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Knapp ein halbes Jahr nach dem jüngsten Wahlrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Bundestag am Freitag, 14. Dezember 2012, erneut über eine Reform des Bundeswahlgesetzes beraten. Dem Parlament lagen dazu in erster Lesung ein gemeinsamer Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen (17/11819) sowie ein Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke (17/11821) vor. Die Neuregelung ist notwendig geworden, nachdem die Verfassungsrichter eine 2011 von der schwarz-gelben Koalition durchgesetzte Wahlrechtsreform im Juli (2 BvF 3/ 11, 2 BvR 2670/ 11, 2 BvE 9/ 11) als verfassungswidrig verworfen hatten. Das neue Wahlrecht soll bereits für die Bundestagswahl im kommenden Jahr gelten.
Dabei soll der Vier-Fraktionen-Vorlage zufolge zur Vermeidung des Phänomens des sogenannten negativen Stimmgewichts die mit der Wahlrechtsreform von 2011 eingeführte länderweise Verteilung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien in modifizierter Form als erste Stufe der Sitzverteilung beibehalten werden.
"Zur Vermeidung von Überhangmandaten" wird laut Entwurf "in einer zweiten Stufe der Sitzverteilung die Gesamtzahl der Sitze so weit erhöht, bis bei anschließender bundesweiter Oberverteilung an die Parteien und Unterverteilung auf die Landeslisten alle Wahlkreismandate auf Zweitstimmenmandate der Partei angerechnet werden können".
Nach dem Gesetzentwurf der Linksfraktion soll künftig die Anrechnung von Direktmandaten auf das Zweitstimmenergebnis einer Partei auf der Bundesebene erfolgen.
"Soweit dennoch – im Ausnahmefall – Überhangmandate entstehen, erfolgt ein Ausgleich, der sich nach den auf der Bundesebene erzielten Zweitstimmenanteilen der Parteien richtet", heißt es in dieser Vorlage weiter. Dieses Modell führe "in der Regel zu keiner Vergrößerung des Bundestages".
In der Debatte begrüßte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer, den Vier-Fraktionen-Kompromiss als "verfassungsgemäße Lösung". Man habe eine "schwierige Aufgabe fraktionsübergreifend gut gelöst".
Danach werde der Effekt des negativen Stimmgewichts, der bei der Umrechnung von Wählerstimmen in Parlamentssitze zu einer Verfälschung des Wählerwillens führen könne, sowie die Frage der Überhangmandate in Angriff genommen, ohne die "Grundpfeiler" des deutschen Wahlsystems" zu beeinträchtigen. Die Bürger seien mit der personalisierten Verhältniswahl vertraut und könnten "auch künftig auf diese Grundlage setzen".
Wie Grosse-Brömer erläuterte, sollen künftig die Bundestagssitze in einem ersten Schritt auf die Bundesländer verteilt werden. Dabei werde jedes Land "so viel Stimmen erhalten, wie es Anteil an der Wohnbevölkerung hat". In einem zweiten Schritt würden diese Sitze dann auf die jeweiligen Landeslisten der Parteien erteilt. Hierbei erhalte jede Landesliste so viel Sitze, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht. F
Ferner sollten für Überhangmandate, die entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate errungen hat als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht, Ausgleichsmandate an die anderen Parteien vergeben werden. Dadurch sei eine Vergrößerung des Bundestages nicht auszuschließen. Dies sei ein "Wermutstropfen", doch sei der Bundestag gemessen an der Einwohnerzahl eines der kleinsten Parlamente in Europa.
Der Parlamentarische SPD-Fraktionsgeschäftsführer, Thomas Oppermann, bezeichnete das Wahlrecht als das "vornehmste demokratische Recht der Bürgerinnen und Bürger". Zwar müsse nicht jeder Einzelne die "komplexe Mechanik" des Wahlrechts verstehen, aber er müsse sich darauf verlassen können, dass seine Stimme am Ende die Wirkung habe, "die er mit dieser Stimme verbindet".
Am besten sei zudem ein Wahlrecht, "das im Einvernehmen der konkurrierenden Parteien" vom Bundestag verabschiedet wird. Er sei daher froh, dass man "nach den Irrungen und Wirrungen der Koalition beim Wahlrecht" jetzt zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf von vier Fraktionen gekommen sei. "Das ist ein großer Schritt nach vorn", sagte Oppermann.
