalition. Zu beiden Punkten ist zu sagen: Es kostet recht viel Geld. Aber darüber setzen Sie sich immer relativ locker hinweg. Ich sehe mir den Forderungsteil Ihres Entschließungsantrags an und erkenne: Sie haben da die eierlegende Rentenwollmilchsau erfunden; Geld spielt keine Rolle.
Alles, was nur irgendwie denkbar ist, Herr Kollege Birkwald, haben Sie am Ende niedergeschrieben. Das ist aber keine verantwortliche Rentenpolitik. Wir müssen uns natürlich auch danach richten, welche Mittel zur Verfügung stehen. Aber ich kann Ihnen sagen: Wir werden sicherlich einen eigenen Vorschlag in diesem Sinne vorlegen.
Bevor meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich Frau Ferner darauf hinweisen, dass es im Internet sicherlich nicht nur einen Teilzeit-Netto-Rechner gibt, sondern auch einen Rentenrechner.
Ich habe es auf die Schnelle nicht nachprüfen können; aber es würde mich sehr verwundern, wenn man im Internet nicht auch ausrechnen könnte, welchen Rentenanspruch man mit seinem Bruttoentgelt, das verbeitragt wird, erwerben kann.
Da haben Sie wirklich aus einer Mücke einen Elefanten gemacht; das muss man nicht machen.
Der letzte Punkt. Ich möchte ausnahmsweise der Kollegin Ploetz recht geben. Sie hat darauf hingewiesen, dass es bei der Grundsicherung im Alter einen Systemfehler gibt: Private und betriebliche Vorsorge werden angerechnet. Frau Kollegin Ploetz, auch wenn Sie das überrascht: Das sehen wir genauso; da gibt es heute einen Fehlanreiz im System, den man nach unserer Auffassung beseitigen sollte. Wenn wir Menschen ermutigen wollen, neben den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung eigene Anstrengungen bei der Altersvorsorge zu unternehmen, darf es nicht sein, dass wir ihnen am Ende sagen: Ätsch, das hat sich aber nicht gelohnt; falls du in die Situation kommst, Grundsicherung beziehen zu müssen, wird dir alles angerechnet. - Wie gesagt: Das gehen wir an.
- Es wird zwar nicht mehr in diesem Jahr geschehen;
aber im Januar nächsten Jahres, lieber Toni Schaaf,
werden wir auf der Basis von Ergebnissen eine intensive Rentendebatte zu den Vorstellungen der Koalition führen können.
Bis dahin wünsche ich Ihnen eine ruhige Zeit zwischen den Jahren; wir alle haben sie uns verdient. Frohe Weihnachten, einen guten Rutsch und ein gutes neues Jahr 2013!
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Altersarmut in Deutschland ist weiblich. Das war schon das Ergebnis der Großen Anfrage, die wir, die grüne Bundestagsfraktion, letztes Jahr gestellt haben. Ich möchte eine Zahl aus der Antwort der Bundesregierung nennen; es sind keine Zahlen von uns. Herr Kolb, hören Sie vielleicht einmal zu; denn ich bin gerade dabei, etwas zu den eben von Ihnen genannten Zahlen klarzustellen. In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu dem Thema „Altersarmut in Deutschland“ wurde deutlich, dass es allein 1 Million alleinstehende Frauen mit einem Einkommen unter der Risikogrenze gibt. Diese Grenze liegt bei 930 Euro; das ist nicht sehr viel. Hinzu kommen 500 000 Frauen, die in Paarhaushalten leben, wenngleich sie in der Tat meist bessergestellt sind als alleinstehende Frauen. Insgesamt liegt das Einkommen von über 1,5 Millionen Frauen unter der Altersarmutsrisikogrenze: unter 930 Euro, wenn sie alleine leben, unter 700 Euro pro Kopf, wenn sie in einem Paarhaushalt leben. Sie würden wahrscheinlich sagen: Das ist noch nicht Armut. - Aber wir sind uns vielleicht einig: Das ist sehr wenig Geld. Wenn man die Grenze heruntersetzt, ist die Gruppe derjenigen, die tatsächlich von Armut betroffen sind, immer noch groß. Wie gesagt: Es sind hauptsächlich Frauen. Ich bin deswegen der Linken durchaus dankbar, dass sie mit einer weiteren Großen Anfrage an dieser Stelle nachgehakt hat und das Thema der Altersarmut von Frauen angeht.
Der Kollege Peter Weiß tut mir fast schon ein bisschen leid,
weil ich weiß, dass Teile der CDU/CSU-Fraktion - mancher Sozialpolitiker, auch er - gerne etwas vorgelegt hätten, um die Altersarmut insgesamt und die Altersarmut von Frauen zu bekämpfen; aber da ist nichts. Ich habe in einer Fernsehdokumentation gesehen, dass die Bundesministerin schon als Kind beim Krippenspiel den Weihnachtsengel gespielt hat. Es ist erstaunlich - vielleicht auch nicht -,
dass sie heute nicht hier steht und sagt: Wir retten die armen alten Frauen. - Sie hat das in den letzten Jahren permanent angesprochen, nicht nur zur Weihnachtszeit. Aber mittlerweile ist klar: Der Lack ist ab; da wird in Sachen Bekämpfung von Altersarmut nichts mehr kommen.
Wenn man etwas gegen Altersarmut machen will, dann muss man in erster Linie bei den Ursachen ansetzen. Es gibt drei wichtige Ursachen, warum Frauen in der Altersarmut landen.
Die erste Ursache ist: Frauen verdienen immer noch weniger als Männer.
Sie haben einen geringeren Lohn - es ist schon gesagt worden -: 22 bis 23 Prozent weniger Stundenlohn. Das müssen wir unbedingt beenden. Wir finden: Frauen verdienen mehr.
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, der Frauen ein höheres Einkommen beschert, wir brauchen endlich ein Gesetz gegen Entgeltdiskriminierung, wir brauchen Equal Pay im Leiharbeitssektor und vieles mehr, um die Schere zwischen Männern und Frauen bei der Bezahlung zu schließen.
Der zweite Punkt. Frauen verdienen nicht nur pro Stunde weniger, sondern sie arbeiten auch weniger. Halt, falsch! Frauen arbeiten nicht weniger. Wenn man es genau nimmt, arbeiten Frauen mehr, aber der Erwerbstätigkeitsumfang von Frauen, die bezahlte Arbeit von Frauen ist geringer, sowohl in Wochenstunden als auch in Lebensarbeitszeit. Das heißt, sie haben weniger Lohn, weniger Erwerbsarbeitszeit, und das führt am Ende zu einer geringeren Rente. An diesem Punkt muss man unbedingt ansetzen.
Wir brauchen Anreize und müssen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Frauen mehr arbeiten können, und zwar nicht nur in Minijobs, sondern in bezahlter, sozialversicherungspflichtiger Teilzeit- oder Vollzeitarbeit, damit am Ende ein ordentliches Einkommen und folglich eine ordentliche Rente herauskommen.
Ein wichtiger Punkt in Bezug auf diese Rahmenbedingungen ist schon angesprochen worden: In Deutschland wird die Alleinverdienerehe besonders subventioniert. Deswegen ist es überhaupt kein Wunder, dass der Gender Pay Gap, also der Unterschied bei den Löhnen, in Deutschland besonders groß ist. Am stärksten wird die Alleinverdienerehe durch das Ehegattensplitting subventioniert. Wir wollen das Ehegattensplitting abschaffen und durch eine Individualbesteuerung ersetzen, damit endlich Gleichheit herrscht und für Frauen ein Anreiz besteht, mehr erwerbstätig zu sein.
Gleichzeitig muss man eines deutlich machen: Wir brauchen zwar Anreize für Frauen, mehr zu verdienen, wir müssen aber umgekehrt auch dafür sorgen, dass Männer weniger arbeiten und sich mehr um die Kindererziehung kümmern. Nur so werden wir tatsächlich eine Gleichstellung zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben und auch in der Rente bekommen. Das Ehegattensplitting ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen die Rahmenbedingungen stärken. Die zwei Vätermonate in der Elternzeit reichen nicht aus, sie müssen ausgeweitet werden und vieles mehr.
Wir haben genügend Konzepte vorgelegt, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben herstellen.
Frau Ferner, es reicht nicht, Erwerbsarmut zu bekämpfen und die Gleichstellung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt herzustellen, wir müssen auch die soziale Absicherung insbesondere von Frauen stärken.
Allein die Erwerbsarmut zu bekämpfen, reicht nicht aus, um Altersarmut zu vermeiden.
Derzeit ist es so: Bei einem Verdienst von 2 000 Euro braucht man 40 Jahre, um auf 30 Entgeltpunkte zu kommen, was ein bisschen über dem Grundsicherungsniveau liegt. Wenn man weniger verdient, weil man Teilzeit arbeitet oder einen Job mit Mindestlohn hat, dann liegt die Rente auch nach 40 Jahren nicht über dem Grundsicherungsniveau. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen das Rentenrecht so verändern, dass am Ende eine Rente herauskommt, die tatsächlich vor Armut schützt.
Da setzt man auch wieder im Lebensverlauf an. Unsere Perspektive ist langfristig die Bürgerversicherung. Da müssen wir schrittweise hinkommen. Ein wichtiger erster Schritt ist, die Minijobs wieder rentenversicherungspflichtig zu machen. Der Wechsel von Opt-in zu Opt-out reicht nicht aus. Vielmehr brauchen wir wieder eine Rentenversicherungspflicht für alle Menschen, die erwerbstätig sind.
Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass Nichterwerbstätigkeitsphasen besser abgesichert sind. In Paarhaushalten sollten die Rentenanwartschaften im Erwerbsverlauf geteilt werden. Es ist nicht einzusehen, dass eine Alleinverdienerehe vom Staat subventioniert wird; vielmehr sollten in einer Ehe die Anwartschaften geteilt werden. Das wäre solidarisch. Das würde eigentlich sogar zu einem konservativen Weltbild passen.
Das würde dazu führen, dass Frauen in längerfristiger Perspektive einen höheren eigenständigen Rentenanspruch erwerben und damit besser vor Altersarmut geschützt wären.
So viel zu den präventiven Maßnahmen, die alle notwendig sind.
Wir sagen aber auch: Viele Erwerbsbiografien sind jetzt schon geschrieben. Wir müssen auch sicherstellen, dass bei allen Unwägbarkeiten, die im Lebensverlauf passieren können, am Ende für diejenigen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben, ein Mindestniveau gewährleistet ist, und zwar nicht in Form einer Lebensleistungsrente - eigentlich muss man ja „Rentchen“ sagen -, sondern in Form einer echten Garantierente, die auch diejenigen schützt, die tatsächlich von Altersarmut bedroht sind, insbesondere die Frauen.
Wir haben ein Konzept für eine Garantierente vorgelegt. Wir sagen: Wer 30 Versicherungsjahre hat - alle rentenrechtlichen Versicherungszeiten zählen dazu -, soll eine Garantierente von 30 Entgeltpunkten erreichen. Das entspricht ungefähr 850 Euro. Damit muss man nicht mehr zum Grundsicherungsamt, wenn man lange in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Dieses Konzept einer Garantierente haben wir durchrechnen lassen. Dabei haben wir festgestellt, dass 85 Prozent derjenigen, die diese Garantierente beziehen würden, Frauen sind. Das heißt, die Garantierente ist eine echte Frauenmindestrente. Sie schützt die Frauen vor Altersarmut.
Das unterscheidet unser Konzept stark von dem Konzept der CDU; allerdings kann man dabei ja noch nicht einmal von einem wirklichen Konzept reden. Da gibt es nichts außer dem Begriff „Lebensleistungsrente“ und der Festlegung auf 40 Beitragsjahre.
Eindeutig ist: 40 Beitragsjahre sind von den Frauen, die von Altersarmut bedroht sind, überhaupt nicht erreichbar.
Bei der Solidarrente der SPD werden 40 Versicherungsjahre gefordert, von denen 30 Beitragsjahre sein müssen. Auch das ist von den meisten Frauen, die von Altersarmut bedroht sind, nicht zu erreichen. Das heißt, auch die SPD hat keine Antwort auf die drohende Altersarmut von Frauen.
Wir haben ein Konzept, mit dem wir die Frauen, die von Altersarmut bedroht sind, tatsächlich vor Altersarmut schützen können, mit dem wir sie davor bewahren können, dass sie nach langer Erwerbstätigkeit, langen Kindererziehungszeiten zum Sozialamt oder zum Grundsicherungsamt müssen. Sie erhalten eine Rente, die vor Armut schützt.
Da ich sehe, dass meine Redezeit vorbei ist, sage ich einen letzten Satz - ich habe gesagt, dass Frau von der Leyen schon als Kind den Weihnachtsengel gespielt hat -: Nächstes Jahr gibt es eine neue Ministerin oder einen neuen Minister, und dann werden wir uns daranmachen, die Altersarmut von Frauen endlich zu bekämpfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Heike Brehmer für die CDU/CSU-Fraktion.
Heike Brehmer (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch veränderte wirtschaftliche und demographische Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut besteht.
So steht es im Koalitionsvertrag unserer christlich-liberalen Koalition aus dem Jahr 2009.
Diese Aussage zeigt, dass wir den Kampf gegen Altersarmut bereits zu Beginn unserer Legislaturperiode fest in unserer Agenda verankert haben.
Ich kann die Aussage aus unserem Koalitionsvertrag nur wiederholen und bestätigen: Unsere christlich-liberale Koalition verschließt nicht die Augen vor dem Problem der Altersarmut
und widmet sich dem Thema mit einem hohen Maß an politischer Verantwortung.
Es war unsere Bundesarbeitsministerin, Frau von der Leyen, welche mit ihrem Regierungsdialog Rente
das Thema Altersarmut aufgegriffen und es zu einem wichtigen Handlungsfeld unserer Politik gemacht hat. Wir dürfen nicht vergessen, um wen es hier geht: Es geht um die vielen Menschen in unserer Bundesrepublik, vor allem Frauen, die Zeit ihres Lebens fleißig und hart gearbeitet haben. Sie haben in die Rentenkasse eingezahlt, sie haben aber auch ihre Kinder erzogen oder Familienangehörige gepflegt. Die Lebensleistung dieser Frauen verdient Anerkennung und großen Respekt, auch in der Alterssicherung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie nutzen Ihre Anfrage an die Bundesregierung wieder einmal, um mit den Emotionen unserer Bürgerinnen und Bürger zu spielen. Anstatt sich sachlich mit dem Thema auseinanderzusetzen, ist in Ihrer Anfrage von „unzureichender“ sozialer Absicherung die Rede.
Fakt ist: Die Rente ist und bleibt ein Spiegel unseres gesamten Erwerbslebens.
In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass viele Seniorinnen heute Witwenrente bekommen und davon leben müssen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte vergessen Sie nicht, dass die Rolle der Frau früher eine andere war als heute.
Insbesondere in den alten Bundesländern waren die Frauen meist zu Hause und haben die Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt. Selbst in der ehemaligen DDR - ich spreche hier als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern - sind viele Frauen zu Hause geblieben. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass meine Mutti zu Hause war und uns Kinder zu Hause erzogen hat. Wir waren nicht im Kindergarten und auch nicht im Hort, weil es selbst zu DDR-Zeiten nicht genügend Plätze gab.
Woher sollen heute die Rentenleistungen für unsere Seniorinnen kommen, welche circa 70 Jahre oder älter sind?
Inzwischen hat sich das Bild der Frau verändert. Fakt ist, dass in den letzten Jahren die Erwerbstätigenquote von Frauen in Deutschland überproportional gestiegen ist. Die Anzahl derer, die eine zusätzliche Altersvorsorge in Anspruch nehmen, ist unter Frauen sogar höher als bei Männern. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage deutlich hervor. Von einer, wie Sie es nennen, „unzureichenden Absicherung“ bei Frauen kann also nicht die Rede sein.
Wir müssen unsere Altersvorsorge zukunftsfest machen. Eine nachhaltige Vorsorge muss auf drei Säulen beruhen: erstens die gesetzliche Rentenversicherung, die das Kernstück unserer Altersvorsorge ist, zweitens die private Vorsorge und drittens die betriebliche Altersvorsorge.
Wir in der CDU/CSU wollen, dass jeder, der Zeit seines Lebens gearbeitet und vorgesorgt hat, im Alter von seiner Rente leben kann und ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung bekommt.
Wir wollen, dass wir die Anerkennung der Beitragszeiten von Frauen, die Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, schrittweise verbessern.
Das gilt insbesondere für diejenigen Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben.
Mit ihrer Entscheidung für ein oder mehrere Kinder haben diese Mütter einen wesentlichen Beitrag für unsere Rentenversicherung geleistet. Das sollten wir nicht vergessen.