Niemand wolle in Deutschland auf das Zwei-Stimmen-Wahlrecht verzichten, doch müsse man zwei Korrekturen vornehmen, fügte er hinzu. So würden das negative Stimmgewicht beseitigt und Überhangmandate neutralisiert. Dabei sei es "durchaus historisch, dass Überhangmandate von jetzt ab keine Rolle mehr spielen werden". Zudem müsse der Bundestag deshalb "auch nicht unverhältnismäßig groß werden".
Der FDP-Parlamentarier Dr. Stefan Ruppert sprach von einem "guten Tag für dieses Land", weil man mit dem Gesetzentwurf der vier Fraktionen als Demokraten gezeigt habe, "dass die Gemeinsamkeiten stärker sind als die Unterschiede". Dabei sei ein guter Kompromiss gefunden worden.
Ruppert wies zugleich Forderungen nach einem Ein-Stimmen-Wahlrecht zurück. Er könne nicht nachvollziehen, warum ein Wahlrecht, bei dem der Wähler eine Stimme habe, demokratischer sein solle als ein Wahlrecht, bei dem der Wähler zwei Stimmen "und damit ein höheres Maß an Einfluss hat".
Zwar werde es das perfekte Wahlrecht "nie geben", doch bringe es "die Demokratie nicht ins Wanken", dass es "immer kleinere Anomalien im Wahlrecht gibt". Wenn das bewährte Wahlrecht in Deutschland erhalten bleibe, habe man einen "großen Schritt" zur Stärkung der repräsentativen Demokratie getan.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, sagte, der mit der Koalition und den Sozialdemokraten gefundene Kompromiss sei seiner Fraktion nicht leicht gefallen. Das politische Ziel der Reform sei es, dass "der Wählerwille unverfälscht in den Stärkeverhältnissen des Deutschen Bundestages zum Ausdruck kommt".
Wenn dieses Ziel erreicht werde, sei seine Fraktion bereit, auch den aus ihrer Sicht zweit- oder drittbesten Vorschlag zu akzeptieren. Mit Blick auf eine mögliche Vergrößerung des Bundestages schlug Beck vor, der Bundestag solle sich bei der Verabschiedung des Gesetzentwurfs der vier Fraktionen verpflichten, in der nächsten Wahlperiode "im Lichte des Wahlergebnisses daran zu arbeiten, dass Direktmandate bei ihrer Entstehung reduziert werden, damit sie nicht ausgeglichen werden müssen". Dies könne beispielsweise durch eine Wahlkreisreform mit dem Ziel der Verringerung der Zahl der Wahlkreise erfolgen.
Für die Linksfraktion verwies ihre Abgeordnete Halina Wawzyniak darauf, dass es zu dem Modell der anderen vier Fraktionen eine verfassungsgemäße Alternative gebe, die nicht zu einer Vergrößerung des Parlaments führe. Deshalb schließe sich ihre Fraktion nicht dem Vorschlag der anderen Fraktionen an. Nach deren Gesetzentwurf würden – verkürzt gesagt – die Mandate erst auf die Bundesländer verteilt und dann an die Parteien.
Dieses Modell hätte nach Berechnungen des Bundesinnenministeriums seit 1994 immer zu einer Vergrößerung des Bundestages geführt. Eine verfassungsgemäße Alternative sei der Entwurf ihrer Fraktion, demzufolge zunächst errechnet werden soll, wie viele Mandate sich für eine Partei bundesweit ergeben. Davon sollten die bundesweit auf eine Partei entfallenden Direktmandate abgezogen werden.
"Entstehen ausnahmsweise Überhangmandate, wird ausgeglichen, bis das Zweitstimmenergebnis wiederhergestellt ist", fügte Wawzyniak hinzu. Dieses Modell "hätte seit 1994 lediglich im Jahr 2009 zu einer Vergrößerung des Bundestages geführt".
Ebenfalls in erster Lesung lag dem Parlament zudem ein gemeinsamer Gesetzentwurf aller fünf Fraktionen zu einer weiteren Änderung des Bundeswahlgesetzes (17/11820) vor. Danach können Deutsche, die dauerhaft im Ausland leben, derzeit nicht an Bundestagswahlen teilnehmen, nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 4. Juli 2012 (2 BvC 1/ 11, 2 BvC 2/ 11) die bisherige Regelung zum Wahlrecht im Ausland lebender Deutscher im Bundeswahlgesetz für nichtig erklärt hatte.
Dem Entwurf zufolge sollen Auslandsdeutsche bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen künftig wieder wahlberechtigt sein, sofern sie entweder nach Vollendung ihres 14. Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik gelebt haben und dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegt oder "aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind". (sto/14.12.2012)