Wir haben auf unserem Bundesparteitag in Hannover die schrittweise Anerkennung dieser Lebensleistung in unserem Beschluss „Sichere Rente - starker Generationenvertrag“ auf den Weg gebracht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn?
Heike Brehmer (CDU/CSU):
Nein.
CDU und CSU waren es auch, die im Jahr 1986 erstmals Familienleistungen in der Rentenversicherung anerkannt und diese schrittweise ausgebaut haben. Um unsere Rentnerinnen vor einer möglichen Altersarmut zu schützen, wollen wir daran anknüpfen und auch weiterhin an unseren Überzeugungen festhalten. Wir wollen und werden uns auch künftig dieser Thematik widmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, in Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie kostenlose Kitaplätze. Sie wissen schon, dass nicht nur der Ausbau der Kindertagesstätten viel Geld kostet, sondern auch die Betreibung, und dass kostenlose Kindergartenplätze die Kommunen, kreisfreien Städte und Länder zusätzlich schwer belasten würden? Der Landtag in Sachsen-Anhalt hat gestern die Änderung des Kinderförderungsgesetzes beschlossen. Bisher haben Eltern, die zu Hause und nicht berufstätig sind, nur einen gesetzlichen Anspruch auf Halbtagsbetreuung ihrer Kinder. Der Landtag hat nun beschlossen, dass alle Kinder einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung haben. Diese Änderung kostet das Land ab dem Jahr 2016 jährlich 53 Millionen Euro. Diese fallen zusätzlich zu den aktuell 184 Millionen Euro, die das Land bereits zahlt, an.
Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass auch wir uns kostenlose Kindertagesbetreuung nicht leisten können.
Wir wollen junge Familien mit Kindern finanziell entlasten. Das geschieht in erster Linie durch das Kindergeld und durch die steuerlichen Freibeträge. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich für eine Verbesserung dieser Familienleistungen eingesetzt. Wir haben das Kindergeld um 20 Euro pro Kind und Monat erhöht: für das erste und das zweite Kind auf 184 Euro, für das dritte Kind auf 190 Euro und für alle weiteren Kinder auf 215 Euro im Monat.
Ich möchte an dieser Stelle an die Blockadehaltung der SPD, der Grünen und der Linken im Bundesrat erinnern. Auch im Hinblick auf den Abbau der kalten Progression in der Einkommensteuer konnten Sie sich im Vermittlungsausschuss diese Woche nicht einigen.
SPD, Grüne und auch die Linken sorgen im Bundesrat weiterhin dafür, dass die hart arbeitenden Menschen in unserem Land ab Januar 2013 weiterhin hoch besteuert werden.
Vielleicht denken Sie einmal an die Menschen mit einem kleinen Portemonnaie, die sich etwas für die private Altersvorsorge zurücklegen wollen. Hier könnten Sie im Bundesrat Ihrer Verantwortung nachkommen.
Verehrte Kollegen von den Linken, in Ihrer Großen Anfrage geht es unter anderem um die Beschäftigungszahlen der Frauen in Ost- und Westdeutschland. Als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern
möchte ich Ihnen gerne meine Ansicht dazu schildern. In den neuen Bundesländern waren nach der Wiedervereinigung viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig. Viele Bürger, darunter viele Frauen, verloren ihren Arbeitsplatz. Verehrte Kollegen von den Linken, das sind die Folgen der verfehlten Politik der SED-Diktatur.
Sie reden in Ihrer Großen Anfrage von Altersarmut und „unzureichender“ Alterssicherung. Der Normalbürger zu DDR-Zeiten - daran möchte ich Sie gerne erinnern - hätte im Durchschnitt vielleicht 340 Ostmark Rente erhalten. Ich möchte auch daran erinnern, dass es damals weder Arbeitslosengeld noch eine Grundsicherung im Alter gab.
Ich möchte zum Abschluss meiner Rede kommen. Wir haben in der heutigen Debatte die sozialen Herausforderungen diskutiert - und tun es noch -, die an uns Frauen gestellt werden. Die christlich-liberale Koalition nimmt diese Herausforderungen an. Dieses Thema ist bei unserem Ministerium, bei unserer Ministerin in sehr guten Händen. Für uns in der Union gehört es zu unseren festen Überzeugungen, dass das Ziel einer menschlichen Gesellschaft nur erreicht werden kann, wenn Frauen in allen Bereichen dieser Gesellschaft mitwirken. Eine gleichberechtigte Teilhabe von Mann und Frau ist dafür eine Grundvoraussetzung.
Das gilt auch bei der Absicherung im Alter. Um dem Problem der Altersarmut zu begegnen, werden wir uns auch zukünftig mit viel Herz und Verstand für die Belange unserer Frauen einsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.
Anton Schaaf (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Brehmer, Sie können alle Themen dieser Erde ansprechen; es wird aber nicht funktionieren, davon abzulenken, dass Sie in dieser Legislaturperiode rentenpolitisch völlig gescheitert sind.
Ich weiß, wie das in Koalitionen ist: Da muss man Kompromisse machen, und manche Wege sind schwierig zu gehen. Das ist auch in Ordnung. Ich habe zwei Koalitionen gemacht; die eine war etwas besser als die andere.
Was ich der Union und dieser Ministerin allerdings nicht durchgehen lassen kann, ist, dass Sie zugelassen haben, dass Rentenpolitik in diesem Lande zur Klientelpolitik verkommt.
Sie sind mit hehren Zielen gestartet. Gehen wir die Punkte einmal durch: Rentenangleichung Ost/West: völlige Fehlanzeige, Frau Brehmer. Vermeidung von Altersarmut, im Koalitionsvertrag vereinbart: völlige Fehlanzeige in dieser Legislaturperiode. Rente nach Mindesteinkommen stand in Ihrem Konzept: völlige Fehlanzeige. Erwerbsminderungsrente: Fehlanzeige. Dann startet die Ministerin durch, mit einem riesigen medialen Aufwand, mit ihrem Vorstoß zu einer Zuschussrente. Auch dieses Konzept ist in der Koalition völlig gescheitert.
Heraus kommt eine „Lebensleistungsrente“. Da müssen wir über Klientelpolitik reden. Für diese „Lebensleistungsrente“ sollen die Menschen erst einmal ganz viele Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt haben. Das reicht aber nicht aus als Bemessungsgrundlage für eine „Lebensleistungsrente“. Es geht Ihnen also überhaupt nicht um die Lebensleistung der Menschen. Vielmehr sollen die Menschen diese Rente nur dann bekommen, wenn sie zusätzlich langjährig privat vorgesorgt haben. Das ist Klientelpolitik, meine Damen und Herren, und zwar zugunsten der Versicherungswirtschaft.
Wie sieht Ihre Bilanz dieser Legislaturperiode aus? Was haben Sie diesem Parlament real vorgelegt? Nur eines hat das Parlament tatsächlich erreicht - wir hatten dazu am Montag eine Anhörung -: Das ist die steuerliche Besserstellung für Selbstständige, die eine Rürup-Rente abgeschlossen haben. Das ist auch Klientelpolitik und nichts anderes.
Das ist das, was die Rentenpolitik dieser Regierung und dieser Koalition in dieser Legislaturperiode ausgemacht hat. Wenn man einen Strich darunter zieht, dann sieht man, dass Sie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichts gemacht haben - und schon gar nicht für die Frauen in diesem Lande.
Dann wurde es abenteuerlich und, wie ich finde, schäbig - um das ehrlich zu sagen. Der CDU-Parteitag hat, wie ich finde, richtigerweise beschlossen, dass man etwas für die Frauen tun muss, die vor 1992 Kinder geboren haben.
- Bis hierhin bin ich ja bei Ihnen.
Einen Tag später kam der Bundesfinanzminister um die Ecke und sagte: Wir machen bei dem Thema nichts, weil wir für Griechenland haften müssen. - So etwas an Schäbigkeit habe ich schon lange nicht mehr gehört - um ehrlich zu sein.
Entweder belügen Sie die Öffentlichkeit, wenn es darum geht, wie wir für Griechenland, die Finanzkrise und die schwierige Situation in den südeuropäischen Ländern haften, oder Sie spielen tatsächlich mit Ressentiments gegen die südeuropäischen Länder und insbesondere Griechenland, um nicht Geld in die Hand nehmen zu müssen und Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, besserzustellen. Das und nichts anderes ist doch der Hintergrund.
Ich habe keinen Widerspruch aus Ihren Reihen dazu gehört. An der Stelle habe ich nur den tapfer kämpfenden Peter Weiß erlebt, der in seiner völligen Verzweiflung vorgeschlagen hat, nur die Frauen besserzustellen, die mehrere Kinder vor 1992 Kinder geboren haben. In seiner Verzweiflung hat er selbst zu diesem Trick noch gegriffen. Aber selbst dieser Trick ist gescheitert, Peter; selbst dabei kommt nichts heraus.
Um wirklich voranzukommen, hätten Sie zumindest die Erziehungsleistung von Frauen in Ost- und Westdeutschland einfach gleichermaßen anerkennen können. Selbst das, die Erziehungsleistungen in Ost und West in der Rente gleichzustellen, haben Sie nicht hinbekommen. Selbst dazu waren Sie in keinster Weise in der Lage.
Von Ihren Strategien ist am Ende also nicht viel übrig geblieben.
Schauen wir uns noch einmal die Lebensleistungsrente an. Gestern, am 13. Dezember, dem Geburtstag meiner Mama, die ich von hier aus zu ihrem Geburtstag noch einmal grüße,
schrieb die Welt - Herr Präsident, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -: „Rentenreform droht endgültig zu scheitern“. Das, was Sie als Rentenreform bezeichnen, Ihr Vorschlag der Lebensleistungsrente, droht jetzt also endgültig zu scheitern.
Ihr geschätzter Kollege Straubinger Max, CSU, wird in diesem Artikel zitiert.
Dort steht:
Straubinger machte deutlich, dass auch die CSU bei der Lebensleistungsrente mehr Probleme als Lösungen sieht.
Ja, Sie verursachen neue Probleme und Ungleichheiten. Der Straubinger Max hat recht. Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm!
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Anmerkungen machen:
Ich finde, die Saarbrücker Zeitung hat etwas Schönes geschrieben - Herr Präsident, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -:
Die Union möchte dem Rentenkonzept der SPD etwas Greifbares entgegensetzen. Aber die FDP hat daran offenkundig wenig Interesse.
Sie lassen sich von dieser kleinen Klientelpartei auch in der Rentenpolitik mit dem Nasenring durch die Arena ziehen. Das ist das, was tatsächlich dabei herauskommt.
Deswegen werden Sie in dieser Legislaturperiode mit Sicherheit auch nichts mehr hinkriegen.
Herr Strengmann-Kuhn, wir sind an der einen oder anderen Stelle vielleicht noch nicht ganz beieinander, aber ich bin mir sicher: Ab September nächsten Jahres werden wir uns relativ zügig auf den Weg machen, um Antworten auf die Fragen zu geben, wie wir Altersarmut verhindern und Frauen auch im Rentenrecht besserstellen können.
Ich bin mir sicher: Wir kriegen das zügig hin. Die kriegen das auf gar keinen Fall hin.
Danke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Pascal Kober (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Toni Schaaf, eines muss sich diese Regierungskoalition von der SPD mit Sicherheit nicht vorwerfen lassen, nämlich dass wir für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichts gemacht hätten.
Wir haben eine Politik gemacht, die so viele Menschen wie seit Jahrzehnten nicht mehr in Arbeit gebracht hat. Das ist eine Leistung dieser Regierungskoalition, die sich sehen lassen kann, Toni.
- Deine Nervosität zeigt, dass wir recht haben.
Wir sind die wahre Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenpartei, nicht ihr. Wir bringen die Menschen in Arbeit, und das ist das Wichtigste, wenn es um rentenpolitische Fragen geht.
Toni Schaaf, auch ich grüße deine Mutter, die gestern Geburtstag hatte, von diesem Ort aus. Während dieser Rentendebatte habe ich eine SMS von einem Freund bekommen, dem gerade ein Sohn, Julius Paul Konstantin, mit 53 Zentimetern und 3 440 Gramm geboren wurde.
Auch für die Generation dieser Kinder, die jetzt geboren werden, müssen wir Politik machen, auch an sie müssen wir denken, wenn wir in der Rentenpolitik etwas erreichen wollen,
weil alles von künftigen Generationen bezahlt werden muss, entweder über Beiträge oder über Steuern.
Lieber Toni Schaaf, liebe Frau Ferner, liebe SPD, Sie sollten in der Debatte schon ehrlich sein. Sie tun so, als ob man mit der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns - der Mindestlohn ist eine Forderung in Ihrem Wahlkampf - von 8,50 Euro in ganz Deutschland etwas gegen Altersarmut erreichen könnte.
Dann sollten Sie zumindest so ehrlich sein, einmal vorzurechnen, wie viel man denn in Deutschland verdienen müsste, um, wenn man 40 Jahre lang ganztägig arbeitet, auf einen Rentenanspruch zu kommen, der höher als die gegenwärtige Grundsicherung ist.
Da müssen Sie 14, 15 oder 16 Euro die Stunde verdienen, nicht die 8,50 Euro, die Sie hier propagieren. Sie streuen mit Ihrer Forderung den Menschen Sand in die Augen und machen ihnen Hoffnungen, die Sie in keiner Weise erfüllen können.
Diese Regierungskoalition macht eine erfolgreiche Politik, auch wenn es um die Erwerbstätigkeit von Frauen geht. Es ist richtig: Gerade bei Frauen müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen, damit sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Ein wichtiger Schlüssel dafür ist die Kinderbetreuung. Die Bundesregierung hat - daran waren Sie beteiligt - den Ausbau der Kinderbetreuung bereits mit 4,6 Milliarden Euro forciert. Jetzt sind allerdings auch die Länder gefordert, auch die, in denen Sie Regierungsverantwortung haben,
ihren Teil der Zusagen einzuhalten und eine ausreichende Kinderbetreuung sicherzustellen.
Aber auch wir lassen nicht nach. Diese Regierungskoalition unterstützt den Betrieb und den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung ab 2014 mit jährlich 845 Millionen Euro. Das kann sich sehen lassen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Chancen für Frauen am Arbeitsmarkt.
Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung beispielsweise mit dem Programm „Perspektive Wiedereinstieg“ Frauen und ihre Partner im Prozess des beruflichen Wiedereinstiegs.
Mit über 650 lokalen Bündnissen für Familien vernetzen wir Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft. So verbessern wir die Lebensbedingungen von Familien, von Eltern und erleichtern den Wiedereinstieg in den Beruf.
Wir müssen aber auch insgesamt an einigen Stellen in der Gesellschaft umdenken, beispielsweise wenn es um die Berufswahl von Frauen geht. Auch das, Frau Ferner, ist ein wichtiger Punkt; denn wir sehen, dass sich 50 Prozent aller jungen Frauen auf nur 10 Prozent von den rund 350 existierenden Ausbildungsberufen konzentrieren, und zwar häufig im Dienstleistungsbereich, etwa als Verkäuferin, Arzthelferin, Friseurin, wo es eher geringere Karriere- und Verdienstmöglichkeiten gibt. Da muss man die jungen Frauen ermutigen, neue und andere Berufsbilder zu entdecken, damit sie die gleichen Chancen wie die Männer haben.
- Nein, Frau Ferner, Frauen sind nicht selber daran schuld. Aber jeder kann seinen Beitrag leisten. Wir sind bereit, das zu tun.
Liebe Frau Ferner, wenn Sie wirklich etwas gegen Altersarmut und für die Erwerbstätigkeit von Frauen tun wollen, dann wählen Sie bei der nächsten Bundestagswahl diese Bundesregierung.
Damit werden Sie dieses Ziel erreichen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
Jutta Krellmann (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich stelle noch einmal fest: Niedriglöhne und Minijobs ergeben eine schlechte Rente.
Frauen sind davon besonders betroffen. Überraschung! All das haben wir vorher nicht gewusst. Jetzt wissen wir es genau, und zwar allein wegen dieser Anfrage.
70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor sind Frauen. Zwei Drittel aller Minijobber sind weiblich. Die Folge: Frauen sind häufiger auf Grundsicherung im Alter angewiesen und von Armut im Alter bedroht, egal was Herr Kolb von der FDP dazu sagt. Aber es kommt noch dicker: Selbst in normalen Arbeitsverhältnissen sind Frauen schlechter gestellt als ihre männlichen Kollegen. Frauen verdienen im Durchschnitt - das haben auch andere schon gesagt - 22 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
Als ich in Hameln bei der IG Metall angefangen habe zu arbeiten, war das große Thema der AEG-Frauen die Abschaffung der Niedriglohngruppen. Die Abschaffung dieser unteren Entgeltgruppen ist gelungen. Dafür haben wir gekämpft.
Heute gibt es die Lohngruppe 1 nicht mehr. Die Diskriminierung von Frauen in vielen anderen Bereichen und Arbeitsbereichen ist aber geblieben und hat sich sogar teilweise noch verstärkt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, was ist so schwer daran, wirksam gegen Altersarmut vorzugehen? Man bräuchte doch nur einen Mindestlohn einzuführen. Das wäre doch wirklich nicht schwierig.
Stattdessen doktern Sie mit völlig untauglichen Mitteln an den Ergebnissen Ihrer Niedriglohnpolitik herum und versagen bei der Gleichstellungspolitik. Damit muss Schluss sein.
Ihre Miniaufstockung von Renten mit dem zynischen Namen „Lebensleistungsrente“ für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, wird kaum bei den Frauen ankommen, weil die meisten Frauen gar nicht so viele Beitragsjahre zusammenbekommen.
Auch bei der Bekämpfung einer anderen Ursache niedriger Frauenrenten versagen Sie. Abgesehen von schlechten Löhnen sind auch längere Erwerbsunterbrechungen wegen Kindererziehung und Pflege ein Grund für niedrige Renten von Frauen. Denn immer noch sind meistens sie es, die zu Hause die Kinder erziehen und Angehörige pflegen.
Wir brauchen endlich eine funktionierende Infrastruktur für Erziehung und Pflege, damit auch Frauen in ihren Berufen tätig bleiben können.
Statt das anzugehen, wollen Sie sich den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz billig durch das Betreuungsgeld abkaufen lassen oder setzen auf schlecht bezahlte und kaum abgesicherte Tagesmütter, die ihrerseits wahrscheinlich auch in der Altersarmut landen werden. Zusätzlich brauchen wir genau in den Bereichen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne.
Die Linke sagt: Wir brauchen familienfreundliche Arbeitszeiten und eine Arbeitskultur, in der nicht diejenigen der tolle Hecht oder die tolle Frau sind, die bis 20 Uhr im Büro sitzen, sondern diejenigen, die spätestens um 17 Uhr alles geschafft haben und dann ihre Kinder abholen können, um mit ihren Familien zusammen leben zu können.
Die Linke sagt: Wir brauchen eine Pflegeversicherung, die diesen Namen auch verdient und die eine Pflege ermöglicht, in deren Hände man seine Eltern und Großeltern gerne gibt.
Die Linke sagt außerdem: Um Minirenten zu verhindern, müssen wir Minijobs abschaffen, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro einführen und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessern.
Aber gute Löhne können nur dann zu guten Renten führen, wenn das Rentenniveau insgesamt ausreichend hoch ist. Das ist nicht mehr der Fall und wird für viele, egal ob Männer oder Frauen, in die Altersarmut führen, wenn Sie nicht gegensteuern.
Es bleibt dabei: Wir brauchen einen grundlegenden Kurswechsel in der Arbeits- und Rentenpolitik, auch und gerade für Frauen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf den eigentlichen Anlass dieser Debatte zurückkommen, nämlich die Große Anfrage, die Sie als Linke an die Bundesregierung gerichtet haben. Das Thema ist wichtig, wie auch Redner unserer Fraktion schon gesagt haben, aber für mich bzw. für uns ist die Fragestellung irgendwie seltsam. Denn es wirkt so, als hätte es zwischen den Aussagen, die Sie in der Einleitung zu Ihrer Großen Anfrage gemacht haben, und den Aussagen, die Sie jetzt machen, keine Antwort gegeben.
Es wirkt, als wären Sie schon voreingenommen und wüssten die Antwort schon vorher, wollten sie aber noch einmal bestätigt haben. Sie klauben sich ein Stück weit einfach das heraus, was Sie bestätigt. Ich lese einfach ein paar kurze Passagen aus Ihrer Großen Anfrage vor: „Frauen sind …“, „Sie haben …“, „Sie verfügen …“, „Sie sind …“. Das stammt nur aus den ersten sechs oder sieben Zeilen der Anfrage.
Dann stellen Sie Fragen und machen jetzt, nachdem Sie die Antwort der Bundesregierung bekommen haben, die gleichen Aussagen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass dazwischen Dinge widerlegt worden sind.
- Die sind ja auch entsprechend ausgefallen. - Für uns ist das ein wichtiges Thema. Mich erinnert Ihr Vorgehen an die Szenerie - ich weiß nicht, ob Sie diese kennen -, in der ein Mann einen Pfeil sieht, der in einer Scheunenwand steckt, und dann herausfindet, dass dieser Pfeil im Schwarzen einer Zielscheibe steckt.
Später stellt sich heraus, dass die Zielscheibe um den Pfeil herum gemalt wurde. Genauso verhält es sich mit Ihrer Großen Anfrage. Sie haben die Antworten schon vorweggenommen.
Im Einstiegstext zu Ihrer Großen Anfrage sagen Sie, was Sie denken. Welchen Sinn machen Fragen, wenn schon in der Vorbemerkung Folgendes behauptet wird:
Die bisher bekannt gewordenen Vorhaben ... sind jedoch nicht geeignet, dem Problem der Altersarmut und unzureichenden Absicherung von Frauen für das Alter in adäquater und ausreichender Weise zu begegnen.
Weiter heißt es:
Die darüber hinaus anvisierten rentenrechtlichen Änderungen sind ebenfalls nicht geeignet, das Problem im Kern zu lösen.
Dann gibt es falsche Behauptungen. In Frage 33 Ihrer 80 Fragen heißt es:
Wie bewertet die Bundesregierung den Trend der Abnahme weiblicher Vollzeitbeschäftigung ...?
In der Kleinen Anfrage, die Sie letztes Mal gestellt haben, wurde darauf bereits geantwortet: Diesen Trend gibt es gar nicht.
In einer anderen Frage werden Sie darauf hingewiesen, dass Sie die Antwort auf Ihre Frage in dem vorangegangenen Satz hätten finden können. Ich finde, das Thema ist zu wichtig, als dass wir so einfältig und leichtfertig damit umgehen sollten.
Ich kann mich an dieser Stelle des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie offensichtlich das politische Ziel sozialistischer Färbung haben,
ein Stück weit einen Angriff auf die Kernwerte unserer Gesellschaft zu starten, und das wird dann auch noch als solidarisch dargestellt.
Ihr Entschließungsantrag enthält Forderungen wie die Abschaffung des Ehegattensplittings und des Betreuungsgeldes.
Kann es sein, dass Sie freiwilligen Verzicht von Bürgern auf Erwerbsarbeit zugunsten von Erziehung einfach nicht zulassen wollen?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Binder?
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Nein, im Moment nicht. Ich möchte zum Punkt kommen. -
Politik darf doch den Lebensentwurf von Familien nicht so stark beeinflussen, von Eingriffen in andere Autonomiebereiche ganz zu schweigen.
Meine Kollegin Brehmer hat am Anfang gesagt, dass die Rente für uns als christlich-liberale Verantwortungsträger Erwerbsbiografie, Erziehungsleistung und pflegerische Tätigkeit widerspiegeln und so die Versorgung im Alter sichern und die Lebensleistung tatsächlich würdigen soll. Ich habe gesagt: eine wichtige Debatte. Die Debatte wird auf jeden Fall zum richtigen Zeitpunkt geführt. In diesem Jahr haben nicht nur Sie, meine Damen und Herren von der Linken, diese Anfrage gestellt. Frau von der Leyen ist teilweise verbal fast dafür vermöbelt worden, dass sie auf Altersarmut als Problem hingewiesen hat.
Man hat ihr vorgeworfen, hier ein Angstszenario zu skizzieren.
Wir nehmen dieses Thema in den Fokus. Ich zitiere:
Die Bundesregierung sieht, dass durch veränderte wirtschaftliche Strukturen und den demografischen Wandel in Zukunft die Gefahr besteht, dass Altersarmut zunimmt.
Weiter heißt es:
Vor diesem Hintergrund und der Notwendigkeit, im Hinblick auf die Alterssicherung auch den Haushaltszusammenhang und abgeleitete Alterssicherungsansprüche zu berücksichtigen, kann von einer besonders unzureichenden sozialen Absicherung von Frauen ... nicht die Rede sein.
Der Anteil von Frauen, die im Alter Leistungen der Grundsicherung beziehen, ist sehr gering.
Es ist eine wichtige Debatte mit einem konstruktiven Ausblick. Die drei Säulen wurden bereits genannt: die gesetzliche Rente, die betriebliche Altersvorsorge und die private Vorsorge. Herr Strengmann-Kuhn hat vorhin immer wieder gefragt: Was tut die Bundesregierung?
Herr Kober hat bereits auf den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und den bedarfsgerechten Ausbau der qualitativ hochwertigen Kinderbetreuungsinfrastruktur hingewiesen. Die Bundesregierung fordert Unternehmen auf, die Einrichtung betrieblicher Betreuungsplätze zu fördern. Meine Redezeit reicht nicht aus, um all das, was die Bundesregierung tut, aufzulisten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Ich komme zum Ende.
In der heutigen Ausgabe des Tagesspiegels wird das noch einmal bestätigt. Es kommt nicht nur bei den Betrieben, sondern auch bei den Familien an:
Eltern wählen ihren Arbeitgeber immer stärker nach der Familienfreundlichkeit aus.
Wenn das Signal nicht deutlich genug ist! Ein wichtiges Thema mit einer seltsamen Fragestellung, -
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege!
Frank Heinrich (CDU/CSU):
- eine wichtige Debatte zum richtigen Zeitpunkt.
Aber wir brauchen auch einen konstruktiven Ausblick. Wir laden Sie zu weiteren Debatten ganz herzlich ein.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion.
Ottmar Schreiner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin eigentlich erstaunt darüber, dass die Bundesregierung bislang hier nicht das Wort ergriffen hat.
- Bitte?
Wir haben hier eine Debatte über die schriftliche Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage.
Diese Antwort der Bundesregierung ist in den Debattenbeiträgen mehrfach in Zweifel gezogen worden.
Hier sitzt die amtierende Bundesministerin und hat es bislang nicht nötig, im Parlament zu dem Thema zu reden. Hier sitzt der Staatssekretär Fuchtel, ausgestattet mit einer neuen Brille, und hat es nicht nötig, hier im Parlament zu dem Thema zu reden.
Das geht einfach nicht.
- Die ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Dieses Gerät ist gewöhnungsbedürftig, Herr Staatssekretär, aber das ist ein anderes Thema.
Die Vorredner haben schon zusammengefasst, um was es sich hier handelt: Pannen, Pleiten, Pech. Weiß der Teufel, was hier zustande gekommen ist. Nichts. Schauen Sie sich die Ankündigungen der letzten Jahre und die Koalitionsvereinbarung an. Ich habe alleine schon wegen des Rentendebakels große Zweifel, ob es sich bei dieser Koalition um eine christlich-liberale Koalition handelt.
Es handelt sich ohne Zweifel um eine liberale Koalition, aber was den christlichen Teil betrifft, sind einige Fragezeichen angebracht.
- Große Fragezeichen. - Schauen wir uns an, was zu guter Letzt dabei herausgekommen ist. Auch hier gilt der Satz von Altkanzler Helmut Kohl. Eine seiner berühmtesten Erkenntnisse war ja: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. - Hier ist hinten bislang nichts herausgekommen.
Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, kommt denn noch etwas hinten heraus?
Der Kollege Schiewerling leitet eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Versuch beschäftigen soll, die verschiedenen Überlegungen, die seit Jahren auf dem Koalitionsmarkt sind, jetzt erneut zusammenzufügen. Ich entnehme der Presse, dass der Kollege Schiewerling die Arbeitsgruppe nicht mehr einberuft.
- Das kann man in den Zeitungen nachlesen.
Herr Kollege Schiewerling, haben Sie jede Hoffnung aufgegeben? Hier ist Schluss mit lustig, es findet nichts mehr statt.
Ich habe in meinem ganzen parlamentarischen Leben kein vergleichbares Beispiel dafür erlebt, dass in einem zentralen Politikfeld alle Ankündigungen über Jahre hinweg bis hin zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag in keinem einzigen Punkt eingehalten worden sind. Das habe ich bisher in diesem Ausmaß nicht erlebt. Wir erleben ein völliges Fiasko der Koalition.
Frau von der Leyen hat ohne Zweifel das Verdienst, dass sie mit der Lampe auf die Probleme geleuchtet hat. Ich kenne eine ganze Reihe von Beispielen. Sie hat unter anderem in den Medien darauf hingewiesen, dass beispielsweise jemand, der 1 900 Euro verdient, bei 40 Beitragsjahren auf eine Rente von etwas mehr als 800 Euro kommt. Wenn das Rentenniveau weiter gesenkt wird, wird sich der Betrag in Richtung Grundsicherung bewegen - und das bei 1 900 Euro Monatsverdienst. Das heißt, der komplette Niedriglohnsektor wird in absehbarer Zeit in der Altersarmut versumpfen, wenn nichts geschieht.
Der Niedriglohnsektor ist aber eine Domäne, in die ganz überwiegend Frauen abgeschoben werden. Damit sind wir beim Thema. In dem Armuts- und Reichtumsbericht, dem ungeschönten - ich spreche von der ersten Version -
- dem echten -, ist zu lesen, dass 25 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland inzwischen atypische, das heißt prekäre, instabile, unsichere Beschäftigungsverhältnisse sind. Das ist ein neuer Rekord. Dass 23 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor angesiedelt sind, ist ebenfalls ein Rekord. Wir haben es also mit der Situation zu tun, dass rund ein Viertel aller Beschäftigten entweder in einem prekären Beschäftigungsverhältnis oder im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Diese Beschäftigten sind zu fast 70 Prozent Frauen. Das heißt, die Altersarmut dieser Frauen ist - das belegen alle Daten, die die Bundesministerin in den letzten Monaten vorgetragen hat - geradezu vorprogrammiert. Das weiß jeder.
Es geschieht nichts. Es geschieht deshalb nichts, weil die Koalition handlungsunfähig ist. Übrigens: Ich widerspreche der Saarbrücker Zeitung ungern, weil mein Wahlkreis in der Nähe von Saarbrücken liegt. Wenn sie aber schreibt, dass die FDP - Herr Kollege Kolb, ich muss Sie jetzt ausdrücklich in Schutz nehmen - den Versuch der CDU blockiere, bei der Bekämpfung der Altersarmut einen Schritt nach vorne zu machen, dann trifft das nicht zu.
Sie von der FDP blockieren zwar, aber Sie sind nicht die Einzigen. Ihre Helfershelfer in der CDU/CSU - die Rentenpolitiker Mißfelder, Spahn und wie die ganze Truppe heißt - sind die eigentlichen Verhinderer und Blockierer in dieser Koalition.
Die Ministerin und das Häuflein der Sozialpolitiker sind umstellt von Herrn Kolb und seinen Rentenjüngern in der FDP-Fraktion auf der einen Seite
und der jungen Garde der neoliberalen Jungideologen Mißfelder, Spahn und Konsorten auf der anderen Seite.
Sie tun mir fast schon leid, und da Weihnachten ist, wünsche ich Ihnen eine gute Erholung über die Festtage.
Ich will zur Lebensleistungsrente von Frau von der Leyen jetzt nichts mehr sagen. Dazu ist bereits vieles dargestellt worden.
Frau von der Leyen, was bisher von Ihnen kam, ist nichts als weiße Salbe. Wenn Sie eine Aufstockung um etwa 10 Euro als Honorierung von Lebensleistung darstellen, dann bedeutet das, dass man die Leute veralbert, vereiert, im schlimmsten Fall verarscht.
Das geht wirklich nicht, Frau von der Leyen.
Den Vogel abgeschossen - nicht Sie, Herr Vogel; Sie brauchen gar nicht zusammenzuzucken - -
- Ach so, okay. Dann kann es ja ganz lustig werden.
Ich möchte noch kurz auf den abgeschossenen Vogel eingehen. Frau von der Leyen, damit gemeint sind nicht Sie; nicht Sie haben den Vogel abgeschossen. Den Vogel abgeschossen hat vermutlich die wichtigste Person in der Bundesregierung nach der Bundeskanzlerin, nämlich der Bundesfinanzminister. Der Bundesfinanzminister hat vor wenigen Tagen in der Bild am Sonntag erklärt, er sehe derzeit überhaupt keinen Spielraum im Haushalt 2013 für die auf dem CDU-Parteitag beschlossene Besserstellung älterer Mütter in der Rente. Als Grund hat er die neuen Hilfsmaßnahmen für Griechenland angeführt.
Das ist bodenlos.
Mit dem gleichen Argument könnte hier im Bundestag jemand einen Antrag stellen, den Bundeswehreinsatz in der Türkei unterbleiben zu lassen, weil das Geld dafür aufgrund der Hilfen für Griechenland nicht da sei. Es gibt überhaupt keinen inneren Zusammenhang zwischen dem Bundeswehreinsatz in der Türkei und den Griechenland-Hilfen, und es gibt auch nicht den geringsten inneren Zusammenhang zwischen den Rentenleistungen für Mütter, die vor 1992 geboren haben, und den Griechenland-Hilfen. Das ist abenteuerlich und bringt die Europapolitik in schwersten Misskredit. So etwas darf man hier wirklich nicht stehen lassen. Das geht doch gar nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ottmar Schreiner (SPD):
Ja, ich komme zum Schluss.
Wenn der Bundesfinanzminister einen adäquaten Beitrag zur Verbesserung der Situation geliefert hätte, dann hätte er vielleicht einmal erklärt, ob und in welchem Ausmaß die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Europa darauf hingewirkt hat, dass beispielsweise in Griechenland die wirklich Vermögenden - die Milliardäre, die Millionäre - ihrerseits einen Beitrag zur Sanierung des griechischen Staatshaushalts leisten.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege!
Ottmar Schreiner (SPD):
Solange sie nicht zur Kasse gebeten werden, ist es unstattlich, in Deutschland ältere Frauen, die Kinder geboren haben, wegen Griechenland in Haftung zu nehmen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schreiner, das war ja wirklich eine bemerkenswerte Rede.
Ich habe ein bisschen auf die Zeit geachtet: Die Hälfte der Zeit haben Sie sich mit persönlichen Angriffen auf Vertreter der Regierungskoalition beschäftigt,
gipfelnd in der Auseinandersetzung über die Brille des Parlamentarischen Staatssekretärs. Wer keine Argumente hat, der geht gegen die Person. Das ist, glaube ich, bezeichnend, Herr Kollege Schreiner.
- Auf die „Rentenjünger“ wollte ich jetzt nicht näher eingehen.
Schauen wir uns einmal an, was Sie inhaltlich gesagt haben, lieber Kollege Schreiner. Sie haben gesagt, Sie hätten den Eindruck, diese Koalition lege beim Rentenpaket nichts mehr vor. Sie haben sich auf einen Pressebericht gestützt, aus dem das hervorgehe.
Ich gehöre diesem Parlament sehr, sehr viel kürzer an als Sie. Aber eins habe selbst ich schon in meiner ersten Legislaturperiode gelernt: Man soll nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.
Insofern: Wenn entsprechende Zeitungsmeldungen das Fundament Ihrer Argumente sind, dann ist das bezeichnend.
Gehen Sie einmal davon aus, dass diese Koalition in intensiven Gesprächen ist. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir die Arbeit nicht schon drei Jahre nach Beginn der Legislaturperiode einstellen.
Wir werden ein gutes Paket zu den Themen Lebensleistungsrente, Grundsicherung, Rentenflexibilisierung und den anderen Themen vorlegen.
Interessant ist ja - wir reden hier über Altersarmut -, dass dieses Paket sowieso nur auf der Systematik aufbauen kann, die wir im Rentensystem schon haben. Da, lieber Toni Schaaf, fand ich bemerkenswert, wie du hier gegen die eigene Politik gewettert hast - gegen die Politik, die die rot-grüne Regierung einmal begonnen hat.
Eins ist klar: Gerade die Menschen, die wenig haben, gerade die, die weniger ins Rentensystem einzahlen, sind doch darauf angewiesen, dass das Rentensystem solide und zukunftssicher aufgebaut ist.
Wir reden ja über Altersarmut für die Jüngeren, für zukünftige Generationen. Heute ist Altersarmut in Deutschland zum Glück nicht so weit verbreitet. Wenn wir auch in Zukunft Altersarmut vermeiden wollen, dann muss das Rentensystem in Zeiten des demografischen Wandels solide aufgebaut sein. Deswegen habt ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der ehemaligen rot-grünen Koalition die zweite Säule der Rentenversicherung aufgebaut, zu der wir uns bekennen.
Dagegen wurde heute von dir, lieber Toni Schaaf, sehr polemisiert. Die SPD hat sich mit dem aktuellen Rentenkonzept, das sie beschlossen hat, von der eigenen Politik - Stichwort „zweite Säule“, Stichwort „Rente mit 67“ - verabschiedet.
Da kann ich nur sagen: Wenn diese Politik Realität würde, dann wäre das für die jüngere Generation der sicherste Weg in die Altersarmut, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das wollen wir nicht.
Neben der Frage der Systematik des Rentensystems ist eines auch klar; da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin Ferner, ausnahmsweise zu. Wir sind im Deutschen Bundestag häufig nicht einer Meinung, aber in einem Punkt muss ich Ihnen ausdrücklich recht geben.
Sie haben betont: Die eigene Rente kann immer nur Spiegel des eigenen Arbeitslebens sein. - Das ist richtig. Deshalb: Wer sich seriös mit der Verhinderung von Altersarmut beschäftigen will, der muss neben dem Rentensystem auch immer auf das schauen, was am Arbeitsmarkt passiert.
- Genau! - Nur ist Ihre teilweise realitätsverweigernde Wünsch-dir-was-Politik am Arbeitsmarkt
- das gilt auch für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken - dann nicht die bessere Antwort. Es ist eben nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen mit gesetzlichem Mindestlohn usw. usf.
Es kommt darauf an, sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, für die Menschen am Arbeitsmarkt Einstiegschancen - denn das größte Risiko für Altersarmut ist längere Arbeitslosigkeit - und Aufstiegschancen zu organisieren.
Da kann ich nur sagen: Ausweislich der Zahlen, ausweislich zum Beispiel der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa, ausweislich unseres Handelns, ausweislich des Ausbaus der Qualifikationsmöglichkeiten für mehr Aufstiegsperspektive am Arbeitsmarkt widmen wir uns dieser Aufgabe sehr viel erfolgreicher als Sie mit all den Konzepten, die Sie uns hier vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
In diesem Sinne hat uns, finde ich, diese Debatte leider nicht wirklich neuere Erkenntnisse gebracht, Herr Kollege Birkwald, als die Kleine Anfrage zu diesem Thema, die Sie im Laufe dieses Jahres bereits gestellt haben.
Ich freue mich trotzdem, dass wir Gelegenheit hatten, hier noch einmal ausführlich zu debattieren. Ich nutze diese Gelegenheit auch, um zum Ende meiner Rede versöhnlich Ihnen allen frohe Weihnachten zu wünschen sowie ein paar schöne ruhige Tage im Kreise von Menschen, die Ihnen wichtig sind. Ich freue mich darauf, dass wir alle uns im neuen Jahr in dieser Runde im Deutschen Bundestag wiedersehen.
In diesem Sinne: Schöne Feiertage!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Lieber Jörn Wunderlich, schauen wir mal! - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben zu Beginn und zum Ende Ihrer Rede unsere sehr engagierte und dynamische Arbeitsministerin, Frau von der Leyen, rückblickend als Weihnachtsengel apostrophiert.
Vom Äußeren könnte man sicherlich auf die Idee kommen, dass sie für eine solche Funktion geeignet wäre - wie für andere Sachen auch. Ich komme gleich noch darauf.
- Frau Ferner, zu Ihnen komme ich auch noch.
Auf jeden Fall: Es hat nichts mit Weihnachten zu tun. Schauen Sie sich einmal den Entschließungsantrag an! Wir haben im März den ersten Entwurf zur Vermeidung gerade von Altersarmut hier durch Frau von der Leyen vorgelegt bekommen. Da hat die Linke gemerkt: Hoppla, da ist was! Dann stellen wir eine Große Anfrage. - Aus dieser Großen Anfrage ist der vor drei Tagen hier vorgelegte Entschließungsantrag entstanden, der - wir sind in der Vorweihnachtszeit - etliches Wünschenswerte, aber leider Gottes keine Finanzierung enthält. Das ist aber genau die Diskussion, die wir führen müssen.
Sie fordern die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das haben wir gemacht. Lieber Anton Schaaf, weil du gesagt hast, wir hätten nichts erreicht, sage ich: Es ist nicht nur das Rentenpolitik, wo „Rentenpolitik“ draufsteht; auch Familienpolitik ist Rentenpolitik. Das haben wir gemacht. Wir haben den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen vorangebracht,
um die Möglichkeiten von Frauen, Berufstätigkeit und Familie zu verbinden, zunehmend zu verbessern. Da sind wir auf einem guten Weg. Das haben wir umgesetzt. Daran kann man einen Haken machen. Frau Familienministerin Schröder - -
- Nein! Erledigt! Erfolgt! - Wir haben sogar noch 580 Millionen Euro für die Betreuungseinrichtungen draufgelegt, weil manche Regionen - erstaunlicherweise sozialdemokratisch regierte - hier noch Hausaufgaben machen müssen.
- Liebe Frau Ferner, wenn Sie mitdenken können, können die Stenografen auch mitschreiben.
Lieber Anton Schaaf, Sie haben ausgeführt, dass der Kollege Straubinger recht hat. Natürlich hat der Kollege Straubinger wie immer recht. Sie sagten weiterhin, erst ab September 2013 werde es besser werden. Ihren Optimismus in Ehren, aber ich glaube, es wird ab September 2013 noch besser, weil die christlich-liberale Koalition über den September 2013 hinaus weiter regieren wird.
Meine Damen und Herren, ich habe mir die einzelnen Forderungen im Entschließungsantrag der Linken angesehen. Ich will nicht verhehlen, liebe Frau Ploetz, dass die Forderung nach einer „Stärkung des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Rentenversicherung ... durch die Ausweitung der dreijährigen Kindererziehungszeiten auf Zeiten vor 1992“ sehr große Sympathie bei mir auslöst.
- Das ist doch nicht völlig neu, lieber Kollege Birkwald.
Fairerweise muss man dazu sagen: Wenn man die Vorschläge ad hoc umsetzt, kostet das 14 Milliarden Euro. Man muss deshalb auch sagen, woher das Geld kommt. Wir können jetzt keine neuen Schulden machen und zulasten der nächsten Generation das verfrühstücken, was wir eigentlich den Müttern geben wollen.
Es macht keinen Sinn, den Müttern etwas zu geben, was wir den zukünftigen Generationen, also den jetzigen Kindern, wieder wegnehmen.
Das wäre der falsche Weg.
Diese Sorge treibt auch den Bundesfinanzminister um. Natürlich muss er auf die Schwierigkeiten bei der Finanzierung hinweisen.
Natürlich muss er sagen, dass das momentan mit der Schuldenbremse, mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts schwer zu vereinbaren ist. Wir arbeiten daran, Frau Kollegin Ferner, Mittel und Wege zu finden, um die Situation zu verbessern. Es wird nicht von jetzt auf gleich gehen. Natürlich sehen auch wir hier eine Gerechtigkeitslücke, auf die Sie in Ihrem Antrag zu Recht hingewiesen haben.
Es ist richtig - darauf haben die Vorredner bereits hingewiesen -, dass die Altersarmut in Deutschland überwiegend Frauen betrifft. Dafür verantwortlich sind die geringen Einkommen und die geringe Anzahl der Versicherungsjahre. Frauen verdienen weniger als Männer, haben eine eher unregelmäßige Erwerbsbiografie, da sie aufgrund von Schwangerschaft und Kindererziehung öfter pausieren oder Teilzeit arbeiten. Das ist von den Vorrednern schon alles thematisiert worden.
Es sind auch im Jahr 2012, also in diesem Jahr, mehrheitlich Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, um sich familiären Fürsorgeaufgaben wie Kinderbetreuung oder Pflege von Familienangehörigen zu widmen. Nach dieser Auszeit entscheiden sie sich häufig für Teilzeitarbeit, arbeiten weniger oder arbeiten in weniger gut bezahlten Branchen bzw. in geringfügiger Beschäftigung. Das wirkt sich auf die Rentenhöhe aus. Jede Unterbrechung führt beim Wiedereinstieg zu Gehaltseinbußen und somit zwangsläufig zu Abschlägen in der Rente.
Die Alterssicherung der Frauen ist in hohem Maße nach wie vor vom Einkommen der Männer abhängig. Häufig erreichen die Frauen erst durch die Kombination ihrer eigenen, sehr niedrigen Rente mit der ihres Gatten bzw. mit einer Hinterbliebenenrente ein ausreichendes Einkommen. Allerdings sind - entgegen Ihrer Auffassung, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken - familienbedingte Erwerbsunterbrechungen per se im Rahmen des langen Verlaufes eines Erwerbslebens noch nicht der alleinige Auslöser für die Probleme bei der Alterssicherung.
Hier bedarf es der differenzierten Betrachtung der vielfältigen Ursachen und Wirkungszusammenhänge. Aktuelle Studien zeigen, dass sich familienbedingte Erwerbsunterbrechungen sehr unterschiedlich auf den weiteren Erwerbsverlauf auswirken können. Sie dokumentieren, dass das eigentliche Problem nicht die Erwerbsunterbrechung an sich ist,
sondern das, was darauf in ihrer weiteren Biografie folgt. Die eigentliche Frage ist also, ob und wie der Wiedereinstieg ins Berufsleben gelingt und welchen Umfang die Erwerbstätigkeit danach hat.
Da in Deutschland die Alterssicherung insgesamt sehr eng mit dem Erwerbsleben verknüpft ist, kommt hier der Arbeitsmarktintegration eine große Bedeutung zu. Die Auswertungen der Erwerbsbiografien belegen erwartungsgemäß, dass die Rentenhöhe sehr eng mit der Dauer der sozialversicherungspflichtigen Vollzeit- oder vollzeitnahen Beschäftigung zusammenhängt. Vor dem Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Studien, die auf einen wachsenden Anteil von Frauen mit Erwerbspräferenzen im vollzeitnahen Bereich hinweisen, ist eine bessere Mobilisierung dieser Erwerbspotenziale ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der eigenen Alterssicherung.
Viele Frauen sind aber beispielsweise in bestimmten Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter noch immer unterrepräsentiert.
Auch darauf wurde hingewiesen. Daher ist es unsere Aufgabe, Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf konsequent zu unterstützen. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter zu verbessern, ist der Ausbau der Kinderbetreuung von zentraler Bedeutung. Neben öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen sind auch betriebliche Angebote erforderlich.
Ich darf darauf hinweisen: Am 30. November 2012, also vor wenigen Wochen, hat die christlich-liberale Bundesregierung daher die nächste Runde des Förderprogramms „Betriebliche Kinderbetreuung“ gestartet. Seit vorletzter Woche können Unternehmen an dem neuen Förderprogramm „Betriebliche Kinderbetreuung“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teilnehmen. Das Programm richtet sich an Unternehmen aller Größen und Branchen mit Sitz in Deutschland. Dabei werden Arbeitgeber finanziell gefördert, wenn sie neue betriebliche Kinderbetreuungsplätze einrichten. Mit diesem Zuschussprogramm sollen Unternehmen motiviert werden, ihre Beschäftigten bei der Kinderbetreuung zu unterstützen.
Für Mitarbeiter haben familienbewusste Arbeitsbedingungen zweifelsohne einen hohen Stellenwert bei der Auswahl des Arbeitgebers. Beschäftigte, die bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt werden, kehren früher aus der Elternzeit zurück, fehlen seltener, sind meist weniger gestresst und arbeiten motivierter. Somit stellt sich mit dieser familienfreundlichen Komponente durchaus ein Standortvorteil mit Blick auf den sich abzeichnenden Fachkräftebedarf heraus.
Gerade im Hinblick auf die Fachkräftesicherung können Unternehmen somit von einer familienfreundlichen Personalpolitik nur profitieren.
Eine familienbewusste Arbeitswelt ist entscheidend für eine gelungene Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jeden, der sich für gebündelte Informationen rund um das Thema „Familienfreundlichkeit“ interessiert, lade ich ein - liebe Frau Ferner, nehmen Sie sich etwas zum Schreiben -, sich auf der Internetseite www.erfolgsfaktor-familie.de umzuschauen.
- Das freut mich.
Ich wünsche Ihnen, Frau Ferner, und allen Kolleginnen und Kollegen eine schöne Weihnachtszeit und erholsame Feiertage. Auf ein gutes 2013, in dem wir dieses Thema weiter bearbeiten werden und in der christlich-liberalen Koalition zu einem guten Ende führen werden!
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11854. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der
215. Sitzung - wird am
Montag, den 17. Dezember 2012,
auf der Website des Bundestages unter „Dokumente“, „Protokolle“, „Endgültige Plenarprotokolle“ veröffentlicht.]