Plenarprotokoll 17/43 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 43. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 I n h a l t : Wahl des Abgeordneten Werner Simmling als Mitglied und des Abgeordneten Torsten Staffeldt als stellvertretendes Mitglied in den Eisenbahninfrastrukturbeirat Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung des Tagesordnungspunktes 33 k Nachträgliche Ausschussüberweisung Tagesordnungspunkt 4: Eidesleistung des Wehrbeauftragten Präsident Dr. Norbert Lammert Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Nadine Müller (St. Wendel), Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Qualitätsoffensive in der Berufsausbildung (Drucksache 17/1435) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 2010 (Drucksache 17/1550) c) Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verordnungsermächtigung in § 43 Absatz 2 des Berufsbildungsgesetzes entfristen (Drucksache 17/1745) d) Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Konsequenzen aus dem Berufsbildungsbericht ziehen - Ehrliche Ausbildungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung für alle ermöglichen (Drucksache 17/1734) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung der Teilhabechancen junger Menschen und des Fachkräftebedarfs von morgen stärken (Drucksache 17/1759) Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF Willi Brase (SPD) Heiner Kamp (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Heiner Kamp (FDP) Agnes Alpers (DIE LINKE) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Uwe Schummer (CDU/CSU) Katja Mast (SPD) Michael Gerdes (SPD) Florian Bernschneider (FDP) Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Agnes Alpers (DIE LINKE) Stefan Schwartze (SPD) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für ein modernes Patientenrechtegesetz (Drucksache 17/907) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Wolfgang Zöller, Beauftragter der Bundes- regierung für die Belange der Patientinnen und Patienten Kathrin Vogler (DIE LINKE) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Erwin Rüddel (CDU/CSU) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Dr. Karl Lauterbach (SPD) Dr. Erwin Lotter (FDP) Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Elke Ferner (SPD) Rudolf Henke (CDU/CSU) Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Karl Lauterbach (SPD) Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 16. Dezember 2009 und 26. Januar 2010 über die Verteilung von Versorgungslasten bei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwechseln (Drucksache 17/1696) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Insel Man zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von im internationalen Verkehr tätigen Schifffahrtsunternehmen (Drucksache 17/1697) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Insel Man über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Auskunftsaustausch (Drucksache 17/1698) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Guernsey über den Auskunftsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/1699) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. August 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Gibraltar über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Auskunftsaustausch (Drucksache 17/1700) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. September 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums Liechtenstein über die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/1701) g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 2008 über die Änderung des Vertrags vom 11. April 1996 über die Internationale Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigung (Drucksache 17/1702) h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betriebs-prämiendurchführungsgesetzes und des Agrarstatistikgesetzes (Drucksache 17/1703) i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Katzen- und Hundefell-Einfuhr-Verbotsgesetzes und zur Änderung des Seefischereigesetzes (Drucksache 17/1704) j) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erhebung von Daten zu der Versorgung mit Hebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Einkommenssituation von Hebammen und Entbindungspflegern sicherstellen (Drucksache 17/1587) l) Antrag der Abgeordneten Axel Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Brücken bauen - Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahe bringen (Drucksache 17/1757) m) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abschaffung der Wehrpflicht (Drucksache 17/1736) n) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einigkeit über die Definition des Tatbestandes des Aggressionsverbrechens im IStGH-Statut erzielen (Drucksache 17/1767) o) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomausstieg beschleunigen - Strommarkt zukunftsfähig entwickeln (Drucksache 17/1766) Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Marktengpässe bei flüssiger Biomasse (Drucksache 17/1750) Tagesordnungspunkt 34: a)-i) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88 und 89 zu Petitionen (Drucksachen 17/1590, 17/1591, 17/1592, 17/1593, 17/1594, 17/1595, 17/1596, 17/1597, 17/1598) Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Auseinandersetzung in der Koalition zur Haushaltskonsolidierung Steffen Bockhahn (DIE LINKE) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) Dagmar Ziegler (SPD) Dr. Michael Luther (CDU/CSU) Klaus Hagemann (SPD) Florian Toncar (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jürgen Herrmann (CDU/CSU) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Alois Karl (CDU/CSU) Volkmar Klein (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Europa 2020 - Die Wachstums- und Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union braucht realistische und verbindliche Ziele (Drucksache 17/1758) Gabriele Molitor (FDP) Dr. Eva Högl (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Manfred Nink (SPD) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Korrektur der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht (Drucksache 17/1631) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Frank Heinrich (CDU/CSU) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Anton Schaaf (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Drucksache 17/1683) Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMVg Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Dörner, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen - Netzsperren in Europa verhindern (Drucksache 17/1584) b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Internetsperren in EU-Richtlinie aufnehmen (Drucksache 17/1739) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Lars Klingbeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit effektiv bekämpfen - Opferschutz stärken (Drucksache 17/1746) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Burkhard Lischka (SPD) Marco Buschmann (FDP) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Modellversuch "Begleitetes Fahren mit 17" in das Dauerrecht überführen (Drucksache 17/1573) b) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Volkmar Vogel (Kleinsaara), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Döring, Oliver Luksic, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern (Drucksache 17/1574) Gero Storjohann (CDU/CSU) Kirsten Lühmann (SPD) Oliver Luksic (FDP) Thomas Lutze (DIE LINKE) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren (Drucksache 17/1049) Ullrich Meßmer (SPD) Jürgen Klimke (CDU/CSU) Katrin Werner (DIE LINKE) Pascal Kober (FDP) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 13: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes (Drucksache 17/1220) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Waldbericht der Bundesregierung 2009 (Drucksache 16/13350) c) Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten - Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen (Drucksache 17/1050) d) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen (Drucksache 17/1586) e) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundeswaldgesetz ändern - Naturnahe Waldbewirtschaftung fördern (Drucksache 17/1743) Astrid Grotelüschen, Ministerin (Niedersachsen) Petra Crone (SPD) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Alois Gerig (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz und Renaturierung von Nass- und Feuchtgebieten fördern - Hochwassergefahren mindern, Klima schützen (Drucksache 17/1748) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Undine Kurth (Quedlinburg), Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Auenschutzprogramm vorlegen (Drucksache 17/1760) Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen (Drucksache 17/1719) Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorlegen (Drucksache 17/1578) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter vorlegen (Drucksache 17/1762) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Drucksache 17/1761) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Maria Michalk (CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Gabriele Molitor (FDP) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 17/1684) Peter Wichtel (CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU) Anette Kramme (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Katja Kipping (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen (Drucksache 17/1763) Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum" (Drucksachen 17/1400, 17/1751) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von den Abgeordneten Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Verfahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung (Drucksache 17/1426) Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren (Drucksache 17/1413) Gitta Connemann (CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU) Ottmar Schreiner (SPD) Sebastian Blumenthal (FDP) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten (Drucksache 17/1581) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Helga Daub (FDP) Niema Movassat (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen (Drucksache 17/1742) Dr. Michael Paul (CDU/CSU) Ute Vogt (SPD) Hans-Joachim Hacker (SPD) Judith Skudelny (FDP) Katrin Kunert (DIE LINKE) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte abschaffen (Drucksache 17/1203) Marlene Mortler (CDU/CSU) Heinz Paula (SPD) Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) Alexander Süßmair (DIE LINKE) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermöglichen (Drucksache 17/1577) Reinhard Grindel (CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10: hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Europäische Bürgerinitiative - Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU (Drucksache 17/1781) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU) Michael Roth (Heringen) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: - Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz und Renaturierung von Nass- und Feuchtgebieten fördern - Hochwassergefahren mindern, Klima schützen - Auenschutzprogramm vorlegen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesordnungspunkt 8) Ingbert Liebing (CDU/CSU) Josef Göppel (CDU/CSU) Oliver Kaczmarek (SPD) Horst Meierhofer (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen (Tagesordnungspunkt 15) Thomas Bareiß (CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Klaus Breil (FDP) Dorothée Menzner (DIE LINKE) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen (Tagesordnungspunkt 18) Ingbert Liebing (CDU/CSU) Josef Göppel (CDU/CSU) Frank Schwabe (SPD) Angelika Brunkhorst (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Verfahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Marco Buschmann (FDP) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 43. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege Patrick Döring aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidet. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Überraschenderweise sind dazu weder der Wunsch einer persönlichen Erklärung noch Debattenbeiträge aus den anderen Fraktionen angemeldet. (Heiterkeit - Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das kann man noch machen!) Es gibt auch schon einen neuen Vorschlag. (Willi Brase [SPD]: Oh! Man höre!) Der Kollege Werner Simmling soll ihn in diesem Gremium ersetzen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Torsten Staffeldt werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - (Beifall bei der FDP) Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Simmling und Staffeldt in den Beirat gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zu den Maßnahmen zur Stabilisierung des Euro ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kreditausfallversicherungen (CDS) und deren Handel vollständig verbieten - Drucksache 17/1733 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Unterschiedliche verfassungsrechtliche Auffassungen in der Bundesregierung zur Verlängerung von Atomkraftwerkslaufzeiten (ZP 1 bis 3 siehe 42. Sitzung) ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung der Teilhabechancen junger Menschen und des Fachkräftebedarfs von morgen stärken - Drucksache 17/1759 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 33 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Marktengpässe bei flüssiger Biomasse - Drucksache 17/1750 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Auseinandersetzung in der Koalition zur Haushaltskonsolidierung ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhard Lischka, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Lars Klingbeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit effektiv bekämpfen - Opferschutz stärken - Drucksache 17/1746 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Undine Kurth (Quedlinburg), Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auenschutzprogramm vorlegen - Drucksache 17/1760 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter vorlegen - Drucksache 17/1762 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - Drucksache 17/1761 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit von Städten, Gemeinden und Landkreisen - Drucksache 17/1744 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Haushaltsausschuss ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Lisa Paus, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Gewerbesteuer stabilisieren - nicht abschaffen - Drucksache 17/1764 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Tagesordnungspunkt 33 k wird abgesetzt. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen - Drucksachen 17/1291, 17/1457 - überwiesen: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Eidesleistung des Wehrbeauftragten Der Deutsche Bundestag hat in seiner 34. Sitzung am 25. März 2010 Herrn Hellmut Königshaus zum Wehrbeauftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet der Wehrbeauftragte vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu kommen. (Die Anwesenden erheben sich) Ich darf Sie bitten, nun den Eid zu sprechen. Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Wehrbeauftragter, Sie haben damit den von der Verfassung vorgesehenen Eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen herzlich zur Übernahme dieses wichtigen Amtes, und ich freue mich auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Deutschen Bundestages im Interesse unserer Soldaten. Alles Gute. Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Ich danke Ihnen. (Beifall im ganzen Hause - Der Wehrbeauftragte nimmt Glückwünsche entgegen) Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis d sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Schummer, Nadine Müller (St. Wendel), Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Qualitätsoffensive in der Berufsausbildung - Drucksache 17/1435 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2010 - Drucksache 17/1550 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verordnungsermächtigung in § 43 Absatz 2 des Berufsbildungsgesetzes entfristen - Drucksache 17/1745 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Alpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Konsequenzen aus dem Berufsbildungsbericht ziehen - Ehrliche Ausbildungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung für alle ermöglichen - Drucksache 17/1734 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung der Teilhabechancen junger Menschen und des Fachkräftebedarfs von morgen stärken - Drucksache 17/1759 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft, Frau Dr. Annette Schavan. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Arbeitslosigkeit in jungen Jahren befördert Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit in jungen Jahren führt zu deutlich geringeren Einkommenschancen. - Das ist das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Studie der OECD. Dieselbe Studie hat belegt, dass im internationalen Vergleich junge Menschen in Deutschland die besten Berufschancen haben oder - präziser und in Zahlen gesagt -: Das Risiko - zumal während einer Wirtschaftskrise -, im Alter von 15 bis 24 Jahren arbeitslos zu werden, ist nirgendwo so gering wie in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Als Grund für diese positive Entwicklung hat die OECD eindeutig das duale Ausbildungssystem genannt. Während zwischen Ende 2007 und Ende 2009 die Jugendarbeitslosigkeit im OECD-Durchschnitt um 6 Prozent auf fast 19 Prozent angestiegen ist, ist sie in Deutschland deutlich gesunken. Deshalb sage ich: Wenn es um die Europäische Union und um den internationalen Bildungsdialog geht, haben wir allen Grund, selbstbewusst mit dem Flaggschiff unseres Bildungssystems aufzutreten, und das ist die berufliche Bildung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Mehr als 60 Prozent eines Jahrgangs beginnen in Deutschland eine Ausbildung. Sie tun dies in einem von rund 350 Ausbildungsberufen. Gerade in den letzten Jahren haben wir einen großen Modernisierungsprozess bei den Ausbildungsberufen erlebt. Es werden neue Ausbildungsberufe geschaffen. Ich glaube, es gibt keinen anderen Bereich, in dem so beweglich, so dynamisch auf Entwicklungen in der Arbeitswelt, auf technologische Entwicklungen reagiert wird. Wir sind besonders flexibel bei der Ausbildung von Fachkräften. Deshalb ist die berufliche Bildung eine der tragenden Säulen der ökonomischen Stärke unseres Landes. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Welche Merkmale der Situation werden im Berufsbildungsbericht dargelegt? Wir stellen fest, dass es beim Abschluss der Ausbildungsverträge ein Minus von 8,2 Prozent und zugleich einen deutlichen Rückgang der Zahl der Bewerber gibt. Diese beiden Feststellungen werden uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Das herausstechendste Merkmal der Situation ist, dass die Zahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher demografiebedingt deutlich gesunken ist. Ich nenne eine einzige Zahl, die die Dramatik der nächsten Jahre deutlich macht: Im Jahr 2020 werden in Deutschland 3,1 Millionen unter 25-Jährige weniger leben als heute; das ist ein Rückgang um 15 Prozent. Das heißt, die Zahl der Anwärter auf Ausbildung geht zurück. Das heißt aber auch, unsere Unternehmen werden schon in wenigen Jahren händeringend Fachkräfte suchen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jedem Jugendlichen die Chance zu einer qualifizierten Ausbildung, zu einem Abschluss geben, um für den Arbeitsmarkt, für eine berufliche Existenz zur Verfügung zu stehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Was also jetzt zur Entlastung führt - es führt auch zu einer deutlich besseren Bewertung der Situation -, kann schon in wenigen Jahren zu einem ernsthaften Nachwuchsproblem werden. Deshalb ist ein Schwerpunkt der Berufsbildungspolitik dieser Bundesregierung die Neugestaltung des Übergangssystems zwischen Schule und Ausbildung. Immer noch haben wir viele junge Leute, die Probleme haben, von der Schule in eine Ausbildung zu kommen. Wir alle kennen die vielen Initiativen vor Ort. Das Bundesarbeitsministerium, das Bundesbildungsministerium, die Länder und die Kammern, sie alle führen Initiativen durch. Zu den wichtigen Aufgaben gehört, dieses Übergangssystem jetzt besser und konzentrierter zu gestalten. Deshalb haben wir als eine der ersten Maßnahmen beschlossen, dass künftig Bildungslotsen junge Leute begleiten, die sich schwer tun, einen Schulabschluss zu machen. Wir dürfen nicht warten, bis sie keinen Schulabschluss machen und dann in Warteschleifen geraten. Wir müssen dafür sorgen, dass wir sie frühzeitig erreichen, dass wir ihnen deutlich machen, wo ihre Stärken sind, was notwendig ist und welche Möglichkeiten in der Schule an individueller Förderung bestehen, damit wir die weitere Absenkung der Zahl derer ohne Schulabschluss befördern. Wir müssen in vier, fünf Jahren erreichen, dass jeder Jugendliche in Deutschland einen Abschluss macht und in Ausbildung geht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Am Ende des Ausbildungsjahres 2009 waren 9 603 Bewerberinnen und Bewerber unversorgt. Gleichzeitig gab es 17 225 unbesetzte Ausbildungsplätze. Auch diese Entwicklung wird uns in den nächsten Jahren beschäftigen. Die zweite wichtige Herausforderung neben der Neugestaltung des Übergangssystems sind die Altbewerber, Jugendliche, die in den letzten Jahren nicht in Ausbildung gekommen sind. Im September 2009 zählten etwa 243 000 der insgesamt etwa 533 000 gemeldeten Bewerber zu dieser Gruppe. Das heißt, nahezu die Hälfte derer, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, stammt aus früheren Jahrgängen. Der Anteil ist auf 45 Prozent gesunken; wir haben etwas erreicht. Klar ist: In dieser großen Gruppe derer, die noch nicht versorgt sind, sind eine Menge junger Leute, die wir in den nächsten Jahren - auch aufgrund ihrer Qualifikation - gut in Ausbildung bringen können. Das dritte wichtige Thema sind die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wir wissen, dass der Anteil derer, die keinen Schulabschluss machen, in dieser Gruppe besonders groß ist. Deshalb wird das von uns neu gestaltete Übergangssystem - Bildungslotsen, bessere Orientierung und Praktika - auch für diese Gruppe eine wichtige Rolle spielen. Wir haben den Ausbildungspakt weiterentwickelt. Der Schwerpunkt des Ausbildungspaktes, der die Verbesserung des Systems der beruflichen Bildung zum Ziel hat, wird in den nächsten Jahren auf einer weiteren Dynamisierung der dualen Ausbildung liegen. Dabei werden wir neue Berufsbilder und die Modernisierung im Blick haben. Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir im Ausbildungspakt für die nächsten Jahre vereinbart haben, uns eine gute Chance gibt, die gesetzten Ziele zu erreichen. Ich sage aber auch: Der Erfolg wird ganz wesentlich davon abhängen, dass wir dem, was die Lernkultur in der beruflichen Bildung ausmacht, in allen Phasen des Bildungssystems einen höheren Stellenwert beimessen und wir aufhören, in Deutschland den Eindruck zu erwecken, als sei allein die akademische Bildung Ausweis der Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems. Das entspricht nicht dem Selbstbewusstsein derer, die die berufliche Bildung ermöglichen. Das entspricht nicht dem Selbstbewusstsein, mit dem Ausbildungsbetriebe in Deutschland agieren. Deshalb sage ich erstens ein herzliches Dankeschön an unsere Ausbildungsbetriebe, und ich sage zweitens: Lassen Sie uns selbstbewusst über berufliche Bildung sprechen. Sie ist nicht weniger wert als akademische Bildung. Sie ist das Rückgrat der ökonomischen Stärke unseres Landes. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Willi Brase [SPD]) Fazit des Berufsbildungsberichtes 2009: Erstens. Wir sind ein gutes Stück weitergekommen, was den erfolgreichen Einstieg Jugendlicher in die berufliche Ausbildung angeht. Zweitens. Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen. Nun wird uns die Frage beschäftigen, wie unsere Unternehmen zu guten Fachkräften kommen. Drittens. Wir setzen mit dem Ausbildungspakt und den Initiativen dieser Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit den Ländern auf eine weitere Dynamisierung und Modernisierung der Ausbildungsberufe, und wir setzen auf eine stärkere Internationalisierung. Jugendliche, die eine Ausbildung machen, sollen genauso wie Studierende die Möglichkeit haben, einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland zu absolvieren. Die Internationalisierung der dualen Ausbildung ist wichtig, um mit Selbstbewusstsein auf europäischer Ebene auftreten zu können. All das zusammengenommen ergibt ein wichtiges Maßnahmenbündel, um zu verhindern, dass der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren zur größten Wachstumsbremse in Deutschland wird. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Willi Brase ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Willi Brase (SPD): Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schavan, Sie haben ein Bild gezeichnet, das der Darstellung im Berufsbildungsbericht entspricht. Ich bin aber sehr dafür, das eine oder andere zu schärfen. Wenn es richtig ist, dass wir für die Zukunft alle brauchen und alle mitnehmen wollen, dann müssen wir endlich an den Dschungel mit fast 500 000 Jugendlichen in Übergangsmaßnahmen herangehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie selbst haben in der Antwort auf eine Anfrage mitgeteilt, dass wir allein auf Bundes- und Landesebene fast 200 Programme haben, die sich nur mit dem Übergang von der Schule in den Beruf befassen. Dabei sind die Maßnahmen vor Ort noch nicht einmal eingerechnet. Wenn wir es nicht schaffen, Licht in diesen Dschungel zu bringen, diesen Knoten durchzuschneiden, die Vielzahl der Projekte auf wenige, vernünftige Maßnahmen zu begrenzen, werden wir das Ziel, alle mitzunehmen, nicht erreichen. Das ist Ihre Aufgabe. Das verlangen wir von Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben nach wie vor einen hohen Anteil Altbewerber. Sie haben das angesprochen; das ist richtig. Wir wissen auch, dass diese Altbewerber unterschiedlich strukturiert sind, unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, etwas hiergegen zu tun. Wir haben seinerzeit, in der Großen Koalition, das eine oder andere dazu auf den Weg gebracht. Ich glaube, dass die Berufseinstiegsbegleitung und der Ausbildungsbonus etwas Positives geschaffen haben (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ladenhüter!) und ein Stück weit mit dazu beigetragen haben, dass diese jungen Leute eine Zukunftsperspektive haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn man das alles zusammenrechnet, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann muss man schon sagen: Es fehlt doch an Ausbildungsplätzen. Ehrlichkeit in der Statistik ist nichts Verkehrtes. Versuche, die statistische Erfassung zu verbessern, gibt es, und das müssen wir auch vorantreiben. Nichts ist schlimmer, als wenn wir uns etwas vormachen und sagen: "Wir haben auf einmal mehr Ausbildungsplätze als Bewerber", wenn gleichzeitig noch Hunderttausende Altbewerber unterzubringen sind. Wir sagen als SPD: Eigentlich brauchen wir zusätzliche Ausbildungsplätze für 210 000 junge Leute in unserem schönen Lande. (Beifall bei der SPD) Wir sind der Auffassung, dass die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt besonders mit Blick auf die duale Ausbildung. Wir müssen das duale Ausbildungssystem stärken, wenn wir es schaffen wollen, alle mitzunehmen. (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD]) Es muss nachdenklich stimmen, wenn in den letzten 30 Jahren, wie man im Berufsbildungsbericht nachlesen kann, die Quote der Einmündungen in eine duale Ausbildung von knapp 80 Prozent auf knapp 60 Prozent gesunken ist. Wenn man dann auch noch berücksichtigt, dass über 10 Prozent derjenigen, die derzeit eine duale Ausbildung machen, Abiturienten sind, sieht man, dass wir hier ein Stück weit nachsteuern müssen. Wir müssen uns überlegen, wie wir dieses System dahingehend fitmachen, dass auch junge Leute mit Realschulabschluss oder Hauptschulabschluss weiterhin gute oder beste Chancen haben. Nur dann tun wir das Notwendige und Mögliche. Zu den Übergangsmaßnahmen habe ich etwas gesagt. Wir wollen mit unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, die Modernisierung der Berufe vorantreiben. Da ist in den letzten vier, fünf Jahren viel gemacht worden. Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind neue Entwicklungschancen? Ganz wichtig ist für uns, dass die Erarbeitung und Neuordnung der Ausbildungsberufe im dualen System vorrangig im Konsens der Sozialpartner passiert. Da ist noch ein bisschen nachzuarbeiten. Für den Fall, dass sich die Sozialpartner nicht einigen können, sollten wir - Uwe Schummer, wir haben mehrfach darüber gesprochen - eine Schlichtungskommission einrichten. Ich glaube, das ist notwendig und richtig. Es gibt einen weiteren Bereich, der uns sehr große Sorge macht: Das ist der Bereich "Berufsvorbereitung und Berufsorientierung". Zur Berufsvorbereitung habe ich eben etwas gesagt. Wir haben den Eindruck, dass sich bei der Hilfe bei der Berufsorientierung - rechtzeitig, frühzeitig - mittlerweile eine Vielfältigkeit etabliert, die uns Anlass gibt zu der Sorge, dass ein ähnlicher Dschungel entsteht wie bei den Maßnahmen: Es gibt zig Initiativen vor Ort, teilweise planlos nebeneinander her. Jeder, der eine Idee hat, kommt damit an. Das geht von den Kindergärten bis zu den Schulen: Niemand hat mehr einen Überblick. Wir müssen aufpassen, dass uns dort nicht das Gleiche passiert wie bei dem Maßnahmendschungel im Übergangssystem. Man muss auf die Kommunen und auf die Länder zugehen und darauf bestehen, dass hier strukturiert wird. Nicht jeder, der eine tolle Idee hat, muss die Welt damit beglücken. (Beifall bei der SPD) Es bleibt festzuhalten: Wir brauchen nach wie vor ausreichend viele Ausbildungsplätze in der Wirtschaft. Der Anteil der Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, aber nicht ausbilden, ist immer noch hoch. Von dieser Regierung haben wir bisher wenig gesehen, wie man mehr Unternehmen dazu bewegen will, auszubilden. Das ist, wenn ich das richtig mitbekommen habe, auch beim Ausbildungspakt kein Thema. Aber es macht doch Sinn, Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, zu ermuntern - sei es mit Prämien, sei es durch Kampagnen -, auszubilden. Wir müssen deutlich machen, dass die Unternehmen eine große Verantwortung haben. Wir haben überlegt, ob es Sinn macht, analog zu dem, was wir im Bauhauptgewerbe haben, einen Branchenfonds aufzulegen - nicht nur um quantitativ voranzukommen, sondern auch um ein Instrument zu haben, das langfristig dazu beiträgt, die Facharbeitsmärkte zu stabilisieren - (Beifall der Abg. Ulla Burchardt [SPD]) und im Zuge von Aus- und Weiterbildung entsprechende Unterstützungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Deshalb werden wir dieses Instrument in absehbarer Zeit noch einmal betrachten und hier im Parlament zum Thema machen. Wir brauchen die öffentliche Hand. Wer sich die Zahlen anschaut, kann das nicht leugnen. Wir sind dafür, dass die 40 000 Plätze aus dem BA-Programm weiter zur Verfügung gestellt werden, immer vor dem Hintergrund einer ehrlichen Bilanzierung, wie die Lage tatsächlich aussieht. Wir sind auch dafür, dass das auslaufende Ausbildungsprogramm Ost in ein Programm für strukturschwache Regionen umgewandelt wird. Dann geht es nämlich nicht mehr nach der Himmelsrichtung, sondern danach, wo Bedarfe sind. Wir sind auch dafür, dass wir das Instrument der vollzeitschulischen Ausbildung weiterhin nutzen, mit der Möglichkeit, nach § 43 Abs. 2 Berufsbildungsgesetz - deshalb die Entfristung - gegebenenfalls auch eine Kammerabschlussprüfung abzulegen. Wir schlagen das deshalb vor, weil wir nicht so gutgläubig sind, zu glauben, dass man dieses Problem nur mit Appellen allein lösen kann, sondern wenn es das Ziel ist, allen jungen Menschen eine vernünftige Perspektive zu geben und sie nicht in dem Maßnahmendschungel abdriften zu lassen, dann müssen wir mit der öffentlichen Hand teilweise auch gegensteuern. Wenn man auf der einen Seite Milliarden Euro für Rettungspakete für den Banken- und Finanzsektor zur Verfügung stellt, dann kann man keinem jungen Menschen mehr erklären, warum nicht ein bisschen Geld auch für seine Zukunft auf dem Tisch liegt. Hier müssen wir ran. (Beifall bei der SPD) Ich komme zum Schluss. Die Bildungsrepublik Deutschland ist ausgerufen worden. Wunderbar! Darüber wird auch an anderer Stelle noch heftig zu diskutieren sein. Die Bildungsrepublik Deutschland beinhaltet aber nicht nur die Allgemeinbildung und die Hochschulbildung, sondern auch die duale Ausbildung. Frau Ministerin, ich unterstütze ausdrücklich, was Sie gesagt haben: die duale Ausbildung sei ein Flaggschiff. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Flaggschiff immer auf Kurs bleibt. Die duale Berufsausbildung gehört zu unserem Ausbildungssystem. Die Einmündungsquoten müssen besser und höher werden. Dort müssen wir gemeinsam handeln. Ich denke, es lohnt sich, sich dafür anzustrengen, und ich freue mich auf die Beratungen im zuständigen Ausschuss. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Heiner Kamp für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heiner Kamp (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wichtig für die Konkurrenz- und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft im weltweiten Wettbewerb sind die bildungspolitischen Weichenstellungen. Die Qualität unseres Ausbildungssystems ist das Zukunftsthema. Was das bedeutet, lässt sich bei der Betrachtung der Bildungspolitik auf Länderebene schnell erkennen: Wir investieren in Schüler und nicht in Schulexperimente. Wir fördern Leistung und lehnen Schülerlotterien wie im rot-roten Berlin ab. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir achten den Elternwillen und stärken Grundschulen und Gymnasien. Den Schulaufstand in Hamburg hätte es mit einer liberalen Senatorin nicht gegeben. (Beifall bei der FDP - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr hättet Eliteschulen eröffnet! Logisch!) Wir setzen auf das bewährte duale System der betrieblichen Bildung und nicht auf Ausbildungszwangsabgaben, wie von links stets gefordert. Die liberale Bildungspolitik ist frei von der Ideologie, mit welcher die rot-rot-grünen Genossen Kinder und Jugendliche zu Versuchskaninchen degradieren. (Beifall bei der FDP) Wir wollen lieber in Bildung und Forschung investieren. Daher stecken wir bis 2013 zusätzliche 12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung - (Willi Brase [SPD]: Wollen wir erst einmal abwarten, was der Schäuble dazu sagt!) das hat keine Regierung vor uns geschafft -, und das in Krisenzeiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir werden jedoch auch gewisse Anpassungen im System vornehmen. Im Bereich der Berufsbildung zeigt sich deutlich, dass wir umdenken müssen. Während wir in der Vergangenheit meist mehr Bewerber als verfügbare Ausbildungsstellen hatten, wird uns durch den von der Bundesregierung vorgelegten Berufsbildungsbericht 2010 gezeigt, dass sich die Schieflage auf dem Ausbildungsmarkt zunehmend umkehrt. Auszubildende werden bald händeringend gesucht. Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Lage auf dem Ausbildungsmarkt im Berichtszeitraum besser als erwartet. Schon zum zweiten Mal in Folge gab es mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als unversorgte Bewerber. So ist die Zahl der unversorgten Bewerber im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 33,8 Prozent zurückgegangen. In den neuen Bundesländern war der Rückgang mit 38,1 Prozent deutlich stärker als in den alten Bundesländern mit 32,0 Prozent. In Zukunft werden wir daher in zunehmendem Maße mit einem Mangel an Bewerbern um Ausbildungsplätze konfrontiert sein. Dieser Trend ist ein wesentliches Ergebnis des vorliegenden Berufsbildungsberichts 2010 und wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung und der zunehmenden Hochschulübergangsquote weiter verstetigen. Dass der Ausbildungspakt ein Erfolg auf ganzer Linie ist, hebe ich an dieser Stelle ausdrücklich hervor. (Beifall bei der FDP) Die FDP wird sich für eine Fortsetzung und qualitative Aufwertung des Paktes einsetzen. Ich freue mich sehr, dass hierbei ein Schwerpunkt gerade auch auf Migranten gelegt werden soll. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Den Betrieben möchte ich für ihr großartiges Engagement an dieser Stelle recht herzlich danken. So kann es weitergehen. Der künftige Bewerbermangel hat Auswirkungen auf die Aufgabenstellung der Politik. Unsere wichtigste Aufgabe ist es nun, einem bereits heute von der Wirtschaft beklagten Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Als deutschem Erfolgsmodell kommt der beruflichen Dualausbildung hierbei eine herausragende Bedeutung zu. Durch ihre Verankerung in der beruflichen Praxis gewährleistet sie berufliche Qualifikation auf höchstem Niveau. Zudem bietet die duale Berufsausbildung im Vergleich zu rein schulischen Ausbildungsgängen überdurchschnittlich hohe Übergangsquoten in reguläre Beschäftigung. Die Herausforderung der Zukunft wird sein, das derzeit noch brachliegende Potenzial der Schulabbrecher und jungen Menschen mit mangelnder Ausbildungsreife zu heben. Wir müssen sie dazu befähigen, in das duale System der beruflichen Bildung einzusteigen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Viele Unternehmen kümmern sich schon. Sie bieten Nachhilfe- und Förderunterricht für ihre Auszubildenden an. Dieses in der Tat lobenswerte Engagement muss uns aber wachrütteln: Wir dürfen Unternehmen nicht auch noch mit der Aufgabe des Reparaturbetriebs einer mangelhaften Schulpolitik überfrachten. Wir müssen unser allgemeinschulisches System stärken und zukunftsfest machen. Dazu gehört eine bessere individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unsere allgemeinschulische Bildung gilt es zu verbessern. Jeder Schulabgänger muss richtig lesen, schreiben und rechnen können. (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Vorlesen mit Betonung!) Aber auch die Verantwortung des Elternhauses bei der Erziehung des Nachwuchses darf nicht unter den Tisch fallen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Für die meisten Ausbildungsbetriebe sind Unzuverlässigkeit, mangelnde Disziplin und Unpünktlichkeit ein größeres Problem als mangelnde Algebrakenntnisse. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unpünktlichkeit ist kein Problem!) Das muss uns doch aufhorchen lassen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Wir müssen bei der Bildung früher ansetzen. Der Bund wird hier seiner Verantwortung gerecht. Unsere Regierung wird mit den Schulfördervereinen ein Bildungsbündnis schmieden, damit Schülerinnen und Schüler gezielt unterstützt und gefördert werden können. Dementsprechend werden die Grundschulen ein Budget erhalten, welches sie je nach Bedarf einsetzen können. Weil die Bedingungen innerhalb der Republik und von Schule zu Schule sehr unterschiedlich sind, brauchen wir solche flexiblen Modelle der individuellen Förderung. (Beifall bei der FDP - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt auch Regionen, in denen es gar keinen Förderverein gibt!) Es gilt, die Berufsorientierung für junge Menschen an den Schulen weiter zu verbessern. Hier setzen wir als Koalition mit den Bildungsketten neue Maßstäbe. Dazu gehören unter anderem eine Potenzialanalyse ab Klasse 7 und eine verbesserte Berufsorientierung ab Klasse 8. Junge Menschen sollen sich frühzeitig über ihre Begabungen klar werden; denn nur wer einen Beruf ergreift, für den er begabt ist, wird gut durch die Ausbildung kommen und den Beruf mit Freude und Begeisterung ein Leben lang ausüben können. Eine Schülerin, die schwach in Mathe ist, wird vielleicht keine gute Bankkauffrau, aber womöglich eine ausgezeichnete Schreinerin. (Ulla Burchardt [SPD]: Aber rechnen muss die doch auch können!) Damit gehen wir einen anderen Weg als SPD, Grüne und Linke. Wir lehnen ein Einheitsschulmodell entschieden ab, mit welchem Schülerinnen und Schüler in eine Form gepresst werden sollen; (Beifall bei der FDP) denn nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher. (Zuruf von der SPD: Was ist mit der Kopfpauschale?) Vielmehr gilt es, jede Schülerin und jeden Schüler unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, Begabungen und Probleme dort abzuholen, wo er oder sie steht, und mit größter Anstrengung zu fördern und zu fordern. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Die Bildungsstatistik gibt uns dabei recht. Oder haben Sie schon einmal etwas Positives über die Schulpolitik in Bremen, Berlin oder Hamburg gehört? (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ja, das habe ich!) Kein Wunder! Allen jungen Menschen Chancen auf eine Beschäftigung zu eröffnen, ist unser erklärtes Ziel. Dies wollen wir durch die bessere Verzahnung und Intensivierung der bestehenden Maßnahmen sowie durch neue Initiativen wie die von mir angesprochenen lokalen Bildungsbündnisse erreichen. (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Jeder blamiert sich, so gut er kann! - Gegenruf von der CDU/ CSU: Wenn es doch stimmt!) Die jungen Menschen sollen wissen: Ihr werdet gebraucht. Strengt euch an, und Teilhabe an Arbeitsmarkt und Gesellschaft steht euch offen! Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Kamp, wollen Sie ganz unmittelbar vor Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert beantworten? Heiner Kamp (FDP): Ich möchte jetzt zum Ende kommen. - Ihr könnt die Gewinner des demografischen Wandels sein; denn in manchen Regionen herrscht bereits heute Bewerbermangel; dieser wird sich weiter verstärken. Den Jugendlichen rufe ich zu: Wir brauchen euch. Legt euch mit uns ins Zeug! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Lenkert erhält jetzt Gelegenheit zu einer Kurzintervention. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Herr Kollege, ich weise Sie darauf hin, dass im Wahlprogramm der FDP das gemeinsame Lernen bis zur 6. Klasse gefordert wurde, (Heiner Kamp [FDP]: Wo?) und möchte Ihre Aussage dazu hören, wieso Sie sich dann, wenn dies in Berlin umgesetzt wird, dagegen verwahren. Oder ist Ihnen Ihr Wahlprogramm nichts mehr wert? (Beifall bei der LINKEN) Heiner Kamp (FDP): Unser Programm war schon immer etwas wert, mehr wert als manch andere Programme. (Willi Brase [SPD]: 6 Prozent bei der Landtagswahl! - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sehen aber die Wählerinnen und Wähler anders!) Nach der Sitzung können wir uns gern darüber unterhalten, wo Sie diese Forderung gefunden haben. Mir ist sie leider nicht bekannt. (Beifall bei der FDP - Lachen bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Mindestens was die Schnelligkeit angeht, könnte man an dieser Form von Kurzintervention Freude entwickeln. (Heiterkeit) Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Alpers für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Agnes Alpers (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben es schon gehört: Jedem ausbildungswilligen und ausbildungsfähigen Jugendlichen konnte auch im Krisenjahr 2009 ein Angebot auf Ausbildung gemacht werden. Dies behauptet der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Martin Wansleben. Auch im Berufsbildungsbericht 2010 wird festgestellt, dass es "erneut mehr unbesetzte Ausbildungsplätze als unversorgte Bewerber/Bewerberinnen in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit" gebe. Welch ein toller Erfolg wäre es gewesen, wenn wirklich jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten hätte! (Beifall bei der LINKEN) Wir wissen natürlich alle, dass es nicht so ist. Aber wie kommt man nun zu solchen Aussagen? Im letzten Jahr gab es mehr als 83 000 Jugendliche, die über die Bundesagentur keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Mehr als 73 000 haben erst einmal mit einer Alternative wie einer Berufsvorbereitungsmaßnahme begonnen. In der Statistik erscheinen sie deshalb an einer anderen Stelle, weil sie ja im Übergang sind. Insgesamt führt die Bundesagentur diese Jugendlichen aber immer noch als ausbildungssuchend. Um diese Tatsache zu vertuschen, forderten die Arbeitgeber in ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Berufsbildungsberichtes 2010, dass auf diese "widersprüchlichen Angaben" im Bericht verzichtet werden solle. Meine Damen und Herren, was ist denn dies für eine Vorgehensweise und was ist das für ein Umgang mit den Jugendlichen, die zum Teil schon seit Jahren eine Ausbildungsstelle suchen? Menschenschicksale ausradieren, um zu glänzen - das ist einfach nur ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit geht aber noch weiter: Da gibt es auch noch 96 000 junge Menschen, die nicht mehr bei der Bundesagentur gemeldet sind. Für die BA ist dann der Vermittlungsauftrag abgeschlossen. Ob nun in Ausbildung, untergebracht in einer Übergangsmaßnahme oder einfach nicht mehr mitgezählt, die Bilanz all dieser Vertuschungen und Verschiebungen lautet: Es gibt heute in Deutschland 1,5 Millionen Auszubildende, gleichzeitig aber auch 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Ausbildung. An diesem Punkt sagen wir als Linke ganz klar: Hören Sie endlich mit der Schieberei von Zahlen auf und legen Sie eine Ausbildungsstatistik auf den Tisch, die alle Jugendlichen im Blick behält. (Beifall bei der LINKEN) Als ehemalige Lehrerin in der Berufsausbildung muss ich Ihnen sagen: Junge Menschen sind nicht unwillig und unfähig. Sie wollen einen Ausbildungsplatz; denn sie wollen sich in dieser Gesellschaft eine Perspektive aufbauen. Die Unfähigkeit liegt eigentlich in der Politik: Fast die Hälfte aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger einschließlich der Altbewerberinnen und Altbewerber landet im sogenannten Übergangssystem; das waren im Jahre 2008 500 000 Jugendliche. Hier sollen die jungen Menschen ihre Kompetenzen so erweitern, dass sie ausbildungsreif werden. War das Übergangssystem einst eine Maßnahme für wenige, um sie in die Ausbildung zu führen, ist es heute das große Auffangbecken für ganz viele junge Menschen. Jeder vierte Realschüler landet im Übergangssystem. Jeder zweite Jugendliche mit oder ohne Hauptschulabschluss hat nach zwei Jahren im Übergangssystem noch immer keinen Ausbildungsplatz. Ausgewiesene Bildungsexperten gehen seit Jahren davon aus, dass das Übergangssystem eher die Aufgabe hat, die Ausbildungsmarktbilanz zu stabilisieren. Die Ausbildungsmisere besteht doch darin, dass wir nicht genügend Ausbildungsplätze haben. Noch immer herrscht das Prinzip: Oben die Besten abschöpfen, und die anderen können zusehen, wo sie bleiben. Eine meiner ehemaligen Schülerinnen verbrachte Jahre damit, einen Ausbildungsplatz zu finden. Tanja ist Rollstuhlfahrerin und hat einen Realschulabschluss mit 2,0. Die Bundesagentur für Arbeit forderte sie auf, vor einer Ausbildung erst einmal die Schulpflicht zu absolvieren. Nach diesen zwei Jahren konnte sie an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme im kaufmännischen Bereich teilnehmen. Die Abschlussprüfung der Ausbildung nach weiteren drei Jahren bestand sie als eine der Besten. Zum Abschied sagte sie mir: Ich hätte in dieser Zeit schon zwei Ausbildungen absolvieren können. Wie irrsinnig ist denn das System, und wie lange werde ich jetzt wohl noch brauchen, bis ich als Rollstuhlfahrerin Arbeit finde? (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hört! Hört!) Diese junge Frau ist einer der vielen Gründe, warum wir Linke sagen: Wir müssen das Recht auf einen Ausbildungsplatz garantieren, (Beifall bei der LINKEN) egal ob die Menschen Ali oder Almut heißen, egal ob sie in einem Rolli sitzen oder ihre Familie unter der Armutsgrenze lebt. Wir alle wissen doch, dass die Betriebe die Zahl der Ausbildungsplätze nicht freiwillig erhöhen werden. Wir fordern die Bundesregierung auf: Verpflichten Sie endlich die Betriebe zu einer Ausbildungsumlage, damit allen Jugendlichen genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen! (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, in Ihrem Antrag "Qualitätsoffensive in der Berufsausbildung" wollen Sie nun wichtige Aufgaben zur Unterstützung aller Jugendlichen in Angriff nehmen. Kommunen, Land und Bund sollen sich an der Bildungspartnerschaft beteiligen. Die Zuständigkeiten sollen gewahrt bleiben. Übersetzt heißt das doch ganz einfach: Sie wollen das Kooperationsverbot nicht aufheben. Also sind die Länder für die Finanzierung der Bildung alleine zuständig. In Ihrem Antrag legen Sie notwendige Handlungsschritte fest, die Sie selber aber gar nicht umsetzen müssen. Denn: Senkung der Schulabbrecherquote - Ländersache; Sprachförderung - Ländersache; Integration der Behinderten - Ländersache; Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher - Ländersache. Das ist doch ein Skandal! Sie tun so, als ob Sie zukunftsweisend handelten, und dabei tun Sie nichts. (Beifall bei der LINKEN) Im Rahmen der Berufsorientierung an Schulen allerdings will der Bund - wir haben es heute schon gehört - 50 Millionen Euro investieren. Bundesweit sollen im Rahmen des Bildungslotsenprogramms 3 200 Berufseinstiegsbegleiterinnen und -begleiter an den Schulen eingesetzt werden. 2 000 Bildungslotsen werden bezahlt. 1 200 sollen ehrenamtlich arbeiten. Frau Bildungsministerin Schavan, ich frage Sie: Wie sollen denn alle motiviert und qualifiziert arbeiten, wenn die einen gar kein Geld erhalten und wieder andere keine berufspädagogische Ausbildung besitzen? (Heiner Kamp [FDP]: Wollen Sie kein Ehrenamt?) Halten wir zusammenfassend fest: die Ausbildungsstatistik - mangelhaft; das Übergangssystem - ein strukturloser Dschungel; die Berufsorientierung - konzeptionslose Häppchen für die Masse. Meine Damen und Herren, wann hören Sie endlich mit der Flickschusterei auf? Wann sorgen Sie für ein durchdachtes Konzept für die Berufsausbildung, das alle Akteure einbezieht? Reden Sie nicht nur davon, wie immens wichtig es ist - ich zitiere aus Ihrem Antrag -, "jedem jungen Menschen mit einer bestmöglichen Bildung, Ausbildung und einem bestmöglichen Studium eine Perspektive für das Leben zu eröffnen". Politik misst sich nicht an schönen Worten. Handeln Sie daher endlich! Sie sind doch in der Regierung, um etwas zu verändern. Eines sage ich Ihnen noch ganz klar: Auch wenn der Koch aus Hessen heute scheinbar noch sein eigenes Süppchen kocht, so haben Sie der Bildung doch schon lange eine Zwangsdiät verordnet. Das ist nämlich das wahre Gesicht Ihrer Bildungspolitik: endloses Gerede über Innovation, Fachkräftemangel und Bildungssparen, aber nicht in die Zukunft investieren und die Probleme nicht anpacken. Sie tragen Ihre Politik auf dem Rücken der Jugendlichen aus. Das, meine Damen und Herren, werden wir als Linke auf keinen Fall mitmachen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht 2010 ist ein Beleg dafür, dass die Zeit der jungen Menschen, die dringend eine Ausbildung brauchen, verrinnt. Frau Schavan, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede erklärt, dass der OECD-Bericht deutlich macht, dass wir eine geringe Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich haben. Das ist sicher richtig; aber das darf den Blick darauf nicht verstellen, dass konstant 1,5 Millionen junge Menschen bis 29 Jahre ohne Berufsabschluss in der Arbeitswelt sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das sind die, die am schnellsten herausgekegelt werden, das sind die ohne berufliche Perspektive, das sind die mit den geringsten Löhnen, und das sind die, die am wenigsten zur Innovation unserer Wirtschaft beitragen können. Das zeigt doch, dass unser Ausbildungssystem gravierende Schwächen hat und dass es vor allen Dingen noch immer konjunkturabhängig ist. Die Zahl der Ausbildungsplätze ist im letzten Jahr um 8,2 Prozent zurückgegangen. Wir können, so zynisch das klingt, froh sein, dass die Schulabgängerzahlen zurückgegangen sind; sonst fielen die Zahlen, die ich Ihnen jetzt vortrage, noch viel drastischer aus. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Wir haben nämlich circa 90 000 Jugendliche, die in diesem Jahr unversorgt geblieben sind, 90 000 Jugendliche, die entweder in überhaupt keiner Maßnahme gelandet sind oder im Übergangssystem, das sogar Sie inzwischen "Warteschleife" nennen. Das darf einen nicht ruhen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wissen Sie, was im Berufsbildungsbericht der Regierung dazu ausgeführt wird? Die Ausbildungssituation habe sich für Jugendliche nicht wesentlich verschlechtert. Damit darf man sich doch nicht zufriedengeben. Dagegen muss man etwas tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Man muss Rückgrat zeigen und deutlich machen, was sich in der beruflichen Bildung verändern muss. Hinzu kommen noch 250 000 Altbewerber. Was erfahren wir jetzt? Was ist die Lösung für dieses Problem? Wir erfahren, dass an den Maßnahmen weitergearbeitet wird, die Sie seit fünf Jahren, seitdem Sie in der Regierung sind, ankündigen oder durchführen. (Jörg van Essen [FDP]: Bei uns ist es schon ein bisschen kürzer!) Seit fünf Jahren gibt es also dieselben Maßnahmen, die nicht zum Erfolg geführt haben. Dabei darf es doch nicht bleiben. Das einzig Neue - das haben Sie auch noch von uns abgeschrieben - sind die Bildungsketten. Wir als Grüne haben formuliert: Aus Warteschleifen müssen produktive Bildungsketten werden. - Aber wie sieht denn Ihre Bildungskette aus? Sie wollen eine Berufsorientierung ab der 7. Klasse in Form einer individuellen Förderung bildungsgefährdeter Jugendlicher einführen. Super, klar! Aber wie verhält sich das zu dem Programm der Berufsorientierung, das schon in den Berufsbildungszentren stattfindet? Wie verhält sich das zu dem Programm hinsichtlich der Berufseinstiegsbegleiter? Das ist doch völlig unabgestimmt, losgelöst, neu in die Welt gepflanzt. Ich weiß nicht, wo Sie die 3 200 Leute akquirieren wollen, die Jugendliche begleiten sollen - und das im Wesentlichen noch ehrenamtlich. Das kann doch keine Qualifizierung beim Übergang von der Schule zum Beruf sicherstellen. Das ist doch kein Konzept. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben Ihnen ein Konzept vorgelegt. Wir schlagen in unserem Konzept DualPlus vor, dass man regionale Netzwerke schafft und die Berufsbildungszentren stärkt. Gemeinsam mit den Betrieben sollen dort Ausbildung ermöglicht und Qualifizierungsschritte als Ausbildungsbausteine anerkannt werden, damit aus Warteschleifen wirklich Bildungsketten werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir schlagen vor, Produktionsklassen einzuführen, so wie das in Hamburg gemacht wird; die Bundesbildungsministerin will dies unterstützen. Diese Produktionsklassen sollen für die Schwächeren eingeführt werden, damit der nahtlose Übergang von Schule in Ausbildung möglich ist. Wir wollen das Konzept DualPlus mit zusätzlichen Angeboten für besonders starke Schülerinnen und Schüler in einer Ausbildung anreichern, damit sie die Möglichkeit haben, nahtlos in eine fachliche Weiterbildung oder aber an die Hochschule zu wechseln. Diese Bildungsketten führen weiter, wohingegen Ihr losgelöstes Programm zur Berufsorientierung einsam im Raume steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben im Rahmen Ihres Programms Jobstarter Connect Erfahrungen mit Ausbildungsbausteinen gemacht. Die SPD ist leider noch immer dagegen. Vielleicht kann sie sich irgendwann einen Ruck geben und einsehen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Wenn Sie schon Erfahrungen gemacht haben und auch das Handwerk bereit ist, mit uns darüber zu diskutieren, wie man Ausbildungsbausteine sinnvoll im Rahmen einer Ausbildung anerkennt, dann frage ich mich: Warum sind Sie als Bundesbildungsministerin so mutlos? Warum tragen Sie hier nur Allgemeinplätze vor? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive für Jugendliche mit Migrationshintergrund wurde uns wiederholt versprochen. Schon im Jahr 2007 wurde im Berufsbildungsbericht deutlich gemacht, dass 40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund - bei Jugendlichen mit deutschem Hintergrund sind es 12 Prozent - keinen Berufsabschluss hatten. Was ist seitdem passiert? 9 000 Ausbildungsplätze - 9 000 Ausbildungsplätze! - sind akquiriert worden. Jetzt schlagen Sie im fünften Jahr Ihrer Regierungszeit vor, dass ein bundesweites Informations- und Beratungsnetzwerk geschaffen werden soll. Herzlichen Glückwunsch! Gut, dass Sie dort schon nach fünf Jahren angekommen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das lebenslange Lernen endet bei Ihnen mit 35 Jahren. Die Öffnung des Meister-BAföGs hat dazu geführt, dass 80 Prozent derjenigen, die es in Anspruch nehmen, jünger als 35 Jahre sind. An diesem Punkt dürfen wir doch nicht stehen bleiben. Wir brauchen ein Erwachsenen-BAföG, mit dem auch Menschen mit 40 und 50 Jahren eine Weiterbildung ermöglicht wird. Gerade diese Menschen brauchen wir angesichts der demografischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Zum Schluss will ich noch einmal an die Bildungsketten anknüpfen und ihren Beginn aufzeigen. Wenn Bildungsketten wirklich ernst gemeint sein sollen, dann muss man frühzeitig damit beginnen, sie zu knüpfen, und zwar schon im Kindergarten. Aber Sie haben sich wegen des Kooperationsverbots und Ihrer Finanzpolitik in Form von Steuergeschenken für Wohlhabende selbst Fesseln angelegt - und damit auch der Zukunft dieses Landes. Sie haben keine Chance, in den Schulen in Deutschland etwas zu verbessern. Sie haben keine Chance, individuelle Förderungen voranzutreiben, außer über Fördervereine, die es noch nicht einmal in jedem Landkreis gibt, vor allen Dingen nicht an den Schulen, die Kinder aus besonders benachteiligten Familien, die Förderung insbesondere brauchten, besuchen. Sie schaffen es nicht, zusätzliche Ganztagsschulen einzurichten. Sie schaffen es auch nicht, die Schulabbrecherzahlen zu senken. Das Problem Ihrer Bildungsketten ist, dass der rechtzeitige Beginn fehlt. Das ist kein guter Ausblick auf die Zukunft der beruflichen Bildung; denn diese beginnt schon im Kindergarten, spätestens aber in der Schule. Hier müssen wir endlich zu Ergebnissen kommen. Deswegen muss der Bildungsgipfel ein Erfolg werden. Das schaffen wir nur, wenn das Kooperationsverbot endlich fällt. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Uwe Schummer erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Uwe Schummer (CDU/CSU): Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Frau Alpers, Sie sprachen von einer Zwangsdiät bei den Bildungsausgaben auf Bundesebene. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir mit fast 11 Milliarden Euro den höchsten Ansatz einer Bundesregierung seit 1949 beim Haushalt für Bildung und Forschung haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass dieser Haushaltstitel seit 2005 um ein Drittel angestiegen ist und dass derzeit das Konjunkturprogramm II an Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, Sportstätten und Bildungseinrichtungen greift, wie man an den vielen Baustellen sieht. Wichtige Bildungsinvestitionen in Milliardenhöhe werden also zusätzlich auf kommunaler Ebene aus Bundesmitteln finanziert. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Für energetische Sanierung! Aber nicht für Bildung! - Agnes Alpers [DIE LINKE]: Aber Sie wissen doch, dass wir mindestens 40 Milliarden brauchen, um den internationalen Anschluss zu erhalten!) - Lautes Schreien bringt noch keine Wahrheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ihre klammheimliche Freude daran, diese Republik schwachzureden und sich an den Problemen und Nöten zu ergötzen, um einen ideologischen Mehrwert zu erzielen, ist peinlich für dieses Haus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ich möchte nur, dass die Probleme angegangen werden!) Wir werden alles daransetzen, dass durch die Bildungsrepublik Deutschland Chancen für möglichst viele Menschen entstehen, auch für Sie, Frau Alpers, damit Sie nicht auf solche Töne zurückgreifen müssen, sondern auf Konzepte und Inhalte bauen können. (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Aber auf diese Konzepte warten wir! Da ist nichts!) Dass wir auf Menschen angewiesen sind, ist eine Erkenntnis der Börsenkrise. Dass wir derzeit Ausfälle beim Wachstum und bei den Auftragsvergaben haben, hat uns das Institut der deutschen Wirtschaft vorgerechnet. Im Jahre 2008 konnten Aufträge in Höhe von 29,5 Milliarden Euro nicht angenommen werden, weil bereits Fachkräfte fehlten. Im letzten Jahr lagen die Auftragsverluste bei 14,4 Milliarden Euro; da war es aufgrund der Weltwirtschaftskrise etwas weniger. Aber die Zahlen zeigen, dass es schon heute Wachstumsdefizite aufgrund mangelnder Qualifikation gibt. Deshalb müssen wir miteinander überlegen, wie wir gerade bei der beruflichen Bildung eine Stabilisierung oder sogar eine Steigerung erreichen können. 83 Prozent aller Patente werden von den Beschäftigten in den Unternehmen entwickelt. Die Erfahrungen, auch innerhalb der Wirtschaft, zeigen, dass Beschäftigte nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondern auch ein Aktivposten, ein Innovationsfaktor im Unternehmen sind. In diesem Bewusstsein gibt es derzeit eine gute Zusammenarbeit zwischen der Politik - Annette Schavan, Frau Merkel und die christlich-liberale Koalition - auf der einen Seite und der Wirtschaft auf der anderen Seite. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Nicht die Beschimpfung der Wirtschaft, sondern das Miteinander, die Partnerschaft in Bezug auf Bildung ist das richtige Konzept. Im Jahre 2005 lag die Ausbildungsplatzlücke bei 175 000; derzeit liegt sie bei 47 000. Das hängt mit dem demografischen Wandel zusammen. Im letzten Jahr gab es etwa 900 000 Schulabgänger; 2018 wird diese Zahl bei unter 800 000 liegen. Das heißt, der Kampf um die Köpfe wird zunehmen. Die Erkenntnis, die daraus folgt, ist, dass wir jeden Einzelnen stärker und auch früher fördern müssen. Eine Wirkung unserer Politik, sowohl der Großen Koalition als auch der christlich-liberalen Koalition, ist, dass die Zahl der Altbewerber von 380 000 in 2008 auf heute 244 000 gesunken ist und weiter sinken wird. Instrumente wie die Einstiegsqualifizierung haben dazu geführt, dass ein Drittel der Unternehmen, die bisher nicht ausgebildet haben, gesagt hat, dass sie aufgrund ihrer guten Erfahrungen mit der EQ-Maßnahme, der Einstiegsqualifizierung, erstmals voll ausbilden wollen, zwei oder drei Jahre lang. (Abg. Katja Mast [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Schummer, Sie sind offenkundig bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen. - Bitte sehr. Katja Mast (SPD): Herr Kollege Schummer, Sie haben gerade gesagt, dass die Zahl der Altbewerber dankenswerterweise zurückgegangen, aber nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau ist. Ich frage mich, weshalb wir heute nicht darüber diskutieren, dass der Altbewerberausbildungsbonus verlängert werden muss. Im Entwurf zum Beschäftigungschancengesetz des Arbeitsministeriums - dort wird dies ja verantwortet - ist vorgesehen, diesen Altbewerberausbildungsbonus abzuschaffen, obwohl wir nach wie vor eine hohe Altbewerberquote in Deutschland haben. Auslaufen soll auch die Maßnahme hinsichtlich der Berufseinstiegsbegleiter, die ebenfalls Teil des Gesetzes ist. Ich frage mich, warum die Bundesregierung nicht einfach altbewährte Instrumente verlängert, statt neue Debatten anzustoßen, ohne konkrete Gesetzentwürfe vorzulegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Uwe Schummer (CDU/CSU): Sie wissen, dass wir uns festgelegt haben, den Ausbildungspakt zu verlängern, dass wir in unseren Gesprächen über den Ausbildungspakt auch über Instrumente wie Einstiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus reden werden, (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist doch jetzt schon Gesetz!) dass darüber aber erst dann entschieden wird, wenn der Ausbildungspakt Ende des Jahres verlängert wird. Ich denke, dass wir auch dieses Thema im Rahmen des Ausbildungspaktes behandeln werden. Im Rahmen der Verlängerung des Paktes wird dann gemeinsam mit der Wirtschaft entschieden. - Damit ist Ihre Frage beantwortet. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir gegeben haben. Ich kann nur darum bitten, dass im Rahmen des Ausbildungspaktes mit Blick auf die Gewerkschaften ein Kooperationsgebot vereinbart wird, wie wir es auch in unserem Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir laden die Gewerkschaften ein, sich am Ausbildungspakt zu beteiligen, weil sie als Sozialpartner bei der Entwicklung von Berufsbildern und bei tariflichen Vereinbarungen die Kompetenz haben, gestaltend tätig zu werden und für mehr Ausbildungsplätze und richtige Berufsbilder zu sorgen. Es kann nicht sein, dass sich eine wichtige Organisation der Sozialpartnerschaft, die Gewerkschaften, larmoyant in die Ecke stellt und beleidigt ist. (Willi Brase [SPD]: Na ja!) Die Gewerkschaften gehören beim Ausbildungspakt mit an den Verhandlungstisch und nicht in die Meckerecke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Auch ich als Gewerkschafter - ich bin seit mehr als 30 Jahren in der IG Metall - fordere die Gewerkschaften auf - das erwarte ich von ihnen -, dass sie sich im Interesse der jungen Menschen am Ausbildungspakt beteiligen, nicht indem sie auf andere zeigen, sondern indem sie selber deutlich machen, welchen Beitrag sie mit ihrer Gestaltungskompetenz leisten können, um für mehr Ausbildungsplätze zu sorgen. Für den Übergang von der Schule in die Ausbildung werden wir eine Strategie entwickeln müssen, mit der wir die Programme, die bisher vorhanden sind, verzahnen und zusammenführen. Der Bund muss in die Lage versetzt werden, sich an den Programmen der Länder und teilweise der Kommunen subsidiär zu beteiligen. Es ist richtig, die Potenziale von Schülern im Rahmen von Bildungsketten bereits ab dem siebten Schuljahr zu messen. Wir dürfen ihnen nicht nur sagen, wo ihre Schwächen sind, sondern wir müssen ihnen auch sagen, wo ihre Stärken sind. Im Mittelpunkt muss dabei die Frage stehen: Wie können wir die Stärken der Schülerinnen und Schüler durch gezielte Förderung weiterentwickeln? Darauf aufbauend müssen wir in Form von überbetrieblichen Ausbildungswerkstätten eine Berufsorientierung organisieren. Man kann nicht alle 342 Berufsbilder im Schulunterricht vermitteln. Aber in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt des Kolping-Bildungswerkes oder des Handwerks können Berufsfelder erkundet werden, ob Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwaltung oder Gartenbau. Im Anschluss daran könnte ein berufliches Profiling durchgeführt werden, um den jungen Menschen eine berufliche Orientierung zu geben, damit sie erfahren, welche Optionen sie haben. Nun zur Phase der Berufsvorbereitung in der Schule. Derzeit bekommen 80 000 junge Menschen ausbildungsbegleitende Hilfen. Ich denke, wir sollten darüber nachdenken, ob das Instrument ausbildungsbegleitender Hilfen - dazu gehören unter anderem soziale Betreuung, Sprachunterricht, Förderunterricht und Nachhilfe - nicht früher ansetzen sollte, zum Beispiel schon in der siebten Klasse. Wir sollten im Rahmen der Bildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommunen auch schulbegleitende Hilfen anbieten, um den Übergang systematischer zu organisieren. So können wir das Ziel, das Frau Schavan genannt hat, erreichen: dass jedem, der die Schule verlässt, eine berufliche Qualifizierung angeboten wird. Wir sind diesem Ziel bereits nähergekommen, auch durch die Politik der Großen Koalition und der christlich-liberalen Koalition. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Wir wollen mit unserem Antrag für mehr Qualität in der Ausbildung eine umfassende Debatte über die Berufsbildungsreform, die wir vor fünf Jahren hier im Parlament gemeinsam verabschiedet haben, anstoßen, um herauszufinden, ob wir heute, nach fünf Jahren, Änderungen durchführen oder Weiterentwicklungen einleiten müssen. Wir wollen auch über den europäischen Bildungsraum diskutieren und für eine Aufwertung der dualen Ausbildung zwischen Portugal und Malta sorgen. Außerdem werden wir in diesem Hause die Verlängerung des Ausbildungspaktes debattieren. Ich bitte Sie darum, nicht nur dazwischenzuschreien und künstliche Empörung zum Ausdruck zu bringen, sondern im Interesse der jungen Menschen vor allem auch konzeptionell und inhaltlich mit uns zu diskutieren. Willi Brase hat da einen guten Anfang gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Michael Gerdes für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Gerdes (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, dass wir heute in der Kernzeit über das Thema Berufsbildung diskutieren. Denn zu oft verlieren wir uns gerade in Debatten über die Bildungspolitik in Allgemeinplätze, ohne die Probleme einzelner Bereiche konkret zu erfassen. Erfreulicherweise ist das heute anders. Wir brauchen diese zentrale Debatte, weil das duale System ein wesentlicher Garant dafür ist, Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften zu gewinnen. Viele Nationen beneiden uns um die Verbindung von Theorie und Praxis bei der beruflichen Ausbildung junger Menschen. Darüber besteht hier im Hause, so denke ich, Einigkeit. Durch die Ausbildung in Betrieben erlernen unsere Jugendlichen stets den Umgang mit Technik auf dem aktuellsten Stand. Sie werden somit optimal auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereitet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Qualität der deutschen Berufsausbildung muss erhalten bleiben. Deshalb brauchen wir eine Debatte, bei der wir genau hinschauen, um die Situation, in der sich Zehntausende ausbildungswillige junge Menschen befinden, exakter zu analysieren. Dabei fällt auf, dass es in der Berufsbildung einige Baustellen gibt. An erster Stelle sind nach wie vor die fehlenden Ausbildungsplätze zu nennen. Noch stimmt es nicht, dass sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt aufgrund des demografischen Wandels entspannt, frei nach dem Motto: Nicht die Plätze sind knapp, sondern die Bewerber. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich auch im Ausbildungsmarkt niedergeschlagen. Auch wenn der DIHK sagt, die Trendwende sei da, so ist die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2009 gesunken. Im Berufsbildungsbericht heißt es lapidar: Die Ausbildungsmarktsituation hat sich für die Jugendlichen nicht wesentlich verschlechtert. Diese Formulierung ist bemerkenswert: Die Situation hat sich also auch nicht verbessert. Bedenkt man zudem die Unvollständigkeit der Statistik, in der Altbewerber und junge Menschen ohne Schulabschluss nicht auftauchen, wird klar, wie sehr der Schein trügt. Wir müssen die erweiterten Zahlen betrachten. (Beifall bei der SPD) Wer genauer hinsieht, wird mit einigen erschreckenden Zahlen konfrontiert. Wir haben hier heute schon öfter davon gehört. Besonders die schlechten Chancen sogenannter Altbewerber machen mir Sorgen. Sie stecken im Übergangssystem fest und drehen eine Schleife nach der anderen. Rund einem Drittel der Jugendlichen gelang es in einem Zeitraum von zwei Jahren nach Abschluss einer Maßnahme nicht, eine vollqualifizierende Ausbildung aufzunehmen. Das ist grob fahrlässig; hier müssen wir dringend handeln. (Beifall bei der SPD) Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeitsmarkt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lern- und Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, der resigniert. Das kann sich eine Gesellschaft, die laut CDU/ CSU eine Bildungsrepublik sein will, nicht leisten. (Beifall bei der SPD) Jeder Mensch braucht die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine Berufsausbildungsgarantie. Ansonsten steigt die Quote der Ungelernten in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen weiter an. Diese Quote ist ohnehin sehr hoch. (Beifall bei der SPD) Sie liegt bei unglaublichen 15,2 Prozent. Das entspricht 1,5 Millionen Schicksalen. Frau Hinz hat schon darauf hingewiesen: Wir müssen auch denen helfen, die ohne Ausbildung bereits im Beruf stecken. Durch berufsbegleitende Ausbildung müssen wir es ihnen ermöglichen, sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Es ist doch paradox: Auf der einen Seite stehen Altbewerber und Ungelernte; auf der anderen Seite rufen wir den Fachkräftemangel aus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jugendliche mit Migrationshintergrund sind von den Warteschleifen besonders häufig betroffen. "Berlins Wirtschaft braucht Dich": So werben IHK und Unternehmen im Rahmen einer Ausbildungskampagne gegen den Fachkräftemangel in dieser Stadt um Jugendliche aus Zuwandererfamilien. Das ist keinesfalls nur ein Berliner Phänomen. Wir brauchen für den Arbeitsmarkt der Zukunft alle Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund; wir müssen alle Talente nutzen. Mir bereitet auch die immer lauter geführte Diskussion über die Ausbildungsreife unserer Jugendlichen Sorge. Wir alle kennen die Aussagen des DIHK: Neben schulischen Grundkenntnissen mangele es den Jugendlichen an Disziplin, Belastbarkeit und Leistungsbereitschaft. - Es fehlen die Soft Skills, wie es auf Neudeutsch heißt. In den Medien sehen wir Berichte von Vorstellungsgesprächen, die mit dem Satz des einstellenden Meisters enden: Geeignet war keiner der Bewerber; ich vergebe den Ausbildungsplatz folglich nicht an den besten Kandidaten, sondern an denjenigen, der weniger Fehler gemacht hat als andere. Die Beschreibung fehlender Bewerberqualifikationen ist sicherlich wichtig, vor allem mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel. Erstens sollten wir aber nicht unsere Ausbildungsuchenden stigmatisieren, sondern ausbildungsbegleitende Hilfen anbieten, (Beifall bei der SPD) damit das Ausbildungsziel erreicht wird. Zweitens müssen wir über die Ursachen sprechen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Nicht unsere Jugendlichen haben versagt, sondern das Bildungssystem ist verbesserungswürdig. (Beifall bei der SPD) Es mangelt an Lehrkräften, Schulsozialarbeitern, Psychologen, individueller Förderung, rechtzeitigen Berufsorientierungsphasen, aber auch an Hilfestellungen während der Ausbildung. Schulen, Unternehmen und Eltern sind gefordert, wenn es um die frühzeitige Vernetzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht. Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitung auf den Beruf. Darum gehört eine individuelle Berufswegeplanung als fester Bestandteil in die Lehrpläne ab der 7. Klasse. Wir haben in den letzten Tagen viel über den Rettungsschirm für den Euro diskutiert. Lassen Sie uns bei aller Wichtigkeit des Themas nicht vergessen, das Gold in den Köpfen unserer Kinder zu fördern. Die Zukunfts-chancen unseres Landes sind eng verbunden mit den Talenten, die in diesen Köpfen stecken. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Bernschneider (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass dieser Berufsbildungsbericht wesentlich mehr ist als ein reines Zahlenwerk, das es nun in den politischen Streitigkeiten zu interpretieren gilt. Wenn man die jungen Menschen in Deutschland fragt, welches Thema sie im Hinblick auf ihre Zukunft zentral beschäftigt, dann antworten viele: Mich beschäftigt der Übergang von Schule in Ausbildung und von Ausbildung in Beruf. Auch deswegen finde ich es so wichtig, aus dieser Debatte vor allem eine Botschaft an die jungen Menschen in diesem Land zu senden: Die Wirtschaft braucht junge Köpfe mehr denn je. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kenne mittlerweile die Lesart der Opposition zu dieser Frage: Die Wirtschaft muss noch wesentlich mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen; sie kommt ihren Verpflichtungen nicht nach. Nur auf dem Papier haben wir genügend Ausbildungsplätze. - Aber Sie können nicht wegdiskutieren: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir in einer der größten wirtschaftlichen Krisen, die dieses Land jemals erlebt hat, immer noch mehr Ausbildungsplätze anbieten können, als von den Auszubildenden gesucht werden. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!) Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird noch klarer, wenn man sich anschaut, wie es in früheren Jahren war. Beispielsweise hat man es im Jahre 2002, also zu Zeiten der rot-grünen Regierung, noch nicht einmal - um es mit Ihren Worten zu sagen - "auf dem Papier" geschafft, genügend Ausbildungsplätze anzubieten. Angesichts dessen kann man die aktuelle Entwicklung nur wertschätzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Natürlich hilft uns bei der Behandlung dieser Frage - das dürfen wir nicht übersehen - der demografische Wandel. Er hat schon geholfen, und er wird in den nächsten Jahren vermehrt helfen. Die älteren Arbeitnehmer scheiden aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt aus, und es sind immer weniger da, die ihnen folgen können. Gute Ausbildungspolitik darf sich aber nicht allein auf den demografischen Wandel verlassen. Im Übrigen geht es bei guter Ausbildungspolitik nicht nur um die Frage, wie viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, sondern auch darum - das werden Sie feststellen, wenn Sie junge Menschen ansprechen -, welcher Ausbildungsplatz überhaupt der Richtige ist. Dass junge Menschen diese Frage stellen, ist nicht unbegründet. Die Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten, aber auch die Spezialisierung, die in den Ausbildungsberufen gefordert wird, nehmen kontinuierlich zu. Wir stehen vor allem vor zwei politischen Herausforderungen: Zum einen müssen wir gewährleisten, dass sich die Jugendlichen in dieser Vielfalt möglichst gut orientieren können, und zum anderen müssen wir dafür sorgen, dass wir sie möglichst früh in ihren individuellen Stärken fördern können. Wenn ich mir diese beiden Herausforderungen - Orientierung angesichts der Vielfalt des Ausbildungsmarktes und die möglichst frühe Förderung junger Menschen in ihren individuellen Stärken - anschaue, dann frage ich mich schon, warum gerade die Einheitsschule der richtige Weg dahin sein soll. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage Ihnen auch: Bildungspolitische Grabenkämpfe helfen uns in dieser Frage nicht weiter. Im Übrigen werden Sie auch die integrationspolitischen Fragen, die dieser Bildungsbericht zweifellos aufwirft, nicht dadurch beantworten, dass Sie das Türschild an den Hauptschulen abmontieren. Uns hilft aber auch keine unsachliche und undifferenzierte Kapitalismuskritik an dieser Stelle weiter. Das möchte ich gerade den Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei entgegenrufen. Die Betriebe sagen: Es gibt immer weniger Jugendliche, die ausbildungsreif sind. Angesichts dessen müssen wir doch feststellen: Eine weitere Herausforderung ist, dass Schule und Wirtschaft in den kommenden Jahren in eine engere Kooperation, in einen engeren Dialog treten. Im Wahlprogramm der Linkspartei lese ich: Zunehmend dreht sich die Diskussion seit geraumer Zeit um Preis und Leistung und Verwertbarkeit von Bildung ... Der Mensch wird dabei nicht gebildet, sondern seine Kompetenzen werden für globale Märkte optimiert. Bildung wird nach kapitalistischer Verwertungslogik geleitet. (Beifall bei der LINKEN) Wer so spricht, der hat doch gar kein Interesse daran, junge Menschen auf den Ausbildungsmarkt und die Wirtschaft vorzubereiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Bundesregierung und die Koalition aus CDU/ CSU und FDP wird ihren Teil dazu beitragen, die Herausforderungen zu meistern. Wir haben damit begonnen. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, aber vor allen Dingen auch die jungen Menschen in diesem Land können sich sicher sein, dass Bildungs- und Ausbildungspolitik bei uns in guten Händen ist. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Willi Brase [SPD]: Warten wir einmal ab!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Bernschneider, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit. (Beifall) Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Müller für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegen der Opposition: Was muss ein Jugendlicher denken, der Ihnen heute Morgen zugehört hat? Er muss doch den Eindruck haben, dass es in Deutschland leichter ist, einen Sechser im Lotto zu gewinnen, als einen Ausbildungsplatz zu bekommen. In ihm müssen doch Fluchtgedanken aufkommen, wenn er Ihnen heute Morgen zugehört hat. Sie vermitteln ein rabenschwarzes Bild, das schlimmer nicht sein könnte. Aber zum Glück ist es ein falsches Bild. Mit der Realität hat das wenig zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Willi Brase [SPD]: Entschuldigen Sie einmal! Wenn 1,5 Millionen keinen Berufsabschluss haben, ist das ein rabenschwarzes Ergebnis!) Schauen wir uns einmal die Realität an. Werfen wir einen Blick auf objektive Zahlen, zum Beispiel auf die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit. Die Jugendarbeitslosigkeit ist ja ein verlässlicher Indikator für die Situation der beruflichen Bildung. Zu Beginn des Jahres lag die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland bei 10,1 Prozent. Das ist für deutsche Verhältnisse sehr viel. Aber in unserem Nachbarland Frankreich lag sie mehr als doppelt so hoch. (Zuruf der Abg. Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]) In Finnland lag sie bei 23,7 Prozent, in Schweden bei 25,6 Prozent. Trauriges Schlusslicht ist Spanien mit über 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Fast in ganz Europa gibt es prozentual gesehen mehr arbeitslose Jugendliche als in Deutschland. Allein diese Zahlen machen deutlich, dass die Situation in unserem Land nicht so rabenschwarz aussehen kann, wie Sie sie gerne malen würden. Das sollte als Allererstes festgestellt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Liebe Kollegen, diese im Vergleich zu anderen bessere Situation in Deutschland ist kein Zufall, sie ist nicht gottgegeben; nein, dafür gibt es Gründe. Ein entscheidender Grund ist das hohe Verantwortungsbewusstsein unserer Unternehmen. Sie haben trotz Krise weiter ausgebildet, sie haben auch die Beschäftigten gehalten, so gut es eben ging. Unsere Unternehmen haben in den letzten Monaten Verantwortung gezeigt. Ihnen gebührt an dieser Stelle ein großes Lob. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dass sie Verantwortung wahrnehmen, wird nicht nur in der Krise deutlich, sondern ist Voraussetzung für den Erfolg unseres Systems, nämlich des Systems der dualen Ausbildung. Ich möchte dieses System mit einem stabilen Haus vergleichen, das auf einem festen Fundament steht und sich schon über Jahre bewährt hat. Aber um zeitgemäß zu bleiben, muss das Haus immer wieder modernisiert werden und neuen Herausforderungen angepasst werden. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt die Modernisierung?) An diesen Modernisierungsarbeiten sind viele beteiligt: die Politik, die Unternehmen, die jungen Leute selbst. Sie, liebe Kollegen der Opposition, spielen dagegen eine eher unrühmliche Rolle. Sie stehen daneben, Sie schauen zu, Sie stützen sich auf der Schaufel ab, Sie meckern und kritisieren. (Willi Brase [SPD]: Wir haben längst einiges auf den Weg gebracht!) Schauen Sie sich um: Unsere Nachbarn beneiden uns um dieses stabile System. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, nehmen Sie die Schaufel ebenfalls in die Hand und helfen Sie mit, dass dieses System noch besser und noch zukunftsfester wird. Das ist im Sinne von uns allen. Mitmachen statt Miesmachen - das sollten Sie sich heute vornehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wie beim Bau eines Hauses müssen auch beim Thema Ausbildung viele zusammenarbeiten. Ein Paradebeispiel dafür ist der Ausbildungspakt. Die Kollegen haben schon darauf hingewiesen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hinz? Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): Ja, gerne. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Opposition würde danebenstehen und zuschauen und sich auf der Schaufel oder wo auch immer abstützen. Ich möchte Sie jetzt fragen: Haben Sie das Konzept zur Modernisierung des Berufsbildungssystems der Grünen "DualPlus" schon gelesen? Haben Sie sich darüber kundig gemacht, dass es mehrfach Veranstaltungen und Fachgespräche dazu gab? (Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) - Bitte? - (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir melden auch eine solche Frage an! - Gegenruf von der CDU/CSU: Das ist doch kein Zwiegespräch! - Heiterkeit) Können Sie mir bitte erklären, was Sie an diesem Konzept gut und was Sie schlecht finden? Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): Liebe Kollegin, ich halte es für sehr begrüßenswert, wenn sich auch die Opposition Gedanken macht. (Zurufe von Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Ah!) Ich finde es gut, wenn wir in den Ausschüssen darüber diskutieren. (Ulla Burchardt [SPD]: Sie haben Glück, dass es sie gibt! Sonst gibt es nichts zu sagen!) Aber was heute Morgen gerade von den Linken und auch von Teilen der Grünen vorgetragen wurde - die SPD muss ich davon ausschließen, das war recht konstruktiv -, war in überwiegendem Maße Schwarzmalerei. Sie haben nur auf die negativen Sachen hingewiesen. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! Das war nicht die Frage! Sie weichen aus!) Gerade von den Linken kamen keine konstruktiven Vorschläge. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Über sinnvolle Vorschläge zu diskutieren, sind wir jederzeit bereit. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung!) Wir müssen diskutieren, da haben Sie recht. Wir müssen uns gemeinsam einbringen; denn der Ausbildungspakt - ich habe ihn bereits erwähnt - wird im Herbst verlängert. Er geht in eine neue Runde. Dadurch stehen wir vor neuen Herausforderungen, die wir angehen müssen. Zwei Herausforderungen - das will ich Ihnen zugutehalten - haben Sie bereits angesprochen. Zum einen geht es darum, alle Potenziale zu erschließen. Es gibt nach wie vor Jugendliche, die es schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden: die Altbewerber und vor allem die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Berufsbildungsbericht wird eine erschreckende Zahl genannt: 40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben keinen Berufsabschluss. Diese jungen Menschen sind nicht weniger talentiert als ihre deutschen Freunde, aber sie müssen mehr Hürden überwinden. Deshalb brauchen sie frühere und intensivere Förderung und Beratung durch Ausbildungslotsen, Sprachkurse und ausbildungsbegleitende Hilfen. Wir sind auf einem guten Weg, aber die Anstrengungen dürfen nicht nachlassen. Alle Partner des Ausbildungspaktes sollten sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst sein. Wir wollen allen eine Chance geben, im Interesse der Jugendlichen, aber auch im Interesse von uns allen. Die zweite Herausforderung, der wir im Rahmen des Ausbildungspaktes begegnen müssen, ist neu: der zunehmende Fachkräftemangel. Bereits heute gehen jährlich 200 000 Menschen mehr in Rente, als neue in das Berufsleben einsteigen. Diese Entwicklung wird sich noch verschärfen. Schon heute können viele Unternehmen ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. Das Problem ist zwar regional und branchenspezifisch noch sehr unterschiedlich, es wird sich aber ausweiten. Das muss uns Sorge bereiten. Hier müssen wir etwas tun, beispielsweise durch eine bessere Vorbereitung auf das Berufsleben, Stichwort: Berufsorientierung. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, deutschlandweit ein besseres System der Berufsorientierung auf die Beine zu stellen: in allen Schulen, frühzeitig, gezielt und individuell auf den einzelnen Jugendlichen abgestimmt. Es muss ein System sein, das alle Akteure vor Ort einbindet. Kollegin Hinz, Sie haben eben gefordert, dass die Akteure, die es bereits vor Ort gibt, eingebunden werden. Wir befürworten das sehr. Es gibt das Konzept der Bildungsketten, das Annette Schavan vorgestellt hat. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war falsch aufgeschrieben!) Es gibt das Konzept der Bildungslotsen. Auch das trägt dazu bei, einen kontinuierlichen Übergang von der Schule ins Berufsleben sicherzustellen. Dafür wollen wir uns einsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen festgestellt: Unser System der dualen Ausbildung wird von unseren europäischen Nachbarn geschätzt. Wir werden darum beneidet. Ich habe allerdings den Eindruck, dass uns das in Deutschland nicht immer bewusst ist. Stattdessen rufen wir ständig nach mehr Akademikern, mehr Studenten und mehr Abiturienten. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Die brauchen wir auch!) Diejenigen, die am lautesten rufen, sind Sie von der Linken. Sie haben auf Ihren Wahlplakaten "Gymnasium für alle" gefordert. Damit erklären Sie alle anderen Schulformen und Bildungswege für unwürdig. In meinen Augen ist das arrogant und menschenverachtend. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo haben Sie das Plakat gesehen? Das gibt es nicht!) - Liebe Kollegen der Linken, wenn Sie Ihre eigenen Plakate nicht kennen, dann ist das wirklich sehr bedenklich. Schauen Sie sich die Kampagne Ihrer Partei im Saarland, im Land Ihres ehemaligen Bundesvorsitzenden, an. (Ulla Burchardt [SPD]: Können Sie zum Thema sprechen?) Dort wurde der Spruch "Gymnasium für alle" plakatiert. Wenn Sie nicht dahinterstehen, dann sagen Sie das öffentlich und distanzieren sich von der Kampagne. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bildung für alle! Das wollen wir!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Müller, möchten Sie noch eine Zusatzfrage der Kollegin Alpers zulassen? Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): Von mir aus. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Agnes Alpers (DIE LINKE): Ich möchte von Ihnen wissen, wo Sie das Plakat gesehen haben. Es gibt kein deutschlandweites Plakat mit der Aufschrift "Gymnasium für alle". Da haben Sie sich getäuscht. Was Sie gesehen haben, ist das Plakat mit der Aufschrift "Reichtum für alle". Das soll deutlich machen, dass wir in einem der reichsten Länder leben. Wir gehen davon aus, dass an diesem Reichtum alle beteiligt werden. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Reichtum besteuern! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU und FDP) - Genau. Da sind wir dann beim Bildungsreichtum und bei gleichen Chancen für alle. Die erste Frage lautet also, wo Sie das Plakat gesehen haben. Die zweite Frage lautet: Wo haben Sie jemals von den Linken gelesen, dass wir uns gegen Auszubildende aussprechen? Sie haben gerade behauptet, dass wir uns nur für Abiturienten einsetzen. Ich möchte das von Ihnen belegt haben. Auch wir treten in allen Bereichen für ein umfassendes Ausbildungssystem ein. Ich bitte Sie, mit den Unterstellungen aufzuhören und mir zu sagen, wo Sie das gelesen haben. Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU): Ich habe diese Frage bereits beantwortet, liebe Kollegin. (Zuruf von der CDU/CSU: Zuhören!) Es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden. Fragen Sie die Kollegin Ferner oder Ihre Kollegin Ploetz, die Nachfolgerin von Oskar Lafontaine. Ich bin sicher, dass sie eines dieser Plakate aufgehängt hat. Es war im letzten Landtagswahlkampf im Saarland flächendeckend plakatiert. Das sollten Sie wissen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der FDP: Hört! Hört! - Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Saarland ist aber nicht bundesweit!) Wir wissen, was unsere Landesverbände tun. Wir stehen ein für die Aussagen unserer Landesverbände. Wenn das in Ihrer Partei nicht der Fall ist, dann finde ich das schade. Schauen Sie sich das einfach noch einmal an. Es war flächendeckend plakatiert. (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Flächendeckend? Sie haben nicht "Saarland" gesagt, sondern "Deutschland"!) Liebe Kollegen, wenn Sie "Gymnasium für alle" plakatieren, dann halten wir dagegen: Für uns sind alle gleich viel wert, sowohl derjenige, der auf der Realschule oder auf der Hauptschule seinen Abschluss macht und dann seine Ausbildung beginnt, als auch der Gymnasiast. Dafür werben wir, denn das ist Bestandteil des dualen Systems. Nur wenn wir für dieses System werben, wenn wir selbst dafür einstehen, kann es seinen hohen Stellenwert erhalten. Mit Ihrer Aussage "Gymnasium für alle" tun Sie genau das Gegenteil, auch wenn Sie das heute hier leugnen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem Thema gibt es noch viel Diskussionsbedarf. Bei der Modernisierung des Gebäudes der dualen Berufsausbildung sind viele gefordert. Wir alle sollten mit anpacken. Hier sollte nicht jeder nur seine Interessen verfolgen, sondern sich seiner besonderen Verantwortung bewusst sein. Nur dann können wir ein gemeinsames Ziel erreichen. Dafür brauchen wir auch Kritiker, aber keine Miesmacher. Deshalb, liebe Kollegen, bringen Sie sich konstruktiv ein! Das ist gut für uns alle. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Stefan Schwartze (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Presse für Schwarz-Gelb so schlecht ist, dass Sie sich heute Morgen die Welt rosarot reden müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir diskutieren heute über die Ausbildungssituation in unserem Land, über die Chancen der Jugendlichen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihnen damit eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen. Es wäre gut für die Debatte, wenn hier mit ehrlichen Zahlen gearbeitet würde. Dass die Zahl der unversorgten Jugendlichen in 2009 nicht stimmen kann, weiß jeder Abgeordnete, der auch mal mit Schülern diskutiert. Hier rechnet sich Schwarz-Gelb in dem Antrag die Welt schön. Das Ausbildungsangebot für Jugendliche reicht bei weitem nicht aus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es fehlt, wenn man alle Warteschleifen und Maßnahmen mit einrechnet, eine Vielzahl von Ausbildungsplätzen. Allein im Kreis Herford, in meinem Wahlkreis, fehlten in den letzten Jahren beständig 800 bis 1 000 Plätze. Die Jugendlichen sind in Maßnahmen gelandet, in den Warteschleifen an den Berufskollegs, sie jobben, oder sie sind gänzlich unversorgt geblieben. Trotz allem wollen sie weiterhin einen Ausbildungsplatz. Ihre Probleme am Ausbildungsmarkt lösen sich nicht in Luft auf. (Beifall bei der SPD) Der Ausbildungsmarkt ist kein bundesweiter Markt. Die Zukunft der Jugendlichen entscheidet sich vielmehr vor Ort. Deshalb müssen wir auch als Bund auf die regionalen Besonderheiten eingehen. Ostwestfalen-Lippe, die Region, in der mein Wahlkreis liegt, ist die jüngste Region in Deutschland. Wir erwarten bis 2013 steigende Zahlen von Schulabgängern und bleiben dann auf dem hohen Niveau. Um diesen Jugendlichen eine Perspektive zu bieten, reichen die Angebote der Wirtschaft nicht aus. Ähnliche Probleme gibt es in anderen Regionen. Wir müssen ein flächendeckendes Ausbildungsplatzangebot für alle strukturschwachen Regionen schaffen und vor Ort sichern. (Beifall bei der SPD) Wir müssen den jungen Menschen eine Perspektive bieten und dem Fachkräftemangel, der in unserer Region droht, entgegenwirken. Die SPD hat sich ehrgeizige Ziele gesteckt, an denen wir für die jungen Menschen festhalten werden. Wir wollen, dass in der Zukunft jeder entweder ein Abitur oder einen Berufsabschluss machen kann. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss muss deutlich sinken. Das Recht auf einen Schulabschluss hilft weiter, aber noch immer verlassen viel zu viele Jugendliche die Schulen ohne Abschluss. (Beifall bei der SPD) Wir müssen die Jugendlichen, die keinen Schulabschluss haben, nachqualifizieren. Nur so können wir es ihnen ermöglichen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Ja, das kostet Geld, aber es sichert den Jugendlichen Teilhabe und die größtmögliche Unabhängigkeit von staatlichen Leistungen. Sie müssen ihre Zukunft selbst gestalten können. (Beifall bei der SPD) Dem Recht auf einen Schulabschluss muss das Recht auf eine Berufsausbildung folgen. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Auch Ihnen, Herr Kollege Schwartze, gratuliere ich herzlich zur ersten Rede im Deutschen Bundestag. Alles Gute für die weitere parlamentarische Arbeit. (Beifall) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den vorliegenden Berufsbildungsbericht liest, wird einem deutlich vor Augen geführt, was in Zukunft Wachstum und Wohlstand am Standort Deutschland bremsen wird: Es ist der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Aufgrund eines Rückgangs der Zahl der Ausbildungsplätze in der Krise kann der Bedarf der Wirtschaft an qualifiziertem Nachwuchs bei weitem nicht gedeckt werden. Auf der Nachfrageseite ist die demografische Entwicklung der große Bremsklotz. Allein die Zahl der Abgänger von allgemeinbildenden Schulen fiel im Jahr 2009 um 34 000 niedriger aus als im Jahr 2008. Diese demografische Entwicklung betrifft unsere ganze Gesellschaft und alle Politikbereiche. Wir als christlich-liberale Koalition haben deswegen bewusst einen Schwerpunkt auf die Förderung von Familien und Kindern gesetzt. Diese Wirkung ist langfristig. Sie hilft den Unternehmen kurzfristig nicht, ihren Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs zu decken. Die Statistik im Berufsbildungsbericht, in der gut 17 000 offiziell gemeldete offene Ausbildungsstellen genannt werden, ist nur eine Seite der Realität. Eine Umfrage des DIHK unter seinen Mitgliedsunternehmen vom Februar dieses Jahres hat ergeben, dass diese von 50 000 unbesetzten Stellen ausgehen, überwiegend weil geeignete Bewerber fehlen. Dabei gibt es trotz der demografischen Entwicklung eine große Zahl an Bewerbern, die bisher keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Der Bericht spricht von 9 600 unversorgten Bewerbern. Hinzu kommen aber noch 73 000 junge Menschen, die zwar in einer der verschiedenen Formen der Beschäftigung stecken, aber trotzdem noch nach einem für sie passenden Ausbildungsplatz suchen. Wir brauchen jeden Einzelnen von ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist nicht nur eine sozial- und gesellschaftspolitische Notwendigkeit, sondern in zunehmendem Maße auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Der für diese Gruppe schwierige Übergang von der Schule in das Berufsleben ist neben dem Mangel an qualifizierten Bewerbern das zweite Phänomen, auf das man beim Lesen des Berufsbildungsberichts immer wieder stößt. Die Bundesregierung hat das erkannt und handelt dementsprechend. Sie setzt sich mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen dafür ein, dass jeder junge Mensch, der ausbildungswillig und -fähig ist, ein Qualifizierungsangebot erhält, das zu einem Ausbildungsabschluss führt. Die Bundesministerin hat das in ihren Ausführungen dargelegt. Als christlich-liberale Koalition haben wir zudem in unserem Koalitionsvertrag die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen. Das ist keine leere Worthülse. Neben den qualitativen Verbesserungen, gerade an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf, werden bis zum Jahr 2013 die Ausgaben für Bildung und Forschung um 12 Milliarden Euro erhöht. Gleichzeitig unterstützen wir die Länder und die Wirtschaft dabei, ihre Ausgaben in diesem Bereich zu steigern. Unser Ziel ist und bleibt, bis zum Jahr 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf ein Niveau von 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Diese Ausgaben sind Investitionen in die Zukunft unseres Landes, deren Rendite sich zugegebenermaßen nicht im Haushalt 2011 niederschlägt, die aber langfristig Wachstum und Wohlstand in unserem Land sichern. Deswegen ist es zu kurz gegriffen, genau an dieser Stelle den Rotstift anzusetzen. Ich weiß sehr wohl, dass es nicht leicht wird, das durchzuhalten. Die Diskussionen der letzten Wochen sind nur ein Vorgeschmack darauf, was uns angesichts knapper Kassen und der großen Aufgabe der Haushaltskonsolidierung in den nächsten Jahren bevorstehen wird. Auch die Aufgabe der Haushaltskonsolidierung müssen wir im Bewusstsein unserer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation bewältigen. Nur, wenn wir heute bei den Kindern oder bei der Bildung sparen, nehmen wir ihnen gleichzeitig ein Stück Grundlage ihrer Zukunftsfähigkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das wäre genauso verantwortungslos, wie ihnen nur Schulden zu hinterlassen. Ich freue mich daher, dass alle Spitzenvertreter unserer Koalition den entsprechenden Sparvorschlägen in den vergangenen Wochen eine klare Absage erteilt haben. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich verstehe, dass Sie sich bei dem Durcheinander darüber freuen!) Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir in 20 Jahren zurückblicken, sagen können, dass es diese Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel war, die mit ihrem Kurs der Haushaltskonsolidierung auf der einen Seite und ihren Investitionen in die Zukunft unseres Landes auf der anderen Seite (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: In Hotelzimmer!) den Grundstein für langfristiges Wachstum und Wohlstand in unserem Land gelegt hat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1435, 17/1550, 17/1745, 17/1734 und 17/1759 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht ganz danach aus. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für ein modernes Patientenrechtegesetz - Drucksache 17/907 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Dr. Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorige Woche, auf dem Deutschen Ärztetag, ließ Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer, verlauten, dass Vertrauen zu den Ärzten mehr zähle als das formale Recht. Im Originalton: Patienten muss man in Deutschland nicht schützen - schon gar nicht vor ihren Ärzten. Nun wollen wir die Patienten in Deutschland nicht vor den Ärzten schützen. Wir wollen auch kein Patientenschutzgesetz - das wollen Union und FDP; zumindest haben sie das in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wir haben ein anderes Bild vom Patienten. Deswegen wollen wir ein Patientenrechtegesetz. Ein solches Gesetz halten wir für unbedingt notwendig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Für die SPD haben die Patientenrechte schon immer einen hohen Stellenwert. In unserer rot-grünen Zeit haben wir in dieser Hinsicht viel auf den Weg gebracht. Das hat dem deutschen Gesundheitssystem insgesamt gutgetan. (Lars Lindemann [FDP]: Ach?) Ich erinnere an die Unabhängige Patientenberatung. Ich erinnere an die Mitwirkung der Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss. Wir haben etabliert, dass es in der Bundesregierung eine Vertrauensperson für die Patientinnen und Patienten gibt. Die Funktion des Patientenbeauftragten fußt auf einem rot-grünen Gesetz. Leider können wir im Moment nicht sehen, dass der jetzige Patientenbeauftragte trotz aller Bemühungen viel bewegen könnte. Ihm scheint der Rückhalt in der eigenen Regierung zu fehlen. (Beifall bei der SPD) Wenn es anders wäre, stünde die Unabhängige Patientenberatung jetzt nicht im Regen, sondern es wäre längst alles geregelt für den Fortbestand der Unabhängigen Patientenberatung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Warum brauchen wir ein Patientenrechtegesetz? Ich frage Sie: Sind Sie schon einmal vor einer ärztlichen Diagnose oder Therapie nicht umfassend aufgeklärt worden? Kennen Sie vielleicht aus den Sprechstunden Bürger, die versucht haben, vom Krankenhaus die Dokumente zu der Behandlung ihrer verstorbenen Angehörigen zu erhalten? Musste schon einmal jemand aus Ihrer Familie oder aus Ihrem Freundeskreis prozessieren, um nach einem Behandlungsfehler Schadenersatz oder Schmerzensgeld zu erhalten? Diese Liste könnte ich beliebig fortführen. Ich habe diese Beispiele gebracht, um deutlich zu machen, wo Regelungslücken sind. Natürlich haben die Patienten in Deutschland bereits Rechte; aber viele kennen ihre Rechte nicht. Das liegt zum Großteil daran, dass die Vorschriften in unterschiedlichen Gesetzen aufgeschrieben sind. Deswegen wollen wir zum Beispiel die Rechte und Pflichten aus dem Behandlungsvertrag in einem Patientenrechtegesetz normieren. Es gibt Regelungen, die schlicht unzureichend sind. Diese Regelungen wollen wir angehen. Ich kann hier nur auf einige Punkte eingehen, Stichwort Patientensicherheit. Patienten haben das Recht auf eine sichere Behandlung; doch in deutschen Krankenhäusern sterben durch unerwünschte Ereignisse mehr Patienten, als Menschen bei Verkehrsunfällen sterben, und zwar dreimal so viele. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat im Jahr 2007 eine Untersuchung vorgelegt, nach der in der Chirurgie jährlich mindestens 200 Seiten- und Eingriffsverwechslungen vorkommen. Das ist nicht akzeptabel. Natürlich müssen die Einrichtungen zunächst einmal selbst schauen, was organisatorisch verändert werden kann. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Vermeidung von Fehlern und der Umgang mit Fehlern, ein Fehlermanagement, in den deutschen Krankenhäusern erst noch etabliert werden muss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erforderlich ist auch die Einführung eines zentralen Melderegisters, das auf die Vermeidung von Fehlern ausgerichtet ist. Und: Fehler müssen bekannt werden, und zwar deswegen, damit man sie zukünftig vermeiden kann. Deshalb müssen Beschäftigte, die einen eigenen oder einen fremden Fehler melden, vor arbeitsrechtlichen Sanktionen geschützt werden. Es kann doch nicht angehen, dass die Krankenschwester, die einen Fehler des Chefarztes meldet, entlassen wird. (Beifall bei der SPD - Lars Lindemann [FDP]: Weil die das so gut beurteilen kann!) - "Weil die das so gut beurteilen kann": Stellen Sie doch eine Frage. Ich würde sie gerne beantworten und gerne etwas dazu sagen. (Jörg van Essen [FDP]: Sagen Sie es doch einfach so!) Auch im Idealfall lassen sich Fehler natürlich nicht gänzlich vermeiden, aber wird ein Patient heute Opfer eines Behandlungsfehlers, dann hat er eine sehr schwache Position. Er trägt ein hohes Prozesskostenrisiko, er muss sich mit einer jahrelangen, manchmal fast jahrzehntelangen Verfahrensdauer abfinden, und er trägt in den allermeisten Fällen die Beweislast. Auch hier wollen wir Verbesserungen. Wir wollen, dass die Versicherten bei Verdacht auf einen Behandlungsfehler einen Anspruch auf Unterstützung ihrer Krankenkasse haben, wir wollen spezielle Arzthaftungskammern der Landgerichte, wir wollen Instrumente zur Beschleunigung des Verfahrens, und wir wollen die Beweislastumkehr immer dann, wenn Krankenhäuser oder Ärzte die entsprechenden Patientenunterlagen unzureichend, unvollständig oder verzögert weiterreichen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Abschließend komme ich noch zu einem wichtigen Punkt unseres Antrags, nämlich zu den kollektiven Beteiligungsrechten. Die Patientinnen und Patienten werden nur dann von Betroffenen zu Beteiligten, wenn sie mitentscheiden und mitbestimmen können. Das beste Beispiel dafür ist die Patientenbeteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss, also dem Gremium, in dem festgelegt wird, was zulasten der Krankenversicherung verordnet wird. Wir haben die Mitwirkungsrechte der Patienten eta-bliert, aber sie haben noch kein Stimmrecht. Wir denken, dass es überfällig ist, dass die Patienten jetzt das Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss erhalten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Ulrike Flach [FDP]: Das hättet ihr doch gleich machen können!) Unser Antrag fußt auf Eckpunkten, die wir in der vorigen Legislaturperiode in einem langen Diskussionsprozess mit vielen Beteiligten erarbeitet haben - mit Patientenselbsthilfegruppen, mit Hilfeverbänden, mit Juristen, mit Ärzten -, und deswegen sind wir der Meinung, dass dieser Antrag eine sehr gute Grundlage für die Erarbeitung eines Patientenrechtegesetzes ist, was der Patientenbeauftragte ja will. Der Patientenbeauftragte hat es ja mehrfach gesagt: Er möchte hier spätestens im nächsten Jahr ein Patientenrechtegesetz verabschieden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Da ist ja noch ein bisschen Zeit!) Ich bitte Sie herzlich, dass Sie unseren Antrag zur Grundlage dafür nehmen; denn wir haben mehrere Jahre gebraucht, um überhaupt die Eckpunkte zu erarbeiten. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist wie mit der Bürgerversicherung! Sie sind ja immer langsam!) Wir haben mit allen Verbänden und Vereinen, die betroffen sind, darüber gesprochen, und Sie werden bei Ihren Gesprächen mit Sicherheit zu keinem anderen Ergebnis kommen. Wer heute noch der Meinung ist, wir bräuchten ein solches Patientenrechtegesetz nicht, dem empfehle ich nur Gespräche mit den betroffenen Patientinnen und Patienten. Sie werden dann zu dem Schluss kommen, dass wir ein solches Gesetz brauchen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der nächste Redner ist der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller. (Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Zöller, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten: Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Volkmer, gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Wenn meine Vorgängerin als Patientenbeauftragte auch nur halb so viel Rückhalt in der Regierung gehabt hätte, wie ich sie erfreulicherweise habe, dann hätten wir schon längst ein solches Gesetz haben können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf, Herr Zöller?) Man sieht das ja auch schon an einem Beispiel. Wir haben es sogar schon im Koalitionsvertrag festgelegt, was Ihnen damals nicht gelungen ist. Auch daran erkennt man die Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens. (Elke Ferner [SPD]: Warum haben Sie es dann noch nicht gemacht?) Heute sollen wir hier über einen Vorschlag der SPD reden, in dem verschiedene Einzelregelungen vorgesehen sind, und wir sollen uns nun auf entsprechende Eckpunkte festlegen. Ich sage es ganz offen: Ich halte diese Vorgehensweise der Festlegung zum jetzigen Zeitpunkt für nicht zielführend. Sie wollen nämlich etwas festlegen und werden dann mit den Beteiligten sprechen. (Elke Ferner [SPD]: Wir haben schon längst mit den Beteiligten gesprochen!) Wir sprechen erst mit den Beteiligten und legen dann einen gemeinsamen Vorschlag vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen habe ich dies auch schon im Gesundheitsausschuss vorgetragen. Ich darf auf den Koalitionsvertrag verweisen. Darin heißt es: Im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht das Wohl der Patientinnen und Patienten. (Elke Ferner [SPD]: Davon ist bisher nicht viel zu merken!) Die Versicherten sollen in die Lage versetzt werden, möglichst selbständig ihre Rechte gegenüber den Krankenkassen und Leistungserbringern wahrzunehmen. Aus diesem Grund soll eine unabhängige Beratung von Patientinnen und Patienten ausgebaut werden. ... Die Patientenrechte wollen wir in einem eigenen Patientenschutzgesetz bündeln, das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am Gesundheitswesen erarbeiten werden. (Elke Ferner [SPD]: Dann haben Sie es bis Ende der Wahlperiode noch nicht fertig!) So heißt es im Koalitionsvertrag. Die Zusage, dass wir das Gesetz in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erarbeiten werden, nehmen wir sehr ernst. Deshalb halten wir uns an den vorgegebenen Zeitplan. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Was die Formulierung Patientenschutzgesetz angeht, sind wir uns, glaube ich, darin einig, dass wir ein Patientenrechtegesetz schaffen. Denn es sollte schon in der Wortwahl verdeutlicht werden, dass wir den Patienten nicht vor etwas schützen müssen, sondern dass der Patient als gleichwertiger Partner im System anerkannt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Aha! Da haben wir schon mal die erste Übereinstimmung!) Sie werden von niemandem in der Regierungskoalition etwas anderes gehört haben. Zum Stand des Verfahrens: Ich führe seit Beginn der Tätigkeit viele Gespräche, um sowohl den Handlungsbedarf als auch die Regelungsmöglichkeiten zu prüfen und alle Belange zu berücksichtigen. Selbstverständlich werden wir - das hatte ich im Gesundheitsausschuss auch schon zugesagt - gerne auch Anregungen aus anderen Fraktionen mit aufnehmen und in diese Überlegungen mit einbinden. Nachdem wir alle Anregungen geprüft haben, wird es Ende des Jahres ein Diskussionspapier geben. Ich bin zuversichtlich, dass wir anschließend - wiederum ganz besonders mit der Unterstützung unseres Gesundheitsministers - im nächsten Jahr das parlamentarische Verfahren einleiten. (Elke Ferner [SPD]: Im nächsten Jahr? Sehr schnell!) Ich bin auch sicher, dass wir im nächsten Jahr einen mit allen Beteiligten abgestimmten Gesetzentwurf für die Patientinnen und Patienten vorlegen können. Ich habe bisher etwas mehr als 150 Gespräche geführt, angefangen bei Juristen über Selbsthilfegruppen bis hin zu Gutachtern, Patientenvertretern und allen anderen am System Beteiligten. Wir haben schon weitere 50 Gesprächstermine zugesagt. Ich halte die dafür vorgesehene Zeit für notwendig, um einer ausgewogenen Betrachtung dieses Themas Rechnung zu tragen. Was das Patientenrechtegesetz angeht, haben wir alle, glaube ich, die Erfahrung gemacht, dass sich die Patienten oftmals gegenüber den Leistungserbringern und Kostenträgern im Gesundheitswesen gerade im Konfliktfall unterlegen fühlen. Schlichtungsstellen und Gutachter werden häufig als nicht neutral erlebt. Oft wird eine zu lange Verfahrensdauer beklagt. Patienten und Patientinnen empfinden das bestehende Recht oft als unübersichtlich und nicht gerecht. Dies gründet auch darauf, dass Patientenrechte im geltenden Recht an unterschiedlichen Stellen verankert sind, teils auch lediglich auf Richterrecht beruhen. Vielen Regelungen fehlt es zudem an Klarheit. Ein Patientenrechtegesetz, das Rechte und Pflichten ausdrücklich regelt und zusammenfasst, kann wesentlich mehr Rechtssicherheit und Transparenz für die Patienten schaffen. Mir als Patientenbeauftragtem liegen folgende Punkte besonders am Herzen: Ein Hauptanliegen wird sein, dass wir die Patientinnen und Patienten in die Lage versetzen, ihre Rechte wahrnehmen zu können. Das heißt für mich auch einfache und verständliche Aufklärung und Information, damit nicht gerade die Schwächeren in unserer Gesellschaft immer die Benachteiligten sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Langfristig müssen wir erreichen, dass die Patienten nicht erst um ihr Recht kämpfen müssen, sondern Recht bekommen. Die Patienten müssen über Qualität, über Kosten und auch über verschiedene Behandlungsmethoden informiert werden. Es wurde das Modellvorhaben der Unabhängigen Patientenberatung Deutschlands angesprochen. Dieses Modellvorhaben hat sich bewährt. Hier haben wir erreicht, dass man mit einer Anlaufstelle, einer kostenlosen Telefonnummer, für sein Anliegen immer einen Ansprechpartner hat, um eine fundierte Auskunft oder einen Verweis an eine kompetente Stelle zu erhalten. Dieses Modellvorhaben - ich glaube, darin sind wir uns alle in diesem Hause einig - soll in eine Regelleistung übernommen werden. Es ist auch sinnvoll, dass diese Regelung möglichst schnell vollzogen wird. Ich möchte, dass dies noch vor der Sommerpause geschieht, um auch die Planungssicherheit der Beteiligten zu gewährleisten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Allerdings müssen dort noch Verbesserungen stattfinden: Dies fängt bei einer Auswertung der eingegangen Anliegen an; es kann nicht sein, dass lediglich Strichlisten geführt werden. Ich möchte erreichen, dass die dort ankommenden Anliegen als Seismograf genutzt werden können, um Handlungsoptionen abzuleiten. Auch halte ich die Vernetzung mit Selbsthilfegruppen und Kompetenznetzen für verbesserungswürdig. Die Ansprechpartner in den Krankenhäusern haben sich nach meiner Auffassung hervorragend bewährt. Deshalb sollte man die Funktion der Patientenfürsprecher, wie sie genannt werden, oder Beschwerdebeauftragten in den Krankenhäusern ausbauen. Ich halte die Informationspflicht für eines der wichtigsten Patientenrechte. Die Stärkung der Patientenrechte gegenüber den Leistungsträgern wird ein weiterer Punkt sein: Wir wollen einen zeitnahen Zugang zu medizinischen Leistungen erreichen. Wir müssen das Bewilligungsverfahren wesentlich beschleunigen. Es kann nicht sein, dass wir Briefe bekommen, in denen davon die Rede ist, dass jemand monatelang auf eine Reha-Maßnahme oder einen Rollstuhl warten muss. Solche Briefe liegen uns vor. Des Weiteren möchte ich eine Implementierung der Risiko- und Fehlermanagementsysteme. Nicht nur Fehler, sondern auch Beinahe-Fehler können schneller Hinweise auf Schwachstellen in Behandlungsabläufen geben - nach dem Motto: Lernen aus Fehlern. Wir brauchen eine Stärkung der Opfer bei Behandlungsfehlern. Dies allerdings bedarf einer sehr intensiven Beratung, angefangen von der Diskussion über verschuldensunabhängige Entschädigung über Beweislasterleichterung, Stärkung der Patienten im Gerichtsverfahren bis hin zu Qualität und Transparenz der Gutachterkommis-sionen und Schlichtungsstellen. Auch im Gemeinsamen Bundesausschuss werden immer mehr patientenrelevante Entscheidungen getroffen. Deshalb sind wir der Auffassung, dass wir eine Stärkung der Patientenmitwirkung brauchen. Wie dies gemacht werden kann, ist noch offen. Die Patientenvertreter sind für eine generelle Mitbestimmung; dies lässt sich allerdings nur in bestimmten Bereichen umsetzen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen anhand dieser vielen Themen und offenen Fragen, dass es notwendig ist, mit den Beteiligten weitere Gespräche zu führen. Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen die Patienten wieder Vertrauen in unser nach wie vor sehr gutes Gesundheitssystem haben können, sodass sie es als gerecht empfinden. Unser Anspruch ist es, hierfür eine dauerhafte Regelung zu finden. Deshalb gilt hier: Qualität vor Schnelligkeit. Ich lade Sie ein, gemeinsam ein Patientenrechtegesetz zu erarbeiten, das diesen Namen auch verdient. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. (Ulrike Flach [FDP]: Was ist das denn? - Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!) Diesen Satz hört man oft, wenn man mit Patientinnen und Patienten spricht, die sich von ihrem Arzt, ihrer Krankenkasse oder im Krankenhaus schlecht behandelt fühlen. Damit drücken sie letztlich nur aus, wie sie sich in einer solchen Situation fühlen, nämlich ohnmächtig, hilflos und allein gelassen. Das Vertrauen in die Ärztin oder den Arzt spielt - das wissen wir alle; das ist inzwischen durch Studien gut belegt - eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Krankheiten und für den Heilungsprozess. Die Arztpraxis ist nämlich kein "Medika"-Markt für Gesundheitsdienstleistungen, und der kranke Mensch ist kein Kunde, der sein defektes Gerät im Garantiefall zurückgeben kann, wenn jemand in der Fabrik gepfuscht hat. Gesundheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist keine Ware. (Beifall bei der LINKEN) In den allermeisten Fällen erweist sich das Vertrauen in die Behandelnden und die Pflegenden als absolut gerechtfertigt. (Lars Lindemann [FDP]: Genau!) Doch überall da, wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Wer die Arbeitsbedingungen in den meisten deutschen Kliniken kennt und liest, was das Pflege-Thermometer herausgefunden hat - chronischer Mangel; durch den Stellenabbau in den Kliniken wächst auch das Risiko für Patienten -, wundert sich, dass in deutschen Kliniken nicht noch sehr viel mehr passiert. Da muss man wirklich sagen: Hut ab vor den Beschäftigten, die unter diesem Druck und diesen Bedingungen noch so gute Arbeit leisten! (Beifall bei der LINKEN) Für kranke Menschen bedeutet ein Behandlungsfehler in der Regel, dass ein schon vorhandenes Leiden verschlimmert wird oder neue Beschwerden hinzukommen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hätte in einer solchen Situation nicht die Kraft, um mein Recht zu kämpfen und nach dem Schuldigen zu suchen. Ich denke, das geht den meisten Menschen genauso. Leider ist die Situation aber so: Wenn doch einmal etwas schiefgeht, dann finden sich die Patientinnen und Patienten ganz schnell am Ende der Nahrungskette wieder. (Lachen bei der FDP) Da sind zunächst die Ärztinnen und Ärzte, die mauern und vertuschen. Das tun sie gar nicht bösartig. Vielmehr sind sie dazu in vielen Fällen vertraglich verpflichtet, entweder durch ihren Arbeitgeber oder durch ihre Haftpflichtversicherung. Das ist doch ein Skandal. Daran müssen wir dringend etwas ändern. (Beifall bei der LINKEN) Dann erleben viele, dass ihre Krankenakten nicht rechtzeitig, nicht vollständig, nachträglich verändert oder überhaupt nicht herausgegeben werden. Das alles ist zwar völlig rechtswidrig - das ist schon nach heutigem Recht illegal -, aber die Patientin oder der Patient hat keine Möglichkeit, das Recht auf die eigenen Akten wirksam durchzusetzen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wieso nicht?) Deswegen brauchen wir unbedingt spürbare Sanktionen gegen Ärztinnen und Ärzte, die Unterlagen fälschen oder zurückhalten. (Beifall bei der LINKEN - Lars Lindemann [FDP]: Oder ihre Patienten aufessen!) Ist es mir als Betroffener dann doch gelungen, die Akten zu erhalten, muss ich auch noch selbst beweisen, dass ich erstens falsch behandelt wurde und zweitens genau diese falsche Behandlung die Ursache für meine neuen Beschwerden ist. Das fällt doch allen schwer, die weder Medizin studiert haben noch das nötige Kleingeld für teure Gutachten besitzen. Deswegen brauchen wir dringend Erleichterungen bei der Beweisführung für die Patientinnen und Patienten. (Beifall bei der LINKEN) Wenn ich all diese Widrigkeiten überwunden habe, dann finde ich mich wieder in einem schier undurchdringlichen Paragrafendschungel aus Zivilrecht, Sozialrecht, Strafrecht, Arzthaftungsrecht und Arzneimittelrecht, in dem sich selbst gestandene Juristinnen und Juristen verirren können, und das alles in einer Situation, in der ich ohnehin gesundheitlich und emotional belastet bin. Also fühle ich mich wieder hilflos, ohnmächtig und allein gelassen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht so nicht weiter. (Beifall bei der LINKEN) Was wir brauchen, ist eine veränderte Perspektive. Der betroffene Mensch muss in den Mittelpunkt unserer Überlegungen rücken. Er hat nämlich ein Recht darauf, dass ihm geholfen wird und dass alles getan wird, um sein zusätzliches Leid zu lindern, ohne dass er dafür von Pontius zu Pilatus laufen muss. Wir brauchen daher ein Patientenrechtegesetz, das nicht nur die bisherigen Regelungen zusammenfasst, sondern die Patientinnen und Patienten wirklich in die Lage versetzt, ihre Rechte durchzusetzen. Darin stimme ich Ihnen völlig zu, Herr Zöller. (Elke Ferner [SPD]: Der macht aber nichts!) Das muss auch nicht etwa neue Bürokratie in den Praxen und Kliniken bedeuten, wie es der Deutsche Ärztetag befürchtet. Wenn wir eine Regelung schaffen, die Ärztinnen und Ärzten ermöglicht, mit Fehlern offen umzugehen und sich selbst um Schadensbegrenzung und Hilfe für die Betroffenen zu kümmern, dann haben letztlich alle etwas davon. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) Es kann doch niemand wirklich wollen, dass langwierige Schiedsverfahren geführt werden müssen, die nach durchschnittlich 13 Monaten meistens ausgehen wie das Hornberger Schießen, oder dass sich der Arzt und der Patient in teuren Gerichtsverfahren gegenüberstehen, die das dringend benötigte Vertrauensverhältnis vernichten und an denen sich nur Anwaltskanzleien und Versicherungskonzerne eine goldene Nase verdienen. Deswegen fordern wir als Linke eine verschuldensunabhängige Entschädigung. Es ist doch absurd, wie viel Energie, Zeit und Geld seitens der Ärzteschaft und ihrer Versicherungen darauf verschwendet werden, die Ansprüche der Patientinnen und Patienten juristisch abzuwehren, statt dieses Geld und diese Energie darin zu investieren, dass es den Betroffenen möglichst schnell wieder besser geht. (Beifall bei der LINKEN - Lars Lindemann [FDP]: So ist das aber in einem Rechtsstaat!) Auch von einem verpflichtenden Fehlerregister könnten alle Beteiligten profitieren; denn erst dann, wenn alle Behandlungsfehler systematisch dokumentiert werden, kann man sehen, wo besondere Risiken liegen und wie man sie vermeiden kann. Aber hier knicken Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Antrag leider wieder einmal vor der geballten Macht der Ärztelobby ein, wenn Sie statt einer Verpflichtung nicht mehr fordern als die - ich zitiere - "Auflegung eines Programms zur Förderung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen ...". Das ist ganz schön, aber das reicht hinten und vorne nicht. Ich bin der Auffassung, dass uns freiwillige Vereinbarungen auf diesem Feld nicht weiterhelfen. (Beifall bei der LINKEN) Freiwillig machen so etwas nämlich nur diejenigen mit, die sowieso besonders sorgfältig arbeiten und von sich aus einen hohen Anspruch an ihre eigene Qualität haben. Das ist so wie in der Schule: Die freiwilligen zusätzlichen Hausaufgaben machen immer nur die Kinder, die keine zusätzlichen Übungen brauchen. Also: Fehlerregister her, aber bitte verpflichtend! (Beifall bei der LINKEN) Es zeugt auch nicht wirklich von Ihrem Realitätssinn, wenn Sie im Einleitungsteil Ihres Antrags erst einmal feststellen, dass doch alles recht gut sei, und das alles auf Ihre Regierungszeit zurückführen. Immerhin haben Sie das Amt des bzw. der Patientenbeauftragten geschaffen. Das klingt schön, bringt aber wenig Konkretes. Schließlich wird diese Person jeweils aus dem Kreis der Regierungskoalition gewählt und vertritt dementsprechend auch deren Politik, auch gegenüber den Patientinnen und Patienten. (Elke Ferner [SPD]: Das war bei Frau Kühn-Mengel aber nicht so!) Wie mir berichtet wurde, beklagte sich zum Beispiel ein Patient vor einigen Jahren bei Ihrer damaligen Patientenbeauftragten Kühn-Mengel über die unsozialen Auswirkungen von Praxisgebühr und Zuzahlungen. Als Antwort wurde ihm gesagt, er solle doch einmal nach Ägypten fahren und sich die dortige Situation anschauen; dann würde er sehen, wie gut es uns doch hier geht, auch den Leuten mit wenig Geld. So etwas ist doch einfach nur zynisch. (Beifall bei der LINKEN - Elke Ferner [SPD]: Das Schreiben würde ich gerne mal sehen!) - Das ist kein Schreiben gewesen, das ist ein Telefongespräch mit einem Mitarbeiter gewesen. Ich kann Ihnen das aber schriftlich einreichen. Einer solchen "patientenfreundlichen" Haltung will aber auch unser neuer Patientenbeauftragter, Herr Zöller von der CSU, nicht nachstehen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der macht seine Arbeit hervorragend!) In der FAZ vom 30. November 2009 - das habe ich hier vorliegen; das kann ich Ihnen direkt zeigen - wird er mit den Worten zitiert, die Praxisgebühr könne abgeschafft werden, da sich zu viele Patientinnen und Patienten davon befreien lassen könnten und sie deshalb den Krankenkassen zu wenig Geld bringt. Ach so, würden also mehr Patientinnen und Patienten öfter und mehr Praxisgebühr zahlen, dann wäre der Patientenbeauftragte damit zufrieden? Dann könnte man sie beibehalten? Das ist eine Vertretung von Patienteninteressen, über die man nur noch den Kopf schütteln kann. (Beifall bei der LINKEN) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es ist gut, dass Sie jetzt ein Patientenrechtegesetz fordern. Schade ist nur, dass Sie elf Jahre in der Regierung waren und nichts davon auf den Weg gebracht haben. Erst kurz vor der Bundestagswahl kam Ihre Arbeitsgruppe mit einem Positionspapierchen zum Thema Patientenrechte, und erst jetzt, da Sie nichts mehr zu entscheiden haben, legen Sie einen Antrag vor. Für mich verstärkt das leider den Eindruck, den ich von Ihrer Arbeit habe. Sie haben manchmal wirklich gute Ideen, die ich nur unterstützen kann, aber sie werden nur dann in einem Antrag aufgegriffen, wenn Sie sicher sind, dass Sie diese ganz bestimmt nicht durchsetzen können. (Elke Ferner [SPD]: Sie können sicher sein, dass wir das in der Regierung auch umsetzen!) Ich hoffe nur, dass Hannelore Kraft in NRW das ganz anders macht, sonst wird sie nicht Ministerpräsidentin. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die christlich-liberale Koalition ist sich einig, dass das Wohl der Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir stehen für Patientensouveränität und Patientenrechte. Genau so haben wir es in unserem gemeinsamen Koalitionsvertrag festgehalten, und auch in dieser Sache ziehen wir als Koalition gemeinsam mit dem Patientenbeauftragten an einem Strang. (Beifall bei der FDP - Fritz Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahnsinn! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zum ersten Mal in dieser Sitzungswoche!) Wir sind der Auffassung, dass die Versicherten in die Lage versetzt werden sollen, ihre Rechte gegenüber Krankenkassen und Leistungserbringern möglichst selbstständig wahrzunehmen. Aus diesem Grund plädieren wir für eine unabhängige Beratung von Patienten auf einer soliden rechtlichen Grundlage, um sie bei der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen. (Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Transparenz und Orientierung im Gesundheitswesen über Qualität, Leistung und Preis. (Beifall bei der FDP) Die Patientenrechte wollen auch wir in einem Patientenrechtegesetz bündeln. Das werden wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen erarbeiten. Der Patientenbeauftragte, Herr Zöller, hat bereits angekündigt, dass er gemeinsam mit Bundesminister Rösler in parlamentarischen Gremien Vorschläge machen wird, wie wir auf der Basis des Bestehenden die unabhängige Beratung weiterentwickeln. (Beifall bei der FDP) Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratie, Ihr Antrag kommt daher leider zu spät; (Elke Ferner [SPD]: Wie, zu spät?) denn die Koalition arbeitet bereits an der Sache. Ich kann Herrn Zöller nur beipflichten, wenn er sagt: Erst mit den Beteiligten reden und dann gut und richtig handeln. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Patient hat einen hohen Stellenwert. (Elke Ferner [SPD]: Oh je!) Doch wir dürfen auch die Leistungserbringer nicht vergessen, (Elke Ferner [SPD]: Aha!) die tagtäglich den Herausforderungen des Medizineralltags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Patientenrechte und eine Verbesserung der unabhängigen Patientenberatung dürfen nicht auf dem Prinzip des Misstrauens aufgebaut werden. Das ist mir ganz wichtig. (Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, bevor wir über die konkrete Ausgestaltung einer Gesetzesinitiative sprechen, sollten wir uns über etwas ganz Grundsätzliches einig werden: Das deutsche Gesundheitswesen braucht einen Mentalitätswandel. (Elke Ferner [SPD]: Eine Kopfpauschale!) Die Wiederherstellung von Vertrauen und Fairness muss für uns alle ganz oben stehen. (Beifall bei der FDP) Ansonsten fressen Bürokratie, Misstrauen und überzogene Kontrollen unser Gesundheitssystem auf. (Beifall bei der FDP) Wir werden deshalb Transparenz und Verständlichkeit für Kosten und Leistungen verbessern. Die Kultur des Misstrauens muss ein Ende haben, und zwar primär zum Wohle der Patientinnen und Patienten. (Beifall bei der FDP) Mit dem Aufbau eines bundesweiten Verbundes regionaler Beratungsstellen wurde das Modellvorhaben "Unabhängige Patientenberatung" erfolgreich umgesetzt. Als Schleswig-Holsteinerin kann ich Ihnen sagen, dass wir mit der Verbraucherzentrale in Kiel einen sehr guten Träger haben, der neutrale, professionelle und vor allen Dingen unabhängige Beratung zu gesundheitlichen, medizinischen und rechtlichen Fragestellungen leistet. Das ist vorbildlich. Wir müssen dafür sorgen, dass das weitergeführt wird. An diesem Punkt müssen wir ansetzen und eine für alle Beteiligten gute Lösung erarbeiten. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der SPD kann uns an einigen wenigen Stellen sogar hilfreich sein; das muss ich sagen. Ich gestehe Ihnen zu: In diesen sechs Seiten steckt wirklich sehr viel Fleiß. (Ulrike Flach [FDP]: Sie haben auch viel Zeit gehabt!) Aber an den meisten Stellen überdrehen Sie doch merklich, zum Beispiel bei der Beweislastumkehr. Wir sind uns doch wohl darüber einig, dass wir bei uns in Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse haben wollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) An vielen Stellen wird Ihr Menschenbild deutlich, das sich von dem unsrigen unterscheidet; (Elke Ferner [SPD]: Gott sei Dank!) da gebe ich Frau Volkmer recht. Sie leiten die durchaus berechtigten Ansprüche der Patienten quasi aus der Opferrolle ab. Das wird aber den Menschen nicht gerecht; denn die Patienten sind per se eben nicht Opfer, Nörgler, Benachteiligte oder Geschädigte, deren schwache Position gegenüber der mächtigen Ärztelobby verteidigt werden muss. Nein, meine Damen und Herren, Patienten und Ärzte sind Partner. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Das ist so, und das muss auch so bleiben. Wir wollen den souveränen, aufgeklärten Patienten, der seine Rechte kennt und nutzt. Deshalb arbeiten wir an einer pragmatischen Regelung zur Stärkung der unabhängigen Patientenberatung. Deshalb arbeiten wir an einer Wiedergewinnung größtmöglichen Vertrauens zwischen Arzt und Patient, zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger. Was wir aber auf jeden Fall verhindern werden, ist der Aufbau weiterer Bürokratiemonster, die niemandem nützen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Also keine Kopfpauschale?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr gespannt in diese Debatte gegangen; denn im Vorfeld war relativ unklar, wie sich die verschiedenen Fraktionen hier positionieren werden. Das ist deshalb erstaunlich, weil wir im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP ein klares Bekenntnis zur Schaffung eines Patientenschutzgesetzes finden. Von der SPD sind bereits am Ende der letzten Legislatur Eckpunkte erarbeitet worden; jetzt liegt ein beachtlicher Antrag vor. Die linke Fraktion hat in ihrem Wahlprogramm keine einzige Aussage zu diesem Thema gemacht; heute allerdings haben wir hier eine sehr schneidige und pointierte Rede zu den Patientenrechten gehört, in der die Interessenlagen Freund und Feind, Opfer und Täter ganz klar zum Ausdruck gekommen sind. Insgesamt haben wir also eine erstaunliche Gemengelage, aus der wir allerdings den Schluss ziehen können: Um die Patientenrechte müsste es in Zukunft eigentlich gut bestellt sein; denn offenbar sind sich alle einig, dass man bei diesem Thema vorankommen muss. Diese Einigkeit scheint jedoch ein bisschen zu trügen, wie man feststellt, wenn man einmal genauer betrachtet, was hier gesagt worden ist. Es ist deutlich geworden, dass CDU/CSU und FDP auf einem sehr schmalen Grat der Einigung wandeln, (Elke Ferner [SPD]: Ja!) auf einer brüchigen Schneebrücke, die so wenig tragfähig ist, dass Herr Zöller große Mühe hat, darauf zu wandeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Das kann man daran erkennen, dass jetzt kurzfristig eine Regelung für die Patientenberatungsstellen gefunden werden muss. Auch das ist ein Thema, das im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Aber wir konnten auf einem parlamentarischen Abend, der gestern stattgefunden hat, hören, dass man jetzt an irgendein Gesetz ganz kurzfristig einen Satz anhängen will, um die Überführung des Modellprojektes in die Regelversorgung zeitgerecht erreichen und die Arbeit aufrechterhalten zu können. Das zeigt, wie wenig Unterstützung die Arbeit für den Patienten in dieser Koalition tatsächlich findet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Elke Ferner [SPD]: Unvorbereitet!) Ich will aber gleichzeitig ausdrücklich loben, was Herr Zöller bislang auf den Weg gebracht hat. Man erkennt Sorgfalt und Engagement. Aber der Rückhalt in Ihren Reihen fehlt wie gesagt bei diesem Thema. (Ulrike Flach [FDP]: Woher wissen Sie das denn? - Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Da scheinen Sie nicht richtig zugehört zu haben!) Sie werden diese Regelung nur ganz knapp hinbekommen können. Der Rede von Frau Aschenberg konnte man auch deutlich entnehmen, dass das Patientenrechtegesetz sehr schmalbrüstig daherkommen wird. Es wird wahrscheinlich eine Minimalregelung geben, die das, was ohnehin in bereits existierenden Sozialgesetzen steht, zusammenschreibt. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ist Ihre Interpretation!) Es wird wohl keine Weiterentwicklung geben. Ich jedenfalls entnehme das Ihren Vorbehalten sehr deutlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Ulrike Flach [FDP]: So kann man irren, Frau Klein-Schmeink!) Wer so vollmundig von den Patientenrechten und dem souveränen Patienten spricht, der muss sich auch an seinen Taten messen lassen. Da dürfen nicht nur Wahltarife geschaffen werden, und es darf nicht nur von Eigenverantwortung gesprochen werden, sondern es muss eine reelle Basis geschaffen werden, damit diejenigen, die den letzten und schwächsten Part haben, nämlich die Patienten, in einer oftmals sehr schwierigen Situation die Möglichkeit erhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Daran werden wir Sie messen. (Ulrike Flach [FDP]: Das ist ja auch Ihr gutes Recht!) Ich bin sicher, hier steht Ihnen noch eine große Aufgabe bevor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wenn es einfach wäre, könnten Sie es ja machen! Aber wir können es besser!) Jetzt will ich noch auf das Verfahren insgesamt zu sprechen kommen. Ich muss sagen, dass die SPD einen sehr ernst zu nehmenden Antrag vorgelegt hat. (Ulrike Flach [FDP]: Oh! Das fanden die Linken aber nicht! Wie kommt das denn?) Ich finde, dass sämtliche Aspekte, die zu beachten sind, darin gut aufgeführt sind. Aber an dem Antrag wird natürlich auch deutlich, dass noch viel Arbeit auf uns wartet. Es ist nämlich ziemlich komplex, ein Patientenrechtegesetz auf den Weg zu bringen, das nicht hinter den Stand, den die ständige Rechtsprechung den Versicherten und Patienten ermöglicht hat, zurückfällt. (Elke Ferner [SPD]: Genau! - Ulrike Flach [FDP]: Deswegen haben wir dafür ja auch so lange gebraucht!) Wir müssen dafür sorgen, dass auch in rechtlicher Hinsicht ein geeignetes Forum geschaffen wird, um die Patientenrechte zu stärken. Das wird Arbeit machen und einen längeren Debattenprozess erfordern. Ich möchte Herrn Zöller bitten, das ganze Verfahren ein Stück weit zu öffnen und nicht den gleichen Fehler wie die SPD-Patientenbeauftragte zu machen, die alles im stillen Kämmerlein vorbereitet, (Ulrike Flach [FDP]: Wie bitte? Das hat die gemacht? So war das?) die Gesellschaft nicht mitgenommen und auch die anderen Fraktionen nicht einbezogen hat. (Ulrike Flach [FDP]: Frau Ferner, was haben Sie denn da bloß zugelassen? - Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Wir lernen ständig dazu!) Wir müssen eine offene Diskussion führen. Es ist notwendig, die Stellung des Patienten in unserem Rechtssystem transparenter und tragfähiger zu gestalten. Das steht noch aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage: Was ist derzeit eigentlich zu regeln? Man muss sagen, dass wir gerade im Hinblick auf die Opfer von Behandlungsfehlern derzeit eine nicht tragfähige Situation vorfinden. Erstens stellen wir fest: Die Datenlage ist ausgesprochen schlecht; das wird Ihnen allen aufgefallen sein. Zweitens stellen wir fest: Die Gerichtsverfahren dauern sehr lange. Wir haben enorme Mühe, unabhängige Gutachter zu finden. Wir haben enorme Mühe, die Rechte der Patienten in einer Form durchzusetzen, durch die sichergestellt wird, dass sie nicht schon am Anfang, nämlich bei der Dokumentation und beim Nachweis von Sachlagen, scheitern. Diese Situation können wir auf Dauer nicht hinnehmen. Man muss sagen: Die Durchsetzung von Patientenrechten gelingt bislang eigentlich nur den Gruppen, die die Merkmale der großen Drei aufweisen: Sie sind entweder reich, rechtsschutzversichert oder risikofreudig. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Das darf heutzutage in einem modernen Rechtssystem nicht die Grundlage der Patientenrechte sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gleichzeitig muss man feststellen: In den letzten zehn Jahren sind in der Tat einige Fortschritte erzielt worden, die insbesondere durch die Grünen aktiv vorangetrieben wurden; Frau Volkmer hat vorhin schon einige Punkte angesprochen. Wir sind, auch was die Fehlerkultur betrifft, schon seit 2004 auf einem guten Weg. Beispielsweise haben wir Qualitätsmanagementprogramme auf den Weg gebracht. (Ulrike Flach [FDP]: Aber Sie waren danach doch gar nicht mehr lange an der Regierung! Was haben Sie denn dann vorangetrieben? Ich dachte immer, damals hätte die andere Seite regiert!) Unsere Zeitpläne sind allerdings sehr lang. Bis heute haben bestenfalls 20 Prozent der Krankenhäuser definitiv Qualitätsmanagementsysteme eingeführt. In allen anderen Krankenhäusern fehlen diese weiteren Ausbaustufen noch. Hier muss natürlich noch einiges passieren. Wir müssen unseren Anstrengungen in diesem Bereich mehr Schubkraft verleihen, als es bislang der Fall war. Bis heute sind diese Maßnahmen nach wie vor der Selbstverwaltung überlassen. Wir müssen unsere Bemühungen auch in rechtlicher Hinsicht vorantreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zum Schluss will ich noch auf Folgendes hinweisen: Es kann sein, dass diese Woche eine gute Woche für die Patienten ist. Es ist möglich, dass die Absage an die Kommission zur Gesundheitsreform durch Minister Zöller - - (Heiterkeit - Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) - Vielleicht wäre das derzeit die bessere Wahl. - Unter Umständen bedeutet die Absage an die Kommission zur Gesundheitsreform durch Minister Rösler, dass Sie Ihre Pläne in Sachen Gesundheitsreform tatsächlich ad acta legen; das wäre ein guter erster Schritt. Der zweite gute Schritt wäre, wenn Sie den Bereich der Patientenberatungsstellen noch vor den Sommerferien in einem Gesetz ordentlich regeln würden. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das haben wir doch bereits angekündigt!) Drittens wäre es schön, wenn wir jetzt in eine wirklich konstruktive und offene Diskussion über die Patientenrechte eintreten würden. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Erwin Rüddel von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte das Lob meiner Vorrednerin für den Patientenbeauftragten der Bundesregierung aufgreifen und auch von meiner Seite ausdrücklich seine Arbeit loben und ihm für die klare Positionierung für ein Patientenschutzgesetz danken. Die christlich-liberale Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die Patientenrechte in einem eigenen Patientenschutzgesetz zu bündeln. Der Patientenbeauftragte hat dies bereits betont: Wir wollen dies in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen tun und im kommenden Jahr einen entsprechenden Entwurf vorlegen. Im Mittelpunkt unseres Gesundheitswesens muss das Wohl der Patientinnen und Patienten stehen. (Elke Ferner [SPD]: Dann verabschieden Sie sich mal von der Kopfpauschale!) Die Versicherten sollten möglichst selbstständig ihre Rechte gegenüber Kassen und Leistungserbringern wahrnehmen können. Deshalb soll die unabhängige Beratung der Patientinnen und Patienten verfestigt werden. Das wichtigste Patientenrecht besteht im freien Zugang zu medizinischen Leistungen, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Abstammung und Einkommen. Freie Arztwahl und freie Krankenhauswahl sind für eine vertrauensvolle Beziehung von Arzt und Patient entscheidend. Wir wollen keine Bevormundung von Patienten, wir wollen keine Wartelisten. Wir wollen eine qualitativ hochwertige Versorgung und keine Budgetierung. Damit die Patienten ihr Recht auf freie Arztwahl nutzen können, brauchen wir aber auch künftig ein flächendeckendes Angebot medizinischer Leistungen. Deshalb müssen wir uns darum kümmern, dass eine Unterversorgung besonders in ländlichen Gebieten verhindert wird. Auch dabei geht es um ein Patientenrecht, das wir keinesfalls vernachlässigen dürfen. (Elke Ferner [SPD]: Wie sieht es denn mit der Versorgungspflicht der KVen aus?) Im Versorgungsatlas Rheinland-Pfalz der KV Rheinland-Pfalz wird zum Beispiel ausgeführt, dass sich nur 4 Prozent der rheinland-pfälzischen Medizinstudentinnen und -studenten vorstellen können, in einer bestimmten ländlichen Region des Landes tätig zu werden. Insofern haben wir hier eine wichtige Aufgabe vor uns. Die CDU/CSU-Fraktion hat hierzu ein entsprechendes Eckpunktepapier vorgelegt. Wir werden das Problem lösen. Wir brauchen vor allen Dingen mehr Transparenz bei Leistungen und Preisen. Jeder Patient sollte wissen, was seine Behandlung kostet und welche Leistungen der Arzt oder das Krankenhaus mit den Kassen abrechnet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nur informierte Patienten sind mündige Patienten. Deshalb wollen wir die unabhängige Beratung der Patientinnen und Patienten stärken und dazu das Modellvorhaben zur unabhängigen Verbraucher- und Patientenberatung verstetigen. Auch dies haben wir bereits im Koalitionsvertrag festgelegt. Ehe die zweite Modellphase der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland Ende dieses Jahres ausläuft, werden wir daher die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Weiterführung auf den Weg bringen. Wir werden den Patientenbeauftragten bei dem, was er angekündigt hat, unterstützen, sodass dies auf jeden Fall vor der Sommerpause umgesetzt werden kann. Dabei wollen wir allerdings ein Ausschreibungsverfahren nutzen, das auch anderen als den bisher Beteiligten die Chance gibt, sich an diesem Verfahren zu beteiligen. (Elke Ferner [SPD]: Aha! Das ist ja absurd!) Beim Stichwort "Patientenrechte" denken viele Menschen unwillkürlich an mögliche Behandlungsfehler. Deshalb möchte ich auf einen Aspekt eingehen, den ich für höchst bedeutsam halte. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie zuvor eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler von der Linksfraktion? Erwin Rüddel (CDU/CSU): Bitte. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Kollege Rüddel, Sie haben gerade eindrucksvoll geschildert, was die Koalitionsfraktionen planen, um die unabhängige Patientenberatung in Deutschland fortzuführen. Ist Ihnen bekannt und bewusst, dass eine Ausschreibung immer erhebliche Laufzeiten erfordert, um wirklich fair zu sein? Ist Ihnen auch bewusst, dass die existierenden Beratungsstellen an langfristige Arbeits- und Mietverträge gebunden sind, dass wirklich ein großer Zeitdruck besteht, wenn wir den Trägerorganisationen dieser Stellen und den Menschen, die dort arbeiten, Gewissheit darüber geben wollen, ob sie in der nächsten Ausschreibung zum Zuge kommen? Wie kann man nach Ihrer Vorstellung dieses Dilemma überwinden? Sie haben sechs Monate lang nichts getan, und jetzt muss alles auf einmal ganz schnell gehen. Ich muss sagen: Es überzeugt mich wirklich nicht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Uns ist wichtig, dass wir die Patientenberatung stärken. Uns ist wichtig, dass die Kompetenz, die in diesen Beratungsstellen vorhanden ist, für die Patientenberatung gesichert wird. (Elke Ferner [SPD]: Deshalb stellt man sie in Ausschreibungen zur Disposition!) Wir werden einen Weg finden, um diesen Menschen die Perspektive zu geben, dass die Patientenberatung gestärkt in das neue Jahr gehen wird. Dafür stehen wir. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich möchte auf das Themenfeld Behandlungsfehler zurückkommen: Es darf uns in erster Linie nicht um mehr Bürokratie gehen, es darf uns auch nicht darum gehen, den Ruf nach dem Staatsanwalt zu fördern und möglichst viele Patienten möglichst misstrauisch zu machen, sondern es muss uns um eine neue Sicherheitskultur gehen. Das aber heißt vor allem: Fehler vermeiden und Fehlern vorbeugen. Ein wirkungsvolles Fehlerberichtssystem, ein Fehlermeldeprogramm, das rechtzeitig auf Risiken hinweist und vermeidbare Fehler verhindert, dient den Patienten ungleich mehr und hilft ihnen viel wirkungsvoller als sämtliche Maßnahmen, um bereits gemachte Fehler zu verfolgen und zu ahnden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Mit anderen Worten: Es soll uns primär nicht um die Jagd nach vermeintlich oder tatsächlich Schuldigen gehen, sondern um die Vorbeugung und um die Verhinderung von Fehlern; denn Fehler, die gar nicht erst entstehen, sind allemal besser als nachträgliche Streitigkeiten und Gerichtsverfahren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich sehe sowohl im Klinikbereich als auch bei den Hausarztpraxen sowie bei der Pflege und der Altenbetreuung vielversprechende Ansätze, gerade solche Portale im Internet aufzubauen, die Risiken und Fehlermeldungen registrieren, um andernorts genau solche Risiken und Fehler von vornherein auszuschließen. Der möglichst flächendeckende Ausbau dieser Netzwerke sollte deshalb ein zentraler Baustein eines künftigen Patientengesetzes sein. Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Pionierarbeit des "Aktionsbündnisses Patientensicherheit" hervorheben. Wenn wir es schaffen, Krankenhäuser, Ärzte, Pfleger und Altenbetreuung an ein wirkungsvolles Meldesystem anzubinden und so flächendeckende Risikovorbeugung zu betreiben, dann haben wir für die Pa-tientinnen und Patienten mehr erreicht als durch noch so ausgeklügelte Sanktionsdrohungen. Auf der anderen Seite wollen wir die Stellung der Opfer eines Behandlungsfehlers wirkungsvoll stärken. Patientinnen und Patienten haben einen Anspruch darauf, in jeder Hinsicht auf Augenhöhe behandelt zu werden. Sie haben ein Recht darauf, dass Vorwürfe wegen Behandlungsfehlern in einem transparenten und zügigen Verfahren geklärt werden. Je komplexer und bürokratischer das Gesundheitswesen wird, desto eher ziehen die Versicherten den Kürzeren. Lange Bearbeitungszeiten bei Widersprüchen und bei Gerichtsverfahren wegen des Verdachts auf Behandlungsfehler machen die Versicherten mürbe und gefährden - ganz unnötig - das Vertrauen in unser Gesundheitssystem, das im internationalen Vergleich unverändert als vorbildlich gelten darf. Hier werden wir mit dem Entwurf für ein Patientengesetz konkrete Maßnahmen vorschlagen, um auch in diesem Bereich mehr Klarheit und Transparenz zu schaffen und der möglichen Verunsicherung von Patientinnen und Patienten entgegenzuwirken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dazu werden wir unter anderem ganz konkret über Beweiserleichterungen vor Gericht nachzudenken haben. Um die Schwelle für Ratsuchende in solchen Fällen zu senken, könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, dass wir eine zentrale bundesweite Rufnummer einrichten, über die sich Ratsuchende direkt mit dem für ihre Region zuständigen Ansprechpartner in Verbindung setzen können. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das alleine wird nicht helfen!) Über all diese Fragen werden wir in den kommenden Monaten intensiv zu beraten haben. Wenn ich mir den vorliegenden SPD-Antrag anschaue, komme ich nicht umhin, die Kolleginnen und Kollegen davor zu warnen, das gemeinsame Vorhaben eines Patientengesetzes mit Dingen zu überfrachten, die im Ergebnis nur zu weiterer Bürokratisierung oder gar zu Lähmungserscheinungen im Gesundheitswesen führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es sollte uns in erster Linie darum gehen, die Interessen aller Beteiligten zu einem möglichst gerechten Ausgleich zu führen. Deshalb sollten wir auch tunlichst ohne ideologische Scheuklappen versuchen, gemeinsam die Rechte der Patientinnen und Patienten zu stärken und unser Gesundheitssystem damit noch besser und noch transparenter zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Nur ohne Kopfpauschale!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst muss ich hier noch einmal auf die Vorgängerin von Herrn Zöller im Amt des Patientenbeauftragten zu sprechen kommen, Frau Kühn-Mengel. All das, was Frau Klein-Schmeink sagte, ist bis auf eine Einschränkung richtig gewesen: Frau Kühn-Mengel hat immer versucht, im System die Betroffenen in die Gespräche mit einzubinden. Sie hat keine Politik hinter verschlossenen Türen gemacht. Ich kenne sie sehr gut. Sie hat mit allen diskutiert, im Übrigen auch mit Mitgliedern der Fraktion der Grünen. Sie ist nicht gescheitert, weil ihr der Rückhalt in den eigenen Reihen fehlte, Herr Zöller, sondern ihr fehlte damals der Rückhalt in der Regierung, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!) bei der Union, genau wie Ihnen jetzt der Rückhalt fehlt. So verhält es sich. (Beifall bei der SPD - Jens Spahn [CDU/ CSU]: So ein Quatsch!) Vorhaben sind damals nicht an Ihnen gescheitert, Herr Zöller. Wir kennen uns gut, ich habe Ihre Arbeit immer geschätzt. Aber Sie sehen doch jetzt selbst, wohin die Reise geht. Sie haben es gerade beim Vorredner wieder hören können: Es wird vor Sanktionen gewarnt, es fällt der Begriff "Bürokratie". Von der Kollegin von der FDP wird zwar gesagt, der Patient sei der Partner, aber seien wir doch ehrlich miteinander: Was ist denn der Patient für die FDP? Für die FDP ist der Patient - das wissen Sie doch so gut wie ich - der Kunde; der Facharzt und der Apotheker dagegen sind die eigentlichen Partner. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Widerspruch bei der FDP) - So ist es aber. - Von daher ist es auch zu verstehen, dass Herr Winn die FDP daran erinnert, dass sie 2 Prozentpunkte ihres Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl den Fachärzten verdankt. Somit ist doch klar: Von diesen werden Ihnen die Preise diktiert und wird Ihnen vorgegeben, wie weit Sie bei der Durchsetzung der Pa-tientenrechte gehen dürfen. (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der FDP) Die FDP wollte doch sogar auf einem Parteitag eine Einkommensgarantie für Fachärzte beschließen. (Ulrike Flach [FDP]: Waren Sie dabei?) Vom Patienten war da keine Rede. Herr Zöller, bei allem Respekt: Sie sagen, Sie hätten für dieses wichtige Thema Rückhalt von der Regierungsbank. Ja, Herr Zöller, wo ist denn der Minister heute bei der Debatte über dieses wichtige Thema? Er ist nicht einmal da. Die Wahrheit ist doch, dass sich das der Minister gar nicht anhört. (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU) - Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören. - Frau Ministerin Schavan hat sich löblicherweise für diese Diskussion interessiert. Aber sind wir doch ehrlich: Für den Minister ist dieses Thema nicht wichtig genug. Da wir nur über die Patientenrechte und nicht über Kopfpauschale sprechen, kommt der Minister nicht. So sieht die Priorisierung aus, wie wir sie mittlerweile kennengelernt haben. (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) Herr Zöller, rufen Sie sich einmal in Erinnerung: Wer war denn damals dagegen, das Amt, das Sie heute bekleiden, überhaupt einzurichten? Die FDP hat doch damals davor gewarnt, einen Patientenbeauftragten zu benennen. Das Amt, das Sie jetzt bekleiden, gäbe es gar nicht, wenn die FDP schon damals regiert hätte. Es gehört zur Ehrlichkeit, hier einmal festzuhalten, dass die FDP alles unternommen hat, damit dieses Amt erst gar nicht eingerichtet wird. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Seien Sie gewiss: Wenn Ihnen hier etwas gelingt, wird die Umsetzung an uns nicht scheitern. Wir werden Sie bei allem, was Sie tun, unterstützen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es ist auch richtig, hier Richterrecht - die Materie ist ja tückisch - in Bundesrecht zu gießen. Diese Rechtssicherheit zu schaffen, hat einen hohen Wert, da gebe ich Ihnen recht. Aber ich möchte Sie daran erinnern: Zum Schluss wird es daran scheitern, dass Ihnen - wie damals Frau Kühn-Mengel der Rückhalt in der Union fehlte - der Rückhalt in den eigenen Reihen und insbesondere bei der FDP einschließlich des Ministers fehlt. (Beifall bei der SPD - Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ist Kaffeesatzleserei! Wunderbar!) Ihre Rede hat mich in diesem Glauben noch einmal bestärkt. Von Ihnen ist kein einziger konkreter Vorschlag gekommen, wie man die Patientenrechte umsetzen könnte. (Ulrike Flach [FDP]: Von Ihnen bisher auch nicht!) Ihre Rede war der Beweis dafür. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Schluss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch einmal auf das von Ihnen nicht gern gehörte Thema Kopfpauschale zu kommen. (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP: Oh!) Ich weiß, dass Sie darauf gewartet haben. Wir können dankbar sein, dass Sie heute überhaupt hier sein können, normalerweise hätte die Regierungskommission getagt, (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Erst ab 14 Uhr!) aber sie ist mit der abenteuerlichen Begründung abgesagt worden, Herr Singhammer, dass die Vorschläge so konkret wären, dass man es sich nicht leisten könne, diese konkreten Vorschläge durch Indiskretion in der Kommission der Öffentlichkeit zuzuführen. Das ist absurd. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ulrike Flach [FDP]: Sie sind falsch informiert!) Wer hat hier im Haus schon einmal eine blödere Argumentation gehört? Der Pressesprecher, Herr Lipicki, ist zugegen. Was bedeutet das? Hat der Minister nicht die Autorität, für Vertraulichkeit zu sorgen, oder sind die Vorschläge so schlecht, dass sie der Öffentlichkeit nicht zugemutet werden können? (Beifall bei der SPD - Ulrike Flach [FDP]: Wovon reden Sie?) Meine profane Vermutung ist: Der Minister hat nichts. Er steht mit blanken Händen da und hält stur an der Kopfpauschale fest. (Lars Lindemann [FDP]: Reden Sie über Pa-tientenrechte? - Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir reden über Patientenrechte!) Am Ende wird es der Kopfpauschale so gehen wie der Steuersenkung: Sie wird in einem Nebensatz der Bundeskanzlerin versenkt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Jens Spahn [CDU/CSU]: Thema verfehlt!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Dr. Erwin Lotter für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Erwin Lotter (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Lauterbach, im Gegensatz zu Ihnen werde ich nicht über die Kopfpauschale sprechen, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die will ja auch keiner!) sondern über Ihren Antrag zum Patientenschutzgesetz. Niemand bestreitet ernsthaft die Notwendigkeit eines Patientenschutzgesetzes. Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag für die Einführung ausgesprochen; (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt widersprechen Sie sich!) denn die bisher zersplitterten Regelungen sollen gebündelt werden, um es den Patienten leichter zu machen, ihre Rechte zu erkennen und auszuüben. Manche Forderungen des Antrags, den wir heute debattieren, sind schon längst anerkannt oder nicht wirklich ernsthaft streitig. Das gilt vor allem für die Zusammenfassung von Regelungen, die heute auf Haftungsrecht, Sozialversicherungsrecht und ärztliches Berufsrecht verteilt sind. Das gilt auch für den Vorschlag eines besseren Fehlermeldesystems, das auch sogenannte Beinahefehler einschließt. Dabei ist jedoch entscheidend, dass das System Anonymität wahrt und nicht zu weiterer Bürokratie führt; denn das Meldesystem wird nur dann Erfolg haben, wenn es Mediziner oder Menschen in Heilberufen motiviert, an ihm mitzuarbeiten. (Beifall bei der FDP) Fehlermanagement muss freiwillig und sanktionsfrei bleiben, damit Klinikärzte und niedergelassene Ärzte in der erforderlichen Weise mitwirken. Wir dürfen nicht vergessen: Die Zahl der Behandlungsfehler bewegt sich im Promillebereich. Durch ein umfassendes Register für den stationären wie den ambulanten Sektor wäre es einfacher, die Anzahl der Fälle festzustellen, die Bereiche zu benennen, in denen sie am häufigsten vorkommen, und Gerichten und Schiedsstellen dabei zu helfen, mehr Transparenz in ihre Entscheidungen zu bringen. Rechte von Patienten sind allerdings weniger durch die Ärzteschaft gefährdet als durch die zunehmende Bürokratisierung und Reglementierung ärztlicher Leistungen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bei uns, Frau Vogler, stehen Patienten nicht am Ende der Nahrungskette, (Heiterkeit bei der FDP) sondern bei uns sind Ärzte und Patienten Partner; denn die einen wollen gesund werden und die anderen wollen ihnen dabei nach bestem Wissen und Gewissen zur Seite stehen. (Beifall bei der FDP - Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Da ist eine Zwischenfrage. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben vorhin vor der zunehmenden Bürokratie gewarnt. Stimmen Sie mit mir überein, dass ein großes Hindernis für die Opfer von Behandlungsfehlern dann besteht, wenn die ärztliche Dokumentation von Fällen nicht wirklich vollständig ist, sodass sich da einiges verbessern muss, was ja, je nachdem, wie Sie Bürokratie beschreiben, dazu führt, dass die Dokumentationspflichten natürlich ausgeweitet werden müssen? Dr. Erwin Lotter (FDP): Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, es ist ja schon heute so geregelt, dass dann, wenn Dokumentation nicht vorliegt oder unvollständig ist, eine Beweislastumkehr eintritt. Wenn Sie im Gesundheitsbereich tätig wären, dann wüssten Sie, dass man heute mehr Zeit damit verbringt, zu dokumentieren, Zettel auszufüllen, als sich dem Patienten zu widmen. (Beifall bei der FDP) Fachgerechte Behandlung nach dem jüngsten Stand der medizinischen Erkenntnis ist für mich als Arzt ebenso selbstverständlich wie für meine Patienten. Entscheidend sind offene Gespräche zwischen allen Beteiligten und Transparenz. Ein Patientenschutzgesetz, das ein modernes Arzt-Patienten-Verhältnis fördert und zu Aufklärung und Ehrlichkeit auf beiden Seiten motiviert, wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung. Lassen Sie mich jetzt einige Aspekte des SPD-Antrages aufgreifen, denn in einigen Punkten schießt er über das Ziel hinaus. Die Stärkung der Opfer von Behandlungsfehlern ist fraglos ein entscheidendes Anliegen im Patientenschutz. Im Bereich der groben Behandlungsfehler gibt es bereits Beweiserleichterungen zugunsten der Patienten. Im Bereich sonstiger Behandlungsfehler können jedoch nicht alle Fälle über einen Kamm geschoren werden. Hier sollte in jedem Einzelfall über die Beweislage entschieden werden. In diesem Zusammenhang warne ich noch einmal vor einer übermäßigen Bürokratie durch noch weiter ausufernde Dokumentationspflichten. Selbstverständlich müssen die derzeitigen Vorschriften in Kliniken und Privatpraxen erfüllt werden. Deren Ausweitung kann jedoch auch nicht im Sinne der Patienten sein. Eine effiziente und zeitintensive Behandlung wird leiden, wenn zu den aktuellen Aufbewahrungs- und Berichtspflichten noch weitere Anforderungen hinzukommen. Zusätzliche Dokumentationspflichten sind im Bereich der Patientenrechte fehl am Platz. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Volkmer? Dr. Erwin Lotter (FDP): Ja. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Ich frage Sie, an welcher Stelle Sie gelesen haben, dass Dokumentationspflichten ausgeweitet werden sollen. Dr. Erwin Lotter (FDP): Letztendlich wollen Sie auf alles (Zurufe von der SPD: Eine Antwort!) noch eines draufsetzen. Sie wollen eine umlagefinanzierte Versicherung, um die Behandlung solcher Behandlungsfehler finanzieren zu können, obwohl das alles schon durch die Arzthaftpflicht geklärt ist. Das alles bedeutet Organisation und Verwaltung. Sie wollen einen Fonds einrichten, aus dem die Behandlung von Behandlungsfehlern finanziert werden soll. Das ist doch alles mit Verwaltung, Aufwand und Bürokratie verbunden. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist eine Entlastung!) Ihr Antrag geht ja in die richtige Richtung. Das Problem ist aber, dass Sie überall noch etwas draufsetzen und das Ganze erschweren, verkomplizieren und verteuern. (Beifall bei der FDP - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schwache Antwort!) Die SPD fordert des Weiteren mehr kollektive Beteiligungsrechte der Patienten in Bundes- und Landesgremien. Hier ist Vorsicht geboten. Über ein Stimmrecht in Verfahrensfragen könnte man reden. Ein volles Mitbestimmungsrecht kann aber nicht für alle Gremien verfügt werden, da hier ein spezielles und besonderes Fachwissen notwendig ist. Es führt zu nichts, wenn Ärzte und Heilberufe durch eine grundsätzlich sinnvolle Patientenbeteiligung unter Druck geraten und sich ein höherer Aufwand in der Verwaltung einstellt. (Zuruf von der SPD: Ei, ei, ei!) Ich betone nochmals: Kooperation, Transparenz und die Schaffung von Vertrauen sind die Gebote der Stunde. Dann wird ein Patientenschutzgesetz seinen Zweck erfüllen und die Situation der Patientinnen und Patienten weiter verbessern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich muss sagen: Die Rede von Herrn Kollegen Zöller hat mich ein Stück weit enttäuscht. Wenn sich jemand wie Herr Zöller, der schon sehr lange in der Gesundheitspolitik unterwegs ist bzw. diese macht - ich habe seine Sachkenntnis in den letzten vier Jahren in der Großen Koalition kennen und schätzen gelernt -, dahinter versteckt, dass man erst einmal noch alles erfahren müsse, alles eruieren müsse, um Zeit zu gewinnen und erst im nächsten Jahr etwas vorzulegen, ist das ein bisschen dürftig; das muss ich ganz ehrlich sagen. (Beifall bei der SPD) Es ist dürftig, weil viele von uns in ihren Sprechstunden mit den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder von entsprechenden Fällen erfahren; diese werden dem Patientenbeauftragten in vielfacher Weise, aber auch uns vorgetragen. Wir kennen die größten Problemlagen; nicht alle, aber die größten. Herr Zöller hat das auch in den Punkten, die er konkret benannt hat, deutlich gemacht. Er scheint ja doch zu wissen, wo es mangelt und wohin man muss. Das zeigt mir hinsichtlich dieser Koalition wieder einmal: Im Koalitionsvertrag steht eine wunderbare Passage, aber wenn es darum geht, diese mit Leben zu füllen und konkret zu machen, gibt es das übliche Geeiere, dann besteht keine Einigkeit. Um die Uneinigkeit zu übertünchen, (Ulrike Flach [FDP]: Das kennen Sie ja!) versucht man, Zeit zu gewinnen. Das machen Sie schon die ganze Zeit zur Maxime Ihrer Gesundheitspolitik, nicht nur im Bereich der Patientenrechte, sondern in allen Bereichen. (Beifall bei der SPD) Das drückt sich auch darin aus, dass innerhalb von acht Monaten bisher noch kaum eine Initiative aus dem Gesundheitsministerium gekommen ist. (Ulrike Flach [FDP]: Wir haben schon Anhörungen gemacht!) Wir haben jetzt Eckpunkte zum Thema Arzneimittel gesehen. Eckpunkte für die Kopfpauschale waren für heute angekündigt. Offenbar ist der Minister von höchster Stelle zurückgepfiffen worden. Die Kommission, die eingesetzt worden ist, ist zur Farce geworden. Ich kann jedes Mitglied, das sich der Kommission noch zugehörig fühlt, nur bedauern. Ich kann allen empfehlen, sie zu verlassen; denn zu entscheiden hat diese Kommission sowieso nichts. (Beifall bei der SPD) Die Tatsache, dass ein Konzept ganz dicht nach dem 9. Mai 2010 plötzlich fertig ist, zeigt, dass man offenbar wieder eines im Sinn hatte: über den 9. Mai zu kommen. Jetzt hat die FDP ein desaströses Wahlergebnis bekommen. (Lars Lindemann [FDP]: Schauen Sie einmal Ihres an! Die Wähler fanden Sie auch nicht so berauschend in NRW, Frau Ferner!) Die Union scheint sich jetzt allmählich Gedanken zu machen. In dieser Woche war nachzulesen, dass Herr Singhammer darauf hingewiesen hat, dass es in erster Linie darauf ankommt, sich die Ausgaben noch einmal anzuschauen, bevor man ein Kopfpauschalensystem etabliert, das weder finanzierbar noch gerecht ist und vor allen Dingen, wenn man das Stichwort Bürokratie zurate zieht, alles andere als unbürokratisch ist. (Beifall bei der SPD - Ulrike Flach [FDP]: In NRW haben Sie verloren, Frau Ferner!) - Eines ist sicher, Frau Flach: Schwarz-Gelb ist in Nordrhein-Westfalen mit Karacho abgewählt worden. Wer das noch nicht erkannt hat, hat Tomaten auf den Augen. (Beifall bei der SPD) Ich möchte noch etwas zur Unabhängigen Patientenberatung sagen. Es ist gut, dass es sie gibt, und es ist gut, dass sie fortgeführt wird. Ich kann jetzt nur davor warnen - es heißt, dass noch vor der Sommerpause verbindliche und verlässliche Klarheit darüber geschaffen werden soll, dass die Unabhängige Patientenberatung weitergeführt wird; wir unterstützen das -, das Thema mit irgendwelchen Ausschreibungen zu befrachten; diese halte ich persönlich für nicht notwendig. Denn welchen Sinn hat eine Ausschreibung, wenn dadurch bewährte Trägerschaften mit bewährten und erfahrenen Beraterinnen und Beratern - bei mir in Saarbrücken macht die Verbraucherzentrale zusammen mit dem VdK diese Beratung - in noch größere Unsicherheit getrieben werden? Ich sehe überhaupt nicht, dass eine Ausschreibung erforderlich ist. Es geht schließlich nicht um irgendwelche Profitorganisationen, sondern es geht um Beratungsstellen. Insofern rate ich Ihnen: Machen Sie lieber noch einmal eine Übergangsregelung, die dazu führt, dass die Berater und Beraterinnen die Sicherheit haben, über das Jahresende hinaus in den Beratungsstellen arbeiten zu können. Machen Sie lieber im zweiten Gang noch einmal die Diskussion darüber auf, was noch ergänzt werden muss, und darüber, ob eine Ausschreibung notwendig ist oder nicht. Ich glaube, dass wir eine gute Diskussionsgrundlage für ein Patientenrechtegesetz geliefert haben. Bei uns stehen die Patienten und Patientinnen im Mittelpunkt. Das bedeutet, dass man ihnen zu ihrem Recht verhelfen muss. Zur Not - das sage ich hier auch - muss die Dokumentation vollständiger sein als heute; denn es kann ja wohl nicht sein, dass die Patientinnen und Patienten, die schlecht behandelt worden sind, es in Zukunft noch schwerer haben, zu ihrem Recht zu kommen, weil Ihnen der Bürokratieabbau wichtiger ist. Zum Abschluss gestatten Sie mir bitte noch eine Bemerkung: Bei allen Schwierigkeiten, die viele im Gesundheitswesen haben, ist festzustellen: Die überwiegende Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überwiegende Zahl der Krankenpfleger und der Krankenschwestern sowie der anderen Leistungserbringer macht einen tollen Job. Sie engagieren sich sehr für die Patienten und sorgen dafür, dass es ihnen besser geht und sie gesunden. (Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP] - Lars Lindemann [FDP]: Da stimmen wir Ihnen ausdrücklich zu!) Trotzdem müssen wir zu einer anderen Einstellung kommen, wenn es darum geht, über Fehler offen reden zu können und sie offenzulegen; (Beifall bei der SPD - Ulrike Flach [FDP]: Das ist neu bei Ihnen!) denn vielfach brauchen die Angehörigen von Patienten, die durch einen Behandlungsfehler verstorben sind, nicht mehr als Gewissheit, vielfach nicht mehr als eine Entschuldigung. Dass Menschen Fehler machen, wissen alle. (Ulrike Flach [FDP]: Da sind wir bei Ihnen!) Insofern wären wir, glaube ich, gut beraten, das Thema ernst zu nehmen, zügig voranzubringen und nicht, wie offenbar geplant, auf die lange Bank zu schieben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. Rudolf Henke (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns in dieser 17. Legislaturperiode heute erstmals in einer Plenarsitzung ausführlich und im Rahmen eines gesonderten Tagesordnungspunktes mit dem Thema Patientenrechte. Die Partner der christlich-liberalen Koalition, CDU/CSU und FDP, wollen die Patientenrechte in einem eigenen Gesetz bündeln und dieses Gesetz in Zusammenarbeit mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten erarbeiten. Der Patientenbeauftragte, Wolfgang Zöller, hat vorhin seine Ankündigung wiederholt, dass wir seine Eckpunkte (Jens Spahn [CDU/CSU]: Unsere Eckpunkte!) für ein Patientenrechtegesetz bis Ende 2010 erwarten können. Es ist deshalb gut, wenn wir uns über den Stand der Dinge austauschen und über den Handlungsbedarf, den wir sehen, sprechen. Aber wir sollten dabei nicht mit zweierlei Maß messen. Frau Ferner, ich finde, es ist mit zweierlei Maß gemessen, wenn Sie Zeitverzögerungen beklagen - Sie werfen Herrn Zöller sein Bemühen vor, auf Grundlage einer sorgfältigen Debatte, die notwendig ist, im Rahmen eines sehr ehrgeizigen Zeitplans zu einem Gesetzentwurf zu kommen -, da sie selbst in der vorletzten Legislaturperiode, als Rot-Grün regiert hat, Ihr Vorhaben, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu verabschieden, aufgegeben haben. Sie haben damals gesagt: Wir erarbeiten eine Patientencharta. Das war eine Initiative von Frau Schmidt und Frau Däubler-Gmelin. Es steht Ihnen ja frei, dem heute zu widersprechen und Ihre Meinung um 180 Grad zu drehen, aber dann sollten Sie die Untätigkeit, die Sie damals an den Tag gelegt haben, nicht anderen vorwerfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Gleiche gilt doch auch für die letzte Legislaturperiode. Sie haben davon gesprochen, wie viel Frau Kühn-Mengel erarbeitet hat. Aber, verehrte Frau Ferner, verehrter Herr Lauterbach, es ist doch nicht so, dass die SPD diese Eckpunkte, die Konklusion aus der Arbeit von Frau Kühn-Mengel, in der letzten Legislaturperiode zu irgendeinem Zeitpunkt in den Meinungsbildungsprozess der Koalition eingespeist hat. Von Ihnen hat es in der letzten Legislaturperiode keinen Vorschlag für ein Patientenrechtegesetz gegeben, keine Aufforderung an die CDU/CSU, darüber konkret zu debattieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen finde ich, dass Sie mit zweierlei Maß messen, wenn Sie jetzt Kritik daran üben, wie die Koalition vorgeht. Ich finde es übrigens auch nicht korrekt, wie Sie mit Minister Rösler umgehen. Nach meinem Kenntnisstand - ich habe mich erkundigt - ist Minister Rösler heute bei einer Veranstaltung des Deutschen Bundestages, wo er über die Gesundheit junger Menschen diskutiert, ein Thema, das er mit Recht ernst nimmt. (Elke Ferner [SPD]: Das ist ja herrlich!) Auch dieses Thema hat viel mit Patientenrechten zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Da sollte man nicht so beckmesserisch auftreten, wie Sie das tun. Eine korrekte ärztliche Berufsausübung verlangt von uns Ärztinnen und Ärzten - Sie wissen, dass ich zu dieser Profession gehöre -, dass wir beim Umgang mit Patientinnen und Patienten deren Würde und ihr Selbstbestimmungsrecht respektieren, ihre Privatsphäre achten, über die beabsichtigte Diagnostik und Therapie - gegebenenfalls über Alternativen - und über die Beurteilung ihres Gesundheitszustandes in einer für die Patientinnen und Patienten verständlichen, angemessenen Sprache informieren und insbesondere das Recht respektieren, empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen abzulehnen, (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das steht alles in dieser Charta!) dass wir Rücksicht auf die Situation der Patientinnen und Patienten nehmen, dass wir bei Meinungsverschiedenheiten sachlich und korrekt bleiben, dass wir Mitteilungen der Patientinnen und Patienten die gebührende Aufmerksamkeit entgegenbringen und Kritik der Patienten sachlich begegnen. Die Übernahme und Durchführung der Behandlung erfordert die gewissenhafte Ausführung der gebotenen medizinischen Maßnahmen nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Dazu gehört, dass wir, wenn die eigene Kompetenz zur Lösung der Aufgabe nicht ausreicht, rechtzeitig andere Ärztinnen und Ärzte hinzuziehen bzw. die Patientin oder den Patienten zur Fortsetzung der Behandlung rechtzeitig an andere Ärztinnen und Ärzte überweisen, dass wir dem Wunsch von Patientinnen und Patienten nach Einholung einer zweiten Meinung entsprechen und dass wir die Berichte, die die mit- oder weiterbehandelnden Ärztinnen und Ärzte brauchen, zeitgerecht erstellen. Diese Grundsätze ärztlicher Berufsausübung sind Teil der Berufsordnungen, die die Landesärztekammern als untergesetzliches Recht auf der Grundlage des Heilberufsrechts der jeweiligen Bundesländer beschlossen haben; sie sind für die Ärztinnen und Ärzte verbindlich. Wir alle wünschen uns, dass diese Grundsätze nicht nur für den Umgang zwischen Ärzten und Patienten gelten, sondern in entsprechender Form auch die anderen Berufe, Dienste und Einrichtungen binden, die für Patientinnen und Patienten tätig sind. Ich will noch einmal auf das Modell der partnerschaftlichen Kooperation zurückkommen, das eben schon von der FDP-Fraktion angesprochen worden ist. Die Frage war: Was für eine Partnerschaft soll das sein? Prominente Autoren wie der Kölner Rechtswissenschaftler Professor Katzenmeier sprechen im Zusammenhang mit der Arzt-Patienten-Beziehung von einem therapeutischen Arbeitsbündnis. Richtig: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verlangt vom Arzt, den Kranken an den Entscheidungsprozessen - so schwierig das ist - zu beteiligen. Er hat sich mit dem Patienten über Krankheit und Behandlung zu verständigen. Das führt dazu, dass nicht ein von außen diktierter Behandlungsstandard vollzogen wird - gewissermaßen ohne innere Begegnung -, sondern dass in persönlicher ärztlicher Unabhängigkeit eine individuelle Begegnung und Behandlung stattfindet, bei der, wie Katzenmeier es ausdrückt, die Wertewelt des Gegenübers Beachtung und Eingang findet. Eine solche echte Partnerschaft setzt voraus, dass nicht einseitig Pflichten auf einer Seite gesehen werden, sondern dass ein gemeinsames Anliegen definiert wird. Ärzte und Patienten haben ein gemeinsames Anliegen. Deswegen ist - das finde ich jedenfalls - von dem Patienten zu erwarten, dass er Heilung nicht in einer Konsumentenhaltung als zu liefernde Reparaturleistung erwartet, nach dem Motto - Verbraucherkontext -: Ich bin der Kunde. Der Patient hat auch selbst Verantwortung für seine Gesundheit und Gesundung. Der Arzt hat ein Recht darauf - zumindest ein Anrecht -, dass der Patient diese Haltung als seine Pflicht begreift. Übrigens hat auch die Solidargemeinschaft einen Anspruch darauf, dass der Patient dieses Mitwirken als seine Pflicht begreift, und das ist auch im Sozialgesetzbuch so geregelt. (Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Herr Präsident, wenn Sie mögen, wäre ich, falls Frau Klein-Schmeink fragen möchte, bereit, zu antworten. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wenn Sie mich schon so herzlich dazu einladen, dann bin ich allergnädigst bereit, das zuzulassen. - Bitte schön. Rudolf Henke (CDU/CSU): Ich bedanke mich sehr. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da habe ich ja Glück. - Herr Henke, ich möchte Sie fragen: Ist es so, dass Sie in einem Patientenrechtegesetz tatsächlich die Pflichten eines Patienten zur Mitwirkung an einer Behandlung formulieren wollen? Ich bin hocherstaunt darüber, was Sie hier vorhaben und worüber Sie jetzt gerade reden, (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das hat er doch gar nicht gesagt!) weil ich gedacht habe, dass wir hier im Saal bislang darüber geredet haben, wie wir den Patienten innerhalb dieses Verhältnisses stärker machen können. Sie reden jetzt ja mehr darüber, welche Pflichten Sie ihm auch noch auferlegen wollen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Es gibt keine Rechte ohne Pflichten!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Erstens gibt es keine Rechte ohne Pflichten. Zweitens sprechen wir ja, Frau Klein-Schmeink, über den Antrag der SPD-Fraktion. In diesem Antrag der SPD-Fraktion findet sich manches Richtige, etwa die Aussage: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von Patientinnen und Patienten in Deutschland sind im internationalen Vergleich gut. Richtig ist auch diese Aussage: Das deutsche Arzthaftungsrecht ist verglichen mit anderen Ländern patientenfreundlich. Daneben findet sich aber auch folgende Aussage: Wir möchte gerne, dass wir über eine vielleicht nicht ganz vollständige, aber doch über eine Beweislastumkehr reden. Bei der Erörterung der Beweislastumkehr, ist, so finde ich, der Charakter des Arzt-Patienten-Verhältnisses ein sehr wesentlicher Punkt. Wir können die Frage, ob die Beweislastumkehr richtig oder falsch ist, nicht beantworten, ohne uns über den Charakter des Arzt-Patienten-Verhältnisses Aufschluss gegeben zu haben; denn eine defensive Medizin, bei der zur Vermeidung von Haftungsansprüchen darauf verzichtet wird, dringend notwendige Operationen oder dringend notwendige Eingriffe durchzuführen, sondern erst einmal abgewartet wird, auch wenn der Eingriff für den Patienten sinnvoll wäre, kann ja in niemandes Interesse liegen, weder in dem des Patienten noch in dem des Arztes. Deswegen glaube ich, dass dieses therapeutische Arbeitsbündnis, von dem ich ja schon sprach, notwendig ist. Ich leite aus dem Leitbild des therapeutischen Arbeitsbündnisses ab, dass wir mit der Beweislastumkehr in solchen Fällen sehr zurückhaltend sein müssen, in denen der Arzt notwendigerweise, wenn er den Patienten schonend versorgt, kaum in der Lage sein wird, Beweise dafür anzutreten, dass er nicht schuldhaft einen erwünschten Erfolg nicht geliefert hat. Ich finde, das muss man en détail diskutieren. Man kann es sich hier nicht ganz so einfach machen wie die SPD in ihrem Antrag. Das war der Grund dafür. (Elke Ferner [SPD]: Das ist doch völliger Unsinn! - Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber hart daneben!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Möchten Sie eine weitere Zwischenfrage beantworten, Herr Kollege? Rudolf Henke (CDU/CSU): Ja, von mir aus - wenn es Herr Lauterbach ist, dann gerne. (Elke Ferner [SPD]: Von Ihnen möchte ich mich nicht behandeln lassen!) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sie haben eben hinsichtlich der Verträge der Bundesärztekammer und der Landesärztekammern eloquent vorgetragen, und Sie haben vorgetragen, wie Sie sich - - Rudolf Henke (CDU/CSU): Nicht Verträge. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Ja, die Abmachungen bzw. die Vereinbarungen. Rudolf Henke (CDU/CSU): Nein, es geht um die Berufsordnung. Das ist untergesetzliches Recht, das von den Aufsichtsbehörden der Bundesländer genehmigt und auf der Basis von Heilberufsgesetzen erlassen wurde, die der Landesgesetzgeber verabschiedet hat und wofür er die Kompetenz in Anspruch nimmt, die Sie hier im Bundestag für sich auch beanspruchen. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Ja, das will ich ja nicht in Abrede stellen. Ich fasse nur Ihre Rede zusammen. (Ulrike Flach [FDP]: Nein, falsch! Wie immer!) Sie haben uns vorgetragen, wie sich die Ärztekammern die Patientenrechte vorstellen und wie die Ärzte besser gegen überbordende Patientenrechte zu schützen sind. Der Eindruck, der sich mir hier aufdrängt, ist, dass Sie damit die Arbeit von Herrn Zöller nicht leichter machen werden, weil ich bisher nicht einen einzigen Satz dazu gehört habe, wie Sie die Patienten und nicht die Ärzte stärken wollen, Herr Henke. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nun zu meiner Frage: Wo ist in Ihrem Beitrag der Punkt, mit dem den Patienten und nicht den Ärzten geholfen werden würde? Rudolf Henke (CDU/CSU): Ich glaube, dass es unsere primäre Sorge sein muss, nicht Misstrauen in diesem Bündnis zu erzeugen. Wir haben hier von allen Fraktionen gehört, dass sie den in Gesundheitsberufen tätigen Menschen - übrigens nicht nur den Ärzten, sondern auch den Pflegekräften, den Krankenschwestern und denen, die sonst an den Leistungen in den Krankenhäusern mitwirken - für ihre Arbeit danken, weil sie ihre Arbeit ganz überwiegend in Ordnung leisten. (Ulrike Flach [FDP]: Richtig!) Diese Aussage hat doch auch Frau Volkmer getroffen. Deswegen meine ich, dass wir uns, wenn wir über das Thema Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlern diskutieren - das ist Ihr Vorschlag zur Stärkung der Patientenrechte -, Aufschluss geben müssen, ob das nicht in der Konsequenz zu mehr Misstrauen und defensivem Verhalten führt und die partnerschaftliche Beziehung zerstören würde. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie noch einmal richtig nachlesen! Da steht was anderes!) Ich habe nicht das Gefühl, dass die Gespräche, die Herr Zöller hat, dazu führen, dass wir uns auseinanderentwickeln. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass wir eine gewisse Skepsis gegenüber dem Vorschlag einer Beweislastumkehr durchaus teilen. Das ist jedenfalls mein bisheriger Eindruck. Lassen Sie uns diese Debatte offen führen. Nehmen Sie nicht jedes Wort von jemandem, der einer anderen Fraktion angehört, gleich zum Anlass dafür, ihm irgendetwas Schlechtes zu unterstellen! Das ist nämlich Ihre Methode. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das ärgert mich; denn es führt weg von der sachlichen Auseinandersetzung. Ich wollte nur vermeiden, dass allzu viel Gewicht auf eine materielle Änderung des Rechts gelegt wird und darin der Kernzweck des Patientenrechtegesetzes gesehen wird; denn es geht doch zumindest auch um eine Bündelung des Rechts. Wenn ich Frau Volkmer richtig verstanden habe, dann hält sie diese Bündelung deswegen für notwendig, weil sie dafür sorgt, dass das Recht klarer, transparenter und einfacher anwendbar wird und dass Umsetzungsdefizite leichter zu vermeiden sind. Insofern sollten Sie vielleicht einmal Ihre unterschiedlichen Auffassungen klären. Ich komme zum Schluss. Ich glaube, der Patient hat Anspruch auf eine individuelle, an seinen Bedürfnissen ausgerichtete Behandlung und Betreuung. Er hat Anspruch auf die freie Arzt- und Krankenhauswahl, auf Transparenz, Wahrung des Patientengeheimnisses und die Solidarität der Gesellschaft. Er hat auch Anspruch auf eine in diesem Sinne solidarisch gestaltete und mit ausreichender Finanzkraft versehene Krankenversicherung. Er hat Anspruch auf ein bürgernahes Gesundheitswesen, und er erwartet mit Recht Fürsorge und Zuwendung. Wenn die Debatte um das Patientenrechtegesetz einen Beitrag dazu leistet, Impulse für die Umsetzung dieser Rechte zu geben, dann können wir jedem dankbar sein, der dazu seinen Beitrag leistet, allen voran dem Patientenbeauftragten, dem Kollegen Zöller. Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/907 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 j, 33 l bis 33 o sowie Zusatzpunkt 5 auf: 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 16. Dezember 2009 und 26. Januar 2010 über die Verteilung von Versorgungslasten bei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwechseln - Drucksache 17/1696 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Insel Man zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von im internationalen Verkehr tätigen Schifffahrtsunternehmen - Drucksache 17/1697 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Insel Man über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Auskunftsaustausch - Drucksache 17/1698 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Guernsey über den Auskunftsaustausch in Steuersachen - Drucksache 17/1699 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. August 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Gibraltar über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Auskunftsaustausch - Drucksache 17/1700 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. September 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums Liechtenstein über die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch in Steuersachen - Drucksache 17/1701 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 2008 über die Änderung des Vertrags vom 11. April 1996 über die Internationale Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigung - Drucksache 17/1702 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes und des Agrarstatistikgesetzes - Drucksache 17/1703 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Katzen- und Hundefell-Einfuhr-Verbotsgesetzes und zur Änderung des Seefischereigesetzes - Drucksache 17/1704 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Erhebung von Daten zu der Versorgung mit Hebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Einkommenssituation von Hebammen und Entbindungspflegern sicherstellen - Drucksache 17/1587 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Brücken bauen - Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahe bringen - Drucksache 17/1757 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschaffung der Wehrpflicht - Drucksache 17/1736 - Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einigkeit über die Definition des Tatbestandes des Aggressionsverbrechens im IStGH-Statut erzielen - Drucksache 17/1767 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Atomausstieg beschleunigen - Strommarkt zukunftsfähig entwickeln - Drucksache 17/1766 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Marktengpässe bei flüssiger Biomasse - Drucksache 17/1750 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 34 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 81 zu Petitionen - Drucksache 17/1590 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 81 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 82 zu Petitionen - Drucksache 17/1591 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 82 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 83 zu Petitionen - Drucksache 17/1592 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 83 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 84 zu Petitionen - Drucksache 17/1593 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 84 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 85 zu Petitionen - Drucksache 17/1594 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 85 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 34 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 86 zu Petitionen - Drucksache 17/1595 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 86 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 87 zu Petitionen - Drucksache 17/1596 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 87 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen der SPD und der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 34 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 88 zu Petitionen - Drucksache 17/1597 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 89 zu Petitionen - Drucksache 17/1598 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 89 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD und der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Nunmehr rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auseinandersetzung in der Koalition zur Haushaltskonsolidierung Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Steffen Bockhahn von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Zeiten der Krise darf man von einer Regierung eines erwarten: ein Konzept. Aber was sind die Tatsachen? "Koalition konfus". Besser kann man es nicht ausdrücken. (Beifall bei der LINKEN) Erst verzichten Sie freiwillig auf Einnahmen, indem Sie Geschenke für Reiche und Superreiche und für Spender des Wahlkampfes machen, und dann stellen Sie fest, dass Sie kein Geld haben. (Beifall bei der LINKEN) Was ist Ihre Antwort darauf? Wahnsinnige Streichlisten von scheinbar nicht mehr ganz bewussten Politikerinnen und Politikern in Ihrer Fraktion! (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wie ist das denn mit den Grünen und der Solarindustrie?) Wie kann man denn auf die Idee kommen, dass es zukunftsgerichtet sei, wenn man heute an einer Zukunftsinvestition spart, wie sie besser nicht sein könnte? Wenn man heute an Bildung spart, dann investiert man nicht in die Zukunft, dann macht man nichts Gutes, sondern dann würgt man sich selbst eine gute Zukunft ab. Das ist genau der falsche Weg, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Um Folgendes auch gleich zu sagen: Es heißt immer, wir müssten heute mit unseren Finanzen aufpassen und dürften den Schuldenberg nicht noch größer machen, weil wir ihn künftigen Generationen aufbürden. Nun nehme ich jetzt einmal für mich in Anspruch, eher Teil der kommenden Generationen zu sein als jemand, der diese Schulden aufgehäuft hat. (Volkmar Klein [CDU/CSU]: Kann man so und so sehen!) - Ja, das kann man so und so sehen. Ich wünsche Ihnen aber, dass ich Teil der kommenden Generationen bin. Aber das mögen Sie sicherlich nicht teilen. (Zuruf von der LINKEN: Politische Zukunft!) - Vor allen Dingen der politischen, danke. Wie kann man auf die Idee kommen, dass es richtig sei, sich jetzt so zu strangulieren? Wie kann man auf die Idee kommen, dass es richtig sei, jetzt einfach kein Geld mehr in der Hoffnung auszugeben, dass dies kommenden Generationen helfen würde? Das ist genau der falsche Weg; denn das Geld, das Sie heute nicht ausgeben, führt zu Entwicklungen, die in der Zukunft zu steigenden Kosten führen werden. Dies führt uns tiefer in die Krise, und das ist etwas, was wir genau nicht brauchen. Wir brauchen jetzt Konjunkturprogramme, wir brauchen etwas, was für die Zukunft dieses Landes gut ist. Dazu gehören Bildung und Kinderbetreuung, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN - Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Erstmal müssen Sie Kinder haben! Wenn Sie Kinder haben, können wir weiter darüber reden!) - Herr Schirmbeck, ich bin mir sehr sicher, dass Sie vielen Frauen dabei helfen, Kinder zu bekommen; aber das ist hier nicht das Thema. (Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD - Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich könnte Ihnen in der Tat einige Hinweise geben!) Es geht vielmehr darum, wie man die Gesellschaft für Kinder attraktiv machen kann, wie man Kindern, die in dieser Gesellschaft leben, beste Entwicklungsperspektiven bieten kann. Darüber müssen wir sprechen. Wenn dann ein hessischer Ministerpräsident sagt, der Kita-Ausbau, der gesetzlich verankert ist und einen Anspruch darstellt, müsse geschoben werden, dann ist dies erstens sozialpolitisch kreuzgefährlich, weil es wieder diejenigen trifft, die auf die 150 Euro Herdprämie angewiesen sind, anstatt dass sie ihr Kind in eine Kindertageseinrichtung schicken. Es führt zweitens dazu, dass die Kinder aus sozial benachteiligten Familien wieder zu Opfern von Bildungsarmut werden. Genau das kann doch nicht der Weg sein. Es ist noch schlimmer, wenn gerade aus Hessen ein solcher Vorschlag kommt; denn Hessen gehört bekanntermaßen eher zu den wohlhabenden Ländern. Vielleicht könnte man es in Hessen noch selber regeln. Aber in Bremen, Schleswig-Holstein oder anderen strukturschwachen Flächenländern wird es dann umso schwieriger, den notwendigen Kita-Ausbau voranzutreiben. Wenn Herr Koch trotzdem das in seine Vorschläge einbezieht, dann handelt er grob fahrlässig und sicher nicht im gesamtdeutschen Interesse. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Natürlich kann er jetzt stolz vorangehen und sagen, dass er es ernst meint; denn er hat die Mittel für die Hochschulen im eigenen Land um 30 Millionen Euro gekürzt. Aber genau das ist doch der Wahnsinn. Wenn Deutschland eine Zukunft als starker Standort haben möchte, dann brauchen wir Innovation sowie Forschung und Entwicklung. Das geht nicht ohne gute Bildung und ohne gute Hochschulen. Ich habe vor noch nicht allzu langer Zeit selbst an einer Hochschule studiert. Ich kann Ihnen sagen, dass es kein Vergnügen ist, wenn man mit 150 Leuten in einem Grundkurs sitzen muss, weil Personal und Räume fehlen. Die Universitäten in Deutschland sind nicht ausreichend ausgestattet. Wir brauchen mehr Geld für Bildung und Forschung und nicht weniger. (Beifall bei der LINKEN - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Da wäre aber ein bisschen Berufserfahrung hinterher angebracht!) Es ist grob fahrlässig, wenn Sie heute durch die Welt laufen und sagen: Wir müssen streichen. - Es geht Ihnen gar nicht um das Sparen. Man spart nämlich, wenn man etwas übrig behält. Sie wollen streichen. Das ist etwas anderes. Es ist wichtig, diesen Unterschied festzuhalten. Wenn Sie schon streichen, dann schauen Sie sich wenigstens an, was etwas für die Zukunft bringt und was nichts bringt. Es mag Ihnen eigenartig vorkommen, wenn ich Ihnen das jetzt sage, aber: Investitionen in die Atomenergie sind keine zukunftsweisenden Maßnahmen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Investitionen in Rüstungsmittel sind keine zukunftsweisenden Maßnahmen. Was wirklich etwas bringt, sind Investitionen in Bildung, Forschung und soziale Gerechtigkeit. Das stärkt Deutschland und hilft allen, mit Sicherheit nicht ein konzeptionsloses Sparen. Diese Regierung sollte einen Plan haben. Sie hat aber keinen. Das ist ganz armselig. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nächster Redner ist Steffen Kampeter, der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist unser bester Mann! Hört zu!) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Bockhahn, Ihre Rede hat deutlich gemacht: Es ist gut, dass Hessen von einer christlich-liberalen Koalition und nicht von Ihnen regiert wird. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie aber der SPD zu verdanken!) Ich bedanke mich für diese Aktuelle Stunde, gibt sie mir doch die Möglichkeit, Ihnen die Haushaltspolitik der Bundesregierung einmal darzulegen. Ich bitte die Zuschauerinnen und Zuschauer, sich nicht mit den Diffamierungen des Vorredners aufzuhalten. (Caren Marks [SPD]: Mit Ihnen aber auch nicht! - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die machen sich schon ihr eigenes Bild!) Die derzeit laufenden Arbeiten und Diskussionen bei der Vorbereitung des Haushaltes 2011 und der mittelfristigen Finanzplanung sind Ausdruck des ernsthaften Willens der christlich-liberalen Koalition, einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen und eine zukunftsorientierte Haushaltspolitik zu machen. Dass die Einhaltung der neuen Schuldenregel ab dem Jahr 2011 und die Rückkehr zu den zulässigen Maastricht-Kriterien allerdings kein leichter Weg ist, ist, glaube ich, allen Beteiligten klar. Das heißt, die notwendigen Veränderungen werden spürbar sein und werden sich - das zeigt die Erfahrung - zweifelsohne nicht ohne Widerspruch durchsetzen lassen. Dabei befinden wir uns, verglichen mit anderen Volkswirtschaften, beispielsweise mit der Griechenlands, noch in einer komfortablen Situation. Die ganze Welt schaut jetzt auf unser Land. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist gut! Schaut auf Herrn Kampeter!) Sie schaut auf die Fiskalpolitik des wirtschaftlich stärksten Landes innerhalb der Europäischen Union. Eine erfolgreiche Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiges Signal an die Märkte und ein Garant für den Fortbestand der europäischen Währungsunion. Die jetzt angelaufenen Stabilisierungsmaßnahmen für Griechenland und der in dieser Woche in der Beratung befindliche Euro-Rettungsschirm können nur dann ihre Wirkung voll entfalten, wenn die Haushaltskonsolidierung in der Bundesrepublik Deutschland - allerdings gemeinsam mit allen anderen Ländern - ernsthaft weiterbetrieben wird. Experten analysieren, dass Kapital aus hoch verschuldeten Staaten mit niedrigen Wachstumsraten abgezogen wird und in niedrig verschuldete Staaten mit hohen Wachstumsraten investiert wird. Das zeigt den politischen Gestaltungsauftrag für die Fiskalpolitik und die Wachstumspolitik in der Bundesrepublik. Wir müssen uns wieder sehr viel stärker um eine niedrigere Verschuldung und um höhere Wachstumsraten in der Bundesrepublik Deutschland kümmern. Das ist der Anspruch der christlich-liberalen Koalition. Daran werden wir uns messen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der Bundeshaushalt und der jetzt aufzustellende Finanzplan stellen einen Wendepunkt dar. Im Rahmen der laufenden Haushaltsaufstellungsverfahren müssen wir den Ausstieg aus den konjunkturstützenden Maßnahmen finden und zum Konsolidierungskurs zurückkehren. Es ist richtig: International war vereinbart, 2009 und 2010 die Konjunktur durch eine Schuldenaufnahme zu stützen. Es ist aber auch vereinbart worden, dass wir ab 2011 das Wachstum nicht mehr durch Schulden finanzieren, sondern die Kräfte, die einen sich selbst tragenden Aufschwung ermöglichen, mobilisieren. Das ist eine Herkulesaufgabe, insbesondere wenn man bedenkt, wo wir jetzt stehen. Der Haushalt 2010 ist der Haushalt mit der höchsten Nettokreditaufnahme in der Finanzgeschichte unseres Landes. Allein die konsumtiven Ausgabenblöcke - Soziales, Zinsausgaben, Personalausgaben - machen derzeit drei Viertel des gesamten Bundeshaushalts aus. Sie sind weitgehend durch gesetzliche Vorgaben bzw. durch Rechtsverpflichtungen gesetzt. Zudem - das muss man in aller Klarheit sagen - hat die vorgelegte Steuerschätzung nicht den erhofften Spielraum für weitere entlastende Maßnahmen gebracht. Im Gegenteil: Wir werden in den kommenden drei Jahren zusätzlich 18 Milliarden Euro Steuermindereinnahmen zu verkraften haben. Etwas grundsätzlicher formuliert: Haushaltsdisziplin ist die Voraussetzung für den Erhalt politischer Gestaltungsfähigkeit. Länder, die dies nicht beherzigen, werden wegen stark steigender Zinsausgaben und ihrer mangelnden Kreditwürdigkeit dieser politischen Handlungsfähigkeiten beraubt. Unsere Konsolidierungsstrategie, die nicht auf das nächste Jahr beschränkt ist, erhält diesen politischen Handlungsspielraum und ermöglicht aktives Handeln in der Zukunft. Das ist das haushaltspolitische Kredo der christlich-liberalen Koalition. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Haushaltsdisziplin ist auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit; denn alles, was wir heute unterlassen, schränkt die Handlungsfähigkeit zukünftiger Generationen ein. Es gilt der Satz: Auf Schuldenbergen können keine Kinder spielen. - Das müssen wir auch bei unseren politischen Entscheidungen mit berücksichtigen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Im internationalen Kontext gilt: Nur wer selber Vorbild ist, kann auch von anderen Staaten Haushaltsdisziplin verlangen. Politische Führung gründet eben auch in Europa auf die Voraussetzung solider Haushaltspolitik. Lassen Sie mich deswegen feststellen: Die Behauptung, dass gute Politik sich ausschließlich durch hohe Ausgaben oder gar durch hohe Schulden definiert, ist veraltetes Denken. Eine aufgeklärte und moderne Haushalts- und Finanzpolitik weiß, dass das Ergebnis von Politik vielmehr von der Wirkmächtigkeit der eingesetzten Mittel abhängt. Was wir aus dem Geld machen, ist doch die eigentliche Gestaltungsaufgabe. Kluge Politik kommt daher in manchen Bereichen auch mit weniger Geld aus. Das werden wir in dieser Legislaturperiode wagen. Das ist der Anspruch unserer Haushaltspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir im letzten Haushalt gesehen! Das ist Ihnen glänzend gelungen!) So ist Haushaltspolitik zu verstehen, und es müssen auch ein Stück weit Strukturen infrage gestellt werden. Das hat mehr mit Klugheit als mit Kürzungen zu tun. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch mal bei den Subventionen für die Hotels an!) Das machen wir. Für die zukünftigen Haushaltsjahre gilt ein dezidiertes Ausgabenmoratorium. Zur Erinnerung: Wir haben in unserem Koalitionsvertrag unter dem Stichwort "generationengerechte Finanzen" goldene Regeln aufgestellt. (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Alle Aufgaben- und Ausgabenbereiche sind kritisch zu hinterfragen. Zusätzliche Maßnahmen müssen solide gegenfinanziert werden. Letztlich stehen die Maßnahmen des Koalitionsvertrags unter einem Finanzierungsvorbehalt. (Zuruf von der LINKEN: Gucken Sie sich mal die Einnahmeseite an!) Das macht deutlich, dass wir uns auch weiterhin kritisch mit den Strukturen unseres Haushalts beschäftigen müssen. Wir müssen genau hinschauen, wo es Ineffizienzen gibt und wo wir mit dem eingesetzten Geld nicht die von uns gewünschten politischen Ziele erreichen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Mövenpick-Geld zum Beispiel!) Was können wir auch angesichts eines sich verändernden finanzwirtschaftlichen Umfelds besser machen? Wo - auch das muss man aufzeigen - besteht ordnungspolitischer Handlungsbedarf? Ich nenne beispielsweise das staatliche Handeln. Die Finanzkrise hat die Nachfrage nach mehr Staat steigen lassen. Wir als christlich-liberale Koalition wissen aber: Ein totaler Staat kann nicht die Antwort auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen sein. Wir brauchen zwischen Markt und Staat wieder eine normalisierte Aufgabenteilung in einer sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir werden und müssen uns also mit den Strukturen des Bundeshaushalts sehr kritisch beschäftigen. Wir müssen genauer hinschauen. Das bedeutet sechs Wochen intensive Arbeit. In einem ersten Schritt haben wir in diesen Tagen die Ressorts aufgefordert, bei den sogenannten Flexibilisierten Ausgaben ihre Vorstellung zu Einsparungen darzulegen. Wir werden in einer Haushaltsklausur in Vorbereitung auf den Kabinettsbeschluss Ende Juni/Anfang Juli weitere Maßnahmen besprechen. Wir wissen um die Notwendigkeit, solide zu haushalten. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann das denn? Seit dem 9. Mai?) Klar ist: Nur wer seinen eigenen Haushalt in Ordnung hält, der ist für die Aufgaben der Zukunft gewappnet. Die christlich-liberale Koalition ist für diese Zukunft gewappnet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei Abgeordneten der SPD - Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Für mich war das eine Offenbarung!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt aber mal ein bisschen liebevoll, nicht so kratzbürstig!) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kampeter, das war sozusagen die Vorlesung über Kampeters Glaubenssätze. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Am besten verinnerlichen!) Wenn Sie das als Gastdozent an der Uni anbieten, dann bin ich sicher, dass beim zweiten Mal keiner mehr kommen wird, Herr Kampeter, weil hinterher zwar alle Honig im Gesicht haben, aber keinen Erkenntniszuwachs. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen an dieser Stelle wissen: Was gilt denn nun? Wir wollen nicht irgendwelche goldenen Fäden gesponnen haben und auch nichts von goldenen Glaubenssätzen hören. Wir wollen wissen: Was ist die Haushaltsprämisse? Wo soll es langgehen? - Roland Koch hat gesagt: Bei der Bildung soll gespart werden. Die Kanzlerin hat erklärt: Bildung ist Cheffinnensache. Daher veranstaltet sie einen Bildungsgipfel nach dem anderen. Deshalb sage ich: Hic Rhodus, hic salta! Was gilt denn nun, Herr Kampeter? Gilt nun, dass die CDU-Ministerpräsidenten, vornean Roland Koch, diese Bundesregierung am Nasenring durch die Republik führen, Merkel immer hinterher? Oder gibt diese Bundesregierung die Haushaltspolitik des Bundes vor? Dazu haben Sie kein einziges Wort gesagt, Herr Kampeter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie wissen doch, wer den Haushalt aufstellt! Das sind doch wir, nicht die Länder!) Wir haben erhebliche Zweifel, ob überhaupt noch etwas kommt. Ihre allgemeinen Ausführungen von Glaubenssätzen bestärken mich in meinen Zweifeln. Dass Roland Koch seine Äußerungen direkt nach dem 9. Mai und dem für die CDU desaströsen Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen - nämlich ein Minus von 10 Prozentpunkten - gemacht hat, ist doch eine Kampfansage. Da muss man doch sagen, was gilt. Ich sehe: Merkel ist eine Kanzlerin ohne Rückhalt. Merkel ist ohne Rückhalt in der Union und ohne Rückhalt in der Koalition. Dass sie auch ohne Rückhalt in Europa ist, haben wir in diesen Tagen schon gemerkt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das hätten Sie gern so!) Sie sind angetreten, um, wie mit dem Koalitionspartner vereinbart, die Steuern zu senken. Dieses Vorhaben ist nun gestrichen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was die FDP will. Das Ergebnis, von einer Ein-Punkt-Partei zu einer Null-Punkte-Partei, bringt keinen Erkenntnisgewinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Also wende ich mich an Sie. Was gilt denn? Das wissen wir in keinem Bereich. Bei der Atompolitik machen Sie es vor: Söder, die Lichtgestalt der deutschen Politik, (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) hat gesagt, Röttgen habe kein Konzept. Gut, dass er sich gemeldet hat. Mappus aus einem großen Flächenland fordert den Rücktritt des Umweltministers. Koch sagt: Wenn du, Angela Merkel, nicht führst, dann führe ich. - An dieser Stelle wird man doch einmal fragen dürfen, wer jetzt führt und wohin die Reise gehen soll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Gilt die moderne CDU, oder erlebt seit dem 9. Mai das Tiefschwarze der CDU aus dem Süden dieser Republik seinen zweiten Frühling und tritt wieder stärker hervor? Wir sagen: Wir wollen wissen, wo es langgehen soll. Ich will Ihnen auch sagen, warum wir fragen. Roland Koch hat schon einmal die Bildungspolitik in diesem Lande bestimmt. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Ich war in der Föderalismuskommission I dabei, in der Stoiber und Müntefering Vorschläge vorgelegt haben. Diese wurden im Bundesrat in der Leipziger Straße spät nachts bei einer Sondersitzung von Koch ausgebremst. Er stand kurz vor Mitternacht wütend auf und sagte: Mit uns geht das nicht! Er hat die Vorschläge in ihre Einzelteile zerlegt. Sein Vorschlag war, die Kompetenz für die Bildung komplett an die Bundesländer zu übergeben und ein Kooperationsverbot zu verhängen. Der Bund darf den Kommunen in der Bildungspolitik also nie beistehen. Wir haben schon damals gesagt, dass das noch einmal unser Untergang wird, weil das die zentrale Aufgabe der Bildungspolitik zunichtemacht, die eigentlich solidarisch angegangen werden müsste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Frau Merkel hat sich damals mit Blick auf eine potenzielle Kanzlerschaft nicht getraut, den Ministerpräsidenten der CDU in die Parade zu fahren; stattdessen hat sie an der Stelle einen Kotau gemacht und die Ministerpräsidenten machen lassen. Aber wenigstens jetzt muss sie zeigen, dass sie einen Hintern in der Hose hat, indem sie sagt: Ihr wolltet es, also macht es und finanziert es auch! - Das erwarte ich von dieser Koalition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie machen Rosstäuschertricks und veranstalten einen Bildungsgipfel nach dem anderen, bei denen nichts herauskommt. Nachher kommen auch noch Roland Koch und der Koordinator der Bildungspolitik der CDU, Herr Tillich, Ministerpräsident von Sachsen, und reißen alles, auch das 10-Prozent-Ziel, das Sie früher, um sich selber zu loben, wie eine Monstranz durch die Republik getragen haben, wieder ein. Ich will jetzt wissen, was gilt. Auch die Hessinnen und Hessen wollen das wissen. Nehmen wir einmal das Beispiel Hessen. Fast 8 Prozent der Kinder dort haben keinen Schulabschluss, und es fehlen 23 000 Betreuungsplätze. Da geht es um Chancengerechtigkeit, darum, dass es allen Kindern gleich gut geht, dass sie sich gleichermaßen entwickeln können. Es geht um Geschlechtergerechtigkeit; denn auch Frauen sollen später erwerbstätig sein können. Letztlich geht es auch um eine wirtschaftspolitische Frage. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Schauen Sie sich mal an, was da los ist, wo Sie regieren!) Wir wissen, dass es nicht einfach ist, zu sparen. Ich hätte von Herrn Kampeter erwartet, dass er das einmal sagt. Abbau ökologisch schädlicher Subventionen, weg mit dem Steuerprivileg für Dienstwagen, weg mit dem Betreuungsgeld, Abschmelzen des Ehegattensplittings, ran an die Mehrwertsteuer, die Lobbyliste abarbeiten, wobei man mit der Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen anfangen kann - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) wer Mut hat, an diesen Stellen etwas zu verändern, bringt damit zum Ausdruck: Gute Bildung ist eine wichtige Ressource, in die klug investiert werden muss, (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Das machen wir doch! Klug investieren!) weil das zu mehr Gerechtigkeit führt und unserer Wirtschaft hilft. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mein letzter Satz. - Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern; aber es gab einmal einen Koalitionsvertrag mit dem Titel "Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.". Dass Sie sich beim Thema Zusammenhalt gut auskennen in der Koalition, wissen wir alle; deshalb müssen wir das nicht weiter ausführen. Die Republik hat schon lange genug davon. Vielleicht könnten Sie wenigstens einmal versuchen, beim Thema Bildung für jedes Kind in diesem Land haushalterisch eine Marge vorzugeben, und einen Bildungssoli seitens des Bundes fordern, um in jedes Kind zu investieren. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wollen Sie Steuern erhöhen?) Das würde das Land nach vorne bringen. Dazu wollen wir eine Aussage haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen ist eine Aktuelle Stunde beantragt worden. Ich habe bisher nicht erkennen können, warum sie überhaupt beantragt worden ist. (Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das glauben wir unbesehen! - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ja auch noch früh am Tag, Herr Koppelin!) Ich konnte bisher nur Polemik vernehmen. Der Kollege Bockhahn von den Linken fragt: Wie kann man auf die Idee kommen, an Bildung zu sparen? Auch ich finde manches nicht gut, was Herr Koch sagt. Aber ich bin froh, dass Herr Koch nicht die Liste des Berliner Senats abgeschrieben hat; denn da gibt es plötzlich Lotteriespiele, die darüber entscheiden, ob man einen Platz in der Schule bekommt. Ähnliches gilt für die Feuerwehr usw. (Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Schauen Sie sich die lange Liste des Berliner Senats, an dem Sie beteiligt sind, einmal an. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Ich möchte einen Punkt herausgreifen, der mir sehr wichtig und zudem erfreulich ist. Gestern hat, was auch in einigen Medien eigentlich nur eine Randnotiz war, der Schleswig-holsteinische Landtag - ich komme aus Schleswig-Holstein - mit den Stimmen der Koalition von CDU und FDP, aber auch mit den Stimmen einiger Oppositionsfraktionen, (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Welche, bitte?) nämlich Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die dänische Minderheit SSW, als erstes Landesparlament die Schuldenbremse beschlossen. Das finde ich ausgesprochen erfreulich. Dass die Linken da nicht mitgemacht haben, kann ich verstehen. Ich sage auch, warum ich das erfreulich finde: Es zeigt, dass es bei Haushaltsberatungen - das wünsche ich mir auch für den Bundestag - nicht mehr darum geht, wer die besten Anträge hat und wer sich wie noch steigern kann, sondern darum, dass man in einen Wettbewerb eintritt in der Frage, wo effizient und vernünftig gekürzt oder wie der Haushalt eines Landes saniert werden kann. (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Es geht nicht darum, Geld auszugeben, sondern darum, Geld vernünftiger auszugeben!) Das ist endlich einmal ein Wettbewerb, der mir und vermutlich auch den Bürgern gefällt. Ich bin jedenfalls froh. Dass natürlich Herr Stegner gleich sagt, Streichungen gebe es mit der SPD nicht, stattdessen seien Steuererhöhungen notwendig, ist seine Sache; damit müssen die Sozialdemokraten fertigwerden. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wollen wir mal sehen, was Sie an Steuererhöhungen alles machen werden! Mehrwertsteuer!) Aber in einem Punkt sind wir uns doch einig: Angesichts der Verschuldung, an der viele mitgewirkt haben, sollte man überlegen, wie wir von diesen Schulden wieder herunterkommen. - Ich sage gleich noch etwas zu den Sozialdemokraten, die elf Jahre an der Regierung waren. - Niemand - keine Regierung, kein Parlament, keine Partei, auch nicht Eltern oder Großeltern - hat das Recht, Schulden aufzunehmen, die Generationen, die noch gar nicht geboren sind, begleichen müssen. Das ist das Entscheidende. Darum müssen wir uns kümmern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vorhin kam der Zuruf, wir würden die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik durchführen. Ich sage Ihnen: Das haben die Sozialdemokraten getan. Es handelte sich um eine Größenordnung von mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr. Sie haben dieses Geld nicht nur ausgegeben, sondern Sie haben es dreimal ausgegeben und mussten trotzdem noch Schulden aufnehmen. Das und nichts anderes war Ihre Politik. (Bettina Hagedorn [SPD]: Die höchste Verschuldung habt ihr doch beschlossen!) Meine Damen und Herren, ich bin seit langem der Auffassung - das besagen auch die Steuerschätzungen -: Dieser Staat hat genug Geld. Er geht teilweise nur nicht vernünftig damit um. Wir werden deshalb anders an die Aufstellung des Haushalts für das nächste Jahr herangehen. Wir können nur noch Maßnahmen finanzieren, die vernünftig sind. Ich finde es richtig, dass Minister Schäuble die Ministerien schon darauf hingewiesen hat, dass die Vorschläge, die sie bisher eingereicht haben, zu viel kosten. Das geht so nicht. Nun kommt Frau Künast als Rächer der Enterbten. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rächerin! So viel Zeit muss sein! - Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Künast, dass Sie sich in dieser Form hier hinstellen, ist sehr mutig. (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! Toll war das!) Sie rechnen wohl damit, dass die Menschen schnell vergessen. Sie waren in Nordrhein-Westfalen in einer Koalition mit Herrn Steinbrück. Herr Steinbrück legte zusammen mit Herrn Koch Vorschläge zum Subventionsabbau vor; ich habe diesen dicken Wälzer sogar hier. Diese Vorschläge sind das reinste Gruselkabinett. Dazu haben Sie aber kein Wort gesagt. Warum haben Sie denn damals nicht das Wort ergriffen und deutlich gemacht: "Das machen wir nicht mit"? (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon reden Sie denn da? - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat dieses Thema denn mit Steinbrück und Koch zu tun?) - Ich nenne Ihnen doch nur ein Beispiel; wir sind übrigens dagegen vorgegangen. - Ich frage Sie: Was war denn damals in Sachen Entfernungspauschale? Steinbrück hat versucht, seinen Vorschlag durchzusetzen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Regelung geändert werden muss. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben denn wir mit dem Koch/ Steinbrück-Papier zu tun?) - Entschuldigung, Sie waren doch in einer Koalition. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na und? Das hat Herr Steinbrück aber als SPDler geschrieben, nicht als Grüner!) Da können Sie sich hier doch nicht - ich sage es noch einmal - als Rächer der Enterbten hinstellen und so tun, als hätten Sie mit all dem nichts zu tun. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Genau! Nach dem Motto: Ich bin es nicht gewesen, der andere ist es gewesen! So geht das nicht! - Bettina Hagedorn [SPD]: Kommen Sie doch mal zum Thema!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin fest davon überzeugt, dass wir die gemeinsame Aufgabe haben, dafür zu sorgen, dass wir die hohen Schulden, die wir alle gemeinsam - die Jungen natürlich nicht - zu verantworten haben, abbauen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnte man ja damit anfangen, auf die Mövenpick-Subvention zu verzichten?) Schließlich haben wir eine Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen. Ich bin auf die Haushaltsberatungen 2011 gespannt. (Klaus Hagemann [SPD]: Ich auch! - Bettina Hagedorn [SPD]: Wir hätten doch schon 2010 eine geringere Verschuldung herbeiführen können!) Macht es bitte nicht wieder so wie beim letzten Mal. Bei den letzten Haushaltsberatungen habt ihr einerseits über die hohe Verschuldung, die wir von Steinbrück übernommen haben, gejammert, uns aber andererseits einen Erhöhungsantrag nach dem anderen präsentiert. (Caren Marks [SPD]: Lächerlich!) Das läuft nicht. Das lassen wir euch nicht durchgehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dagmar Ziegler (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Koppelin, dass Sie nicht verstanden haben, warum diese Aktuelle Stunde beantragt worden ist, habe ich nach Ihrem Redebeitrag wiederum sehr gut verstanden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das wiederum habe ich jetzt nicht verstanden! - Gegenruf des Abg. Florian Toncar [FDP]: Das war auch nicht zu verstehen!) Der Streit in Union und FDP (Florian Toncar [FDP]: Was für ein Streit? Es gibt keinen Streit!) um Kürzungen bei der Bildung und den Familien (Florian Toncar [FDP]: Da gibt es keinen Streit!) hat eines sehr deutlich gemacht: dass die Koalition, die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin das Wort "Bildungsrepublik" aus ihrem Wortschatz streichen sollten. Herr Kollege Kampeter, natürlich ist uns allen klar, dass wir in den öffentlichen Haushalten erhebliche Konsolidierungsbemühungen walten lassen müssen; das ist nicht die Frage. Aber es gibt mindestens zwei Dinge, die wir und die Menschen im Lande Ihnen nicht abnehmen und die einfach nicht hinnehmbar sind. Erstens. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung den Menschen ein halbes Jahr lang das Märchen erzählt, geringere Steuern und bessere Bildung würden nahtlos zueinanderpassen, nur um eine Landtagswahl zu überstehen. Das war versuchter Wahlbetrug. Aber es war eben nur versuchter Wahlbetrug; denn die Menschen haben es gemerkt und Sie dafür in NRW abgestraft. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] - Gisela Piltz [FDP]: Wo der Straftatbestand steht, würde ich gerne mal sehen!) Zweitens. Niemand kann verstehen, dass ausgerechnet die beiden Zukunftsbereiche Bildung und Familie von den Koalitionären als Erstes genannt werden, wenn es um Einsparungen geht. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Es kann natürlich sein, dass Sie mit verteilten Rollen spielen. Heute Morgen wurden die CDU-Ministerpräsidenten und die CDU-Politiker in Ihren Reihen ja als C-Promis abgestempelt. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Oh ja! Zu Recht!) Es mag sein, dass Sie sich gegenseitig nicht mehr ernst nehmen. Aber wir nehmen das, was Sie sagen, sehr ernst. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist gut!) Deshalb machen wir uns große Sorgen. Schauen Sie nach Hessen, schauen Sie nach Bayern, schauen Sie nach Hamburg: Überall, wo die Union regiert, erleben wir Abrissarbeiten an der Bildungsrepublik. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo? Waren Sie schon mal in Berlin oder in Bremen? Sie sind wirklich auf einem Auge blind! Vielleicht auch auf zwei!) Die Süddeutsche Zeitung hat vorgestern sehr treffend analysiert - ich zitiere -: Roland Koch ist, bildungspolitisch betrachtet, ein Intensivtäter. Schulen und Hochschulen sind vor ihm nicht sicher. ... wann immer es um große, wichtige Vorhaben in der Bildungspolitik geht, funkt Koch auch bundespolitisch dazwischen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!) Das Schlimme ist: Herr Koch ist in der Union kein Einzelfall. Ich könnte auch Herrn Tillich aus Sachsen, den haushaltspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herrn Barthle, oder Ihren Generalsekretär, Herrn Gröhe, zitieren. Eines ist sicher: Sie haben die Botschaft der Wählerinnen und Wähler vom Wahlsonntag in NRW nicht kapiert. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Ich sage es in aller Deutlichkeit: Weder die Bundeskanzlerin noch die Bundesbildungsministerin noch die Bundesfamilienministerin haben bislang Klartext geredet, ob es bei den konkreten Verabredungen für die Bereiche Bildung und Kinderbetreuung bleibt. (Caren Marks [SPD]: Im Gegenteil! Schröder bietet an, dass bei ihr gekürzt werden kann!) Vage Beteuerungen, dass Bildung ein Schwerpunkt bleiben soll, sind weder glaubwürdig noch konkret genug. Die Menschen haben ein Recht auf klare Ansagen. Wir erwarten von einer Bundesregierung, dass sie führt. Wir erwarten von Ministerinnen, dass sie führen; so sieht es der Eid auf das Ministeramt vor. Wenn Frau Schröder sagt, dass der Rechtsanspruch auf die U-3-Betreuung ab 2013 kommt, dann sagt sie nichts Neues. Das hat nichts mit ihrer Amtsausführung zu tun; das ist schon Gesetz. Ich erwarte aber, dass sie Antworten auf offene Fragen gibt: Wie werden die Menschen für die Kita-Betreuung qualifiziert? (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wie werden Erzieherinnen und Erzieher herangeholt? - 40 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. - Wo bleiben die Gelder für die Kommunen? (Oliver Luksic [FDP]: Wer soll das bezahlen?) Erstens ist der Bedarf mit dem Zielwert, der zugrunde gelegt worden ist - eine Betreuungsquote von 32 bis 35 Prozent -, nicht gedeckt. Zweitens sind die Voraussetzungen nicht gegeben, den Rechtsanspruch zu erfüllen. Drittens frage ich: Wo bleibt die Auseinandersetzung zwischen den Ministerien über diese Themen, über die Frage, wie die Finanzausstattung von Kommunen, Bund und Ländern neu geordnet werden kann, wenn solche Zukunftsinvestitionen nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln getätigt werden können? (Oliver Luksic [FDP]: Das hätte die SPD doch jahrelang machen können!) All das erwarte ich von der Amtsausübung einer Ministerin; all das wird versäumt. Man sagt: Der Rechtsanspruch kommt, aber die Verantwortung überlassen wir anderen. So darf eine Bundesregierung, wie wir sie uns vorstellen, wie wir sie in diesem Land brauchen, nicht handeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte die Position unserer Fraktion anhand von drei Punkten deutlich machen: Erstens. Wir erwarten - Frau Künast hat das bereits gesagt -, dass es beim dritten Bildungsgipfel Anfang Juni endlich zu verbindlichen Verabredungen zwischen Bund und Ländern zum 10-Prozent-Ziel kommt. Das heißt konkret: Ab 2015 müssen zusätzliche Bildungsaufwendungen in Höhe von mindestens 13 Milliarden Euro getätigt werden. Der Anstieg der Ausgaben darf nicht zeitlich gestreckt werden, sondern muss ab 2015 verbindlich umgesetzt werden. Zweitens. Der Bildungsgipfel muss ein Infrastrukturgipfel werden. Je knapper das Geld ist, umso unverantwortlicher wäre es, das Geld in sinnlosen Projekten zu verbrennen, die keine nachhaltige Wirkung in Form von besserer Bildung und mehr Chancengleichheit erzielen. Das Geld muss in den Ausbau der Kitas und Ganztagsschulen fließen. Der Lehrpakt für die Hochschulen muss solide ausgestattet werden. Das Geld darf aber nicht in ungerechte Stipendienprogramme, nicht in wirkungslose Bildungsbündnisse und schon gar nicht in ein bildungspolitisch völlig kontraproduktives Betreuungsgeld fließen. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Bitte verschonen Sie mich mit den Floskeln!) Hier haben Sie Einsparungsmöglichkeiten. Nutzen Sie diese! Drittens. Politische Verantwortung setzt Gestaltungswillen voraus. Es wäre wirklich unverantwortlich, gesellschaftspolitische Gestaltungsansprüche aufgrund scheinbarer Sachzwänge aufzugeben. Wir haben schon im vergangenen Jahr einen Bildungssoli gefordert. Denken Sie noch einmal in aller Ernsthaftigkeit darüber nach! Einen Aufschlag auf die Steuer bei sehr hohen Einkommen könnte man den Menschen in diesem Land vermitteln, nachdem Sie die Hoteliers entlastet haben. (Beifall bei der SPD) Die Menschen haben vor allen Dingen ein Recht darauf, von der Bundeskanzlerin zu erfahren, wofür sie einsteht, wofür sie in den eigenen Reihen kämpft. Sie hat es in den vergangenen Wochen und Monaten bei zentralen steuer- und finanzpolitischen Fragen nicht geschafft, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung herzustellen. Genauso ratlos und kraftlos agiert sie in der Bildungspolitik. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Dagmar Ziegler (SPD): Hier ist sie von den eigenen Ministerpräsidenten getrieben. Wenn der dritte Bildungsgipfel kein Flop werden soll, dann sollte die Bundeskanzlerin - das rate ich ihr - eine Reise durch das Land machen und in Dresden, Stuttgart, München und Wiesbaden erklären, wie es weitergehen soll und was sie wirklich von einer Bildungsrepublik Deutschland hält. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Michael Luther für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde das Thema dieser Aktuellen Stunde schon sehr interessant. (Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt!) Ich finde auch ganz interessant, wie sehr sich die Opposition um das Thema Haushaltskonsolidierung kümmert. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wenn Sie es schon nicht tun!) Es ist völlig klar: Die Neuverschuldung ist zu hoch. Davon müssen wir herunter. Die Ursache dafür, warum wir in diesem Jahr 80 Milliarden Euro Neuverschuldung im Haushalt haben, ist klar: Das liegt an der Finanz- und Wirtschaftskrise. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und woran liegt die? - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nee! Eine Milliarde für Mövenpick!) Wenn wir sie nicht gehabt hätten, wären wir hier schon wesentlich weiter. Nach der mittelfristigen Finanzplanung wären wir jetzt bereits bei null. Wir mussten handeln - meines Erachtens ist das allen im Hause klar -, um die schwierige Zeit zu überbrücken. Aber es ist auch klar, dass wir die Neuverschuldung senken müssen. Ich bin froh, dass es in der letzten Legislaturperiode in der Großen Koalition gelungen ist - ich sage einmal: auf Drängen der Union -, die Schuldenbremse ins Grundgesetz aufzunehmen; (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wohl wahr!) denn gerade beim ersten Redner (Zuruf von der LINKEN: Der war sehr gut!) habe ich heute wieder gemerkt, dass es zwar sehr schön ist, staatliche Leistungen zu versprechen - das ist eine wunderbare Sache; mir fällt auch viel ein -, aber natürlich schlecht, wenn das Ganze schuldenfinanziert ist. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ist es doch nicht! - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Griechenland lässt grüßen!) Eine Schuldenfinanzierung geht auf Dauer nicht; denn das schränkt unseren Handlungsspielraum für die Zukunft ein. Diesen Handlungsspielraum brauchen wir jedoch, und deswegen brauchen wir eine Disziplinierung. Ich bin deshalb froh, dass wir die Schuldenbremse haben. Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, sondern für mich das Gebot der Stunde. Ich will es an dieser Stelle einmal klar sagen, weil das manchmal in der Öffentlichkeit falsch ankommt: Dies liegt weder an der Griechenland-Hilfe noch an dem Stabilisierungsschirm für den Euro. Wir müssen in Deutschland den Haushalt sanieren, weil wir Deutschland zukunftsfähig gestalten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Also ran an die Einnahmeseite!) Ich will an dieser Stelle auf eine Aussage von Herrn Steinmeier eingehen, die mich gestern aufgeregt hat. Er hat das Zitat "über die Verhältnisse gelebt" mit der Frage verknüpft, ob der Wachmann oder die Verkäuferin etwa zu viel verdiene. Nein, es ist genau andersherum. Der Wachmann und die Verkäuferin sind diejenigen, die arbeiten und die Steuern zahlen. (Caren Marks [SPD]: Genau das hat er gesagt! Das ist ja unglaublich, wie Sie den Leuten das Wort im Munde herumdrehen!) Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir als Deutscher Bundestag, dass wir als Staat die Steuergelder, die wir von ihnen bekommen, vernünftig und verantwortlich ausgeben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Die Rede von Herrn Steinmeier war so schrecklich, die sollte man nicht zitieren!) und zwar nur so viel, wie wir einnehmen. Herr Kampeter hat erklärt, wie der Zeitplan bis zum Sommer aussieht, bis der Haushalt vorgelegt werden wird, und wie sich die Konsolidierungsziele darin widerspiegeln werden. Es ist natürlich klar, dass in dieser Zeit auch darüber geredet wird, wo man einsparen könnte. In diesem Zusammenhang wird manches Gute und manches nicht so Gute gesagt. Der eine sagt, wo gespart werden soll. Roland Koch hat etwas dazu gesagt; dies teile ich nicht. (Caren Marks [SPD]: Was sagen Sie?) Aber es gibt eine viel größere Anzahl von Leuten, die sagen: Sparen müssen wir, aber nicht bei mir. - Das wird uns nicht weiterführen. Ich halte es für viel besser, ein Gesamtkonzept vorzulegen, in dem dann steht, was alles der Reihe nach gemacht werden wird. (Bettina Hagedorn [SPD]: Wann denn? Das hätte eigentlich schon zum letzten Haushalt vorliegen müssen! - Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch noch nicht einmal eine mittelfristige Finanzplanung hingekriegt!) Es wird vorliegen, wenn die Bundesregierung den Haushalt vorlegt. Dann lohnt es sich auch, intensiv darüber zu diskutieren. Wir werden dann in den Beratungen im Haushaltsausschuss und hier im Deutschen Bundestag genügend Zeit haben, darüber zu reden, ob das, was vorgeschlagen worden ist, vernünftig und gerecht ist, oder ob wir an der einen oder anderen Stelle andere Steuerungsmechanismen einbauen sollten. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ich fürchte, ich kenne das Ergebnis jetzt schon!) Im Übrigen sage ich noch eines: Es lohnt sich, zu sparen. In Sachsen - ich komme aus Sachsen - gibt es seit 1990 Sparhaushalte. Das Ergebnis ist Folgendes: Das, was wir heute in Sachsen nicht an Zinsen zahlen, weil wir dafür keine Schulden gemacht haben, ist genauso viel wie das, was wir für Kinderbetreuung, kommunalen Straßenbau und regionale Kulturförderung ausgeben. Im Verhältnis zum Beispiel zu Thüringen oder Sachsen-Anhalt bezahlen wir, wenn ich es umrechne, in diesem Jahr knapp 1 Milliarde Euro nicht für Zinsen. Das zeigt, dass es sich lohnt, zu sparen, dass man sich damit nicht die Zukunft verbaut, sondern handlungsfähig bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU - Bettina Hagedorn [SPD]: Warum hat die Bundesregierung das nicht beherzigt?) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Letztes sagen. Ministerpräsident Tillich hat gesagt: Mehr Geld macht nicht klüger. Er hat nicht gesagt, dass er im Bildungsbereich kürzen will. Ich will nur eine Wahrheit sagen, die ebenfalls aus Sachsen stammt: Sachsens Bildungshaushalt ist im Vergleich zu denen anderer Bundesländer eher gering. Das Ergebnis der PISA-Studie ist spitze. - Das zeigt, dass viel Geld nicht immer dazu führt, dass etwas besser wird; vielmehr muss man das Geld klug ausgeben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Klaus Hagemann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenige Tage nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen ist der Streit in der Koalition über die Haushaltskonsolidierung öffentlich geworden. Es werden sogar aus der eigenen Partei Rücktrittsforderungen gestellt. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wo haben Sie das denn gehört?) In der nächsten Zeit wird es also interessant werden. Der Druck innerhalb der Koalition ist erheblich. Die Reden der Kollegen Kampeter und Luther haben gezeigt, dass Sie kein Konzept haben. Sie haben zwar wunderschöne blumige Reden gehalten, haben aber nicht konkret gesagt, an welchen Stellen gespart werden muss. Davon war nichts zu hören. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Dann haben Sie nicht zugehört!) Herr Kollege Koppelin, Sie haben nicht einmal das Liberale Sparbuch erwähnt. Es scheint schon im Papierkorb verschwunden zu sein, weil es eh nicht zu verwirklichen ist. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: So? Es ist zu 50 Prozent umgesetzt!) Es geht jetzt darum, einmal die Zahlen zu beleuchten. Sie, diese Koalition hat die höchste Nettokreditaufnahme beschlossen, obwohl es Einsparungsmöglichkeiten gab, die Sie aus taktischen Gründen nicht genutzt haben, damit man, Herr Kollege Koppelin, wenn die Schuldenbremse greift, entsprechend kürzen kann. Die Steuersätze für Hoteliers und entfernte Erben hat man gesenkt, obwohl vorauszusehen war, dass die Steuereinnahmen erheblich niedriger ausfallen werden. Dafür brauchte man nicht den 6. Mai 2010 abzuwarten, als die Steuerschätzung bekanntgegeben wurde. Herr Kollege Koppelin, bis 2014 wird es gesamtstaatlich mindestens 40 Milliarden Euro an Steuereinnahmen weniger geben. Trotzdem wird immer noch von Steuersenkungen gesprochen. Ihre Wahlversprechen werden nicht umgesetzt; sie werden reihenweise eingesammelt. Das müssen Sie vor Ihren Wählerinnen und Wählern verantworten. Da kein Konzept vorgestellt wurde, möchte ich folgende Fragen stellen: Wie viel wird im Verteidigungsressort eingespart? Heute wurde eine Riesensumme in der Presse genannt. Wie viel wird bei der Verkehrsinfrastruktur, also im Verkehrsbereich gespart? Diesbezüglich wurden Hunderte Millionen Euro genannt. Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit hat gestern in der Haushaltsausschusssitzung gesagt: Man kann im Sozial- und Arbeitsbereich nicht einsparen, weil sehr viele Menschen aus dem Regelungsbereich des Sozialgesetzbuches III in den Regelungsbereich des Sozialgesetzbuches II fallen - die Kollegin Bettina Hagedorn hat darauf hingewiesen -, also Hartz IV empfangen werden. Deswegen sind an dieser Stelle erhebliche Mittel notwendig. In Bezug auf die Diskussion innerhalb der Union ist noch Herr Koch zu erwähnen. Die Welt, eine Zeitung, die nicht gerade der Hort der Sozialdemokratie ist, titelt: "Geld für Bildung wird zum Zankapfel der Union". Die Kakofonie in Ihrer Partei ist groß. Ich hoffe, dass Sie bald Lösungen finden. Die Kürzungen im Bildungsbereich sind genannt worden. Hier ist nicht nur Herr Koch in Hessen zu erwähnen, der die Mittel für den Wissenschafts- und Bildungsbereich um 75 Millionen Euro gekürzt hat. Auch in Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden die beitragsfreien Kindergartenjahre gestrichen. Leider ist auch Hamburg zu nennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der Union. Auch bei den Rechtsansprüchen auf einen Krippenplatz ist nicht genügend Vorsorge getroffen worden. Es stellt sich die Frage, warum man die Mittel gerade im Bereich der Bildung kürzt. Ich verstehe, dass unser Bundespräsident über die Äußerungen von Herrn Koch und anderen aus der Union entsetzt ist. Seine Haltung ist durch Pressemeldungen deutlich geworden. Ich frage mich sowieso, wie das 10-Prozent-Ziel im Bildungsbereich überhaupt erreicht werden soll. Gilt das überhaupt noch? Diese Frage richtet sich an den Vertreter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Gilt dieses Ziel noch, wenn die Kommunen und die Länder einsparen müssen und auch der Bund entsprechend vorgeht? (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist die Frage!) Das sind eine Menge Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Sie hätten für eine ausreichende Einnahmebasis sorgen können. (Beifall bei der SPD - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie setzen lieber das Bruttoinlandsprodukt herunter!) Gerade in den letzten zwei Jahren hat sich gezeigt, dass man den Staat nicht verteufeln soll. Man muss vielmehr dafür sorgen, dass der Staat seine Pflicht tun und Ausgleich schaffen kann. Ich möchte das Zitat von Frank-Walter Steinmeier, das Herr Luther eben angesprochen hat, (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das waren doch kluge Worte!) einmal aufgreifen. Herr Steinmeier hat gefragt, wer eigentlich mit "wir" gemeint ist, wenn gesagt wird: "Wir müssen sparen; wir haben über die Verhältnisse gelebt". Ist es der Schüler oder der Student, (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Oder der Abgeordnete Hagemann?) der über seine Verhältnisse gelebt hat, der eine starke Unterstützung, eine gute Schule oder eine gute Universität braucht? Nein, hier sind staatliche Mittel gefordert, damit wir die Zukunft unserer Kinder gewährleisten können. Dazu gehört es auch, die Einnahmeseite im Blick zu behalten, lieber Kollege Fischer, und diejenigen zur Kasse zu bitten, die sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise eine goldene Nase verdient haben. Morgen bei der Abstimmung über das Euro-Hilfspaket haben wir die Möglichkeit, eine Finanzmarkttransaktionsteuer auf den Weg zu bringen. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie verstehen nicht einmal das Wort! - Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Du hast noch zwei Minuten Zeit! Mach doch zwei Vorschläge, wo du sparen willst!) Sie bringt nötige Einnahmen, um für Bildung und Forschung mehr zu tun, als dies bisher geschah. Sie bietet die Möglichkeit, die Versprechen einzuhalten, die gemacht worden sind. Die nächste Chance gibt es beim Bildungsgipfel. Ich hoffe, dass keine schweren Wolken über dem Gipfel aufziehen werden, sondern dass die Bildungssonne scheinen wird. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Klaus Hagemann (SPD): Ich komme zum Ende. - Ihre Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel, lieber Herr Kollege Schirmbeck. Sie steht zur Disposition. Tragen Sie dazu bei, dass sie nicht beschädigt wird. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun der Kollege Florian Toncar für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Toncar (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte ist zu dem geworden, was sie werden musste: eine routinierte Auseinandersetzung, bei der es um kleine politische Geländegewinne geht, und das in einer Woche, in der wir uns alle zusammen etwas anders verhalten sollten, als es in dieser Debatte der Fall ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe von der SPD: Oh! - Bettina Hagedorn [SPD]: Wie wäre es mit einem Spiegel? - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer Sie hätten die Aktuelle Stunde beantragt!) Was sind die Fakten? Der hessische Ministerpräsident gibt ein Interview. Dieses Interview wird auf einen Satz reduziert. Daraus wird ein Streit der Koalition konstruiert, den es in dieser Form nicht gibt. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir kommen die Tränen! - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch Sie müssen das Niveau einhalten, das Sie einklagen!) Die FDP-Fraktion ist wie viele andere der Meinung, dass es nicht sinnvoll ist, in dieser Situation ausgerechnet die Bildungspolitik herauszugreifen, um an die Haushaltskonsolidierung heranzugehen. (Beifall bei der FDP - Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]) - Das ist keine Überraschung, Herr Bockhahn, das wissen Sie genau. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Nein!) Wir sollten etwas redlicher diskutieren. Frau Künast und viele andere haben unter anderem die Rekordneuverschuldung, die unter dieser Koalition entstanden ist, angeprangert. Ich sage Ihnen: Der Schuldenstand dieser Bundesrepublik ist ungefähr seit 1970 von allen Bundesregierungen kontinuierlich - manchmal etwas schneller, manchmal etwas langsamer - aufgebaut worden. Es gibt hier niemanden, der frei von Mitverantwortung ist. (Michael Leutert [DIE LINKE]: Doch! Wir! - Gegenruf des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/ CSU]: Das war jetzt gefährlich!) - Sie sind die Allerletzten, die frei von Verantwortung sind. Das kann man festhalten. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Wir haben eure DDR-Schulden übernommen! - Gegenruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist nichts gegen eure Neuverschuldung in diesem Jahr!) Wir erleben gerade, was passieren kann, wenn Staaten so viele Schulden machen, dass sie mit der Refinanzierung nicht mehr zurechtkommen, dass ihnen das Geld ausgeht, und welche Dramatik und Geschwindigkeit das annehmen kann. Ich glaube, dass die Folgen von dem, was wir in Südeuropa zurzeit erleben, für uns in Deutschland viel weitreichender sein werden, als diese Debatte es bisher widergespiegelt hat. (Beifall bei der FDP - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bedrohen Sie uns jetzt?) In diesem Thema steckt eine Brisanz und, wenn es schlecht läuft, auch eine Dynamik, die wir ernst nehmen müssen. Deswegen müssen wir festhalten: Die Zeiten, in denen Politiker Wählern versprechen konnten, mehr Geld auszugeben, als sie einnehmen, sind auf absehbare Zeit vorbei. Jede Partei, die politisch gestalten möchte, muss sich daran messen lassen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE] - Norbert Barthle [CDU/CSU]: "Alle werden reich"! So dumm ist keiner! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen darüber sprechen, dass unser Staatsverständnis ein grundlegend anderes werden muss und dass der Staat Prioritäten setzen muss. Herr Kollege Bockhahn, ich weiß nicht, ob es wirklich haltbar und klug ist und ob Sie damit das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler gewinnen, wenn Sie beispielsweise beantragen - ich beziehe mich auf die aktuellen Anträge zum Haushalt -, den Einzelplan des Familienministeriums von ungefähr 6 auf ungefähr 15 Milliarden Euro zu erhöhen. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: 17 Milliarden Euro!) - 17 Milliarden Euro, und Sie sind auch noch stolz darauf. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Weil es möglich ist!) Ich glaube, dass die Wählerinnen und Wähler eine andere Art von Politik erwarten. Solche unseriösen Versprechungen müssten spätestens seit dieser Woche der Vergangenheit angehören. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber Sie jonglieren mit Milliarden innerhalb einer Woche und fragen nicht, woher das Geld kommt!) Wir müssen uns - das erlebe ich oft in politischen Diskussionen, Podiumsdiskussionen oder bei Beratungen im Haushaltsausschuss - davon verabschieden, mehr Geld mit politischer Schwerpunktsetzung gleichzusetzen; denn wer mehr Geld gibt bzw. einen Titel erhöht, tut nicht unbedingt Gutes. Vielleicht sollte man auch überlegen, wie man mit dem vorhandenen Geld besser wirtschaften kann, statt die Diskussion immer so zu führen, dass der, der mehr Geld verspricht - was er nachher auch einlösen muss -, der Gute bzw. derjenige ist, der das Thema ernst nimmt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau!) Wir werden mit Sicherheit im Bundeshaushalt 2011 mit einer Vielzahl von Maßnahmen auf die Situation reagieren müssen. Da geht es um die Subventionen. (Michael Leutert [DIE LINKE]: Zum Beispiel Hotelsubventionen abbauen!) Wir als FDP sind beispielsweise der Meinung, dass wir an die Steinkohlesubventionen heran müssen. Wir sind der Meinung, dass es bei bestimmten steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten einen Missbrauch gibt. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel für Hoteliers!) Ich persönlich habe dies zum Beispiel im Bereich der Energie- und Stromsteuer erlebt, wo sich Betriebe in Vergünstigungen hineinbegeben, die ihnen eigentlich nicht zustehen. Das Thema Subventionen ist ein großer Komplex, mit dem wir uns beschäftigen werden. (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) - Herr Trittin, Sie sind doch von der Partei, die auch in der letzten Woche wieder dafür eingetreten ist, dass man Investoren im Bereich Solarenergie Traumrenditen garantiert und das vom Stromkunden bezahlen lässt. Das Thema Subventionsabbau sollten wir uns also alle auf die Tagesordnung schreiben, anstatt ständig das Wort im Munde zu führen und das Gegenteil dessen zu vertreten, wie Sie das tun. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Renate Künast [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten doch Niveau in der Debatte haben! Fangen Sie damit an! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir werden uns sicherlich um das Thema Arbeitsmarkt kümmern müssen, nicht was das Leistungsniveau, aber was die Treffsicherheit und die Effizienz von Eingliederungsleistungen und -maßnahmen angeht. Wir werden uns mit dem Personalbedarf der Bundesagentur für Arbeit (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sonderverträge!) und mit dem Thema Bürokratieabbau, womit wir in der Verwaltung nachhaltig Kosten einsparen könnten, beschäftigen müssen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch im Außenministerium damit an!) Beispielsweise hat die FDP-Fraktion vorgeschlagen, die Wohnkosten im ALG-II-Bereich regional differenziert zu pauschalieren, weil da sehr viel Verwaltungsaufwand betrieben wird und sehr viele Prozesse geführt werden. Diese Themen müssen diskutiert werden. Natürlich können da unterschiedliche Meinungen vertreten werden, auch von Mitgliedern der Parteien, die die Koalition bilden. Es ist völlig verfehlt, jeden Diskussionsprozess sofort als destruktiv oder die Parteien als zerstritten darzustellen. Dafür sind die Probleme zu schwierig. Niemand hat heute alles im Kopf - dies sollte man auch nicht für sich beanspruchen -, was nötig ist, um aus dieser Lage herauszukommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir als Koalition haben den klaren Vorsatz, die Schuldenbremse, die es glücklicherweise im Grundgesetz gibt und die viele im Hause nicht wollten - die Kollegin Nahles hat das Thema Schuldenmachen als Handlungsspielraum bezeichnet; ich kann Ihnen das Zitat geben; das wollen wir nicht -, einzuhalten. Wir werden das tun, weil wir wissen und merken, wie wichtig das Thema Verschuldung für unseren Staat und vor allem auch für unsere Bürger ist. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: 80 Milliarden in diesem Jahr! Super Erfolg!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben die tiefgreifendste Krise des Euro-Raums: zunächst den Ausbruch in Griechenland, inzwischen sind alle Euro-Staaten davon erfasst. Die FDP hat dessen ungeachtet weiter von Steuersenkungen gefaselt, die im Klartext nichts anderes als eine weitere Umverteilung von unten nach oben bedeutet hätten. Genau das ist der Kern des Stufentarifs. Die Kanzlerin rief Sie zurück - spät, ich sage: zu spät. Große Krise! Die Reaktionen der Staaten der Euro-Zone erfolgten über Nacht und ohne Parlamentsbeteiligung. Herr Sanio, Chef der BaFin, erklärte gestern in der Anhörung des Haushaltsausschusses, ohne die Beschlüsse der Nacht hätte er am Montagmorgen nicht aufwachen mögen. Dann wäre die Nach-Lehman-Zeit ein laues Lüftchen gewesen. Die Bevölkerung hat schlicht und ergreifend Ängste. Die häufigsten Fragen, die mir derzeit gestellt werden, egal ob von Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreisbüro oder von Bekannten, lauten: Wie geht denn das jetzt weiter? Was wird mit meinem bisschen Ersparten? Wo soll ich denn mit meinem bisschen Geld hin? Wie kann ich das retten? - Für ein Haus oder so etwas reicht es bei den allermeisten nicht. Die haben natürlich die Erwartung, dass die Regierung - dafür ist sie gewählt - jetzt endlich Antworten gibt, einen Plan hat, damit man das Gefühl hat, dass sie weiß, was sie tut. (Zuruf von der CDU/CSU) Aber Sie agieren nicht, Sie reagieren nur, und das machen Sie völlig kopflos. Bestenfalls kommt ein Flickenteppich dabei heraus, schlimmstenfalls ein Chaos. Das ist Ihre Art der Krisenbewältigung. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) In der Finanzkrise 2008 wurde hier im Parlament Hals über Kopf ein Rettungsschirm für die Banken verabschiedet, (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Der war gut!) aber es herrschte Einigkeit im Parlament, dass es notwendig ist, ein Konjunkturprogramm aufzulegen, dass gerade in dieser Situation die öffentliche Hand die Binnennachfrage ankurbeln muss, indem man den Bürgerinnen und Bürgern etwas Geld gibt, damit sie kaufen können. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Seid Ihr auch für Steuersenkungen?) Das Konjunkturprogramm war antizyklisches und damit richtiges Agieren. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Frau Höll ist für Steuersenkungen!) Jetzt, anderthalb Jahre später, gilt das nicht mehr? Sie haben hier noch vor Wochen verkündet, wie stolz Sie auf Ihr Konjunkturprogramm sind, weil es erwiesenermaßen funktioniert hat. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vielleicht schauen Sie sich einmal die Wirtschaftsdaten an!) Wir hätten es besser gemacht, wir hätten es umfangreicher gemacht, aber es hat funktioniert. Die Arbeitslosigkeit ist einigermaßen begrenzt. Es gibt keine Masseninsolvenzen von Unternehmen. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Dank Engagement auf dieser Seite!) Jetzt gilt das nicht mehr, jetzt brauchen wir das alles nicht mehr? Jetzt ist das europaweit nicht notwendig? Nein, Sie haben europaweit Konditionen durchgesetzt, die krisenverschärfend wirken werden. Das ist schlicht und ergreifend ein Skandal und stellt Sie in die Ecke; denn Sie wissen wirklich nicht, was Sie tun. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Klaus Hagemann [SPD]) Entweder wollen wir nun konjunkturpolitisch wirken oder nicht. Was im eigenen Land gilt, sollte auch europaweit gelten. Deshalb lautet unser Vorschlag, europaweite Konjunkturprogramme einzuführen, wobei jedes Land 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufbringen sollte. Das haben wir gestern ausgeführt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Finanziert vom deutschen Steuerzahler! Na bravo! - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Da werden sich Ihre kleinen Leute bedanken!) Jetzt spielen Sie - unter Ausschaltung des Bundestages - über die Bande, indem Sie sagen, Europa schreibe uns jetzt vor, dass wir sparen müssen. Nein, Sie wollen streichen. In Griechenland haben Sie angefangen. Da haben Sie zum Beispiel die Streichung des Mindestlohnes bei Jugendlichen verfügt; das wurde einfach durchgesetzt. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vertauschen Sie nicht Ursache und Wirkung!) Vor der NRW-Wahl sind Sie zu feige gewesen, zu sagen, wo Sie streichen wollen. Herr Koch übernimmt nun die Vorreiterrolle und sagt, bei der Bildung könne man jetzt streichen. Das ist absolut kurzsichtig. Denn wir wissen: Investitionen in frühkindliche Bildung, in Bildung im Kindesalter vor der Einschulung, in Schulen und Hochschulen zahlen sich doppelt und dreifach aus. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Erzählen Sie das einmal dem Berliner Senat!) Wenn man sie nicht tätigt, schadet man erstens den Kindern und Jugendlichen, vor allem mit Blick auf ihre Zukunft; denn dann fehlt Wissen, das für die Entwicklung wichtig ist. Zweitens wird es teurer. Sie wissen genau, dass dadurch eine Vielzahl sozialer Probleme entsteht, wo wir dann mühsam nachbessern müssen und die wir nie gelöst bekommen. Das ist eine skandalöse Politik, die Sie hier lostreten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind uns einig: Für Investitionen in Bildung kann man Schulden machen. Wir waren gegen diese Schuldenbremse. Wenn ich mich recht entsinne, besteht die Möglichkeit, trotz Schuldenbremse Schulden unter anderem für Bildung aufzunehmen. Herr Kampeter - ich sehe ihn gerade nicht - hat vorhin großartig verkündet, man müsse in die Struktur des Bundeshaushaltes schauen. Ja, gerne. Schauen Sie sich die Zahlen an. Wenn wir heute die Abgaben- und Steuerquote des Jahres 2000 hätten, hätten wir fast keine Neuverschuldung gebraucht. Das ist die Realität. Schauen Sie sich die Struktur des Haushaltes an. Sie haben doch laufend Steuersenkungen verabschiedet. Stichwort Mövenpick: rund 1 Milliarde Euro, das haben wir alles in der Portokasse. So agieren Sie. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Quatsch!) Machen Sie endlich eine gerechte Steuerpolitik bei der Einkommensteuer. Setzen Sie die Körperschaftsteuer bei der Unternehmensteuer wieder hoch; das ist möglich. Sagen Sie endlich, dass die Reichen und Vermögenden nun zur Kasse gebeten werden. Eine erneute Erhebung der Vermögensteuer ist möglich und verfassungskonform. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Nehmen wir doch das Geld, das die SED im Ausland hat!) Durch eine Reform der Erbschaftsteuer könnten wir mehr Geld einnehmen. Diese Anträge liegen auf dem Tisch. Ich bin trotz allem hoffnungsvoll. Ich habe 1997 im Bundestag die Einführung der Tobin-Steuer gefordert. Jetzt haben Sie zumindest bekundet, dass Sie es machen wollen. Sie wissen, dass eine Einführung der Finanzmarkttransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent europaweit etwa 27 Milliarden Euro bringen würde. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Eine Mär!) Das sind Möglichkeiten. Dort ist Geld vorhanden. Deshalb lassen Sie uns endlich handeln und zeigen Sie, ob Sie noch einen Kopf und einen Plan haben oder nicht. Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Koppelin, nachdem Sie acht Monate gebraucht haben, um die finanzpolitische Realität in diesem Land wahrzunehmen, wundert es mich nicht, dass Sie es nicht schaffen, von Montag bis heute zu verstehen, warum diese Aktuelle Stunde beantragt wurde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Sie haben gesagt, dass viele beim Anhäufen des Schuldenbergs mitgemacht haben. Stimmt, das kann ich Ihnen nur zurückgeben. Die höchste Verschuldung ist mit dem Haushalt 2010 eingetreten, an dem die FDP beteiligt war. Durch Ihr Schuldenbeschleunigungsgesetz haben Sie die öffentlichen Kassen zusätzlich belastet, den Bund um 4 Milliarden Euro, Länder und Kommunen um 4 Milliarden Euro. Das ist nach acht Monaten Regierungszeit die Bilanz der FDP in Sachen Schuldenberg. Sie sollten einmal in den Spiegel schauen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Es war falsch, die Haushaltskonsolidierung auf die Zeit nach der NRW-Wahl zu verschieben. Das war nicht nur inhaltlich falsch, sondern auch taktisch. Aber Sie haben ja die Rechnung dafür bekommen, sowohl FDP als auch CDU. Wir haben überhaupt kein Mitleid mit Ihnen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! - Florian Toncar [FDP]: Das musste jetzt noch einmal gesagt werden!) Ich habe ja gedacht, dass Sie die Zeit bis Juni nutzen, um sich zu orientieren, um zu überlegen, was Sie nach der NRW-Wahl machen wollen. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Ich rufe Sie nachher mal an!) Aber nicht einmal das haben Sie geschafft. Jetzt haben Sie folgendes Problem: Es gibt jede Menge Sparvorschläge aus Ihren Reihen, die sich aber widersprechen und sich diametral gegenüberstehen. Herr Meister von der CDU fordert, den Bundeszuschuss an die gesetz-lichen Krankenkassen einzufrieren. Frau Flach und Herr Spahn sind umgehend dagegen. Die Unionsministerpräsidenten Koch und Wulff bringen Steuererhöhungen ins Gespräch. Seehofer sagt, dann würde die Hütte brennen. Herr Barthle will eine Pkw-Maut einführen. Fraktionsexperten der Union, die für Verkehr zuständig sind, zeigen sich skeptisch. Was gilt denn nun eigentlich? Sie haben wirklich acht Monate verschlafen. Das zeigt nicht nur der Bundeshaushalt 2010, das zeigt auch die jetzige Debatte. Sie haben sich nicht vorbereitet. Sie sind völlig orientierungslos, und das schadet diesem Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es ist ein einmaliger Vorgang, dass ein Ministerpräsident aus den eigenen Reihen im Zuge der Haushaltskonsolidierung ausgerechnet zum Sparen im Bereich Kinderbetreuung und Bildung auffordert, und das, obwohl Frau Merkel die Bildungsrepublik ausgerufen hat. Also vom Schwerpunkt zum Sparpunkt! Frau Merkel kann man da nur zurufen: Wer nicht führt, der wird vorgeführt, in diesem Fall von Herrn Koch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Den Angriff auf die Bundeskanzlerin können wir von der Opposition, als Grüne, besonders gut verschmerzen. Das tut uns nicht weh. Aber es geht um die Zukunftsfähigkeit des Landes. Das ist ein Angriff auf die Zukunftsfähigkeit des Landes. Wer an der Bildung spart, hat nicht kapiert, worauf es in diesem Land ankommt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Wir brauchen besser ausgebildete junge Menschen. Wir brauchen weniger Schulabbrecher. Wir brauchen Kinderbetreuungsplätze, damit die frühe Förderung gelingt. Heute Morgen haben wir über Aus- und Weiterbildung diskutiert. Die Hochschulen brauchen mehr Studienplätze und nicht ein Sparpaket, wie es in Hessen Herr Koch ausgerufen hat. All das brauchen wir, damit wir tatsächlich zukunftsfähig sind, damit die Wirtschaft aus der Wirtschaftskrise gut herausfindet, damit wir innovativ sind. Das entlastet den Haushalt auf Dauer. Aber das haben Sie nicht verstanden, und das ist das Problem dieser Regierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir möchten gerne wissen, wie es mit dem 12-Milliarden-Euro-Programm weitergeht. Sie haben groß getönt, dass es keine Sparrunden in Sachen Bildung geben wird. Aber ob, wie geplant, zusätzlich investiert wird, ist noch die Frage. Insofern ist der Haushalt eine Nagelprobe. Darauf werden wir achten. Wir Grüne haben Ihnen schon bei den letzten Haushaltsberatungen Vorschläge unterbreitet, wie es gehen kann. Wir wollen den Haushalt konsolidieren, ja. Wir wollen die Schulden senken, ja. Wir wollen aber auch investieren, wo das notwendig ist, ja. Wir Grüne haben gezeigt, wie das gehen kann. Würden Sie unseren Haushaltsvorschlägen folgen, könnten wir zusätzlich über 5 Milliarden Euro in den Klimaschutz investieren, über 700 Millionen Euro mehr in die Bildung investieren und gleichzeitig 7 Milliarden Euro weniger Schulden machen. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Mit Luftbuchungen!) Auch darauf kommt es an; das haben wir doch jetzt in der Euro-Debatte gesehen. Wir wollen die Einnahmebasis verbreitern und das Steuersystem gerechter gestalten. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Erzählen Sie mal!) So sieht intelligentes Sparen aus. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Intelligenz sieht anders aus!) Der grüne Kompass zeigt in die Zukunft, während Sie orientierungslos im Land herumirren. Wir brauchen eine andere Gestaltung. Wir hoffen, dass dieser grüne Kompass auch Ihnen irgendwann den Weg zeigen wird. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Wie ein Brummkreisel!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Jürgen Herrmann für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, jeder hat dieses Sprichwort schon einmal gehört: Geld regiert die Welt. Auch wenn ich dem nicht vorbehaltlos zustimmen kann, so kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass vieles daran stimmt. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei euch merkt man es aber!) - Bei Ihnen regiert das Geld auch Ihr politisches Handeln, nur in eine Richtung, die uns weiter vor die Wand fahren lässt. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN- Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben uns vor die Wand gefahren!) Ihre Umverteilungsmentalität führt zu nichts außer zu neuen Schulden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der LINKEN) Wir haben in den letzten Wochen erleben müssen, dass die Märkte unberechenbar sind. Mit moderner Technik lassen sich von einer Sekunde auf die andere Milliardenbeträge verschieben. Die Finanzkrise, über die wir seit Monaten diskutieren, ist sicherlich auch ein Ergebnis davon. Durch die Konjunkturpakete, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, die finanziellen Hilfen für Griechenland und Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Finanzstabilisierungsprogramms haben wir Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich bin mir darüber im Klaren, dass diese Stabilisierungsmaßnahmen Geld kosten; dieses Geld ist aber gut angelegt. (Bettina Hagedorn [SPD]: Zur Stabilisierung von Hotels, oder wie meinen Sie das?) Herr Bockhahn und Frau Dr. Höll, es ist richtig, über Konjunkturpakete zu sprechen; aber Sie sollten nicht, wie wir das bei den Beratungen über den Haushaltsplan 2010 erlebt haben, Ausgabensteigerungen fordern, die zu nichts führen, außer dass sie ein noch größeres Ausgabenloch hinterlassen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und wie weiter im Euro-Raum?) Ich bin äußerst zufrieden damit, dass sich die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung ganz deutlich dazu geäußert hat, was sie von den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union fordert. Sie hat auch gesagt, dass auch wir in Deutschland bei der Haushaltskonsolidierung entscheidende Dinge voranbringen müssen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Damit hätten Sie schon 2010 anfangen können!) Ich bin mir sicher, dass es in der Bevölkerung nicht für alle Dinge Verständnis gibt - wir sind zweifellos gefordert -; aber wir werden diese Dinge auf den Weg bringen. Die Haushälter, aber auch die anderen Mitglieder der Koalition sind sich der Erfordernisse und der Auswirkungen durchaus bewusst. Für den Haushalt 2010 hatten wir einen Regierungsansatz von mehr als 325 Milliarden Euro. Wir haben bewiesen, dass wir sparen können: In den Haushaltsberatungen haben wir mehr als 5 Milliarden Euro davon gespart. Das war ein erster Schritt, die Weichen richtig zu stellen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie haben die Arbeitslosenquote abgesenkt, mehr nicht! Gespart haben Sie nicht!) - Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt. (Bettina Hagedorn [SPD]: Was Sie gesagt haben, ist nicht wahr!) Das hat auf der Seite der Fachpolitiker natürlich keinen Jubel hervorgerufen; aber wir sind auf dem richtigen Weg und werden diesen Weg in den nächsten Beratungen fortsetzen. Wir haben eine Schuldenbremse in das Grundgesetz eingebaut. Diese Schuldenbremse wird erstmals 2011 Wirkung zeigen. Strukturelle Einsparungen sind von uns gefordert: Wir müssen in den Haushaltsberatungen mindestens 10 Milliarden Euro einsparen, und das nicht nur im Jahr 2011, sondern auch in den Jahren, die folgen. Diesen Konsolidierungskurs brauchen wir. Hierbei werden uns die Länder unterstützen: Die Länder sind gefordert, bis zum Jahr 2020 ebenfalls ihre Hausaufgaben zu machen. Dabei werden strukturelle Ausgaben zu berücksichtigen sein. Es wird immer davon geredet, dass wir ein Ausgaben- oder Finanzierungsproblem haben. Wenn Sie sich einmal anschauen, wie sich die Steuereinnahmen in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, werden Sie feststellen, dass die Einnahmen des Staates massiv gestiegen sind. Allerdings sind auch die Ausgaben - suboptimal, würde ich sagen - nach oben getrieben worden. Letztendlich wurde mehr Geld ausgegeben, als wir eingenommen haben. Die Opposition verweist immer darauf, dass es Länder in der Europäischen Union gibt, die deutlich weniger Steuereinnahmen haben. Schauen Sie sich dann bitte auch einmal die Standards in diesen Ländern an: Sie sind vollkommen anders. Wir werden in den anstehenden Beratungen über den Haushalt 2011 überlegen müssen, in welche Richtung wir gehen wollen, wo wir sparen müssen, wo Luxus beiseitegeschoben werden muss. (Bettina Hagedorn [SPD]: Mit den Überlegungen hätten Sie schon anfangen können!) Sie haben gefragt, wann wir den Haushalt 2011 vorlegen. Sie wissen doch - Sie waren selbst in der Regierung -: immer vor der Sommerpause. Gestern im Gespräch mit Herrn Schäuble ist noch einmal deutlich gemacht worden: Noch vor der Sommerpause wird es einen Regierungsentwurf für den Haushalt für das Jahr 2011 geben. Damit werden wir Ihnen gemeinsam mit unseren Freunden aus der Koalition aufzeigen, wie wir den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland über die Jahre konsolidieren werden. Das ist keine leichte Aufgabe. Ich lade Sie herzlich dazu ein, sich daran zu beteiligen, und zwar nicht an einer Ausgabenorgie, sondern daran, die Gelder gezielt und klug einzusetzen, damit wir unseren Haushalt konsolidieren können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Bettina Hagedorn [SPD]: Das hat doch schon 2010 nicht geklappt!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat jetzt Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kampeter ist als Sprecher der Regierung ja so gewaltig eingestiegen, als ob er die ganze Welt auf sich gerichtet sah und meinte, man würde auf ihn gucken. Im Tagesspiegel von gestern kann man lesen - ich zitiere -: "Ein Haufen Union". - Man darf hinzufügen: ein Haufen Regierung. Was ist das Problem, weshalb der Tagesspiegel zu dieser Analyse kommt? - Das Problem ist, dass das goldene Dreieck der schwarz-gelben Regierungsphilosophie - es lautete immer: Jede Steuersenkung ist gut, man will auch Leistung für die Bürger und diese möglichst verbessern, und zwar in gewisser Beliebigkeit, siehe Mövenpick, und man will die Haushalte gleichzeitig entschulden - vor die Wand gefahren ist. Weil es vor die Wand gefahren ist, sind Sie jetzt in Unruhe, und Sie wissen nicht mehr, in welcher Richtung Sie noch die Peilung haben sollen. Damit müssen Sie aber fertig werden. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie erleben mich sehr ruhig!) Es gibt Einzelreaktionen, zum Beispiel von Herrn Barthle, den Haushälter, der schon vor der NRW-Wahl meinte, man müsse auch bei der Bildung, der Kinderbetreuung und anderen Dingen kürzen. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Quatsch!) Daneben gibt es den hessischen Ministerpräsidenten, der den Kochlöffel herausholt und einmal kräftig auf den Tisch haut. Außerdem gibt es den Herrn Tillich in Sachsen, der sagt: Es muss bei der Mehrwertsteuer etwas geschehen, weil wir mehr Mittel brauchen. Dies ist die Gemengelage, aufgrund derer Sie sich neu finden müssen und Sie Abschied von Ihrem falschen goldenen Dreieck nehmen müssen; denn das ist nur schwarz-gelb angemalt und blättert sehr - und nicht mehr. Sie werden so nicht mehr durchkommen, und das merken Sie auch selbst. Nächste Beobachtung. Gestern haben wir Frau Merkel und Herrn Kauder gehört. Das sind ja die Autoritäten in diesem Regierungsbündnis, (Heiterkeit der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und es fällt auf, dass von der FDP keine Autorität mehr zu nennen ist. Sie haben in Bezug auf die Bildungsrepublik Deutliches gesagt. Frau Merkel und Herr Kauder haben gesagt: Die 12 Milliarden Euro stehen; das soll ein Markenzeichen werden. - Sie haben auch gesagt: Die 10 Prozent für Bildung und Forschung in 2015 sollen stehen. Es fällt auf, dass das heute hier noch von keinem Sprecher der CDU/CSU und der FDP gesagt worden ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir wissen natürlich, woher das kommt: Die Setzungen der obersten Autoritäten werden gar nicht mehr richtig getragen, Sie erkennen die Autorität von Merkel und Kauder in Bezug auf diese Eckpunkte für die Bildungsrepublik Deutschland in der Zukunft gar nicht mehr an; denn Sie müssen sich daran messen lassen. Aber auch die Autorität von Merkel und Kauder wird daran gemessen, ob bei der Haushaltsklausur herauskommt, dass die 12 Milliarden Euro tatsächlich manifest gesichert sind, und ob beim Bildungsgipfel zwischen dem Bund und den Ländern, der drei Tage später stattfindet, nämlich am 10. Juni 2010, herauskommt, dass die 10 Prozent im Jahre 2015 gesichert und nicht aufgeschoben und nicht diffundiert sind. Das würde dann Autorität bedeuten, die in dieser Regierung vielleicht neu hergestellt werden kann. Heute fällt auf: So weit sind Sie noch nicht. - Sie sind auch deshalb noch nicht so weit, weil sich die Länder und Kommunen, die Sie beteiligen müssen, wenn es um die Veränderung der Republik in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation geht, betrogen fühlen. Sie sind mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz betrogen worden, was nichts anderes als ein Entfinanzierungsgesetz für die Länder und Kommunen war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Totaler Quatsch! Entlastungen für Familien! - Bettina Hagedorn [SPD]: Ein Griff in die Kasse!) Das, was Sie derart aufgebaut haben, ist einfach eine Falle. Ich will das anhand des Bundeslandes Schleswig-Holstein aufzeigen, wo wir auch die Mövenpicks mitfinanzieren mussten und wo die gleiche CDU/FDP-Landesregierung jetzt das beitragsfreie Kindergartenjahr wieder abschaffen musste. Es wurden 35 Millionen Euro an die Hoteliers gegeben und 35 Millionen Euro von den Eltern genommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Sie reden doch wirres Zeug!) An dieser Stelle bekommen Sie die Kurve nicht mehr, wenn Sie nicht zu einem neuen Dreieck kommen. Dieses Dreieck beinhaltet eine Einnahmeverbesserung durch gerechte Steuern und eine Steuerverbesserung. Es geht nicht mehr nur darum, die ermäßigten Mehrwertsteuersätze abzuschaffen. Das hat Hans Eichel versucht, und Sie haben ihn dafür als Steuererhöher denunziert. Ist Herr Tillich ein Steuererhöher? Werden die CDU-Ministerpräsidenten zu Steuererhöhern, (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie einmal, welche Steuern Sie erhöhen wollen!) oder kriegen Sie die Balance hin, was vielleicht vernünftig sein könnte, indem Sie manchen ermäßigten Mehrwertsteuersatz wieder zurücknehmen, damit man mehr Geld für gute, innovative Politik hat? Hierzu gehört aber auch Gerechtigkeit, sodass Sie auch die Reichensteuer einführen und die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer entsprechend erhöhen müssen. Das war das Erste. Zweitens müssen Sie, um zu einem neuen Dreieck zu kommen, die richtigen Prioritäten setzen, und zwar auf Bildung, Forschung und Innovation. Dann können Sie die Haushaltskonsolidierung erfolgreich angehen. Wenn das geschieht, wird dies nicht nur die CDU/CSU, sondern auch die FDP verändern. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vor den Steuererhöhungen hätte ich gerne Sparvorschläge gehört!) Die spannende Frage ist, ob der Umbruch, der jetzt stattfindet, dazu führt, dass Sie sich als Regierung neu erfinden, vielleicht dann auch mit einer neuen FDP. Es gruselt einem manchmal bei der Entschlossenheit, mit der Sie sich bei einer leergelaufenen Ideologie wie in einer Wagenburg sammeln. (Florian Toncar [FDP]: Sagen Sie doch alles, was Sie schon immer mal sagen wollten!) Auch der Koalitionspartner empfindet dieses Gruseln, wenn er die Debatten wie gestern verfolgt. Er merkt nämlich, dass er mit diesem Partner die Einsichten, die er gewonnen hat, gar nicht umsetzen kann. Fazit: Was jetzt ein Haufen Union, ein Haufen FDP und ein Haufen Regierung ist, (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Ein Haufen Rossmann!) hat die Chance, von diesem Haufen zur handelnden Regierung zu werden und damit in die neue Zeit zu finden. Versuchen Sie es! Wir werden Sie dabei gerne treiben. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Alois Karl für die CDU/CSU-Fraktion. Alois Karl (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Diskussion ist von Ihnen bereits gestellt worden, Herr Koppelin. Ich formuliere es positiv: Wir sind eine Regierungskoalition, in der verschiedene Parteien vertreten sind. Die Parteien haben außerordentlich tüchtige Leute, die sich täglich Gedanken machen und auch von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen. Daran finde ich zunächst nichts Schlechtes. Wir sind in diesen Tagen in einer schwierigen Zeit. Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben das in den letzten Tagen vielfach ausgeführt. Sie geben uns Gelegenheit, Grundsätzliches zu diesen Themenbereichen zu sagen. Viele von uns machen sich ihre Gedanken. Es ist gut, dass wir uns in dieser schwierigen Zeit auseinandersetzen. Wir sind, wie gesagt, verschiedene Parteien. Wir sind keine Einheitsfront, und wir haben auch kein einheitliches Sprachregime. Uns geben keine Politbüros vor, was wir zu sagen haben. Ich danke herzlich denen, die sich in den letzten Tagen so sachlich und intensiv an der Diskussion beteiligt haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir haben zwei Hauptaufgaben: Die eine ist Sparen und Konsolidieren. Das ist bereits angesprochen worden. Die andere Aufgabe besteht darin, dass wir investieren müssen, wie es schon in den letzten Jahren der Fall war. Ich wundere mich manchmal, wie die Vergangenheit auch von manchen aus den Reihen der SPD verdrängt wird. Wir hatten doch den größten Konjunktur- und Wirtschaftseinbruch seit Gründung der Bundesrepublik vor mehr als 60 Jahren. Deshalb haben wir einiges machen müssen, was wir eigentlich von vornherein nicht machen wollten, was uns aber aufgedrängt worden ist. Wir haben investiert, statt in die Krise hineinzusparen, wie es in der letzten großen Wirtschaftskrise 1932 der Fall war. Tüchtige Finanzminister, Peer Steinbrück und auch Wolfgang Schäuble, haben mit unserer Unterstützung das Richtige getan. Wir haben durch vielfache Maßnahmen die Konjunktur gestützt, und wir haben in die Menschen investiert. Wir haben viel Geld in die Kurzarbeiterregelung investiert, um die Menschen zu qualifizieren und sie in der Krise nicht hängen zu lassen. Wir wissen, dass 100 000 zusätzliche Arbeitslose Mehrausgaben von 2 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Deshalb war es richtig, dass wir in dieser schwierigen Zeit gemeinsam investiert haben. Lieber Herr Hagemann, auch das sollten Sie in einer Debatte wie dieser durchaus erwähnen; denn wir haben eine gute Leistung vollbracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Klaus Hagemann [SPD]: Stimmt!) Wir müssten uns darüber freuen, dass die Zahl der Arbeitslosen dieses Jahr statt der prognostizierten 4 Millionen nur noch 3,4 Millionen betragen soll. Wir haben eine soziale Politik betrieben, die auch Geld gekostet hat. Jetzt ist das Gebot der Stunde, dass wir uns ans Sparen und Konsolidieren machen. Jeder weiß, dass derjenige, der Einsparungen fordert, zunächst Beifall erhält. Wenn es aber konkret wird und man sieht, dass die Einsparungen einen selber betreffen, dann wird man zurückhaltender. Es war richtig, dass wir die Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen haben und uns damit selber vorgegeben haben, wie wir in den nächsten Jahren haushalten müssen. Wir wissen doch, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben, in der es schon heute mehr über 65-Jährige als unter 20-Jährige gibt. Aus diesem Grunde wird es eine der Hauptfragen sein, welche Reformen, die sich erst in Jahrzehnten auswirken werden und von denen die heute Alten wahrscheinlich nichts mehr haben werden, wir heute machen. Es ist das Gebot der Korrektheit, dass wir den jungen Leuten in unserem Lande Perspektiven geben. Dafür sind wir gewählt, und dafür haben wir Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch den Herrschaften auf den Tribünen muss gesagt werden, dass wir seit 40 Jahren mehr Geld in unserem Lande ausgeben, als wir einnehmen. Das ist in einer gewissen Weise eine unethische Politik. Wir müssen heute zugeben, dass wir alle daran irgendwie beteiligt und irgendwie schuldig waren. Aber es geht nicht darum, die Vergangenheit zu bewältigen, sondern darum, die Zukunft zu gewinnen. Darum sind kleinkrämerische Reden, wie sie heute zum Teil geschwungen worden sind, das völlig verkehrte Mittel, wenn man an diese großen Aufgaben herangehen will. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung wird in der Klausurtagung Anfang Juni die Grundlinien vorgeben und die Weichen stellen. Selbstverständlich haben wir Grundsätze. An Bildung und Forschung wird als Allerletztes gespart; das haben wir gesagt. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Als Allerletztes!) Wir wollen für unsere Kinder sparen, und wir wollen nicht an unseren Kindern sparen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Alois Karl (CDU/CSU): Ich danke für den Hinweis. - Herr Tillich hat recht, wenn er sagt, das Geld könne auch in der Bildung klug eingesetzt werden und niemand sei davor gefeit, heute bessere Gedanken als im letzten Jahr zu haben. Meine Damen und Herren, der eine mag zwar der Koch sein. Aber der Küchenchef sind wir hier im Deutschen Bundestag. Wir werden auf der Grundlage der Vorschläge entscheiden, die wir hier machen. Auch die Opposition ist aufgerufen, sich nicht nur renitent zu verhalten und nicht nur destruktive Vorschläge zu machen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege! Alois Karl (CDU/CSU): Vielmehr sollte sie sich hier an einer Aufgabe beteiligen, die die nächsten Generationen in unserem Lande betreffen wird. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Volkmar Klein von der CDU/CSU-Fraktion. Volkmar Klein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wir im Zuge dieser Aktuellen Stunde gelernt haben, ist, dass Folgendes leider immer noch sehr aktuell ist: Wir brauchen gerade auf der linken Seite dieses Hauses viel mehr Verständnis dafür, dass Haushaltskonsolidierung nun wirklich ein moralisches Gebot, eine moralische Aufforderung im Interesse unserer Kinder ist. Dies ist leider immer noch sehr aktuell, weil es noch längst nicht überall verstanden worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber zugehört haben Sie schon, oder?) Ansonsten habe ich diese Diskussion als ziemlich skurril empfunden. Was werfen Sie uns denn im Kern vor? (Zurufe von der LINKEN) Sie werfen uns doch offensichtlich vor, dass wir es uns in der Vorbereitung der im zweiten Halbjahr zu führenden Diskussionen nicht leicht machen. Aber, meine Damen und Herren, was denn sonst? Natürlich machen wir es uns nicht leicht, weil es abzuwägen gilt. Auf der einen Seite gibt es wichtige Anliegen, für die wir hier Verantwortung haben: Bildung zu stärken, Straßenbau zu organisieren, weil diese Infrastrukturinvestition für unsere Zukunft ebenfalls wichtig ist, unsere Bundeswehr ordnungsgemäß auszustatten, sodass sie wirklich Sicherheit für uns produzieren kann, Verantwortung für andere Länder in Sachen Entwicklungshilfe zu übernehmen. All dies sind doch wichtige Dinge, die abgewogen werden müssen. Auf der anderen Seite haben wir eben auch Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Eben!) Es ist einfach ethisch unanständig, hier so zu tun, als sei nur Ausgeben moralisch einwandfrei, nicht aber Haushaltskonsolidierung. Ganz im Gegenteil! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das, was wir im Hinblick auf die Zukunft und gegenüber den nachfolgenden Generationen für moralisch anständig halten, kommt doch sozusagen aus der Zukunft zu uns zurück. Wir stellen fest, dass auch die Finanzmärkte Zweifel haben, ob künftige Generationen tatsächlich so belastbar sind, wie das in dem einen oder anderen Land im Moment ausgetestet wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: So ein Quatsch!) Vor diesem Hintergrund ist es richtig, nun über eine Haushaltskonsolidierung nachzudenken, und zwar nicht nur deshalb, weil wir sie als Selbstverpflichtung im Grundgesetz verankert haben. Wir müssen sicherlich die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten. Aber wir wollen es auch, weil wir es für richtig und moralisch anständig halten, nicht auf Kosten künftiger Generationen zu leben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deshalb ist es im Grunde auch richtig, einen Wettbewerb - diesen kann man sicherlich ein bisschen leiser oder hinter verschlossenen Türen durchführen, wie der eine oder andere meint - zu starten, bei dem es um die Frage geht, wo wir mit geringstem Schaden weniger Geld ausgeben können. Es wäre schön, wenn man sich dabei nicht renitent verhalten würde, wie mein Vorredner es ausgedrückt hat, sondern wenn ein bisschen konstruktiv mitgedacht würde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen in unserem Land einen Wettbewerb starten, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, wie wir mit unserem Geld mehr erreichen können. Das ist die zentrale Frage, die uns in den nächsten Monaten und Jahren leiten wird. Es wäre schön, wenn wir über die im zweiten Halbjahr dieses Jahres anstehenden Beratungen über den Haushalt 2011 hinaus einen kleinen Beitrag zu einer neuen Kultur der Stabilität, der Zukunftsorientierung und des besseren Abwägens leisten könnten. Das wünsche ich mir. Es wäre diesem Hause angemessen, wenn sich alle daran beteiligten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Die Fraktionen haben sich verständigt, die Sitzung jetzt für etwa zwei Stunden für Fraktionssitzungen zu unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal bekannt gegeben. Die Sitzung ist unterbrochen. (Unterbrechung: 13.42 bis 16.30 Uhr) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP Europa 2020 - Die Wachstums- und Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union braucht realistische und verbindliche Ziele - Drucksache 17/1758 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gabriele Molitor (FDP): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche ist von schwerwiegenden Entscheidungen geprägt, die über die Zukunft unseres Landes und Europas bestimmen. Mit der heutigen Diskussion über die Inhalte und Maßnahmen der Europa-2020-Strategie und der zu verabschiedenden Stellungnahme des Deutschen Bundestages beraten wir, wie Wachstum und Beschäftigung im kommenden Jahrzehnt in der Europäischen Union geschaffen werden können. Die langfristige Ausrichtung ist aber nur dann erfolgreich, wenn wir bei dieser Strategie Prioritäten setzen, Probleme erkennen und gemeinsam handeln. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen benennen wir unsere Vorstellungen, um der Bundesregierung durch das Parlament Handlungsaufträge für den Europäischen Rat am 17./18. Juni 2010 mit auf den Weg zu geben. Die Auswirkungen der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise sind mit ein Anstoß für die Wirtschafts- und Beschäftigungsstrategie. Außerdem soll die Strategie das Konzept sein, wie Europa seine Wettbewerbsfähigkeit in der Welt sichern kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Bundeskanzlerin hat zu Recht bereits in ihrer Regierungserklärung am 5. Mai dieses Jahres erklärt, dass sie sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie wir die neue Wachstumsstrategie verabschieden können, ohne dass in konkreter Form deutlich wird, welche Lehren Europa aus der Krise zieht. Erst gestern sagte sie, dass wir uns, wenn wir Europa positiv entwickeln wollen, an den starken und erfolgreichen Volkswirtschaften orientieren müssen und nicht an den Schlusslichtern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Länder der Europäischen Union sitzen in einem Boot. Das merken wir in diesen Tagen ganz besonders. Deshalb unterstützen wir die Forderung nach einer Abstimmung zwischen einzelnen Langzeitstrategien der Europäischen Union. Es ist wichtig, Kernziele herauszuarbeiten und sich darauf zu konzentrieren. Bisherige Entscheidungen wie die zum Krümmungswinkel von Bananen oder das Kinderwagenverbot auf Rolltreppen gehören nicht in die Zuständigkeit der EU. Sie sind eher das Ergebnis von Regelungswut und rufen bei den Bürgern nur Kopfschütteln hervor. Es geht darum, andere Ziele zu benennen. Um noch einmal mit den Worten der Kanzlerin zu sprechen: Es geht um die Aufgabe, durch eine vernünftige Infrastruktur und Forschungspolitik den europäischen Kontinent zukunftsfest auszurichten. Mit dem vorliegenden Antrag setzen wir diesen Anspruch um und ziehen die richtigen Lehren aus der in vielen Belangen enttäuschenden Lissabon-Strategie. Das sieht auch die Europäische Kommission so. Sie hat wenige wichtige Leitlinien und Kernziele benannt, denen wir uns zum großen Teil anschließen können. Wir werden aber auch darauf achten, dass die Zielvorgaben realistisch sind und sich an der Kompetenzordnung der EU-Verträge ausrichten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Hinblick auf die geplante Reduzierung der Zahl der von Armut Betroffenen kann ich nur davor warnen, Fortschritte bei der Armutsbekämpfung einzig und allein durch eine Übersicht zur Einkommensverteilung abzubilden. Jeder in diesem Hohen Haus ist für soziale Eingliederung und Armutsbekämpfung. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die FDP auch?) - Ich habe gerade gesagt: jeder. Da zähle ich uns mit dazu. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ich wollte ja nur mal nachfragen!) Allerdings lehnen wir, CDU/CSU und FDP, das Ziel einer Armutsrisikoquote, wie sie die Kommission vorschlägt, ab. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ein ausschließlich quantitativ formuliertes Armutsreduktionsziel sagt noch gar nichts über das Wie der Reduktion aus. Die Armutsrisikoquote ignoriert die nichtmonetären Sozialleistungen, zum Beispiel für präventive Maßnahmen, für die Sicherung des Zugangs zu Bildung, zu Kinderbetreuungseinrichtungen und zu Hilfen für Alleinerziehende. Hier ist Klarheit über die Zielformulierung unbedingt notwendig; andere Mitgliedstaaten sehen das im Übrigen genauso. Überdies ist es wichtig, darauf zu achten, dass der sozialpolitische Bereich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Beim Bildungsziel muss es auch darum gehen, die Kompetenzordnung der Mitgliedstaaten zu beachten. Deshalb fordern wir eine objektive Berücksichtigung der speziellen Bildungswege und Bildungsangebote in Deutschland, die vielfach einen dem Hochschulabschluss ähnlichen Abschluss ermöglichen. An dieser Stelle sehen wir auch die von der Kommission vorgeschlagene Quantifizierbarkeit von Bildungserfolgen sehr kritisch. Eine reine Ausrichtung an absoluten Zahlen greift bei der Bewertung des Bildungssystems nach unserer Auffassung zu kurz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die konkrete Umsetzung der Leitlinien und Kernziele der neuen Wachstumsstrategie soll durch nationale Aktionspläne erreicht werden. Mit den in unserem Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen gehen wir in die richtige Richtung; er ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Inhaltlich sind die Berichterstattung zur Europa-2020-Strategie und das auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt gegründete Bewertungsverfahren zwar getrennt. In der Kombination haben wir aber die Möglichkeit, noch stärker auf diejenigen innerhalb der Europäischen Union zu achten, die sich etwas schwerer tun. Wir werden darauf hinwirken, dass die Zusammenarbeit in diesem Bereich verbessert wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Um dabei mögliche Hindernisse zu überwinden und die Ziele von Europa 2020 zu verwirklichen, müssen alle auf EU-Ebene verfügbaren Instrumente und insbesondere der Binnenmarkt in den Dienst der Strategie gestellt werden. Dabei sind die Leitlinien eines innovativen, integrativen und nachhaltigen Wachstums und Wirtschaftens sehr richtig gewählt. Die EU muss jetzt noch intensiver zusammenarbeiten, um sich aus der Krise zu befreien und die richtigen Lehren aus ihr zu ziehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Eva Högl das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Eva Högl (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin bin ich der Auffassung: Dieser Antrag der Koalitionsfraktionen zeigt schwarz auf weiß die Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen in der Europapolitik. (Beifall bei der SPD) Dieser Antrag, meine Damen und Herren, ist erschreckend ideenlos. Es geht bei der Strategie Europa 2020 um die Zukunft der Europäischen Union, um nicht mehr und nicht weniger. Es geht um die Weichenstellungen für unsere Zukunft auf der europäischen Ebene. Gerade jetzt, in der Krise, ist es nicht nur von ganz entscheidender Bedeutung, mit welchen Antworten wir dieser Krise begegnen, sondern auch, welche Lehren wir daraus ziehen. Ich stelle fest, dass die Koalitionsfraktionen bis heute, 20. Mai, keine Vorschläge vorgelegt haben. Die Kommission hat ihre Ideen am 3. März präsentiert, und der Europäische Rat wird abschließend bereits in vier Wochen darüber entscheiden. Aber die Bundesregierung hat nichts vorgelegt, sie hat keine Ideen, und im Gegensatz zu dem, was Sie, Frau Molitor, gesagt haben, hat sie auch keine Lehren aus der Lissabon-Strategie gezogen. In Bezug auf diese so wichtige Strategie zeigen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen genau dasselbe Verhalten, das sie auch in der Krise, über die wir jetzt diskutieren, und mit Blick auf das Stabilisierungspaket, über das wir morgen zu entscheiden haben, an den Tag legen. Verzögern und sich weigern, zu gestalten, das ist das Motto der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen. (Beifall bei der SPD) Die SPD hat dagegen bereits Anfang März, noch bevor die Kommission ihre Vorstellungen präsentiert hat, einen umfassenden Antrag vorgelegt. Es lohnt sich, den Antrag zu lesen und zu studieren. Darin machen wir nämlich sehr deutlich, wohin wir auf dem Weg nach Europa wollen; da wird klar, dass wir im Gegensatz zu Ihnen Konzepte für Europa haben. Am deutlichsten wird die Ideenlosigkeit, wenn man sich anschaut, wie Sie mit den fünf Kernzielen umgehen, die die Kommission vorschlägt: Drei davon werden abgelehnt, nämlich die wichtigen Ziele in den Bereichen Bildung und Forschung, Armut und Beschäftigung. Diese Ziele werden mit, wie ich finde, fadenscheinigen Argumenten abgelehnt. Bei der Armutsbekämpfung verschanzt man sich hinter der Begründung, es gebe keinen geeigneten Indikator, um die Armut zu messen. Es geht hier aber nur darum, ob wir die Armut auf europäischer Ebene bekämpfen wollen, ob wir dies endlich zu einem wichtigen Ziel machen wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht auf europäischer Ebene nur um den Willen. Es geht darum - Stichwort "Krise" -, mit welchen Botschaften aus Europa wir unseren Bürgerinnen und Bürgern begegnen. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Akzeptanz der Europäischen Union und die Gestaltung unserer Demokratie. Das heißt für mich, dass es nach der Lissabon-Strategie und nach dieser Krise kein Weiter-so geben kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können so nicht weitermachen. Deswegen brauchen wir keine Plattitüden dergestalt: Wenn die Wirtschaft läuft, dann funktioniert das schon mit der Sozialpolitik. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das ist nun mal die Grundlage!) Das reicht nicht aus. (Beifall bei der SPD) Wir müssen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik eigene Akzente setzen. Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik, eine bessere Beschäftigungspolitik und eben auch die klare Ansage, dass wir auf europäischer Ebene die Armut bekämpfen und reduzieren wollen. Meine Damen und Herren, wir brauchen auch eine bessere Koordination, und zwar nicht nur der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern gerade auch der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Wir sehen bei der Debatte über die Krise, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir uns dahinter verschanzen - das machen Sie mit Ihrem Antrag -, dass doch die Kompetenzen der Mitgliedstaaten zu wahren seien. Wir brauchen in dieser Krise mehr Europa und mehr Abstimmung auf europäischer Ebene. (Beifall bei der SPD - Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wollen Sie Lissabon infrage stellen?) Wir wollen eine Ergänzung des Wachstums- und Stabilitätspakts - das ist dringend erforderlich - um einen sozialen Stabilitätspakt. Wir halten es für dringend erforderlich, ein solches Signal zu setzen. Gerade jetzt, in dieser Krise, wird deutlich, dass wir im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik Leitlinien festlegen und Ansagen machen müssen. Mich erstaunt besonders, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen sogar hinter den Aussagen der Bundesregierung zurückbleibt. Die Bundesregierung hat nämlich in den Debatten, die wir geführt haben, immer gesagt, dass sie sich sehr wohl zu den Zielen bekennt und Überlegungen anstellt, wie man die Umsetzung ausgestalten kann. Ihr Antrag besagt jetzt, dass Sie diese Ziele auf keinen Fall unterstützen wollen. Das wundert mich doch ein bisschen. Da wird, wenn ich das noch einmal sagen darf, die Ideen- und Konzeptlosigkeit ganz deutlich. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So viel zum Thema Plattitüden! - Gegenruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten mal auf Ihre Rede, Herr Wadephul!) - Herr Kollege Wadephul, keine Plattitüden, sondern klare Aussagen. Sie haben keine Konzepte für Europa, keine Konzepte für Deutschland. Deswegen sage ich an dieser Stelle deutlich: Schauen Sie sich an, was die SPD formuliert hat! Wir stellen weder, wie Sie eben eingewandt haben, den Lissabon-Vertrag infrage noch wollen wir Europa auf den Kopf stellen. Wir wollen vielmehr Europa auf die Füße stellen. Wir wollen auf europäischer Ebene gute Politik machen. Wir wollen eine gute Nachfolgestrategie für die Lissabon-Strategie entwickeln. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir Europa gestalten und für die Bürgerinnen und Bürger deutlich machen, wohin der Weg geht. Da haben wir etwas Gutes vorgelegt. Vielleicht kann sich der Deutsche Bundestag dazu durchringen, den wundervollen Antrag der SPD zu beschließen, (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Oh Gott! Wenn man sich schon selber loben muss!) nicht Ihren von Substanzlosigkeit und Ideenlosigkeit geprägten Antrag, den Sie uns heute, vier Wochen vor der entscheidenden Beschlussfassung im Europäischen Rat, hier präsentieren. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht so recht, ob man eigentlich weinen oder lachen soll. (Dr. Eva Högl [SPD]: Lachen! Bei Ihrer Politik weinen!) - Ich will Ihnen gleich erklären, worum es mir geht und was mich berührt. Sie sprechen von Ideenlosigkeit, Sie weisen auf die historische Stunde hin, in der sich die Europäische Union in der Tat befindet, Sie sprechen von entscheidenden Weichenstellungen, vor denen wir in Europa stehen. Dann müssen wir aber feststellen: Die sozialdemokratische Fraktion wird sich morgen bei der Abstimmung über das Euro-Rettungspaket enthalten. Wenn hier jemand vor Europa versagt, dann sind Sie das. Sie sitzen hier im Glashaus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn hier die letzten Monate europapolitisch versagt? - Zuruf von der SPD: Versagt hat Ihre Koalition!) Sie geben Ihre europapolitische Glaubwürdigkeit auf, wenn Sie in einer solchen Krisensituation nicht bereit sind, unsere Währung und damit die Idee einer politischen Einigung Europas zu retten. (Beifall bei der CDU/CSU - Ute Kumpf [SPD]: Sie können unserem Entschließungsantrag doch zustimmen!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Tat braucht Europa nicht nur angesichts der von Frau Kollegin Molitor bereits vollkommen zu Recht erwähnten Regelungswut - der Krümmungsgrad der Banane ist erwähnt worden -, sondern auch in dieser Zeit der Währungskrise sowohl Unterstützung als auch eine positive Vision. Ich halte dies für das Gute an dieser Strategie, das wir unterstützen sollten und weshalb wir uns auch zu ihr bekennen. Europa darf nicht nur mit Regelungen identifiziert werden, Europa darf gerade in der jetzigen Situation nicht nur mit Krise und mit notwendiger Hilfe für Staaten identifiziert werden, die sich derzeit in einer schwachen währungspolitischen Situation befinden. Europa braucht auch eine Wohlstandsperspektive; nur dann werden die Menschen zu Europa stehen. Deswegen ist diese Strategie wichtig und gut, und deswegen unterstützen wir sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum anderen steht darin in der Tat mehr als Armutsbekämpfung, obwohl diese auch wichtig und in der jetzigen Situation gerade aufgrund der Währungskrise sehr richtig und sehr notwendig ist. Denn Wachstum und Beschäftigung sind die Grundlage dafür, dass es den Menschen gut geht, dass sie Geld verdienen, dass der Staat Steuereinnahmen hat und dass die Staaten, die sich ja alle - so auch wir; die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen - in einer schwierigen finanzpolitischen Situation befinden, aus diesem Schuldenturm wieder herauskommen. Nur, allein mit Sparen wird dies nicht gelingen. Wir brauchen Wirtschaftswachstum in ganz Europa, und deswegen ist auch dieser Ansatz richtig, und wir unterstützen ihn. Wir mischen uns nun, Frau Kollegin Högl, um auf das einzugehen, was Sie gerade gesagt haben - Sie haben Ihren eigenen Antrag dazu "wunderbar" genannt; dazu sage ich gleich noch zwei, drei Sätze -, in einer relativ späten Phase in die Diskussion ein. Es ist nicht so, dass alle anderen Mitgliedstaaten darauf warten, dass Deutschland jetzt einen ganz neuen Entwurf vorlegt. Vielmehr hat die Kommission etwas vorgelegt; darüber wird diskutiert. Gestern hat uns das Wirtschaftsministerium gesagt, wie weit der Konsens schon vorangetrieben ist. Deswegen ist unser Antrag genau die richtige Antwort, weil wir an den Vorschlag der EU-Kommission anknüpfen und an der einen oder anderen Stelle in der Tat Hinweise geben, die sich von Ihrer Politik unterscheiden. Es ist vollkommen illusionär, jetzt Politikbereiche einzubeziehen, die Sie genannt haben, bei denen keiner der anderen Mitgliedsstaaten daran denkt, sie in einer Strategie zu verarbeiten, etwa die Bildungspolitik. Die Bildungspolitik gehört nicht zum Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union - die Bildungspolitik ist noch nicht einmal nationales Recht in Deutschland; sie gehört in die Länderhoheit -, und deswegen ist es völlig falsch, nun den Eindruck zu erwecken, als wäre es eine der vornehmsten Aufgaben dieser EU-Strategie, Bildungspolitik auf die europäische Ebene zu heben. An dieser Stelle verwechseln Sie Äpfel mit Birnen. Das gehört dort einfach nicht hin, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Eva Högl [SPD]: Da hat das Wirtschaftsministerium aber etwas anderes gesagt!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strengmann-Kuhn? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ja, ich gestatte die Zwischenfrage. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Wir haben im Arbeits- und Sozialausschuss bereits über dieses Thema diskutiert. Dort haben Sie die Position vertreten, dass es bei der EU-2020-Strategie nicht nur nicht um Bildungspolitik geht, sondern auch nicht um Sozialpolitik. Könnten Sie hier einmal erklären, ob Sie immer noch dieser Meinung sind? Im letzten Drittel geht es ja um sozialpolitische Ziele, die schon in der Lissabon-2010-Strategie enthalten waren, so die offene Methode der Koordinierung und Ähnliches. Sind Sie also immer noch der Meinung, dass die sozialpolitische Dimension, die in der EU-2020-Strategie unter der Überschrift "Integratives Wachstum" angesprochen wird, nach wie vor keine Rolle spielt? Wenn Sie dieser Meinung sind, könnten Sie das dann auch einmal begründen, angesichts des Widerspruchs zu dem, was eigentlich in der Strategie, in dem Vorschlag der EU-Kommission steht? Wäre es jetzt nicht eigentlich auch für diese Bundesregierung an der Zeit, zu verdeutlichen, dass sozialpolitische Ziele neben Wachstumszielen durchaus Ziele der Europäischen Union sind, wohl wissend, dass es bei deren Umsetzung um die Subsidiarität der Mitgliedstaaten geht? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ich bin dankbar, dass ich das aufklären kann und dass Sie, sicherlich völlig unabsichtlich, mich und meine Fraktion falsch verstanden haben. Niemand ist - das ist hier mehrfach betont worden - gegen Armutsbekämpfung. Vielmehr ist das ein Ziel, das uns politisch wohl über alle Fraktionsgrenzen und politischen Grenzen hinaus eint. Die Frage ist nur: Wie geht man mit dem Thema um? Dazu möchte ich drei Punkte ansprechen. Erstens. Die Kollegin Molitor hat hier - ich möchte das nicht wiederholen - eindrücklich nachgewiesen, warum die sogenannte Armutsrisikoquote, die bisher von der EU-Kommission genannt worden ist, völlig ungeeignet ist, um die Armut eines Landes zu messen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war gar nicht meine Frage!) Sie haben uns bisher immer vorgeworfen, dass wir diesen Indikator ablehnen. (Ute Kumpf [SPD]: Sie müssen zuhören! - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gefragt! Sie müssen mir zuhören!) - Entschuldigung, aber das ist in der öffentlichen Diskussion der Fall gewesen. Wenn Sie Wert darauf legen, dass ich antworte, sollten Sie mir Gelegenheit geben, das zu tun. (Ute Kumpf [SPD]: Thema verfehlt!) Sie können hinterher bewerten, ob es Ihnen ausreicht, aber ich würde gerne versuchen, das auszuführen. (Ute Kumpf [SPD]: Dann müssen Sie aber auch zuhören!) Dieser Indikator ist, wie gesagt, völlig ungeeignet. Zweitens. Niemand hat bisher einen anderen brauchbaren Indikator dafür gefunden. Drittens. Es ist schlicht und ergreifend so, dass man Armut immer nur dann verringern kann, wenn es Wachstum und Beschäftigung gibt. Denn nur dann sind Staaten in der Lage, sozialpolitisch zu handeln. Arbeit ist nun einmal die beste soziale Maßnahme. Dafür setzen wir uns ein. Daraus muss man die Kraft schöpfen, sozialpolitisch tätig zu sein. Das ist unsere Philosophie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich warte noch immer auf die Antwort!) Ich bin dankbar, dass Sie das Subsidiaritätsprinzip erwähnt haben. Ich möchte es an dieser Stelle noch einmal erwähnen, weil es für uns in der Tat ein wichtiger Aspekt ist. Ich möchte Ihnen das einmal entgegenhalten - Sie können sich gerne auch andere Politikbereiche anschauen -: Würden Sie sich von den Dänen vorschreiben lassen, wie man ein gutes Kündigungsschutzrecht verfasst? Würden Sie sich das von den Dänen sagen lassen? (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dänen lügen nicht!) Die Dänen haben nämlich gar kein Kündigungsschutzrecht. Wollen Sie sich von den Briten vorschreiben lassen, wie das Mitbestimmungsrecht, das wir haben und auf das wir stolz sind - Montanmitbestimmung und alles, was dazugehört -, auszusehen hat? Die haben nämlich keines. Kaum ein Land hat es. Diese Beispiele zeigen, dass Subsidiarität auch bedeuten kann, dass Deutschland - das ist vollkommen richtig; dahinter stehen wir auch - eine andere Sozialpolitik macht als andere Länder. Deswegen ist das Subsidiaritätsprinzip richtig und muss gelebt werden. Es darf nicht gleich bei der ersten Strategie, die wir nach dem Lissabon-Vertrag verabschieden, konterkariert werden. Damit führen wir die europäische Idee ad absurdum. Das tragen wir nicht mit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Letzte Bemerkung: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist wichtig und muss verschärft werden; darauf hat Wolfgang Schäuble in der letzten Debatte am Freitag vor zwei Wochen hingewiesen. Es darf nicht zu einer Verquickung dieser Strategie mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt kommen. Denn dieser Pakt ist ein wichtiger und immer wichtiger werdender Pfeiler der Europäischen Union. Deswegen lehnen wir alle Vorschläge ab, die darauf abzielen, aufgrund der vermeintlichen Verwirklichung der EU-2020-Strategie auf Kriterien der Stabilität zu verzichten, wie das die spanische Ratspräsidentschaft Anfang des Jahres angedeutet hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Zapatero hat dazugelernt. Er hat hinzugelernt, dass er seine Haushalte in Ordnung bringen muss. Nur so wird ein Schuh daraus. Man muss das eine tun und darf das andere nicht lassen. Die EU-2020-Strategie ist richtig. Stabilität ist aber noch wichtiger. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Alexander Ulrich das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürgerinnen und Bürger am Bildschirm müssen wirklich glauben, dass wir hier eine Debatte im Tollhaus führen. (Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Ja! Seit etwa 20 Sekunden!) Europa weiß nicht, was morgen ist. Wir wissen nicht, ob sich das, was die Bundeskanzlerin angedeutet hat, bewahrheiten wird. Wir machen uns Gedanken, wie Europa 2020 aussehen könnte. Das nimmt uns keiner ab. Es kommt einem so vor, als würde ein Haus lichterloh brennen, sich aber CDU/CSU, FDP und die Kommission in Brüssel darüber Gedanken machen, ob man das abgebrannte Kinderzimmer renovieren sollte. (Beifall bei der LINKEN) Unsere Auffassung ist folgende: Wir als Bundestag sollten die Kommission auffordern, die EU-2020-Strategie als Fortsetzung der Lissabon-Strategie nicht zu beschließen. Wir sollten uns vielmehr zuerst um die Krisenbewältigung kümmern, und zwar unter sozial gerechten Gesichtspunkten. Wir sollten uns dann möglicherweise im Jahre 2011 darüber Gedanken machen, wie man Europa in kleineren Schritten über vier oder fünf Jahre so gestalten kann, dass sich solche Krisen, wie sie uns zurzeit in immer kürzeren Abständen einholen, nicht wiederholen. Deshalb wäre es gut, wenn wir uns über Anträge unterhielten, die die Kommission dazu verpflichteten. (Beifall der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE]) Bei dem, was Sie hier vorbringen, merkt man, dass Sie nicht zurückblicken und sich fragen, warum die Lissabon-Strategie gescheitert ist. Zur Verdeutlichung: Wachstum und Forschungsausgaben sind nicht, wie geplant, gestiegen. Gewachsen hingegen ist die Zahl der Beschäftigten in Europa, die für einen Hungerlohn arbeiten, gewachsen ist auch die Armut und insbesondere die Kinderarmut. Es ist fatal, dass sich CDU/CSU und FDP überhaupt nicht darüber verständigen wollen, wie man Armut bekämpfen kann. Man will auch keine Zahlen mehr nennen. Man möchte nur noch lose Formulierungen hineinschreiben; dabei haben lose Formulierungen dazu beigetragen, dass die Lissabon-Strategie gescheitert ist. Deshalb dürfen wir so nicht weitermachen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Grundideen der Lissabon-Strategie waren Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung. Daran gemessen ist die Strategie natürlich nicht gescheitert; denn es wurde eine Umverteilung vollzogen. An der Privatisierung haben sehr viele, auch die Konzerne, sehr gut verdient. Für diese, für die Sie Lobbypolitik betreiben, war die Lissabon-Strategie ein voller Erfolg; aber für die Masse der Menschen ist der Begriff "Lissabon" verbunden mit Sozialabbau, schlechteren Lebensverhältnissen, prekärer Beschäftigung, Kinderarmut und auch damit, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer geworden sind. Das muss man deutlich zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der LINKEN) Zur Klarstellung: In Deutschland hat damals der Arbeitsminister Müntefering gesagt: Die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie sind die Agenda 2010 und Hartz IV. Mit europäischem Rückenwind ist sozusagen der größte Sozialabbau in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen worden. Das muss man deutlich sagen. Frau Högl, manchmal ist es gut, Sie von der SPD und auch die Grünen daran zu erinnern, dass Sie dafür verantwortlich waren und nicht die jetzige Regierung. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Eva Högl [SPD]: Wir haben gute Politik gemacht!) Einer der Hauptwidersprüche der Europa-2020-Strategie ist folgender: Auf der einen Seite will man intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum schaffen, auf der anderen Seite soll strikt gespart werden, um die durch die Bankenrettung und Wirtschaftskrise aufgetürmten Schulden abzubauen. Diesen Grundwiderspruch löst man sicherlich nicht dadurch, dass man, wie im Antrag von CDU/CSU und FDP vorgelegt, lapidar fordert, man müsse einfach beides machen: die Strategie umsetzen und sparen. Lassen Sie mich den Widerspruch anhand der drei Oberziele der Strategie - intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum - deutlich machen. Intelligentes Wachstum soll durch Innovation und Bildung erreicht werden. Aber wie soll das ohne Geld bzw. trotz Spardiktaten wie in Griechenland funktionieren? Nachhaltiges Wachstum kann nicht nur durch Marktanreize erreicht werden, nötig sind auch Investitionen in die Klima- und Energiewende, und auch das kostet bekanntermaßen Geld. Der Widerspruch zwischen Haushaltskonsolidierung und integrativem Wachstum, dem dritten Oberziel der neuen Strategie, lässt sich derzeit am Beispiel Griechenland in aller Härte studieren. Der Sparplan von EU und IWF, der dem Land aufdiktiert wurde, sieht unter anderem Folgendes vor: die Kürzung von Gehältern und Renten, die Einschränkung der Tarifautonomie, die Lockerung des Kündigungsschutzes, Kürzungen im Gesundheitswesen sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. All diese Maßnahmen treffen vor allem die kleinen Leute, von sozialer Integration keine Spur. In Spanien und Portugal sieht es nicht anders aus. Gespart wird bei den Rentnerinnen und Rentnern, bei jungen Eltern und im öffentlichen Dienst. Einer Sache können wir uns sicher sein: Diese unsozialen Sparmaßnahmen bleiben nicht auf Griechenland, Spanien und Portugal beschränkt. Sie stellen eine Blaupause für die gesamte EU dar, und damit auch für Deutschland. Deshalb ist die EU-2020-Strategie falsch. Sie will das fortsetzen, was mit der Lissabon-Strategie grandios gescheitert ist. Ich fordere alle Fraktionen des Bundestages auf: Fordern Sie die Kommission in Brüssel auf, die Strategie dorthin zu tun, wo sie hingehört, nämlich in den Mülleimer. Lassen Sie uns die Krise bewältigen, aber nicht durch Sozialabbau und unter dem Diktat von Haushaltskonsolidierung. Wir brauchen ein Zukunftsinvestitionsprogramm, damit Wachstum generiert werden kann. Durch Sparen entsteht kein Wachstum. Durch Sparen verringert man auch nicht die Armut. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit dem Thema Armutsrisikoquote. Es gibt ein Argument, das man Ihnen vorhalten muss, meine verehrten Damen und Herren von der Koalition: Es wäre nicht so schlecht, wenn die Koalition grundsätzlich in dem Ziel übereinstimmen würde, dass wir uns in Europa verbindlicher auf Standards einigen müssen und dass das nicht nur im Stabilitäts- und Wachstumspakt passieren kann, wo es auch passieren muss, sondern auch in den Bereichen, die mit entscheidend dafür sind, wie starke wirtschaftspolitische Koordinierung - oh, welch Wunder, kein Einspruch von der FDP; Zitat aus dem EU-Vertrag - geschehen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man fragt sich ja, warum Sie sich dagegen wehren, das in Ihren Antrag hineinzuschreiben. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Punkt 6!) Sie sagen, die Indikatoren sind Quatsch. Hier könnte man zwei Argumente aufzählen. Erstens. Ich habe auch in Ihrem Antrag keine Vorschläge dafür gelesen, wie man das trotzdem quantitativ bemessen kann und möchte. Zweitens. Diesen Indikator - 60 Prozent des Median-einkommens -, den Sie infrage stellen, nutzt die Bundesregierung seit Jahren selber, weil, zumindest wenn man eine Statistik an Maßstäben berechnen möchte, die von manchen deutschen Instituten nicht genommen werden, es in der Statistik vielleicht besser aussieht, selber die Lage darzustellen. Also fangen Sie hier keine Scheindebatte an. Das Armutsziel in der 2020-Strategie zu verankern, ist richtig und wichtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man kann sich fragen, warum. Wir haben ja gerade das Problem, das Herr Ulrich angesprochen hat, nämlich dass sich die Menschen fragen, wo eigentlich das soziale Gesicht der Europäischen Union in dieser Krise ist. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ist das Ihr Part in der Europapolitik?) Der Vertrag von Lissabon enthält ein soziales Versprechen, das Versprechen vom sozialen Fortschritt und von sozialer Wohlfahrt. Diesem Versprechen müssen wir gerecht werden. Herr Wadephul, ich arbeite gerne mit Herrn Ulrich zusammen, vielleicht nicht in einer Koalition, aber sonst parlamentarisch, aber wenn Sie meinen, dass Herr Ulrich widerlegt werden muss, dann sollten Sie einmal etwas in dem Bereich tun, anstatt immer nur zu blockieren und zu bremsen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da sind wir schon bei einem wunderbaren Beispiel der aktuellen Debatte: blockieren und bremsen. Ihre Fraktionen betreiben doch eigentlich eine Vogel-Strauß-Politik, und zwar sowohl bei der EU-2020-Strategie als auch bei der gesamten Krisenbewältigung. Wir brauchen jetzt mehr Koordination in der Wirtschaftspolitik zwischen den Staaten. Wir brauchen mehr Governance. Wir brauchen verbindliche Zielerreichungen. Entschuldigen Sie, wenn ich es so sagen muss, aber das Einzige, was uns jetzt noch aus der Krise führt, ist, einerseits im Rahmen des Stabilitätspaktes auf Schuldenabbau zu setzen und für gesunde öffentliche Finanzen einzustehen und andererseits für verbindliche wirtschaftliche Koordinierung zu sorgen. Aber mit welchen Instrumenten? Zum Beispiel mit dem Instrument der integrierten Leitlinien und mit dem Instrument der nationalen Reformprogramme, die verbindlicher geregelt werden sollten. Auch diese Vorschläge sollte Herr Schäuble morgen in Brüssel vortragen, wenn Sie etwas machen wollen. Wer aber die EU-2020-Strategie nur mit Bremsen und Blockieren begleitet, wird keinen Weg aus dieser Krise heraus aufzeigen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ich dachte, er hätte sich gemausert!) Ich muss noch etwas zum Thema Bildungsziel sagen. Ich finde, man sollte sich, wenn man eine anspruchsvolle Politik betreiben möchte, nicht hinter dem deutschen Föderalismus verstecken. Nach dem, was ich in der Vorbereitung auf die heutige Debatte erfahren habe, ist es sogar so, dass inzwischen im Bildungsrat für den Bereich Bildung und Forschung mit der Zustimmung der Bundesregierung ein Bildungsziel konzertiert wurde. Warum wettern Sie hier eigentlich noch so dagegen? Finden Sie, Ihre Bundesregierung hat in Brüssel mal wieder nicht gut genug verhandelt? Oder finden Sie, dass das sachlich Quatsch ist? Dann sollten Sie aber in Ihrem Antrag andere Schwerpunktsetzungen vornehmen und das tun, was wir auch machen, nämlich die Bundesregierung zu Recht kritisieren. Ich habe bereits gesagt - andere Redner der Opposition auch -, die EU-2020-Strategie sollte geschärft und noch ehrgeiziger werden. Das gilt auch für den Bereich Klimaschutz und Energie. Das gilt für den Bereich Governance. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie sollte gestoppt werden!) - Entschuldigung, die Kollegin von der SPD hat das gesagt. Da hatten Sie - das muss ich zugeben - unrecht, Herr Ulrich. Wir setzen uns dafür ein, dass die Strategie im Sinne des Green New Deal ausgestaltet wird, das heißt nachhaltiges Wachstum, sparsamer Umgang mit Ressourcen, kluge, zukunftsweisende technologische Innovationen in Bildung, in Forschung, im Sozialen, in Kultur, um endlich den anscheinenden Gegensatz zwischen Herrn Wadephul und Herrn Ulrich, der so gar nicht existiert, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit seien ein Gegensatz, aufzulösen. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Da gibt es schon noch einen Unterschied! Jetzt ist langsam Schluss!) Sie mit Ihrem Gerede von Wachstum haben uns auch nicht in eine Situation geführt, die uns jetzt ganz besonders gut dastehen lässt. Wenn man wirklich nachhaltig wachsen will, dann muss man in die Zukunft investieren. Daran führt kein Weg vorbei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Letzter Satz. Ich habe das Gefühl, Sie behandeln die Strategie EU 2020 wie ein Schüler, der versucht, den Lehrer davon zu überzeugen, weniger Hausaufgaben aufzugeben. Aber auch in der Brüsseler Klasse landet man so nicht unter denen mit den besten Noten, sondern gilt als Problemschüler. Das finde ich schade. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der Kollege Thomas Silberhorn hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn nun die Europäische Union eine neue Strategie für Wachstum und Beschäftigung 2020 vorlegt, dann ist das vielleicht nicht beabsichtigt gewesen, aber durchaus sinnvoll, dass wir jetzt im Zusammenhang mit der aktuellen Krise auf den Finanzmärkten darüber diskutieren dürfen. Denn die beiden Themen hängen enger miteinander zusammen, als man auf den ersten Blick wahrhaben will. Eine stabile Währung, Preisstabilität ist die Grundlage für mehr Wachstum in Europa. Andererseits erleichtert wirtschaftliches Wachstum, das Hauptziel dieser Strategie EU 2020 zu erreichen, nämlich die öffentliche Verschuldung abzubauen und zu soliden Staatsfinanzen zurückzukehren. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir über beides im Zusammenhang diskutieren können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Nun hat diese Strategie eine Vorläuferin in der sogenannten Lissabon-Agenda, die den Binnenmarkt zum weltweit wettbewerbsfähigsten Raum machen wollte. Wir können heute feststellen, dass diese Zielsetzung gut gemeint war, aber grandios gescheitert ist. Deswegen muss es nicht verkehrt sein, eine neue Strategie zu Papier zu bringen, die auf Wachstum und Beschäftigung fokussiert ist. Im Gegenteil: Es ist durchaus zu begrüßen, dass wir uns darauf konzentrieren, bei unseren wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Zielen Prioritäten zu setzen und nationales und europäisches Handeln besser miteinander zu verzahnen. Dabei muss gelten: Diese Ziele und Prioritäten, auf die wir uns in der Europäischen Union verständigen wollen, müssen sich im Rahmen der geltenden Kompetenzordnung bewegen. Sie müssen einer Subsidiaritätsprüfung standhalten, und sie müssen einen klaren europäischen Mehrwert bringen. Was die Mitgliedstaaten selber tun können, müssen wir nicht europaweit organisieren. Es muss klar sein, dass diese Strategie nicht ausreichend ist, wenn sie nur zu Papier gebracht wird, sondern sie muss tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden. Sonst bleibt sie so wertlos, wie es die Lissabon-Strategie gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deswegen ist es notwendig, dass wir uns auf Ziele konzentrieren, die realistisch, verständlich und tatsächlich erreichbar sind. Wenn ich mir den Vorschlag der Kommission anschaue, sehe ich, dass dort von sich gegenseitig verstärkenden Prioritäten, von fünf EU-Kernzielen, von sieben Leitinitiativen, von zehn integrierten Leitlinien usw. die Rede ist. Es ist also eine ganze Fülle von geradezu verwirrenden Kategorien. Wer soll das verstehen? Weniger wäre manchmal mehr. Deswegen wird es für den Erfolg der Strategie EU 2020 entscheidend sein, dass wir den politischen Willen haben, beschlossene Reformen tatsächlich in Angriff zu nehmen und in die Praxis umzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich begrüße es, dass diese Strategie der Europäischen Union einen wirksameren Überwachungsmechanismus beinhalten soll, als es bei der Lissabon-Strategie der Fall war. Insbesondere wollen die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat eine federführende Rolle übernehmen. Ich glaube, das ist dringend notwendig. Der Europäische Rat muss seine Funktion als Leitungsorgan der Europäischen Union wieder hervorheben. Es muss klar werden, dass Politiker und nicht Beamte das Heft in der Hand halten. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass die Staats- und Regierungschefs deutlich machen, dass sie letztlich die Hauptverantwortung dafür tragen, ob diese Strategie ein Erfolg wird. Ich halte viel davon, dass wir hier nicht nur Papier beschreiben, sondern auch einen Wettbewerb in Gang setzen, welche Mitgliedstaaten die besten Ideen haben, um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Ich finde es sinnvoll, dass der Bundesrat in diesem Zusammenhang angeregt hat, eine Rangliste der EU-Mitgliedstaaten in den einzelnen Bereichen wie Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik zu erstellen. Das ist der Weg, wie man zu einem solchen Wettbewerb der besten Politikansätze kommt. Ich halte es für sehr gelungen, dass die Bundesregierung in den bisherigen Gesprächen ihre Handschrift durchsetzen konnte. (Lachen bei der SPD - Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist aber nicht erkennbar! - Ute Kumpf [SPD]: Das glauben Sie jetzt aber selber nicht!) Die Bundesregierung hat mit Nachdruck vertreten, dass wir uns nicht auf Ziele bei der Armutsbekämpfung und Bildung verständigen werden, die weder mit der Kompetenzordnung vereinbar sind noch eine Realisierungschance haben. Es ist auch wichtig, dass wir die Wachstumsstrategie und den Stabilitätspakt inhaltlich strikt voneinander trennen. Wenn man beides vermengen würde, wie es die Kommission vorgeschlagen hat, dann würde man den Stabilitäts- und Wachstumspakt politischer Einflussnahme aussetzen und inhaltlich aushöhlen. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt ein geradezu fatales Signal an die Finanzmärkte. Genau das Gegenteil ist jetzt erforderlich. Auch etwas anderes ist vom Tisch, nämlich der Vorschlag, Lasten der Mitgliedstaaten automatisch durch andere Mitgliedstaaten zu übernehmen, wenn einzelne Länder der Europäischen Union ihre Ziele nicht erreichen können. Es gibt also keinen Blankoscheck für säumige Staaten. Das ist wichtig; denn wenn diese Strategie am Ende nicht nur geduldiges Papier, sondern in der Praxis anwendbar sein soll, dann müssen wir einen Wettbewerb um die beste Lösung in den Mitgliedstaaten in Gang setzen. Ich hoffe, dass der Bundesregierung dies gelingt, wenn Anfang Juni diese Strategie beschlossen werden soll. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Manfred Nink für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Manfred Nink (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich festzustellen: Dem vorliegenden Antrag mangelt es mit Blick auf die europäische Wirtschaftspolitik an Ehrgeiz und Visionen. Durch die Strategie EU 2020 soll Europa gestärkt aus der Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgehen. Damit dieses Europa Wirklichkeit werden kann, brauchen wir transparente Konzepte, klare Ziele und ein entschlossenes Handeln. Nichts von alldem ist in Ihrem Antrag enthalten. Von Strategie kann keine Rede sein; im Gegenteil: Liest man Ihre Forderungen, gewinnt man den Eindruck, dass Sie Ihrer eigenen Regierung misstrauen. Das, was Sie da an Forderungen formulieren, sind Maßnahmen, die für eine gut funktionierende Bundesregierung eigentlich selbstverständlich, gewissermaßen Tagesgeschäft sein müssten. (Beifall bei der SPD) Die Kommission hat fünf messbare Kernziele vorgeschlagen. Diese sollen in nationale Ziele umgesetzt und bis 2020 verwirklicht werden. Bis dahin ist noch ein langer Weg, aber nur noch wenig Zeit; denn bereits im Juni sollen im Europäischen Rat die ersten Einzelheiten verabschiedet werden. Die Mitgliedstaaten sind deshalb aufgerufen, jetzt im Dialog mit der Kommission die nationalen Beiträge zu definieren. Bisher haben wir dazu reichlich wenig von der Bundesregierung erfahren. Es ist schon gesagt worden: Von den fünf von der Kommission vorgeschlagenen Kernzielen ist lediglich zwei Zielen zugestimmt worden, nämlich dem Ziel bezüglich der Beschäftigungsquote und dem Vorschlag, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Auf die von der Kommission aufgestellten Leitinitiativen, an denen sich die Kernziele orientieren und die künftig für die Mitgliedstaaten bindend sein sollen, gehen Sie nicht im Detail ein. Jetzt, nachdem es inzwischen unter allen Staats- und Regierungschefs Konsens ist, stimmen Sie wenigstens der Feststellung zu, dass es künftig einer stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung bedarf. Aber wie eine effektive Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik aussehen soll und wie die Mitgliedstaaten in die Verantwortung genommen werden können, sagen Sie nicht. Ich stelle weiterhin fest: Die europäische Wirtschaftspolitik ist ein Thema, welches auch bei unserem Bundeswirtschaftsminister bisher nicht angekommen ist. Ich darf daran erinnern, dass die SPD-Fraktion unlängst einen Antrag für die Gestaltung der Strategie Europa 2020 vorgelegt hat. Sie hat unter anderem folgende wirtschaftspolitischen Ziele gefordert: Zum Beispiel hat sie ein Angebot innovativer Technologien und Produkte gefordert, die ein Wirtschaftswachstum bei verringertem Energie- und Ressourcenverbrauch ermöglichen. (Beifall bei der SPD) Sie hat gefordert, dass Möglichkeiten sondiert werden, wie Mittel für zusätzliche Investitionen generiert werden können, um die dringend gebotene Belebung des innereuropäischen Handels zu fördern. All unsere Vorschläge haben Sie abgelehnt, ohne Stellung dazu zu beziehen. Was hat der zuständige Wirtschaftsminister in dieser Hinsicht bisher vorgetragen? Was hat er dargestellt? Nichts. Sein Handeln wird den aktuellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen nicht annähernd gerecht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die zentralen Fragen der Zukunft Europas bleiben unbeantwortet. Bezeichnend ist auch der Bericht des Bundeswirtschaftsministers vom 17. Mai 2010 zu den Vorschlägen der Kommission. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dieser Bericht ist nicht mehr als ein kurzes, inhaltsleeres Papier. Jede Praktikantin, jeder Praktikant hätte am ersten Tag des Praktikums einen fundierteren Bericht erstellt. (Anton Schaaf [SPD]: Genau!) Das Schlimme daran: Mehr - so hat das Wirtschaftsministerium auf Nachfrage geantwortet - sei nicht möglich gewesen, da man noch im Verhandlungsprozess sei. Was wird hier verhandelt? Man muss doch zumindest Ziele benennen können. Ich erwarte ja noch keine endgültigen Ergebnisse in allen Einzelheiten; aber ich denke, das Parlament sollte darüber informiert sein, in welche Richtung die Regierung gehen will. Wir fragen uns: Wo bleiben die Vorschläge des Ministers? Wann gedenkt die Bundesregierung das Parlament und die deutsche Bevölkerung über ihr Vorhaben und über die Maßnahmen zu unterrichten? Es kann doch nicht sein, dass die Chancen Deutschlands, Europa für die nächsten zehn Jahre mitzugestalten, wegen Planlosigkeit aus der Hand gegeben werden, ohne die weltweiten Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, der Krise Griechenlands und der Krise des Euros zu beachten. (Beifall bei der SPD) Ich frage mich: Kann es sein, dass der Bundeswirtschaftsminister noch immer nicht begriffen hat, dass die fundamentalen Herausforderungen, denen die europäische Wirtschaft gegenübersteht, von der Politik entschlossene Antworten verlangen? Die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung hat gezeigt: Die Weltwirtschaft wartet nicht auf Europa, und Europa wartet nicht auf Deutschland. An dieser Stelle wird erneut die Konzept- und Tatenlosigkeit der Regierung deutlich. Als Rheinland-Pfälzer - das sage ich aus voller Überzeugung und in voller Ernsthaftigkeit -, der die Arbeit von Herrn Brüderle als ehemaligem Wirtschaftsminister von Rheinland-Pfalz kennt und schätzt, kann ich nur sagen: Herr Minister, nehmen Sie die vernichtende Medienschelte bezüglich Ihrer bisherigen Arbeit wie beispielsweise in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Mai ernst. Hier muss mehr geschehen: Wir brauchen keine reine Konsolidierungsstrategie, wir brauchen auch eine Wachstumsstrategie. Das ist die Aufgabe von heute, und das ist der Weg in die Zukunft. Wachen Sie auf und werden Sie endlich aktiv! Schönen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Nink, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und verbinde das mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit. (Beifall) Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Nink, Sie haben Vorschläge der SPD zu Europa 2020 angesprochen und kritisiert, dass es hierzu noch keine Stellungnahme gibt. Zu Vorschlägen ohne ausreichende Substanz muss die Koalition, glaube ich, nicht Stellung nehmen. Heute Morgen haben wir hier im Plenum den Berufsbildungsbericht 2010 diskutiert. Dabei wurde einmal mehr die überragende Bedeutung der beruflichen Bildung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes offenbar. Unser System der dualen Bildung mit allen Formen und Möglichkeiten der Aufstiegs- und Weiterbildung ist weltweit einzigartig, und wir werden weltweit darum beneidet. Was hat dieser Befund mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen zu Europa 2020 zu tun? Die Europäische Union möchte sich mit der Strategie Europa 2020 zu quantitativen Bildungszielen in den einzelnen Mitgliedstaaten bekennen. Dies soll eine der Maßnahmen sein, um die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der EU nachhaltig zu steigern. Konkret sollen höchstens 10 Prozent eines Jahrgangs Schulabbrecher sein - damit haben wir kein Problem - und mindestens 40 Prozent eines Jahrgangs ein Hochschulstudium absolvieren. Was bedeutet das für Deutschland? Derzeit machen in Deutschland circa 28 Prozent eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss, also deutlich weniger als 40 Prozent. Nehmen wir jedoch die Absolventen beruflicher Bildungsgänge, beispielsweise der Meisterausbildung oder der Fachwirtausbildung, hinzu, so liegt die entsprechende Absolventenquote in Deutschland bei circa 39 Prozent. Wir müssen uns also nicht verstecken. Europaweit reicht die Spannbreite bei der Hochschulabsolventenquote derzeit von 23 Prozent bis über 50 Prozent. Natürlich kommt es hierbei entscheidend darauf an, welche Abschlüsse in die Quote eingerechnet werden und wie die Bildungsgänge und Bildungssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgestaltet sind. Damit wir das im Strategiepapier der EU formulierte ehrgeizige Absolventenziel erreichen können, ist es von zentraler Bedeutung, dass in die Hochschulabsolventenquote auch Abschlüsse, die mit einem Hochschulabschluss qualitativ vergleichbar sind, eingerechnet werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Dr. Eva Högl [SPD]: Sie wollen doch gar keine Bildungsziele!) - Das stimmt doch nicht. Nur so kann im Übrigen garantiert werden, dass unser System der beruflichen Bildung nicht auf Dauer ausgehöhlt wird. Eine Erzieherin muss nicht an einer Hochschule ausgebildet werden, ebenso wenig eine Krankenschwester, und beim Fliesenleger käme hierzulande ohnehin niemand auf die Idee, die Ausbildung an die Hochschule zu verlegen. Dem unbestreitbaren Trend zur Höherqualifizierung in einer komplexen Arbeitswelt trägt unser System der beruflichen Bildung in hervorragender Weise Rechnung. Dem weiteren Ausbau dualer Ausbildungsgänge ist daher unbedingt Priorität einzuräumen. Dies hat mir erst gestern ein Bildungsforscher des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in einem Gespräch bestätigt. Demnach stellt der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren ein deutlich größeres Problem dar als der immer wieder beklagte Akademikermangel. Ich verhehle nicht, dass innerhalb des Bundestages wie auch des Bundesrates erhebliche Bedenken bestehen, auf EU-Ebene überhaupt quantitative Bildungsziele festzulegen. Dies widerspricht dem Kompetenzgefüge der Europäischen Union und insbesondere dem Subsidiaritätsprinzip. Es besteht kein Zweifel, dass für die inhaltliche und strukturelle Entwicklung des Bildungssystems allein die Mitgliedstaaten - im Falle Deutschlands die Bundesländer - und nicht Brüssel verantwortlich sind. Es ist im Vorfeld des Europäischen Rates allerdings nicht gelungen, einen Verzicht der EU auf quantitative Bildungsziele im Strategiepapier durchzusetzen. Umso dringender ist es daher, den bildungspolitischen Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten dadurch Rechnung zu tragen, dass beim Definieren des Absolventenziels im Juni eben auch solche Abschlüsse beruflicher Bildungsgänge einbezogen werden, die Hochschulabschlüssen vergleichbar sind. Nur dann nämlich achtet die EU auch bei der Umsetzung ihrer Ziele die unterschiedlichen Wege des Kompetenzerwerbs und damit die Bildungshoheit der Mitgliedstaaten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die ursprünglich sehr verengte, rein formale Sicht der EU auf bloße Hochschulabschlüsse kann mithin nicht aufrechterhalten werden. Dies gilt umso mehr, wenn die EU tatsächlich am 40-Prozent-Ziel festhält. Darüber hinaus muss es dabei bleiben, dass die Bundesregierung quantitativen Festlegungen beim Kernziel Bildung nur zustimmt, wenn dies in Abstimmung mit den für den Bildungsbereich zuständigen Bundesländern geschieht. Dies ist in den Ziffern 5 b und 5 c der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März auch so vorgesehen. Dort wird ausdrücklich auf die Festlegung nationaler Ziele unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten abgestellt. Es darf jedenfalls unter keinen Umständen eine schleichende Kompetenzverlagerung weg von der bisher praktizierten offenen Koordinierung im Bildungsbereich geben. Eine Gleichbehandlung des Bildungsbereichs mit vergemeinschafteten Politikbereichen muss verhindert werden. Darüber sollte auch hier im Hause Einigkeit bestehen. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung für den Koalitionsantrag. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Korrektur der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht - Drucksache 17/1631 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Legende, dass es den Ostrentnerinnen und -rentnern durchweg gut geht. Natürlich wirkt sich eine lange, kaum unterbrochene Erwerbsbiografie günstig auf die Rente aus. Verkannt wird aber, dass die Rente für fast alle das einzige Alterseinkommen ist. Private Vorsorge war nicht üblich, Betriebsrenten gab es kaum. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: War das ein soziales System!) Außer Acht gelassen wird bei Ihren Durchschnittsbetrachtungen, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz erhielten alle eine Rente nach SGB VI. Zusatzversorgungen und sonstige Besonderheiten blieben außen vor. Es ist klar: Wenn im Osten alle Berufsgruppen - also auch Akademikerinnen und Akademiker, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Pädagogen oder Ärztinnen - in den Durchschnitt eingerechnet werden, dann wird dieser verfälscht, weil im Westen Beamte oder Freiberufler in berufsständischer Versorgung bei der Berechnung des Durchschnitts außen vor bleiben. (Anton Schaaf [SPD]: So ist es!) Dahinter steckt aber auch, dass 1991 bei der Rentenüberleitung etliche DDR-Regelungen bewusst nicht überführt wurden. Diesen Problemkreisen widmet sich unser Antrag. Da uns häufig vorgeworfen wird, wir würden uns nur um Personen mit vermeintlichen Privilegien oder besonderer Staatsnähe kümmern, lassen Sie mich, obwohl ich nur vier Minuten Redezeit habe, die Spannbreite der Probleme aufzeigen. Die Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens mit einem besonderen Steigerungsfaktor werden nicht anerkannt. Zu nennen sind weiter die Geschiedenen ohne Versorgungsausgleich, die Zuwendungen für Ballettmitglieder, nachdem sie die Bühne verlassen haben, die Bergleute aus der Braunkohleveredelung, diejenigen, die Angehörige gepflegt haben ebenso wie mithelfende Familienangehörige von Handwerkern und Selbstständigen. Handwerker sind in der DDR bei Gott nicht mit Glacéhandschuhen angefasst worden, aber was Sie machen - zehn bis 15 Jahre setzen Sie auf dem Rentenkonto gleich null -, ist beschämend. (Beifall bei der LINKEN) Dazu gehören auch zweite Bildungswege, Aspiranturen und vereinbarte längere Studienzeiten von Spitzensportlerinnen und -sportlern. Das ist übrigens ein Grund für die Erfolge von DDR-Athletinnen und -Athleten; es ist nicht immer anderes, was Sie vermuten und vorbringen. Aber weiter zur Rente: Negiert werden im Ausland erworbene Rentenansprüche und freiwillige Beiträge. Sie waren zwar mit 3 bis 12 Mark in der Tat niedrig, aber man konnte auch eine gediegene 3- bis 4-Raum-Wohnung für 50 bis 60 Mark mieten. Damit ergibt sich eine völlig andere Relation. Subventionierte Preise haben nämlich die niedrigen Bruttolöhne gestützt. Diese sind jetzt wiederum die Grundlage für die Rentenberechnung. Das ist ein weiteres Problem. Zu den Betroffenen gehören nicht nur die eingangs erwähnten Akademikerinnen und Akademiker, sondern auch Beschäftigte von Bahn und Post, die eine historisch gewachsene Alterssicherung hatten. Vergessen wir nicht: Die Wertneutralität des Rentenrechts wurde verletzt, indem willkürlich in die Rentenformel eingegriffen wurde. Für als staatsnah Eingestufte gilt nicht die Beitragsbemessungsgrenze, sondern für die Berechnung wird nur der Durchschnitt zum Ansatz gebracht. Gregor Gysi hat vielen von Ihnen vor fast einem Jahr an dieser Stelle bei der Beratung unserer 17 Anträge versprochen: Wenn Sie nichts tun, dann werden wir Sie in der neuen Legislaturperiode daran erinnern, damit Sie tätig werden. Wir halten Wort. (Beifall bei der LINKEN) Was tun Sie? Was tut die Bundesregierung? Vage Versprechen, selbst von der Kanzlerin. Das hilft aber nicht bei den Existenznöten, die viele haben. Sie kündigt an, sie will DDR-Hinterlassenschaften in der Rente endlich aufarbeiten. Die FDP hat in der letzten Legislaturperiode als Opposition einen eigenen Antrag mit fast allen von uns aufgezeigten Problemen eingebracht. Der Lösungsvorschlag war zwar nicht toll, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber systemkonform!) aber was passiert jetzt? Wir sind mitten in der Legislaturperiode, aber es geschieht nichts. Nehmen Sie unseren Antrag als Gedankenstütze! Ich denke, hier sind Hausaufgaben zu machen, die bisher keine Bundesregierung erledigt hat. Seien Sie nicht weiter borniert und ignorant! DDR-Biografien müssen anerkannt werden. Es ist gelebtes Leben, das sich auch in den Altersbezügen widerspiegeln muss. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Für meine Fraktion gilt: Solange Sie nichts tun, werden wir Sie in dieser Sache nicht in Ruhe lassen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Frank Heinrich (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bunge, ich möchte einen Schritt zurückgehen und am Anfang etwas allgemeiner bleiben. Denn auch Ihr Antrag ist am Anfang sehr vergangenheitsorientiert - um es so kurz zu sagen. Die Übertragung des Rentensystems West auf das Rentensystem Ost war eine großartige gesellschaftliche Leistung, von der man nicht wissen konnte, dass sie so ausgeht, wie wir es zum Schluss geschafft haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das steht auch drin!) - Das wollte ich damit einfach in den Raum stellen. Die schwierigen Ausgangsbedingungen, die man gar nicht oft genug in Erinnerung rufen kann, waren das von Ihnen gerade geschilderte in Berufsgruppen zergliederte und um Sonderversorgungssysteme angereicherte DDR-Rentenrecht. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das bundesdeutsche ist genauso gegliedert!) - Das bundesdeutsche hatte auch seine Eigenarten. - Es handelte sich um einen hochkomplizierten Vorgang ohne vergleichbares Beispiel in der Geschichte. Kein Patentrezept war vorhanden, auf das man hätte zurückgreifen können. Bei dieser komplexen Angelegenheit stand man vor der Wahl, entweder ein Tabellenwerk zu nehmen und es - aus westlicher Sicht - dem Osten überzustülpen, um alles bis ins Feinste für jede einzelne Person festzulegen, oder sich bei seinem Vorgehen einiger Leitplanken zu bedienen. Das Tabellenwerk wurde aus verständlichen Gründen abgelehnt, weil es dabei um eine Aufgabe gegangen wäre, die vom bürokratischen Aufwand her kaum zu überbieten gewesen wäre, und weil dadurch keinesfalls mehr Gerechtigkeit entstanden wäre. Die geschaffenen Leitplanken und Eckpunkte, die wir jetzt diskutieren und auch früher schon immer wieder diskutiert haben - Sie haben selber die 16 Anträge und den Gesetzesvorschlag angesprochen, den Herr Gysi im letzten Jahr eingebracht hatte -, sind, wie wir alle wissen, in Abhängigkeit von den tatsächlichen Entgelten und nach einer nach bestem Wissen und Gewissen eingeführten Regelung, was die Stichtage und die Rentenhöhe angeht, entstanden. Dass Sie jetzt das Wort "Willkür" in den Mund genommen haben und dieses Wort in Ihrem Antrag mindestens zweimal vorkommt, kommt mir aus Ihrer Richtung als etwas schwierig vor. Eine Linie wurde gezogen, die dem Thema, den Menschen und den zusammenwachsenden Systemen nach dem besten Wissen und Gewissen der damals Verantwortlichen am nächsten kam. Es war nie der Anspruch, und es gab auch nie die Möglichkeit, 40 Jahre DDR mit diesem Rentensystem einfach ungeschehen zu machen. Oder sollten dadurch entstehende Kunstrenten, die letztendlich jeglicher Rechtsgrundlage entbehrt hätten, den Bürgern in den alten Bundesländern zur solidarischen Mitbezahlung vorgelegt werden? Es sollte nicht nach dem Rosinenpickerprinzip gehen. Trotzdem ist offensichtlich, dass durch die errungene Linie ein Teil von Betroffenen eher Gewinner und ein anderer Teil von Betroffenen eher Verlierer sind. Das liegt in der Sache selbst, nämlich den Leitplanken, begründet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Kompliziertheit dieser zu überführenden oder miteinander zu vereinbarenden Systeme bringt eine Aufgabe mit sich, die sich in dem ausdrückt, was wir heute hier vor uns haben. Wie schon gesagt, die BRD war nicht in der Lage, alle Ungerechtigkeiten der ehemaligen DDR auszugleichen, und darüber hinaus ist das Rentensystem wahrlich nicht der Reparaturbetrieb des Erwerbslebens. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Noch gestern habe ich mit jemandem gesprochen, der zu den in Ihrem Antrag angesprochenen Personengruppen gehört. Er sagte mir Folgendes: Wir unterstützen diesen Antrag in keinster Weise. - Denn es geht dieser Gruppe nicht um eine gerechte Rente, sondern vielmehr um eine leistungsgerechte Altersversorgung, die weit mehr als nur Rente ist. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das habe ich doch gesagt!) Es geht um eine Anerkennung von Lebensleistung. Darum ist eine Differenziertheit nötig, die in dem Antrag, den Sie jetzt stellen, nicht vorkommt. Was in diesem Werk zusammenfließt, war eine gemeinschaftliche Leistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Arbeitgebern als Beitrags- und Steuerzahler, die letztlich hohe Anerkennung verdient. Die Grundlage war ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft und -fähigkeit. Ganz im Sinne des bundesdeutschen Rentensystems, das auf den Gleichheitsgrundsatz setzt, wurde mit der Übertragung dieses Systems Gewaltiges geleistet. Die Gerichte, sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch Sozialgerichte, haben in mehreren Verfahren sehr deutlich gemacht, dass die durch den Einigungsvertrag geschaffene Lösung und die entsprechenden Fristen und Leitlinien sicher sind. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Bunge? Frank Heinrich (CDU/CSU): Bitte schön. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Herr Kollege Heinrich, Sie sind ja im A-und-S-Ausschuss und in dieser Problematik neu. Sie kommen aus - - (Ute Kumpf [SPD]: Und er kommt aus dem Westen!) - Ja, aber ich glaube, Ihr Wahlkreis ist jetzt im Osten? Frank Heinrich (CDU/CSU): Ich bin im Wahlkreis Chemnitz, richtig. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Dieser Bürger aus Ihrem Wahlkreis, mit dem Sie gesprochen haben, hat gesagt, es gehe ihm nicht um die Rentenüberleitung, sondern um eine gerechte Altersversorgung. Sie interpretieren nun unseren Antrag und sagen, dazu stehe nichts drin. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass ich gerade in meiner Rede gesagt habe, dass das Problem für viele, die eine Zusatz- und Sonderversorgung hatten, darin besteht, quasi in die Renten gestopft worden zu sein, um es salopp zu formulieren? Sicherlich handelt es sich bei der Rentenüberleitung um eine historische Leistung; das steht auch in unserem Antrag. Aber es sind viele Probleme entstanden. Wir schlagen in unserem Antrag für die Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht ein System sui generis vor, das nur für begrenzte Zeit und für eine bestimmte Personengruppe gilt. Wenn Sie nun trotzdem etwas anderes behaupten, dann haben Sie entweder unseren Antrag nicht richtig gelesen, oder Sie können ihn nicht interpretieren. Frank Heinrich (CDU/CSU): Die Frage, die ich aus Ihren Ausführungen herauslese, beantworte ich wie folgt: Ja, ich habe Ihren Antrag gelesen, genauso wie dieser Bürger, der aus einer der Gruppen kommt, die Sie angesprochen haben. Was ich vorgetragen habe, ist seine Interpretation Ihres Antrags. Ich habe ihn zitiert. Es ist seine Auffassung, dass er sich in Ihrem Antrag nicht wiederfindet. Das ist meine kurze Antwort auf Ihre Frage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wenn wir unser Rentensystem, um das wir oft beneidet werden und auf das wir stolz sein können, und damit die Umlagefinanzierung nicht aufs Spiel setzen wollen, müssen wir mit den daraus erwachsenden Härten, Verwerfungen und Randschwächen leben. Aber die meisten dieser Verwerfungen und der - nur zu verständlich - gefühlten Ungerechtigkeiten sind nicht bei der Umwandlung des DDR-Rentensystems entstanden, sondern aufgrund der Gerechtigkeitsverhältnisse damals in der DDR, die mit meinem heutigen Verständnis von Gerechtigkeit nicht mehr ganz so viel zu tun haben. Sie reden von den Durchschnittszahlen. Dabei werden manchmal Einzelschicksale nicht berücksichtigt; das ist richtig. Sie als Linke konzentrieren sich in Ihrem Antrag auf die Besonderheiten, die weggefallen sind, unterschlagen aber die Vorteile, die den Menschen durch das gesamtdeutsche System letztlich zugute gekommen sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es können nicht alle Vorteile des DDR-Rentensystems mit dem bundesdeutschen System kombiniert werden. Das ist erstens nicht finanzierbar - hierzu halten Sie sich in Ihrem Antrag übrigens sehr bedeckt. Und zweitens: Wäre dies denn letztlich gerecht? Dazu habe ich sehr viele Bedenken in meinem Wahlkreis gehört. Das Gerechtigkeitsempfinden spielt meiner Meinung nach eine große Rolle in dieser Auseinandersetzung. Jeder ostdeutsche Bürger und jede ostdeutsche Bürgerin, der bzw. die sich durch eines der Sonderversorgungssysteme der DDR eine höhere Rente erhofft hat und diese nun nicht bekommt, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Fakt ist, dass ein Großteil der ostdeutschen Rentner durch die Rentenüberleitung erhebliche finanzielle Verbesserungen hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Politik kann nicht - das wissen wir nicht nur aus diesem Bereich - allen in gleichem Maß gerecht werden. Die Problematik besteht darin, dass Menschen, die zu DDR-Zeiten lange Jahre schwer gearbeitet haben, Versprechungen gemacht wurden, die mit dem Ende des Systems nicht eingelöst werden konnten. Dass sich diese Menschen nun benachteiligt fühlen, ist absolut verständlich. Aber dass das jetzt gültige Rentensystem diese ungedeckten Schecks einlösen soll, die es selber nicht ausgestellt hat, ist schlicht nicht finanzierbar. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielleicht ist es auch an der Zeit, sich dieser Realität endlich zu stellen, anstatt weiter unbegründete Hoffnungen zu schüren und jahraus, jahrein zu vertrösten. Ich denke, es geht an dieser Stelle sogar weiter. In dem Moment, wo Sie unberechtigte Hoffnungen schüren, werden Sie den Rentnerinnen und Rentnern in diesem Land nicht gerecht. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ihre Bundeskanzlerin macht das doch! Auf dem letzten Seniorentag wieder!) Wir wollen keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. Wir werden ganz genau hinschauen, wo es Ungerechtigkeiten gibt, die beseitigt werden müssen. Wir werden den Wechselwirkungen und den materiellen Verwerfungen, die bei diesem Bemühen entstehen können, entgegentreten. Wir werden das genau im Blick behalten. Noch einige Worte zu dem letzten Satz Ihres Antrags, zur Angleichung des Rentenwerts Ost an den Rentenwert West. Die CDU/CSU-Fraktion hat den hohen Anspruch, bereits zur Mitte der Legislaturperiode im gemeinsamen Rentenrecht eine Lösung zu finden. Dazu hat sich vor etwa zehn Tagen der Regierungsbeauftragte für die neuen Bundesländer, unser Innenminister Thomas de Maizière, eindeutig geäußert: Wir werden an einer Lösung arbeiten, die Gerechtigkeit schafft - das ist ein Zitat -, und zwar entsprechend unserem Koalitionsvertrag. - Dazu sind allerdings genaues und sorgfältiges Arbeiten und eine Prüfung notwendig, wobei Sie dabei herzlich willkommen sind. Dieses Projekt steht für eine intensive, verantwortungsvolle Auseinandersetzung der Regierungskoalition mit dem Thema Rente - das wollten Sie uns eben absprechen -, eine Suche nach einem Konsens, der möglichst breit sein sollte, und eine gerechte Lösung, die Ungerechtigkeiten oder Verwerfungen bei dieser Angleichung ausschließt. Auch hier wird ähnlich viel Kompromissfähigkeit nötig sein wie vor 20 Jahren. Ich bin sicher, dass wir zu einem gerechten Ergebnis kommen werden. Nach meiner Erkenntnis werden dazu bereits erste Berechnungen bzw. Kalkulationen angestellt. Sie alle wissen, dass es sich hierbei rein rechnerisch und haushälterisch um eine große Aufgabe handelt. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Gegensatz zur Wendezeit einen Vorteil haben: Wir stehen nicht ganz so unter Zeitdruck. So können wir die nötigen Schritte maßvoll und hoffentlich in guter Zusammenarbeit auch mit den anderen Parteien in diesem Hause angehen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ja, die sterben alle weg! Das ist es!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Anton Schaaf das Wort. (Beifall bei der SPD) Anton Schaaf (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bunge, auch wenn man aus Sicht der Betroffenen berechtigte Anliegen aufgreift, bin ich immer sehr vorsichtig, wenn man die gesetzliche Rentenversicherung als Reparaturbetrieb begreift. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So wie sie aufgebaut ist, ist sie lohn- und beitragsbezogen. Sie spiegelt also die Lebensleistung real wider. Sie kann nicht Dinge ausgleichen, die nicht stattgefunden haben, und sie kann nicht Defizite von Menschen, die zu kurz gekommen sind, ausgleichen. Sie kann nicht ungedeckte Schecks, die einmal in der DDR ausgestellt worden sind, einlösen. Das muss man begreifen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage damit nicht, dass all die Anliegen, die Sie, Frau Bunge, in Ihrem Antrag formuliert haben, unberechtigt sind. Das sage ich in keinster Weise, aber ich warne davor, die Rentenversicherung als Reparaturbetrieb zu betrachten. Wir delegitimieren sonst die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rentenversicherung, und damit delegitimieren wir auch Solidarität und Parität in diesem System. Ich wäre an der Stelle sehr vorsichtig. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wenn wir bei den Personengruppen, die Sie aufgelistet haben - die könnte man im Einzelnen einmal durchgehen; ich greife nachher einen Punkt auf -, berechtigte Interessen ausmachen, dann muss man anders darüber diskutieren. Ich persönlich sage: Da hilft uns am Ende nicht die gesetzliche Rentenversicherung alleine, sondern man muss so etwas wie ein Rentenüberleitungsabschlussgesetz beschließen, in dem eventuelle Fragen geklärt werden. Das muss übrigens im Zusammenhang mit der Frage der Ost-West-Angleichung geschehen. Ich fand die Kommunikation, die dazu in den letzten Tagen stattgefunden hat, spannend. Im Koalitionsvertrag dieser christlich-liberalen Koalition - auch ich habe mir diese Begrifflichkeit angewöhnt, damit Sie sie nicht dauernd benutzen müssen - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr schön!) steht, dass die rentenrechtliche Angleichung zwischen Ost und West in dieser Legislaturperiode geregelt werden soll. Dabei lege ich Wert auf das Wort "rentenrechtlich". Das heißt, für die Menschen wird wahrscheinlich materiell nichts dabei herauskommen. Auch das ist relativ klar bei dieser Begrifflichkeit. Im Koalitionsvertrag steht: für diese Legislaturperiode. Dann gibt es einen kleinen Parteitag der CDU, auf dem beschlossen wird, dass es eine rentenrechtliche Angleichung von Ost und West gibt. Da steht aber nichts mehr davon, dass das in dieser Legislaturperiode geschehen soll. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau!) Schauen Sie einmal hin. Wahrscheinlich gibt es zu viele Wahlen im Osten. Wenn materiell nichts dabei herauskommt, dann kann man das nicht machen. Das ist völlig klar. Dann sagt der Kollege Kolb, die Ost-West-Angleichung müsse man noch in diesem Jahr auf den Weg bringen, die ersten Pflöcke müssten eingeschlagen werden. Das habe ich zumindest gelesen. Daraufhin kontert die Arbeitsministerin gleich und sagt: Um Himmels willen, in diesem Jahr können wir gar nichts machen, weil wir so sehr mit dem SGB II beschäftigt sind. Da passiert gar nichts. - Ich bin gespannt, wie diese Regierung an der Stelle das, was sie den Menschen im Osten versprochen hat, einlösen will. Dabei erkenne ich unsere eigenen Defizite an, nämlich dass es uns in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen ist, tatsächlich einige Schritte voranzukommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin!) Das will ich überhaupt nicht bezweifeln. Nur: Wenn das als Arbeitsplan in einen Koalitionsvertrag hineingeschrieben wird, erwartet man auch Konkretes dazu; denn die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass das, was sie gewählt haben, dann auch real Politik wird. Das ist der Anspruch, den Sie immer formuliert haben. Jetzt konkret zum Antrag. Wenn man Ansprüche ausfindig macht und auflistet, darf es nicht dabei bleiben, sie aufzulisten, sondern man muss auch sagen - das gehört zur Seriosität dazu -, wie man es denn machen will und wie man es denn rechtfertigen kann. Sie sprechen beispielsweise die Geschiedenen an. Es gab in der DDR keinen Versorgungsausgleich. Wie soll man jetzt, 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit, einen Versorgungsausgleich über das Rentenversicherungssystem ordentlich darstellen? Das geht schlichtweg nicht, wenn man nicht neue Ungerechtigkeiten schaffen will. Wenn man es seriös meint, muss man auch Antworten auf die Frage geben, wie das gemacht werden soll, wie man den berechtigten Interessen dieser Menschen eventuell gerecht werden kann. Über das Rentenversicherungssystem können Sie das aus meiner Sicht in keinster Weise darstellen. Das ist genau der Punkt bei vielen Dingen, die Sie aufgelistet haben, zum Beispiel bei den Beschäftigten im Bereich Braunkohle. Gibt es nicht rentenrechtliche Wechselwirkungen in den Westen hinein, wenn man da die Zugeständnisse macht? Dann haben Sie Anwälte und ähnliche Gruppen angesprochen. Es gab in der DDR keine Versorgungswerke, die wir hätten übernehmen können oder die wir in westdeutsche Versorgungswerke hätten überführen können. Das sind technische Probleme. Deswegen hat man im Zusammenhang mit dem Renten-Überleitungsgesetz beschlossen, die Menschen in die Rentenversicherung hineinzunehmen; damit hatten sie einen gesicherten Anspruch im Alter. Das war eine herausragende Leistung. Übrigens - das sage ich sehr gerne; es ist auch das erste Mal, dass ich das in dieser Form in einem Antrag von Ihnen zum Thema Rente gelesen habe -: Die Übernahme in die Rentenversicherung ist für die allermeisten Menschen in der DDR, für 4 Millionen Rentnerinnen und Rentner, völlig glatt gelaufen. (Zuruf von der LINKEN) - Nein, ich habe nie darauf abgestellt, dass Sie staatsnahe und parteinahe Leute im Besonderen im Fokus hätten; das unterstelle ich nicht. Aber ich kann die Kolleginnen und Kollegen verstehen, die sich an der Stelle verdammt schwertun, zu springen und zu sagen: Alles, was da versprochen worden ist, wird jetzt auch gewährt. - Ich kann verstehen, dass viele Menschen, insbesondere Opfer dieses Staates oder dieses Systems, ihre Schwierigkeiten damit haben. Insofern habe ich ganz klar eine andere Meinung als Sie, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) und die begründe ich auch. Das waren Menschen, die in der DDR, als sie noch gearbeitet haben, partei- oder staatsnah, in der Regel besondere Privilegien hatten. (Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es!) Diese besonderen Privilegien vor dem Hintergrund dessen, dass sie nicht Opfer dieses Staates und dieses Systems waren, einfach auf die Rente zu übertragen, halte ich zumindest aus Sicht der Opfer und der anderen Menschen, die in der DDR gelebt haben, für ziemlich problematisch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Katja Mast [SPD]) Wir werden Sie von der Regierung jetzt an dem messen müssen, was Sie zum Thema Ost-/West-Rente auf den Weg bringen. Sie werden sagen müssen, wie es mit der Angleichung des Rentenwertes aussieht. Es geht dabei nicht nur um die rein rechtliche Frage der Angleichung, sondern auch um die Frage des Rentenwertes. Sie werden darlegen müssen, was sie mit dem Höherwertungsfaktor machen wollen; denn der ist für die Menschen ganz entscheidend, die jetzt noch nicht in Rente sind, sondern arbeiten, und zwar durchschnittlich für viel weniger Geld arbeiten als im Westen. Was machen wir also mit dem Höherwertungsfaktor? Ich sage Ihnen: Eine rentenrechtliche Ost-/West-Angleichung, die nur rechtlich an dem Thema schraubt und nicht die Frage beantwortet, was wir im Hinblick auf die Menschen machen, die jetzt nur unterdurchschnittlich verdienen können, kann nicht im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten der Republik sein. Ich bin auf Ihre schlüssigen Antworten gespannt. Wir werden uns an der Debatte beteiligen. Ich sage noch einmal: Lasst uns die Einzelfragen nicht innerhalb des Rentenrechts regeln, sondern lasst sie uns als sozialpolitische Fragen regeln, auch vor dem Hintergrund dessen, dass es um die Herstellung von Gerechtigkeit geht! Damit wäre ich einverstanden. Lasst uns ansonsten schauen, dass die Ost-/West-Frage nicht auf eine rechtliche Frage reduziert wird, sondern für die Menschen im Osten tatsächlich substanziell und materiell beantwortet wird! Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, das wir jetzt hier debattieren, ist wichtig, aber es ist alles andere als neu. Neu ist - da pflichte ich Herrn Kollegen Schaaf bei -, dass ein Antrag der Linken mal nicht mit Kampfparolen beginnt, sondern mit einer Art Lob für die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung, die das Renten-Überleitungsgesetz und das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz 1991 formuliert hat. (Zuruf der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]) - Das muss man einmal besonders hervorheben. Das ist nicht der Normalfall bei Ihren Vorlagen, Frau Kollegin Bunge. Die beiden Gesetze damals waren eine große historische Leistung, die die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates allen Menschen in den neuen Ländern deutlich vor Augen geführt hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie waren ein entscheidender Beitrag zur Verwirklichung der deutschen Einheit. Wäre das westdeutsche Rentensystem damals sofort auf die neuen Länder übertragen worden, hätte es dort Anfang der 90er-Jahre nicht die starken Rentensteigerungen von bis zu 30 Prozent pro Jahr geben können. Millionen von Menschen haben wir damit einen Lebensstandard im Alter gesichert, den sie jedenfalls zu DDR-Zeiten in keiner Weise erhoffen konnten. Ich freue mich, Herr Kollege Schaaf, dass die Koalition sich in dieser Legislaturperiode vorgenommen hat, eine Vereinheitlichung des Rentenrechts Ost/West vorzunehmen, also ein einheitliches Recht einzuführen. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das überfällig. Für mich ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Rentenwert Ost gegenüber dem Rentenwert West seit 2004 nicht mehr spürbar aufgeholt hat. Deswegen sollten wir jetzt die Umstellung vornehmen. In den neuen Bundesländern gibt es zunehmend Gebiete, wo die Durchschnittsverdienste über denen in den ärmeren Regionen der alten Bundesländer liegen. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat in seinem aktuellen Gutachten deswegen ausdrücklich die Rechtsangleichung als Handlungsoption empfohlen. Das werden wir sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt noch debattieren, Herr Kollege Schaaf. Ich will mich jetzt auf den vorliegenden Antrag konzentrieren. Er berührt viele in der Regel eher komplizierte Sonderfälle. Bis heute wirken sich nämlich einige Besonderheiten des DDR-Rentenrechts aus, die man nicht ohne Weiteres ausräumen kann, Frau Kollegin Bunge; das müssen Sie zugestehen. Die Fälle lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen: solche, die aus rechtlichen, politischen oder anderen Gründen zu DDR-Zeiten keine Rentenversicherungsbeiträge leisten konnten; solche, deren Rentenansprüche aus DDR-Zeiten nicht mit dem SGB VI kompatibel sind und deswegen nicht überführt werden konnten; solche, deren Anwartschaften ins SGB VI anstelle anderer Versorgungssysteme übergeleitet wurden, weil es kein bundesdeutsches Äquivalent zur DDR-Regelung gab. Man sieht schon an dieser zusammenfassenden Beschreibung, wie komplex und unterschiedlich die Fälle sind. Glauben Sie mir: Wir haben viele Gespräche mit Betroffenen geführt und noch viel mehr Briefe erhalten, und wir haben uns auch viele Gedanken gemacht, wie man die Ungerechtigkeiten beheben kann, ohne neue zu schaffen. Besonders schwierig wird die Sache dadurch, dass - was ein Stück weit paradox ist - ein Teil der Betroffenen fordert, dass das frühere DDR-Recht heute keine Wirkung mehr entfalten soll, und ein anderer Teil genau das Gegenteil fordert, nämlich dass ihre Ansprüche nach dem früheren Recht komplett anerkannt werden. Daher, Frau Bunge, ist es viel schwerer, allen Interessen gerecht zu werden, als die Linke uns - ich wäre fast geneigt, zu sagen: wie so oft - glauben machen will. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bereits in der letzten Legislaturperiode, ziemlich genau vor einem Jahr, eine Debatte über das gleiche Thema hatten. Damals gab es auch eine Anhörung mit einem recht klaren Ergebnis: Die Sachverständigen empfahlen keine Korrektur der geltenden Gesetze. Ich erinnere mich an die Erläuterung, wie viele Sondersysteme in der Altersversorgung der DDR bestanden haben und dass diese zum Teil gar nicht kodifiziert waren. Jedenfalls machten uns die Sachverständigen sehr deutlich, dass jede Nachjustierung zu neuen Ungleichbehandlungen, also zu neuen Ungerechtigkeiten führen würde. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das kommt auf die Sachverständigen an!) Deswegen will ich hier noch einmal den Vorschlag einführen, den wir damals gemacht haben. Die FDP-Fraktion bevorzugt nach wie vor das Modell eines Nachversicherungsangebotes. Damit bleiben wir in dem bewährten Gesamtmodell der Rentensystematik. Das hat sich auch bewährt, als 1992 die Rentenberechnung aus dem früheren Angestelltenversicherungsgesetz ins SGB VI überführt worden ist. Wir wollen eine solche Lösung für alle Versicherten auf dem Boden der Beitragsäquivalenz, eine Nachversicherungslösung auf freiwilligem Wege. Den Betroffenen wird dadurch die Chance gegeben, ihre nicht in das SGB VI übertragenen oder aus anderen Gründen ausgeschlossenen Rentenansprüche geltend zu machen. Frau Bunge, wichtig ist: Die Höhe einer nachträglichen Beitragsentrichtung ist an dem auszurichten, was zu DDR-Zeiten zur Erlangung eines vergleichbaren Anspruchs hätte aufgewendet werden müssen. Ich denke, selbst wenn man eine Verzinsung der so ermittelten Beiträge vornimmt, dürfte ein solches Angebot auf großes Interesse stoßen und dürfte eine attraktive Verzinsung der nachzuentrichtenden Beiträge gewährleistet sein. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Bunge? Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ja. Bitte sehr. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Herr Kolb, ich versuche, es ganz kurz zu machen. Ich folge Ihnen aufmerksam. Können Sie mir bitte sagen, wie sich ein Professor, der jetzt in Rente geht oder der in den 90er-Jahren ohne Vertrauensschutz in Rente gegangen ist, der nach 45 Arbeitsjahren 1 400 Euro Rente bekommt und ein Häuschen mit Bibliothek hat - das soll ja zum Lebensstil gehören -, mit diesem Alterseinkommen nachversichern soll? Er hat doch Beiträge gezahlt. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Kollegin Bunge, ich denke, die Frage ist: Rechnet sich das insgesamt, kann also das eingesetzte Kapital eine angemessene Verzinsung erwirtschaften? Das müsste nach dem, was ich vorgetragen habe, der Fall sein. Dann kann es im Einzelfall auch zumutbar sein, dass ein Betroffener für seine Nachversicherung einen kleinen Kredit aufnimmt, den er in der Folge aufgrund höherer Rentenversicherungsanwartschaften zurückzahlen kann. Das rechnet sich im Einzelfall; davon bin ich überzeugt. Das ist eine Frage der Verzinsung und der zuvor zu erbringenden Beiträge. Das ist der einzige Weg, den ich sehe, eine systemkonforme Behebung des geltend gemachten Unrechts vorzunehmen. Ansonsten würde es schwer werden, ja unmöglich sein, die beschriebenen Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Herr Kollege Schaaf, die christlich-liberale Koalition (Anton Schaaf [SPD]: Sonst hätte ich es noch mal gesagt!) hat festgelegt, die Angleichung des Rentenrechts in Ost und West grundsätzlich anzugehen. Ich denke, das ist der Rahmen, in dem auch die noch bestehenden Ungleichgewichte behandelt werden müssen; das sehen auch Sie so. Dabei wären auch die Modalitäten der Nachversicherung für jede Gruppe einzeln festzulegen. Das wird irgendwann in dieser Legislaturperiode - ich kann Ihnen nicht sagen, wann genau - geschehen. Um Ihre Bemerkung, Herr Schaaf, aufzugreifen, kann ich Ihnen eines sagen: Die Deutsche Rentenversicherung hat, was die Vereinheitlichung des Rentenrechts angeht, festgestellt, dass man diese zu jedem Zeitpunkt vornehmen kann, allerdings mit einem ausreichenden organisatorischen Vorlauf. Klar ist: Zum 1. Juli 2010 ist das nicht mehr zu schaffen; das wäre zu kurzfristig. Zum 1. Juli 2011 wäre das aber möglich. Es gibt in dieser Legislaturperiode noch weitere Rentenanpassungszeitpunkte. Zu geeignetem Zeitpunkt werden wir wieder auf dieses Thema zu sprechen kommen. Für heute bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wissen Sie, dass die Leute 80, 90, 95 Jahre alt sind?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel mit der Überschrift "Rentner am Rand der DDR" zu lesen. Darin geht es um Untersuchungen eines Historikers, der sich mit der Situation der Senioren in der DDR auseinandergesetzt hat. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich bin nicht für die DDR verantwortlich! Es geht um das Jetzt!) In diesem Artikel, der sehr interessant ist, wird Dierk Hoffmann - so heißt der Wissenschaftler - wie folgt zitiert: Sie - damit sind die Rentnerinnen und Rentner gemeint - lebten am Rande der sozialistischen Arbeitsgesellschaft. Die SED hat die knappen Geldressourcen vor allem dafür eingesetzt, die Löhne und Gehälter in der volkseigenen Industrie zu erhöhen. Da blieb für die Rentner weniger übrig. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Die durften dann in den Westen ausreisen!) Das heißt, die Renterinnen und Rentner waren in der DDR eine diskriminierte, benachteiligte Gruppe. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Das muss man als Vorbemerkung deutlich machen. Die Ergebnisse aller Untersuchungen, die es zu diesem Thema gibt, zeigen, dass die Rentnerinnen und Rentner diejenigen sind, die von der deutschen Einheit am meisten profitiert haben. Nicht nur, wenn man ausschließlich die Höhe der Rente, sondern auch, wenn man das Gesamteinkommen berücksichtigt, kommt man zu dem Schluss: Es waren die Rentnerinnen und Rentner, die stark profitiert haben, während es andere Gruppen gab, die durch die Einheit eher benachteiligt worden sind. Auch diese Vorbemerkung muss man hinzufügen. Es ist ja schon gelobt worden, dass dies auch im vorliegenden Antrag zur Kenntnis genommen wird. Vielleicht noch ein kleiner Hinweis an die FDP. Dass die Ansprüche der Rentnerinnen und Rentner der DDR so gut in unser System überführt werden konnten, liegt natürlich daran, dass wir ein umlagefinanziertes Rentensystem hatten und haben. Mit mehr Kapitaldeckung, die die FDP immer noch und immer wieder fordert - damals haben Sie dies besonders nachdrücklich gefordert -, wäre all das nicht möglich gewesen, (Anton Schaaf [SPD]: Das ist wohl wahr!) weil die Rentnerinnen und Rentner dann gar keine Rentenansprüche gehabt hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Insofern ist es für uns wichtig, dass die Umlagefinanzierung auch in Zukunft Kern und Basis der Alterssicherung in Deutschland ist. Nun aber zurück zum Renten-Überleitungsgesetz. Es ist zu betonen, dass es hier nicht darum ging, beide Systeme in irgendeiner Form zu fusionieren oder das Rentensystem der DDR eins zu eins in das deutsche Rentenrecht zu überführen. Es ist aber in Einzelfällen zu Benachteiligungen gekommen. Wir haben durchaus Verständnis dafür, dass manche diese Überführungsregeln als Aberkennung der Lebensleistung und als Diskriminierung empfinden. Andererseits sagen wir: Es gibt kein Patentrezept, mit dem jeder Einzelfall gerecht bewertet werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insofern halten wir eine grundlegende Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes für nicht sinnvoll. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich Probleme. Sie haben diverse Einzelgruppen benannt; auch wir haben sie uns angeschaut und werden noch einmal genauer hinschauen. Im Osten wird es in Zukunft enorme Armutsprobleme geben; da besteht Handlungsbedarf. Unsere Antwort auf die Probleme besteht aus drei Punkten: Erstens. Wir werden uns die einzelnen Gruppen genauer anschauen und prüfen, ob Handlungsbedarf besteht. Das wird aber sicherlich die Ausnahme sein. In der letzten Legislaturperiode haben wir bereits einen Antrag zur Versorgung für in der DDR Geschiedene gestellt; das werden wir auch in dieser Legislaturperiode tun. Zweitens. 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist es aus unserer Sicht endlich an der Zeit, dass es ein einheitliches Rentenrecht gibt. Zum einen betrifft das den aktuellen Rentenwert, der möglichst bald in Ost und West gleich hoch sein muss. Zum anderen betrifft das die Berechnung der Entgeltpunkte; hier sollte es in Zukunft keine Aufwertung der Einkommen im Osten mehr geben. Jetzt benachteiligte Gruppen im Osten würden von der Angleichung des aktuellen Rentenwertes profitieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Bei der Berechnung der Entgeltpunkte sollten die Einkommen im Osten nicht einseitig aufgewertet werden. Es gibt nämlich nicht nur im Osten, sondern auch im Westen niedrige Einkommen. Vor dem Hintergrund der ansteigenden Altersarmut im Osten, aber auch im Westen sagen wir: Wir brauchen eine Garantierente, ein Minimum der Leistungen aus der Rentenversicherung in Ost und West, mit der sichergestellt wird, dass zumindest langjährig Versicherte eine Rente erhalten, die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Nach 30 Jahren Versicherungszeit sollten Rentnerinnen und Rentner mindestens 30 Entgeltpunkte haben, also mindestens etwa 800 Euro Rente erhalten. Damit würden wir sowohl den aktuellen als auch den zukünftigen Problemen der Altersarmut gerecht werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/1631 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksache 17/1683 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Hier ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile das Wort dem Bundesminister Dr. Guido Westerwelle. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten 20 Jahren hat der westliche Balkan uns sehr schmerzlich daran erinnert, dass Frieden in Europa nicht selbstverständlich ist. Wir mussten die leidvolle Erfahrung machen, dass Europa in den 90er-Jahren nicht in der Lage war, die Rückkehr von Krieg und Zerstörung auf dem eigenen Kontinent zu verhindern. Die Erfahrung aus den 90er-Jahren, als Krieg und Zerstörung auf unserem eigenen Kontinent stattfanden, ist eine Mahnung, die zeigt: Die europäische Einigung hat als Friedensprojekt eben ausdrücklich nicht ausgedient. Gerade in diesen Tagen sollte man das noch einmal sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zwei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ist die Lage im Kosovo stabil. Die Verbesserung der Sicherheitslage ist der Erfolg des jahrelangen Einsatzes von KFOR. Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der veränderten Aufgabenstellung von KFOR wider: Weil KFOR erfolgreich war, können wir die Soldatinnen und Soldaten seit dem vergangenen Jahr verstärkt für die Ausbildung von Sicherheitskräften im Kosovo einsetzen. Weil KFOR erfolgreich war, können wir jetzt, gemeinsam mit unseren Verbündeten, die Missionsstärke deutlich verkleinern. Das Mandat, das ich dem Bundestag heute gemeinsam mit dem Bundesverteidigungsminister vorlege, sieht eine Reduzierung der Obergrenze der Kräfte der Bundeswehr von 3 500 auf 2 500 vor. Wir sind zuversichtlich, dass bald weitere Reduzierungen möglich werden. Militärisches Eingreifen - darin sind wir uns in diesem Hause einig - ist immer nur das allerletzte Mittel der internationalen Politik. Dies ist eine Konstante der deutschen Außenpolitik. Unser Ziel ist ein Kosovo, das ohne ausländische Truppen für seine eigene Sicherheit sorgen kann, und auf diesem Weg sind wir ein gutes Stück vorangekommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auf dem langen und sehr schwierigen Weg nach Europa muss das Kosovo noch enorme Herausforderungen bewältigen. Das hat die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2009 festgestellt, und das soll auch nicht verschwiegen werden. Die Defizite bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität wurden darin ausdrücklich angemahnt. Trotz Wachstumsraten zwischen 4 und 5 Prozent ist das Kosovo immer noch das wirtschaftliche Schlusslicht in Europa. Über all diese Probleme habe ich Anfang Mai mit Präsident Fatmir Sejdiu gesprochen, und ich bin zuversichtlich, dass er sowie seine ganze Regierung diese Probleme seines Landes auch energisch angehen. Er kann dabei auf die Unterstützung Europas zählen. Mit der Rechtsstaatsmission EULEX hat die Europäische Union Verantwortung übernommen. Sie will das Kosovo dabei unterstützen, zu einem gleichberechtigten und ebenbürtigen Teil Europas zu werden. Der Schlüssel zu einer europäischen Zukunft liegt vor allem im Kosovo selbst. Das Kosovo soll schrittweise für die Sicherheit im eigenen Land sorgen. Die Polizei Kosovos hat in den letzten Monaten die Verantwortung für serbisch-orthodoxe Klöster und andere schutzbedürftige Kulturstätten übernommen. Das hört sich in Deutschland nicht sehr spektakulär an; aber angesichts einer Geschichte der gegenseitigen Verletzungen ist es eine wirklich beachtliche Leistung, ein bedeutender Fortschritt. Wir sind immer leicht dabei, zu kritisieren, wenn etwas von dem, was wir uns vorgenommen haben, nicht gelingt. Aber wenn etwas gelingt, was wir uns gemeinsam überparteilich in diesem Hause vorgenommen haben, dann darf dies auch einmal erwähnt werden und positive Resonanz finden, so meine ich, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mit der Unabhängigkeit sind die Kosovo-Albaner zur Mehrheit in ihrem Staat geworden. Mit der Anerkennung des Staates Kosovo verbindet die internationale Gemeinschaft die Erwartung, dass das Kosovo mit dieser neuen Machtverteilung verantwortungsvoll umgeht. Die Verfassung des neuen Staates garantiert die Sicherheit und Gleichberechtigung auch für die Kosovo-Serben, die dort lebenden Roma und andere Minderheiten. Erst dann, wenn alle Ethnien im Kosovo in Freiheit und Sicherheit leben können, wird das Kosovo zur Ruhe kommen. Die Kommunalwahlen vom Herbst letzten Jahres haben gezeigt, dass die Trennlinien zwischen den ethnischen Gruppen nicht so eindeutig sind, wie es radikale Kräfte aller Gruppierungen immer wieder behaupten. In den mehrheitlich von ethnischen Serben bewohnten Gebieten im Süden des Kosovo haben sich viele Menschen gegen einen Wahlboykott und für die Teilnahme entschieden. Auch das ist bemerkenswert und sagt etwas über die Bevölkerung aus. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frieden im Kosovo wird es aber auf Dauer nicht gegen Serbien, sondern nur mit Serbien geben. Dafür müssen wir die verantwortungsbewussten Kräfte im Kosovo wie auch in Serbien stärken. Wir haben den Präsidenten Boris Tadic darin bestärkt, eine Politik der Verständigung und des Ausgleichs entschlossen zu verfolgen. Vor dem Mut und der Durchsetzungskraft, mit der er sich gegen diejenigen wendet, die auf Konfrontation und Zwiespalt setzen, habe ich - ich glaube, dass ich das nicht nur für mich, sondern für die allermeisten Kollegen in diesem Hause sage - sehr großen Respekt. Die große Mehrheit der Menschen in Serbien und im Kosovo ist es leid, dass ihnen die Demütigungen, Zerstörungen und Morde der Balkankriege den Weg in die Zukunft verstellen. Niemand wird die Opfer dieser Zeit vergessen. Kosovo und Serbien gehen denselben Weg in die Zukunft. Es ist ein europäischer Weg, über den wir sprechen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dass der westliche Balkan heute eine europäische Perspektive hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Deswegen will ich damit schließen - nicht als Pflichtübung, sondern in unser aller Namen von Herzen sprechend -: Sie verdienen unsere Anerkennung und unsere Unterstützung. Ich danke ihnen wie auch ihren Familien, Freunden und Angehörigen. Ihr Mut und ihre Tapferkeit machen diesen Einsatz erst möglich. Ich bitte um eine breite Zustimmung für dieses Mandat. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gernot Erler hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion wird einer Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Absicherung der Friedensregelung für Kosovo durch die KFOR-Mission mit großer Mehrheit zustimmen. Wir sehen dies als einen noch notwendigen Beitrag im Rahmen eines nun schon über zehn Jahre andauernden, sehr breiten Engagements Deutschlands für eine gute Zukunft des Kosovo und der gesamten Westbalkanregion. In diesem breiten Engagement finden wir sehr verschiedene Elemente. Das hat schon mit der Aufnahme der Flüchtlinge in den Jahren 1998 und 1999 begonnen. Bis heute leben 300 000 Kosovaren in Deutschland. Dazu gehört die prominente Rolle Deutschlands als Geber für den Wiederaufbau. Mit den von Deutschland bereitgestellten Mitteln - allein 42 Millionen Euro im vergangenen Jahr - liegen wir hinter den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle. Diese Mittel wurden für verschiedene Schwerpunkte verwendet: Aufbau der öffentlichen Verwaltung, Demokratisierung, Stärkung der Zivilgesellschaft, Bildungsmaßnahmen, aber auch Infrastruktur wie Wassermanagement und Stromversorgung. Zu unserem Engagement für den Kosovo zählt auch die Unterstützung von EULEX, der bis heute größten Rechtsstaatsmission der Europäischen Union mit über 2 600 Fachleuten - darunter etwa 1 000 Einheimische -, sowie des Aufbaus einer multiethnischen Justiz und einer Polizei sowie einem Zollwesen. Wir sind ungewöhnlicherweise auch mit exekutiven Aufgaben betraut. Deutschland leistet nicht nur finanzielle Hilfen, sondern stellt auch circa 80 Polizisten sowie 25 Experten, Richter, Staatsanwälte und Rechtsfachleute. Zu unserem Engagement gehören auch die langjährige Unterstützung der Ahtisaari-Mission und die Unterstützung der Troika bei ihrem Versuch, eine Einigung mit Serbien zu erreichen. Als das nicht funktionierte, gehörte dazu auch unsere frühe Anerkennung der Erklärung der Selbstständigkeit des Kosovo, und zwar nur vier Tage nach der Unabhängigkeitserklärung. Heute haben sich dieser Anerkennung 66 Staaten angeschlossen. Wir unterstützen den Kosovo bei seinem Bemühen, in die regionale Zusammenarbeit einbezogen zu werden. Häufig ist das nur unter dem Label UNMIK, der Mission der Vereinten Nationen, möglich und mit der Unterstützung der Arbeit des internationalen zivilen Repräsentanten, der gleichzeitig Sonderbeauftragter der EU ist und für die vorläufig noch überwachte Souveränität des Kosovo eine wichtige Rolle spielt. Das alles zeigt: KFOR, die militärische Absicherung des Friedens- und Stabilisierungsprozesses im Kosovo, ist Teil eines breiten politischen und finanziellen Gesamtengagements Deutschlands, um dessen Details wir uns immer wieder kümmern müssen. Zum Glück können wir heute sagen - hierin muss man dem Außenminister zustimmen -: Es ist verantwortbar, die Präsenz von KFOR schrittweise zu reduzieren, weil sich die Sicherheitslage im Kosovo insgesamt verbessert hat, was für die Minderheiten und ihren aktiven Anteil am politischen Leben im Kosovo besonders wichtig ist - besonders im Süden des Kosovo wird das umgesetzt -, und weil heute blutige Ausschreitungen wie die vom März 2004 - wir haben und werden sie nicht vergessen - kaum noch denkbar erscheinen. Auch andere Aufgaben sind erledigt. Zum Beispiel ist das Kosovo Protection Corps zum Sommer letzten Jahres aufgelöst worden. Es gibt gute Fortschritte bei der Aufstellung eigener Sicherheitskräfte im Kosovo unter dem Titel Kosovo Security Force. Das bedeutet, dass man die Truppenstärke von KFOR durch das sogenannte "Gate 1" schon zum 1. Februar dieses Jahres von 14 000 auf 10 000 Kräfte reduzieren konnte. Es macht daher Sinn, die Obergrenze des deutschen Anteils, wie es im Antrag der Bundesregierung steht, von 3 500 auf 2 500 Kräfte herabzusetzen und sich auf eine - mit der KFOR etwa über die Stufen 5 500 Mann, 2 500 Mann bis hin zum Abzug - weitere Reduzierung vorzubereiten. Es gibt aber auch Probleme. Noch ist das, was in der gegenwärtigen Phase von KFOR als "deterrent presence" bezeichnet wird - also die abschreckende Anwesenheit -, notwendig, also nicht verzichtbar, schon allein deswegen, um jeden Rückschritt betreffend die Sicherheitslage auszuschließen, aber auch, um den dringlichen Erwartungen der internationalen Gemeinschaft, was weitere Reformbemühungen im Kosovo angeht, Nachdruck zu verleihen. Solange die EU-Kommission, wie in ihrem letzten Fortschrittsbericht vom 14. Oktober 2009 niedergelegt, Grund dazu hat, mangelnde Fortschritte bei der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und beim Aufbau des Justizsystems im Kosovo zu beklagen, solange dringend Erfolge im Kampf gegen Korruption, Drogenhandel, organisierte Kriminalität und sogar Kinderarbeit angemahnt werden müssen, so lange kann es nicht zu einem Ende der überwachten Souveränität kommen. Gerade gestern, am 19. Mai, hat die sehr angesehene internationale Organisation zur Politberatung ICG, die International Crisis Group, einen neuen Bericht zum Thema "Rechtsstaatlichkeit im unabhängigen Kosovo" veröffentlicht. Die ICG konstatiert Fortschritte, insbesondere im Bereich der Sicherheit von Minderheiten, aber kommt sehr kritisch und eindrucksvoll auf die Schwächen des kosovarischen Justizsystems zu sprechen. Ich möchte den Kernsatz aus diesem Gutachten vorlesen: Im Zivilrecht ist es für Bürger wie Einheimische und internationale Firmen praktisch unmöglich, ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. - Dann wird darauf hingewiesen, dass das häufig dazu führt, dass Auseinandersetzungen nicht vor Gericht, sondern auf andere Art, inklusive Gewaltanwendung, ausgetragen werden. Solange diese Gefahr noch vorhanden ist, müssen wir im Rahmen von KFOR mit reduzierten Kräften vor Ort vertreten bleiben. Ich möchte mit zwei klaren Erwartungen abschließen, die ich an die Bundesregierung richte. Die erste Erwartung hat etwas mit dem Reduzierungsprozess bei KFOR zu tun. Wir müssen verhindern, dass bei diesem weiteren Reduktionsprozess Unordnung entsteht. Ich denke daran, dass die Franzosen angekündigt haben, dass sie bei "Gate 2", also bei der nächsten Reduzierungsstufe, alle Truppen abziehen wollen. Wenn das zu einer Art Wettlauf wird, wer am schnellsten wieder draußen ist, kann das für den Kosovo gefährlich werden. Meine Herren Bundesminister, versuchen Sie, das zu verhindern; denn das wäre katastrophal für das Land. Zweitens - hier knüpfe ich gerne an die Schlussbemerkung von Ihnen, Herr Dr. Westerwelle, an -: Es ist schon wichtig, sich immer bewusst zu sein, wie wichtig für alles Konstruktive, was im Kosovo und im Westbalkan passiert, die verbindliche europäische Perspektive ist. Es ist gut, dass Sie das hier erwähnt haben. Besser wäre es gewesen, wenn schon im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gekommen wäre, dass das, was einst im Juni 2003 im Europäischen Rat von Thessaloniki gesagt worden ist, weiterhin verbindlich gilt. Ohne diese politische Perspektive der europäischen Integration wird es keine Motivation für nachhaltigen Fortschritt in der Region geben. Deswegen möchte ich das hier noch einmal sehr deutlich ansprechen. Wir sollten zusammen eine solche Sicherheit geben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Kollege Erler, wir erinnern uns sicherlich noch alle genau an Thessaloniki. Thessaloniki gilt in seinen Grundausrichtungen. Das ist natürlich - das haben Sie angesprochen - an entsprechende Fortschritte, die aus der Region zu kommen haben, gebunden. Es ist aber wichtig, sich an diesen Bogen, an diesen Brückenschlag zu erinnern, der im Jahre 2003 über viele Grenzen hinweg in großer Ernsthaftigkeit vollzogen wurde. Für manche ist es der vergessene Einsatz. Ich finde, nichts könnte falscher sein, als das in diese Richtung zu drängen. In der öffentlichen Berichterstattung ist es um den Kosovo tatsächlich vergleichsweise ruhig geworden. Jetzt kann man sagen, das verdanken wir - das ist auch so - natürlich dem Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten. Wir verdanken es auch zahlreichen diplomatischen Bemühungen, die auf den Weg gebracht wurden; sie wurden im Einzelnen angesprochen. Wir verdanken es aber auch dem Engagement vieler Vereinigungen zum Beispiel - das darf ich einmal mit Blick zu Ihnen, Herr Erler, sagen - aus unserem Land, der Südosteuropa-Gesellschaft, die sich hier sehr eingebracht und immer wieder versucht hat, die Dinge miteinander zu verknüpfen, dort kritisch zu sein, wo man kritisch sein musste, aber eben auch konstruktive Impulse zu geben. Meine Damen und Herren, zur Stunde - wir diskutieren heute ja auch über die Zahlen - versehen etwa 1 500 deutsche Soldatinnen und Soldaten in unserem Auftrag ihren Dienst bei KFOR, fern der Heimat und auch unter fordernden Bedingungen. Wir neigen derzeit dazu, im Wesentlichen nur einen Einsatz und die entsprechenden Herausforderungen zu benennen. Die Bedingungen für unsere Soldatinnen und Soldaten sind auch im Kosovo fordernd. Vor dem Hintergrund erinnere ich daran, dass das einiges abfordert. Sie haben wesentlichen Anteil daran, dass das Kosovo heute ein unabhängiger demokratischer Staat ist. Was noch 2007 als Schreckgespenst an die Wand gemalt wurde, hat sich zum Glück nicht bestätigt, bei aller Wachsamkeit, die wir weiterhin an den Tag legen müssen. Das Jahr 2004 wurde erwähnt. Wir alle waren erschrocken über das, was sich dort ereignet hat, weil man auch damals glaubte, es sei um den Kosovo ruhig geworden - und das war es nicht. Wir können jetzt mit Erleichterung und, glaube ich - das müssen wir gar nicht verhehlen -, mit einem gewissen Stolz auf diese KFOR-Operation blicken, müssen uns aber eben diese Wachsamkeit erhalten, eine Wachsamkeit, die an die nächsten und notwendigen Schritte zu binden ist. Herr Kollege Westerwelle hat auf einige Defizite hingewiesen; auch Sie haben auf einige Defizite verwiesen, die aus dem Land selbst heraus noch zu beheben sind. Hier müssen wir die Unterstützung geben, die wir geben können. Sicherheitspolitisch ist die Lage weitgehend stabil. Ich möchte noch eine andere Zahl nennen. Mittlerweile sind wir im Kosovo von anfangs mehr als 50 000 Soldaten bei nunmehr unter 10 000 Soldaten. Schon das steht für eine Erfolgsgeschichte. Man darf auch einmal benennen, dass Auslandseinsätze eine Erfolgsgeschichte sein können. Unser deutscher Beitrag konnte von ursprünglich 6 400 Soldaten - das war im Jahre 2000 - auf ebenjene 1 500 Soldaten reduziert werden. KFOR ist heute, bildlich gesprochen, nicht mehr die "Feuerwehr", die in der ersten Linie steht; wir haben uns mittlerweile in die dritte Reihe begeben können. Die erste Reihe bilden nun die kosovarischen Sicherheitskräfte selbst. Die Rechtsstaatsmission EULEX wurde genannt. Auch sie hat sich als ein richtiges und sehr schlüssiges Instrument erwiesen. Wir haben, wenn man so will, mit KFOR die Rolle eines Stabilitätsankers übernommen. Wir sind damit in der dritten Reihe, haben aber alle Aufmerksamkeit. Die dritte Reihe ist kein schwacher Platz. Das ermöglicht die Absenkung der personellen Obergrenze von 3 500 auf 2 500 Soldaten, die wir nun vornehmen. Jetzt mag man fragen: Wenn man dort 1 500 Soldaten hat, weshalb setzt man die Obergrenze bei 2 500 an? Ich glaube, dass es wichtig ist, für den Fall einer Lageverschlechterung einen erforderlichen Spielraum zu haben. Eine Lageverschlechterung kann sich immer ergeben. Das ist in meinen Augen generell im Blick zu behalten, wenn wir über Obergrenzen bei Auslandseinsätzen sprechen. Die wesentliche Rolle von KFOR ist - das haben Sie, Herr Erler und Herr Kollege Westerwelle, angesprochen -, die abschreckende Präsenz, die "deterrent presence", wie es etwas martialisch umschrieben ist, zu bewahren. Sie hat aber Sinn und ist als Stabilitätselement vorerst unverzichtbar. Sie bleibt auch unverzichtbare Voraussetzung für den Ausbau staatlicher Strukturen, um den Defiziten zu begegnen, für den Ausbau wirtschaftlich funktionsfähiger Strukturen - hier ist weiterhin die Achillessehne des Kosovo; die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht so, dass es einem Tränen der Euphorie in die Augen treibt - und insbesondere für den kulturellen und interethnischen Aussöhnungsprozess. Hier kommt es - ja, das ist vollkommen richtig - maßgeblich auf die Rolle Serbiens an. Wenn wir in den Norden des Kosovo blicken, sehen wir, dass dort noch Eskalationspotenzial besteht. Auch dies zeigt, dass wir die personellen Spielräume brauchen, um dort gegebenenfalls eine Präsenz vorhalten zu können und einer möglichen Eskalation entgegenzuwirken. Die zweigeteilte Stadt Mitrovica steht weiterhin paradigmatisch für das hier noch vorhandene Eskalationspotenzial. Zwischenfälle sind erfreulicherweise in letzter Zeit ausgeblieben. Das kann diesen nächsten Schritt rechtfertigen. Aber ich will eines gern aufgreifen: Für uns alle sollte gelten: together in, together out. Das ist sehr neudeutsch. - Da schüttelt es den Kollegen Westerwelle. Die englische Aussprache von KFOR ist für ihn schon zu viel, und dann auch das noch. (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen: Das ist zu viel verlangt! Demnächst werden Sie auch noch NATO englisch aussprechen!) - Nein, um Gottes willen. Das werde ich mit Sicherheit nicht tun. - In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu sagen, dass einseitige, unilaterale Schritte nicht von Nutzen sind. Dieses Signal senden wir auch an unsere Partner im Rahmen von KFOR. Ich glaube, insgesamt können und müssen wir von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Wir sollten das mit dem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten verbinden, die diesen verdient haben. Dieser Einsatz ist nicht vergessen, unsere Soldaten sind nicht vergessen. Ich bitte um die Unterstützung für die Verlängerung dieses Einsatzes. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Fraktion Die Linke hat Paul Schäfer das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kommandant der NATO-Truppen im Kosovo, General Bentler, hat vor wenigen Wochen festgestellt, der militärische Auftrag sei erfüllt. Nein, das ist nicht ganz richtig; er hat gesagt, er sei "weitgehend erfüllt". Er hat weiter gesagt - das möchte ich zitieren -: Es gibt keine Bedrohung mehr von außen. ... Alle Herausforderungen, die im Kosovo noch zu meistern sind, haben nicht militärische Natur. Es geht um soziale, politische, wirtschaftliche Fragen ... Das ist der O-Ton von General Bentler. Wenn das so ist, dann ist es doch nur folgerichtig, sich auf die Lösung genau dieser Fragen zu konzentrieren, zum Beispiel auf die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen. Man muss die wirtschaftlichen Fragen angehen. Wenn das, was der zuständige NATO-Kommandant sagt, richtig ist, dann wäre es auch folgerichtig, die Truppen nicht in Trippelschritten, sondern möglichst rasch abzuziehen. Genau das ist die Aufgabe. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung bleibt in ihrem Antrag die Antwort auf die Frage, warum man die Bundeswehr im Kosovo behalten sollte, schuldig. Noch einmal: Es gibt keine militärische Bedrohung von außen; das sagt der NATO-Kommandant. Dass man für die Ausbildung der kosovarischen Sicherheitskräfte, die 2 500 Mann umfassen sollen, 10 000 Soldaten benötigt, das halte ich für völlig abwegig. Wir werden daher der Verlängerung des KFOR-Mandats nicht zustimmen. (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Das war klar!) Die Linke ist dafür, die Bundeswehr dort abzuziehen. (Beifall bei der LINKEN) Ich weiß, dass man die Aussage, der militärische Auftrag sei weitgehend erfüllt, als Erfolg interpretieren kann. Der Minister hat das gerade getan. Durch die NATO-Brille mag das wohl so scheinen. Ich will drei Einwände bringen: Erstens. Die Sache steht politisch und rechtlich weiter auf wackeligen Füßen. Zweitens. Eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist nicht zu erkennen. Das Stichwort vom Schlusslicht Kosovo ist gefallen. Drittens. Die internationalen Verwerfungen, die dieser selbstmandatierte Militäreinsatz der NATO hervorgerufen hat, sind und bleiben erheblich. Zum Ersten: Kosovo hat sich einseitig für unabhängig erklärt. Die UNO-Resolution 1244, auf die sich die Militärpräsenz stützt, sieht eine solche Sezession nicht vor. Deshalb hat die Stationierung der Bundeswehr dort unseres Erachtens keine ausreichende rechtliche Grundlage. Außerdem ist der internationale Status nach wie vor ungeklärt. Nach wie vor weigert sich die Mehrzahl der UNO-Mitgliedstaaten, die Sezession des Kosovo anzuerkennen. Sie lässt das beim Internationalen Gerichtshof prüfen. Bezüglich der politischen Ansprüche, die die NATO bei ihrer Militärintervention formuliert hat, die auch der Grund für das Eingreifen waren, muss man fragen: Kann man da von einem Erfolg reden? Ist die Mission, ein multiethnisches Kosovo zu schaffen, nicht mit den NATO-Luftangriffen zerstört worden? Jetzt sagt der Kommandant, die Rückkehr von Kosovo-Serben müsse wesentlich stärker gefördert werden. Bitte sehr, aber das hören wir seit zehn Jahren. Das ist ein hilfloser Appell. Auch das kennzeichnet die Realität dort. Zum Zweiten: Das öffentliche Gemeinwesen des Kosovo hängt am Tropf internationaler Unterstützungsleistungen. Es sind erhebliche Transfersummen dorthin geflossen, aber es gibt keine funktionierenden wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Strukturen. Die Stichworte "Korruption" und "organisierte Kriminalität" sind genannt worden. Meines Erachtens hat sich auch dort gezeigt, dass Quasi-Protektorate und Korruption siamesische Zwillinge sind und bleiben. Zum Dritten: Was die internationalen Entwicklungen betrifft, ist das Ganze eher abschreckend. Dieser Krieg hat zur Schwächung der UNO und der OSZE geführt und war der Auftakt zur Verschärfung anderer Autonomie- und Sezessionskonflikte über Europa hinaus. Ohne den Sündenfall Kosovo würde es heute anders um Abchasien und Südossetien stehen, und die UNO hätte andere Handhabemöglichkeiten, um dort politische Lösungen zu finden. (Beifall bei der LINKEN) Wer der Region also eine neue Perspektive eröffnen will, der muss die militärische Intervention beenden, der muss die Stärkung des internationalen Rechts im Blick haben, sich also auf völkerrechtlich gesicherten Pfaden bewegen und alles daransetzen, dass die Kräfte der Aussöhnung und der Vernunft in der Region gestärkt werden. Das geht nur durch eine viel intensivere Unterstützung zivilgesellschaftlicher Projekte. Die Alternative zu einem militärisch eingefrorenen Konflikt ist ein zivil gelöster Konflikt. Genau das wollen wir. Dafür steht die Linke. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Omid Nouripour ist der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch vor wenigen Tagen hat sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Kosovo beschäftigt. In der Debatte war immer wieder zu hören, dass der Kosovo zwar stabil, aber poten-ziell fragil sei, und das, lieber Herr Kollege Schäfer, ist der Grund, warum unser Engagement weiterhin gebraucht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Es geht darum, das, was an Sicherheit und Frieden bisher hergestellt worden ist, in dieser kritischen Situation nicht aufs Spiel zu setzen. Das ist der Grund, warum wir der Meinung sind, dass unser Einsatz dort fortgesetzt werden muss, zumindest zurzeit. Womit Sie aber recht haben, ist die Feststellung, dass das alles nicht funktioniert, wenn man die sozialen Probleme dort nicht angeht. Es gibt eine wunderbare Maßzahl - sie ist nicht in der Sache wunderbar, macht es aber sehr anschaulich -: die Jugendarbeitslosigkeit; sie liegt bei über 60 Prozent. Das ist ein Riesenproblem. Wir wünschen uns von der Bundesregierung, dass sie in der EU dafür eintritt, dass man sich gerade in den Bereichen Bildung und Ausbildung mehr anstrengt, weil das der einzige - zivile - Weg ist, wie man eine langfristige Lösung für den Kosovo, die Sie gerade gefordert haben, erreichen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Kosovo ist ein unfertiger Staat. Die Probleme sind bekannt: Der Aufbau der Administration, der Justiz- und Zollverwaltung etc., leidet unter Korruption und organisierter Kriminalität. Es gibt große Probleme in diesen Bereichen, die noch angegangen werden müssen. Wir müssen auch selbstkritisch feststellen: Die Verschachtelung von UNMIK und EULEX ist nicht immer hilfreich, sie ist nicht in allen Bereichen besonders gelungen. Manches muss verbessert werden. Das muss die Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union zur Sprache bringen. Eine isolierte Lösung für den Kosovo wird es nicht geben. Wir brauchen einen regionalen Ansatz, allen voran - das ist zu Recht gesagt worden - mit Serbien. Es ist von zentraler Bedeutung, der serbischen Bevölkerung klarzumachen, dass Serbien eine EU-Perspektive hat, dass sie die Chance haben wird, die historische Teilung Europas, die weitgehend überwunden ist, sich am Westbalkan aber noch zeigt, zu überwinden. Auch Serbien muss eines Tages die Chance bekommen, in die Europäische Union zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dabei darf man Bosnien nicht vergessen; auch Bosnien ist in diesem Zusammenhang alles andere als unwichtig. Meine Damen und Herren, die KFOR-Mission und unsere Soldatinnen und Soldaten genießen vor Ort großen Respekt. Das liegt daran, dass sie eine gute Arbeit machen. Deshalb möchte ich den Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion unseren herzlichen Dank aussprechen. Die Truppenstärke von KFOR liegt jetzt unter 10 000 Soldaten. Deshalb ist es richtig, dass wir die Obergrenze für das Mandat jetzt auf 2 500 Soldaten absenken. Die Bundesregierung gibt uns so verdammt wenige Möglichkeiten, sie zu loben, dass ich unterstreichen will: Diese Entscheidung ist richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) - Sie müssen mir zu Ende zuhören: Konterkariert wird diese Entscheidung von einer falschen Entscheidung, nämlich der Unterzeichnung des Rückübernahmeabkommens mit dem Kosovo. Es gibt Warnungen vom UNHCR, von den Vereinten Nationen, von der OSZE, von den Menschenrechtsorganisationen, von den Flüchtlingsorganisationen. Sie alle sagen: Zwangsrückführungen in den Kosovo - insbesondere von Roma und Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten - sind schlicht unverantwortlich. Das muss an dieser Stelle gesagt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nicht nur, dass diese Personen keinerlei soziale Perspektive, keinerlei Chance auf rechtliche Gleichbehandlung haben: Dadurch, dass diese Personen in dieses Land geschickt werden - noch einmal: in ein potenziell fragiles Land -, setzen Sie die Stabilität des Landes aufs Spiel. Mit dem Anspruch, die Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten wirksam zu unterstützen, ist das nicht vereinbar. Deshalb meine Bitte: Denken Sie darüber nach, die Unterzeichnung dieses Abkommens, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, auszusetzen - Abschiebungen in den Kosovo konterkarieren unser Engagement dort -, und sorgen Sie für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal zu dem Beitrag meines Kollegen Nouripour: Herzlichen Dank für die gute Beschreibung der Situation im Kosovo. Ich glaube, dass die Einigkeit, die wir - bis auf die Linkspartei, die sich leider auch an dieser Stelle wenig verantwortungsbewusst zeigt - bei dieser Mission demonstrieren, die Kontinuität des Einsatzes sehr gut widerspiegelt. Kollege Nouripour hat es gesagt: Es sind große Fortschritte zu erkennen. Sie werfen rechtliche Fragestellungen auf. Damit will ich auf Ihren letzten Punkt eingehen: Es ist natürlich so, dass wir in Deutschland bei Fragen, die Flüchtlinge und Asyl betreffen, klare rechtliche Vorgaben mit nachprüfbaren Kriterien haben. Aufgrund der Stabilität, die es im Kosovo - trotz aller Schwierigkeiten - gibt, können wir unsere rechtlichen Maßstäbe, was Abschiebung angeht, guten Gewissens anwenden. Deshalb unterstütze ich das, was wir dort auf den Weg bringen. Wir hatten in den letzten Jahren so viel Erfolg, dass wir unsere rechtlichen Kriterien weiterhin aufrechterhalten können; deshalb die konsequente Abschiebung, wenn der Tatbestand nicht mehr erfüllt ist, weil sich die Situation im Heimatland wesentlich verbessert hat, man also keinen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung mehr hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch einmal mit den Roma!) Der zentrale Punkt, bei dem wir wieder übereinstimmen, ist die Zukunft des Kosovo. Herr Schäfer, ich bin nicht damit einverstanden, dass Sie das Argument eines vermeintlich multiethnischen Kosovo - man kann sich ja wirklich darüber streiten, inwiefern der Begriff "multi-ethnisch" so anzuwenden ist - erst verschleiernd, dann aber doch offensichtlich dafür nutzen, eine politische Diskussion zu führen - Sie haben gesagt, wir hätten die NATO-Brille auf -, die eigentlich in eine Zeit gehört, in der es die Konfrontation zwischen der NATO und einem anderen Machtbündnis gab. Sie haben in Ihrer Argumentation von dem Vehikel der angeblich multiethnischen Gesellschaft gesprochen. Diese Stellungnahme zeugt von anderen politischen Interessen außerhalb Deutschlands und vor allem auch innerhalb der Region, was ich Ihnen nicht so einfach durchgehen lassen will. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass wir Serbien und auch die Kosovaren selber immer wieder auffordern müssen, einen gemeinsamen Weg in Richtung Europa zu gehen. Dieser Weg kann nur gemeinsam begangen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb ist jeder Versuch, die Struktur des Kosovo so für seine Zwecke zu interpretieren, wie Sie das hier getan haben, aus meiner Sicht nicht zulässig. Vor diesem Hintergrund und nach den Gesprächen, die wir in den letzten Monaten geführt haben, bin ich der Meinung, dass der Schwerpunkt unseres Engagements in Zukunft natürlich auf der Unterstützung des zivilen Aufbaus liegen muss. Als uns der kosovarische Bildungsminister vor ein paar Monaten besucht hat, wurde uns in all den Gesprächen, die wir mit ihm geführt haben, klargemacht, wie wichtig die Themen Bildung und Ausbildung und der Aufbau wirtschaftlicher Strukturen für das Kosovo selbst sind. Das müssen wir weiterhin unterstützen. Der Rahmen, den wir dafür bieten, ist eben, dass wir diese Mission auf Grundlage der Resolution der Vereinten Nationen weiterhin durchführen. Selbstverständlich hätten wir es gerne, dass der Einsatz nach so langer Zeit so erfolgreich ist, dass ein militärisches Engagement nicht mehr notwendig ist. Ich denke aber, dass durch die Herabsetzung der Obergrenze und den durch beide Minister skizzierten Verlauf dieser Mission deutlich wird, dass es sich um einen erfolgreichen Einsatz handelt. Um die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen im zivilen Sektor deutlich machen zu können, brauchen wir natürlich weiterhin diese militärische Komponente, die im Übrigen - das ist ja nicht isoliert von den Menschen vor Ort oder isoliert in der Region zu sehen - auf breiteste Akzeptanz dort stößt. Das darf man auch nicht außer Acht lassen. Deshalb sollten wir die Verantwortlichen, die es im Kosovo schwer genug haben, eine vernünftige Zukunft zu gestalten, auch in dieser Debatte unterstützen, indem wir sagen: Unser Engagement gilt erstens dem Aufbau der Zivilgesellschaft, und dies wird zweitens auch dadurch unterstrichen, dass wir uns unserer militärischen Verantwortung stellen. - Es ist nämlich richtig gesagt worden: Noch ist nicht alles von dem erreicht, was wir uns vorgenommen haben, sondern unser Einsatz ist weiterhin notwendig. Deshalb wünsche ich unseren Soldatinnen und Soldaten auch in diesem Einsatz weiterhin viel Erfolg mit hoffentlich, wie der Herr Bundesverteidigungsminister deutlich gemacht hat, möglichst wenigen Zwischenfällen, sodass ihre Präsenz zwar notwendig ist, aber schon vorauseilend eine Konsequenz hat, nämlich die, dass durch die starke Militärpräsenz auch weiterhin gar keine bzw. kaum einmal Zwischenfälle geschehen, sondern die politische Stabilität obsiegt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich Hans-Christian Ströbele das Wort. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein!) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Mißfelder, ich wehre mich wieder dagegen, dass Sie auch mich vereinnahmen, indem Sie sagen, wir alle seien dieser Auffassung. Sie müssen vorsichtig sein und sich immer erst bei mir erkundigen, ob Sie mich da mit einbeziehen können. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie können sich ja nicht jedes Mal herausnehmen, Herr Ströbele!) Das war aber nicht der inhaltliche Grund meiner Kurzintervention, sondern ich möchte zwei Bemerkungen der beiden Minister widersprechen. Sie haben unisono - ich glaube, der Außenminister zweimal - erklärt, das sei ein äußerst erfolgreicher Einsatz der Bundeswehr gewesen, und der Verteidigungsminister hat sogar von einer Erfolgsgeschichte dieses Einsatzes gesprochen. Die Älteren unter uns, vor allem Dienstältere im Parlament wie ich, erinnern sich, dass der Einsatz seinerzeit am Ende der Bombardierung und des Krieges gegen Serbien beschlossen wurde und dass die Stationierung der Truppen im Kosovo damals mit Zustimmung der serbischen Regierung, auch von Milosevic, erfolgte. Man kann vielleicht von einer erzwungenen Zustimmung reden, aber immerhin ist die Stationierung mit Zustimmung Serbiens erfolgt. Zu dem Auftrag der KFOR-Truppe, die in den Kosovo geschickt worden ist, gehörte eine ganze Reihe von Aufgaben, von denen zwei ganz wesentlich waren: Sie sollte erstens die multiethnische Entwicklung des Kosovo garantieren. Zweitens sollte sie garantieren, dass der Kosovo nicht unabhängig wird. Lesen Sie es nach! Das war damals eine der Bedingungen Serbiens für die Zustimmung: dass der Kosovo nicht selbstständig wird, sondern weiterhin ein autonomer Teil Serbiens bleiben soll. Diese beiden wichtigen und zentralen Punkte, die damals zur Zustimmung Serbiens geführt haben, sind nicht eingehalten worden. Auch nach der Stationierung der KFOR-Truppe im Kosovo sind Zehntausende Roma und andere mit Gewalt vertrieben worden. Die Dörfer haben gebrannt. Die Menschen sind mit körperlicher Gewalt bedroht, verletzt oder vertrieben worden. Einzelne sind auch getötet worden. Unterhalten Sie sich einmal mit den Roma, die noch heute in den Nachbarländern in Lagern leben oder die nach Deutschland gekommen sind! Das heißt, die multiethnische Entwicklung ist nicht erreicht worden. Das andere Ziel, die Verhinderung der Selbstständigkeit des Kosovo, ist ebenfalls nicht erreicht worden. Der Verteidigungsminister feiert es sogar als großen Erfolg, dass der Kosovo jetzt ein unabhängiger Staat geworden ist. Das war aber nicht der Auftrag der deutschen Soldaten, die damals dort hingeschickt worden sind. Ich bitte darum, keine Geschichtsklitterung zu betreiben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Ströbele, eine Kurzintervention darf drei Minuten nicht überschreiten, die jetzt schon mehr als vorbei sind. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich belasse es bei diesen Richtigstellungen, dass Sie mit Ihren Einschätzungen nicht richtig liegen, sondern versuchen, die Geschichte zu verfälschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchte einer der Angesprochenen antworten? - Herr Mißfelder, bitte schön. Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ich werde Sie in Zukunft, wenn ich die Grünen für ihre verantwortungsbewusste Außenpolitik lobe, immer davon ausnehmen, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) weil Sie darauf bestanden und mich direkt angesprochen haben. Das verspreche ich Ihnen als Erstes. Zweitens, Herr Kollege Ströbele, möchte ich keine historischen Vergleiche anstellen. Die Geschichtsbücher zu diesem Thema sind größtenteils noch gar nicht geschrieben. Es sind aber Argumente genannt worden, die von ganz anderen Personen ins Feld geführt worden sind. Ihre Argumentation halte ich für falsch. (Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) Tatsächlich war es Auftrag der deutschen Soldaten und der internationalen Gemeinschaft, zur Stabilität beizutragen. Das ist auch gelungen. Sie haben von brennenden Dörfern gesprochen. Ich nehme Ihre Anregung ernst und werde mich mit Vertretern der Roma treffen. Sie können mir sicherlich sagen, mit wem ich am besten sprechen sollte. Ich bitte Sie aber, dass Sie sich vor Augen halten, wie 1998 die Situation im Kosovo war, und sich dann fragen, ob das, was Sie heute dazu gesagt haben, dem Ernst der damaligen Situation angemessen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1683 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b sowie Zusatzpunkt 7 auf: 10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Dörner, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen - Netzsperren in Europa verhindern - Drucksache 17/1584 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Internetsperren in EU-Richtlinie aufnehmen - Drucksache 17/1739 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhard Lischka, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Lars Klingbeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit effektiv bekämpfen - Opferschutz stärken - Drucksache 17/1746 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und wieder müssen wir hier über Internetsperren reden. Wir müssen dies tun, obwohl wir wissen, dass Netzsperren ineffektiv, unverhältnismäßig und kontraproduktiv sind. Wir Grüne fordern seit langem wirksame Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch. Umso enttäuschender ist das, was wir jetzt an Vorschlägen von der EU-Kommission vorgelegt bekommen. Es scheint so, als stünde der europäischen Ebene und damit auch uns die hier längst abgeschlossene Debatte über die Sinnlosigkeit von Internetsperren erneut bevor. Das ist höchst unerfreulich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Dieses Parlament hat sich intensiv mit dem Ansatz der Internetsperren beschäftigt. Nach langen Diskussionen sind wir fraktionsübergreifend zu dem Schluss gekommen, dass es sich um ein gänzlich untaugliches Mittel handelt. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Aus diesem Grund haben wir uns ebenfalls fraktionsübergreifend auf den Grundsatz "Löschen statt Sperren" geeinigt. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist richtig!) Das war eine richtige Entscheidung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die jüngste Kriminalitätsstatistik weist im Bereich der Darstellung von Kindesmissbrauch im Netz einen erfreulichen Rückgang der Straftaten um über 40 Prozent auf. Dennoch bleibt viel zu tun. Wir wissen, es gibt viele Ansatzpunkte, den Kampf noch schlagkräftiger und erfolgreicher zu führen: Noch immer mangelt es den Strafverfolgungsbehörden an qualifiziertem Personal. Es mangelt an einer angemessenen technischen Ausstattung. Es mangelt an finanzieller Unterstützung von Beschwerdestellen wie Inhope. Außerdem brauchen wir dringend bessere internationale Abkommen, selbst mit Ländern wie den USA, mit denen die Zusammenarbeit nach wie vor schwierig ist. In all diesen Bereichen können wir mit geringem Aufwand eine Menge erreichen. Trotzdem tun Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, nichts, um effektiv Abhilfe zu schaffen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!) Zudem stellt sich die Frage, ob die EU mit ihren Vorschlägen nicht deutlich über ihre Kompetenzen hinausgeht. Sowohl der Wissenschaftliche Dienst als auch das Europareferat des Bundestages haben ganz erhebliche Zweifel an der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes angemeldet. Was macht die vermeintliche Rechtsstaatspartei FDP, was machen CSU und CDU, die sich sonst nie genug als Wahrer deutscher Gesetzgebungsinteressen gerieren können? Sie verhindern die Klärung dieser wichtigen Frage, indem sie gestern im Rechtsausschuss unseren Antrag gegen die Stimmen der gesamten Opposition von der Tagesordnung nehmen (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) und so die Einspruchsfrist vorsätzlich verstreichen lassen. Das ist ein absolutes Armutszeugnis, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Während der Deutsche Bundestag nun also schwarz-gelb-bedingt weiter über Netzsperren diskutieren muss, läuft in unserer Gesellschaft eine breite Debatte über Missbrauch, der in Schulen, Sportvereinen, aber vor allem auch in Familien stattfindet. Hier zu handeln ist das Gebot der Stunde. Bisher haben wir als Opposition in dem Glauben, dass Sie endlich wirklich tätig werden, vieles hingenommen. Wir haben hingenommen, dass Sie ein Gesetz, das ordnungsgemäß im Bundestag verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterschrieben wurde, auf verfassungsrechtlich höchst fragwürdige Weise nicht anwenden. Anstatt nun endlich aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, fechten Sie über Europa Ihren koalitionsinternen Streit aus. Wir sind nicht länger gewillt, dieser kontraproduktiven Placebopolitik weiter zuzuschauen. Deswegen fordern wir: Legen Sie endlich den "Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung" neu auf und entwickeln Sie eine Strategie, die sich nicht mit dem Aufstellen sinnloser Stoppschilder beschäftigt, sondern uns tatsächlich im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern weiterbringt. Wenn es Ihnen mit dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag und Ihrer Erklärung gegenüber dem Bundespräsidenten, warum Sie Teile des Zugangserschwerungsgesetzes nicht anwenden, auch nur ansatzweise ernst ist, bleibt Ihnen überhaupt keine andere Wahl: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ansgar Heveling ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gehört zum politischen Alltag, zu erleben, dass bestimmte Begriffe eine Art Pawlow'schen Reflex - namentlich bei der Opposition - auslösen. Unter Inkaufnahme erheblicher politischer Ermüdungstendenzen wird dann die x-te Variation ein und desselben Themas in die Debatte eingebracht. Bedauerlicherweise ist bei aller Wiederholung oft - genauso wie jetzt - nicht festzustellen, dass die alte Weisheit "Repetitio est mater studiorum" zutrifft. Unser aktueller, den Pawlow'schen Reflex auslösender politischer Begriff ist das Wort "Netzsperren". Sobald es in irgendeinem Kontext auftaucht, springt die Opposition auf und über jedes hingehaltene Stöckchen. Jetzt ist es wieder einmal so weit. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn damit angefangen? Ihre Frau von der Leyen! Es ist nicht unsere Erfindung gewesen!) Weil in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie Kinderpornografie in Art. 21 ein Passus zur Sperrung des Zugangs von Webseiten, die Kinderpornografie enthalten, formuliert wird, haben wir es gleich mit einem bunten Strauß von Anträgen von SPD, Grünen und Linken zu tun. Unterschiedlich wortreich und mit deutlich verschiedener Begründungstiefe - von ein paar dürren Zeilen bei den Linken bis hin zu einer anerkennenswert weitreichenden Auseinandersetzung mit dem Thema bei den Grünen - (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herzlichen Dank!) werden in gehölzartiger Verästelung riesige Argumentationskulissen aufgebaut. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Burkhard Lischka [SPD]: Darüber muss ich jetzt richtig nachdenken! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein richtiger Literat, Herr Kollege!) Entkleidet man die Anträge dieses ganzen Drumherums und führt sie auf ihren Kern zurück, dann stellt man fest, dass es eigentlich nur um die hier bereits mehrfach geführte Auseinandersetzung geht, nämlich die Frage, ob man für "Löschen statt sperren" oder für "Löschen vor sperren" steht. Ersteres ist der gemeinsame Tenor der Anträge der Opposition. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und des Koalitionsvertrages!) Unser hiesiges geltendes Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen geht in § 1 Abs. 2 den zweitgenannten Weg und konstituiert die Möglichkeit des Sperrens einer Internetseite nur, "soweit zulässige Maßnahmen, die auf die Löschung des Telemedienangebots abzielen, nicht oder nicht in angemessener Zeit erfolgversprechend sind". (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Genau so steht es im Gesetz!) Die Debatte hierzu haben wir vor nicht allzu langer Zeit an dieser Stelle bereits geführt. In diese Richtung bewegt sich im Übrigen auch der Richtlinienentwurf, der den Mitgliedstaaten aufgibt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, "damit Webseiten, die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, aus dem Internet entfernt werden". Mithin steht nicht allein das Sperren von Internetseiten im Mittelpunkt der vorgesehenen Richtlinie. Vielmehr greift der Entwurf das Thema "Löschen von Internetseiten" ebenso auf und gibt den Mitgliedstaaten auf, vorbehaltlich angemessener Schutzvorschriften eben auch die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, "damit der Zugang von Internet-Nutzern zu Webseiten, die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, gesperrt wird". Die Forderungen der Opposition hierzu zielen nun - genauso wie in der Vergangenheit - darauf ab, dem Staat die Alternativität von Schutzmaßnahmen aus der Hand zu schlagen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie das? - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir halten Sie davon ab, sinnlose Dinge zu tun!) Hier genauso wie schon bei den jüngsten Debatten über das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen stellt sich nach wie vor die Frage, ob es klug ist, sich aller alternativer Handlungsmöglichkeiten zu berauben. (Christine Lambrecht [SPD]: Fragen Sie Ihren Koalitionspartner!) Auch mit den aktuellen Anträgen gelingt es der Opposition unserer Ansicht nach nicht, diese Frage substanziiert zu beantworten. (Beifall bei der CDU/CSU - Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Fragen Sie die Justizministerin!) Unbestritten ist die Möglichkeit des Sperrens von Internetseiten nach dem erfolglosen Versuch des Löschens nicht der Königsweg; das steht außer Frage. Aber es ist eben eine Handlungsmöglichkeit. Solange kein anderer tragfähiger Weg aufgezeigt wird, sind wir der Ansicht, dass sich der Staat dieser Option nicht berauben darf. (Beifall bei der CDU/CSU) Die heutigen Anträge der Opposition bleiben jedenfalls die Antwort auf eine tragfähige Alternative erneut schuldig. Unseres Erachtens eröffnet eigentlich nur der Antrag der Grünen die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dieser Frage. So ist die Aussage, es fehle derzeit vor allem an einer mehrdimensional angelegten Strategie zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch von Kindern, fraglos richtig. Aber was ist die Schlussfolgerung daraus? Die Schlussfolgerung kann doch gerade nicht sein, den Weg zur Mehrdimensionalität zu versperren, indem man mit dem Diktum "Löschen statt sperren" Alternativstrategien ausschließt. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Schlussfolgerung kann doch nicht sein, bei einem Medium, das sich bekanntermaßen nicht um Staatsgrenzen schert, was zweifellos auch einer seiner Vorzüge ist, Möglichkeiten zu einem einheitlichen Vorgehen in Europa zu torpedieren. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!) Dies alles ließe sich dann hinnehmen, würden die Anträge wenigstens Anregungen für neue Wege für die geforderten mehrdimensionalen Strategien liefern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz zulassen? Ansgar Heveling (CDU/CSU): Ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege. - Kennen Sie einen einzigen Fall - das betrifft auch Polizeibeamte -, bei dem es nicht gelungen ist, eine relevante Seite aus dem Internet zu löschen? Kennen Sie einen einzigen Fall, da Sie hier für das Sperren plädieren? Ansgar Heveling (CDU/CSU): Das Problem tritt in dem Moment auf, in dem die Sperrung dem nationalen Zugriff entzogen ist, dann, wenn eine Seite nicht über nationale Regelungen erfolgreich gelöscht werden kann. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie ein Land, bei dem das so ist! - Gegenruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Russland! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) - Russland, die Niederlande. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU-Fraktion gewandt: Wenn die Seite gelöscht ist, kann sie nicht mehr gesperrt werden!) - Sprechen Sie jetzt mit mir oder mit den Kollegen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr von Notz, Sie haben eine Frage gestellt. Es wäre vielleicht angebracht, der Antwort des Kollegen zu lauschen. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Es gibt tatsächlich Aussagen des BKA, die ich aus dem Stegreif nicht wiedergeben kann, aber sie sind uns vorgetragen worden. Ich kann das gerne klären, und dann können wir uns darüber austauschen. Das Bundeskriminalamt ist im Moment beauftragt, entsprechende Informationen zu sammeln. Es gab dazu schon eine Zwischeninformation, die ich gerne besorgen werde. Dann können wir uns darüber austauschen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Damit auch die Grünen mal schlauer werden!) Zurück zum Thema. Ich sprach von Anregungen der Opposition, die über reine inputorientierte Aussagen von schlichter Allgemeingültigkeit wie eine personelle und technische Stärkung der Strafverfolgungsbehörden oder den weiteren Ausbau der internationalen Zusammenarbeit hinausgehen. Keine Frage, da gehen wir mit Ihnen d'accord; aber das sind Allgemeinplätze. Ist das der mehrdimensionale Ansatz? Es klingt eher wie ein dünner Aufguss. Auch personell und technisch gestärkte Strafverfolgungsbehörden bedürfen vor allem wirksamer und schlagkräftiger Instrumente. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!) Summa summarum bleibt es dabei: Das Löschen von Internetseiten ist fraglos der wünschenswerte Weg zur Beseitigung kinderpornografischer Inhalte. Da er aber an Grenzen stößt, bedarf es Alternativen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Solange aber keine anderen wirksamen Möglichkeiten aufgezeigt werden, darf man sich der Sperrmöglichkeit aus unserer Sicht nicht endgültig begeben. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Opposition ihrerseits ist jedenfalls wieder einmal den Beweis für neue Konzepte schuldig geblieben. Dann aber ist und bleibt es unklug, andere Wege einfach per se blockieren zu wollen. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Burkhard Lischka hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Burkhard Lischka (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heveling, ich bin auf die Rede des Kollegen Buschmann gespannt, weil ich nicht weiß, für wen Sie hier gesprochen haben, als Sie "wir" gesagt haben. Ich weiß nicht, ob Sie für die Unionsfraktion oder auch für die FDP-Fraktion gesprochen haben. An dem Beifall habe ich gesehen, dass da doch Uneinigkeit besteht. Der Anlass für unsere heutige Debatte ist allerdings - das wissen Sie - ein EU-Richtlinienvorschlag, der dazu dienen soll, den sexuellen Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu bekämpfen. Die Fragen, die durch diesen Richtlinienvorschlag aufgeworfen werden, gehen weit, so finde ich, über das Streitthema Internetsperren hinaus. Es stellt sich die Frage, wie wir Straftäter in diesem Bereich überführen können, wie wir Kinderpornografie im Internet tatsächlich bekämpfen können, wie wir den Missbrauch von Kindern verhindern können und wie wir die Prävention stärken können. Zu den Zahlen. Sie wissen, 12 000 Fälle von Kindesmissbrauch und 6 700 Fälle von Kinderpornografie haben wir pro Jahr. Das sind zumindest die aktuellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA. Wir alle gemeinsam wissen: Die Dunkelziffer ist extrem hoch. Allein die Ermittlungsstelle Kinderpornografie in dem Bundesland, aus dem ich komme, dem Bundesland Sachsen-Anhalt, sichtet derzeit 365 Millionen Bilder und Filme. Jetzt liegt ein Richtlinienvorschlag der EU vor. Brüssel will die Rechtsharmonisierung, um konsequenter gegen Kinderpornografie im Internet und gegen sexuellen Missbrauch von Kindern vorgehen zu können. Mit dem Ziel stimmen wir als SPD-Fraktion überein, aber an mehr als einer Stelle - nicht nur bei den Internetsperren - sagen wir deutlich: Stopp, so dann nicht! - Ich will das an drei Beispielen deutlich machen: Das erste Thema ist schon angesprochen worden: die Internetsperren. Da gilt für uns die Maxime: "Löschen statt sperren." (Zurufe von der FDP: Aha!) Wir wollen Kinderpornografie im Internet bekämpfen. Sie wissen, dass Internetsperren teilweise ungenau sind und technisch leicht umgangen werden können. Meine Überzeugung ist, dass sie zumindest keinen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen Kinderpornografie leisten, dass im Gegenteil eine Infrastruktur aufgebaut wird, die viele Bürgerinnen und Bürger unter dem Blickwinkel der Freiheits- und Bürgerrechte zu Recht kritisch sehen. Internetsperren sind deshalb aus unserer Sicht der falsche Weg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Der Richtlinienvorschlag, so wie er jetzt vorliegt, würde das Ende des deutschen dreistufigen Jugendschutzes bedeuten. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen, die wir derzeit haben, würde künftig entfallen, und das wäre aus unserer Sicht der falsche Weg; denn der Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichen liegt die richtige Überlegung zugrunde, dass die Schutzwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschiedlich zu beurteilen ist. Es ist eben nicht das Gleiche, ob es sich um ein 10-jähriges Kind oder um einen fast 18-jährigen Jugendlichen handelt. So wie der Richtlinienvorschlag jetzt konzipiert ist, würde beispielsweise auch der verliebte 18-Jährige in ganz gefährliches Fahrwasser manövriert werden. Nach dem Wortlaut des Vorschlags macht sich nämlich ein 18-Jähriger strafbar, der bei seiner 17-jährigen Freundin über das Internet anklopft und sich mit ihr zu Intimitäten verabredet, wenn es in der Folgezeit zu diesen Intimitäten kommt. Das ist natürlich Unsinn. Das geht an der Lebenswirklichkeit vorbei. (Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD]) Wir Sozialdemokraten wollen - genau wie die EU - das Grooming, das heißt die Anbahnung sexuellen Missbrauchs über das Internet, unter Strafe stellen. Wir wollen aber nicht Heranwachsende und Gleichaltrige bei ihren ersten ganz normalen sexuellen Kontakten kriminalisieren. (Beifall bei der SPD) Der dritte Punkt, den wir zu kritisieren haben: Der Richtlinienvorschlag dient - so der Titel - der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Ich befürchte allerdings, dass dieser Titel doch sehr viel mehr verspricht, als an der einen oder anderen Stelle gehalten werden kann, vor allen Dingen beim Opferschutz. Wir erleben in diesen Tagen und Wochen, wie aus allen Winkeln der Republik neue Meldungen über Kindesmissbrauch an die Öffentlichkeit dringen, Meldungen aus Internaten, Schulen, sozialen Einrichtungen, Kirchen und Sportvereinen. Jahrzehntelang haben die Opfer geschwiegen. Für dieses Schweigen gibt es sicherlich sehr viele Gründe, auch sehr viele individuelle Gründe, zum Beispiel Furcht, Scham, Hilflosigkeit oder Sprachlosigkeit. Aber eines ist auch offenbar geworden: Für viele gab es in der Vergangenheit schlicht und einfach keine Anlaufstelle, an die sie sich als Kinder und Jugendliche, als Opfer hätten wenden können. Es wurde nicht gesprochen über solche Dinge; so wird ein Priester in diesen Tagen in einer großen deutschen Tageszeitung zitiert. Nur, eine Gesellschaft, die über das Thema "sexueller Missbrauch" nicht spricht, die es verdrängt, die es tabuisiert, wird den Kampf gegen den sexuellen Missbrauch nicht gewinnen können. (Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD]) Deshalb brauchen wir mehr Anlaufstellen und mehr Vertrauenspersonen, an die sich unsere Kinder und Jugendlichen in ihrer Not wenden können. Wir brauchen mehr Schulungsprogramme für Eltern, Lehrer, Erzieher und Ärzte, damit sie sexuellen Missbrauch erkennen und adäquat reagieren können. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Wir brauchen mehr entsprechende Lerninhalte und Gespräche in unseren Schulen und Kindergärten, damit Kinder und Jugendliche in allen Situationen sexuellen Missbrauchs, auch in der Familie, das selbsterhaltende Nein lernen können. Zur Prävention, die sich der Richtlinienvorschlag auf die Fahnen geschrieben hat, gehört auch: Wir brauchen mehr Therapieangebote für pädophile Täter. 220 000 Männer in Deutschland haben pädophile Neigungen; die Anzahl der entsprechenden Therapieeinrichtungen hingegen können Sie an einer Hand abzählen. Das müssen wir ändern, sowohl in Deutschland als auch in Europa. Wir können natürlich keine der Taten, die jetzt nach Jahrzehnten öffentlich werden, im Nachhinein ungeschehen machen. Aber wir können etwas für unsere Kinder und Kindeskinder tun. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern der Vergangenheit schuldig. Noch einen Satz zu unserer gestrigen Rechtsausschusssitzung. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen, über das Thema inhaltlich zu debattieren. Der Richtlinienvorschlag stand auf der Tagesordnung. Die Regierungsfraktionen haben ohne irgendeine erkennbare inhaltliche Begründung das Thema von der Tagesordnung genommen und vertagt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Erstens halte ich das für keinen guten Stil. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens sagt das möglicherweise viel über den internen Zustand der Regierungsfraktionen aus. Politische Probleme löst man nicht dadurch, dass man sie vertagt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade dieses Thema hätte es verdient, gestern behandelt zu werden. Recht herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marco Buschmann (FDP): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Themen, die das Hohe Haus einen, und dazu gehört die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Verbreitung der entsprechenden Missbrauchsdarstellungen, also dessen, was man gemeinhin Kinderpornografie nennt. Der Missbrauch von Kindern gehört zu den schlimmsten Straftaten, und die Verbreitung der Aufzeichnung dieser Straftaten perpetuiert den Missbrauch. Deshalb müssen wir die Verbreitung der Missbrauchsdarstellungen effektiv bekämpfen, auf allen Verbreitungskanälen, auch im Internet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zustimmung des Abg. Memet Kilic [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Mit dem Stichwort "Internet" sind wir beim politischen Kern der heutigen Debatte. Herr Kollege Lischka, ich finde es gut, dass Sie hier auch andere Aspekte vorgetragen haben. Aber machen wir uns nichts vor: Das Internet ist heute der politische Knackpunkt. (Burkhard Lischka [SPD]: Für die Regierungsfraktionen! - Christine Lambrecht [SPD]: Für uns nicht!) Auch zwei der drei vorliegenden Anträge ranken sich ausschließlich um dieses Thema. Dazu ist Folgendes zu sagen: Ich teile ausdrücklich die Bewertung, dass das Prinzip "Löschen statt sperren" für die effektive Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen im Internet sorgt. Internetsperren überzeugen mich nicht, weil sie leicht zu umgehen sind (Burkhard Lischka [SPD]: Herrn Heveling steht schon der Mund offen!) und das Problem der Verbreitung mithin nicht lösen. Im schlimmsten Fall könnten die für das Sperren erforderlichen Sperrlisten von den kranken Menschen sogar als Wegweiser genutzt werden, um an die Inhalte, nach denen sie auf der Suche sind, zu gelangen. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Abgesehen davon freue ich mich über den Sinneswandel, der in diesem Haus stattgefunden hat. Das richtet sich einmal an die SPD. Noch am 18. Juni 2009 hat Ihre Fraktion der Einführung von Netzsperren in das deutsche Recht die parlamentarische Mehrheit verschafft, und immerhin ein Großteil der Grünen hat sich bei der Frage enthalten. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Kleinteil!) Dass hier ein Fortschritt stattgefunden hat, finde ich sehr gut. Heute wenden Sie sich gegen das Instrument, für das Sie vor kurzem noch gestritten haben. (Christine Lambrecht [SPD]: Was machen Sie denn in der Koalition?) "Löschen statt sperren" heißt bei Ihnen offenbar, das Gedächtnis zu löschen und sich besserer Einsicht nicht zu versperren. Diesen Lernfortschritt kann ich nur begrüßen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Christine Lambrecht [SPD]: Das kennzeichnet aber keinen aus der CDU/ CSU!) Aber bei aller Sympathie: Hinter Ihren Anträgen steckt doch ein durchsichtiges politisches Manöver, das mit der Sache selber nichts zu tun hat. Sie versuchen bewusst, den Eindruck zu erwecken, man müsse die Bundesregierung für die Frage der Netzsperren sensibilisieren oder auf den Pfad der Tugend zurückführen. Denn alle drei Oppositionsfraktionen haben einen Antrag nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz gestellt. Ein entsprechender Beschluss führt zu einer Verpflichtung der Bundesregierung, sich mit den Stellungnahmen, wie es in der Kommentarliteratur heißt - ich zitiere -, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie lieber mal aus Ihrer Koalitionsvereinbarung!) auseinanderzusetzen und dies mit der gebotenen Sorgfalt und Rücksichtnahme auf die in der jeweiligen "Stellungnahme" zum Ausdruck gebrachten Auffassungen des Bundestages. Mittels dieser Anträge tun Sie so, als ob die Bundesregierung das Thema Netzsperren gerade nicht mit der gebotenen Sorgfalt behandeln würde und in die falsche Richtung unterwegs wäre. (Burkhard Lischka [SPD]: Ja! Das stimmt ja auch! Sie vertagen das Thema! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Lesen Sie die Anträge doch mal!) Da liegen Sie schlichtweg falsch. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu!) Die neue Bundesregierung unter Beteiligung der FDP hat bislang keinen Zweifel an ihrer Auffassung gelassen, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch bislang nichts gemacht!) was den Umgang mit Netzsperren angeht. (Christine Lambrecht [SPD]: Das hat sich aber eben noch ganz anders angehört! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass ich nicht lache! Wir konnten doch hören, was eben von der CDU gesagt wurde!) Nehmen Sie die verfassungsrechtliche Prüfung des Zugangserschwerungsgesetzes durch den Bundespräsidenten. Hier hat die Bundesregierung dem Herrn Bundespräsidenten ihre abgestimmte Auffassung mitgeteilt. Beteiligt waren das Bundesjustizministerium, das Bundesinnenministerium und das Bundeskanzleramt. In der schriftlichen Stellungnahme, die bekannt geworden ist, heißt es: Die gegenwärtige Bundesregierung beabsichtigt eine Gesetzesinitiative zur Löschung kinderpornographischer Inhalte im Internet. Bis zum Inkrafttreten dieser Regelung wird sich die Bundesregierung auf der Grundlage des Zugangserschwerungsgesetzes ausschließlich und intensiv für die Löschung derartiger Seiten einsetzen, Zugangssperren aber nicht vornehmen. Kurz gesagt: Die Bundesregierung folgt dem Prinzip "Löschen statt sperren". (Beifall bei der FDP - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Und was sagt die CDU/CSU-Fraktion dazu? Das ist völlig unverantwortliche Politik! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was ist denn bloß bei Ihnen los? Gibt es etwa schon wieder eine Koalitionskrise?) Sogar im Zusammenhang mit der hier zur Debatte stehenden Richtlinie ist die Bundesjustizministerin bereits aktiv geworden. In einem Brief an die zuständige EU-Kommissarin Malmström heißt es, wie zu hören war, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was zitieren Sie denn da schon wieder? Ich will jetzt mal eine Stellungnahme hören!) dass für kinderpornografische Inhalte der Grundsatz "Löschen statt sperren" gelten sollte und dass Netzsperren kein wirksames Mittel zur Bekämpfung dieser Inhalte sind. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverantwortlich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich unterbreche Ihren Redefluss nur ungern. Aber Herr Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wodurch sich Ihre Redezeit verlängern würde. Marco Buschmann (FDP): Bitte, Herr Kollege Ströbele. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Gebt ihm doch mal Redezeit! Dann muss er nicht so oft Zwischenfragen stellen!) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe nur eine ganz kurze Frage. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schön!) Herr Kollege, für welche Bundesregierung sprechen Sie? (Christine Lambrecht [SPD]: Das wollte ich auch noch fragen! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das wurde doch vorhin schon mal gefragt!) Marco Buschmann (FDP): Ich spreche für die Bundesregierung, die sich gegenüber dem Herrn Bundespräsidenten im Zusammenhang mit der materiellen Prüfung des Gesetzes, dem die SPD die parlamentarische Mehrheit verschafft hat, geäußert hat - das war wohl klar -, also für die jetzige Bundesregierung. (Beifall bei der FDP - Christine Lambrecht [SPD], an die CDU/CSU gewandt: Warum klatschen Sie denn gar nicht? - Burkhard Lischka [SPD]: Das, was Sie gerade gesagt haben, muss aber noch mal geklärt werden!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Äußerungen vonseiten der Bundesregierung, die ich vorhin erwähnt habe, machen deutlich, dass die Bundesregierung - in Deutschland herrscht Gewaltenteilung - ausreichend sensibilisiert und auf dem richtigen Weg ist. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) Die FDP-Fraktion bestärkt die Bundesregierung auf ihrem Weg. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Sie regieren doch nicht ohne Unterleib, oder doch?) Wir stärken allen beteiligten Bundesministern den Rücken. Wir sehen keinen Grund, warum wir durch Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz den Eindruck erwecken sollten, als würde die Bundesregierung hier eine andere Haltung einnehmen oder einen anderen Weg einschlagen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Kabarett, was Sie hier vortragen!) Der Weg der Bundesregierung ist richtig, und er heißt: "Löschen statt sperren". (Beifall bei der FDP - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Alaaf und Helau! Das ist doch wohl unglaublich! Wer glaubt denn so etwas? Die CDU/CSU jedenfalls schweigt betreten! - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich, peinlich! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt jetzt die Gegenrede von der CSU? - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP-geführte Bundesregierung hat beschlossen! Jetzt haben wir es gehört! - Burkhard Lischka [SPD]: Vielleicht sagt die Bundesregierung ja mal etwas dazu!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Halina Wawzyniak hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Buschmann, ich schließe mich der Frage meines Freundes Hans-Christian Ströbele an: (Zurufe: Oh! Oh! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da haben wir wieder etwas geklärt! Das ist heute ja ein interessanter Abend! Das muss ich wirklich sagen!) Wer ist hier die Bundesregierung? Sie, Herr Buschmann, sind offensichtlich gegen Netzsperren; das nehme ich Ihnen ab, und das finde ich löblich. Allerdings hörte sich das, was der Kollege Heveling gerade ausgeführt hat, ein bisschen anders an. (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Das darf es ja wohl auch!) Insofern würde ich gerne wissen, ob Sie sich in diesem Punkt einig sind oder nicht. Ich habe heute im Bundesministerium der Justiz am runden Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" teilgenommen. Dort beraten Sachverständige, die Bundes-regierung und Abgeordnete aller Fraktionen, wie man das Problem der sexualisierten Gewalt gegen Kinder umfassend angehen kann und muss. Ich halte diese Art der Debatte für ausgesprochen sinnvoll und hilfreich. (Ulrike Flach [FDP]: Sehen Sie!) Deshalb werden wir weiter an diesem runden Tisch teilnehmen. Hier geht es nun aber um Netzsperren. Dazu sage ich Ihnen: Jedes staatliche Handeln muss sich an einem rechtsstaatlichen Kriterienkatalog messen lassen. Sie müssten das besser wissen. (Zuruf von der FDP: Ja, besser als Sie!) Das heißt, staatliche Maßnahmen müssen in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande kommen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet werden, und schließlich sind die möglichen - auch die ungewünschten - Folgen der Maßnahmen zu würdigen. Offensichtlich hat die gesamte Opposition - auch ich - erhebliche Zweifel daran, dass die von der EU-Kommission gewünschten Maßnahmen diesen Maßstäben standhalten. Ich möchte kurz auf das Verfahren eingehen. Sie haben gestern im Rechtsausschuss - darauf wurde bereits hingewiesen - die Stellungnahme der Grünen, eine sogenannte Subsidiaritätsrüge, mit Ihrer Koalitionsmehrheit einfach vom Tisch gewischt. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Armutszeugnis!) Damit sind die Fristen für die Einreichung einer solchen Rüge nicht mehr einzuhalten. Mit ein bisschen Stil hätten Sie einfach dagegenstimmen können, anstatt mit diesem formalen Mittel eine Debatte zu verhindern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Dass die von Stil redet, ist ja schon der Hammer!) Ich finde, das ist für Ihr Verständnis vom Umgang mit der Opposition bezeichnend. Damit wird im Übrigen die Option der Nutzung eines im Lissabon-Vertrag vorgesehenen demokratischen Instruments ausgehebelt. Die Sperrung von Webseiten ist nicht dazu geeignet, Kinderpornografie zu verhindern. Vielmehr schafft sie durch die damit einhergehende Etablierung einer Sperrinfrastruktur enorme Gefahren für die Meinungsfreiheit. In Dänemark sind die geheimen Sperrlisten öffentlich geworden. Ergebnis: 90 Prozent der gesperrten Seiten waren ohne kinderpornografischen Inhalt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Grosse-Brömer von der CDU/CSU-Fraktion zulassen? Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Ja, selbstverständlich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Wawzyniak, ist es vielleicht so, dass sich die Zahl der Zugriffe auf diese Seiten in Skandinavien, teilweise auch in Italien, durch das Sperren um 40 Prozent und mehr reduziert hat? (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Können Sie mir, wenn das so ist, zustimmen, dass man dann beim Sperren von kinderpornografischen Seiten nicht von einem völlig ineffektiven Mittel reden kann, sondern allenfalls davon, dass es keinen hundertprozentigen Erfolg hat? Aus dieser Tatsache resultiert, dass zumindest eine Fraktion im Deutschen Bundestag sagt: Eine Senkung der Zugriffszahlen um 40 Prozent ist es uns wert, nicht vollständig auf dieses effiziente Mittel zu verzichten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Christine Lambrecht [SPD]: Da müssen Sie Herrn Buschmann fragen!) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Grosse-Brömer, ich weiß nicht, wer hier von einem "völlig ineffektiven Mittel" gesprochen hat. Das Zitat stammt sicherlich nicht aus meiner Rede; ich habe das nicht gesagt. Sie können das im Protokoll nachlesen. Im Übrigen handelt es sich nicht um eine Frage der Effizienz, sondern der Angemessenheit. Das Mittel der Sperrung ist angesichts der Folgen nicht angemessen. (Beifall bei der LINKEN) Das Beispiel Dänemark zeigt, dass unsere Vermutung, dass die Freiheit des Internets insgesamt eingeschränkt werden soll, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Es liegt der Verdacht nahe, dass nunmehr europaweit eine Sperrinfrastruktur geschaffen werden soll, die dem freiheitlichen Gedanken eines weltweiten, offenen Internets total widerspricht. Ich sage Ihnen schon heute, dass es nicht lange dauern wird, bis Lobbyisten der Musik- und Unterhaltungsindustrie ihre Begehrlichkeiten im Hinblick auf die Nutzung dieser Sperrinfrastruktur durchsetzen werden. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich unsere Gesellschaft durch das Internet verändert hat. Wir sollten aber nicht der Versuchung erliegen, das Internet zu verteufeln und der digitalen Gesellschaft und der Netzgemeinschaft wegen eines Problems, das eigentlich kein Problem des Internets ist, künstlich Schranken aufzuerlegen. Wir sollten uns davor hüten, das Internet zu überwachen und zu zensieren. Wir sollten die Freiheit des Internets nicht durch blinden Aktionismus kaputtmachen. Wir sollten, so wie es Frau Leutheusser-Schnarrenberger in der Stuttgarter Zeitung vom 3. Mai schrieb, die "Freiheit des Internets bewahren". - Jetzt könnten Sie von der FDP einmal klatschen; schließlich ist das Ihre Ministerin. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bewahren Sie also die Freiheit des Internets! Bewahren Sie die Freiheit Europas! Missbrauchen Sie Europa nicht als Hintertür bei der Einführung von Internetsperren! (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Patrick Sensburg hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt die Geschlossenheit der Koalition wieder zum Tragen!) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe die Heiterkeit der Oppositionsfraktionen nicht angesichts dessen, dass es um einen Inhalt geht, der sich mit der Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie, also mit den abscheulichsten Verbrechen an Kindern, beschäftigt. (Christine Lambrecht [SPD]: Das war jetzt billig!) Da Sie wissen, was da passiert - zwei bis drei Jahre alte Kinder werden sexuell missbraucht, bis zum Tode -, verstehe ich die Heiterkeit auf der Oppositionsbank nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind hier die Oberkrawallos, und dann so etwas! Das ist ja wohl lächerlich! Das Allerletzte ist das!) Nach Angaben der Kommission werden pro Tag 200 neue kinderpornografische Bilder oder Videos ins Netz gestellt. Es geht um den Schutz unserer Kinder, und wir müssen lernen, dass wir das nicht zulassen, was wir auch im normalen Leben nicht zulassen: DVDs und CDs in dieser Art würden wir nie erlauben, sondern sie konfiszieren, und das muss auch für das Internet gelten. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich dachte eigentlich, dass wir uns einig wären - Herr von Notz, hören Sie einmal ganz kurz zu -, wenn es um den Inhalt und das Ziel der Richtlinie geht. Aber bei Bündnis 90/Die Grünen und auch bei der SPD scheint schon der Inhalt nicht mehr akzeptabel zu sein. Wenn ich dann unter dem Aspekt der strafrechtlichen Konsequenz (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal, was Sie genau meinen!) - ich zitiere es gerade -, unter dem Aspekt des Schutzes der Kinder vor solchen Verbrechen lese, das natürliche Bedürfnis von Jugendlichen nach Sexualität müsse respektiert werden - das steht in Ihrem Antrag - (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welchem Antrag steht das?) - das steht in Ihrem Antrag zum heutigen Tag unter Randnummer 6 im letzten Satz; ich lege Ihnen dies gleich vor; ich habe es dabei -, dann frage ich mich: Was hat das mit dem Schutz von Jugendlichen vor diesen Verbrechen zu tun? Herr von Notz, noch zur Erklärung - Sie mögen ja vielleicht zu dem, was Sie eben gesagt haben, dazulernen; Herr Lischka, das betrifft leider auch Sie -: (Burkhard Lischka [SPD]: Zum Zuhören gehört auch Verstehen!) Wenn Sie sich Art. 8 der Richtlinie ansehen, dann erkennen Sie, dass es in der Richtlinie für genau die Fälle, die Sie eben zitiert haben, Ausnahmetatbestände gibt. (Burkhard Lischka [SPD]: Das sieht Ihr eigenes Ministerium in Niedersachsen anders!) Entweder Sie müssen die Richtlinie noch einmal richtig lesen, oder ich verstehe Ihren Antrag nicht. Er scheint rein populistisch gemeint zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Kommen wir zur Subsidiarität. Im Kern greifen Sie das Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung, die sich gerade aus Art. 21 des Richtlinienvorschlags ergibt, an. Es ist wohl klar, dass sich die Richtlinie in den Art. 3 bis 5 mit dem Strafrecht beschäftigt und es auch in Art. 7 um Beihilfe und Anstiftung geht. Nach Art. 82 und 83 Abs. 1 AEUV kann die EU "Mindestvorschriften ... im Bereich besonders schwerer Kriminalität" regeln. Erklären Sie mir einmal, meine Damen und Herren von der Opposition, warum Kinderpornografie keine besonders schwere Kriminalität ist und warum die EU hierfür nicht zuständig sein soll. (Beifall bei der CDU/CSU - Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das würde mich auch interessieren!) Der Europäische Gerichtshof hat schon mehrfach entschieden, zuletzt 2002 und 2009 in den Entscheidungen zu British American Tobacco, dass die Schwerpunkttheorie in diesem Fall gilt. Lassen Sie mich also deutlich feststellen, dass der hier diskutierte Art. 21 des Richtlinienvorschlags Teil eines strafrechtlichen Gesamtkonzepts gegen Kinderpornografie ist und somit an dieser Stelle kein Bruch des Subsidiaritätsprinzips vorliegt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch der Bundesrat Österreichs ist am 4. Mai zu dem Ergebnis gekommen, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht verletzt ist. Italien hat in der Abgeordnetenkammer am 18. Mai zugestimmt und Schweden im Rechtsausschuss des Reichstags am 6. Mai. Eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz ist daher hier nicht angesagt. (Burkhard Lischka [SPD]: Sie haben sich ja noch nicht einmal inhaltlich positioniert!) Statt bei einem solchen Thema Geschlossenheit im gesamten Plenum zu zeigen und hier nicht in formales Streiten zu verfallen, machen Sie genau das. Das ist Populismus. (Beifall bei der CDU/CSU - Burkhard Lischka [SPD]: Die anderen Länder haben es nicht vertagt!) Übrigens ist es auch keine Beschränkung der Meinungsfreiheit, wenn wir sagen: Als Ultima Ratio sperren wir Seiten. Oder wollen Sie mir sagen, dass das Einstellen von so abscheulichen Dingen unter die Meinungsfreiheit des Art. 5 Grundgesetz fällt? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es doch mal! Nehmen Sie mal Stellung!) Es ist auch keine Beschränkung der Informationsfreiheit. Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sich im Internet über gequälte Kinder zu informieren? Hier ist auch kein Recht der informationellen Selbstbestimmung verletzt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ein unterirdisches Niveau, was Sie hier verbreiten!) Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sich über diese Dinge zu informieren? Es sind doch gerade die Kinder, die in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt sind. (Beifall bei der CDU/CSU - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Koalition scheint tief gespalten zu sein!) Herr von Notz, Sie waren es, die uns in der Diskussion im Februar in Bezug auf dieses Thema Populismus vorgeworfen haben. Sind die Argumente, die Sie eben vorgebracht haben, nicht sehr viel mehr von Populismus gekennzeichnet? (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran Populismus?) Wenn Sie dann sagen, es gebe hier eine Zensur, halte ich dem entgegen: Zensur meint Vorzensur. Das ist das, was wir unter Zensur verstehen. Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Vorzensur bezieht sich auf Werke geistiger Art. Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Kinderpornografie im Internet geistige Werke sind, bei denen wir Vorzensur betreiben. Das ist wirklich großer Quatsch. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie unterbelichtet kann man eigentlich argumentieren?) Gemeinsam mit der FDP werden wir weitere Alternativen suchen. Dazu gehört zum Beispiel das gezielte Filtern von Filmen und Bildern. So können wir genau die inkriminierten Inhalte herausfiltern. Rechtlich ist dies zum Teil möglich. Letztlich sage ich auch, dass der Richtlinienvorschlag in Art. 21 Abs. 2 das Löschen vor Sperren beinhaltet. Das steht doch in der Richtlinie. Deswegen weiß ich gar nicht, welches Problem Sie damit haben. Die Regierungskoalition hat den richtigen Weg eingeschlagen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Welchen denn?) Es geht aber auch darum, dass effektives Löschen nicht immer notwendig ist. Herr von Notz, in Amerika wird eine Vielzahl der Internetseiten nicht gelöscht und bleibt monatelang freigeschaltet. Nur die IP-Adresse wird geändert. Ihre Anträge sind daher inhaltlich und formalrechtlich falsch und deswegen auch abzulehnen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU - Burkhard Lischka [SPD]: Sie setzen sich ja nicht einmal inhaltlich damit auseinander! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Durchgefallen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Konstantin von Notz das Wort. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzlichen Dank. - Herr Kollege Sensburg, das war unterirdisches Niveau. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Diese Debatte erfordert eine gewisse Differenzierung, damit man sich nicht gegenseitig die Förderung sexuellen Missbrauchs vorwirft. Diese Differenzierung lassen Sie hier wirklich unter den Tisch fallen und argumentieren auf unterstem Niveau. Wir wollen hier aber eine differenzierte Debatte führen. Wenn Sie den Kern nicht erkennen, dann erläutert Ihr Koalitionspartner Ihnen diesen sicher gern. Es geht darum, dass die Internetsperren höchst ineffizient sind. Die Zahlen, die hier genannt wurden, sind alle nicht überprüft worden und sind daher nicht fest. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hauptsache Ihre sind fest!) - Nein, das sind sie nicht. - Sie selbst sprechen sich im Koalitionsvertrag gegen Internetsperren aus, weil Sie an der Wirksamkeit zweifeln. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wenn Sie mit mir reden wollen, dann machen wir das gleich draußen!) - Ja, ich rede auch mit Ihnen. Sie schreien hier ja herum. Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklich effektiv gegen Kindesmissbrauch und die Darstellung von Kindesmissbrauch im Internet vorgehen wollen, dann müssen Sie andere Maßnahmen ergreifen, die sehr viel leichter umzusetzen sind. Sie sollten aber nicht versuchen, Sperrinstrumente zu installieren, die der Sache letztlich nicht dienen. (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist doch kein Widerspruch!) Hören Sie den Expertinnen und Experten zu! Viele Leute werden Ihnen sagen, dass das der richtige Weg ist. Ihre unterirdische Art, hier zu diskutieren, ist es jedenfalls nicht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Sensburg zur Erwiderung. Bitte schön. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Herr Kollege von Notz, Ihrer Bewertung schließe ich mich nicht an; das werden Sie verstehen. Ich werde sie auch nicht kommentieren. Uns ist klar, dass sowohl das Löschen als auch das Sperren möglich ist. Dass das Sperren von Seiten, die man nicht löschen kann, zumindest als Option möglich sein sollte, ist eigentlich auch jedem klar. Das ist inzwischen sogar der Internet Community klar. (Burkhard Lischka [SPD]: Von welcher Community sprechen Sie? Ist es eine aus dem Sauerland?) Dort sagt man nämlich auch: Das Sperren von Internetseiten hat Erfolg. Sie müssen sich noch einmal anhören, was Herr Grosse-Brömer eben gesagt hat: Es gibt eine Vielzahl von Ländern, in denen das Sperren wunderbar funktioniert. Genau das machen wir als Ultima Ratio. Wenn Sie im Koalitionsvertrag einmal nachlesen, wie es funktioniert, dann sind Sie schlauer (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie mal reinschauen!) und dann brauchen Sie auch nicht solche Kommentare abzugeben. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt ist eine Kurzintervention von Herrn Buschmann notwendig! Wo ist die FDP? - Gegenruf des Abg. Marco Buschmann [FDP]: Die Geschäftsordnung gibt mir nicht die Möglichkeit! - Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Selbstverständlich! Das ist ja noch schwächer!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1584, 17/1739 und 17/1746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP Modellversuch "Begleitetes Fahren mit 17" in das Dauerrecht überführen - Drucksache 17/1573 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Volkmar Vogel (Kleinsaara), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Döring, Oliver Luksic, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern - Drucksache 17/1574 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Der Kollege Gero Storjohann hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Gero Storjohann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Anträge der christlich-liberalen Koalition zum Führerscheinrecht, die von Ihnen in den Ausschüssen hoffentlich wohlwollend behandelt werden und Ihre Zustimmung erfahren. Mein Kollege Thomas Jarzombek wird zum Bereich Anpassung des Führerscheinwesens im Einzelnen sprechen. Ich befasse mich in erster Linie mit dem Modellversuch "Begleitetes Fahren mit 17". Im Jahre 2004 hat Niedersachsen ohne rechtliche Grundlage einen Modellversuch auf den Weg gebracht. Wir im Verkehrsausschuss waren schon lange dafür, hatten aber nie eine Mehrheit. Mittlerweile haben sich andere Bundesländer diesem Weg peu à peu angeschlossen. Alle machen beim Projekt "Begleitetes Fahren mit 17" mit. Das finden wir toll. Wir als christlich-liberale Koalition vertreten die Auffassung, dass sich begleitetes Fahren mit 17 bewährt hat. Die Ergebnisse des Modellversuchs sind ausschließlich positiv. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Projekt verläuft nicht nur positiv, es ist auch bei den Fahranfängern und ihren Eltern gleichermaßen populär. Es steigert die Verkehrssicherheit auf unseren Straßen. Deshalb bitten wir die Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag, das Modellprojekt mit Wirkung zum 1. Januar 2011 in das Dauerrecht zu überführen. Hierzu bitten wir die Bundesregierung um entsprechende Vorschläge zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr. Wie war das 2005? Damals lehnte die rot-grüne Bundesregierung einen Gesetzesvorschlag der CDU/CSU-Fraktion zum begleiteten Fahren mit 17 ab. Mit diesem Vorschlag forderten wir damals, frühzeitig bundeseinheitliche Vorgaben für den beginnenden Modellversuch aufzuzeigen. Aber aus parteipolitischen Gründen, die wir durchaus nachvollziehen können, wurde der Vorschlag der Unionsfraktion von Rot-Grün abgelehnt. (Sören Bartol [SPD]: Oh!) - Auch von Sören Bartol. - Etwas später brachte die Bundesregierung einen eigenen Antrag gleichen Inhalts ein. Wir haben diesem rot-grünen Antrag damals zugestimmt, weil wir uns als Urheber dieser Idee verstanden haben. Der Weg zu diesem finalen Antrag, den wir heute beraten, war lang, aber wer neue Wege beschreiten will und innovative Ideen hat, muss manchmal dicke Bretter bohren. Deshalb wollen wir uns heute für das Dauerrecht aussprechen. Wir freuen uns besonders, dass alle Zweifler und Kritiker, die es lange Zeit gegeben hat, mittlerweile überzeugt sind. Teilnehmer des Modellversuchs haben die Möglichkeit, bereits mit sechzehneinhalb Jahren Fahrunterricht in einer Fahrschule zu nehmen. Ab einem Alter von 17 Jahren können sie den Pkw-Führerschein erwerben. Bis zur Volljährigkeit darf man zwar ans Steuer, aber nur gemeinsam mit einer registrierten Begleitperson. Diese Begleitperson muss mindestens 30 Jahre alt sein und mindestens fünf Jahre im Besitz eines Pkw-Führerscheins sein. Hierdurch ist gewährleistet, dass es sich um eine Person mit ausreichender Verkehrserfahrung handelt. Auswertungen des Modellversuchs haben ergeben, dass es sich meistens um die Eltern der Fahranfänger handelt. Das ist wiederum ein Wermutstropfen, weil das deutlich macht, dass nie mehr als 30 Prozent der Zielgruppe dieses Projekt in Anspruch nehmen werden. Das liegt an der Entwicklung unserer Gesellschaft. Seit 2004 haben bereits 380 000 junge Frauen und Männer am "BF 17" teilgenommen. 2008 nahmen bereits 25 Prozent aller Fahranfänger der Führerscheinklassen B und BE am begleiteten Fahren teil. Derzeit gehört es fest zum Alltag der Familien in Deutschland. Die Frage, wann heute ein heranwachsendes Kind mit dem Machen des Führerscheins anfängt, stellt sich automatisch im Alter von 17. Was als kontroverses verkehrspolitisches Projekt begann, ist zur Lebenswirklichkeit in Deutschland geworden. In der Fahrschule lernen Jugendliche die theoretischen und praktischen Grundfertigkeiten zum Führen eines Kraftfahrzeugs. Doch Routine und Erfahrung im Umgang auch mit schwierigen Verkehrssituationen können sich nur langfristig entwickeln. Die wenigen Monate, die man Fahrstunden nimmt, sind dafür in der Regel nicht ausreichend. Das Unfallrisiko junger Fahrer ist deutlich überdurchschnittlich: Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist die gefährdetste aller Altersgruppen im Straßenverkehr. Obwohl sie nur 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen, beträgt ihr Anteil an den Verunglückten und Getöteten im Straßenverkehr 20 Prozent. Ein Grund hierfür - das haben wir festgestellt - ist die mangelnde Fahrpraxis. Das begleitete Fahren setzt hier an und schafft Abhilfe. Neben die professionelle Fahrschulausbildung wird ergänzend ein eigenständiges Vorbereitungselement gesetzt. Die Jugendlichen haben länger Zeit, das Fahren unter Aufsicht zu üben. Wir haben uns damals zum Ziel gesetzt, dass man mindestens 500 Kilometer begleitet fahren sollte, damit es sinnvoll ist. Man sollte nicht einfach den Führerschein mit 17 Jahren erwerben, dann nicht mehr üben und nicht begleitet fahren, aber mit 18 Jahren dann plötzlich selbstständig fahren. Die Untersuchungen haben ergeben, dass durchschnittlich 2 400 Kilometer in Begleitung zurückgelegt werden. Auch das unterstreicht die Sinnhaftigkeit und die Richtigkeit unserer damaligen Entscheidung. Die Fahranfänger berichten, dass sie sich sicherer fühlen. Darüber hinaus beruhigt es sie, dass sie für den Ernstfall einen erfahrenen Autofahrer neben sich sitzen haben. Auch die Eltern sind eine Sorge los. Wir haben also nicht nur ein gesteigertes subjektives Sicherheitsempfinden, sondern die Zahlen der BASt belegen auch objektiv eine Erhöhung der Verkehrssicherheit. Gegenüber den Fahranfängern, die ihre Fahrerlaubnis auf herkömmliche Weise erwarben, zeigten sich die Teilnehmer am begleiteten Fahren verkehrssicherer. Sie begingen im ersten Jahr des selbstständigen Fahrens rund 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße und waren in 22 Prozent weniger Unfälle verwickelt. Zu Beginn des Modellversuchs gab es kritische Stimmen, die hinterfragten, ob 17-Jährige verantwortungsvoll genug seien, um bereits einen Führerschein zu besitzen. Die Bedenken haben sich nicht bewahrheitet. Deshalb sind wir froh, in diese Problematik eingestiegen zu sein und eine Lösung aufgezeigt zu haben. Daher bitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Kirsten Lühmann spricht für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kirsten Lühmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Das Abwerfen eines Pkws aus zehn Metern Höhe soll einen Aufprall mit 50 km/h auf ein stehendes Hindernis simulieren. - Die Deutsche Verkehrswacht setzt beim Thema Verkehrssicherheit auf spektakuläre Mittel, um junge Fahrerinnen und Fahrer für die Gefahren des Straßenverkehrs zu sensibilisieren. "Hast du die Größe? Fahr mit Verantwortung!" fordert der Deutsche Verkehrssicherheitsrat. Auch die bundesdeutsche Antiraserkampagne "Runter vom Gas!" will auf die dramatischen Folgen zu schnellen Fahrens aufmerksam machen. Zahlreiche Maßnahmen in den letzten Jahren haben dafür gesorgt, dass unsere Straßen sicherer geworden sind: 2007 hat die Große Koalition ein Alkoholverbot für Fahranfänger eingeführt. Im selben Jahr hat der frühere Verkehrsminister Tiefensee die Nachrüstung von Lkw mit besseren Spiegeln vorgeschrieben, um den toten Winkel zu vermindern. Bußgelder für gefährliche Verkehrsdelikte wurden erhöht, und die anfangs erwähnten Verkehrssicherheitskampagnen wurden in Zusammenarbeit mit dem Verkehrsministerium weiter modernisiert und besser auf die Zielgruppen ausgerichtet. Der Erfolg dieser Maßnahmen kann sich sehen lassen: Noch nie gab es auf Deutschlands Straßen so wenig Verkehrstote wie heute. Von mehr als 21 300 im Jahr 1970 ist die Zahl auf 4 500 im Jahr gesunken. 2009 hat sich diese positive Entwicklung fortgesetzt. 4 050 Verkehrstote sind ein neuer Tiefstand. Bei den jungen Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmern zwischen 18 und 24 Jahren ist die Zahl der Getöteten ebenfalls gesunken, und zwar seit 1991 um 63 Prozent von 2 750 auf 1 010. Aber - das wurde bereits von meinem Vorredner gesagt - in keiner anderen Altersgruppe war und ist das Risiko, im Straßenverkehr zu verunglücken, derart hoch. Junge Fahrerinnen und Fahrer haben immer noch ein dreifach höheres Unfallrisiko als alle anderen Altersgruppen. Statistisch gesehen - ich habe es einmal andersherum aufgezäumt - verunglückt alle sechs Minuten ein 18- bis 24-Jähriger, alle acht Stunden stirbt ein junger Mensch dieser Altersgruppe an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Gründe für das hohe Unfallrisiko junger Fahrerinnen und Fahrer sind der Wunsch, sich zu beweisen, Lebenseinstellungen und mangelnde Erfahrung, insbesondere bei der Risikoabschätzung, die sich zu einem gefährlichen Mix vermengen. Es wird wahrscheinlich nie gelingen, die Risikoquote von jugendlichen Fahranfängern auf die von älteren und erfahrenen Autofahrern zu reduzieren. Trotzdem zeigen internationale Studien und die positiven Entwicklungen der Unfallzahlen in den letzten Jahren: Das unverhältnismäßig hohe Risiko der Fahranfänger muss nicht als unvermeidlich hingenommen werden. Die zentrale Forderung der Unfallforschung lautet deshalb zu Recht: Die Erteilung der Fahrerlaubnis darf nicht das Ende des Lernprozesses sein, sondern es muss - im Gegenteil - der Anfang eines praxisorientierten Lernens werden. Ein jugendlicher Fahranfänger muss Erfahrungen sammeln. Der Modellversuch "Begleitetes Fahren mit 17" bestätigt diese Forderungen der Unfallforschung. Er zeigt einen Weg, wie junge Fahrerinnen und Fahrer bereits vor ihren ersten selbstständigen Autofahrten Fahrpraxis erwerben können. Sicher haben einige von uns die gleichen Erfahrungen gemacht, die ich zurzeit mache. Unsere jüngste Tochter macht seit einem halben Jahr begleitet ihre ersten Fahrerfahrungen. Sie ist von drei Töchtern die einzige, die dieses Angebot wahrgenommen hat. Damit liegen wir leicht unter dem Schnitt. Nach den mir vorliegenden Zahlen nehmen 50 Prozent das Angebot wahr. Herr Storjohann, ich habe da andere Zahlen als Sie. Nach der von Ihnen genannten Zahl würden wir im Durchschnitt liegen; wir können uns aussuchen, welche Zahlen wir nehmen. Sowohl bei unserer Tochter als auch bei ihren Bekannten, die ebenfalls ihre Fahrerlaubnis mit 17 Jahren machten, sind die Akzeptanz und die Einsicht in die Vorteile des begleiteten Fahrens erstaunlich hoch. Auch die uns vorliegenden Ergebnisse der Evaluation zum begleiteten Fahren sind ermutigend; die Zahlen wurden von meinem Vorredner genannt. Wir Sozialdemokraten haben bereits früh auf diese Erkenntnis gesetzt. Herr Storjohann, es scheint ein Kind mit mehreren Vätern oder Müttern zu sein. Jedenfalls hat der damalige Verkehrsminister der rot-grünen Bundesregierung, Kurt Bodewig, im Mai 2002 bei der Bundesanstalt für Straßenwesen eine Projektgruppe eingerichtet. Sie hatte den Auftrag, ein Modell zu erarbeiten, durch das jugendlichen Fahranfängern der Start in das selbstständige Fahren erleichtert werden sollte. Auf dem 41. Verkehrsgerichtstag im Januar 2003 wurden die Ergebnisse vorgestellt und gefordert, die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit interessierte Bundesländer loslegen können. Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition legt richtig dar: "Begleitetes Fahren mit 17" ist ein Erfolgsmodell. Es muss in das Dauerrecht überführt werden. Aber mit diesen uns vorliegenden Befunden sind die Fragen zur Wirksamkeit des begleiteten Fahrens mit 17 noch nicht abschließend geklärt. Der Evaluationszeitraum ist einfach zu kurz. Die statistischen Zahlen sind ermutigende Trends. Ob sich die Zahlen verstetigen, bleibt abzuwarten. Wir fordern deshalb, die Beobachtung der Folgen weiterzuführen, um zu prüfen, ob eine längerfristige Wirksamkeit des begleiteten Fahrens in dem Maße, wie wir es jetzt sehen, gegeben ist. Ihr Antrag hat noch einen weiteren Schönheitsfehler: "Begleitetes Fahren mit 17" ist ein Ausbildungsweg, der von Jahr zu Jahr von immer mehr Jugendlichen genutzt wird, aber eben nur von der Hälfte derjenigen, die dies in Anspruch nehmen können. Wie wollen Sie die Jugendlichen erreichen, die sich nicht daran beteiligen wollen oder können, weil sie zum Beispiel niemanden als Beifahrer benennen können? Das sind wahrscheinlich genau die jungen Fahrenden mit dem überproportionalen Unfallrisiko. Gerade sie hätten es nötig, unter Aufsicht Fahrpraxis vermittelt zu bekommen. Wir fordern Sie auf, Impulse und Ideen zu diesem Thema vorzulegen. Ich möchte, dass verkehrsauffällige junge Fahrer und Fahrerinnen dazu verpflichtet werden, an speziellen Fahrsicherheitstrainings teilzunehmen. Dazu gehören zum Beispiel Fahrübungen, die den Teilnehmenden zeigen, welche Risiken das Fahren bei herabgesetztem Reibwert, zum Beispiel bei starkem Regen oder Schneefall, mit sich bringt. Die zurzeit üblichen Fahrproben bei Nachschulungen von Heranwachsenden mit Fahrerlaubnis auf Probe stellen doch eher Placebos dar und eignen sich kaum für Erfahrungsgewinn oder eine dauerhafte Bewusstseinsänderung. In dem zweiten uns vorliegenden Antrag fordern Sie, den Erwerb von Zweiradführerscheinen zu erleichtern. Es geht dabei um die Umsetzung der Dritten EG-Führerschein-Richtlinie. Die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Erleichterungen beim Erwerb von Zweiradfahrerlaubnissen unter bestimmten Bedingungen bewerten wir positiv. Personen, die im motorisierten Straßenverkehr Erfahrungen vorweisen können, unbürokratischer den Erwerb von weiteren Fahrerlaubnisklassen zu ermöglichen, ist sinnvoll und birgt keine zusätzlichen Gefahren im Straßenverkehr. Diese EU-Richtlinie führt unter anderem eine neue Fahrerlaubnisklasse AM für das Führen zweiräderiger Kleinkrafträder ein. Das entspricht dem Mopedführerschein, der frühestens mit 16 Jahren erworben werden kann. Die Richtlinie ermöglicht das Herabsetzen der Altersgrenze auf 14 Jahre, verpflichtet uns aber nicht dazu. Sie fordern die Herabsetzung auf 15 Jahre. Mit dieser Forderung haben wir Probleme. Sie mögen mir jetzt vorwerfen, durch meine langjährige Tätigkeit als Polizeibeamtin sei ich in diesem Punkt einseitig geprägt. Sie haben recht. Ich habe zu viele tödlich verunfallte junge Zweiradfahrer gesehen und ihren Eltern die schreckliche Nachricht überbracht. Aber meine Erfahrungen sind leider nicht einseitig, sondern decken sich mit den Einschätzungen von Fachleuten. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und die Deutsche Verkehrswacht gehen davon aus, dass die Unfallzahlen steigen werden, wenn das Mindestalter herabgesetzt wird. Jugendliche in diesem Alter haben bereits ein erhöhtes Unfallrisiko. Der Mofaführerschein, der in vielen Bundesländern ein fester und wichtiger Bestandteil der schulischen Verkehrserziehung ist, erfüllt unserer Ansicht nach völlig den Zweck, Jugendliche behutsam an das motorisierte Fahren heranzuführen. Das Mofa ist ausreichend, um auch im ländlichen Raum Mobilität für Jugendliche bis zu einem Alter von 16 Jahren sicherzustellen. In Österreich, wo die Altersgrenze bereits herabgesetzt wurde, haben sich die Mopedunfälle bei 15-Jährigen in einem Zeitraum von zehn Jahren vervierzehnfacht. Solche Risiken sind nicht hinzunehmen. Wir sollten im Ausschuss insbesondere über diesen Punkt noch einmal eingehend diskutieren, auch im Sinne der Verkehrssicherheit und der jungen Menschen. Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Oliver Luksic hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Oliver Luksic (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten mit diesen beiden Anträgen heute über wichtige Verbesserungen des Straßenverkehrsrechts. Ich freue mich, dass es der Koalition gelungen ist, gleich mehrere sinnvolle und richtige Punkte in die Anträge aufzunehmen. Wir wollen und werden mit diesen Maßnahmen zwei Dinge erreichen: erstens mehr Sicherheit, sowohl für die Fahrerinnen und Fahrer selbst als auch für die anderen Verkehrsteilnehmer, und zweitens mehr Mobilität, insbesondere für junge Verkehrsteilnehmer in ländlichen Gebieten. Wir wollen mit unserer Initiative junge Menschen mobiler machen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich zunächst auf unseren Antrag zum begleiteten Fahren mit 17 eingehen. Als Saarländer habe ich schon immer ein wenig neidisch über die Grenze nach Frankreich geschaut, wo das schon lange erlaubt ist. Seit 1983 gibt es dort conduite accompagnée. Es hat sich dort genauso bewährt, wie wir das auch für Deutschland vorhergesagt haben. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, die langjährige Forderung der Liberalen nach einer Einführung in Deutschland umzusetzen. Auf Länderebene ist dies bereits umfassend geschehen. Wenn man sich die Evaluationsergebnisse der BASt, der Bundesanstalt für Straßenwesen, zu diesem Modellversuch der Länder anschaut, dann muss man sagen, dass die Fakten positiv sind. Allein die hohe Anzahl der Teilnehmer - 380 000 seit 2004, jedes Jahr steigend - zeigt, dass die Bereitschaft der Jugendlichen zur frühen Ausbildung hoch ist. Wichtiger aber ist, dass es 22 Prozent weniger Unfälle und 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße im Vergleich zu den Jugendlichen gibt, die ihren Führerschein ohne die begleitete Phase erwerben. Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich. Sie machen deutlich: Die Verkehrssicherheit wird dadurch deutlich erhöht, dass die jugendlichen Fahrer früher und in Begleitung an den Verkehr herangeführt werden. (Beifall des Abg. Patrick Döring [FDP]) Besonders erfreulich ist - das zeigt die Evaluation -, dass die positiven Effekte auf das Fahrvermögen der Fahranfänger nicht nur kurzfristig sind, sondern dauerhaft wirken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) All diese Punkte zeigen uns, dass der Modellversuch erfolgreich war und ist und ins Dauerrecht überführt werden sollte. Ich kann die Kolleginnen und Kollegen der Opposition nur auffordern, dem Antrag zuzustimmen. Ich glaube, die Fakten sprechen für sich. Wir machen mit diesem Antrag einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Fahrausbildung. Natürlich gibt es darüber hinausgehend noch Verbesserungsmöglichkeiten. Es stimmt natürlich, dass mehr Jugendliche daran teilnehmen müssen. Man kann zumindest darüber nachdenken, wie in Österreich eine zweite Stufe einzuführen, wenn der Führerschein dadurch nicht teurer wird. Neben dem begleiteten Fahren widmen wir uns heute im Rahmen der Umsetzung der Dritten EG-Führerschein-Richtlinie auch Neuregelungen bei den Zweiradführerscheinen. Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung diese Richtlinie frühzeitig in deutsches Recht umsetzt. Die beiden Hauptziele dieser Neuregelung sind: Erhalt und Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr sowie Entbürokratisierung und Erleichterung beim Erwerb von Zweiradführerscheinen. Für uns ist klar: Erfahrene Fahrer dürfen beim Aufstieg innerhalb der einzelnen Motorradklassen nicht mit Fahranfängern gleichgestellt werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Beim Aufstieg in den neuen Klassen - von A1 nach A2 und von A2 nach A - kann man wohl davon ausgehen, dass nach zwei Jahren nur noch eine Einweisung und eine praktische Prüfung erforderlich sind; die theoretischen Kenntnisse sind dann offensichtlich vorhanden. Auch für Inhaber des alten Führerscheins der Klasse 3 - diese Klasse enthält die Genehmigung für das Führen von Krafträdern bis 125 Kubikzentimeter Hubraum, also der neuen Klasse A1 - macht die Koalition etwas Sinnvolles: Es wäre ungerecht, diese Verkehrsteilnehmer beim Aufstieg in die Klasse A2 zu benachteiligen. Daher sind eine praktische Prüfung und eine Überprüfung der für die Klasse A2 spezifischen Kenntnisse ausreichend. Bei der Führerscheinklasse AM, der neuen Mopedklasse, wollen wir die Möglichkeit, die uns die EU-Richtlinie gibt, nutzen und wie zahlreiche andere europäische Länder, beispielsweise Österreich und Frankreich, vom Mindestalter, das in der Richtlinie vorgeschlagen wird, abweichen. Was den Vergleich von Zahlen angeht, muss man sagen: Wenn die Jugendlichen vorher noch nicht fahren durften, ist es klar, dass die Vergleichszahlen gestiegen sind, Frau Lühmann. Die Mobilität junger Menschen, gerade in Flächenländern, wird - das ist einer der Hauptaspekte - deutlich gestärkt. Das wollen wir als Koalition. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit ist die Absenkung des Mindestalters um ein Jahr nicht so problematisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. (Daniela Raab [CDU/CSU]: Genau!) Der Erwerb des neuen Mopedführerscheins setzt nämlich eine solide Ausbildung voraus. Ein gut ausgebildeter 15-Jähriger auf einem Zweirad der Klasse AM stellt im Vergleich zu einem 15-Jährigen auf einem Mofa - diese dürfen sich derzeit mit weniger Ausbildung auf der Straße bewegen - keine Bedrohung der Verkehrssicherheit dar. Im Gegenteil: Verantwortungsvolles Verhalten im Straßenverkehr kann durch die Absenkung des Mindestalters auf 15 Jahre bereits ein Jahr früher erlernt und gefestigt werden. Das ist gut für die Verkehrssicherheit. Wer sich anschaut, welche Faktoren bei Unfällen 15- bis 18-Jähriger mit Zweirädern eine Rolle spielen - unangemessene Geschwindigkeit, Fehler bei der Vorfahrt und beim Wenden und Abbiegen -, sieht, dass das alles Punkte sind, an denen durch eine bessere Ausbildung gearbeitet werden kann. Wenn unsere Argumente Sie nicht überzeugen, will ich darauf hinweisen, dass der Verkehrsminister von Mecklenburg-Vorpommern, SPD, das, was wir vorschlagen - Mopedführerschein AM mit 15 -, ebenfalls befürwortet. So falsch kann das, was wir vorschlagen, also nicht sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich abschließend sagen, dass wir mit dem begleiteten Fahren mit 17 und mit den Erleichterungen beim Erwerb von Zweiradführerscheinen die Sicherheit auf der Straße stärken und die Mobilität insbesondere junger Menschen verbessern. Das sind die Leitlinien unserer Arbeit zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr, jetzt und in der Zukunft. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Thomas Lutze hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Thomas Lutze (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass wir heute trotz der Banken- und Euro-Krise einmal über vermeintlich irdische Themen reden können. Es geht im Grundsatz darum, inwieweit Jugendliche unter 18 Jahren die volle Verantwortung für ihr Handeln im Straßenverkehr übernehmen können. Uns Erwachsenen erscheint diese Frage auf den ersten Blick vielleicht nebensächlich. Junge Menschen sind jedoch in großer Erwartung, ein Fahrzeug selbst steuern zu können. Viele zählen die Wochen und Tage, bis sie endlich - von links im Übrigen - einsteigen können. Mir ging es vor rund zwanzig Jahren nicht anders. (Sören Bartol [SPD]: Sie sind immer rechts eingestiegen! - Heiterkeit) Zu den Anträgen. Sie beantragen unter anderem, dass das Fahren mit 17 in Begleitung eines Erwachsenen bundesweit umgesetzt wird. Als Linke stimmen wir dem ohne Vorbehalt zu. Alle Pilotprojekte - auch die in dem Bundesland, aus dem der Kollege von der FDP und ich kommen - haben gezeigt, dass die öffentlich geäußerten Vorbehalte der Vergangenheit offensichtlich gegenstandslos sind. Selbst die Versicherungskonzerne - die ja bei der Versicherung junger Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführer besonders sensibel, genauer gesagt: teuer, sind - geben mittlerweile Beitragsnachlässe, wenn ein Jugendlicher an diesem Programm teilgenommen hat. Im Antrag mit dem Titel "Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern" sind auch die Punkte 1 und 3 unstrittig. Wer mehrere Jahre Fahrpraxis hat, sollte einen erleichterten Zugang zu einer höherliegenden Führerscheinklasse erhalten. Die Anforderungen an die theoretischen Kenntnisse sind beim Erwerb eines Führerscheins für einen Motorroller oder ein Motorrad nicht viel anders. Die Praxis ist, das ist richtig dargestellt, sehr verschieden. Bei der Herabsetzung der Altersgrenze für die Nutzung von Zweirädern sind wir nicht so optimistisch wie die Antragstellerinnen und Antragsteller. Mehrere einflussreiche Organisationen sagen, dass das Unfallrisiko bzw. die Unfallgefahr und damit die Gefahr von schweren Verletzungen in der genannten Altersgruppe besonders hoch sind. Allen ist bekannt, dass selbst ein kleiner Unfall mit einem Zweirad ganz andere körperliche Folgen haben kann als ein vergleichbarer Unfall mit einem Pkw. Zweiräder haben bekanntlich keine Knautschzone, dafür ist aber - das betrifft jetzt genau junge Leute - der Spaßfaktor deutlich höher als bei einem Pkw. Ein wichtiger Faktor ist hier die sogenannte Risikobereitschaft. Ob ein 14- oder 15-Jähriger das Risiko immer richtig einschätzen kann, bezweifelt nicht nur die Linke. Wir plädieren dafür, dies im Ausschuss noch einmal unaufgeregt zu debattieren. Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen Dingen von der Union, wenn Sie hier und heute Ihre Anträge auf Herabsetzung der Altersgrenzen ernst meinen, wovon ich einmal ausgehe, dann geben Sie doch vielleicht auch an anderer Stelle, zum Beispiel bei der He-rabsetzung des Wahlalters, Ihren Widerstand auf. (Beifall bei der LINKEN) Wer es als 16- oder 15-Jähriger schafft, eine nicht ganz einfache Fahrprüfung zu bestehen, der kann auch die Politik von CDU und Linken verantwortungsbewusst unterscheiden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich hätte meine Rede jetzt fast damit eröffnen können, dass wir selten so undogmatisch diskutiert haben wie heute und dass es einen fraktionsübergreifenden Konsens und keine Ideologie mehr gibt. Durch den Schlusssatz des Kollegen Lutze wird dann aber doch gezeigt, dass es immer noch einen Drive gibt, irgendetwas Politisches für eine bestimmte Richtung herauszuholen. Ich glaube, über die heute zu behandelnden Themen kann man wirklich sachlich diskutieren, und das haben auch alle Rednerinnen und Redner getan. Ich denke, dass es eine große Übereinkunft darüber gibt, dass sich dieser fünfjährige Modellversuch "Begleitetes Fahren ab 17" gelohnt hat. Ich fand es auch richtig, dass wir ihn unternommen haben und dass man das in allen Bundesländern ausprobiert hat. Die Ergebnisse sind sehr positiv. Die Unfallzahlen - das haben alle in ihren Reden belegt - sind deutlich zurückgegangen. Das ist für mich und für uns die Hauptbegründung, um zu sagen: Das ist ein gutes Modell; lasst uns das jetzt in einem Gesetz umsetzen. - Ich glaube, dafür gibt es auch eine breite Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist übrigens auch ein schönes Beispiel dafür, dass man jungen Menschen tatsächlich mehr Verantwortung übertragen und mehr Mobilität ermöglichen kann und trotzdem nichts an Sicherheit verliert, sondern im Gegenteil: Diese Methode ist sicherer als die Methode, dass man mit 18 Jahren den Führerschein machen und dann einfach unbegleitet losfahren kann. An dieser Stelle will ich kritisch anmerken: Wir sollten uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die drastisch hohen Unfallzahlen - sie sind überdurchschnittlich hoch - bei den 18- bis 25-jährigen Fahranfängern reduzieren können. Besonders auffällig ist, dass es überwiegend junge Männer sind und dass überwiegend zu schnell gefahren wird. Verantwortlich dafür ist also die Kraftmeierei, in jungen Jahren zu glauben, man könne beim Fahren fliegen. Das geht dann meistens schief, weil man dann zwar tatsächlich fliegt, aber gegen den Baum. Ich glaube, diese Herausforderung müssen wir annehmen. In dem zweiten Antrag, den wir behandeln, geht es um die Erleichterung beim Erwerb eines Führerscheins für Zweiräder. Ich glaube, auch das ist bürokratisch sehr viel einfacher und zu rechtfertigen; das ist eine gute Regelung. Auch diese werden wir unterstützen. Beim vierten Punkt in diesem Antrag geht es um die Erleichterung beim Erwerb eines Mopedführerscheins durch das Herabsetzen des Alters auf 15 Jahre. Das ist aus unserer Sicht problematisch. Hier möchte ich gerne auch noch einmal an Sie alle appellieren. Sie haben hinsichtlich des begleiteten Fahrens darauf hingewiesen, dass es einen Sicherheitsgewinn gebracht hat, und Sie haben Statistiken bemüht, also haben Sie sie sich auch angeguckt. Bei einem Blick in die Statistiken ist es unübersehbar, dass die 10- bis 15-Jährigen und die 15- bis 25-Jährigen Hochrisikogruppen im Verkehrswesen sind. Selbst diejenigen, die noch kein Moped oder Mofa haben, verunfallen relativ häufig im Straßenverkehr durch zu schnelles Fahren mit dem Rad. Es ist ein Problem, dass sich diese jungen Menschen ihrer Verantwortung noch nicht bewusst sind (Patrick Döring [FDP]: Dass sie nicht ausgebildet sind!) und sich schwertun, die Geschwindigkeit und die Folgen im Straßenverkehr einzuschätzen. Damit tun sie sich extrem schwer. Deswegen glauben wir, dass es nicht zu verantworten ist, in diesem Wissen das Mindestalter zu senken, zumal die Europäische Union ein Mindestalter von 16 Jahren als Regelfall ansieht; Ausnahmen sind möglich. Ich darf Sie, liebe Koalitionäre, daran erinnern, dass Sie sonst immer das EU-Recht eins zu eins umsetzen wollen. Jetzt, wo Sie die Möglichkeit dazu hätten, wollen Sie es lockern. Ich glaube, dass das eher als Zuschlag an die Branche zu verstehen ist. Sie haben die verschiedenen Forderungen in Ihrem Antrag begründet. Erstaunlicherweise haben Sie aber genau diesen Punkt nicht begründet. Sie hätten ihn auch nicht begründen können. Denn der einzige Grund dafür ist, dass sich die Lobby der zweiradproduzierenden Industrie mehr Kundschaft wünscht. (Patrick Döring [FDP]: Mehr Verkehrssicherheit! - Gegenruf der Abg. Kirsten Lühmann [SPD]: Die gibt es dadurch nicht!) Ich finde, das ist das schwächste Argument. Sicherheit geht vor. Lassen Sie uns darüber noch einmal im Ausschuss verhandeln. In den anderen Punkten können wir uns selbstverständlich einigen, und vielleicht ist das auch in diesem Punkt möglich. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr erfreut, zusammenfassend festzustellen, dass fast alle unsere Vorschläge in diesem Hause einen breiten Konsens finden. Der einzige Punkt, in dem es offensichtlich unterschiedliche Einschätzungen gibt, ist das Mindestalter für den Erwerb der Fahrerlaubnis der Klasse AM, das wir von 16 auf 15 Jahre senken wollen. Das hier skizzierte Problem ergibt sich nicht unbedingt erst durch motorisierten Verkehr. Mein Fundstück für heute ist ein Zitat, das von dem Schriftsteller Mark Twain überliefert ist, der in seiner Jugend unter anderem auf einem großen Mississippi-Dampfer als Schiffsjunge gearbeitet und dort ausgiebig das Fluchen gelernt hat. Jahre später, als Mark Twain bereits verheiratet war, kamen Fahrräder auf. Der Dichter befasste sich sofort mit diesen neuartigen Vehikeln, kehrte aber von seiner ersten Ausfahrt reichlich mitgenommen zurück. Seiner Frau erklärte er sofort, er wisse jetzt erst richtig, was Fluchen heiße. "Aber du hast mir doch versprochen, nicht mehr zu fluchen", warf ihm seine Frau vor. "Ich habe ja auch gar nicht geflucht", erwiderte Mark Twain, "das taten die Leute, die ich über den Haufen gefahren habe". (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Insofern braucht es - das hat der Ausschussvorsitzende gut skizziert - dafür zuweilen gar keine Motorisierung. Wir wollen dennoch gerade in den ländlichen Räumen mehr Mobilität für Jugendliche, auch für 15-Jährige. Es gibt einige gute Argumente, die dafürsprechen. Mit dem Mofaführerschein ab 15 sind wir in Deutschland relativ konservativ. Andere Länder nutzen die EU-Richtlinien anders aus. Italien und Spanien zum Beispiel, die schon eher als heißblütig angesehen werden können, erlauben das Mopedfahren bereits ab 14 Jahren. Die BASt hat festgestellt, dass gerade im Bereich der Mopeds auch unsere Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit getragen haben. Die Zahl der Verkehrstoten in diesem Bereich ist um 10 Prozent zurückgegangen. Die Zahlen, die wir aus Österreich hören, finde ich, ehrlich gesagt, wenig nachvollziehbar. Wie kann sich die Zahl der Verkehrsunfälle vervierzehnfachen, wenn das Fahren ab 15 vorher gar nicht erlaubt war und man deshalb eigentlich von null ausgehen muss? Das ist mit meinem mathematischen Verständnis nur bedingt kompatibel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiterer Punkt ist die Frage nach dem heutigen Status quo bei den 15-Jährigen; denn sie dürfen schon motorisiert fahren, nämlich mit einem 25 km/h schnellen Mofa. Winfried Hermann fährt neuerdings auch ein 25 km/h schnelles Pedelec ohne irgendwelche Auflagen, ohne Einweisung und Prüfung. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ist das nicht allgemeingefährlich?) Ich habe gehört, dass bei manchen Jugendlichen der Wunsch aufkommt, diese Geräte, wie es neudeutsch heißt, zu pimpen, also die Geschwindigkeit zu erhöhen. Dem setzen wir an dieser Stelle eine deutlich bessere Ausbildung entgegen: einen richtigen Führerschein mit allem Drum und Dran. Dies bringt mich zu dem nächsten Punkt: Als hier vor einigen Jahren über die Frage diskutiert wurde, wie es mit der Sicherheit des begleiteten Autofahrens ab 17 sei, gab es von der BASt ebenfalls große Bedenken, was die Verkehrssicherheit anbetrifft. Sie sehen, dass diese Befürchtungen sich überhaupt nicht erfüllt haben. Im Gegenteil, wir alle haben heute festgestellt, dass dies eine große Erfolgsgeschichte für uns ist. Am Ende ist sich auch die Landschaft in den Verbänden nicht einig. Genauso viele, wie dagegen sind, sind auch dafür. Nicht zuletzt haben wir gestern noch mit dem ADAC gesprochen, der uns gesagt hat: Wir erkennen zumindest keinen Fortschritt in der Sicherheit, weshalb wir nicht dafür sind; aber ob es unbedingt schlechter wird, wissen wir halt auch nicht. Mein letzter Punkt: Ganz unabhängig von diesem Thema können wir gemeinsam noch eine ganze Menge machen, was die Fahrsicherheit gerade im Bereich der Mopeds und der Jugendlichen betrifft. Ein Thema könnte zum Beispiel sein, hier mehr ABS zu etablieren und, was eben auch die Kollegin von den Sozialdemokraten angesprochen hat, noch mehr Motivation für Fahrsicherheitstrainings zu finden, was für die jungen Leute sicherlich eine wirklich hilfreiche Sache ist, die wir fördern müssen. Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie an so vielen Stellen zustimmen. Ich hoffe, dass Sie sich eine Zustimmung zur Klasse AM noch überlegen; denn Sie wollen mit Sicherheit nicht, dass man hinterher sagt, dass unsere Jugendlichen flotter unterwegs sind als die Opposition. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1573 und 17/1574 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren - Drucksache 17/1049 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Ullrich Meßmer für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Ullrich Meßmer (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Albert Einstein hat einmal gesagt: Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist. Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Untergang der Gesellschaft bedeuten. Diese Aufforderung gilt bis heute, und sie wird auch in Zukunft gelten. Besonders in Zeiten der Globalisierung sind arbeitende Menschen auf international gültige Regeln angewiesen, und sie brauchen verbindliche, ja, garantierte Rechte, die sie auch nach Ausschöpfung des nationalen Beschwerdewegs erstreiten können, nicht nur in anderen Ländern, sondern sicherlich auch bei uns in Deutschland. (Beifall bei der SPD) WSK-Rechte, die im UN-Sozialpakt festgeschrieben sind, schützen weltweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Ich sage: Das ist gut so in einer Welt, die, wie wir zurzeit erleben, von einem starken Finanzkapitalismus getrieben ist. Dort müssen sich die Menschen auch wiederfinden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat nun, exakt 60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren angenommen. Ein prominenter Termin, meine Damen und Herren, für ein nicht weniger prominentes Anliegen; denn erst durch das Zusatzprotokoll wird der UN-Sozialpakt, werden die sogenannten WSK-Rechte den bürgerlichen und politischen Rechten gleichgesetzt. Erst wenn der Zugang zu entsprechenden individuellen Beschwerdemechanismen sichergestellt ist, erfüllt sich der allgemein anerkannte Grundsatz der Unteilbarkeit und der Interdependenz aller Menschenrechte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Zusatzprotokoll tritt dann in Kraft, wenn es zehn Staaten ratifiziert haben. 31 haben es bislang unterzeichnet, darunter zehn aus Europa. Bedauerlicherweise zählt Deutschland nicht dazu. Dabei hat Deutschland das Zustandekommen des UN-Sozialpakts konstruktiv begleitet und auch bei den internationalen Verhandlungen über das Fakultativprotokoll aktiv und konkret mitgearbeitet. Umso erstaunlicher ist das jetzige Zögern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die aktive Rolle Deutschlands zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es bisher alle Kernabkommen des UN-Menschenrechtsschutzes anerkannt hat, alle Fakultativprotokolle zum UN-Sozialpakt - mit Ausnahme des erwähnten Zusatzprotokolls - unterzeichnet hat und sich weltweit im Bereich der WSK-Rechte engagiert. Auch im Vorfeld der bereits unterzeichneten Abkommen und Zusatzprotokolle gab es viele Diskussionen und - genauso wie in anderen Ländern - immer wieder Bedenken. Vor allen Dingen wird vor einer drohenden Beschwerdeflut gewarnt. Wenn wir uns ansehen, wie es in der Vergangenheit war, können wir überprüfen, ob es tatsächlich eine Beschwerdeflut gegeben hat. Ich meine, dass bei ganzen 22 Individualbeschwerdeverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren von einer Beschwerdeflut oder einer überbordenden Zahl an Beschwerden weiß Gott keine Rede sein kann. Wenn man die Analyse fortsetzt, stellt man fest, dass davon 17 Verfahren abgewiesen, zwei Verfahren abgebrochen wurden und es sich bei einem Verfahren um eine nicht festgestellte Rechtsverletzung handelt. Am Ende bleibt eine einzige tatsächlich bewiesene Rechtsverletzung aufgrund einer Individualbeschwerde übrig. Wer angesichts dessen behauptet, es gebe eine Beschwerdeflut oder es werde mit dem Ausland Politik gegen das Inland gemacht, irrt sich. Die Zahlen geben das insgesamt nicht her. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Man kann das aber auch beispielhaft an dem UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sehen. Hier hat Deutschland das Zusatzprotokoll über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifiziert. Aber viel entscheidender ist: Bereits hier sind die WSK-Rechte in Form von sozialen Rechten enthalten. Zur befürchteten Beschwerdeflut darf man feststellen: Es gab eine einzige Beschwerde, und diese wurde dann als unzulässig abgewiesen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung kann von einer Beschwerdeflut weiß Gott keine Rede sein. Die Gegner einer Ratifizierung führen immer wieder an, die WSK-Rechte seien teilweise so unbestimmt formuliert, dass internationale Kontrollinstanzen daraus falsche Schlussfolgerungen bei einem Abgleich zum Beispiel mit dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht ziehen könnten. Zudem wird befürchtet, dass Organisationen diese Beschwerdeverfahren oft nutzen, um eigene Ziele zu verfolgen und zu befördern, die nicht im Einklang mit dem Beschwerdeverfahren und den WSK-Rechten stehen. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir uns mit einigen Konfliktfeldern zu befassen haben. So wird zum Beispiel in der Diskussion das WSK-Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung als eine Gefahr für das Streikverbot für Beamte in Deutschland gesehen. Nicht alle, aber viele sehen dieses Streikverbot als Anachronismus. Auch ich persönlich finde, dass es sich hier um einen Anachronismus in Europa und damit eher um ein innenpolitisches Thema handelt. (Beifall bei der SPD) Oder es wird angeführt, dass das WSK-Recht auf ungehinderten Zugang zu Bildung im Widerspruch zur Einführung von Studiengebühren in einigen Bundesländern stehen könnte. Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen: Ich sehe das genauso wie eine Reihe von Bundesländern, die dafür zuständig sind. Hessen und das Saarland haben die Studiengebühren abgeschafft, sodass ein solches Verfahren erst gar nicht nötig werden wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Angesichts der Tatsache, dass dieses individuelle Beschwerdeverfahren erst möglich wird, wenn der gesamte Rechtsweg in Deutschland ausgeschöpft ist, was bei uns auch den Gang zum Bundesverfassungsgericht, in das wir alle ein sehr hohes Vertrauen haben - das gilt auch für die Anerkennung weltweiter Rechte -, einschließt, kann man sagen, dass die Unterzeichnung dieses Abkommens nicht dazu führen würde, dass wir insgesamt mehr Beschwerdeverfahren bekämen und dass sich die Bundesrepublik Deutschland blamieren könnte. Ich weiß allerdings auch, dass wir die innenpolitische Diskussion darüber führen müssen. Warum riskieren wir eigentlich in dieser Frage den internationalen Ruf Deutschlands, gerade wenn es überwiegend um die Rechte der Leistungsträger der Gesellschaft geht, nämlich um die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Gesellschaft? (Beifall bei der SPD) Haben nicht die Erfahrungen mit den bereits bestehenden Individualbeschwerdemechanismen deutlich gezeigt, dass Deutschland wegen seines Rechtssystems und seines im internationalen Vergleich durchaus guten Sozialsystems keine Sorge vor einer Klageflut haben muss? Aus meiner Sicht ergeben sich aus der Ratifizierung des Zusatzprotokolls keinerlei neue Verpflichtungen über jene hinaus, zu denen sich Deutschland als Vertragsstaat des UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat. Deshalb würde ich gerne denen, die zweifeln und zögern, mit Erlaubnis der Frau Präsidentin ein Zitat vortragen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, bitte das Zitat als Schlusswort, weil Sie die Redezeit schon überschritten haben. Ullrich Meßmer (SPD): Ich möchte einen Konservativen zitieren, der alles Notwendige zu dem gesagt hat, wohin auch wir mit unserem Antrag kommen müssen: Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen, als beständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird. Diesen Rat hat uns niemand anderer als Charles de Gaulle gegeben. Diesem Rat folgen wir mit unserem Antrag. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen heute über ein Thema, das jeden Zuschauer und jede Zuschauerin, jeden Zuhörer und jede Zuhörerin interessiert. Es ist ein wichtiges Thema. Nur, ich bin nicht ganz sicher, ob auch nach den Ausführungen von Herrn Meßmer zum Beispiel unsere Gäste auf der Zuschauertribüne wirklich verstehen, worum es überhaupt geht. Vielleicht darf ich versuchen, den Sachverhalt aus meiner Sicht kurz darzustellen. Wir behandeln die Frage, inwieweit es künftig jedem Deutschen möglich ist, vor internationalen Gerichten persönlich zu klagen, sein eigenes Recht dann international einzufordern, wenn insbesondere soziale und kulturelle Rechte vom deutschen Staat nicht anerkannt oder eingeschränkt werden und vor deutschen Gerichten nicht durchsetzbar sind. Diese neue Klageoption wird dann möglich sein, wenn alle deutschen und europäischen Gerichte das eigene Anliegen abgelehnt haben. Jeder hat dann eine weitere Option, die eigenen Rechte durchzusetzen. Damit diese Erweiterung gelingen kann, muss Deutschland ein sogenanntes Fakultativprotokoll zu dem internationalen UN-Sozialpakt unterzeichnen. Darum geht es. Die SPD fordert eine rasche Unterzeichnung. Ich möchte Ihnen erklären, warum diese Zeichnung, wenn sie übereilt erfolgt, kontraproduktiv ist. Mit Zustimmung der Präsidentin darf ich dazu aus einem Brief zitieren. Dieser Brief wurde am 3. September 2009 von den ehemaligen SPD-Bundesministern für Arbeit und Soziales sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Olaf Scholz und Heidemarie Wieczorek-Zeul, geschrieben. Der Brief der Minister ist eine Antwort auf ein Schreiben der Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Dr. Monika Lüke. Darin wird Folgendes festgestellt: "Wir bitten Sie daher um Verständnis, dass die Bundesregierung ihre Prüfung noch nicht in einem Zeitraum abschließen kann, der ihr eine Zeichnung des Fakultativprotokolls noch im September erlauben würde. Das schließt aber eine Zeichnung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus." - (Christoph Strässer [SPD]: Jetzt haben wir Mai!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insbesondere lieber Herr Strässer, dieser Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Die Dauer der Prüfung ist nicht absehbar, da sich die Ressortabstimmung zwischen den einzelnen beteiligten Ressorts komplexer gestaltet, als angenommen wurde. Ich erachte es als absolut nachvollziehbar, dass sich die Bundesregierung die nötige Zeit nimmt, damit alle juristischen Bedenken ausgeräumt werden können. Alle beteiligten Vertreter der Bundesregierung - das ist auch schon gesagt worden - streben einen zügigen Abschluss der Beratungen an. Die deutsche Regierung handelt bedacht und mit angemessenem Sachverstand. Daher sollten wir eher die Frage stellen, warum Sie auf einmal eine sofortige Prüfung fordern. Der Sinn dieser Antragstellung erschließt sich mir nicht. Warum also plötzlich dieser Antrag? Die SPD sollte in den elf Jahren ihrer Regierungsverantwortung gelernt haben, dass Prüfungen unserer Ministerien sorgfältig und lückenlos sein müssen. Haben Sie von der SPD in den sechs Monaten Opposition vergessen, wie nachhaltig ministeriale Arbeit funktioniert? (Christoph Strässer [SPD]: Wir haben gut vorgearbeitet!) Haben Sie vergessen, wie Ihre Position, die Position Ihrer Minister, die ich gerade zitiert habe, noch vor sechs Monaten war? Natürlich haben Sie es vergessen; sonst würden Sie heute nicht diese Forderung nach einer raschen Ratifizierung stellen. Wieder einmal zeigt sich, dass die SPD, gerade was Gesetze betrifft, versucht, alles sehr schnell und ungeprüft durchzudrücken. Die Arbeitsweise, mit der heißen Nadel zu stricken, ist mittlerweile ziemlich legendär. Wir haben erfahren müssen, dass das Verfassungsgericht in Karlsruhe Gesetze kassiert hat, die von der rot-grünen Koalition gekommen sind, weil sie rechtlich nicht haltbar waren. (Christoph Strässer [SPD]: Es gibt ein internationales Abkommen!) Diese Nachlässigkeit - gelinde gesagt - machen wir nicht mit. Dazu bringen Sie uns nicht. Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist zu wichtig, als dass wir atemlos der Forderung nach einer raschen Ratifizierung hinterherlaufen sollten. (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir Ihnen morgen auch!) Der gleichen Ansicht war die letzte Bundesregierung und ist auch die jetzige Bundesregierung. Aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, sondern ihn ablehnen. Die Ablehnung des Antrags heißt aber nicht, dass wir den Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, der sogenannten WSK-Rechte, und ihre juristische Durchsetzbarkeit verneinen; ganz im Gegenteil: Die Koalition ist für starke Rechte der Bürger in der UN-Weltgemeinschaft. Es ist richtig, dass die UN die WSK-Rechte nicht mehr als Stiefkinder des internationalen Menschenrechtsschutzes behandeln. Der UN-Sozialpakt hat die WSK-Rechte zu Recht gestärkt, waren sie doch dem Vorurteil ausgesetzt, im Gegensatz zu den bürgerlichen und den politischen Rechten keine richtigen, keine einklagbaren Menschenrechte zu sein. Die Bundesregierung vertritt ohne Zweifel mit Nachdruck die WSK-Rechte, indem sie die Einklagbarkeit dieser Rechte und damit auch den Inhalt des heute diskutierten Fakultativprotokolls als grundsätzlich richtig erachtet. Im Übrigen war es die letzte Bundesregierung unter Beteiligung der CDU/CSU, die die Verhandlungen in New York kraftvoll, aktiv - das wurde ja schon gesagt - und konstruktiv vorangetrieben hat. Gerade aus diesem Grunde können Sie uns mit Ihrem Antrag heute nicht indirekt unterstellen, dass wir die Ratifizierung des Fakultativprotokolls verhindern oder verzögern wollen. Wir sind genau der gegenteiligen Auffassung. Die Koalition will die WSK-Rechte zukünftig stärker in der Konzeption der Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik verankern. Der Prozess, der mit dem Meilenstein der Wiener Menschenrechtskonvention von 1993 begann, ist noch nicht beendet. Auch an dieser Stelle müssen die WSK-Rechte immer wieder betont und angemahnt werden. Ich möchte daran erinnern, dass die Diskussion um die WSK-Rechte in den vergangenen Jahren gleich durch mehrere Entwicklungen an neuem Schwung gewonnen hat. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang der Mechanismus, den alle Menschenrechtskonventionen auf UN-Ebene zu eigen haben. Dieser Mechanismus besagt, dass die Einhaltung der von den Staaten in dem betreffenden Vertrag übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen immer wieder überprüft werden muss. Wie andere UN-Menschenrechtspakte auch, verpflichtet der Sozialpakt die Staaten, regelmäßig über Maßnahmen zu berichten, die sie zur Verwirklichung dieser Rechte ergriffen haben. Zu diesen Maßnahmen gehört, dass der Staat einen Aktionsplan erstellt, der Angaben darüber enthält, wie er die volle Verwirklichung der WSK-Rechte erreichen will. Diese Berichte werden dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dem Sozialausschuss, vorgelegt. Gerade dieser Sozialausschuss hat Deutschland in der Wahrung der WSK-Rechte immer gute Noten gegeben. Die bisherigen Möglichkeiten der Klage vor den verschiedenen deutschen und europäischen Gerichten erscheinen mir daher durchaus ausreichend. Sollten zusätzliche Möglichkeiten der Klage vor internationalen Gerichten eine weitere Verbesserung bringen, werden wir von der CDU/CSU-Fraktion uns nicht dagegen sperren. Die genaue Prüfung dieser Option ist aber unabdingbar. Aus diesem Grunde muss die Bundesregierung genau untersuchen, wie eine weitere Einklagemöglichkeit den Gesamtinteressen des deutschen Staates wirklich dient. Selbst der von der SPD ins Feld geführte Experte Professor Dr. Riedel, der mehrfach bei Expertensitzungen der beratenden Ministerien einbezogen wurde, merkt an, dass die Zahl der zu erwartenden Justizfälle - auch Sie haben es gesagt, Herr Meßmer - auf der Grundlage des Fakultativprotokolls verschwindend gering sein wird. Folglich treibt uns bei dem derzeitigen Prüfverfahren der Bundesregierung nicht eine möglicherweise eintretende oder vorhandene mögliche Annahme einer massenhaften sozialen Ungerechtigkeit gegenüber den deutschen Bürgern. Zudem möchte ich auch dem Argument von Herrn Meßmer widersprechen, dass die Ratifizierung keine neuen Verpflichtungen für den deutschen Staat ergebe. Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, wenn Ihnen alle Experten eine weitreichende Prüfung vorschlagen? In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die Frage der Überlappung von UN-Menschenrechtsmechanismen aufwerfen. Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, hier mögliche Gesetzesfallen zu ermitteln und in die Gesamtbewertung einzuarbeiten. Schon deswegen wäre eine rasche Ratifizierung kontraproduktiv. Selbst wenn man auf dem Standpunkt steht, dass die WSK-Beschwerdeverfahren nicht von einer generellen Reform des UN-Rechtssystems abhängig gemacht werden sollten, ist die derzeit laufende Prüfung nicht zu vernachlässigen. Des Weiteren ist von der Bundesregierung zu prüfen, ob die Justiziabilität dieser Rechte insgesamt mit dem Argument infrage gestellt werden kann, dass es sich bei den im Sozialpakt verankerten Rechten eben nicht um von einzelnen Personen einklagbare Rechte, sondern nur um allgemeine Zielformulierungen von nur geringer Bestimmtheit mit dem Ziel einer sukzessiven Umsetzung in den einzelnen Staaten handelt. Mit einer ungeprüften Ratifizierung läuft man zusätzlich Gefahr, dass die Gerichtsentscheidungen des Sozialpaktes in Deutschland als nicht rechtsbindend anerkannt werden könnten. Charakter und Vollzug der Strafen im Rahmen der nationalen Strafrechte müssen beachtet werden. Sie können doch nicht ernsthaft nur Empfehlungen in Bezug auf einen Einzelfall als Ergebnis der Verfahren wollen. Schließlich sind Bedenken berechtigt, dass ein Individualbeschwerdeverfahren weitaus mehr Arbeitsaufwand für das jeweilige Kontrollorgan bedeutet und folglich zeitnahe Entscheidungen kaum möglich sind. Auch Befürchtungen hinsichtlich eines gewissen Qualitätsverlustes der gesamten Kontrolltätigkeit des Fachausschusses sind nicht von der Hand zu weisen. In diesem Zusammenhang ist auch das Stichwort "Überlastung" zu nennen. Ein gutes Beispiel ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der sich wegen Überlastung reformieren will. Abschließend sei gesagt, dass der internationale Menschenrechtsschutz in den vergangenen Jahrzehnten bereits erfreuliche Fortschritte gemacht hat, insbesondere was Rechtsetzung und Überprüfungsmechanismen betrifft. Die größten Defizite sind naturgemäß bei der Durchsetzung bzw. bei der Verwirklichung des Schutzes zu finden. Diesen Bereich in enger Verbindung mit dem Monitoring weiter auszubauen und zu verbessern, muss das Anliegen der Staatengemeinschaft und der Zivilgesellschaft sein. Die Individualbeschwerde kann einen wesentlichen Beitrag zur Institutionalisierung bzw. Verrechtlichung der Menschenrechte leisten. Daher sollte sie nach eingehender Prüfung durch die Bundesregierung Teil eines jeden Menschenrechtsabkommens sein. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin Werner das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Katrin Werner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke unterstützt das Anliegen des vorliegenden Antrags. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir die Rechte von Betroffenen stärken wollen, deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte verletzt werden. Der vorliegende Antrag verweist insbesondere auf das Recht auf angemessene Unterbringung, das Recht auf Nahrung und das Recht auf Wasser. Die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls ist für uns unstrittig und unverzichtbar. Aber in ihrem Antrag lobt die SPD ihre Regierungsbilanz in der internationalen Menschenrechtspolitik. Die Linke meint, zur nachträglichen Beschönigung von Rot-Grün und Schwarz-Rot besteht nicht der geringste Anlass. Auch in dieser Frage entdeckt die SPD erst reichlich spät und in der Opposition plötzlich Handlungsbedarf in Bereichen, die sie in ihrer eigenen Regierungszeit vernachlässigt hat. Ausgerechnet unter Rot-Grün wurden die finanziellen Zusagen in der Entwicklungszusammenarbeit nicht einmal zur Hälfte erfüllt. Frau Wieczorek-Zeul hat als Bundesministerin das zugesagte Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen, weit verfehlt. Ich frage: Stellt sich die SPD so etwa die aktive und konstruktive Rolle vor, von der sie in ihrem Antrag spricht? (Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!) Allerdings sieht es auch unter der jetzigen schwarz-gelben Bundesregierung kaum besser aus. (Christoph Strässer [SPD]: Ach! Ehrlich?) Vor der Wahl wollte Herr Niebel von der FDP das Bundesministerium, das er nun als Minister führt, sogar abschaffen. Das lässt Schlimmes befürchten. Das Protokoll liegt schon seit Dezember 2008 vor, und die Bundesregierung hat nicht zu den Erstunterzeichnern gehört. Von einer Vorbildfunktion bei den Menschenrechten kann somit keine Rede sein. Dies gilt leider für die frühere und die jetzige Bundesregierung. Meine Damen und Herren, es lässt sich eine deutliche Kontinuität bei der Vernachlässigung der Menschenrechtspolitik feststellen. Das gilt insbesondere im eigenen Land. Seit Hartz IV sind 2,5 Millionen Kinder von Armut betroffen. Von Sassnitz bis München müssen immer mehr arme und wohnungslose Menschen Suppenküchen aufsuchen, um wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu bekommen. Immer mehr Menschen müssen zu den Tafeln gehen, um sich mit Grundnahrungsmitteln wie Milch, Mehl und Gemüse zu versorgen. Die Linke sagt: Alle Menschen haben das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard. (Beifall bei der LINKEN) Dem werden wir nicht einmal im eigenen Land gerecht und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit auch nicht. Dies muss sich endlich ändern. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke unterstützt ein Individualbeschwerdeverfahren zum UN-Sozialpakt. Aber im Unterschied zur SPD sehen wir keinen Grund zum Lob der Regierung. Weder unter Rot-Grün noch unter Schwarz-Gelb wurde den Menschenrechten der erforderliche Stellenwert eingeräumt. (Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund [CDU/CSU]: Schon fertig?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren am 10. Dezember 2008 angenommen, 60 Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Im UN-Sozialpakt geht es um den Schutz elementarer Rechte. Es geht zum Beispiel um das Recht auf Ernährung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung und das Recht auf Arbeit. Das sind elementare Rechte, zu denen sich die christlich-liberale Koalition bekennt und für deren Förderung und Umsetzung sie sich weltweit einsetzt. (Beifall bei der FDP) Die wertegeleitete Außenpolitik und Entwicklungshilfepolitik dieser christlich-liberalen Koalition hat sich aber nicht nur zum Ziel gesetzt, für diese wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit einzutreten. Sie hat sich auch zum Ziel gesetzt, die Schaffung der Voraussetzungen für die Gewährung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit zu befördern. Zu diesen Voraussetzungen gehören zum Beispiel die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen und vor allem die Armutsbekämpfung. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an den Einsatz unserer beiden Bundesminister Guido Westerwelle und Dirk Niebel für die internationale Anerkennung eines Menschenrechtes auf Wasser und Sanitärversorgung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit dem Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren wurde ein Kommunikationsverfahren als Rechtsmittel beschlossen. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist damit nicht mehr nur für das Berichtsprüfungsverfahren, sondern auch für internationale Beschwerdeverfahren und Untersuchungsverfahren vor Ort zuständig. Bisher gab es als Mittel zur Überprüfung der Einhaltung der sogenannten WSK-Rechte innerhalb der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur die Staatenberichte, in denen Rechenschaft über die Menschenrechtssituation abgelegt und Verbesserungsmaßnahmen vorgeschlagen werden mussten. Tritt nun das Zusatzprotokoll in Kraft, können Einzelpersonen im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens bzw. Gruppen vor einem internationalen Gremium Beschwerde gegen ihren Staat einlegen. Voraussetzung für die Einklagbarkeit der WSK-Rechte ist dabei freilich die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, in Ihrem vorliegenden Antrag fordern Sie die Bundesregierung nun auf, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren zu zeichnen und zu ratifizieren. Sie begründen dies unter anderem damit, dass durch die Ratifizierung des Zusatzprotokolls - abgesehen von den ohnehin vorhandenen Verpflichtungen zur Einhaltung des UN-Sozialpaktes - keine zusätzlichen Verpflichtungen auf Deutschland zukommen. Nun ist aber generell zu bedenken, dass durch die Einführung des Individualbeschwerdeverfahrens - darauf sind Sie, Herr Meßmer, selbst eingegangen - der Arbeitsaufwand beim jeweiligen Kontrollorgan dramatisch ansteigen könnte, was schnelle und effektive Entscheidungswege erschweren würde. Ein bedauerliches Negativbeispiel für eine solche Entwicklung sehen Sie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Funktionsfähigkeit aufgrund der explosionsartigen Zunahme der Zahl der Streitfälle in den letzten Jahren praktisch gelähmt wurde. Gegen ein Individualbeschwerdeverfahren spräche auch, dass es ausreichend Rechtswege auf regionaler, nationaler, aber auch auf internationaler Ebene gibt, auf die man zum Schutz seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zurückgreifen könnte. Zudem ist der Nutzen des Individualbeschwerdeverfahrens beschränkt, da die Entscheidungen über die Beschwerden keine rechtsverbindlichen Urteile sind, sondern Empfehlungen in Bezug auf den Einzelfall, woraus sich dann allgemeine Zielformulierungen ergeben, die die Staaten Schritt für Schritt umsetzen sollen. All die Punkte, die ich aufgeführt habe, bedeuten nun aber nicht, dass Individualbeschwerdeverfahren keinen Sinn machen. Man muss in diesem Zusammenhang freilich positiv anmerken, dass die mangelnde Rechtsbindung und Durchsetzbarkeit ein Defizit ist, das wir im gesamten Völkerrecht finden, sodass man das Verfahren der Individualbeschwerde in Fachkreisen trotz der mangelnden Rechtsbindung als ein wichtiges Instrument des internationalen Menschenrechtsschutzes betrachtet. (Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesrepublik hat die Verhandlungen zur Verabschiedung des Zusatzprotokolls aktiv und konstruktiv begleitet. Um die Fragen zu klären, die sich im Hinblick auf eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls von deutscher Seite ergeben, findet zurzeit auf Ressortebene ein Überprüfungsverfahren statt; gegebenenfalls werden diese Fragen noch in diesem Monat sogar auf Staatssekretärsebene besprochen. Ich denke, wir sollten im Sinne einer vernünftigen und effizienten Arbeit dieses Parlaments und der Regierung die Ergebnisse dieses Überprüfungsverfahrens abwarten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unterstützen das Anliegen des SPD-Antrages. Wir brauchen ein Individualbeschwerdeverfahren zum UN-Sozialpakt. Menschenrechtsverletzungen sind immer Einzelfälle. Jedes Menschenrechtsabkommen muss deswegen individuelle Beschwerden ermöglichen, und zwar auf allen Ebenen. Die Menschenrechte und dieses Abkommen sind zum Schutz jedes einzelnen Menschen da; sie umfassen individuelle Rechte. Folglich muss jeder einzelne Mensch die Möglichkeit haben, eine Verletzung seiner Rechte vor Gericht zu bringen und öffentlich zu machen, und zwar auf allen Ebenen, auch auf internationaler Ebene. Durch die Individualbeschwerde können Menschen, deren Rechte verletzt wurden, nicht nur ihr Recht bekommen, sondern auch die öffentliche, staatliche Anerkennung, dass sie dieses Recht haben. Damit wird, soweit das eben geht, die Würde dieser Menschen wiederhergestellt. Es gibt deshalb keinen Grund, dass es zwar beim Zivilpakt die Möglichkeit zur individuellen Beschwerde auf internationaler Ebene gibt, beim Sozialpakt aber nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) 1973 hat Deutschland den Sozialpakt ratifiziert. Die WSK-Rechte gelten also seit fast 40 Jahren. Seit anderthalb Jahren wäre es auch Deutschland möglich, das Individualbeschwerdeverfahren zuzulassen. Die Prüfung hätte also auch zum Ende kommen können. 31 Staaten haben es bisher ratifiziert, Deutschland aber nicht. Gerade im Bereich der WSK-Rechte sind Individualbeschwerdeverfahren sinnvoll; denn die Kritiker der WSK-Rechte sagen ja immer, diese Rechte seien zu abstrakt. Der Sprecher der CDU/CSU hat sich sogar zu der Äußerung verstiegen, man müsse prüfen, ob dies nicht nur allgemeine Ziele und nicht knallharte Rechte seien. Individualbeschwerden machen aber deutlich, wie diese kollektiven Rechte auf die einzelnen Lebensgeschichten und Schicksale der Menschen einwirken. Dadurch werden Menschenrechte greifbar. Individuelle Beschwerdeverfahren zeigen anschaulich, dass WSK-Rechte ganz konkrete Ansprüche bedeuten. Bislang gab es nur den Staatenbericht zum UN-Sozialpakt, in dem überprüft wurde, ob die Staaten den Sozialpakt einhalten. In ihm bleiben aber die Menschenrechte des Einzelnen relativ allgemein und relativ diffus, meist in Statistiken versteckt. Durch das Individualbeschwerdeverfahren werden Menschenrechte auch für Nichtexperten, auch für die Opfer, greifbar und verständlich. Einzelfälle sind anschaulich. Die Opfer werden sichtbar, ihre Geschichten werden öffentlich und nachvollziehbar. Rechtsträger müssen ihre Rechte einfordern können, und dies durch alle Instanzen. Das ist ein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Außenpolitisch engagiert sich Deutschland bereits über viele Regierungen hin für die WSK-Rechte. Wir haben jetzt auch gehört, dass offensichtlich die gegenwärtige Regierung dies wieder will. Dann frage ich: Wie lange wollen Sie denn noch prüfen? So lange wie bei der ILO-Resolution? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) In Ihrem Koalitionsvertrag steht wenigstens, Menschenrechtspolitik sei eine zentrale Konstante. Fangen Sie bitte damit an, machen Sie es gleich und prüfen Sie nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1049 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a bis e auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes - Drucksache 17/1220 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldbericht der Bundesregierung 2009 - Drucksache 16/13350 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten - Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen - Drucksache 17/1050 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen - Drucksache 17/1586 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundeswaldgesetz ändern - Naturnahe Waldbewirtschaftung fördern - Drucksache 17/1743 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Als erster Rednerin erteile ich der Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung aus dem Land Niedersachsen das Wort, unserer ehemaligen Kollegin Astrid Grotelüschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Astrid Grotelüschen, Ministerin (Niedersachsen): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Nur wenige Gesetze haben langfristig Bestand. Das Bundeswaldgesetz, das wir in der nächsten halben Stunde diskutieren werden, wurde im Jahr 1975 verkündet und gehört sicherlich zu denjenigen Gesetzen, die diese Langfristigkeit widerspiegeln. Das liegt daran, dass sein Ziel, nämlich die Erhaltung des Waldes und die Förderung der Forstwirtschaft, damals wie heute von großer Bedeutung war bzw. ist. Geänderte gesellschaftliche Ansprüche an unseren Wald und an dessen Bewirtschaftung erfordern jedoch in bestimmten Abständen eine gewisse Prüfung oder gegebenenfalls Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens. Deshalb möchte ich Ihnen im Folgenden darstellen, warum die Änderungen, die wir in der nächsten halben Stunde diskutieren, sehr notwendig sind. So bedarf es, auf die Praxis bezogen, seitens der forstlichen Zusammenschlüsse einer weiteren Größenentwicklung, damit diese als Marktpartner gegenüber der Holzindustrie, die sich ja in den letzten Jahren sehr stark konzentriert hat, als Gegengewicht wieder eine gewisse Augenhöhe bekommen. Das kann nur durch den Zusammenschluss bestehender Forstbetriebsgemeinschaften zu forstwirtschaftlichen Vereinigungen geschehen. Die Waldbesitzer in Deutschland haben gemäß dem Bundeswaldgesetz die Möglichkeit, sich zur Überwindung von Strukturmängeln in privatrechtlichen Zusammenschlüssen zu organisieren. Diese forstwirtschaftlichen Zusammenschlüsse garantieren eine optimale Sicherstellung und Beratung bzw. Betreuung der zahlreichen Besitzer kleinstrukturierter Waldflächen. In Niedersachsen hat die überwiegende Zahl der Besitzer von Kleinprivatwald - die durchschnittliche Größe liegt bei 12,8 Hektar - diese Chance bereits genutzt. Rund 70 Prozent der Besitzer von Nichtstaatswald haben sich bereits in ungefähr 108 Forstgemeinschaften organisiert. Die nach bisherigem Recht vorhandene starke Beschränkung der Aufgaben von forstwirtschaftlichen Vereinigungen führt dazu, dass sie nicht mehr den heutigen Erfordernissen des Holzmarktes und vor allen Dingen auch nicht mehr denen an eine professionelle Struktur einer solchen Organisation entsprechen. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!) Auf Bundesebene wird daher schon seit längerem über eine Änderung des Abschnitts zu forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen im Bundeswaldgesetz diskutiert. Dies ist bisher, wie ich finde, ohne die dringend notwendigen Erfolge geschehen. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das lag an der Vorgängerregierung!) Die Zusammenschlüsse haben daher in zulässiger Weise, aber mit großem Aufwand, andere, aber eher komplizierte rechtliche Konstruktionen entwickelt. Deshalb muss es unser Hauptziel sein, diesen forstwirtschaftlichen Vereinigungen umgehend die Möglichkeit zu geben, im Sinne einer integrierten Entwicklung für den ländlichen Raum als Dienstleister erfolgreich und vor allen Dingen innovativ tätig zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Vermarktung des Holzes stellt die Haupteinnahmequelle für die Waldbesitzenden dar. Dies bedeutet, dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen den Verkauf des Holzes für die Mitglieder nicht nur koordinieren sollen, sondern das Holz auch selber vermarkten dürfen. Zudem würde den Zusammenschlüssen in allen Bundesländern die angestrebte Änderung des Bundeswaldgesetzes außerordentlich dabei helfen, sich zukünftig in einfacher Weise marktangepasst entwickeln zu können. Der vorliegende Entwurf nutzt außerdem die Chance, in zwei weiteren Punkten Rechtsklarheit zu schaffen. Der nachwachsende Rohstoff Holz wird sowohl bei Kurz-umtriebsplantagen als auch bei Agroforstsystemen auf landwirtschaftlichen Flächen produziert. Diese genannten Kulturformen gleichen eher einer landwirtschaftlichen Nutzung und sind mit einer ordnungsgemäßen und nachhaltigen Bewirtschaftung im Sinne des § 11 des Bundeswaldgesetzes nicht vereinbar. Mit der Herausnahme der bisherigen Definition des Waldes können wir in Zukunft Diskussionen über Zuordnungen vermeiden; das Bundeswaldgesetz stellt nämlich bei der Zuordnung zum Wald zurzeit ausschließlich auf das äußere Erscheinungsbild ab. Damit es keine Missverständnisse gibt, möchte ich aber ergänzend darauf hinweisen, dass historische Wirtschaftsformen wie der Niederwald oder der Mittelwald aufgrund ihres Wuchsverhaltens und ihrer Struktur natürlich weiterhin Wald bleiben. Die zweite Klarstellung ist mit dem vorgesehenen Zusatz zur Frage der Haftung beim Betreten des Waldes vorgesehen. Das Bundeswaldgesetz gestattet jedermann, den Wald auch außerhalb der Wege zu betreten. Dabei hat sich - das wissen wir alle - das Erholungsverhalten der Besucher sehr stark verändert. Die Ausschilderung von Wanderwegen lenkt insgesamt natürlich mehr Besucher in den Wald. Zudem führen neue Erholungsformen - auch das wissen wir; ich will nur Mountainbiking als Beispiel nennen - zu veränderten Gefährdungssituationen im Wald. Gleichzeitig werden Waldbesitzer durch Vorschriften aus unterschiedlichen Rechtsbereichen - hier sei nur das Natur- und das Artenschutzrecht genannt - gezwungen, gefährliche Situationen, die zum Beispiel durch Totholz entstehen können, zu dulden. Es besteht andererseits jedoch für den Waldbesitzer nicht das Recht, der Verkehrssicherungspflicht über ein dauerhaftes Sperren nachzukommen. Die Änderung in unserem Entwurf stellt daher klar, dass der Waldbesitzer für waldtypische Gefahren, wie es zum Beispiel das Totholz darstellt, nicht haftet. Damit wird die geltende Rechtsprechung in das Gesetz übernommen. Das ist also schon gelebte Praxis. Ich hoffe, dass ich Ihnen anhand dieser wenigen Beispiele - ich habe nur sechs Minuten Redezeit und die Uhr läuft gegen mich - darstellen konnte, warum wir eine Anpassung des Waldgesetzes einfordern. Ich bitte daher den Bundestag, den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf weiter zu beraten, und ich hoffe, dass Sie ihn als Gesetz verabschieden. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Ministerin, Sie haben schon bald nach Ihrer Wahl in den Deutschen Bundestag Ihre neue jetzige Aufgabe als Ministerin in Niedersachsen übernommen. Dies war nun Ihre erste Rede in diesem Haus, nicht nur in der Funktion als Ministerin. (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU: Oh! - Peter Bleser [CDU/CSU]: Und gleich Ministerin!) Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit! (Beifall) Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Crone für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Petra Crone (SPD): Guten Abend! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir unternehmen heute den dritten Anlauf, das Bundeswaldgesetz zu novellieren. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!) Aller guten Dinge sind drei. Viele Fragen sind unter den Fraktionen völlig unstrittig. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Auch richtig!) Auch forstwirtschaftliche und Naturschutzakteure geben grünes Licht. In Kürze: Modernisierungsbedarf - das wurde eben schon gesagt - besteht in der Abgrenzung der Begriffe "Agroforstsysteme" und "Kurzumtriebsplantagen" vom Begriff "Wald". KUPs werden vor allem als Option für die steigende Holznachfrage und unter gewissen Anforderungen als Alternative mit positiven Wirkungen für biologische Vielfalt und Böden verstanden. Zukünftig wollen wir die Besitzer kleiner Wälder stärken. Sie können ihr Holz zu fairen Bedingungen nutzen und auf den Markt bringen. Dafür erweitern wir den Aufgabenkatalog der forstwirtschaftlichen Vereinigungen. Diskussionsbedarf besteht momentan noch bei der Verkehrssicherungspflicht. Ich bin aber zuversichtlich, dass eine Lösung im berechtigten Interesse der Waldbesitzer gefunden wird. Aber dieser Punkt führt uns leider schon hinaus aus der schönen, seltenen Einigkeit. Sobald Belange des Naturschutzes angesprochen werden, endet die Kooperation. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das wäre aber nicht nötig gewesen! - Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Verweigern Sie sich!) Cornelia Behm, Christel Happach-Kasan, Georg Schirmbeck - er ist heute nicht da - und Kirsten Tackmann - Sie, meine lieben Kollegen und Kolleginnen, kümmern sich schon seit vielen Jahren verdienstvoll um den Wald. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Peter Bleser [CDU/CSU]: Oh! Da haben Sie mich aber vergessen!) Inwieweit einige von Ihnen zum Scheitern der ersten beiden Anläufe einer Novellierung beigetragen haben, dazu will ich keine Mutmaßungen anstellen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Also wir waren unschuldig!) Als neue wald- und forstpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion will ich drei Punkte ansprechen. Erstens. Wem der Wald am Herzen liegt, der sollte bereit sein, Gesetze, die zum Teil seit 1975 nicht mehr angefasst wurden, zu ändern. Zweitens. Meine politischen Forderungen für unseren Wald sind realistisch, aber auch maximal. (Beifall bei der SPD) Drittens. Ich sehe trotz Konfliktpotenzial, dass die Gemeinsamkeiten größer sind als die Gegensätze. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist schon mal was!) Wir müssen unser Waldgesetz jetzt an die geänderten Zeiten anpassen. Die nächsten 20, 30 Jahre sind für den Klimawandel entscheidend. Der Wald muss mit immer extremeren Wetterlagen klarkommen. Die Abgase aus Verkehr und Landwirtschaft setzen ihn noch immer unter Stress. Laut Waldbericht verbleiben die Schäden auf hohem Niveau. Es mangelt an alten Wäldern, an Alt- und Totholz. Beim Artenrückgang ist keine Trendwende zu verzeichnen. Ich erinnere hier an unsere international wie national eingegangenen Verpflichtungen zum Schutz der biologischen Vielfalt. Das alles lässt nur einen Schluss zu: Wir brauchen Mindeststandards im Naturschutz für die gesamte Waldfläche. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir wissen inzwischen so viel über ökologische und ökonomische Zusammenhänge im Wald und in der Forstwirtschaft. Dieses Wissen muss sich in einem modernen Bundeswaldgesetz wiederfinden. Darum will die SPD-Bundestagsfraktion die "gute fachliche Praxis" im Bundeswaldgesetz verankern. Immer höre ich ein verstärktes Raunen allein bei der Nennung dieser drei Worte. Deshalb sage ich es einmal so: Wir müssen unsere Wälder in die Lage versetzen, aus sich heraus zu funktionieren. Die Nutzung des Waldes stresst ihn. Das ist letzten Endes nicht zu vermeiden. Unsere Pflicht ist es aber, den Stress für das Ökosystem auf ein Minimum zu beschränken. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie äußert sich denn Stress im Wald?) Der SPD ist klar: Der Wald muss wirtschaftlich genutzt werden. Doch wir wollen, dass das naturnah geschieht. Viele Forstbetriebe, auch bei mir im Sauerland, tun das in vorbildlicher Weise. Ich kann aber nicht alle Formen der Waldbewirtschaftung gleichsam loben. Es gibt Waldbesitzer, die sehr verantwortungsvoll vorgehen, und andere, die das nicht tun. Wenn wir die "gute fachliche Praxis" im Gesetz verankern, hauen wir den schwarzen Schafen der Branche empfindlich auf die Finger. Denn die bereichern sich doch auf Kosten der naturnahen Waldwirtschaft. Mit der Aufnahme in das Bundeswaldgesetz binden wir alle Forstbetriebe an ein Mindestniveau des Naturschutzes. Damit schaffen wir auch wettbewerbsrechtlich einen einheitlichen Rahmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich glaube auch nicht, dass die "gute fachliche Praxis" im Bundeswaldgesetz alle Probleme löst. Aber ohne sie wird es auch nicht gehen. Sie ist ein wichtiges Instrument der Naturschutzpolitik im Wald. Warum geht nicht beim Wald, was doch bei der Landwirtschaft geht? Da ist es verankert. Klar brauchen wir naturnahe Waldwirtschaft, braucht es Vertragsnaturschutz, Beratungen, Zertifizierungen und in Zukunft vermehrt wohl auch ein Honorierungssystem von Natur- und Klimaschutzleistungen. Der Mix aus den Instrumenten macht es. Sicher kennen Sie die umfangreiche wissenschaftliche Arbeit zu den Bausteinen einer Naturschutzpolitik im Wald des BfN. Die kommt zu dem Schluss: Mit den Kriterien der "guten fachlichen Praxis" sind keine gravierenden ökonomischen Auswirkungen zu befürchten. Auch die forstliche Förderung bliebe weitgehend unbeeinträchtigt. Wir schlagen ja auch eine Regelungsverteilung zwischen Bund und Ländern vor. Da bleibt viel Spielraum für die Präzisierung bei den Ländern. Ein Naturschutz, der keine gesellschaftspolitische Akzeptanz hat, wird langfristig scheitern. Eine Bewirtschaftung, die unsere Wälder und ihre Lebensformen empfindlich stört oder sogar zerstört, hat schon heute keine gesellschaftspolitische Akzeptanz mehr. Daher meine Bitte an Sie: Setzen wir uns noch einmal an einen Tisch und beraten wir über die gesetzliche Verankerung der GfP. Hier können wir alle gemeinsam einen guten Aufschlag schon vor dem Internationalen Jahr der Wälder 2011 machen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Crone, eine solche Charmeoffensive der SPD-Fraktion habe ich in diesem Hause relativ selten erlebt. Ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre netten Worte. Herzlichen Dank dafür! (Beifall bei der FDP und der SPD) Die beiden Beiträge haben deutlich gemacht: Wir alle sind uns über die Notwendigkeit, das Bundeswaldgesetz zu ändern, einig. Die Anträge der Oppositionsfraktionen spiegeln dies durchaus wider, auch wenn wir nicht in allen Punkten so weit gehen wollen, wie die SPD-Kollegin es hier dargestellt hat. Man muss allerdings feststellen: Obwohl wir uns alle einig sind, dass das Waldgesetz geändert werden muss, hat es die Große Koalition nicht auf den Weg gebracht. Mit der gegenseitigen Blockierung haben damals die Koalitionspartner dem Land geschadet. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Lieber nichts als etwas Falsches!) Ich hoffe, lieber Kollege Bleser, dass wir das jetzt schaffen und ein ordentliches Waldgesetz auf den Weg bringen werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) - Vielen Dank für den Beifall von allen Seiten. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nicht von allen!) Es ist ausgeführt worden: Im Bestreben, die Biodiversität im Wald zu erhöhen, sind die Totholzanteile im Wald schrittweise erhöht worden. Das bedeutet, dass mehr Insektenarten ein Heim finden. Totholz stärkt die Biodiversität, aber gleichzeitig wird das Gefährdungsrisiko für Waldbesucher erhöht. Tote Bäume sind eben nicht so stabil wie lebende. Wir haben das Recht auf freies Betreten der Wälder. Waldbesitzer dürfen ihre Wälder nicht absperren. Deswegen wollen wir - das ist hier von verschiedenen Seiten dargestellt worden -, dass Waldbesitzer nicht für waldtypische Gefahren haften. Verschiedene Gerichtsurteile zeigen uns, dass wir mit dieser Formulierung eine ganze Reihe von Konflikten vermeiden können. Ich denke mir auch, dass wir allein durch die Diskussion über waldtypische Gefahren dazu beitragen, dass sich Waldbesucher bewusst werden, dass es diese waldtypischen Gefahren gibt, und sich entsprechend verhalten. Ein Waldweg ist eben kein glattes Parkett. Man kann dort stolpern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Das Cluster "Forst und Holz" trägt entscheidend zur wirtschaftlichen Stärkung der ländlichen Räume bei. 1,2 Millionen Beschäftigte, 170 Milliarden Euro Umsatz, das hat schon eine ganz erhebliche Bedeutung. Vor fünf Jahren wurden 60 Prozent des nachwachsenden Holzes genutzt. Inzwischen sind es 90 Prozent. Es ist attraktiver geworden, Holz einzuschlagen. Die verstärkte energetische Nutzung hat dazu einen Beitrag geleistet. Es ist aber auch deutlich, dass wir keine Übernutzung unserer Wälder haben; das ist gut. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wollen, dass das so bleibt. Deswegen gibt es in verschiedenen Regionen Deutschlands - wir haben hier im Bundestag in der letzten Legislaturperiode darüber diskutiert - Projekte in Kurzumtriebsplantagen, Holz für die energetische und stoffliche Nutzung zu produzieren. Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Produktionen von Biomasse wird nur erreicht, wenn wir für solche Projekte - es gibt sie in Schleswig-Holstein genauso wie in Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg - endlich Rechtssicherheit schaffen. Der Wissenschaftliche Beirat des Agrarministeriums hat schon 2007 auf die Vorzüge von Kurzumtriebsplantagen hingewiesen. Florian Schöne vom NABU hat bei einer Anhörung der FDP-Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass in Energieholzplantagen die pflanzliche und tierische Biodiversität vergleichsweise gut und deutlich besser als in Dauerkulturen von Mais ist. Es ist selten so, dass Ökologie und Ökonomie derartig Hand in Hand gehen. Deswegen wollen wir diese gesetzliche Änderung. (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU]) Ich freue mich sehr, dass das Bundesforschungsministerium in der Ausschreibung "Nachhaltiges Landmanagement" auch einem Projekt den Zuschlag gegeben hat, in dem wissenschaftliche Fragestellungen der Produktion und Bereitstellung von Dendromasse untersucht werden sollen, sprich: Kurzumtriebsplantagen. In verschiedenen Regionen Deutschlands erfolgen auf bestimmten Flächen land- und forstwirtschaftliche Nutzung parallel. Das soll möglich bleiben; das ist unser fester Wille. Ein Offenhalten der Landschaft kann aber nur über die Bewirtschaftung der Flächen erreicht werden. Ohne Pflege und Bewirtschaftung von Wiesen, Bachtälern, Almweiden, ja sogar von ehemaligen Wattflächen - Beispiel: das Katinger Watt in Schleswig-Holstein - wächst dort Wald; denn die potenzielle Vegetation in Deutschland ist Wald. Wenn dort Wald wächst, dann ist es nach der Definition unseres Bundeswaldgesetzes Wald. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Von besonderer Bedeutung sind die Alp- und Almbauern!) - Sehr geehrter Herr Kollege, ich bitte Sie herzlich, eine Zwischenfrage zu stellen, damit wir darüber diskutieren können, mir aber nicht in die Redezeit hineinzufunken. Das finde ich nicht in Ordnung. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Präsident, würden Sie bitte? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Müller, wollen Sie Ihrer Auftragsfrage nachkommen? - Bitte. (Heiterkeit) Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Sehr geschätzte Frau Kollegin, welche Bedeutung messen Sie in diesem Zusammenhang der deutschen Alm- und Alpwirtschaft bei? Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Werter Herr Kollege, ich bedanke mich für diese Frage und möchte ausdrücklich hinzufügen, dass ich Sie nicht herausgefordert habe, aber Ihr Begehren in Ihren Augen ablesen konnte. So gut funktioniert die Zusammenarbeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur beim Wald!) Ich glaube, dass die Almwirtschaften im Alpengebiet genauso wie andere Bergwirtschaften in anderen Mittelgebietsregionen in Deutschland eine herausragende Bedeutung haben. Ich bin sehr mit Ihnen einer Meinung, dass wir Flächen mit landwirtschaftlicher und forstwirtschaftlicher Nutzung vom Waldbegriff ausnehmen sollten. Wenn aber infolge der natürlichen Entwicklung - das passiert auch in Deutschland - auf einer solchen Fläche, auf der die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr erfolgt, ein Wald wächst, wenn sie mit Waldbäumen bestockt ist, dann ist diese Fläche Wald und kann damit keine Direktzahlungen im Sinne der Landwirtschaft mehr erzielen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Im Namen meiner Almbauern bedanke ich mich sehr!) - Herr Kollege, ich bedanke mich für diese freundliche Frage. Der dritte Änderungsbedarf - auch das ist hier schon dargestellt worden - besteht bei den forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen, die wir stärken wollen. Bei der Bewirtschaftung der sehr vielen kleinen Privatwälder sind sie von entscheidender Bedeutung. Wir haben drei Anträge der Opposition vorliegen. Der Antrag der SPD hat eine sehr pragmatische Handschrift. Herzlichen Dank dafür. Der Antrag der Grünen, liebe Kollegin Cornelia Behm, ist ein bisschen kleinteilig geraten. (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr aber nötig, dass man es so detailliert aufschreibt!) Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass wir für alle 10 Hektar Wald eine eigene Verordnung brauchen, damit wir allen Ansprüchen gerecht werden können. Ich finde es ein bisschen schade, dass sich die Grünen nicht mit dem Waldbericht der Bundesregierung beschäftigt haben und die Erkenntnisse, die dort sehr deutlich und anschaulich niedergelegt wurden, nicht in ihrem Antrag verwertet haben. Das wäre meines Erachtens wichtig gewesen, damit wir eine fachlich gute Diskussion hierzu bekommen. Die Definition der guten fachlichen Praxis im Bundesgesetz erübrigt sich nach meiner Auffassung. Der Waldbericht zeigt auf, dass Waldbesitzer mit ihrem Eigentum weitgehend verantwortlich umgehen. Wir sollten uns auf die gesetzlichen Regelungen beschränken, die wirklich erforderlich sind. Mir macht die weiterhin hohe Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle im Wald - bis zu 20 pro Jahr - sehr viel mehr Sorge als fehlende Paragrafen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute und konstruktive Diskussion. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist es absolut unstrittig, dass wir dringend eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes brauchen. Die Opposition ist an dem Thema immer drangeblieben. Deswegen bin ich froh, dass jetzt der Bundesrat die Initiative ergriffen hat. Mit der Koalition wäre das wahrscheinlich nichts geworden. In drei Punkten sind sich alle fünf Fraktionen in diesem Haus einig: Erstens soll die Agroforstwirtschaft aus dem Begriff "Wald" herausgenommen werden. Zweitens wollen wir die Verkehrssicherungspflicht der Rechtsprechung anpassen. Und drittens wollen wir den Kleinprivatwaldbesitzerinnen und -besitzern etwas unter die Arme greifen. Zum Thema Agroforst: Flächen zum Energieholzanbau und Ackerflächen mit einem kombinierten Anbau von Bäumen und Kulturpflanzen sollen im Sinne des Bundeswaldgesetzes kein Wald mehr sein, damit man das Holz auch kurzfristig nutzen kann. Damit wird gleichzeitig die seit über 200 Jahren bestehende Trennung zwischen Forstwirtschaft und Landwirtschaft etwas aufgeweicht. Hierbei geht es zum einen um seit Jahrhunderten bekannte Mischnutzungen wie Streuobstwiesen oder sogenannte Hudewälder, also die Kombination zwischen Wald und Weidehaltung. Zum anderen geht es aber auch um relativ neue Ideen wie den Energieholzanbau auf Kurzumtriebsplantagen oder die Pflanzung von Baumreihen in Getreidefeldern. Allerdings müssen wir bei dieser Türöffnung aus unserer Sicht auch das Risiko im Blick behalten. Kurzumtriebsplantagen dürfen nicht zu großflächigen Monokulturen werden. Der sogenannten Vermaisung der Landwirtschaft darf nicht die sogenannte Verpappelung folgen. (Beifall bei der LINKEN) Wir wollen allerdings auch keine Beschränkung der Agroforstsysteme auf den Pflanzenbau - darum ging es gerade in der Debatte -, wie es jetzt befürchtet wird. Forst- und Tierhaltungssysteme auf einer Fläche müssen eingeschlossen werden, damit die Neuregelungen auch für Almbeweidung und Hudewälder gelten. Zur Verkehrssicherungspflicht: Niemand will die Waldeigentümer aus ihren Pflichten entlassen, die Linke schon gar nicht. Art. 14 des Grundgesetzes gilt: Eigentum verpflichtet und muss zum Gemeinwohl verwendet werden. Aber natürlich hat der Wald nicht nur ökologische und forstliche Funktionen. Er ist auch Erholungsraum. Seine öffentliche Zugänglichkeit ist für uns unverzichtbar, und zwar unabhängig von der Eigentumsform. Das gilt gerade in der Nähe von Städten. Ein erholsamer Waldspaziergang ist für die Forstwirtschaft ja der pure Lobbyismus. Ich möchte aber natürlich niemandem zumuten, durch herabstürzende Äste oder umstürzende Bäume verletzt zu werden. Solche Risiken gibt es im Wald, wenn wir ihn nicht parkähnlich aufräumen wollen. Daher ist es aus unserer Sicht sinnvoll, abseits von stark genutzten Waldwegen auf die Pflicht zur Fällung von kranken oder toten Bäumen zu verzichten. Dabei geht es eigentlich nur um die Anpassung der Regelungen an die gängige Rechtsprechung. Zum Kleinprivatwald: Die Unterstützung der Kleinprivatwaldbesitzer ist aus unserer Sicht längst überfällig und dringend erforderlich; denn sie liegt in unser aller Interesse, weil es hier auch um die Mobilisierung von Holzreserven geht, die dringend gebraucht werden und den Nutzungsdruck vom restlichen Wald etwas wegnehmen. Diese drei Änderungen reichen uns als Linken nicht aus. Darum fordern wir in unserem Antrag, die sogenannte ordnungsgemäße Forstwirtschaft so zu formulieren, dass naturnahe Wälder erreicht werden. Dazu gehören aus unserer Sicht ganz klar: die Wahl standort-gerechter, einheimischer Baumarten; kahlschlagfreies Wirtschaften; die Gestaltung der Waldränder als Biotopübergang von Wald zu Acker und Wiese; die Reduzierung der Bodenbearbeitung und -verdichtung; die Vermeidung von Pflanzenschutz- und Düngemitteln; ange-passte Wilddichten, die eine natürliche Verjüngung des Waldes ermöglichen; der Verzicht auf gentechnisch verändertes Pflanz- und Saatgut. Nicht zu vergessen: Zu einer fachgerechten Waldbewirtschaftung gehört qualifiziertes Personal in bedarfsgerechter Anzahl. Ich freue mich sehr auf die Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeswaldgesetz ist 35 Jahre alt geworden. Wenn ich meine Kollegen anschaue, muss ich sagen: Mit 35 ist man noch jung. Aber ein Gesetz, das sich mit Ökosystemen befasst, ist mit 35 Jahren angesichts der stark veränderten Umweltbedingungen schon in die Jahre gekommen. Dass Novellierungsbedarf besteht, darüber gibt es, glaube ich, keinen Streit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Deswegen hat ja auch die Koalition in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: "Das Bundeswaldgesetz wird novelliert." Gekommen ist aber nichts. Jetzt hat der Bundesrat dem Druck aus der Gesellschaft, vor allen Dingen aus der Holzbranche, nachgegeben und eine Novelle vorgelegt, aber nur eine Mikronovelle. Sie sind wirklich beim kleinsten gemeinsamen Nenner stehen geblieben. Sie haben sich der Verkehrssicherungspflicht angenommen, Sie haben sich der Kurzumtriebsplantagen und sogar der Agroforstsysteme angenommen, und Sie wollen die Vermarktung durch forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse verbessern. Das alles ist unstrittig. Ich will zu zwei von diesen Punkten etwas sagen. Bei der Verkehrssicherungspflicht wollen Sie - so steht es in der Begründung - im Grunde genommen nur die gültige Rechtsprechung gesetzlich festlegen. Das entspricht in keiner Weise den Erwartungen: Es entspricht weder den Erwartungen der Waldbesitzer noch denen der Forstleute noch denen der Naturschützer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nötig wäre eine Lockerung der Verkehrssicherungspflicht durch eine räumlich differenzierte Betrachtung: An den Hauptverkehrswegen muss tatsächlich Sicherheit herrschen. Im Waldesinnern ist es jedoch zumutbar, dass man mit waldtypischen Gefahren rechnet und entsprechend umsichtig ist. Zu den Kurzumtriebsplantagen. Im Koalitionsvertrag kommen nur Kurzumtriebsplantagen vor und keine Agroforstsysteme. Das finde ich ziemlich schwach; denn es ist leider nicht so, wie meine Kollegin Christel Happach-Kasan sagt, dass Kurzumtriebsplantagen eine hohe Biodiversität aufweisen. Kurzumtriebsplantagen sind Monokulturen von Forstpflanzen auf dem Acker und nichts anderes. Wenn der NABU spricht, dann spricht er von wahrhaften Agroforstsystemen. Diese Agroforstsysteme sind nicht nur in der Lage, die Ertragsfähigkeit von Agrarflächen zu erhöhen, sondern auch die Biodiversität. Daran sollte man insbesondere im UN-Jahr der Biodiversität denken und entsprechende Regelungen treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist mein Anliegen, dass man nicht nur, wie es unser Staatssekretär will, bestehende Agroforstsysteme wie Streuobstwiesen und Almweiden schützt, sondern dass man sich in diesem Hause verstärkt darum bemüht, dass neue Agroforstsysteme angelegt werden. Ich komme jetzt zu den wesentlichen Defiziten - ich habe ja von einer Mikronovelle gesprochen -: Sie haben sich nicht dazu hinreißen lassen, Standards zu setzen für klimaplastische Wälder, die die Leistungen für den Naturhaushalt auf Dauer sicherstellen. Wir haben Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt, und wir haben Ihnen auch dieses Mal wieder einen Antrag vorgelegt, in dem die notwendigen Mindestanforderungen stehen, um die Ziele, die wir alle haben - darüber haben wir ja oft genug gesprochen; sie sind unstrittig -, zu erreichen, nämlich naturnahe, vitale Wälder, Biodiversität der Waldökosysteme, Erhöhung der CO2-Speicherung, Versorgung mit dem nachwachsenden Rohstoff Holz und auch Schutz vor Übernutzung. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Alles unstrittig!) Dafür gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens; nur: Die Koalition sperrt sich. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Nein!) Sie sagt: Es gibt keinen Regelungsbedarf, die Waldbesitzer handeln eigenverantwortlich, und die machen schon alles schön im Sinne der Nachhaltigkeit. - Sie wissen es aber doch selbst: Die Wirklichkeit sieht anders aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident, lassen Sie mich noch ein paar Sätze sagen. - Gerade auch in den ostdeutschen Bundesländern sehe ich zunehmend, dass es eine neue Klasse der Waldbesitzer gibt, die einzig und allein gewinnorientiert ist. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Aber nicht in Thüringen! Sie sind alle gemeinwohlorientiert!) Meine Damen und Herren von der Koalition, damit, diesen Interessen nachzugeben, erweisen Sie dem Wald, dem Klimaschutz, der Biodiversität und damit auch der Zukunft der ländlichen Regionen einen Bärendienst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir bleiben dran, wir wollen eine Makronovelle, und dafür werde ich mich auch weiterhin einsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alois Gerig (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wald hat für unser Land eine überragende Bedeutung. Deshalb kommt auch der Novellierung des Waldgesetzes eine überragende Bedeutung zu. Da 31 Prozent unseres Landes mit Wäldern bedeckt sind, prägen sie nicht nur das Landschaftsbild in vielfältiger Weise, sondern sie bilden auch die grüne Lunge für unsere Bürger. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Als CO2-Speicher sind unsere Wälder aktive Klimaschützer und für uns Menschen unverzichtbar, weil sie einen wichtigen Beitrag für die Trinkwasserversorgung und den Immissionsschutz leisten. Sie dienen als Lebensraum für Pflanzen und Tiere zur Bewahrung der Schöpfung und zum Erhalt der Artenvielfalt. Für uns Menschen sind sie ein wichtiger Raum für Ruhe und Erholung. Neben all den wichtigen, unersetzbaren ökologischen Funktionen gewinnt auch die ökonomische Seite unserer Wälder mehr und mehr an Bedeutung. Sie sind einerseits ein unverzichtbarer Rohstofflieferant als Grundlage für eine leistungsfähige Holzindustrie, die gerade im ländlichen Raum für Wertschöpfung und Arbeitsplätze sorgt, und bieten andererseits die Grundlage für nachwachsende Rohstoffe im Bereich der alternativen Energien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Koalition will die vielfältigen Funktionen des Waldes erhalten und zum Wohle von Mensch und Umwelt noch weiter ausbauen. Zu den wichtigsten Gesetzesänderungen in aller Kürze, weil wir uns in dem Bereich ja relativ einig sind: Erstens. Kurzumtriebsplantagen und Agroforstsysteme sind vom Waldbegriff des Bundeswaldgesetzes auszunehmen, weil es sich bei der Art der Bewirtschaftung um eine ackerbauliche Nutzung handelt, die aber genauso auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist. Holz ist mit Abstand der wichtigste Energieträger im Bereich der erneuerbaren Energien in Deutschland, und deshalb ist genügend Energieholz eine wichtige Voraussetzung, um die erneuerbaren Energien in Deutschland auszubauen und unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein zweites Anliegen des Gesetzentwurfes ist, die Waldbesitzer bei der Verkehrssicherungspflicht zu entlasten. Von den Waldbesitzern wird einerseits aus Naturschutzgründen verlangt, vermehrt Totholz und umgefallene Bäume im Wald zu belassen, wodurch sich andererseits mehr Gefahrensituationen für die - glücklicherweise zahlreicher werdenden - Naherholungssuchenden ergeben können. Da der Wald für alle zugänglich ist und dies auch bleiben soll und muss, dürfen die Waldbesitzer nicht zur Haftung für waldtypische Gefahren herangezogen werden. Als Drittes ist im Gesetzentwurf vorgesehen, die Aufgaben der forstwirtschaftlichen Vereinigungen zu erweitern. Um den Waldeigentümern zukünftig den Holzverkauf zu erleichtern, will der Gesetzentwurf erreichen, dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen das Holz ihrer Mitglieder auch vermarkten dürfen. Dies stärkt die Waldbesitzer auf einem Holzmarkt, der mehr und mehr durch Konzentrationsprozesse auf der Abnehmerseite gekennzeichnet ist, wie die Kollegin Happach-Kasan bereits ausgeführt hat. Alles in allem geht der Gesetzentwurf des Bundesrates in die richtige Richtung. Die CDU/CSU will diesen Gesetzentwurf unterstützen, weil er wichtige Vorgaben unserer Koalitionsvereinbarung aufgreift. Ich danke dem Land Niedersachsen, heute durch die ehemalige Kollegin Frau Ministerin Astrid Grotelüschen vertreten, dass dieser Gesetzentwurf über den Bundesrat in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In unseren Beratungen im Bundestag, zu denen auch eine Anhörung am 7. Juni gehört, sollte nun überlegt werden, ob noch Ergänzungen am Gesetzentwurf erforderlich sind. Diverse Gedanken dazu haben wir bereits eingebracht. Was nach unserer Auffassung nicht explizit im Bundeswaldgesetz festgeschrieben werden sollte, ist die gute fachliche Praxis in der Waldwirtschaft, liebe Kolleginnen von der Opposition. Denn der Waldbericht 2009 macht unter anderem deutlich, dass die Waldstrukturen in Deutschland sehr vielfältig sind. Deshalb tritt die Union dafür ein, die gute fachliche Praxis wie seither von den Ländern durch Vorgaben für eine ordnungsgemäße Forstwirtschaft regeln zu lassen. Die nachhaltige Wirtschaftsweise ist ohnehin bereits festgeschrieben. Eine Neustrukturierung würde zu einem hohen Kontrollaufwand und damit zu noch mehr Bürokratie für alle Beteiligten führen. Aus meiner Sicht sollten wir vielmehr darauf achten, dass in der Forstverwaltung und in der Forstwirtschaft auch in Zukunft genügend gut ausgebildete Fachkräfte eingesetzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Bundesregierung hat erfreulicherweise angekündigt, im Herbst dieses Jahres die Waldstrategie 2020 vorzulegen. Auch deshalb lehnen wir weitergehende Anträge der Opposition zum jetzigen Zeitpunkt ab. Die nicht leichte Aufgabe für die Zukunft besteht darin, den Wald zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leistungsfähigkeit des Waldes in Einklang zu bringen und den Wald auf die Klimaveränderungen vorzubereiten. Lassen Sie uns mit der Novellierung des Waldgesetzes die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1220, 16/13350, 17/1050, 17/1586 und 17/1743 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 8 auf: 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz und Renaturierung von Nass- und Feuchtgebieten fördern - Hochwassergefahren mindern, Klima schützen - Drucksache 17/1748 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Undine Kurth (Quedlinburg), Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auenschutzprogramm vorlegen - Drucksache 17/1760 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Ingbert Liebing, Josef Göppel, CDU/CSU, Oliver Kaczmarek, SPD, Horst Meierhofer, FDP, Sabine Stüber, Die Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.1 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1748 und 17/1760 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen - Drucksache 17/1719 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch zu diesem Tagesordnungspunkt wollen wir die Reden zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Thomas Bareiß und Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Rolf Hempelmann, SPD, und Klaus Breil, FDP, sowie der Kolleginnen Dorothée Menzner, Die Linke, und Ingrid Nestle, Bündnis 90/Die Grünen.2 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1719 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf: 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorlegen - Drucksache 17/1578 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter vorlegen - Drucksache 17/1762 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - Drucksache 17/1761 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Politische Entscheidungen ... müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen messen lassen. Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag, Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber was haben Sie denn bisher politisch entschieden? Sie haben die Kriegseinsätze verlängert. Das erhöht höchstens die Zahl der behinderten Menschen, hilft ihnen aber nicht. Sie haben den Haushalt 2010 verabschiedet und darin nicht einmal der Bundeszentrale für politische Bildung den Auftrag erteilt, wenigstens über das Vorhandensein der UNO-Konvention, geschweige denn über ihre Inhalte, aufzuklären. Außerdem haben Sie sehr viel Geld für Banken ausgegeben. Dies wiederum lässt bei Menschen mit Behinderungen große Befürchtungen erwachsen, dass Teilhabesicherung und Nachteilsausgleich oder eine Veränderung der Eingliederungshilfe auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Das alles sind Dinge, die Menschen mit Behinderungen wirklich helfen würden. (Beifall bei der LINKEN) Aber Sie haben es bisher nicht für nötig erachtet, irgendeine Debatte zu führen oder gar irgendeine Entscheidung für Menschen mit Behinderungen und die Weiterentwicklung der Behindertenpolitik zu treffen. Deshalb bietet die Linke Ihnen heute die Möglichkeit, erstmalig in dieser Legislaturperiode über dieses Thema zu reden. Das Thema lautet: Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Bei Ihnen nur Zögern und Zaudern! Unsere Initiative, unser Antrag, diese Debatte heute zu führen, will nichts anderes als eine Beschleunigung und Verbesserung der Arbeit an der Umsetzungskonzeption für die UNO-Konvention. (Beifall bei der LINKEN) Wir - ich zitiere wiederum Ihren Koalitionsvertrag - treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben ein. Ja, wo denn bitte? Wo treten Sie denn dafür ein? Bis jetzt haben Sie dafür noch gar nichts getan. Unser Ziel ist, - wiederum Zitat Koalitionsvertrag - die Rahmenbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen positiv zu gestalten. Ja, dann tun Sie es doch bitte, und lassen Sie Ihr Zögern und Zaudern! (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen einmal, was Sie schon hätten tun können: Sie hätten Barrierefreiheit als Kriterium für öffentliche Ausschreibungen verpflichtend einführen können. Das haben Sie nicht gemacht, genau wie Ihre Vorgängerregierung, die das nicht einmal bei den Konjunkturprogrammen getan hat. Sie hätten eine Optimierung des Persönlichen Budgets vornehmen können. Sie hätten die Elternassistenz einführen können. Sie hätten - das habe ich vorhin schon einmal gesagt - die Bundeszentrale für politische Bildung damit beauftragen können, eine entsprechende Kampagne einzuleiten. Dies hätte nicht einmal Geld gekostet. Sie hätten, liebe Damen und Herren von der Regierung, in jeder Ihrer Reden erwähnen können, dass es in unserem Land Menschen mit Behinderung gibt, die das Recht haben, von Ihnen wahrgenommen zu werden, und teilhaben wollen. Das hätte überhaupt nichts gekostet, hätte aber gezeigt, dass Sie wissen, dass Sie eine Verpflichtung haben, für diese 10 Prozent der Bevölkerung etwas zu tun. (Beifall bei der LINKEN) Das haben Sie unterlassen. Wir registrieren Zögern und Zaudern. Nun setzen Sie endlich eine Arbeitsgruppe ein, die einen Aktionsplan erarbeiten soll. Aber über die Ergebnisse soll erst im März nächsten Jahres im Kabinett beraten werden, anderthalb Jahre nach der Bundestagswahl, zwei Jahre nach Inkrafttreten der Konvention als Bundesgesetz. Übrigens findet die Beteiligung der Betroffenen an der Erarbeitung dieses Aktionsplans auf der Spielwiese statt. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen darf mit den Verbänden und deren Vertreterinnen und Vertretern so tun, als ob irgendeine Beteiligung stattfände. Die eigentliche Arbeitsgruppe ist im Arbeitsministerium angesiedelt. Das ist alles andere als die Umsetzung des Mottos "Nicht ohne uns über uns!". (Beifall bei der LINKEN) Die Konvention böte gute Chancen, ein Nutzen-für-alle-Konzept zu etablieren. Lassen Sie es uns gemeinsam tun! Überwinden wir gemeinsam das Zögern und Zaudern rasch und gut! (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Maria Michalk (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rechte der Menschen mit Behinderung sind seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention vor gut einem Jahr in Deutschland eben nicht nur allgemeine Bürgerrechte, sondern ein Umsetzungsauftrag, der alle angeht; darin sind wir uns einig. Wir wissen und erkennen an, dass Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ein Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte sind. Diese gilt es zu schützen, zu respektieren und durchzusetzen, und das auf nahezu jedem Politikfeld. Trotzdem kennt jeder von uns gelebte Beispiele, wo gerade das nicht geschieht. Deshalb setzt die UN-Konvention in der Tat einen Akzent zur allgemeinen öffentlichen und allgegenwärtigen Diskussion über den Wert unseres mitmenschlichen Zusammenlebens und die Verantwortung füreinander. Viele politische Entscheidungen berühren die Belange von Menschen mit Behinderung. Es handelt sich tatsächlich um ein Querschnittsthema. Ich verweise ausdrücklich auf viele gesetzliche Regelungen in unserem Land, die in all den Jahren gemeinsam erstritten und erkämpft, aber auch umgesetzt wurden. Mir ist es ein besonderes Bedürfnis, daran zu erinnern, welche großartigen ideellen und materiellen Hilfen vor allem Familien, Betroffene und Einrichtungen in den neuen Bundesländern in den vergangenen 20 Jahren in der Betreuung von behinderten Menschen erfahren haben. Viele wissen, welche Zustände zuvor herrschten. Wir danken, dass es heute wesentlich besser ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nicht alles ist aber perfekt; auch darin sind wir uns einig. Wir wissen, dass wir immer wieder mit Umsetzungsproblemen zu kämpfen haben. Uns beschweren Schnittstellensituationen, in denen sich die Betroffenen ob der Diskussion, wer eigentlich zuständig ist oder wer nicht, im Regen stehen gelassen fühlen. Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein objektives Interesse daran, unseren Regelmechanismus an den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention auszurichten. (Mechthild Rawert [SPD]: Oh! Da müssen ja viele Gesetze geändert werden!) Wir werden nicht alles auf einmal machen. Es müssen Prioritäten gesetzt werden, und darüber findet eine immer stärkere öffentliche Diskussion statt. Nach wie vor sehen wir große Handlungsfelder. Ich möchte drei nennen: die Barrierefreiheit, die Bildung und den Arbeitsmarkt. Zum ersten Feld, der Barrierefreiheit. Das ist ein weites Feld, und deshalb ist die Barrierefreiheit zentral in dieser Konvention. Eine konsequent barrierefreie Umwelt ist elementar für die umfassende gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ob im öffentlichen Nahverkehr, in öffentlichen Gebäuden, in Arztpraxen, in Privatwohnungen, in Restaurants, in Hotels oder in der Tele- und Internetkommunikation, am Arbeitsplatz, im Theater oder im Supermarkt - hier erlebt der betroffene Mensch seine wahre Teilhabe. Hier entscheidet sich unter anderem, ob er glücklich oder eben auch unglücklich ist. Es muss für Menschen mit Behinderung selbstverständlich sein, sich überall, vom Kino bis zum Internetportal, unbehindert bewegen zu können. Je mehr das jeder von uns allen verinnerlicht, desto selbstverständlicher wird das in unserer Gesellschaft werden. Wer dabei ist, braucht nicht mehr integriert zu werden. Ohne Barrierefreiheit keine Inklusion und umgekehrt. Der zweite Schwerpunkt ist die Bildung. Wir wissen: Die Grundlagen für die berufliche Zukunft werden mit der Schulbildung gelegt. Gerade wenn es um die Ausbildung von Kindern mit Behinderung geht, haben wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein Umdenken nötig. Wir sind mit der Ratifizierung der UN-Konvention aufgefordert, für diese Kinder gleich gute Startbedingungen zu schaffen. Das bisherige zweigleisige Konzept von Förder- und Regelschulen gehört der Vergangenheit an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Die Konvention macht klare Vorgaben, wie die Schule in Zukunft aussehen wird. Eine inklusive Bildung von Anfang an, also vom Kindergarten bis zur Universität, lautet das Ziel. Auch hier gilt: Wer von klein auf nie ausgeschlossen war, der muss auch später als Jugendlicher und Erwachsener nicht integriert werden. Aber noch einmal: Wir werden nicht alles auf einmal umsetzen, wir werden Schritt für Schritt an dieser Verwirklichung arbeiten. (Mechthild Rawert [SPD]: Das muss in dieser Legislaturperiode geschehen!) Alle, Bund und Länder gleichermaßen, haben den Vorgaben der Konvention zugestimmt. Daher gibt es jetzt keine Ausflüchte mehr. So konsequent will ich das hier formulieren. Das Ziel muss mit vereinten Bundes- und Länderkräften gemeinsam umgesetzt werden. Der Aufbau eines inklusiven Schulsystems lässt sich nicht allein mit pädagogisch ausgefeilten Konzepten oder angepassten Schulgesetzen stemmen. Ganz wesentlich ist, dass sich in den Köpfen aller Beteiligten ein Wandel vollzieht. Dieser neue Ansatz, diese notwendige Reform wird mit Sicherheit zunächst bei vielen auf Skepsis oder auch Vorurteile stoßen, was wir hier und da schon erleben können. Aber wir brauchen Eltern, Lehrer, Schüler, die Medien, die Kommunalpolitiker, ja, eigentlich alle, um dieses schöne Ziel zu erreichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unsere politische Aufgabe ist es, sie für die immensen Vorteile der inklusiven Bildung zu gewinnen, zu sensibilisieren. (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] - Zuruf von der LINKEN: Fangen Sie mit Ihrer Frau Ministerin an!) Wer die Vielfalt der Menschen bereits im Kindergarten und in der Schule erfährt, für den wird das gemeinsame Miteinander am Arbeitsplatz oder in der Freizeit ganz selbstverständlich werden. Das ist ein großer Gewinn, ein Schritt hin zu einer toleranten Gesellschaft, in der niemand aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossen wird. So wollen wir unser Zukunftshaus bauen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Als dritte Säule hat die Beschäftigung eine Schlüsselfunktion. Das ist eine Komponente, um die wir alle ringen müssen. Nicht nur in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise haben es Menschen mit Behinderung besonders schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das ist kein Geheimnis. Doch unabhängig davon unterlag die gesamte Berufswelt in den vergangenen Jahrzehnten einem starken Wandel, dem sich alle Arbeitnehmer ausgesetzt sehen. Unsere heutige auf Wissen basierende Dienstleistungsgesellschaft erwartet als Kernkompetenzen Bildung und lebenslanges Lernen. Sie sind die Voraussetzung für alle Menschen geworden. In der Vergangenheit hat die Bundesregierung viele Instrumente entwickelt - das wird wohl niemand hier bestreiten können -, um auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung einzugehen und diese in eine reguläre Beschäftigung zu integrieren. Doch leider zeigt die aktuelle Arbeitslosenstatistik auch, dass wir offensichtlich nicht effizient genug gewirkt haben. Hier gilt es, den Hebel anzusetzen. Was funktioniert, ist weiter zu fördern. Doch darüber hinaus sind neue Möglichkeiten auszuhandeln und umzusetzen. Fest steht: Wir sind aktuell noch weit von einer inklusiven Arbeitswelt entfernt. Hier gilt es, in den Köpfen der Arbeitgeber bestehende Barrieren abzubauen. Menschen mit Behinderung sind leistungsfähige Arbeitnehmer. Sie sind zum Teil auch selber Arbeitgeber, also Unternehmer. Das sollten wir in der Diskussion auch öffentlich stärker hervorheben, und wir sollten ihre Leistungen auch würdigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Wichtige Voraussetzungen sind natürlich immer die äußeren Bedingungen. Sie müssen den Bedürfnissen angepasst sein. Einschränkungen gehen nicht auf ein individuelles Defizit zurück - so will ich es einmal formulieren -, sondern das Defizit ergibt sich aus den bestehenden Hürden, die den Menschen in der konkreten Situation im Wege stehen. Diese einzudämmen und zu beseitigen, ist die konkrete Aufgabe. Damit tut sich mancher Arbeitgeber schwer. Wir möchten noch einmal daran erinnern, dass Arbeitgeber materielle Unterstützung erhalten können. Viele nutzen diese Möglichkeit auch. Leider aber ist es immer noch weit verbreitet, diese Mühe mit der Zahlung der Behindertenabgabe zu umgehen. Auch das müssen wir stärker öffentlich thematisieren. Wir müssen das Problem gemeinsam lösen. Sie merken, meine Damen und Herren: Die Anforderungen sind hoch. Die Vorgaben der UN-Konvention sind komplex und deshalb nicht von heute auf morgen umsetzbar. Aber wir müssen unsere Anstrengungen intensivieren. Darin sind wir uns einig. Das ist der einzige gemeinsame Nenner, den ich in den drei jetzt zur Debatte stehenden Anträgen finde. Die Bundesregierung arbeitet aktuell an dem dafür notwendigen nationalen Aktionsplan. Sie tut es intensiv unter Beteiligung der Betroffenen und aller Verbände und Interessenvertretungen. Sie arbeitet mit Hochdruck, aber auch - das füge ich hinzu - mit Ruhe; denn mit dem nationalen Aktionsplan werden die fundamentalen Weichen für die Umsetzung gestellt. Alle Aspekte, die für Menschen mit Behinderung wichtig sind, werden zur Kenntnis genommen und einbezogen. Das ist der Anspruch, dem sich unsere Bundesregierung im Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellt. Dazu trifft sie sich mit den Interessenvertretern von Menschen mit Behinderung. Sie werden als Experten in eigener Sache in die konzeptionelle Vorbereitung eingebunden; das kann wohl niemand bestreiten; das ist Fakt. (Beifall bei der CDU/CSU) Das kostet Zeit, die wir uns, wie ich finde, aber auch gönnen sollten. An diesem Vorgehen wird deutlich: Das Prinzip der Inklusion ist der Leitgedanke bereits in der Planungsphase; das geht nicht auf die Schnelle. Menschen mit Behinderung können ihre Kritik, aber auch ihre Erfahrung von Anfang an mit einbringen und damit den Umsetzungsprozess konstruktiv beeinflussen und, wenn es gut geht, sogar beschleunigen. Was bereits bei den Verhandlungen im Entstehungsprozess der Konvention als Leitlinie galt, wird auch weiterhin gelten. "Nicht über uns ohne uns!" lautet der Leitsatz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung ist auf einem sehr guten Weg. Wir werden diesen Prozess als Parlament auch weiterhin gut begleiten. Wir wissen, das wird auch unser Parlament erreichen. Lieber Kollege Dr. Seifert, ich kann Ihnen jetzt nicht ersparen, zu sagen: Ich wundere mich sehr darüber, dass Sie in Ihrem Antrag den 30. November als Zielpunkt formulieren. Sie wissen doch, dass alle Behindertenverbände und alle Interessenvertreter dem vorgesehenen Zeitplan zugestimmt haben. Wir haben jetzt die Möglichkeit, viele Dinge, die noch nicht richtig umgesetzt sind, gemeinsam zu gestalten und auf den Weg zu bringen. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Michalk, schade, dass Sie bzw. Ihre Fraktion keinen Antrag bzw. Gesetzentwurf vorgelegt haben. So haben wir nur Ihre schönen Worte. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) Die Linken und Bündnis 90/Die Grünen haben Anträge vorgelegt. Sie fordern die Bundesregierung auf, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Wir begrüßen diese Initiative. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Wo ist Ihr Antrag, Frau Hiller-Ohm?) Die Umsetzung der UN-Konvention ist auch für uns überaus wichtig. Es ist gut, dass wir heute, trotz der späten Stunde, unsere Reden halten, statt sie, Herr Seifert, wie leider schon oft bei diesem Thema zu Protokoll zu geben und auf diese Weise in Ordnern verschwinden zu lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihr Antrag geht in die richtige Richtung. Wir hätten uns jedoch konkretere Forderungen gewünscht. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie hätten ja einen Antrag vorlegen können!) Auch lassen Sie die komplizierten föderalen Verflechtungen weitgehend unberücksichtigt. Gleiches gilt für die Arbeit in den Ländern. Hier geht der Antrag überhaupt nicht auf das ein, was dort bereits angestoßen wurde. Inhaltliche Schwierigkeiten sehe ich unter folgenden sieben Gesichtspunkten. Erstens. Der Antrag verwendet den Begriff der Inklusion und fordert, dass dieser, wie Sie es ausdrücken, "erschlossen" wird. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass man eher die Definition von Inklusion stärker herausheben sollte. Der Begriff muss nicht neu erschlossen, sondern klarer definiert werden. (Beifall bei der SPD) Wir bedauern sehr, dass für die deutsche Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Betreiben der von CDU und CSU regierten Bundesländer darauf bestanden wurde, Inklusion mit "Einbeziehung" und "Integration" zu übersetzen. Diese Übersetzung ist irreführend. Während Inklusion von einer unmittelbaren Zugehörigkeit von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft ausgeht, sieht die deutsche Übersetzung dies aus der Außenperspektive, und zwar aus der Sicht der Menschen ohne Behinderung. Einbeziehung bedeutet, jemanden hereinholen; Inklusion dagegen bedeutet eine unmittelbare gesellschaftliche Zugehörigkeit. Das ist es, was wir wollen. (Beifall bei der SPD) Insofern braucht man den Begriff nicht neu zu erschließen, wie Sie es sagen, sondern man muss ihn klar definiert anwenden. Das muss Teil des Aktionsplans sein. Zweitens. Die Bemerkungen zur Teilhabesicherung im Antrag werfen eine grundlegende Frage auf. Es liest sich hier so, als ob eine Trennung zwischen dem Persönlichen Budget einerseits und dem Ausbau der Versorgungsinfrastruktur andererseits vorgenommen werden soll. Das eine darf das andere aber nicht ausschließen. Es gibt Bedarfe, die sicherlich besser durch eine vorzuhaltende Infrastruktur bedient werden sollten. Dazu zählen zum Beispiel die Integrationsfachdienste, Dienste in öffentlichen Einrichtungen oder medizinische Dienste. Bedarfe, die sich anhand der Nachfrage aus Persönlichen Budgets ergeben, kommen hinzu. Der heute vorliegende Antrag stellt diese Kombination zwar in Aussicht, allerdings aus unserer Sicht viel zu unbestimmt. Ich rate Ihnen, Herr Seifert: Werden Sie konkreter; (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Jederzeit!) sonst - da bin ich mir sicher - überfordern Sie diese Bundesregierung mit selbstständigem Denken. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der LINKEN - Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ha, ha, ha! Sie sind so unglaublich komisch, Frau Kollegin! Ich lache mich tot!) Drittens. Auch was den Punkt der beruflichen Teilhabe anbelangt, bleibt der Antrag leider unkonkret. Der Aktionsplan muss dringend mit einer Reform der Eingliederungshilfe verknüpft werden. Wir brauchen hier aber konkrete Aussagen zum Beispiel zur Zukunft der Werkstätten und der Integrationsämter, zur beruflichen Rehabilitation und auch zur Rolle der Kostenträger. Viertens. Was der Antrag zum selbstbestimmten Wohnen sagt, ist vollkommen richtig. Allerdings sind wir hier schon weiter. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Hiller-Ohm, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert? Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Das möchte ich jetzt nicht, Herr Seifert. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Da entgeht Ihnen etwas! - Gitta Connemann [CDU/CSU]: Spontaneität ist nicht Ihre Sache!) - Wir haben dazu noch andere Gelegenheiten. Unsere Berichterstatterin, Frau Silvia Schmidt, kann das direkt mit Ihnen klären, wenn Ihnen das recht ist. Was im Antrag zum selbstbestimmten Wohnen steht, ist richtig. Allerdings sind wir hier schon weiter. Ich zitiere aus dem Eckpunktepapier der Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz: Die notwendige Unterstützung des Menschen mit Behinderungen orientiert sich nicht mehr an einer bestimmten Wohnform. Weiter heißt es: Die bisherigen Regelungen zur Zumutbarkeit sind nicht mehr erforderlich. Das Wunsch- und Wahlrecht wird weiterhin gewährleistet. Fünftens: zur Statistik. Die von der Konvention geforderten Daten müssen selbstverständlich auch in den Behindertenbericht der Bundesregierung einfließen. Wir fordern, den Bericht und seine Rechtsgrundlage auch dahin gehend zu überprüfen. Sechstens. Was den Punkt "Armut und Behinderungen" im Antrag betrifft, begrüßen wir die Stoßrichtung ausdrücklich. Aber auch hier muss viel deutlicher hervorgehoben werden, dass keine Sonderbehandlung, sondern Inklusion angestrebt wird. (Beifall bei der SPD) Es geht um Teilhabe und Leben inmitten der Gesellschaft. Die sozialen Gründe, warum Menschen mit Behinderung von Armut bedroht sind, müssen aufgezeigt werden. Hier von spezifischen Bedarfen zu sprechen, ist aus unserer Sicht inhaltlich zu dünn und nicht zielführend. Siebtens. Schlussendlich hegen wir große Bedenken, ob ein Ultimatum zum 30. November 2010 sinnvoll ist; da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin Michalk, zu. Selbstverständlich wollen wir die Situation von Menschen mit Behinderung verbessern, und selbstverständlich wollen auch wir die schnelle Umsetzung der UN-Konvention. Ein Hauruckverfahren zulasten der Betroffenen lehnen wir jedoch ab. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hauruck nach anderthalb Jahren!) Meine Damen und Herren, auch die Anträge des Bündnisses 90/Die Grünen gehen in die richtige Richtung. Aber auch hier vermissen wir den einen oder anderen wichtigen Aspekt, zum Beispiel die Reform der Eingliederungshilfe nach den Vorgaben der UN-Konvention. Wir müssen wirksam verhindern, dass am Ende des Persönlichen Budgets nicht doch wieder eine stationäre Unterbringung praktiziert wird, obwohl andere Wünsche bestehen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo nehmen Sie das denn her? Das steht nicht in unserem Antrag!) Im Hinblick auf den entsprechenden Antrag der Grünen befürchte ich in diesem Zusammenhang einen Deutungsspielraum, der von der Bundesregierung ausgenutzt werden kann. Der hessische Ministerpräsident hat bereits anklingen lassen, dass alle Leistungen, auch oder vielleicht besonders solche im sozialen Bereich, auf den Prüfstand gestellt werden sollen. Umso wichtiger ist es, Diskussionen über mögliche Leistungskürzungen von Anfang an zu verhindern. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Und wo sollen wir sparen?) Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine starke Inklusion, einen starken politischen Durchsetzungswillen und natürlich auch die nötige Durchsetzungskraft. Die heute vorliegenden Anträge, in denen wichtige Fragen gestellt werden, bieten einen guten Aufschlag. Die SPD-Fraktion wird einen eigenen Antrag vorlegen, in dem wir alle bemängelten Aspekte aufgreifen und dem wir hier in diesem Hause gemeinsam zustimmen können. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gabriele Molitor (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dazugehören von Anfang an und ohne Wenn und Aber, das ist es, was Menschen mit Behinderung möchten. Unser Ziel muss es sein, ein selbstverständliches Miteinander von behinderten und nicht behinderten Menschen zu erreichen; das ist unsere Aufgabe. Lieber Herr Seifert, ich hätte mich sehr darüber gefreut, wenn Sie in Ihrem Redebeitrag darauf eingegangen wären und konkrete Vorschläge dazu eingebracht hätten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das habe ich doch gemacht!) Die UN-Behindertenrechtskonvention markiert einen Meilenstein auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Zauberwort - es ist heute Abend schon häufiger genannt worden - heißt Inklusion. Damit ist gemeint, dass sich die Gesellschaft und nicht der Einzelne auf die Rahmenbedingungen der Menschen mit Behinderung einzustellen hat. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Genau!) Wir verstehen Behinderung nämlich nicht als Schwäche, sondern sie ist Teil menschlicher Normalität, und Behinderte gehören nicht an den Rand der Gesellschaft, sondern sie sind wichtiger Teil von uns. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) Die Konvention hat aber nicht nur eine neue Denkrichtung vorgegeben, sondern ein Umdenken eingeleitet; ein Bewusstseinswandel ist im Gang. Dabei müssen wir sehr behutsam sein, also nicht blind dafür sein, inwiefern Inklusion vor Ort schon gelebt wird. Wir würden viele Menschen vor den Kopf stoßen, wenn wir jetzt so täten, als müssten wir von Bundesseite jetzt erst alles in Gang setzen und anstoßen. Diesen Eindruck erwecken aber die uns vorgelegten Anträge. Darin ist nur die Rede davon, gesetzliche Fristen zu verschärfen, Sanktionen einzuführen usw. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Da haben Sie aber nur die Hälfte gelesen!) Natürlich müssen wir handeln. Deutschland hat den Willen dazu unter Beweis gestellt; denn die Behindertenrechtskonvention wurde 2009 ratifiziert. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nach langem, zähem Ringen!) Wir sollten aber darauf schauen, was die Betroffenen wollen, die eine oder sogar mehrere Behinderungen haben: Was sind ihre Wünsche und Möglichkeiten? Deswegen haben wir in der Koalition gesagt: Wir wollen einen Aktionsplan aufsetzen. Wir haben hier einen Anstoß gegeben und bewusst eine sehr offene Formulierung gewählt, weil wir hier keine Vorgaben machen wollen. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Genau!) Vielmehr wollen wir in der Diskussion mit allen zusammen ein Konzept entwickeln, wie wir das Leben miteinander verbessern können. Das ist unser Ansatz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es gibt bereits viele wichtige und gute Ansätze. Ich möchte zwei Stichpunkte nennen: die unterstützte Beschäftigung und das Persönliche Budget. Es geht darum, diese positiven Beispiele weiterzuentwickeln. Wir können in der Praxis schon viele gute Modelle beobachten, zum Beispiel die integrativen Kindertagesstätten, (Mechthild Rawert [SPD]: Viel zu wenige!) die in meinen Augen eine Erfolgsgeschichte sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Wie viel Prozent?) - Natürlich können es noch mehr werden; das möchte ich gar nicht in Abrede stellen. Aber ich möchte die integrativen Kindertagesstätten zumindest nennen. Daneben gibt es Integrationsfirmen. Ich habe mir in meinem Wahlkreis verschiedene Integrationsfirmen angesehen. Dort wird die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben schon unmittelbar gelebt. Die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiges Anliegen. Vor allen Dingen die kleinen Betriebe und die Mittelständler nehmen ganz bewusst Menschen mit Behinderungen in ihren Betrieben auf, weil sie feststellen, dass diese sehr gute Arbeit leisten können. Es profitieren also alle davon. Ein anderer Bereich ist heute schon angesprochen worden, auch wenn er nicht unmittelbar in die Zuständigkeit des Bundes fällt: der Bildungsbereich. Der Bildungsbereich hat eine wichtige Funktion; denn der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung hat natürlich eine große Bedeutsamkeit. Es geht uns Liberalen darum, den Bildungsbereich weiter zu öffnen, damit mehr behinderte Kinder Regelschulen besuchen können. Ich sage hier aber ausdrücklich: Ich möchte nicht die Möglichkeiten der Förderschulen in Abrede stellen. Es geht doch darum, jedem Kind das seinen Fähigkeiten entsprechende Bildungsangebot zu unterbreiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Die Kollegin Michalk wollte sie abgeschafft haben! - Gegenruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!) Gerade im Bildungsbereich geht es auch darum, die Kommunen einzubeziehen. Wir können nicht einfach fordern, Schulen weiter auszubauen, ohne zu sagen, wie wir das finanzieren wollen. Das ist ein wichtiger Punkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Maria Michalk [CDU/CSU]: Schritt für Schritt!) Es geht darum, die Kommunen bei dieser wichtigen Frage an die Hand zu nehmen. Wir Liberale wollen diesen Aktionsplan, weil er für die Umsetzung der Konvention so wichtig ist. Deswegen haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung dafür starkgemacht. Es geht aber nicht darum, jetzt einen Wettlauf zu starten: Wer ist schneller? (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wer ist besser? Das ist die entscheidende Frage!) Es geht vielmehr darum, mit Bedacht zu schauen, alle einzubeziehen und tatsächlich zu besseren Konzepten zu gelangen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mit der Umsetzung der UN-Konvention gehen wir eine große Aufgabe an. Viele Politikfelder müssen einbezogen werden; aber davor scheuen wir uns nicht. Wir werden hier Konzepte vorlegen; wir sind schon an der Arbeit. Lassen Sie uns nicht nur darauf schauen, welche Defizite vorhanden sind! Lassen Sie uns vielmehr die guten Beispiele zum Vorbild nehmen! Auf diese Sichtweise kommt es an. Wenn wir das beachten, werden wir hier zum Erfolg kommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man diese Debatte verfolgt und die Redner und Rednerinnen der Regierungskoalition gehört hat, so fällt doch zweierlei auf: erstens die Widersprüchlichkeit zwischen den Absichten und Zielen, die Sie verkünden, und dem tatsächlichen Handeln der Regierungskoalition, und zweitens die Unverbindlichkeit, die letztlich in Ihren Aussagen steckt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ja nicht wahr!) Ganz offensichtlich gibt es Widersprüche oder Unklarheiten, inwieweit Sie mit der Umsetzung der Ziele der UN-Konvention überhaupt Ernst machen wollen. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist eine Kommunikationspanne!) Wenn Frau Molitor sagt, dass man nicht unbedingt in einen Wettlauf eintreten müsse, und ganz allgemein von der Verbesserung der Bedingungen spricht, dann vermisse ich das klare Bekenntnis, dass es selbstverständlich auch gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Ziele, die Sie in Richtung Bildung und Arbeit formuliert haben, lassen sich ohne gesetzgeberische Änderungen nicht umsetzen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Wie erklären Sie sich dann aber, dass zum Beispiel Staatssekretär Brauksiepe im Arbeits- und Sozialausschuss am 3. März, als wir dieses Thema schon behandelten, eindeutig erklärte, es gebe keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, jedenfalls sehe die Bundesregierung ihn nicht? Klären Sie das einmal auf! (Ulrike Flach [FDP]: Vielleicht ist der einfach schlauer!) Der zweite Punkt sind diese sehr allgemeinen Aussagen. Ich fürchte, das setzt sich in dem Aktionsplan der Bundesregierung fort. Warum klammern Sie beispielsweise den großen Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, vom finanziellen Volumen und von den betroffenen Lebensbereichen her der bedeutendste Bereich, aus dem Aktionsplan aus? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das müssen Sie wirklich einmal erklären. Sie haben hervorragende Vorlagen zum Beispiel durch das Eckpunktepapier der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, die sich sehr gut mit den Zielen der UN-Konvention verbinden ließen. Ich kann Ihnen auch sagen, was Sie ganz konkret streichen könnten, nämlich den Mehrkostenvorbehalt, wenn es um das Wunsch- und Wahlrecht geht, unabhängige Assistenz bei der Wahrnehmung des Persönlichen Budgets und viele andere Punkte mehr, die wir bereits seit Jahren in unsere Anträge zur Reform der Eingliederungshilfe schreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ein neues Instrument! Das braucht seine Zeit!) Vor einem weiteren Thema drückt sich die Bundesregierung. Frau Michalk, ich habe es jetzt mit Freuden gehört, als Sie sagten, wir müssten die Mehrgliedrigkeit im Bildungssystem überwinden und brauchten als Ziel den gemeinsamen Unterricht. Aber auf acht mündliche Fragen der Grünen-Fraktion hat die Bundesregierung die Verantwortung für den Bildungsbereich in Gänze von sich gewiesen; (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern! Haben Sie das überhört?) sie hat ihre gesamtstaatliche Verantwortung verleugnet. Dabei wäre das wichtig. Art. 8 der UN-Konvention erlegt der Bundesregierung die Pflicht auf, wirksame Kampagnen zur Bewusstseinsbildung einzuleiten, gerade im Bildungssystem. Das ist der Schlüssel für die von Ihnen beschworenen Veränderungen in den Köpfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was es bedeuten kann, wenn aus diesem Parlament und von dieser Regierung keine klaren Bekenntnisse zu den Zielen und Rechten der UN-Konvention kommen, (Gabriele Molitor [FDP]: Sie haben nicht zugehört!) zeigt sich in der bayerischen Provinz. Es liegt nämlich ein gemeinsames Schreiben des Bayerischen Städtetags, des Bayerischen Gemeindetages und des Bayerischen Landkreistages vor, das mit Einsparmöglichkeiten im sozialen Bereich aufwartet. Das müssen Sie sich einmal angucken. Darin wird offensiv das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen infrage gestellt; es soll eingeschränkt werden. In stationären Einrichtungen sollen Einbettzimmer eher zur Ausnahme werden, und Menschen mit Behinderungen und deren Verwandte sollen an den Kosten der Eingliederungshilfe weitaus stärker beteiligt werden. Das sind kleinteilige und wirklich mit ganz kleiner Münze vorgenommene Sparvorschläge, die an der Notwendigkeit einer systemischen Veränderung des Systems der Leistungserbringung weit vorbeigehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dabei wäre mehr Wirtschaftlichkeit mit mehr Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderungen absolut zu verbinden. Wir sehen, dass hier von den bayerischen Kirchturmpolitikern, die in diesen Verbänden sitzen, fast schon der Versuch vorsätzlicher Menschenrechtsverletzungen unternommen wird. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das geht aber jetzt zu weit!) Ich fordere Sie als Bundesregierung auf - wir werden auch unseren Teil beitragen -, nach den Kriterien der UN-Menschenrechtskonvention jetzt ein gutes Stück voranzukommen und hier nicht mehr zuzuwarten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1578, 17/1762 und 17/1761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 17/1684 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Wir werden die Reden dazu zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel und Max Straubinger, CDU/CSU, Anette Kramme, SPD, Johannes Vogel, FDP, Katja Kipping, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. Peter Wichtel (CDU/CSU): Seit der Konstituierung des Deutschen Bundestages im Herbst des vergangenen Jahres hat die Bundesregierung auf dem Feld der Arbeits- und Sozialpolitik bereits deutliche Erfolge erwirken können. Die laufenden Gesetzgebungsvorhaben und nicht zuletzt die jüngsten statistischen Daten des Arbeitsmarktes verdeutlichen das nachhaltige Engagement der christlich-liberalen Koalition. Mit der Verlängerung der bewährten Sonderregelung der Kurzarbeit und der Jobcenterreform kann die soziale Sicherung der Menschen auch in wirtschaftlich herausfordernder Zeit gewährleistet werden. Insbesondere der Rückgang der Zahl der Erwerbslosen im Monat April um 162 000 verdeutlicht den Erfolg der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Instrumente der Bundesregierung. Auch in dem heute vorliegenden Antrag geht es um einen weiteren und bedeutsamen Schritt, um unsere sozialen Sicherungssysteme den wirtschaftlichen Strukturen anzupassen und entscheidend zu verbessern. Der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze soll die Sozialgesetzgebung durch vereinzelte Modifikationen den gegebenen Herausforderungen anpassen. Damit wird eine Rechtsgrundlage geschaffen, um den Sozialstaat weiter zu festigen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Sicherungssysteme zu stärken. So sieht der Entwurf vor, den Deutschen Gewerkschaftsbund in das elektronische Entgeltnachweisverfahren ELENA einzubeziehen. Der DGB soll als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen unmittelbar in das Verfahren zur Festlegung der technischen Vorschriften für die Datensätze integriert werden. Das von der Bundesregierung vorgesehene Anhörungsrecht zur Genehmigung der gemeinsamen Grundsätze im ELENA-Verfahren soll dabei auf gleiche Weise auf die Gewerkschaften erstreckt werden, wie es bisher für die Beteiligung der Arbeitgeberverbände geregelt ist. Entsprechend der Vertretung der Arbeitgeber durch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sieht die Regierung daher die Beteiligung des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor. Die Intention des elektronischen Entgeltnachweisverfahrens, Kosten einzusparen und Bürokratie abzubauen, wird so weiter nachhaltig verfolgt. Wirtschaftlichkeit und Effektivität gehen hier Hand in Hand. Weitere entscheidende Bausteine des vorliegenden Gesetzentwurfes tangieren die gesetzliche Unfallversicherung. So sollen die Unfallversicherungsträger zukünftig verpflichtet sein, eine Regelung zur Verletztengeldberechnung bei nicht kontinuierlicher Arbeitsverrichtung in ihre Satzungen zu integrieren. Eine derartige Ermächtigung war bisher optional, dementsprechend haben nicht alle Unfallversicherungsträger davon auch Gebrauch gemacht. Auch die Berücksichtigung von Arbeitseinkommen aus selbstständiger Tätigkeit wird als obligatorisch verankert. So wird gesetzlich festgeschrieben, dass das Verletztengeld auch in atypischen Fällen bei selbstständig Tätigen seine Funktion als Entgeltersatz erfüllt. Als Beispiel diene hier der Fall, in welchem die selbstständige Tätigkeit erst im Laufe des Bemessungszeitraums aufgenommen wurde. Auch hier wird deutlich, dass wir die soziale Sicherheit der Menschen und deren Vertrauen in den Sozialstaat weiter nachhaltig stärken werden. Ein zentraler Bestandteil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich dagegen mit dem System der gesetzlichen Unfallversicherung. Im Oktober 2008 wurde mit dem Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz eine ebenso notwendige wie effektive Änderung der bestehenden Strukturen der Versicherungsträger beschlossen. Ziel des UVMG war unter anderem die Straffung der Organisation durch eine Reduzierung der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf freiwilliger Basis. Die Umsetzung der Zielvorgabe, die Träger bis zum 31. Dezember des vergangenen Jahres auf 9 zu reduzieren, wurde allerdings nicht vollständig erreicht. Die Trägerzahl durch freiwillige Fusionen hat sich bis zum Ablauf der Frist auf 13 reduziert. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Rechtsgrundlage zu verabschieden, um die Straffung der Organisation des Systems erfolgreich abzuschließen. Dazu soll der Gesetzgeber ermächtigt werden, die noch notwendigen Fusionen herbeizuführen. Dabei gilt es deutlich zu betonen, dass der Grundsatz des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung - Vorrang für die Selbstverwaltung - sich grundsätzlich bewährt hat. Daher sollen die Einzelheiten der Fusionen, entsprechend der bereits dem UVMG zugrunde liegenden Zurückhaltung des Gesetzgebers, auch weiterhin von der Selbstverwaltung entschieden werden. Auch die bestehenden Regelungen des Siebten Buches Sozialgesetzbuch bezüglich freiwilliger Fusionen von gewerblichen Berufsgenossenschaften werden weiterhin gelten. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung bestimmt neben den Fusionspartnern lediglich die Fristen für das weitere Verfahren. So wird ein zeitnaher Abschluss der Neuorganisation des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung gewährleistet. Auch die im vorliegenden Entwurf vorgesehene Frist für die Fusionen bis zum 1. Januar 2011 ist überaus angemessen. Die Verhandlungen zwischen der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten und der Fleischerei-Berufsgenossenschaft konnten zwar bisher nicht innerhalb der gesetzten Frist erfolgreich abgeschlossen werden. Andere Berufsgenossenschaften haben vergleichbar schwierige Verhandlungen aber positiv gestaltet und letztendlich fusioniert. Rufe nach eine Verlängerung der Frist sind unbegründet und zudem nicht zielführend. Die Fusionshindernisse sind nicht im zeitlichen Bereich zu suchen. Vielmehr erscheint es notwendig, mit einer zeitlich angemessenen Grenze den Fusionsdruck auf die Beteiligten aufrecht zu erhalten. Abschließend betrachtet eröffnet der vorliegende Entwurf nicht nur die Möglichkeit, das Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz erfolgreich abzuschließen. Das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze wird die Sozialgesetzgebung den gegebenen und zukünftigen Herausforderungen anpassen und so die Wirtschaftlichkeit und die Effektivität des Sozialsystems nachhaltig steigern. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die soziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger und deren Vertrauen in den Sozialstaat. Es ist unsere Aufgabe, mit einer verantwortungsvollen und nachhaltigen Arbeits- und Sozialpolitik die Grundlage für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu schaffen. Dieser Verantwortung kommen wir, auch mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, jetzt und in Zukunft nach. Max Straubinger (CDU/CSU): Der heute eingebrachte Gesetzentwurf sieht die Verlängerung einzelner befristeter arbeitsmarktpolitischer Instrumente vor. Verlängert werden die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer, der Eingliederungszuschuss für Ältere, die Maßnahmen zur Weiterbildung älterer beschäftigter Arbeitnehmer und die Regelung zur erweiterten Berufsorientierung. Durch die Verlängerung wird es ermöglicht, die Wirkung über einen längeren Zeitraum besser beurteilen zu können; das schafft den für eine Evaluation erforderlichen zeitlichen Spielraum. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sollen bis zum Jahr 2011 überprüft werden. Da noch nicht alle Berufsgenossenschaften den gefassten Beschluss des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 1. Dezember 2006 zur Reduzierung der Anzahl der Berufsgenossenschaften umgesetzt haben, soll diesem mit dem heutigen Gesetzentwurf Nachdruck verliehen werden. Deshalb sieht der Gesetzentwurf eine Fristsetzung zur Fusion zum 1. Januar 2011 vor. Ich würde es aber sehr begrüßen, wenn die betroffenen Berufsgenossenschaften die Fusionsgespräche noch einmal mit großem Nachdruck betreiben würden und versuchten, ihre Bedenken in Gesprächen mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und ihren jeweiligen Fusionspartnern auszuräumen. Im Hinblick auf eine nachhaltige, kostengünstige Verwaltung müssen die gesteckten Ziele der Organisationsreform der gesetzlichen Unfallversicherung und des Beschlusses des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 1. Dezember 2006 baldmöglichst erreicht werden. Der Bundesrat kritisiert in seiner Stellungnahme die Herausnahme der im Referentenentwurf zum vorliegenden Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehenen Streichung der Einrichtung der Weiterleitungsstellen. Dieser Kritik schließe ich mich an. Diese mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ab 1. Januar 2011 eingeführte Regelung, nach der Arbeitgeber auf Antrag die Meldungen zur Sozialversicherung, Beitragsnachweise und sämtliche Zahlungen ab dem 1. Januar 2011 an eine sogenannte Weiterleitungsstelle ihrer Wahl einreichen können, führt zu Doppelstrukturen. Sie schafft umfangreiche und kostenaufwendige Schnittstellen, ohne den Arbeitgebern nennenswerte Vorteile zu verschaffen. Die Weiterleitungsstellen sollen die Meldungen zur Sozialversicherung, die Beiträge zur Sozialversicherung und die Beitragsnachweise vom Arbeitgeber entgegennehmen und an die zuständigen Einzugsstellen, also die Krankenkassen, weiterleiten. Arbeitgeber, die weiterhin wie bisher direkt mit der oder den Krankenkassen abrechnen wollen, können allerdings auch das bisherige Verfahren einfach fortsetzen. Dies ist eine unbefriedigende Lösung, die verbessert werden sollte, was bisher aber nicht geschehen ist. Sie bewirkt nach Auffassung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BDA, keine signifikanten Einsparmöglichkeiten oder qualitativen Verbesserungen der Prozesse des Beitragseinzuges. Für den Arbeitgeber würde sich lediglich der Zahlungsmodus auf einen Überweisungsvorgang reduzieren, was im Zeitalter des Onlinebanking keine spürbare Ersparnis mit sich brächte. Die Einrichtung der zentralen Weiterleitungsstellen brächte aber Kosten mit sich, die letztlich aus von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu tragenden Beitragseinnahmen zu finanzieren sind. Zudem ist zu befürchten, dass zahlungsunwillige und nicht zahlungsfähige Arbeitgeber die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen verschleiern können, indem sie unterschiedliche Angaben gegenüber den Krankenkassen bzw. den zentralen Weiterleitungsstellen machen. Bei einem Ausfall würden nicht nur Einnahmen aus Krankenversicherungsbeiträgen verloren gehen, betroffen wäre vielmehr der Gesamtsozialversicherungsbeitrag, also die Beitragseinnahmen aus der Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Der Normenkontrollrat wies in seiner Stellungnahme vom 18. März 2010 darauf hin, dass durch die Automatisierung der Datenerfassung und Datenübermittlung ein wesentlicher Grund für die Weiterleitungsstellen in ihrer derzeit vorgesehenen Form entfallen ist. Es stellt sich daher die berechtigte Frage, ob die zu erwartenden geringen Einsparungen bei den Unternehmen die Kosten der Krankenkassen zum Einrichten und Betreiben der Weiterleitungsstellen rechtfertigen. Das Thema Beitragseinzug ist grundsätzlicher Natur. Ich plädiere daher dafür, den Beitragseinzug weiter bei den Krankenkassen zu belassen und die vorgesehenen Beitragsweiterleitungsstellen in dieser Form nicht einzurichten. Anette Kramme (SPD): Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch werden verschiedene Vorschläge und Anregungen zu einzelnen sozialpolitischen Regelungen aufgegriffen sowie die veränderte Rechtsprechung berücksichtigt. Jenseits der hier formulierten technischen Änderungen und der Umsetzung neuer Rechtsprechung enthält der Gesetzentwurf der Bundesregierung allerdings auch Regelungen, die sehr wohl von politischer Bedeutung sind. An erster Stelle ist hier die Formulierung eines neuen § 225 SGB VII zu nennen, mit dem die Neuorganisation der gewerblichen Berufsgenossenschaften umgesetzt werden soll. Mit dem von der damaligen Großen Koalition beschlossenen Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung, UVMG, vom 30. Oktober 2008 war gerade auch die Neuorganisation der Unfallversicherungsträger der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung vorgesehen. Die 26 gewerblichen Berufsgenossenschaften sollten bis zum 1. Januar 2010 zu 9 Trägern fusionieren. Hierdurch sollte - so die damalige Gesetzesbegründung - "die Bildung ausgewogener und nachhaltig leistungsfähiger Träger" sowie "eine Erhöhung der Effizienz der Verwaltungen und Einsparungen bei den Verwaltungskosten" erreicht werden. Dieser freiwillige Fusionsprozess ist - mit allen Schwierigkeiten, die so etwas mit sich bringt - weitgehend erfolgreich verlaufen. Dieser Prozess ist damit ein Beleg für die funktionierende Selbstverwaltung. Allerdings wurde die Zahl von 9 Trägern nicht ganz erreicht; gegenwärtig existieren noch 13 Träger. Es ist daher sachgerecht, dass nunmehr - wie bereits im UVMG für diesen Fall angekündigt - eine gesetzliche Vorgabe erfolgt, welche Berufsgenossenschaften bis zum 1. Januar 2011 zu gemeinsamen Trägern fusionieren sollen. Die vorgeschlagene Regelung wird dabei nicht nur von den übrigen Unfallversicherungsträgern erwartet, sondern sie wird auch von den Sozialpartnern unterstützt. Auch die SPD-Bundestagsfraktion trägt diese Regelung mit. Allerdings verstehe ich natürlich, dass gerade die kleineren Berufsgenossenschaften ganz grundsätzlich befürchten, im Rahmen eines großen Trägers ihre branchenspezifischen Belange nicht ausreichend vertreten zu können. Dies gilt insbesondere für die branchenbezogene Prävention, die die Kernaufgabe der Unfallversicherung darstellt. Hier bin ich für Vorschläge offen, wie diesen Bedenken im Gesetzgebungsverfahren noch besser Rechnung getragen werden kann. Den Vorschlag des Bundesrates, den dieser in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf vom 7. Mai 2010 unterbreitet hat, nämlich eine Verlängerung der Frist um neun Monate, finde ich dabei nicht sinnvoll: Wenn der bisherige Appell, freiwillig zu fusionieren, nicht gefruchtet hat, so wird auch die Verschiebung des Stichtages, bis zu dem die beteiligten Berufsgenossenschaften eine Fusion erreichen sollen, nicht fruchten. Sinnvoller scheint mir ein Vorschlag zu sein, den Bedenken im Rahmen der neuen Selbstverwaltung Rechnung zu tragen, indem Transparenz und Mitwirkung im Rahmen der Vertreterversammlung verbessert werden: Hier könnte überlegt werden, bei Fusionen von mehr als vier Trägern größere Vertreterversammlungen zuzulassen, als dies durch die jetzige Maximalgröße von 60 Mitgliedern ermöglicht wird. Bereits in der allgemeinen Begründung zum UVMG war diese Begrenzung bei Trägern, die aus Fusionen hervorgehen, als nicht notwendig formuliert worden; allerdings fehlte eine gesetzliche Normierung. Sinnvollerweise sollte man diese Regelung nicht als Dauerlösung eröffnen, sondern für einen Übergangszeitraum ermöglichen: Hier wäre zum Beispiel an den Ablauf der nächsten auf die Fusion folgenden Sozialwahlperiode zu denken, also an den Zeitraum bis 2017. Mit einer derartigen Lösung würde sowohl den Interessen der bereits fusionierten Berufsgenossenschaften als auch der jetzt noch vor der Fusion stehenden Berufsgenossenschaften gedient. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen, die den Datenschutz berühren, sind teilweise kritisch zu bewerten. Für die SPD-Bundestagsfraktion gilt der Grundsatz, dass personenbezogene Arbeitnehmerdaten nur für die benötigten Zwecke verwendet werden und dass im Hinblick auf den Grundsatz der Datensparsamkeit nur anlassbezogene Daten ermittelt werden dürfen. Es ist daher zu begrüßen, dass künftig bei der Schwarzarbeitsbekämpfung hierzu die verschiedenen Dienststellen intensiv zusammenarbeiten und Daten austauschen können. Allerdings erscheint es nicht verhältnismäßig, einen automatisierten Zugriff auf die bei der Datenstelle der Rentenversicherungsträger gespeicherten Sozialdaten zuzulassen und dazu als Begründung bereits einen "gewissen Anfangsverdacht" für eine Steuerstraftat genügen zu lassen. Zumindest muss sichergestellt sein, dass nur dann auf die Daten zugegriffen wird, wenn zum einen ein dringender Verdacht auf Scheinselbstständigkeit, Kettenbetrug im Baugewerbe, Scheinrechnungen oder auf unrichtige Angaben hinsichtlich des Umfanges der Beschäftigung von Arbeitnehmern besteht und zum anderen ohne die Daten ein Beweis nicht möglich ist. Letztendlich möchte ich noch einen Punkt ansprechen, bei dem die Bundesregierung vom Referentenentwurf bis zum Gesetzentwurf offensichtlich der Mut verlassen hat; ich spreche vom Verzicht auf die Streichung der sogenannten Weiterleitungsstellen. Die Möglichkeit, dass Arbeitgeber ab dem 1. Januar 2011 für alle Beschäftigten die Meldungen zur Sozialversicherung, die Beitragsnachweise und sämtliche Zahlungen an eine Weiterleitungsstelle ihrer Wahl richten, ist im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Wunsch der CDU/ CSU geschaffen worden. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützte zwar das Ziel, Arbeitgeber vom Verwaltungsaufwand zu entlasten; doch war sie skeptisch, ob dies mit den Weiterleitungsstellen tatsächlich erreicht wird. Sie fürchtete, dass - im Gegenteil - ein Verwaltungsmehraufwand erzeugt wird, da die Umlagesätze für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, U1, und bei Mutterschaft, U2, bei den einzelnen Krankenkassen differieren, sodass allein schon deshalb auch in Zukunft arbeitnehmerbezogene Stammdaten geführt werden müssen. Mittlerweile ist auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu der Auffassung gekommen, dass die Einrichtung von Weiterleitungsstellen keine signifikanten Einsparmöglichkeiten oder qualitative Verbesserungen beim Beitragseinzug mit sich bringen würde. Da neben den Krankenkassen auch die Rentenversicherung und die Unfallversicherung sowie der DGB die Einrichtung von Weiterleitungsstellen für überflüssig erachten, fordert die SPD-Bundestagsfraktion die Bundesregierung auf, dem Votum des Bundesrates zu folgen, und die ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehene Streichung vorzunehmen. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Heute beraten wir ein umfangreiches Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Wir haben in vielerlei Hinsicht Änderungsbedarf, dem wir nun umfassend nachkommen werden. Um niemanden zu langweilen, werde ich nicht näher auf die vielen redaktionellen Anpassungen eingehen, die im SGB-IV-Änderungsgesetz enthalten sind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass hier im Hause Dissens über Interpunktionsfragen herrscht. Das unterstelle ich jetzt einfach einmal. Stellvertretend lassen sich einige Punkte aus dem Paket herausgreifen, an denen sich zeigen lässt, dass manchmal auch mit kleinen Änderungen sinnvolle Wirkungen erzielt werden können. Nehmen wir etwa die Einfügung in den § 28 b SGB IV. Das damit geschaffene Anhörungsrecht für den Deutschen Gewerkschaftsbund halte ich für eine zweckmäßige Ergänzung. Die bisherige Regelung, die bei der Meldepflicht im Rahmen der Sozialversicherung die Beteiligung diverser Akteure vorsieht, normiert bisher auch explizit die teilnehmende Rolle der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Da erscheint es nur angemessen, die Arbeitnehmerseite nicht außen vor zu lassen. Dies gilt umso mehr angesichts der umfangreichen Datenerfassung im Zusammenhang mit ELENA. Ich bin mir sicher, dass der DGB ein guter Anwalt des Arbeitnehmerdatenschutzes sein wird. Ferner ist die Neuorganisation der gewerblichen Berufsgenossenschaften ein wichtiger Punkt. Die gesetzlichen Unfallversicherungen sind ein relativ altes System. Ihre Anfänge gehen schließlich bis ins 19. Jahrhundert zurück. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaupten, dass sich seither ein grundsätzlicher Wandel der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat. Dieser Wandel hat sich aber nicht in der Organisation der Berufsgenossenschaften niedergeschlagen; vielmehr wurden alte Strukturen beibehalten. Dies hat schließlich auch zu einer starken Beitragsspreizung geführt, außerdem zu einer bisweilen überproportionalen Steigerung der Beitragssätze bei einzelnen Berufsgenossenschaften. Völlig zu Recht - das sage ich gerne an die Adresse der Opposition - hat deswegen noch die schwarz-rote Bundesregierung der vergangenen Legislaturperiode darauf hingewiesen, dass manche "strukturschwachen Branchen die Beitragssatzsteigerungen nicht mehr alleine tragen können". Abgesehen von der Beitragssatzproblematik ist schließlich eine zu stark aufgegliederte Trägerlandschaft nicht mehr aktuell und allgemein nicht wünschenswert. Ein zeitgemäßes Sozialversicherungssystem sollte mindestens auch verwaltungstechnischen Effizienzgesichtspunkten genügen. Durch eine Bündelung der Kräfte und Straffung der Organisationsstrukturen lässt sich dies gewährleisten. Insofern begrüßt die FDP-Fraktion die im Gesetzentwurf vorgesehene Fusionsverpflichtung der Berufsgenossenschaften Nahrungsmittel und Gaststätten und Fleischerei einerseits sowie der Berufsgenossenschaften Metall Nord Süd, Maschinenbau und Metall, Hütten und Walzwerke als auch Holz andererseits. Im Übrigen werden wir hier nur hinsichtlich der Rahmenbedingungen gesetzgeberisch tätig; die konkrete Ausgestaltung überlassen wir den Akteuren selbst. Als Liberalen freut mich auch besonders, dass wir mit dem neuen § 83 a SGB IV eine Informationspflicht bei der unrechtmäßigen Kenntniserlangung von Sozialdaten einrichten werden. Somit verbessern wir den Datenschutz merklich, was gerade in einem so sensiblen Bereich wie demjenigen der Sozialversicherung von größter Bedeutung ist. Hier werden nicht nur empfindliche personenbezogene Daten erhoben und übermittelt, sondern schlechterdings auch eine große Menge an Daten. So notwendig dies alles ist, so notwendig ist es auch, an dieser Stelle für einen lückenlosen Datenschutz zu sorgen. Gut, dass wir dem hiermit gerecht werden. Damit erreichen wir ein einheitliches Schutzniveau. Abschließend möchte ich bemerken, dass auch die Änderung des Alterssicherungsgesetzes der Landwirte wichtige liberale Anliegen berücksichtigt. Denn wir vereinfachen eine Informationspflicht und machen so den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern einfach das Leben leichter. Durch die widerlegbare Fingierung der Fortgeltung des Befreiungsantrags von der Versicherungspflicht bei einer Wiederaufnahme der einschlägigen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit reduzieren wir den Aufwand erheblich, den die jeweiligen Personen sonst betreiben müssen. Häufig genug wird aus Unkenntnis kein neuer Befreiungsantrag gestellt, sodass Beitragsrückstände entstehen. Dies wird bald ein Ende haben, was ich ausdrücklich begrüße. Ich denke, das Gesetz zeigt, dass auch bei weniger spektakulären Vorgängen sauber, solide und sorgfältig gearbeitet wird. Die Bundesregierung steht im Großen wie im Kleinen für eine solche Vorgehensweise. Ich werbe um breite Zustimmung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Katja Kipping (DIE LINKE): Der uns vorliegende Gesetzentwurf soll das Vierte Buch Sozialgesetzbuch sowie weitere Gesetze an sehr vielen Stellen aus recht unterschiedlichen Gründen ändern. Laut Aussage der Bundesregierung ergibt sich dieser umfangreiche Änderungsbedarf nicht zuletzt aus einer Vielzahl von Anregungen, unter anderem des Bundesrechnungshofes, des Petitionsausschusses, der Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie der Sozialversicherungsträger und nicht zuletzt auch als Konsequenz aus der Rechtsprechung. Weiterhin seien noch viele redaktionelle Änderungen erforderlich. Mit dem Gesetzentwurf wird eine Reihe von Zielen verfolgt; die wichtigsten möchte ich hier gern noch einmal benennen: die Schaffung eines Anhörungsrechtes für die Gewerkschaften zum ELENA-Datensatz, eine Fristsetzung für die Fusion einzelner Berufsgenossenschaften, die Umsetzung eines Vorschlags des Petitionsausschusses zur Berücksichtigung von Arbeitseinkommen beim Verletztengeld und die Vereinfachung des Verfahrens bei Entscheidungen über die Prozesskostenhilfe. Uns liegt zu diesem Gesetzentwurf auch eine Stellungnahme des Bundesrates vor. In dieser werden einige der geplanten Änderungen kritisiert, beispielsweise dass die vorgesehene Beschränkung des Anhörungsrechts bei ELENA ausschließlich auf den Deutschen Gewerkschaftsbund beschränkt werden soll. Die Bundesländer fordern stattdessen ein solches Recht für alle Gewerkschaften. Weiterhin hält die Länderkammer die vorgesehenen Fristen für die Fusion einiger Berufsgenossenschaften für "zu knapp bemessen". Darüber hinaus regt der Bundesrat einige Klarstellungen und Prüfungen an. In ihrer Gegenäußerung lehnt die Bundesregierung die Vorschläge des Bundesrates jedoch weitgehend ab. Aus Perspektive der Linken ist der Gesetzentwurf unproblematisch. Bei den Vorgaben zu den Fristen zur Fusion einiger Berufsgenossenschaften sehen wir keinen dringlichen Veränderungsbedarf. Zur Forderung nach einer Ausweitung des Anhörungsrechts bei ELENA - wenn Sie mir diese Bemerkung an dieser Stelle gestatten -: ELENA an sich sehen wir als Linke nach wie vor mehr als kritisch; denn während die bei ELENA schon heute ersichtlichen Risiken in erster Linie im Bereich des Datenschutzes riesig sind, zeigen sich die vermeintlichen Vorteile ziemlich mickrig. Die Frage der Gewerkschaften sollte auf alle Fälle im Zuge der anstehenden weiteren parlamentarischen Beratung noch einmal erörtert werden. Auf einen Punkt möchte ich noch näher eingehen: Sicher haben auch Sie von verschiedenen Krankenkassen Schreiben erhalten, in denen darauf hingewiesen wurde, dass im Referentenentwurf vorgesehen war, die durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegte Einführung von sogenannten Weiterleitungsstellen wieder zu streichen. Um es noch einmal zu erläutern: Für Sozialversicherungsbeiträge waren ab 2011 zentrale Weiterleitungsstellen geplant. Die Vorstellung "einer Beitragseinzugsstelle" für alle SV-Beiträge stand bei dieser Regelung Pate - ganz gleich, bei welchen Kassen die Arbeitnehmer versichert sind. Der Vorteil für die Arbeitgeber läge auf der Hand. Arbeitgeber hätten nur noch mit einer Stelle zu tun. Es würde keine Rolle mehr spielen, bei welchem Versicherungsträger die Arbeitnehmer krankenversichert sind. Die Kassen kritisieren diese zusätzliche Stelle als "kostenintensive Doppelstruktur"; auch die Arbeitgeberverbände sähen aufgrund der modernen Datentechnik keinen Vorteil mehr, was nun insgesamt die Einrichtung von Weiterleitungsstellen überflüssig oder gar kontraproduktiv macht. Dieses Vorhaben wurde verständlicherweise von den Krankenkassen begrüßt: Nun taucht es allerdings im vorliegenden Gesetzentwurf nicht wieder auf. Hierzu wären im weiteren parlamentarischen Verfahren im Ausschuss die Hintergründe und Begründungen zu klären. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben uns in den letzten Wochen viel mit den internationalen Finanzmärkten und mit der durch Spekulation entstandenen Unsicherheit beschäftigt. Das war gut und notwendig. Die EU hat damit begonnen, den Zockern an den Finanzmärkten die Rote Karte zu zeigen. Wir müssen denen, die keine echten Werte schaffen, sondern eher als Scharlatane unterwegs sind, sehr deutlich machen, dass sie nicht auf die Solidarität unserer Gesellschaft zählen dürfen. Ganz anders sieht es mit den vielen Millionen hart arbeitenden Menschen in Deutschland aus. Sie zahlen regelmäßig Beiträge in unsere Sozialversicherungen und haben ein gutes Recht darauf, dass die Politik diese Systeme auch gesetzgeberisch immer auf dem neuesten Stand hält. So können Unsicherheiten in der Rechtsanwendung vermieden und Kosten der Bürokratie gesenkt werden. Auch die eine oder andere Anpassung redaktioneller Natur aufgrund von Anmerkungen, zum Beispiel aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, ist notwendig. Die Fusionen bestimmter Berufsgenossenschaften auf freiwilliger Basis sind in den letzten Jahren erfolgreich gewesen. Das spart Verwaltungskosten, und dieser Weg muss fortgesetzt werden. Wir dürfen allerdings dort, wo auf freiwilliger Basis keine Verbesserungen erfolgt sind, auch nicht davor zurückschrecken, gegebenenfalls auf gesetzgeberischem Wege für Fusionen zu sorgen; denn es geht um den effektiven Einsatz von Sozialversicherungsbeiträgen. Das ändert nichts daran, dass der Vorrang der Selbstverwaltung sich in der gesetzlichen Unfallversicherung bewährt hat. Der Gesetzentwurf bestimmt neben den zu fusionierenden Berufsgenossenschaften nur eine Frist, bis zu der die Fusion zu erfolgen hat. Ein großes Maß an Eigenverantwortung und Selbstverwaltung ist also gesichert. Nicht nur der Datenschutz allgemein, sondern auch und gerade der Sozialdatenschutz sollte uns allen ein besonderes Anliegen sein; denn derjenige, dessen Daten hier verarbeitet werden, kann nicht darüber bestimmen, ob seine Daten erfasst werden. Als in den Sozialversicherungssystemen versicherter Arbeitnehmer muss er hinnehmen, dass Daten erhoben und erfasst werden. Umso wichtiger ist es, sicherzustellen, dass alle mit den Daten in Kontakt kommenden Institutionen regelmäßig überprüft werden. Es muss sichergestellt sein, dass alle organisatorischen und technischen Maßnahmen getroffen worden sind, die einen Missbrauch oder eine unnötige Weitergabe von Daten verhindern. Hierzu gehört auch eine angemessene Bußgeldbewährung bei einem Verstoß gegen die Informationspflicht bei unrechtmäßiger Erlangung der Kenntnis von Sozialdaten. Unser sozialpartnerschaftliches Modell der sozialen Sicherung ist international ein Exportschlager. Vielleicht wirkt es auf den ersten Blick nicht sexy. Aber es ist sicher, krisen- und zukunftsfest. Die gesetzliche Unfallversicherung, die wir hier in kleinen Details verbessern, wird zum Beispiel in China gerade in großen Schritten eingeführt. Hunderttausende Menschen kommen dort pro Jahr in eine gesetzliche Unfallversicherung nach deutschem Vorbild. Auf diesem Erfolg dürfen wir uns nicht ausruhen; aber darauf kann man Stolz sein. Solidität wird auf Dauer über windige Geschäftemacher siegen, die Menschen damit ködern, dass mit null Einsatz 15 Prozent Rendite zu erwirtschaften sind. Lassen sie uns Deutschland zur sozialen und ökologischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts machen, die es nicht nötig hat, sich im Kasinokapitalismus zu verzocken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1684 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen - Drucksache 17/1763 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Ingbert Liebing und Josef Göppel, CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Sabine Stüber, Die Linke, und Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die Grünen.3 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1763 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum" - Drucksache 17/1400 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) - Drucksache 17/1751 - Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. h. c. Wolfgang Thierse Reiner Deutschmann Dr. Lukrezia Jochimsen Claudia Roth (Augsburg) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Thomas Strobl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zugegeben, es hat etwas länger gedauert; aber heute ist es so weit. (Jens Ackermann [FDP]: Was lange währt, ist gut!) Nach intensiven und kontroversen Beratungen innerhalb dieses Hohen Hauses, aber auch außerhalb des Parlaments können wir die Gesetzesnovelle zum Deutschen Historischen Museum heute zum Abschluss bringen. Zentral geht es um folgende Frage: Wie kann die geplante Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", die dem Gedenken einer der schrecklichen Entwicklungen im Kontext der nationalsozialistischen Expansion und Vernichtungspolitik und ihren Folgen gewidmet ist, am sinnvollsten organisiert werden, um den Anspruch von Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit zu erfüllen? Die dem Bundestag nun vorliegende Novelle hat, wie ich finde, auf diese Frage eine sehr gute Antwort gefunden und verdient deshalb, mit großer Mehrheit angenommen zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gilt, auch und gerade mit Blick auf den eigentlichen Kerngedanken des Gesetzes, nämlich die Versöhnung, zu handeln. Zur Versöhnung kommt es durch Erinnerung, vor allem aber durch objektive Aufarbeitung des Vergangenen. Ich möchte es noch einmal in Erinnerung rufen: Nicht beabsichtigt sind qualitative, inhaltliche Änderungen zur ersten Fassung des Gesetzes aus dem Jahre 2008. Bei der im Mittelpunkt der Novelle stehenden unselbstständigen Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" soll es um rein organisatorische Änderungen gehen. Beispielsweise wird der Stiftungsrat von 13 auf 21 Mitglieder vergrößert. Auch dem wissenschaftlichen Beraterkreis sollen mehr Personen angehören, und zwar bis zu 15 Personen anstatt der bisher maximal neun Personen. Dadurch soll eine Verbreiterung des wissenschaftlichen Spektrums erreicht werden, nicht zuletzt auch mit Blick auf eine internationale Besetzung. In diesem Zusammenhang sind zuletzt immer wieder Vorwürfe erhoben worden, durch diese Verbreiterung würde dem Bund der Vertriebenen ein zu großer Einfluss eingeräumt und es sei eine Majorisierung des Stiftungsrates durch die Vertriebenenorganisation zu befürchten. Dies ist nachgerade absurd. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will gerne kurz Nachhilfe in Sachen Mathematik erteilen, die man insbesondere bei der Linken nötig zu haben scheint. Majorisierung, also Dominanz im Sinne einer Mehrheitsherrschaft, läge in einem Gremium von 21 Personen bekanntlich erst ab einer Anzahl von mindestens zwölf Mitgliedern vor. Das ist das Doppelte des Anteils, den das Stiftungsgesetz für Vertreter des Vertriebenenbundes vorsieht. Sechs Mitglieder darf der Bund der Vertriebenen stellen, was - wie immer man es auch drehen und wenden und welch obskure Rechenkunststückchen man auch anstellen mag - bei 21 Mitgliedern ganz bestimmt keine Mehrheit darstellt, sondern weniger als ein Drittel, also eine deutliche Minderheit. Richtig ist lediglich, dass der Bund der Vertriebenen, wie übrigens andere Organisationen auch, zahlenmäßig stärker im Stiftungsrat vertreten sein wird. Das ist aber doch nur recht und billig; denn wer, wenn nicht die Vertriebenen selbst, hat allen moralischen Anspruch auf angemessene Berücksichtigung in einer Stiftung, die der Aufarbeitung der Tragödie Vertreibung dienen soll! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) In den Rat der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" gehören deshalb notwendigerweise, ja zuvörderst die Vertriebenen selbst. Ansonsten machte die Veranstaltung keinen Sinn, sie wäre eine Farce. Dem stimmt übrigens - wofür ich sehr dankbar bin - prinzipiell der Vizepräsident dieses Hohen Hauses, der Kollege Wolfgang Thierse, zu. In einem vor wenigen Tagen erschienenen Zeitungsbeitrag hebt der SPD-Kollege die Rolle hervor, die die Vertriebenen in der Geschichte unserer Republik gespielt haben. Er beschreibt und rühmt zu Recht die von den Heimatvertriebenen und Entrechteten geleistete Hilfe beim Wiederaufbau nach 1945. Er betont das rastlose Engagement dieser Millionen Bundesbürger zugunsten der Versöhnung und der Völkerverständigung und bezeichnet es als mustergültig, was von dieser Gruppe in gesamtstaatlichem Interesse erreicht wurde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und er hat recht damit!) Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Die Vertriebenen sind ganz wesentlich mit dafür verantwortlich, dass aus der nun über 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Es gilt, diese bemerkenswerte Leistung hervorzuheben. Es soll deshalb betont werden, wie beeindruckend es ist, dass eine Gruppe von Bundesbürgern mit besonderer Leiderfahrung sich zu keinem Zeitpunkt ins Schneckenhaus der Selbstbemitleidung zurückgezogen hat, sondern seit Jahrzehnten politisch konstruktiv und offen am Bau des gemeinsamen Hauses Europa, das unser Schicksal und unsere Zukunft gleichermaßen ist, mitarbeitet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das wird leider nicht immer anerkannt!) Dass nun diese Gruppe und der von Frau Kollegin Steinbach so engagiert geführte Verband vor dem geschilderten Hintergrund alles Recht der Welt haben, die eigene Stimme zu erheben, wenn es darum geht, die Erinnerung an das erfahrene Unrecht und Leid wachzuhalten, ist für mich klar und die logische Konsequenz aus dem zuvor Gesagten. Das, denke ich, haben die Heimatvertriebenen verdient. Ich finde, das schulden wir ihnen über alle Parteigrenzen hinweg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die im Geiste der Versöhnung gehaltene Stiftung, die durch die Novelle übrigens auch eine höhere demokratische Legitimation bekommt, weil die Mitglieder vom Bundestag und nicht länger von der Bundesregierung berufen werden, kann nun ihre verantwortungsvolle Arbeit aufnehmen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau so ist es! - Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das gibt es doch nicht!)) Dass sie das rasch tun kann, ist zu wünschen; denn unsere gesamte Gesellschaft in Deutschland und darüber hinaus wird von der Stiftungsarbeit profitieren. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich wiederhole, was ich schon mehrfach gesagt habe: Die SPD-Fraktion steht grundsätzlich hinter dem Stiftungsprojekt "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Aber?) In der Koalitionsvereinbarung von 2005 hatten wir mit der CDU/CSU das Sichtbare Zeichen verankert und 2008 die Konzeption und den Gesetzentwurf für die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" auf den Weg gebracht und verabschiedet. An allem habe ich maßgeblich mitgewirkt. Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages von 2008 ist die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in ein neues Stadium übergegangen. Das Parlament hat sie zu seiner Sache gemacht. Sie ist nicht mehr Eigentum der professionellen Vertriebenen des BdV und ist deren ideeller und moralischer Verwaltung und vor allem jedwedem Alleinanspruch entzogen. Bei allen Verdiensten der Vertriebenen in der Geschichte der Bundesrepublik ist dies ein neuer Schritt; das ist ganz wichtig. Der Deutsche Bundestag hat die Erinnerung an diesen Teil deutscher und europäischer Geschichte zur Angelegenheit der gesamten Republik, der gesamten Gesellschaft gemacht. Deshalb darf die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" nicht der verlängerte Arm der Vertriebenen sein. Dem widerspricht die jetzt vorgesehene Verdoppelung der Sitze des BdV im Stiftungsrat. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist nicht richtig!) Ziel der Stiftung ist einerseits, an die Opfer von Flucht und Vertreibung zu erinnern, und andererseits - das war für die Sozialdemokraten immer der maßgebliche Aspekt -, durch historische Wahrheit zur Versöhnung beizutragen. (Beifall bei der SPD) Diesem Anliegen hat der quälende Streit um die Beteiligung Erika Steinbachs im Stiftungsrat geschadet, wie an den Rücktritten des polnischen Historikers Tomasz Szarota, der tschechischen Wissenschaftlerin Kristina Kaiserova und von Helga Hirsch als Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats deutlich geworden ist. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das hat überhaupt nichts mit Frau Steinbach zu tun!) Die Ausweitung des Einflusses des Bundes der Vertriebenen durch die Erhöhung der Mitgliederzahl im Stiftungsrat trägt nicht dazu bei, den entstandenen Schaden wieder gutzumachen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Gegenteil ist der Fall. Statt Vertrauen in das Projekt zu schaffen, was ich mir wünsche, gibt die Gesetzesnovellierung eher Anlass zu Misstrauen. Natürlich können wir als Abgeordnete schwerlich etwas dagegen haben, dass künftig der Deutsche Bundestag über die Besetzung des Stiftungsrates entscheidet. Selbstverständlich nicht! Aber durch die Blockabstimmung aller Mitglieder des Stiftungsrates bleibt - ganz nüchtern betrachtet - der Einfluss des Deutschen Bundestages auf die Besetzung doch eher gering. Es ist auch schwerlich etwas dagegen einzuwenden, dass die Anzahl der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates erhöht wird. Aber diese Änderung und die Erhöhung der Anzahl der Stiftungsratsmitglieder sind doch lediglich kosmetische Änderungen, die verbergen sollen, dass der Einfluss des BdV ausgeweitet werden soll. Deswegen haben doch Frau Steinbach und der BdV das so begrüßt: weil sie mehr Einfluss als Erfolg sehen. Das soll nun ein bisschen kaschiert werden. Die vorliegende Gesetzesänderung ist eben das Ergebnis eines erfolgreichen Erpressungsversuchs des BdV. Daran führt kein Weg vorbei. (Beifall bei der SPD - Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Erpressungsversuch ist doch eine ganz ungeheure Unterstellung, Herr Kollege! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Den zwischen BdV und Bundesregierung erzielten Kompromiss hatten wir bereits im Februar deutlich kritisiert. Deshalb werden wir dem jetzt in Gesetzestext gegossenen Ergebnis nicht zustimmen. Der ganze Vorgang ist - das kann ich Ihnen nicht ersparen - für die Regierungskoalition durchaus peinlich. Deshalb ist nachvollziehbar, dass die CDU/CSU-Fraktion den Gesetzentwurf ursprünglich ohne Debatte stillschweigend durchwinken wollte. Dabei hätte, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Änderung des Stiftungsgesetzes auch Chancen für einen Neuanfang der Stiftung bedeuten können; das hat meine Kollegin Angelica Schwall-Düren in der Ersten Lesung ausführlich dargelegt. Deswegen nenne ich nur einige Stichworte: Warum ist nur der BdV im Stiftungsrat vertreten und nicht auch andere Vereine oder Projekte, die seit Jahren erfolgreiche Versöhnungsarbeit leisten? Es gibt viel mehr als den BdV. Warum sind nicht ausländische Vertreter im Stiftungsrat, sondern nur im wissenschaftlichen Beirat, warum nicht auch ein Vertreter der muslimischen Gemeinschaft? (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Weil es eine deutsche Stiftung ist!) Diese sinnvollen Änderungen waren nicht möglich, weil die Bundesregierung neuerlich mit dem BdV hätte verhandeln müssen. Das zeigt einmal mehr die ganze Peinlichkeit des Streits. Der Streit hat es nicht leichter gemacht, das Projekt zum Erfolg zu führen. Dieses Projekt kann nur gelingen - und ich wünsche mir das Gelingen des Projektes -, wenn es nicht ein nationales, sondern ein nachbarschaftlich europäisches Projekt wird. (Beifall bei der SPD) Dabei geht es nicht darum, wie in vielen Zuschriften immer wieder behauptet und vom BdV befeuert, dass polnische oder tschechische Wissenschaftler den Deutschen ihr Geschichtsbild diktieren wollten. Zur historischen Wahrheit gehört nicht nur die Sichtweise der professionellen Vertriebenen, sondern auch die Perspektive unserer europäischen Nachbarn. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Was sind denn professionelle Vertriebene?) - Sie wissen genau, wen ich meine. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Nein, das wissen wir nicht, Herr Kollege Thierse! Was sind professionelle Vertriebene? Das ist eine Frechheit!) Wie kann das Projekt jetzt noch gelingen? Ausgewiesene Experten mit internationalem Ruf müssen ermuntert werden, im wissenschaftlichen Beirat mitzuarbeiten. Dabei kann an die erfolgreiche Arbeit internationaler Expertengremien angeknüpft werden. Seit Jahren arbeiten deutsche, polnische und tschechische Wissenschaftler in Historikerkommissionen gemeinsam an dem Thema. Bisher wurde es versäumt, diese Arbeit für die Stiftung ausreichend nutzbar zu machen. Wir brauchen endlich einen diskussionswürdigen Entwurf für die Ausstellungskonzeption. Seit der Verabschiedung des Stiftungsgesetzes im Herbst 2008 gibt es keine bemerkbaren Fortschritte. Zahlreiche Fragen sind nach wie vor ungeklärt. Was soll in der Ausstellung dargestellt werden? Welches Wissen soll sie vermitteln? Wie soll sich diese Ausstellung von anderen Ausstellungen zu dem Thema unterscheiden? Welche Vertreibungsgeschichten sollen dargestellt werden? Diese Fragen sollten gemeinsam mit anderen, mit internationalen renommierten Historikern diskutiert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir Sozialdemokraten werden alles uns Mögliche und Erlaubte dafür tun, dass das uns wichtige Anliegen, der Opfer von Flucht und Vertreibung im Geiste der Versöhnung zu gedenken, umgesetzt wird. In Deutschland brauchen Erinnerungs- und Gedenkprojekte einen langen Atem. Das zeigen das Holocaustmahnmal und die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums. Der Streit und die Debatten darüber haben jeweils viele Jahre gedauert. Das hat aber nicht geschadet, im Gegenteil. Die Diskussion auch über dieses Projekt muss offen und gemeinsam mit unseren Nachbarn geführt werden. Die deutsche Geschichte gehört nun einmal nicht nur uns Deutschen. Sie ist eine europäische Angelegenheit. Das ist auch in Ordnung so. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Herzlich begrüße ich - das sei mir erlaubt - meine Eltern an diesem späten Abend. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Guter Junge! Gut erzogen!) Meine Damen und Herren, man kann nicht behaupten, dass dieses Thema heimlich an der Öffentlichkeit vorbeigegangen ist. Vorbeigegangen aber sind aufgrund der personellen Diskussionen und aller anderen Debatten, die geführt worden sind, der ernsthafte Hintergrund und die Notwendigkeit dieser Gesetzesänderung. Wie notwendig die Rückkehr zur Versachlichung der Diskussion ist, erkennt man leider auch an den Begrifflichkeiten, die hier zum Teil gebraucht werden. Herr Thierse - wir arbeiten in anderen Gremien sehr gut zusammen -, ich finde es nicht richtig, wenn Sie der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag allen Ernstes bei einer derart sensiblen Debatte und in diesem historischen Kontext vorwerfen, erpressbar zu sein. (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Es war doch so!) Es ist nicht richtig, hier das Wort Erpressung zu verwenden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Doch! - Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich habe mir einmal angeschaut, was das Wort Erpressung - Sie haben das heute auch in einer Pressemitteilung verwendet - eigentlich bedeutet. Ein wesentliches Merkmal der Erpressung ist, dass der Erpresser in verwerflicher und eigensinniger Gesinnung einen Vorteil für sich selbst einseitig und zum Schaden des Erpressten erstrebt. (Beifall der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE] - Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) Das heißt, er profitiert von etwas. - Schauen wir uns einmal an, wer hier profitiert. Die Kirchen profitieren. Der Zentralrat der Juden profitiert. Der BdV profitiert, und der Deutsche Bundestag profitiert. Sind das alles Erpresser? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der wissenschaftliche Beraterkreis wird spürbar vergrößert. Der größte Profiteur ist der Stiftungszweck selbst, weil die Meinungsbildung im Stiftungsrat auf ein breiteres gesamtgesellschaftliches Fundament gestellt wird. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig!) Die wissenschaftliche Fundiertheit wird wesentlich besser gewährleistet. Die Besetzung des Stiftungsrates ist jetzt demokratischer gestaltet, weil der Bundestag die Mitglieder wählt. Die Tatsache, dass er eine Gesamtliste wählt, ist keine Ausnahme, sondern bei solchen Entscheidungen die Regel. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ein guter Vorschlag des Staatssekretärs!) Von daher bitte ich Sie, Herr Thierse, und vielleicht auch nachfolgende Rednerinnen und Redner: Gehen Sie in solch sensiblen Debatten bitte sorgsam mit Begriffen wie "Erpressung" um. Sie diskreditieren sonst das gute und umsichtige Ergebnis und von vornherein die Arbeit der Stiftung im In- und Ausland. (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Da sind wir sorgsamer als Sie!) Ich bitte Sie, zur sachlichen Debatte zurückzukehren. Wir reden über "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Das ist der Name der Stiftung. Der FDP geht es dabei um zwei gleichberechtigte Absichten, um zwei gleichberechtigte Interessen. Erstens geht es uns um Vergangenheitsbetrachtung und Erinnerung, ja. Zweitens geht es uns darum, Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen, und um die Zukunftsausrichtung aktueller Politik. Wir betreiben die Aufarbeitung im Rahmen dieser Stiftung - das ist auch bei ähnlichen Projekten unser Anspruch - nicht nur wegen der notwendigen Vergangenheitsbewältigung oder wegen des erforderlichen Erinnerns, sondern wir betreiben diese Aufarbeitung auch, um auf die Zukunft gerichtet urteilsfähig zu bleiben. Urteilsfähigkeit heißt in diesem Zusammenhang, aus den historischen Ereignissen Konsequenzen für unser zukünftiges Handeln und für unsere Beurteilungskraft zu ziehen. Zur Vergangenheitsbetrachtung: Wir wissen - das ist unbestritten - um die deutsche Schuld. Wir wissen, dass das Deutsche Reich einen furchtbaren Krieg mit einem bis dahin unbekannten Ausmaß an Verbrechen über Europa gebracht hat. Aber wir wissen auch um die Schrecken der Vertreibung und die schrecklichen Folgen, die diese Flucht mit sich brachte. In der gesamten Diskussion - auch bei der Stiftung - darf es nicht darum gehen, Krieg und Kriegsfolgen gegeneinander aufzurechnen. Die Verbrechen der Deutschen werden nicht kleiner durch Verbrechen an Deutschen, und die Verbrechen der Deutschen rechtfertigen nicht Verbrechen an Deutschen. Wir dürfen Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Leid und Schuld sind immer individuell. Aber - auch das muss gesagt werden - der Holocaust und die Taten der Naziherrschaft haben einen herausragenden Stellenwert und müssen diesen herausragenden Stellenwert immer besitzen. Zur Zukunftsausrichtung: Um es klar zu sagen: Wenn man die Behandlung des Themas Vertreibung ausschließlich tatsächlich Vertriebenen überlässt, ist das Thema in gar nicht allzu ferner Zeit aus dem gesellschaftlichen Verständnis heraus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das geht natürlich nicht. Das Thema muss wach bleiben, weil Vertreibung auch heute noch ein vorhandenes und bestehendes Problem ist. Nicht nur die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg soll thematisiert werden, sondern auch das Schicksal von Vertriebenen anderer Nationen. Dies ist bis heute aktuell und hält bis heute an. Die Stiftungsorgane müssen jetzt so schnell wie möglich ihre Arbeit aufnehmen. Die Stiftung muss jetzt anfangen, zielgerichtet inhaltliche Arbeit zu leisten. Der bis jetzt bestehende Schwebezustand, der die Stiftung auch in der internationalen Wahrnehmung schwächt, muss so schnell wie möglich beendet werden. Ich bitte Sie deshalb alle um Ihre Zustimmung zu dieser gelungenen Novelle. Ich bedanke mich sehr herzlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Lukrezia Jochimsen von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor total leeren Tribünen - mit Ausnahme der Eltern des Kollegen Kurth, die dankenswerterweise da sind - diskutieren wir jetzt als letzten Tagesordnungspunkt über eines der großen Themen der Erinnerungskultur. Ich finde, die Art, wie wir darüber diskutieren, ist dem nicht angemessen. Statt eine groß angelegte Debatte mit der Öffentlichkeit zu führen, treibt die Regierungskoalition ihren Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchs Parlament. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wo soll der Gesetzentwurf denn sonst verabschiedet werden?) Der Grund: So soll ein Skandal versteckt werden. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn!) - Doch: Der Skandal der Erpressung der Bundesregierung durch den Bund der Vertriebenen. (Beifall bei der LINKEN) Alle Hauptpunkte des neuen Gesetzes gehen auf Forderungen des Bundes der Vertriebenen zurück, der sich als Interessenvertretung damit eine Bundesstiftung zur Beute macht. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die FDP gehört nicht zum BdV!) Die sechs Vertreter des Bundes der Vertriebenen - ich bleibe dabei; ich kann rechnen - dominieren als größte Einzelgruppe den Stiftungsrat, während zum Beispiel der Bundestag nur vier Vertreter in den Stiftungsrat entsenden darf. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Rechnen? Abrechnen!) Während im geltenden Gesetz ein zweistufiges Berufungsverfahren festgelegt war - die Organisationen benennen, aber das Kabinett entscheidet über die Benennungen und beruft -, darf der Bundestag jetzt nur über ein fertiges Personalpaket mit 21 feststehenden Benennungen entscheiden. Zitat: Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden kann. "Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt", das nenne ich ein völlig undemokratisches Verfahren. (Heike Brehmer [CDU/CSU]: Das müssen Sie gerade sagen!) Während es von den Koalitionsfraktionen auch noch als besonderes Beispiel für Transparenz und als Stärkung der Rolle des Parlaments verkauft wird, nenne ich es eine Missachtung des Parlaments. (Beifall bei der LINKEN) Ich frage mich, welche Abgeordnete und welcher Abgeordnete mit ein bisschen Selbstrespekt so etwas mit sich machen lässt. Was ist aus dem prestigereichen Vorhaben mit dem Motto "Sichtbares Zeichen" von 2005 geworden? Ein Geschacher über die Personalie Steinbach. Eine Beschädigung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ein Gründungsdirektor, der behauptet, dass in der Geschichte der Bundesrepublik - wohlgemerkt: der Bundesrepublik - das Schicksal der Vertriebenen nicht angemessen behandelt worden sei. Eine Institution, die von internationalen Wissenschaftlern verlassen wurde. Insgesamt ein Schadensfall für die Erinnerungspolitik. Die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" ist wahrlich auf einem schlechten Weg. Die parlamentarische Zustimmung hat dramatisch abgenommen. Während das vorige Gesetz vom Dezember 2008 mit der Zustimmung der Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Grünen verabschiedet wurde und nur die Linksfraktion es ablehnte, ist das heute ganz anders. (Otto Fricke [FDP]: Sie lehnen es doch immer noch ab!) Sie haben immer gesagt, es gehe Ihnen um große Zustimmung des Parlaments. Sie wissen ganz genau, dass Sie diese große Zustimmung des Parlaments nicht haben: Alle drei Oppositionsparteien lehnen heute die Gesetzesänderungen ab. (Zuruf von der FDP: Wie wollen Sie das schon wissen? - Stephan Mayer [Altötting] [CDU/ CSU]: Schlimm genug!) Das sind über 46 Prozent, fast die Hälfte der Abgeordneten. (Otto Fricke [FDP]: Jeder hat ein anderes Verständnis von Opposition!) Die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" ist jetzt ein reines CDU/CSU-FDP-Projekt. Das mag die Koalitionsfraktionen nicht stören; doch nach dem heutigen Abend können sie nicht mehr behaupten, dass diese Institution der Erinnerungskultur von einer großen Mehrheit des Bundestages gewollt sei. Das ist eigentlich das Einzige, was heute gut ist, und einiger Trost an diesem Abend. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie hätten den Gesetzentwurf doch in jedem Fall abgelehnt!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Tabea Rößner von Bündnis 90/Die Grünen. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Gesetzesnovelle zur Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" ist reine Camouflage; (Otto Fricke [FDP]: Direkt ein militärischer Begriff! Das ist ja gut!) denn hier werden Tatsachen beschönigt und nicht beim Namen genannt. Es geht doch nicht wirklich darum, "der Komplexität der Aufgabenstellung" der Stiftung "besser Rechnung zu tragen", wie es in dem Entwurf hochtrabend heißt. Es geht einzig und allein darum, einen Streit innerhalb der Koalition durch einen faulen Kompromiss beiseitezuschieben. Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie das eingestehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Kanzlerin Merkel ließ den Konflikt um die Ansprüche von Frau Steinbach und ihres Bundes der Vertriebenen monatelang treiben, ohne politisch zu entscheiden. Statt Verantwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sich weg und riskierte damit eine Verschlechterung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern. Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist Ausdruck der Schwäche und der Handlungsunfähigkeit der Regierung Merkel/Westerwelle. Er wird dem Stiftungszweck nicht gerecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wenn es wirklich um die Sache ginge, dann wäre jetzt ein Neustart des Projektes nötig gewesen, durch den das ursprüngliche Anliegen der Stiftung wieder in den Vordergrund gerückt worden wäre, nämlich die Versöhnung und die Darstellung der europäischen Dimension von Flucht und Vertreibung. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Oppositionsreden dienen doch auch der Versöhnung!) Ich frage mich: Warum muss die Zahl der Vertreter des Bundes der Vertriebenen im Stiftungsrat von drei auf sechs verdoppelt werden, während andere Gruppen gar nicht vertreten sind, Gruppen, die in besonderem Maße Opfer von Vertreibung waren, wie zum Beispiel Roma und Sinti? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wer im 20. Jahrhundert über Flucht und Vertreibung redet, der kommt auch an Muslimen als Opfer nicht mehr vorbei. Um das Einknicken vor den Ansprüchen von Frau Steinbach zu kaschieren, musste die Koalition eine noch stärkere Vergrößerung des Stiftungsrates von 13 auf jetzt vorgeschlagene 21 Mitglieder vornehmen. Doch die Erfahrung zeigt, dass sich mit einer solchen Ausweitung die Handlungsfähigkeit eines Gremiums nicht verbessert, sondern dass die Abläufe noch komplizierter werden. (Jens Ackermann [FDP]: Deshalb haben die Grünen auch eine Doppelspitze!) Dass statt zwei nunmehr vier Mitglieder des Deutschen Bundestages dem Stiftungsrat angehören sollen, ist nur auf den ersten Blick positiv zu bewerten. Offen bleibt ja, welche Fraktionen einbezogen werden sollen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die Opposition will ja gar nicht!) Stark kritikbedürftig ist auch das Wahlverfahren; Frau Jochimsen hat es gesagt. (Otto Fricke [FDP]: Rot-Rot-Grün hat nicht geklappt!) Es ist nicht demokratisch, sondern folgt dem Prinzip "Friss, Vogel, oder stirb", wenn dem Deutschen Bundestag ein Listenvorschlag unterbreitet wird, der nur unverändert angenommen oder abgelehnt werden kann. Ein selbstbewusstes Parlament kann eine derartige Regelung nicht zulassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es gibt Anlass zu großer Sorge, dass sich die ausländischen Vertreter aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung zurückgezogen haben; (Lars Lindemann [FDP]: Woher wissen Sie das denn?) denn ohne eine angemessene Beteiligung von renommierten Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Nachbarländern verliert die Stiftung ihre Glaubwürdigkeit und kann sie nicht funktionieren. Die Stiftung braucht, wie gesagt, keine Camouflage für einen faulen Kompromiss, sondern einen ernsthaften und grundlegenden Neustart, mit dem der pro-europäische Versöhnungsgedanke gestärkt wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Machen wir!) In der vorgelegten Form lehnt die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen die Novelle ab. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Sebastian Blumenthal [FDP]: Dafür sind Sie ja mit vielen Leuten hierhin gekommen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit der heutigen Beschlussfassung über den vorliegenden Gesetzentwurf wird endlich das Kapitel einer langwierigen und alles andere als einfachen Diskussion darüber abgeschlossen, wie der Stiftungsrat der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" besetzt werden soll. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist ein guter und ausgewogener Kompromiss, der meines Erachtens von allen Beteiligten getragen werden kann, die an den Verhandlungen beteiligt waren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin insbesondere froh darüber, dass mit der heutigen Beschlussfassung endlich auch die Zeit der Irritationen und der Verunsicherungen darüber zu Ende geht, wie es mit dem Ausstellungs-, Dokumentations- und Begegnungszentrum im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof hier in Berlin weitergehen soll. Damit werden Gott sei Dank aber auch all diejenigen in Deutschland und andernorts Lügen gestraft, die dachten, man müsse der Stiftung und dem Begegnungszentrum nur genügend Klötze zwischen die Beine werfen, dann würden diese schon scheitern. Das Zentrum gegen Vertreibung wird entstehen, und es wird unter einer stärkeren Beteiligung derjenigen entstehen, die am stärksten und am intensivsten mit dem Thema verbunden sind, nämlich der Vertriebenen und deren Nachkommen. Herr Kollege Thierse, ich muss schon sagen: Ich persönlich finde es unsäglich, dass Sie hier von "professionellen Vertriebenen" gesprochen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie werden damit dem Leid und dem Schicksal von 15 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden oder flüchten mussten, in keiner Weise gerecht. (Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Herr Mayer, im Unterschied zu Ihnen weiß ich, wovon ich rede!) Ich finde dies umso unerträglicher - das sage ich an dieser Stelle auch ganz deutlich -, da ich weiß, dass Sie in Breslau geboren wurden. Man muss einfach darauf hinweisen, dass nicht derjenige vertrieben wurde, der persönlich Schuld auf sich geladen hatte, sondern ob man vertrieben wurde oder nicht, hing einzig und allein von dem Umstand ab, ob man in dem - in Anführungszeichen - falschen Wohnort lebte oder nicht. (Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Das weiß ich! - Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Bestreitet das jemand?) Es gilt, auch das an dieser Stelle zu sagen. Hier von "professionellen Vertriebenen" zu sprechen, halte ich für herabwürdigend. Ich kann nur mein Unverständnis und Kopfschütteln zum Ausdruck bringen. Ich finde es erbärmlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ebenso unerträglich und unverschämt finde ich, dass Sie das Wort Erpressung in den Mund nehmen. Erpressung ist ein Straftatbestand. Mit was hätte denn der BdV, der Bund der Vertriebenen, erpressen sollen? Er hatte doch gar kein Erpressungspotenzial. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir jeden Tag in der Zeitung gelesen!) Das sagen Sie, Herr Thierse, als jemand, der vor kurzem selber straffällig geworden ist. Das halte ich für eine Brüskierung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD - Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht ja wohl! - Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt reicht es aber!) Die SPD und auch die anderen Oppositionsfraktionen haben heute deutlich gezeigt, welch Geistes Kind sie sind. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aha!) Dies finde ich umso bedauerlicher, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, als es Peter Glotz war, ein hochanerkannter und hochprofilierter Politiker aus Ihren Reihen, der zusammen mit Erika Steinbach im Jahr 2000 die Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" gegründet hat. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Er würde das heute auch anders machen!) Gerade deshalb hätte ich persönlich es für außerordentlich nachvollziehbar und gut verständlich gehalten, wenn die Dame, auf deren Initiative das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin entsteht, im Stiftungsrat hätte mitarbeiten dürfen. Das war leider nicht möglich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber es war keine Erpressung, sondern ein Akt des Aufeinanderzugehens, dass der BdV und insbesondere seine Präsidentin die Hand ausgestreckt und damit erst die Grundlage für den jetzt gefundenen Kompromiss geschaffen haben. (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Wir hatten ein Gesetz! Das musste beachtet werden!) Frau Steinbach, eine hochanerkannte, profilierte und insbesondere - das möchte ich an dieser Stelle betonen - integre Kollegin, hat die Hand ausgestreckt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dennoch ist es richtig, dass mit diesem Kompromiss eine deutlich verstärkte Vertretung der Vertriebenen der 22 Landsmannschaften des BdV im Stiftungsrat möglich ist. Das möchte ich an dieser Stelle sagen, weil hier die Frage aufgeworfen wird, warum nicht die anderen Vertriebenenorganisationen, sondern der BdV zum Zuge kommt. Der BdV ist nun einmal der Dachverband der Heimatvertriebenen in Deutschland. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Heimatvertriebenen! Aber es gibt auch andere!) Man kann darüber streiten, wie viele Mitglieder er hat. Ich sage aber offen: Egal, ob es 2 Millionen oder 1,5 Millionen sind, der BdV ist und bleibt die Dachorganisation von 22 Landsmannschaften der Heimatvertriebenen in Deutschland und hat deshalb aus meiner Sicht das Recht, im Stiftungsrat entsprechend vertreten zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Um was ging es Ihnen in dieser Diskussion? Ihnen ging es doch nur darum, den BdV zu diskreditieren. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist überhaupt nicht wahr!) Ihnen ging es doch nur darum, die Präsidentin des BdV in ein Licht des Revanchismus und des Reaktionären zu rücken. (Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU] - Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man das Thema ernst nehmen würde, würde man andere einbeziehen!) Dies ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen. Wir sind mit diesem Gesetzentwurf einen deutlichen Schritt weitergekommen. Ich persönlich halte es auch für außerordentlich begrüßenswert, dass die Bedeutung der Stiftung auch dadurch gehoben wird, dass dieses Hohe Haus in Zukunft darüber befinden wird, wer im Stiftungsrat mitarbeiten wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das steigert die Bedeutung der Stiftung erheblich. Zuallerletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Erweiterung des wissenschaftlichen Beirats von 9 auf 15 Personen zu begrüßen ist. Damit wird eine profundere und auch breitere Einbeziehung von Wissenschaftlern möglich. Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn sich insbesondere auch Historiker aus Tschechien und Polen bereiterklären würden, vorurteilsfrei und aufgeschlossen mitzuarbeiten, nach dem Grundsatz, dass nur echte Aufklärung und Wahrheit die Grundlage für wahre Verständigung und Versöhnung sein können. Dazu soll die Stiftung dienen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) In diesem Sinne kann ich nur der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass wir in Zukunft wieder zur Ruhe und Sachlichkeit zurückkehren, damit diese wichtige Stiftung ihrer Arbeit nachgehen kann und das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin möglichst zügig und gewissenhaft weiterentwickelt werden kann. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Mayer, ich rüge Ihren Vorwurf gegenüber dem Kollegen Thierse, er sei straffällig. Er ist nicht straffällig, und er ist auch nicht verurteilt. Das ist kein parlamentarischer Sprachgebrauch im direkten Umgang miteinander. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum". Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1751, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/1400 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Verfahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung - Drucksache 17/1426 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Interfraktionell wird wiederum vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/ CSU, Burkhard Lischka, SPD, Marco Buschmann, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.4 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1426 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren - Drucksache 17/1413 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Gitta Connemann und Ulrich Lange, CDU/CSU, Ottmar Schreiner, SPD, Sebastian Blumenthal, FDP, Jutta Krellmann, Die Linke, und Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. Gitta Connemann (CDU/CSU): Wir debattieren heute einmal mehr einen Antrag aus der Villa Kunterbunt. Dort lebte ein kleines Mädchen namens Pippi Langstrumpf nach dem Motto "Ich mach' mir meine Welt, widde, widde, wie sie mir gefällt". Pippi lebte in einem Land der Fantasie, der Illusion, abseits der Realität - wie die Fraktion der Linken. Dies zeigt der vorliegende Antrag. Denn sein Hauptmerkmal ist die Ignoranz der Sach- und Rechtslage. Die Fraktion der Linken widmet sich nunmehr den Unternehmen, die nicht in inländischen Rechtsformen wie der GmbH oder der AG, sondern in einer ausländischen Rechtsform wie der britischen "Limited" oder der niederländischen "B.V." firmieren. Eine wachsende Zahl von großen Unternehmen, die in Deutschland ansässig seien, werde laut Darstellung der Linken diese ausländischen Rechtsformen nutzen, um das deutsche Mitbestimmungsrecht zu unterlaufen. Deshalb müsse unsere nationale Unternehmensbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz - für Unternehmen mit 500 bis 2 000 Beschäftigten - und dem Mitbestimmungsgesetz - für Unternehmen mit mehr als 2 000 Beschäftigten - gesetzlich auf diese ausländischen Rechtsformen ausgeweitet werden. Die einzige Aussage, die im Antrag der Linken der Realität entspricht, ist die Zahl 37. Ja, es ist richtig, dass in Deutschland 37 Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in einer ausländischen Rechtsform betrieben werden. Aber das war es dann auch schon. Denn dem stehen folgende Zahlen gegenüber: In Deutschland unterliegen etwa 700 Unternehmen dem Mitbestimmungsgesetz, hälftige Beteiligung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, und weitere 1 500 Unternehmen dem Drittelbeteiligungsgesetz, Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die Zahl von 37 ausländischen Gesellschaften ist dagegen verschwindend gering. Dies entspricht 1,68 Prozent der großen Unternehmen. Es gibt also keine Flut von Unternehmen, die in ausländische Rechtsformen stürzen. Das von den Linken beschriebene Phänomen einer allgemeinen Tendenz der Mitbestimmungsumgehung ist also lediglich ein Produkt ihrer Fantasie. Die verschwindend geringe Zahl macht deutlich, dass bei den großen Gesellschaften eine Mitbestimmungsumgehung nicht im Vordergrund steht. Schon die Sachlage wird also falsch beschrieben. Leider setzt sich das bei der Darstellung der Rechtslage fort. Vor der Aufsetzung des Antrages hätte den Linken eine Befassung mit dem Europarecht gutgetan. Denn dann hätte man gewusst, dass eine Ausweitung der deutschen Mitbestimmung auf ausländische Gesellschaftsformen mit dem Europarecht nicht vereinbar ist. Die herrschende Meinung in der rechtswissenschaftlichen Literatur sieht in einer solchen einen Verstoß gegen den europäischen Grundsatz der Niederlassungsfreiheit. Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Grundsatzentscheidungen zur Niederlassungsfreiheit wiederholt Folgendes festgestellt: Gesellschaften, die nach dem Recht eines anderen EU- oder EWR-Mitgliedsstaats wirksam gegründet worden sind, sind auch in Deutschland in ihrer ausländischen Rechtsform anzuerkennen, und zwar selbst dann, wenn sie überwiegend oder gar ausschließlich in Deutschland tätig sind, siehe nur Rechtssachen Centros, Überseering, Inspire Art, Sevic und Cartesio. Eine englische Private Limited Company, Limited, und eine niederländische Besloten Vennootschap, B. V., sind also als solche zu behandeln, ohne dass es darauf ankommt, wo die Gesellschaft geschäftlich aktiv ist. Denn es gilt die sogenannte Gründungstheorie. Danach sind die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse eines Unternehmens nach dem Recht zu beurteilen, nach dem es gegründet wurde. Was die Reichweite des ausländischen Gesellschaftsrechts angeht: Das Gesellschaftsstatut umfasst dabei alle Aspekte der gesellschaftsrechtlichen Verfassung des Unternehmens. Dazu gehört nach herrschender Auffassung in der rechtswissenschaftlichen Literatur, zum Beispiel Ulmer/Habersack/Henssler, Spahlinger/Wegen, Junker, auch die Unternehmensmitbestimmung. Eine in Deutschland operierende Gesellschaft aus dem Ausland unterliegt daher nur dann unseren nationalen Regelungen zur Unternehmensmitbestimmung, wenn das berufene ausländische Gesellschaftsrecht dies vorsieht. Einer Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung auf ausländische Rechtsformen von EU- oder EWR-Mitgliedstaaten scheitert deshalb an den rechtlichen Hürden, die der Europäische Gerichtshof zum Schutz der Niederlassungsfreiheit errichtet hat; siehe nur Junker, Henssler, Riegger, Horn, Veit/Wichert, Müller-Bonanni. Uns als nationalem Gesetzgeber ist es also europarechtlich verwehrt, den Geltungsbefehl der deutschen Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung auf Auslandsgesellschaften zu erstrecken. Die Linken ignorieren mit Ihrem Antrag die Sach- und Rechtslage. Entsprechend ihres Vorbildes Pippi Langstrumpf machen Sie sich die Welt eben so, wie diese ihnen gefällt. So darf aber kein Gesetzgeber arbeiten. Drei mal drei ergibt eben nicht sechs. Deshalb werden wir ihren Antrag ablehnen. Ulrich Lange (CDU/CSU): Mit ihrem Antrag fordert Die Linke gesetzliche Bestimmungen dafür zu schaffen, dass die deutschen Vorschriften für das Mitbestimmungsrecht auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben, gelten. Wie ist die derzeitige Rechtslage? Unterliegt eine in Deutschland tätige Gesellschaft einem ausländischen Gesellschaftsstatut, ist das ausländische Mitbestimmungsrecht anzuwenden, wenn es im Gründungsstaat der Gesellschaft überhaupt Mitbestimmungsregelungen gibt. Wenn man den Antrag liest, möchte man meinen, in Deutschland habe die große Mitbestimmungsflucht begonnen. Die von den Linken wie so häufig ignorierte Realität zeigt ein ganz anderes Bild. Die Fraktion Die Linke zitiert die Hans-Böckler-Stiftung. Deren empirische Arbeit habe ergeben, dass sich die Anzahl ausländischer Kapitalgesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung und mitbestimmungsrelevanter Größe zwischen Januar 2006 und November 2009 um zehn auf insgesamt 16 Unternehmen erhöht hat. Im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl deutscher Personengesellschaften mit ausländischem Komplementär in mitbestimmungsrelevanter Größe ebenfalls um zehn auf insgesamt 21 erhöht. Beide Fallgestaltungen zusammen ergeben den von der Fraktion Die Linke genannten Anstieg von 17 auf 37 Unternehmen. Nach einer Studie der Universität Jena zum Drittelbeteiligungsgesetz fallen unter dieses Gesetz circa 1 500 Unternehmen, vom Mitbestimmungsgesetz werden circa 700 Unternehmen erfasst. Wer ernsthaft die genannten Zahlen miteinander vergleicht, sieht sofort: Es ist kein wirkliches Problem in unserer Gesellschaft. Bei diesem Zahlenverhältnis kann nicht von einem drängenden Problem gesprochen werden. Selbst die von der Linksfraktion zitierte Hans-Böckler-Stiftung räumt freimütig ein, dass, wie schon die Biedenkopf-Kommission richtigerweise erkannt hat, angesichts von 700 quasi paritätisch mitbestimmten und von circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen die Untersuchungsergebnisse nicht auf eine verbreitete Flucht schließen lassen, die die deutsche gesetzliche Mitbestimmung infrage stellen könnte. Aber diese Schlussfolgerung verschweigt die Fraktion Die Linke, was von dieser populistischen Partei eigentlich auch nicht anders zu erwarten ist. Tatsächlicher gesetzlicher Handlungsbedarf besteht immer dann, wenn Unternehmen eine vermeintliche gesetzgeberische Lücke dazu ausnutzen, um sich unerwünschte Vorteile zu verschaffen. Dies ist aber aufgrund der Untersuchungsergebnisse nicht erkennbar. In den genannten 37 Firmen wurde eine andere Rechtsform nicht gewählt, um das deutsche Mitbestimmungsrecht zu umgehen. Ausländische Investoren haben mit ihrem System Erfahrung und fügen sie in unser System ein. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass es zu Wahlmöglichkeiten und einem Wettbewerb der Gesellschaftsrechtssysteme innerhalb Europas gekommen ist. Eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit unter - das wurde bereits oben angesprochen - Missbrauchsgesichtspunkten ist meines Erachtens nicht zu rechtfertigen. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der Vorschlag der EU-Kommission zur Errichtung der Europäischen Privatgesellschaft, EPG, den Zugang kleiner und mittelständischer Unternehmen zum europäischen Binnenmarkt erleichtern soll. Bereits mit ihrer Anfrage vom 24. März 2009 - Drucksache 16/12526 - hat die Linksfraktion eine angebliche Mitbestimmungsflucht thematisiert. Geben Sie doch auf und kommen Sie auf den Boden unserer Arbeitswelt zurück. Ihr populistischer Antrag wird in diesem Hause keine Mehrheit finden, da kein aktueller Handlungsbedarf besteht. Am besten ziehen Sie ihn einfach zurück. Ottmar Schreiner (SPD): Deutschland ist das einzige Land in der EU, in dem die Reallöhne im Durchschnitt nicht gestiegen sind, sondern seit bald zwei Jahrzehnten stagnieren. Das bedeutet: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden in Deutschland am wachsenden Wohlstand real nicht mehr beteiligt. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der historisch niedrigen Lohnquote und der steigenden Armut trotz Arbeit sehr gut wider. Ursächlich hierfür ist das Shareholder-Value-Prinzip, das einzig und allein das Eigentümerinteresse nach raschen und hohen Profiten in den Mittelpunkt des unternehmerischen Wirtschaftens stellt. Um dieses Ziel zu erreichen, verlieren Instrumente der Mitbestimmung zunehmend an Einfluss. Immer mehr Beschäftigte müssen auf Mitbestimmungsrechte verzichten. Durch Mitbestimmung soll die alleinige Orientierung der Unternehmen an der Profitmaximierung aber gerade verhindert werden. In Deutschland sorgen das Drittelbeteiligungsgesetz, das Mitbestimmungsgesetz und das Montanmitbestimmungsgesetz für eine demokratische Teilhabe der Belegschaft und ihrer Vertreter an unternehmerischen Entscheidungen: in Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Beschäftigten stellen die Arbeitnehmer ein Drittel der Sitze im Aufsichtsrat, in Kapitalgesellschaften mit mehr als 2 000 Beschäftigten ist der Aufsichtsrat paritätisch besetzt. Allerdings hat der Vorsitzende des Aufsichtsrates, der immer der Anteilseignerseite angehört, eine Doppelstimme. In der Montanindustrie, die aus historischen Gründen eine Sonderstellung innehat, wird der Aufsichtsrat paritätisch besetzt. Vor und in der Wirtschafts- und Finanzkrise haben Belegschaftsvertretungen immer wieder Alternativkonzepte zu Standortverlagerungen oder Massenentlassungen eingebracht. Sie haben für die langfristigen Interessen ihres Unternehmens gekämpft. Ohne dieses Engagement hätte uns die Krise viel stärker getroffen. Nun gilt es, die Unternehmensmitbestimmung an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Aufgrund einer jüngeren Rechtsprechung des EuGH zur völligen Niederlassungsfreiheit können in Deutschland ansässige Unternehmen mit einer ausländischen Rechtsform geführt werden. In der Folge versuchen eine steigende Zahl von Unternehmen, die deutsche Mitbestimmung hierdurch zu umgehen. Das bedeutet mittlerweile: Während 2006 nur 17 in Deutschland ansässige Firmen mit mindestens 500 Beschäftigten sich über eine ausländische Rechtsform wie zum Beispiel eine britische Limited, eine niederländische B.V. oder eine US-amerikanische Incorporated der deutschen Mitbestimmung entziehen konnten, waren es laut dem Boeckler-Impuls 5/2010 der Hans-Böckler-Stiftung im November 2009 bereits 37. Weder Mitbestimmungsgesetz noch Drittelbeteiligungsgetz greifen in diesem Umfeld. Für die Beschäftigten heißt das: keine demokratische Teilhabe am Unternehmen und damit keine Mitbestimmungsrechte. Es ist aber auch eine ungerechte Behandlung gegenüber allen anderen Unternehmen mit deutscher Rechtsform, die ihrer Belegschaft Mitbestimmungsrechte einräumen. Die Mitbestimmung in Unternehmen ist ein wesentlicher Eckpfeiler unserer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung. Mitbestimmung hat sich bewährt. Die Interessen der Menschen müssen im Vordergrund eines sozial verantwortbaren Wirtschaftens stehen - Stake-holder müssen Vorrang haben, Nachhaltigkeit muss vor Kurzfristigkeit stehen. Mitbestimmungskritiker sagen, die unternehmerische Mitbestimmung sei nicht mehr zeitgemäß, sei Störfaktor und Standortnachteil in Europa. Die Kritiker irren. Es handelt sich nicht um einen "Irrtum der Geschichte". Mitbestimmung ist zeitgemäßer denn je. Das ist die Lehre aus der jüngsten Wirtschaftskrise. Mitbestimmung ist ein Standortvorteil: Sie erhöht Motivation und Produktivität der Mitarbeiter und trägt wesentlich zum nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen bei. Volkswirtschaften profitieren von der Unternehmensmitbestimmung. Unternehmen mit ausgedehnter Mitbestimmung weisen eine gerechtere Einkommensverteilung auf, besitzen eine gute wirtschaftliche Attraktivität, verfügen über eine starke Weltmarktposition, und der soziale Frieden ist weitestgehend sichergestellt. Unternehmensmitbestimmung ermöglicht zuvörderst die Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Selbstverständlich sollen Unternehmen wettbewerbsfähig und profitabel bleiben. Unternehmensmitbestimmung widerspricht dem nicht: Analysen zum Beispiel von Dr. Sigurt Vitols aus dem Jahr 2006 zeigen, dass die Mitbestimmung keine negativen Auswirkungen auf die Eigenkapitalrendite und Börsenbewertung von Unternehmen hat. Die Volkswagen AG lebt das vor: Eine exzellente Marktposition ist bei Volkswagen nicht trotz, sondern wegen einer starken Mitbestimmung und damit einer rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erreicht worden. In der "Financial Times" von heute ist zu lesen, dass die Volkswagen AG sich auf einem massiven Expansionskurs befinde. Neben der paritätischen Mitbestimmung schreibt das VW-Gesetz im Falle von Standortverlagerung und Errichtung von Produktionsstätten eine Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat vor. Die EU-Kommission hat in dieser Regelung - Art. 4, Abs. 2 VW-Gesetz - keine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit gesehen. Um Standortverlagerungen zu erschweren und die Unternehmensmitbestimmung zu stärken, sollten wir auch über eine diesbezügliche Erweiterung der Mitbestimmungsrechte auf alle Kapitalgesellschaften diskutieren. Jedes dritte Großunternehmen und sogar jedes zweite Kleinunternehmen kehrt nach einiger Zeit nach Deutschland zurück. Vieles wäre den Unternehmen und der Belegschaft erspart geblieben, hätte ein Mitspracherecht der Arbeitnehmerseite existiert. Die Europäische Rechtsprechung billigt den nationalen Gesetzgebern auch einen Spielraum für den Schutz von Arbeitnehmerinteressen zu. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Spielraum für die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer nutzen. Die SPD hat bereits im Juni 2007 in ihrem Bericht zur Zukunft der Mitbestimmung in Deutschland und Europa und im Beschluss des SPD-Präsidiums vom 15. März 2010 eine Anpassung der Unternehmensmitbestimmung an die Europäisierung und Internationalisierung der Unternehmen gefordert. Meine Partei und ich wollen die deutsche Mitbestimmung gesetzlich auf Auslandsgesellschaften und Unternehmen mit europäischer Rechtsform mit inländischem Verwaltungssitz ausdehnen, einen gesetzlichen Mindestkatalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte im Aufsichtsrat einführen, die paritätische Mitbestimmung schon auf Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten ausweiten. Das wäre auch ein wirksamer Schutz gegen die schlimmsten Auswirkungen des Finanzmarktkapitalismus. Lassen wir nicht zu, dass der soziale Frieden durch die Umgehung der Unternehmensmitbestimmung gefährdet wird. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften stehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Darum lassen Sie uns gemeinsam für mehr Mitbestimmung und demokratische Teilhabe in Deutschland und in Europa arbeiten. Sebastian Blumenthal (FDP): In dem vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die Linke, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die deutschen Vorschriften über die unternehmerische Mitbestimmung - namentlich die des Drittelbeteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes - auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform gelten, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben. Um diese Forderung zu bewerten, sollten wir uns zunächst mit den im Antrag und in der Begründung formulierten Behauptungen beschäftigen. So wird behauptet: Neue Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Umgehung der deutschen Mitbestimmungsgesetze und die Gefahr einer "Flucht aus der Mitbestimmung" zunehmen. ... Wie eine aktuelle Studie von Juristen der Hans-Böckler-Stiftung ergab, ist die Umgehung deutscher Mitbestimmungsregelungen mit Hilfe ausländischer Rechtsformen mittlerweile zu einem drängenden Problem geworden: Die Zahl der in Deutschland ansässigen Unternehmen, die in Deutschland mindestens 500 Beschäftigte und eine rein ausländische Rechtsform oder eine Kombination mit ausländischer Rechtsform haben (zum Beispiel Limited & Co. KG), ist seit 2006 von 17 auf 37 gestiegen. Bei der erwähnten Quelle handelt es sich um die Studie "Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit ausländischen/kombiniert ausländischen Rechtsformen" aus dem Jahr 2010. Die erwähnte Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist im Antrag der Fraktion Die Linke nicht im Wortlaut wiedergegeben worden - aus gutem Grund. Denn die Bewertung der Studie fällt - im Gegensatz zur eben wiedergegebenen Behauptung - sehr differenziert aus. So heißt es in der Studie im Wortlaut: Die vorliegende Untersuchung beweist einerseits, dass weiterhin das von Mitbestimmungskritikern zuweilen verbreitete Bild einer Sturmflut von Auslandsgesellschaften, die unter Vermeidung der Mitbestimmung in Deutschland tätig werden, nicht mit der Realität übereinstimmt. Andererseits ist festzustellen, dass die Zahl der mitbestimmungsrelevanten Fälle seit Abschluss der Biedenkopfkommission deutlich zugenommen hat (von 17 auf 37). Dies stützt die Forderung, durch eine Erstreckung der Mitbestimmungsgesetze auf Auslandsgesellschaften Rechtssicherheit herzustellen. Es wird also zunächst festgestellt, dass - anders als die Linke in ihrem Antrag zu suggerieren versucht - keine Rede davon sein kann, dass die Gefahr einer "Flucht aus der Mitbestimmung" droht. Vielmehr wird von der Hans-Böckler-Stiftung sogar klargestellt - Zitat -: Angesichts von 694 (quasi)paritätisch mitbestimmten und von circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen lassen diese Zahlen nicht auf eine verbreitete Flucht, die die deutsche gesetzliche Mitbestimmung in Frage stellen könnte, schließen. Wenn wir uns im Ausschuss dieses Themas annehmen, gilt es also, sehr sorgfältig zu prüfen, ob und inwiefern uns - entgegen der Einschätzung der Hans- Böckler-Stiftung - eine "verbreitete Flucht" aus der Mitbestimmung bevorsteht und ob ein Reformbedarf bei der Unternehmensmitbestimmung gegeben ist. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Das Problem ist erkannt: Deutsche Unternehmen unterlaufen die Mitbestimmung, indem sie von der deutschen in eine ausländische Rechtsform wechseln. Eine Regierungskommission empfahl schon 2006 zur Unternehmensmitbestimmung, falls nötig, "Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Mitbestimmung zu treffen". Wenn diese Lücke von Unternehmen genutzt wird, dann muss der Gesetzgeber tätig werden. Nun ist es soweit: Es gibt einen Anstieg von 17 auf 37 Unternehmen, die diese Lücke in den letzten drei Jahren ausnutzten. Bekannte Namen wie H & M, McDonald's Deutschland, Air Berlin, Kühne + Nagel und die Modekette Esprit sind dabei. Bei mehreren Fällen lässt sich eine gezielte Antimitbestimmungsstrategie nachweisen: Hätten H & M, Esprit und Kühne + Nagel die Rechtsform nicht gewechselt, wäre die Mitbestimmung von Beschäftigten im Aufsichtsrat durch die gestiegene Beschäftigtenzahl fällig gewesen. Sie werden sagen: Von 17 auf 37, das ist immer noch nicht viel. Aber wie groß soll der Schaden werden, bevor gehandelt wird? Etwas rückgängig machen ist schwerer als sofort zu handeln. Das erleben wir ja gerade bei dem Thema Leiharbeit. Oder steht jemandem vielleicht der Sinn nach einer schleichenden Aushöhlung der Unternehmensmitbestimmung? Betriebsräte und die Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter in Aufsichtsräten sind für Beschäftigte ein wichtiger Bestandteil der Demokratie in der Arbeitswelt. Sie darf auf keinen Fall aufs Spiel gesetzt werden! In Unternehmen mit über 500 Beschäftigten besteht eine Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat. In Unternehmen mit über 2 000 Beschäftigten stellen Arbeitnehmervertreter die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. Die Mehrheit bleibt trotzdem immer bei den Anteilseignern, da der Vorsitzende doppelt zählt - und den wählen nur die Anteilseigner. Der Aufsichtsrat kontrolliert und berät den Vorstand, prüft den Jahresbericht und entscheidet bei zustimmungspflichtigen Geschäften. Ganz wichtig: Der Aufsichtsrat wählt den Vorstand. So haben Beschäftigteninteressen auch in der Unternehmensführung ein Gewicht. Diese Mitbestimmung wird nun bewusst umgangen, indem Unternehmen von einer deutschen zu einer ausländischen Rechtsform wechseln. Es wäre sträflich, sollte das so weitergehen: Mitbestimmung hat sich in Deutschland bewährt! Ganz praktisch sprechen fünf Gründe für die Annahme unseres Antrags: Erstens. In der Krise hat sich gezeigt: Arbeitnehmermitbestimmung hilft, kurzfristige Unternehmensstrategien zu verhindern und stärkt eine gute Unternehmensführung. Zweitens. Die Lücke im Gesetz wird geschlossen, und die Benachteiligung von Beschäftigten in Unternehmen mit ausländischer Rechtsform hat ein Ende. Drittens. Mitbestimmung über Aufsichtsräte und Betriebsräte verbessert nachweislich die Produktivität des Unternehmens. Viertens. Der Anteil von Frauen in Aufsichtsräten ist fast ausschließlich durch die Arbeitnehmerseite gewachsen: Auch hier leistet die AN-Mitbestimmung eine wichtige Aufgabe. Fünftens. Die Anwendung der deutschen Unternehmensmitbestimmung auf Unternehmen ausländischer Rechtsformen ist EU-konform; das ist durch ein Gutachten bestätigt worden. Wenn man sich all diese Argumente vor Augen führt, sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass es besser ist, über die Ausweitung von Mitbestimmung zu diskutieren statt nur über deren Verteidigung. Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung Gesetze macht, durch die die Probleme der Menschen aufgegriffen werden, und zwar um ihre Lebensumstände zu verbessern und nicht zu verschlechtern. Wir sind so freundlich und weisen kontinuierlich auf Missstände hin: Nun seien auch Sie, die Bundesregierung, so mutig, etwas zu tun. Schließen Sie, die Bundesregierung, die Mitbestimmungslücke und machen Sie sich nicht mitschuldig an der Aushöhlung der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland. Für die Linke ist klar: Es ist an der Zeit, die Mitbestimmung in Deutschland, in Europa und weltweit zu stärken. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch wir beobachten mit Sorge, dass die Errungenschaften der deutschen Unternehmensmitbestimmung durch Unternehmen mit ausländischen Rechtsformen, beispielsweise die britische Limited oder die holländische B. V., untergraben wird. Dazu gehören auch deutsche Scheinauslandsgesellschaften, die ausländische Rechtsformen mit dem Ziel nutzen, die deutsche Unternehmensmitbestimmung zu umgehen. Diese Unternehmen können aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit als ausländische Kapitalgesellschaften in ihrer ursprünglichen Rechtsform in Deutschland, unter Anwendung eines ausländischen Gesellschaftsstatuts, tätig werden und so die Mitbestimmung umgehen. Diese Tatsache wurde bereits 2006 in der Regierungskommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung diskutiert. Aufgrund der wenigen Fälle wurde damals auf eine Empfehlung an den Gesetzgeber, die Bestimmungen zur Unternehmensmitbestimmung auf alle Unternehmen - auch auf die ausländischen Rechtsformen - auszudehnen, verzichtet. Nach wie vor ist die Umgehung der Unternehmensmitbestimmung kein Massenphänomen. Dennoch ist die Zahl dieser Unternehmen mittlerweile deutlich -, von 17 Unternehmen in 2006 auf heute 37 Unternehmen -, gestiegen. Deswegen muss die Bundesregierung handeln und, wie in dem Antrag der Fraktion Die Linke gefordert, die Unternehmensmitbestimmung lückenlos auf alle Unternehmensformen ausdehnen. Das gilt für alle Formen der Unternehmensmitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz und dem Mitbestimmungsgesetz. Diese Umgehung der deutschen Mitbestimmungsrechte ist nicht gerecht; denn die Beschäftigten werden anders behandelt und haben weniger Partizipationsrechte. Die Unternehmensmitbestimmung ist eine historische Errungenschaft, die wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie ist. Damit müssen wir behutsam umgehen, und wir müssen alles dafür tun, dass diese Errungenschaft bewahrt wird. Sie stiftet soziale Wertschätzung und gesellschaftlichen Zusammenhalt und könnte ein Mittel sein, die großen Unternehmen wieder stärker auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Wir haben hier eine rechtliche Lücke, und jedes Unternehmen, das diese Lücke nutzt, macht dieses Problem größer. Deswegen fordern wir die Regierung auf, mit einer gesetzlichen Regelung nicht länger zu warten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1413 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten - Drucksache 17/1581 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Ausschuss für Gesundheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Sabine Weiss, CDU/CSU, Karin Roth, SPD, Helga Daub, FDP, Niema Movassat, Die Linke, Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen. Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Zunächst einmal: Wir alle sind froh darüber, dass die Bundesrepublik Deutschland nach neun Jahren Abstinenz wieder im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation vertreten ist. Und wir sind uns, glaube ich, auch alle darüber einig, dass wir mit Dr. Ewold Seeba einen hochqualifizierten und höchst engagierten Vertreter in diesen Exekutivrat entsandt haben. Seine Arbeit und die Arbeit seines Teams werden wir als Parlamentsabgeordnete mit allen Kräften unterstützen. Deutschland ist drittgrößter Geldgeber der Weltgesundheitsorganisation, und das auch in Zeiten der weltweiten Finanz- und Wirtschaftkrise. Uns ist daran gelegen, dass jeder einzelne Euro, den unsere steuerzahlende Bevölkerung in die WHO investiert, ein gut angelegter Euro ist; Geld, mit dem wir die weltweite Gesundheit stärken. Es geht um die Gesundheit der Menschen weltweit, wohlgemerkt, nicht allein um die Gesundheit der Industriezweige, die auf diesem Gebiet ihr Geld verdienen, oder um die Gesundheit derjenigen, die sich Medikamente und ärztliche Versorgung finanziell leisten können. Wir wollen eine starke und leistungsfähige WHO, auch darin sind wir uns, denke ich, einig in diesem Hause. Wir wollen eine Weltgesundheitsorganisation, die ihre ehrgeizigen Ziele erreichen kann: den "bestmöglichen Gesundheitszustand aller Völker", wie es ihre Verfassung formuliert. Diesem Auftrag stellt sich auch die Bundesregierung während ihrer dreijährigen Mitgliedschaft im Exekutivrat. Nun haben die Antragstellerinnen und Antragsteller der Grünen viel Mühe und Fleiß darauf verwendet, die ihrer Meinung nach vorrangigen Aufgabenbereiche darzustellen. Das Ganze steht dann auch noch unter der Überschrift: "Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten." Sie haben in Ihrem Antrag selbst erfreulich oft festgestellt, dass der Arbeitsansatz der Bundesregierung grundsätzlich begrüßenswert ist. Auf dieser Basis lässt sich ja schon einmal gut arbeiten. Warum dann allerdings die Ziele der Bundesregierung neu ausgerichtet werden müssen, bleibt mir doch schleierhaft. Im Grunde sind wir uns doch darüber einig, dass die Schwerpunkte Stärkung von Gesundheitssystemen und Pandemievorsorge unbestritten in den Zielkatalog gehören. Sie hätten gern den Bereich der Medikamentenversorgung dezidiert auf die Agenda gehoben. Ich hatte, ehrlich gesagt, nie den Eindruck, als sei dieses Aufgabenfeld von der Agenda abgesetzt gewesen. Im Gegenteil: Der kostengünstige Zugang zu wichtigen Arzneimitteln für die Transformations- und Entwicklungsländer steht seit Jahren ganz oben auf unserer Aufgabenliste. Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel ist seit Jahren dabei, Wege zu eröffnen, dass die ärmeren Länder der Welt Zugang zu kostengünstigen Medikamenten erhalten, und dies nicht nur für die gängigen Krankheiten, sondern auch und gerade bei den "vergessenen Krankheiten", bei denen die Hersteller zunächst einmal wenig lukrative Vermarktungschancen sehen. Allerdings, das habe ich auch schon bei der Beratung Ihres Antrags zum Thema Generika gesagt, im Mittelpunkt muss die Frage der Qualität der Arzneimittel stehen. Der weltweite Gesundheitsmarkt ist, Patent hin oder her, eine lukrative Einnahmequelle und der Tummelplatz etlicher rücksichtsloser bis krimineller Geschäftemacher. Hier reicht die plakative Forderung "Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika sichern" nicht aus. Dieses Thema muss der Deutsche Bundestag auch nicht als neues Ziel für die Arbeit in der WHO definieren. Da sind dicke Bretter zu bohren.Da ist die WHO seit Jahren dran, und dabei wird sich der Vertreter der Bundesregierung im Exekutivrat auch nicht in die zweite Reihe stellen, und wir alle tun gut daran, ihn dabei zu unterstützen. Mit dem Arbeitsschwerpunkt "Pandemievorsorge" scheinen sich die Antragstellerinnen und Antragsteller der Grünen etwas schwer zu tun. Aber auch da steht zunächst einmal kein Dissens im Raum: Das Thema selbst wird als wichtig anerkannt. Unterschiede gibt es, was die Rolle der WHO im aktuellen Pandemiegeschehen rund um die Schweinegrippe angeht. Die Sichtweise der Antragsteller scheint eindeutig: Die WHO hat sich in die Fänge der Pharmaindustrie begeben, viel zu früh den Pandemiefall ausgerufen, eine überflüssige Produktion von Impfstoff veranlasst und darüber hinaus die Versorgung der ärmeren Länder gar nicht mehr im Blick gehabt. Die Glaubwürdigkeit der WHO habe darunter gelitten und nun solle die Bundesregierung dafür sorgen, dass dies wieder ins Lot kommt. - Dies ist eine politische Sichtweise, die durchaus nicht von allen geteilt werden muss. Dr. Seeba ist da ganz anderer Auffassung, ich zitiere: Die WHO spielt in der globalen Gesundheitsdebatte eine zentrale, zum Teil normsetzende Rolle. Hervorzuheben sind die Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005, die sich aktuell im Zusammenhang mit der Influenza A/H1N1, der so genannten Schweinegrippe, bewährt haben ... Auch die Generaldirektorin der WHO stellte bei der Eröffnung der 62. Weltgesundheitsversammlung in Genf die Rolle der WHO bei der Pandemievorsorge am Beispiel der Schweinegrippe deutlich und positiv heraus. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, von einer Glaubwürdigkeitskrise der WHO beim Thema Pandemie sprechen, so mag das Ihre politische Auffassung sein. Sie muss dennoch nicht von allen geteilt werden. Vor allem ist sie jedenfalls kein Grund, hier eine Neuausrichtung der Ziele der Bundesregierung vorzunehmen. Die Pandemievorsorge ist erklärtes Ziel der WHO, und die Bundesregierung als Mitglied im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation steht voll und ganz hinter diesem Ziel. Im Übrigen ist Ihre Argumentation zur Rolle der WHO nicht ganz ohne Widersprüche. Auf der einen Seite fordern Sie eine internationale Führungsrolle der Weltgesundheitsorganisation. So steht es in Ihrem Antrag für den Bereich der Stärkung der Gesundheitssysteme. Gleichzeitig attestieren Sie der WHO einen "dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust" beim Thema Pandemievorsorge. Das ist in meinen Augen keine glückliche Methode, für eine weltweite Akzeptanz der WHO zu sorgen. Wenn ich einen Partner stärken will, darf ich ihm nicht im gleichen Atemzug einen "dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust" bescheinigen. Wir haben durch unsere Mitgliedschaft im Exekutivrat die Chance, die Rolle der WHO mitzubestimmen, ihre Arbeit und Effektivität kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig an den Stellschrauben zu drehen, die am Ende zu weltweiter Stärkung und Anerkennung führen. Da braucht es aber keine Neuausrichtung der Ziele, so wie es der vorliegende Antrag Glauben macht. Sie beschreiben im wesentlichen Punkte, die hier im Deutschen Bundestag und im Alltagsgeschäft von Bundesregierung und WHO-Vertretung unstrittig und selbstverständlich sind. Da brauchen wir keine Neuausrichtung, und darüber müssen wir uns hier und heute nicht erneut verständigen.Da, wo Ihr Antrag zuspitzt, im Bereich Pandemievorsorge, im Bereich Generika-Versorgung und beim Thema der sektoralen Budgethilfe, kommen Sie zu politischen Schlussfolgerungen, die wir im Einzelnen nicht unbedingt teilen. Von daher wird die CDU/CSU Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir sollten unsere Zeit und Anstrengung weniger darauf verwenden, gemeinsame Zielsetzungen immer wieder neu einzufordern, sondern diese tatsächlich auch zu erreichen. Karin Roth (Esslingen) (SPD): Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat in den vergangenen Jahren in hervorragender Weise dazu beigetragen, die Weltgesundheit in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. Vieles, was in den Industrieländern selbstverständlich ist, fehlt in den Entwicklungsländern mit verheerenden Auswirkungen. Die WHO als Sonderorganisation der Vereinten Nationen muss sich aus meiner Sicht für die Realisierung der Millenniumsziele im Bereich Gesundheit, zum Beispiel der Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit, der Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, in besonderem Maße einsetzen. Die Verantwortung für eine Verbesserung der Weltgesundheit kann von den 193 Mitgliedstaaten nur sehr unterschiedlich wahrgenommen werden, weil den Entwicklungsländer die finanziellen Mittel fehlen, die Bevölkerung beispielsweise mit ausreichend kostengünstigen Medikamenten zu versorgen oder ein funktionierendes Gesundheitssystem bereitzustellen. Trotzdem, so scheint es jetzt zu sein, haben laut der Generaldirektorin der WHO, Frau Dr. Margaret Chan, die Entwicklungsländer und die Geberstaaten erkannt, dass schlechte Gesundheitsdienste zu weitreichenden volkswirtschaftlichen Verlusten führen. Diese "revolutionäre" Erkenntnis muss dazu führen, dass die Investitionen in die Gesundheitssysteme ebenso wie in die Gesundheitsvorsorge eine hohe Priorität in der Entwicklungszusammenarbeit erhalten. Es ist schon beschämend, dass das Millenniumsziel, die Müttersterblichkeit entscheidend zu reduzieren, bis zum Jahr 2010 kaum erfolgreich umgesetzt wurde. Immer noch sterben jährlich rund 530 000 Mütter, weil sie nicht ausreichend während Schwangerschaft und Geburt versorgt wurden. Es ist Frau Dr. Chan zuzustimmen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Die Frage ist nur, welche Rolle kann hierbei die WHO spielen? Inwieweit hat zum Beispiel die WHO darauf gedrungen, in allen von ihr verfolgten Programmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf die Gleichstellung der Geschlechter im Rahmen einer Genderstrategie zu achten? Es ist doch bekannt, dass gerade Frauen in den Entwicklungsländern die tragende Rolle für eine nachhaltige Entwicklung zukommt und sie gleichzeitig am stärksten von den Problemen in der Gesundheitsversorgung und der mangelnden Prävention betroffen sind. Die Qualität der Gesundheitsversorgung hängt auch von der ausreichenden Verfügbarkeit medizinischen Personals ab. Deshalb muss die WHO darauf drängen, dass ihr Verhaltenskodex für die Rekrutierung medizinischen Personals international eingehalten wird. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dies auch auf nationaler Ebene einzuhalten. Beim Thema HIV/Aids sind durchaus Erfolge zu verzeichnen; das ist auch bitter nötig, denn in den letzten 20 Jahren gab es einen Anstieg der HIV-Infizierten von 7,5 Millionen Betroffenen auf über 33 Millionen im Jahr 2008. Täglich infizieren sich 7 400 Menschen neu. Täglich sterben 5 500 Menschen an HIV/Aids, dabei tragen die Frauen die Hauptlast dieser Epidemie. In Subsahara-Afrika sind 60 Prozent der Infizierten weiblich. Diese weltweite Epidemie, die jedoch vor allem das südliche Afrika trifft, ist eine Herausforderung für alle, insbesondere für die betroffenen Länder, die Geberstaaten, die Wissenschaft, die Pharmaindustrie und die Hilfsorganisationen. Die WHO hat eine globale Verantwortung für den Aufbau der Gesundheitssysteme. Dabei geht es um eine bessere Betreuung der Patienten und einen effizienteren Einsatz der Medikamente, um eine höhere Wirksamkeit zu erreichen. Die Verbesserung der Verfügbarkeit der Medikamente und vor allem der Wirksamkeit durch nachhaltige Therapiebegleitung auf der einen Seite ist für die Menschen in den Entwicklungsländern existenziell. Dazu gehört auch die Bezahlbarkeit der Medikamente, indem beispielsweise der Zugang zu und die Produktion von Generika nicht behindert, sondern gefördert werden. Auf der anderen Seite geht es auch um die Entwicklung von Medikamenten zur Prävention und damit um die Verhinderung von Epidemien. Ein leuchtendes Beispiel der Präventivmedizin ist die Ausrottung der Pocken schon vor 30 Jahren. Jetzt geht es darum, die drei großen Krankheiten mehr als bisher ins Visier zu nehmen. Ein wichtiges Feld zur Entwicklung von Medikamenten für die vernachlässigten Krankheiten ist die Unterstützung globaler Forschungsnetzwerke im Rahmen von Produktentwicklungspartnerschaften, PDPs. Hierzu bedarf es einer mit den Akteuren abgestimmten Vorgehensweise, um Doppelstrukturen zu vermeiden. In Zukunft muss geklärt werden, wie die Zusammenarbeit zwischen WHO, dem Global Fund, GAVI und anderen multilateralen Initiativen abgestimmt werden kann. Die WHO müsste eine führende, koordinierende Rolle bei der Festlegung der Forschungsinitiativen auch für die vernachlässigten Krankheiten übernehmen und dabei gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten und der EU entsprechende Forschungsprogramme initiieren. Die WHO mit ihrer globalen Expertise seit über 60 Jahren muss im Rahmen der globalen Gesundheitspolitik eine aktive Rolle spielen. Dazu muss sie von den Mitgliedstaaten finanziell in die Lage versetzt werden. Eine Unterstützung der multilateralen Organisationen steht dabei nicht im Widerspruch zu einer effizienten deutschen Entwicklungspolitik. Wenn die WHO zusätzlich auf freiwillige Beiträge der Mitgliedstaaten angewiesen ist, um ihre Arbeit zu leisten, so stellt sich die Frage, ob nicht ein anderer Finanzierungsmechanismus notwendig ist, um ein nachhaltiges Wirken zu gewährleisten. Im Rahmen der Diskussion über die Reformen innerhalb der WHO sollte die Bundesregierung ihr bisheriges Engagement bestätigen und prüfen, ob nicht zusätzliche freiwillige Beiträge zur Verbesserung der notwendigen Koordinierungsaufgaben erforderlich sind. Es ist keine Frage, der Weltgesundheitsorganisation kommt in der jetzigen Phase der Globalisierung eine bedeutendere Rolle als bisher zu. Vieles muss multilateral geregelt werden, ohne die nationale Verantwortung außer Acht zu lassen. Die neuen globalen Netzwerke, die im Rahmen von Stiftungen und anderen Nichtregierungsorganisationen zusätzliche sinnvolle Arbeit leisten, sollten stärker als bisher auch in kooperative Strukturen der WHO aufgenommen werden. Das Zusammenwirken aller in der globalen Gesundheitspolitik Verantwortlichen kann somit zu einer größeren Dynamik und auch zu mehr Effizienz führen. Helga Daub (FDP): Vorab möchte ich den Kollegen und Kolleginnen von Bündnis 90/Die Grünen sagen, dass ich mich sehr freue, dass sie in ihrem Antrag so viel Lob für die Arbeit der Bundesregierung finden. Und ich bin sicher, dass ihre Erwartungen auch erfüllt werden, wenn es um die Rolle Deutschlands im Exekutivrat der WHO geht. Als drittgrößter Geber zum regulären Haushalt der Weltgesundheitsorganisation hat Deutschland eine starke Stimme, die die Bundesregierung dafür nutzen muss und nutzen wird, essenzielle Beiträge zur Verbesserung der Weltgesundheit zu leisten. Gesundheit ist die Voraussetzung für Entwicklung. Gesundheit ist im Koalitionsvertrag zu Recht als einer der Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeit genannt worden. Die Einsetzung des Unterausschusses "Gesundheit in den Entwicklungsländern" ist nur ein Zeichen des Willens, diesen Bereich zum Erfolg zu führen. Das heißt, der Deutsche Bundestag erkennt die Bedeutung des Themas an und will sich den drängenden Fragen zur Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern nachdrücklich widmen. Die Fortschritte bei der Erreichung der Gesundheits-Milleniums-Ziele sind noch nicht zufriedenstellend, das wissen wir natürlich - über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Auch stimmen wir als FDP in vielen Bereichen den Schwerpunktsetzungen der Vorgängerregierungen in diesem Bereich zu, sei es die Stärkung der Gesundheitssysteme oder die bessere Koordinierung der vielen globalen Initiativen. Es ist wichtig, dass dies weitergeführt wird. Wo wir aber Handlungsbedarf sehen, ist in der Umsetzung der gesteckten Ziele und in gewisser Weise auch in Bezug auf die Maßnahmen. Finanzierung von Gesundheit ist für uns ein produktives Investment, das dem Dreiklang von Armutsbekämpfung, Menschenrechten und Wirtschaftswachstum zugutekommt. Nur gesunde Menschen sind in der Lage, sich selbst zu helfen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass dort, wo Regierungen noch nicht einmal in der Lage sind, eine Basisgesundheitsversorgung zu gewährleisten, viele private und gemeinnützige Projekte mit der Bereitstellung von Absicherungen gegen Gesundheitsrisiken einen wichtigen Beitrag leisten. Damit ist die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und dem Privatsektor in Deutschland und in den Partnerländern zentral für den Erfolg unserer Politik. Die Rolle der WHO als Koordinator darf hier nicht unter-, aber auch nicht überschätzt werden. Bereits jetzt ist die WHO intensiv in Initiativen zur Gesundheitssystemstärkung involviert. Erlauben Sie mir, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die als Beispiel - und es ist ein gutes Beispiel - genannte Plattform der GAVI Alliance, des GFATM und der Weltbank seit einigen Monaten nicht mehr "Joint Platform For Health Systems Strengthening" heißt, sondern "Health System Funding Platform". So einig wir uns in den Grundsätzen der Stärkung der Gesundheitssysteme und der internationalen Zusammenarbeit auch sind - die Frage der Finanzierungsmöglichkeiten bewerten wir als Liberale anders. Gut 50 Prozent unserer Gesundheitsmittel werden über multilaterale Kanäle geleitet. Selbstverständlich bleibt Deutschland aktiver Mitspieler und Partner auf globaler Ebene. Aber: Multilaterale Ansätze sind nicht automatisch effizienter als bilaterale. Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich die Initiative des BMZ, dass bei jeder einzelnen Organisation detailliert geprüft werden soll: Wie effizient arbeitet sie? Welche Möglichkeiten des inhaltlichen Einflusses bieten sich? Und vor allem: Wie transparent gestaltet sich die Kontrolle der verwendeten Mittel? Effizienz und Transparenz: Das sind auch die Gründe, warum wir die Budgethilfe, auch die sektorale Budgethilfe, wesentlich differenzierter betrachten als die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Der Forderung ihres Antrags, zur Gesundheitssystemstärkung das Instrument der sektoralen Budgethilfe verstärkt heranzuziehen, können wir daher keinesfalls zustimmen. In der Frage, wie die Rahmenbedingungen für die Verfügbarkeit von essenziellen Medikamenten verbessert werden können, liegen wir erfreulicherweise über Koalitions- und Fraktionsgrenzen hinweg sehr nah beieinander. So stimmen wir in der Einschätzung überein, dass die WHO ihre Kooperation mit der World Trade Organisation, WTO, und der World Intellectual Property Organisation, WIPO, verstärken möge. Ich würde die Aufzählung gerne noch um die United Nations Conference on Trade and Development, UNCTAD, ergänzen. Aus unserer Zusammenarbeit im AWZ kennen wir bereits unsere abweichenden Meinungen bezüglich Handelsabkommen und -einschränkungen bei Medikamenten, insbesondere Generika. Auch wir begrüßen natürlich den möglichst umfassenden Zugang zu Medikamenten, insbesondere für die ärmsten Länder. Allerdings darf man hier auch den Schutz der Bevölkerung dieser Länder nicht außer Acht lassen. Kontrollen gewährleisten auch Schutz vor minderwertigen Medikamenten oder gar Fälschungen. Im Hinblick auf Schwellenländer sollte versucht werden, eine Balance zwischen gesundheits- und handelspolitischen Zielen zu erreichen. Unsere inhaltlichen Differenzen beschränken sich also auf einige wenige Punkte. Auch wenn wir dem Antrag aus den genannten Gründen nicht zustimmen können, bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam in den zuständigen Ausschüssen zielführende Akzente setzen und politische Rahmenbedingungen schaffen können, um die Stärkung von Gesundheitssystemen weiter voranzubringen und dem deutschen Sitz im Exekutivrat der WHO auch und gerade von entwicklungspolitischer Seite gestaltendes Gewicht geben können. Niema Movassat (DIE LINKE): Die Gesundheitslage ist für die meisten Menschen auf der Welt auch im 21. Jahrhundert katastrophal: Knapp 13 Millionen Menschen sterben jährlich an Krankheiten, die eigentlich behandelbar wären. Jährlich sterben 2 Millionen Menschen an Malaria, weil ihnen der nötige Zugang zu den unbezahlbaren und patentierten Arzneimitteln fehlt. Auf der anderen Seite verdienen Firmen Milliarden an Blockbustern für Wohlstandsleiden wie Haarausfall, Schlaf- oder Erektionsstörungen. Laut WHO ist knapp ein Drittel der Weltbevölkerung vom Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln abgeschnitten. Die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, musste die sogenannte internationale Gemeinschaft erst vor wenigen Wochen erneut dazu aufrufen, sich unverzüglich für die Umsetzung der UN-Entwicklungsziele einzusetzen. Vier der acht im Jahr 2000 anvisierten Ziele befassen sich mit Gesundheitsfragen. Die bisherige Bilanz ist ein erbärmliches Zeugnis für die mangelnde Solidarität der Industriestaaten. Europa, die USA und Japan verbrauchen alleine 83 Prozent der weltweiten Arzneimittel. Immer noch hat die Sicherung der eigenen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor Menschenleben. In den Bereichen Verbesserung der Müttergesundheit wurden gerade einmal 9 Prozent, bei der Verringerung der Kindersterblichkeit 32 Prozent der Millenniumsmarken erreicht. Zur tatsächlichen Umsetzung der Millenniumsziele wären schon vor Jahren eine Abkehr vom neoliberalen Dogma und eine Hinwendung zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung unabdingbar gewesen. Nur so hätten Entwicklungsländer eigene funktionierende Gesundheitssysteme aufbauen können. Der vorliegende Antrag der Grünen trägt den Titel "Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten". Darin steht nichts Falsches, aber leider auch nichts, wodurch die vorhandenen Probleme grundsätzlich gelöst werden könnten. Wenn wir nicht endlich bereit sind, mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen und die richtige Politik auch gegen die Interessen der Pharmaindustrie durchzusetzen, wird sich die Situation nicht verbessern. Institute mit dem Forschungsschwerpunkt "vernachlässigte Krankheiten", zum Beispiel das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, brauchen endlich mehr öffentliche Finanzmittel. Die Linke hat ihre Vorstellungen zu diesem Thema bereits in der letzten Legislaturperiode in dem Bundestagsantrag "Öffentlich finanzierte Pharmainnovationen zur wirksamen Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen" detailliert dargestellt. Die Bundesregierung muss sich auf europäischer Ebene endlich dafür einsetzen, dass im Sinne der Beschlüsse der WHO keine weitere Verschärfung des weltweiten Schutzes von Verwertung- und Eigentumsrechten an pharmazeutischen Innovationen stattfindet. Dies betrifft TRIPS-plus-Bestimmungen ebenso wie die ACTA-Verhandlungen. Die EU und mit ihr Deutschland betreiben verhängnisvollerweise derzeit jedoch eine entgegengesetzte Strategie. Das kurz vor dem Abschluss stehende Freihandelsabkommen der EU mit Indien gefährdet die weltweite Versorgung von Aids-Kranken mit bezahlbaren antiretroviralen Medikamenten massiv. "Ärzte ohne Grenzen" bezieht derzeit 80 Prozent der zur Behandlung von HIV-Kranken benötigten Präparate vom indischen Generikamarkt. Sollten die Patentlaufzeiten verlängert und eine Datenexklusivität, wie von der EU geplant, umgesetzt werden, hätte dies unmittelbare Folgen für die Überlebenschancen Hunderttausender Menschen. Dies sind nur zwei von zahlreichen Beispielen, die die grundsätzliche Stoßrichtung der von der EU derzeit mit mehreren Ländern angestrebten Freihandelsabkommen verdeutlichen. Mit großem politischen Druck drängt die Europäische Union zum Abschluss von Abkommen, die soziale, ökologische und menschenrechtliche Auswirkungen auf die Menschen in den betroffenen Ländern ausblendet. Die Linke lehnt diese Freihandelsabkommen grundsätzlich ab. Nur solidarische Wirtschaftsbeziehungen, die den Bedürfnissen der Menschen Vorrang einräumen vor den Interessen internationaler Konzerne, werden die Gesundheitslage in den Ländern des Südens nachhaltig verbessern. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die globale Gesundheit verbessern, das ist der Auftrag der Weltgesundheitsorganisation. Deutschland ist drittgrößter Geber zum regulären Haushalt und noch bis 2011 Mitglied des Exekutivrates, der die WHO-Versammlung vorbereitet. Damit haben wir einen besonderen Einfluss und eine herausragende moralische Verpflichtung, wichtige Weichenstellungen zur Verbesserung der globalen Gesundheit voranzutreiben. Die Bundesregierung verkennt die Realität, wenn sie die Gesundheit in Entwicklungsländern einseitig durch das Engagement vor Ort nachhaltig verbessern will und dabei weitere Faktoren wie Patentrecht, Medikamentenhandel, Forschung und Entwicklung stiefmütterlich behandelt. Wir müssen uns vor Ort engagieren, Wirkung wird dies aber nur zeigen, wenn die internationalen Rahmenbedingungen stimmen, auf die die Bundesregierung direkt über die EU und vor allem in der WHO Einfluss nehmen muss. Diese Einflussnahme ist bisher leider nicht zu erkennen. Zwei Beispiele: Forschung und Entwicklung finden noch immer größtenteils in Westeuropa und Nordamerika statt; doch leider profitieren Entwicklungsländer kaum davon. Seit vielen Jahrzehnten hat es keine ausreichenden politischen Vorgaben gegeben. Im Gegenteil: Die EU generiert sich mehr als Interessenvertreter der europäischen Pharmaindustrie. Zwischen 1974 und 2004 kamen 1 556 neue Medikamentenwirkstoffe auf den Markt. Acht Medikamente entfallen auf Malaria, Tuberkulose und alle anderen - völlig vernachlässigten - Tropenkrankheiten. Auf der anderen Seite werden jedes Jahr Potenzmittel im Wert von circa 4 Milliarden Dollar verkauft. Der Markt der Lifestyle-Medikamente wächst unaufhaltsam. Das Problem besteht seit Jahrzehnten. Die Kanzlerin hat es im Juni 2009 immerhin geschafft, die Zuständigkeit für diese Forschung in ihrem Kabinett zu klären; sie liegt nun beim Forschungsministerium. Viel passiert ist in der Förderung der Forschung zu vernachlässigten Krankheiten trotzdem nicht, und in der Schwerpunktsetzung der Bundesregierung für die WHO taucht der Punkt überhaupt nicht auf. Ebenso wenig sind Generikaproduktion und -handel Teil der Agenda der Bundesregierung in der WHO. Die Gesundheitssituation in den Entwicklungsländern verlangt solidarisches, globales Handeln. Die Menschen dort sind auf günstige Generika angewiesen! Momentan nutzen 92 Prozent derjenigen, die in Entwicklungsländern gegen HIV behandelt werden, Generika, die meisten davon aus Indien. Mit den TRIPS-Verhandlungen und im Rahmen der Doha-Erklärung von 2001 wird zu Recht international anerkannt, dass die öffentliche Gesundheit weltweit über dem Recht auf Patentschutz und Profit steht. Trotzdem versucht die EU mit starker Unterstützung der Bundesregierung derzeit ein Freihandelsabkommen mit Indien abzuschließen, das einen strikten Patentschutz beinhaltet. Völlig inakzeptabel ist, dass dieses angestrebte TRIPS-Plus-Abkommen noch schärfere Bedingungen enthalten soll als international üblich. Damit würde die Generikaproduktion massiv behindert. Für viele Menschen in den Entwicklungsländern würde dies einem Todesurteil gleichkommen. Das gleiche Muster findet sich auch in Verhandlungen zu Freihandelsabkommen mit lateinamerikanischen Staaten. Die Bundesregierung macht sich international unglaubwürdig. Es ist elementar, hier ein international kohärentes Vorgehen zu entwickeln, welches die Medikamentenversorgung in Entwicklungsländern gewährleistet. Dies müsste Schwerpunkt der deutschen Bemühungen in der WHO sein. Leider verzichtet die Bundesregierung darauf. Der Fokus der Bundesregierung, die Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern zu stärken, ist grundsätzlich zu begrüßen. Der internationale Schwung, der derzeit in diese Debatte kommt, muss genutzt und vorangetrieben werden. Gute, letztlich multilaterale Ansätze kommen zum Beispiel vom Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose, von GAVI, DNDi und der Weltbank. Die WHO muss hier eine Führungsrolle übernehmen, die Initiativen bündeln und zusammenführen. Ein wesentlicher Aspekt dieser Ansätze ist die Gemeinnützigkeit. Leider wird auch im Bereich "Gesundheitssysteme und soziale Sicherung" immer deutlicher, dass die Regierungskoalition die Bedeutung der Gemeinnützigkeit nicht verstanden hat. Die deutsche Versicherungswirtschaft, unterstützt durch die Bundesregierung und gefördert durch das BMZ, greift in den inzwischen schwer umkämpften internationalen Mikroversicherungsmarkt ein. Gleichzeitig unterstützt die Bundesregierung massiv den Fonds "Leapfrog", der stolz auf seiner Homepage verkündet, er generiere "strong returns for investors"! Die schwarz-gelbe Koalition muss sich entscheiden, ob sie sich für die "Returns" der deutschen Versicherungswirtschaft einsetzen will oder ob sie zum Aufbau eines tragfähigen Versicherungswesens in den Entwicklungsländern beitragen will. Momentan bestehen diesbezüglich erhebliche Zweifel. Die Systematik ist klar: Sobald deutsche und europäische Interessen auf dem Spiel stehen, taucht die Bundesregierung entwicklungspolitisch ab, ignoriert Fragen der globalen Gesundheit und verschreibt sich vorwiegend der Wirtschaftsförderung. Selbst wo ein durchaus begrüßenswerter Schwerpunkt gesetzt wird, in diesem Fall bei der Gesundheitssystemförderung, kann es sich die Bundesregierung offensichtlich nicht verkneifen, auf die Schaffung von Exportmärkten für deutsche Firmen zu setzen. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn von deutscher Entwicklungszusammenarbeit auch deutsche Firmen profitieren. Entwicklungspolitik kann aber kein Mittel zur Förderung deutscher Großkonzerne sein. Neben dem Schwerpunkt Gesundheitssystemstärkung möchte die schwarz-gelbe Koalition die Pandemievorsorge ins Visier nehmen. Die WHO hat im Zuge der sogenannten Schweinegrippepandemie massiv an Glaubwürdigkeit verloren - bei uns in Deutschland, aber vor allem international in Entwicklungs- und Schwellenländern. Warum wurde die Definition der Pandemiestufe 6 geändert? Welche Rolle spielten große Pharmakonzerne in diesem Prozess? Zum Beispiel sind einige Mitglieder der "Strategic Advisory Group of Experts", SAGE, die die WHO zur Impf- und Immunisierungspolitik berät, nachweislich finanziell von Pharmaunternehmen abhängig. Mittlerweile steht das Pandemiemanagement der WHO weltweit in scharfer Kritik. Im Januar hat es im Europarat eine sehr aufschlussreiche Anhörung zu diesem Thema gegeben, die die Zweifel am Vorgehen der WHO vergrößert hat. Einer Einladung zu einer zweiten Anhörung des Europarates Ende März ist die WHO überhaupt nicht mehr gefolgt. Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern regt sich zusehends Widerstand gegen das Vorgehen der WHO. Wir können von Glück reden, dass die sogenannte Schweinegrippe ein Fehlalarm war. Bei einer wirklichen Gefahr wäre es schlecht um die Versorgung der Menschen in Entwicklungsländern bestellt gewesen. Mexiko musste sich Impfdosen von Kanada leihen. Indonesien stellte bereits 2007 während der so genannten Vogelgrippe die Zusammenarbeit mit der WHO ein, da die Impfstoffversorgung für Entwicklungsländer katastrophal war. Es liegt nun an der schwarz-gelben Koalition zu handeln und die Initiative zu ergreifen. An Ansatzpunkten mangelt es nicht: Die WHO muss die Kooperation mit WTO und WIPO verstärken. Dabei muss sie mit Unterstützung der Bundesregierung das Thema globale Gesundheit vehement auf die Tagesordnung bringen. Wir erleben derzeit in vielen bi- und multilateralen Verhandlungen starke Angriffe auf TRIPS-Flexibilitäten zur Sicherung der öffentlichen Gesundheit. Die WHO muss hier ein ernstzunehmender Gegenspieler werden. Die Forschung zu vernachlässigten Krankheiten wird in der WHO diskutiert; hier gibt es viele gute Ansätze. In der Praxis gehen die Entwicklungen jedoch nur langsam voran und werden häufig von der Zivilgesellschaft getrieben. Hier bedarf es eines klaren Bekenntnisses der Bundesregierung und einer schnellen Umsetzung von Programmen in Deutschland und international über die WHO. Die Gesundheitssystemstärkung muss sowohl in der WHO als auch bilateral vorangetrieben werden. Wo immer es die Governance-Kriterien zulassen, muss durch sektorale Budgethilfe ein langfristig selbsttragendes System in Eigenregie der Partnerländer unterstützt werden. Die Vorgänge im Zusammenhang mit der H1N1-Pandemie müssen aufgeklärt werden, und es müssen Konzepte entwickelt werden, wie in Zukunft eine objektive Beurteilung der Lage und eine globale Versorgung aller Menschen erreicht werden können. Die WHO hat hierzu bereits eine Kommission eingesetzt. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass diese nicht zur Farce wird, dass umfassend aufgeklärt wird und dass konkrete Vorschläge ausgearbeitet werden. Deutschland ist nach neun Jahren Pause seit 2009 wieder im Exekutivrat der WHO vertreten, und wir haben Einfluss auf die zukünftige Ausrichtung der WHO. Es wird Zeit, dass wir das kleinkarierte egozentrische Denken hinter uns lassen und das vorantreiben, was Ziel der WHO ist: die globale Gesundheit! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1581 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen - Drucksache 17/1742 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul, CDU/CSU, Ute Vogt und Hans-Joachim Hacker, SPD, Judith Skudelny, FDP, Katrin Kunert, Die Linke, Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Der Sport leistet für die Aktivierung und den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft unverzichtbare Beiträge, die es zu fördern gilt. Darüber besteht Einigkeit, und genau so haben es die Koalitionspartner der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion im Koalitionsvertrag festgeschrieben. In dem Antrag der Linksfraktion, der hier heute beraten wird, ist zu lesen, dass zur Erfüllung dieser Förderungsaufgabe ein hinreichender Zugang zu Sportangeboten bestehen muss. Weiter sei die Bundesregierung aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung in der Pflicht, Rahmenbedingungen für die Entfaltung des Breitensports zu schaffen. Und, dass zu diesem Zweck eine ausreichende Zahl an wohnortnahen und gut zu erreichenden Sportanlagen vorgehalten oder geschaffen werden müsse. Auch in diesem Punkt besteht Einigkeit. Der Sport, hier insbesondere der Schul-, Universitäts- und Breitensport, ist für eine motorische Entwicklung vor allem von Kindern und Jugendlichen, aber ebenso für die Gesundheit aller anderen Bevölkerungsgruppen unerlässlich. Rechtlich verbindliche Regelungen dafür zu schaffen, dass der Sport von allen Teilen der Gesellschaft ausgeübt werden kann, ist daher eine wichtige Aufgabe der Politik. Diese wichtige Aufgabe hat die damalige christlich-liberale Bundesregierung bereits im Jahre 1991 erkannt. Sie hat sich dieser Verantwortung gestellt und mit der 18. BImSchV, der sogenannten Sportanlagenlärmschutzverordnung, genau diese rechtlich verbindlichen Regelungen geschaffen. Diese Verordnung, die eine Konkretisierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes darstellt, bewirkt nämlich genau das, was der hier diskutierte Antrag nach Aussage der Linksfraktion zum Ziel hat: Sportanlagen werden, als Bereicherung des sozialen und kulturellen Lebens, durch diese Verordnung mit den ihnen gebührenden Privilegien versehen und eben nicht genauso behandelt, wie etwa eine störende Industrieanlage. Dass diese Privilegierung greift und rechtlich Bestand hat, zeigt sich auch mit Blick auf die Rechtsprechung zu diesem Thema. Anders, als es uns die Linksfraktion hier weismachen will, gibt es nämlich nicht etwa Hunderte Verfahren, bei denen im Konflikt zwischen Sportbelangen und Anwohnerinteressen dem Breiten- oder Spitzensport eine Absage erteilt worden wäre. Ich sage es noch konkreter: Die Recherche in den Rechtsprechungsdatenbanken belegt, dass schon die Zahl der Fälle, in denen ein Gerichtsverfahren überhaupt nur eröffnet wurde, seit der Einführung der 18. BImSchV drastisch zurückgegangen ist. Die Zahl der Entscheidungen zulasten des Weiterbetriebes einer Sportanlage in diesen Verfahren tendiert sogar gegen null. Die Linksfraktion scheint nun der Auffassung zu sein, die Privilegierung ginge nicht weit genug. Nur so ist zu verstehen, dass in ihrem Antrag gefordert wird, Sportlärm solle gar nicht erst als Lärm im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes qualifiziert werden. Das heißt im Klartext, dass Gerichtsverfahren der Anwohner gegen Sportanlagen grundsätzlich erfolglos wären. Eine solche Regelung wäre verfassungsrechtlich äußerst bedenklich - schließlich würde durch sie den Anwohnern der grundgesetzlich garantierte effektive Rechtsschutz abgeschnitten. Gerade im Fall von Lärmemissionen verbietet sich zudem eine pauschale Beurteilung der Umgebungsbeeinträchtigung. Die Störungsintensität hängt vielmehr entscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, der Frequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daher zwingend notwendig, in jedem einzelnen Fall zu bewerten, wie intensiv die Belastung der Umgebung tatsächlich ist. Unter diesen Aspekten frage ich mich, wie die Forderung nach bedingungsloser Privilegierung der Sportanlagen mit der im selben Antrag von der Linksfraktion gestellten Forderung nach einem angemessenen Ausgleich der Belange der Sporttreibenden und der Anwohner in Einklang zu bringen sein soll. Ein solcher Ansatz ist völlig ungeeignet, wenn nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden soll. Vielmehr ist durch die Sportanlagenlärmschutzverordnung, die im JURIS-Ausdruck auf elf Seiten Text ausschließlich und umfassend dieses Thema behandelt, ein Rechtsregime gegeben, dass den Besonderheiten dieser Konstellation, der Privilegierungsnotwendigkeit von Sportanlagen einerseits und dem ebenso erforderlichen Anwohnerschutz andererseits, angemessen Rechnung trägt. Das Gleiche gilt auch für die Änderungen, die die Linksfraktion im Bereich des Bauplanungsrechts vorschlägt, nämlich jede Sportanlagen bedingungslos in jedem Wohngebiet zuzulassen. Die Einrichtung von reinen Wohngebieten und Kleinsiedlungsgebieten durch den Gesetzgeber dient dem berechtigten Interesse der Anwohner, vor Beeinträchtigungen durch andere bauliche Nutzungen geschützt zu sein. Gleichwohl ist das Interesse der Bewohner dieser Gebiete an ortsnah eingerichteten Sportanlagen im Gesetz durch eine Zulassungsmöglichkeit für diese Anlagen berücksichtigt. Dass die Zulassung von Sportanlagen an bestimmte Kriterien geknüpft ist und einer besonderen Prüfung im Einzelfall bedarf, ist wiederum nur dem angemessenen Ausgleich zwischen Anwohnerinteressen und dem Interesse der Sporttreibenden geschuldet. Eine pauschale, bedingungslose Zulassung aller Arten von Sportanlagen, wie sie hier gefordert wird, ist daher in solchen Wohngebieten fehl am Platze. Der Gedanke, der dem hier diskutierten Antrag zugrunde liegt, nämlich den Breitensport für alle Altersgruppen und insbesondere für Kinder und Jugendliche zu ermöglichen, ist allerdings richtig und auch als Aufgabe der Koalition bestimmt worden. Durch die hier vorgeschlagene Umsetzung würden aber völlig unnötig die präzisen Regelungen des bereits bestehenden Rechtsregimes beseitigt und durch generalisierte Regelungen ersetzt, die eine Berücksichtigung der ebenfalls berechtigten Anwohnerinteressen nicht mehr ermöglichen. Eine solche bewusste Verschlechterung des Regelungszustandes, durch die obendrein keine direkte Verbesserung für die Sportförderung erreicht wird, kann und wird durch die CDU/CSU-Fraktion nicht unterstützt werden. Ute Vogt (SPD): Diese Initiative für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen wäre nicht notwendig, wenn die Bundesregierung ihrer Arbeit nachkommen und die Beschlüsse des Parlaments umsetzen würde. Denn am 2. Juli letzten Jahres hat das Parlament im Rahmen eines Antrags, Drucksache 16/13578, unter anderem Folgendes beschlossen: Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, ... die Lärmschutzbestimmungen gemeinsam mit den Bundesländern so zu verändern, dass Sport- und Spielplätze nicht mehr so stark in ihrer Nutzung eingeschränkt und somit dringend benötigte Bewegungsräume eingeengt werden. Hierzu sind mögliche kurzfristige Vorschläge zu unterbreiten ... Nur war es aufgrund der Bundestagswahl jedenfalls dem sozialdemokratischen Teil der damaligen Regierung leider nicht mehr möglich, dieses Votum umzusetzen. Aber ich wüsste nicht, was den christdemokratischen Teil, der damals wie heute regiert, daran hindert, diesen Beschlüssen Taten folgen zu lassen. Es besteht großer Handlungsbedarf! Es sind nicht nur Sportplätze, denen das Aus droht. Auch die Zahl der Bolzplätze wird immer kleiner, weil Anwohner gegen diese klagen - und sich dabei auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz berufen. Auch in meinem Wahlkreis Stuttgart sind bereits Sport- und Bolzplätze von Schließung bedroht oder nur noch unter großen Einschränkungen nutzbar. Für Jugendliche gerade in größeren Städten ist dies eine fatale Entwicklung. Auf den Bolzplätzen findet Integration statt, bewegen sich Jugendliche, statt fernzusehen, und dort können sie Zeit sinnvoll miteinander verbringen. Man kann sich Kampagnen für mehr Bewegung, gesunde Ernährung und bewusstere Lebensweisen komplett sparen, wenn gleichzeitig die Freiräume und Spielflächen immer weniger werden. Wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, werden immer mehr Plätze schließen müssen. Diese dann wieder in Betrieb zu nehmen, dürfte sicher um einiges schwieriger werden, als bestehende Anlagen zu erhalten. Der vorliegende Antrag schweigt jedoch über alles, was über Sportplätze hinausgeht, und greift damit zu kurz. Richtig ist, dass viele Vereine darauf angewiesen sind, dass wir den gesetzlichen Rahmen ändern, weil sonst vielerorts der Breitensport nicht mehr stattfinden kann. Aber der SPD geht es nicht allein um den organisierten Sport. Wir möchten auch denjenigen Jugendlichen eine Chance geben, die nicht in Vereinen, sondern eben auf Bolzplätzen ihre Freizeit verbringen. Ich will offen sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob die im Antrag vorgeschlagene Lösung in Form einer Einzelauflistung von Ausnahmen in § 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz der zielführende Ansatz ist, der unsere Probleme lösen kann. Aber wir wissen, dass wir schnell eine gesetzliche Neuregelung brauchen. Die Bundesregierung hat bereits den Auftrag, uns Lösungsansätze vorzuschlagen. Ich fordere sie daher auf, die notwendigen Vorschläge nicht nur in Bezug auf Sportstätten schnell vorzulegen, sondern gleich den vorliegenden SPD-Antrag zur Privilegierung von Kinderlärm und die Verbesserung der Nutzung von Bolzplätzen dabei einzubeziehen. Das Thema verdient eine ausführliche Debatte, und es erfordert ein zügiges Handeln der Bundesregierung. Hans-Joachim Hacker (SPD): Sport gehört zum Leben, Sport gehört in unser Leben. Als wichtiger Teil gesellschaftlicher Aktivitäten gehören damit kleinere und größere Sportplätze oder Sporthallen in unsere Mitte. Das führt immer wieder zu Konflikten; denn es bleibt nicht aus, dass die Sportlerinnen und Sportler angefeuert werden, dass es auch Geräusche gibt, wenn der Ball in ein Tor fliegt oder gegen eine Wand prallt. Wir wollen aber, dass Sport in unseren Städten und Gemeinden "um die Ecke" getrieben werden kann, dass man nicht weit raus in unbewohnte Gegenden fahren muss, um Fußball oder Tennis zu spielen. Wir können die Konflikte um Lärm nicht wegdiskutieren. Wir brauchen dazu Rücksichtnahme und Toleranz - Rücksicht auf Anwohnerinnen und Anwohner, Toleranz für Sportlerinnen und Sportler. Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfach mit dem Thema Sport und Lärm beschäftigt. Ich möchte nur an einen Antrag erinnern. Im vergangenen Jahr beschloss der Bundestag den Antrag "Sport fördert Integration". Mit diesem Beschluss der damaligen Koalitionsfraktionen wurde die Bundesregierung aufgefordert, kurzfristig Vorschläge zu unterbreiten, die Lärmschutzbestimmungen gemeinsam mit den Bundesländern so zu verändern, dass Sport- und Spielplätze nicht mehr so stark in ihrer Nutzung eingeschränkt werden. Das ist auch Ziel des Antrags der Linken. Aufgrund des Bundestagsbeschlusses bedürfte es dieses Antrags überhaupt nicht, denn der Bundestag hat sich schon unmissverständlich geäußert. Ich habe die Bundesregierung vor wenigen Wochen dazu befragt, wie sie mit diesem Beschluss des Bundestages in diesem Punkt bisher umgegangen ist. Leider kam als Antwort nur, dass die Bundesregierung hier weiter prüft, welche Änderungen im Lärmschutzrecht vorgenommen werden müssen. Ich wünschte mir, dass es hier etwas schneller ginge. Die Startphase für die schwarz-gelbe Bundesregierung ist wahrlich vorbei. Wir haben bei der Problematik des Kinderlärms von Kindertageseinrichtungen - ich verweise auf den SPD-Antrag dazu - Ähnliches diskutiert und warten auch hier darauf, dass die Bundesregierung reagiert. Der Antrag der Linken muss in den Fachausschüssen debattiert werden. Wir sind uns sicher in der Intention des Antrages einig, dafür haben wir bereits den benannten Beschluss gefasst. Ob das Bundesimmissionsrecht in dieser Form geändert werden muss oder ob nach der vorgeschlagenen Änderung noch Fragen offen bleiben oder ob sie zu weit geht - Stichwort: große Fußballstadien -, das sollten wir eingehend fachlich diskutieren. Judith Skudelny (FDP): Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag Änderungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes und der Baunutzungsverordnung. Die Änderungen sollen zum einen bewirken, dass Lärm aus Sportanlagen nicht mehr als störender Lärm qualifiziert wird. Zum anderen fordert der Antrag eine Erhöhung der festgelegten Lärmgrenzwerte auch in reinen Wohngebieten und - durch Änderung der Baunutzungsverordnung - eine grundsätzliche Zulässigkeit von Sportanlagen in Wohngebieten. Die FDP ist gegen eine generelle Privilegierung von Sportanlagen. Wenn es sich um Bolzplätze handelt, also kleinere Spielplätze ohne technische Infrastruktur wie Umkleiden, Duschen usw., und diese mitten in Wohngebieten gelegen sind, ist die Situation anders zu beurteilen. Hier ist es sinnvoll, diese zumindest für Kinder bis 14 Jahren in reinen Wohngebieten zu privilegieren. Denn nur durch die Ansiedlung solcher Freizeiträume in unmittelbarer Nähe zur schützenden Umgebung, beispielsweise dem Elternhaus, ist gewährleistet, dass Kinder diese Bolzplätze wirklich nutzen. Sportanlagen dagegen sind bereits ausreichend geschützt. Die 18. Bundesimmissionsschutzverordnung - Sportanlagen-Lärmschutzverordnung - regelt die Emissionswerte für Sportanlagen. Diese sind unterschiedlich hoch ausgestaltet für Gewerbegebiete, Mischgebiete, reine Wohngebiete etc. Da Sportanlagen im Regelfall eher außerhalb von Wohngebieten angesiedelt sind, sind die unterschiedlichen Lärmgrenzwerte für unterschiedliche Siedlungsräume eine praktikable Lösung. Das im Antrag genannte Beispiel der Anlage in Berlin-Kreuzberg ist dagegen ein Sonderfall und taugt nicht dazu, den Antrag zu begründen. Auf dem vom Berliner Senat finanziell unterstützten Gelände wird seit den 60er-Jahren Fußball gespielt. Kinder- und Jugendmannschaften des Fußballclubs S. C. Berliner Amateure trainieren wochentags zwischen 16.00 und 21.00 Uhr. Im Wege gerichtlicher Verfügungen hatten Anwohner in der Vergangenheit allerdings erstritten, dass keine Trillerpfeifen mehr genutzt werden dürfen. Außerdem muss das Flutlicht wochentags ab 21.00 Uhr abgeschaltet werden. Und sonntags darf nur bis 15.00 Uhr trainiert werden. Die getroffenen Einschränkungen für die Trainingszeiten sind meiner Meinung nach gerechtfertigt. Unter 16-Jährige haben, in Anlehnung an das Jugendschutzgesetz, bis 22.00 Uhr zu Hause zu sein. Insofern fügt sich eine bis maximal 21.00 Uhr andauernde Trainingszeit zuzüglich Umkleiden und Heimfahrt in eine übliche Praxis ein. Neben diesem nicht allgemein gültigen Beispiel der Berliner Sportanlage versucht die Linke in ihrem Antrag, arm gegen reich auszuspielen. Der Verweis auf die vermeintlich klagewütigen Eigentümer von Luxuswohnungen ist aber keine Begründung für die Forderungen. Lärmschutz ist für die FDP kein Problem von wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Auch sozial schwache Menschen können von Lärm krank werden. Selbst ein dahinterstehender Einwand, ärmere Menschen würden mangels finanzieller Mittel nicht so häufig vor Gericht ziehen, trägt nicht: Durch die Möglichkeit der Prozesskostenhilfe können auch diese gerichtlich gegen den Lärmverursacher vorgehen. Auf diesem Weg können auch finanzschwächere Menschen ihre berechtigten Interessen durchsetzen! Fakt ist: Der demografische Wandel zwingt uns zu angemessener Interessenabwägung, ohne die eine Gruppe über die andere zu stellen. Denn die Zahl der Rechtsstreitigkeiten nimmt nicht etwa aufgrund mangelhafter Gesetze zu. Sie nimmt zu aufgrund einer geringeren Toleranz von Mensch zu Mensch. Die Anzahl älterer Mitbürger in der Gesellschaft wächst. Wir wissen alle, dass ältere Menschen ruhebedürftiger sind. Die subjektive Schwelle, ab wann Lärm als störend empfunden wird, liegt demzufolge bei mehr Menschen niedriger als noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten. Ich finde es im Sinne eines guten Miteinanders grundfalsch, pauschal zugunsten einer Gruppe zu entscheiden. Das aber will der vorliegende Antrag. Er will Sportanlagen regelmäßig privilegieren. Die Lösung darf aber nicht heißen: Privilegierung des einen und Ausschluss des anderen. Die Lösung muss vielmehr "Denken im Vorfeld" heißen - zum Beispiel durch intelligente Flächenplanung. Was der vorliegende Antrag hier verschweigt: Durch eine Ausschöpfung der bereits zur Verfügung stehenden politischen Instrumente - hier maßgeblich ein intelligentes Bauplanungsrecht - hätte die Situation in der Berliner Körtestraße entscheidend entschärft werden können. Denn ein Bebauungsplanverfahren hätte die Zukunft des Sportplatzes sichern können. Dieser wurde aber von Linken und Grünen im Bezirk abgelehnt. Das richtige Agieren auf kommunaler Ebene hätte den Antrag also vielleicht überflüssig gemacht. Katrin Kunert (DIE LINKE): Die Linke befasst sich in diesem Plenum nicht zum ersten Mal mit der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports. Im Fokus steht heute der Breitensport, der nach wie vor von unschätzbar großer Bedeutung für unsere Gesellschaft ist. Die rund 90 000 Turn- und Sportvereine mit ihren etwa 27 Millionen Mitgliedern fördern bereits im frühen Kindesalter soziale Kompetenzen und die Fähigkeit des respektvollen Umgangs von Menschen unterschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft. Die Stärke des Breitensports liegt gerade darin, dass die für ein friedliches und solidarisches Miteinander in der Gesellschaft erforderlichen Fähigkeiten quasi spielend erlernt werden. Örtliche Sportvereine sowohl im ländlichen Raum als auch in den Städten haben die Fähigkeiten, die Einwohnerinnen und Einwohner eines Dorfes oder eines Stadtviertels auf vielfältige Weise zusammenzubringen. Zu denken ist hierbei nicht nur an die Begegnungen im Rahmen sportlicher Wettkämpfe, sondern auch im Rahmen von Vereinsfesten und Veranstaltungen. Auch wenn wir in Bezug auf die eben genannten positiven Impulse des Sports von einer großen Zustimmung in diesem Hause ausgehen können, müssen wir leider zunehmend zur Kenntnis nehmen, dass es für Sportlerinnen, Sportler und Sportvereine in der Praxis immer schwieriger wird, ihre Aktivitäten in einem angemessenen Rahmen auszuüben. Wir stellen fest, dass die Akzeptanz für den Breitensport und die damit verbundene sportliche Betätigung zumindest in Teilen der Gesellschaft abnimmt. Ähnlich wie bei den Klagen gegen den sogenannten Kinderlärm kommt es im Bereich von Sportanlagen in zunehmendem Maße zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Betreibern und Nutzerinnen und Nutzern der Anlagen auf der einen und den Anwohnerinnen und Anwohnern auf der anderen Seite. Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Fraktion Die Linke möchte die Anwohnerinnen und Anwohner von Sportanlagen keinesfalls ihrer legitimen Rechte berauben, sich gegen eine übermäßige Lärmbelästigung zu wehren. Selbstverständlich sind Sportanlagen stets auch nach immissionsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Auch wenn man sportlichen Aktivitäten einen noch so hohen gesellschaftlichen Wert beimisst, ist klar, dass sich die von Sportanlagen ausgehenden Immissionen störend auf die Anwohnerinnen und Anwohner auswirken können. Die Aufgabe des Gesetzgebers und der Gerichte besteht mithin darin, dafür zu sorgen, dass die Belange der Anwohnerinnen und Anwohner und der Nutzerinnen und Nutzer von Sportanlagen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Nun häufen sich jedoch Fälle, in denen die Klagen von Anwohnerinnen und Anwohnern dazu führen, dass Sportplätze, die zum Teil seit Jahrzehnten in Betrieb sind, Auflagen erteilt bekommen, die den sportlichen Betrieb nahezu unmöglich machen. So verbietet zum Beispiel ein Gericht den Betreibern eines seit Jahrzehnten bestehenden Fußballplatzes den Spielbetrieb am Sonntagnachmittag, weil eine Nachbarin zuvor geklagt hatte. Jeder, der sich im Vereinsfußball auskennt, weiß, wie wichtig der Sonntag als Spieltag ist. Der Deutsche Olympische Sportbund vertritt die Auffassung, dass breitensportliche Betätigung dort möglich sein soll, wo die Menschen leben. Dem stimmen wir zu, da eine Verlagerung von Sportanlagen in weniger bewohnte Randgebiete oder Industriegebiete in vielen Fällen dazu führt, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen letztlich von deren Nutzung ausgeschlossen werden und der Breitensport so sein Potenzial nicht voll ausspielen kann. Im Deutschen Bundestag ist eine Verständigung darüber notwendig, in welchem Ausmaß Lärmimmissionen von Sportanlagen in bewohnten Gebieten zumutbar sind. Wir sind der Meinung, dass die legitimen Ruhebedürfnisse von Anwohnerinnen und Anwohnern rechtlich geschützt werden können, ohne dass die Belange der Sporttreibenden komplett zurückgestellt werden müssen. Wir fordern, dass die von Sportanlagen ausgehenden Lärmimmissionen in der Regel nicht mehr als schädliche Umwelteinwirkung angesehen werden. Außerdem zeigen praktische Erfahrungen, dass bereits eine minimale Erhöhung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte in der Sportanlagenlärmschutzverordnung dazu führen würde, dass der Spielbetrieb auf Sportplätzen, etwa in Form des sonntäglichen Fußballspiels, nicht mehr so ohne Weiteres verboten werden kann. Ich bitte daher um Zustimmung zu unserem Antrag. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Linke verweist in ihrem Antrag auf die große gesellschaftliche Bedeutung des Breitensports und darauf, dass alle gesellschaftlichen Gruppen hinreichend Zugang zu Angeboten des Breitensports haben sollen. Die Linke sieht den Bund in der Pflicht, die Rahmenbedingungen für eine angemessene Entwicklung des Breitensports zu optimieren. Richtig ist: Die Sportvereine können ihrer Aufgabe nur dann nachkommen, wenn genügend Sportanlagen im Wohnumfeld zur Verfügung stehen. Immissionen durch Aktivitäten in Sportanlagen möchte die Linke rechtlich nicht mit den Immissionen durch Gewerbe- oder Verkehrslärm gleichgesetzt wissen, da es sich bei Ersterem um eine Ausdrucksform und Begleiterscheinungen sozialen Verhaltens handelt. Sportanlagen sollten deswegen nicht in erster Linie als regelungsbedürftige Störungen, sondern als Bereicherung des sozialen und kulturellen Lebens angesehen werden. Konkret fordert die Linke in ihrem Antrag von der Bundesregierung einen Gesetzesentwurf, der sportliche Anlagen immissions- und baurechtlich privilegiert. Dies soll durch eine Reihe von Maßnahmen geschehen: Ergänzung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, § 3 Abs. 1 - von Sportanlagen ausgehender Lärm stellt in der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung im Sinne dieses Gesetzes dar -; Angleichung der Immissionsrichtwerte für reine Wohngebiete an die für allgemeine Wohngebiete und Kleinsiedlungsgebiete in der Sportanlagenlärmschutzverordnung; Aufhebung der festgelegten Ruhezeiten für Sonn- und Feiertage; Ergänzung der 18. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Übergangsfristen zur Einhaltung der Immissionsrichtwerte sollen durch die zuständige Behörde bis 2020 bzw. in Ausnahmefällen bis 2022 gewährt werden können -; Änderung der Baunutzungsverordnung: Anlagen, die sportlichen Zwecken dienen, sollen in der Regel zulässig kategorisiert werden, nicht nur in Ausnahmefällen. Jetzt ist die Frage zu stellen: Ist eine Neuregelung der Lärmschutzvorschriften an dieser Stelle notwendig oder kontraproduktiv? Schließlich plant die Linke mit der Einfügung in den Definitionsteil des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, § 3, eine grundsätzliche Neujustierung. Aber ist es richtig, dass in der Praxis immer und überall der Lärm von Sportanlagen keine schädlichen oder belastenden Folgen für die Umgebung hat? Hier differenziert die Linke überhaupt nicht zwischen wohnortnahen Bolzplätzen, auf denen die Kinder und Jugendlichen aus der Umgebung spielen, und kommerziell genutzten Sportstätten, auf denen sich mitunter Zehntausende Zuschauer unter Flutlicht und erheblichem Lärm aufhalten. Mit den Vorschlägen will die Linke mit Blick auf die Anlage unterschiedslos Lärmschutzstandards aufweichen. Dies scheint uns überhaupt nicht der geeignete Weg. Sinn und Zweck der 18. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes war schließlich, einen Kompromiss zwischen Sporttreibenden, Sportveranstaltern und Anwohnern zu finden. Man kann aus unserer Sicht durchaus die Frage stellen, ob die Regelungen auch für kleine, nicht kommerziell genutzte Sportanlagen in Wohngebieten angemessen sind oder ob es hier Neuregelungen braucht. Selbstverständlich gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Lärm, der durch Industrieanlagen oder Verkehr entsteht, und Lärm, den Kinder und Jugendliche auf öffentlichen Sportplätzen verursachen. Deswegen müssen beide Lärmbeeinträchtigungen auch unterschiedlich behandelt werden. Sporttreibende Menschen sollen in unserer Gesellschaft nicht als Ärgernis wahrgenommen werden. Wir sollten vielmehr froh sein, wenn sich Menschen sportlich betätigen und nicht nur zu Hause vor dem Fernseher, der Spielkonsole oder dem Computer sitzen, vor allem Kinder. Für uns Grüne hat der Breitensport eine sehr hohe gesellschaftliche Bedeutung! In unserem Sportprogramm haben wir ausgeführt, dass die Rahmenbedingungen für den Breitensport verbessert werden müssen. Denn Spiel und Sport machen nicht nur Spaß, sondern sind menschliche Grundbedürfnisse. Regelmäßige sportliche Betätigung fördert außerdem Gesundheit, Lebensfreude, soziales Miteinander und Lernvermögen. Dies sollte die Gesellschaft auch anerkennen, selbst wenn es für die eine oder den anderen, der in der Nachbarschaft von Sportanlagen wohnt, nicht immer auf Wohlwollen stößt. Das gilt auch für spielende Kinder im Garten oder auf der Straße. Wir wollen nicht weniger Menschen auf den Straßen, Plätzen und eben auch in Sportanlagen sehen, die sich körperlich betätigen, sondern mehr davon. Leider wurde auch in der Stadtplanung bisher viel zu wenig Rücksicht darauf genommen, Möglichkeiten für körperliche Betätigungen zu schaffen. Dennoch: Wenn Anlagen in dicht bewohnten Gegenden liegen und hochfrequentiert sind, müssen die Sporttreibenden und ihre Zuschauer auf dafür vorgesehenen Anlagen Rücksicht nehmen, auf die Bedürfnisse von Anwohnern in dicht bewohnten Gegenden. Eine rechtliche Lösung des Problems ist nicht so einfach, wie es sich die Linke, nach ihrem Antrag zu urteilen, macht. Die Problematik bedarf der Anhörung von Fachleuten und einer eingehenden Beratung in den Ausschüssen. Mit uns ist eine derart pauschale Absenkung von Lärmschutzstandards nicht zu machen; ich sage dies mit Bedacht auch als Sportpolitiker. Überdies finde ich es schon erstaunlich, dass der Linken etwa beim Fluglärm kein Grenzwert scharf genug ist. Aber wo es nebenbei auch um eine fortbestehende Privilegierung der Sportstätten in den neuen Ländern geht - die schon Übergangsfristen von 10 Jahren für Lärmschutzmaßnahmen erhielten -, ist der Linken der Schutz der Bevölkerung vor Lärm doch sehr wenig wert. Die Politik muss eine Regelung finden, die Spiel und Sport im Wohngebiet ermöglicht und zugleich auch Anwohnerinteressen berücksichtigt. Lauten kommerziellen Spektakelsport allerdings sollten wir keineswegs privilegieren zulasten der Anwohner. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1742 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte abschaffen - Drucksache 17/1203 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Marlene Mortler, CDU/CSU, Heinz Paula, SPD, Dr. Edmund Peter Geisen, FDP, Alexander Süßmair, Die Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen. Marlene Mortler (CDU/CSU): In den letzten zehn Jahren haben sich die Politik, die Verbände und die Praktiker mehrmals intensiv und ergebnisoffen mit der sogenannten Hofabgabeklausel beschäftigt. Als Ergebnis dieser Diskussion, die sämtliche Argumente für und wider eine Abgabeverpflichtung berücksichtigt hat, steht die Erkenntnis, dass die Hofabgabeklausel grundsätzlich erhalten werden sollte. Grundlage ist das Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte. Hier ist klar festgelegt, dass Voraussetzung für den Bezug einer Rentenleistung grundsätzlich die Abgabe des Unternehmens ist. Diese Abgabeklausel ist nach wie vor ein notwendiges strukturpolitisches Instrument. Sie erhält und verbessert die Flächengrundlage für die wirtschaftenden Betriebe. Sie sorgt dafür, dass gut ausgebildete, motivierte Betriebsleiter ans Ruder kommen, weil der rechtzeitige Generationswechsel gefördert wird. Diese Klausel wirkt schließlich der Zersplitterung von Bewirtschaftungsflächen sowie einer Überalterung der aktiven landwirtschaftlichen Unternehmerinnen und Unternehmer entgegen. Es ist auch ein Erfolg deutscher Politik, dass unsere aktiven Landwirte im Durchschnitt europaweit die jüngsten sind. Der Bund gibt jährlich rund 3,8 Milliarden Euro für die landwirtschaftlichen Sozialsysteme aus. Diese Eigenständigkeit der Systeme wollen wir erhalten. Dafür sind auch "Gegenleistungen" wie die Hofabgabeklausel notwendig. Eine derart einschneidende Regelung findet sich - darauf weisen die Antragsteller zu Recht hin - im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Daher ist es richtig, dass die Beiträge zur Alterssicherung der Landwirte gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung eine bessere Rentabilität aufweisen. Auch wenn unterstellt wird, dass nur der 10-prozentige Vorteil gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung bei Abschaffung der Hofabgabeklausel gestrichen wird, würde dies am Ende 10 Prozent niedrigere Renten bedeuten. Das darf nicht das Ziel sein! Sie unterstellen uns weiter, dass eine Abschaffung der Hofabgabeklausel die Beiträge zu den landwirtschaftlichen Altersrenten vervielfachen würde. Das ist eine Phantomdiskussion. Sie hat mit der Realität nichts zu tun, und sie ist sachlich schlichtweg falsch. Ich kann auch eine Diskriminierung jüngerer Ehegatten nicht erkennen. Die Möglichkeit, das Unternehmen an einen jüngeren Ehegatten abzugeben, wurde erst vor wenigen Jahren ausgeweitet. Das deckt zwar nicht alle Fälle ab; aber eine Abgabe unter Ehegatten kann jetzt bis zu einem maximalen Altersunterschied von zehn Jahren, das heißt ab dem 55. Lebensjahr des nicht rentenberechtigten Ehegatten, bewirkt werden. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Unternehmensabgabe grundsätzlich an die nachfolgende Generation stattfinden soll. Genau diesem Gedanken trägt die gerade erwähnte Erleichterung bei der "Ehegattenabgabe" Rechnung. Für den Fall, dass Hofnachfolger aufgrund ihres Alters noch nicht dazu in der Lage sind, das landwirtschaftliche Unternehmen als Betriebsleiter zu übernehmen, besteht die Möglichkeit, dass der übernehmende Elternteil, also meist die Mutter, den landwirtschaftlichen Betrieb fortführt, bis die Nachfolge in die nächste Generation geregelt werden kann. Diesen Aspekt lassen die Antragsteller völlig außer Acht. Also auch hier haben wir schon Verbesserungen für die Praxis erreicht. Hofabgabe hin oder her: Probleme, die sich zum Beispiel bei der gewerblichen Tierhaltung, bei Schwierigkeiten der Verpachtung von Steillagenweinbauflächen oder der Nichtgewährung der Bäuerinnenrente bei fehlender Hofabgabe durch den Ehegatten ergeben, sind zu lösen. Eine generelle Abschaffung der Hofabgabeklausel lehnen wir ab, auch wenn uns bewusst ist, dass die Hofabgabe dann besonders schwerfällt, wenn es keinen Nachfolger gibt und der Renteneintritt damit automatisch zur Einstellung der Betriebstätigkeit führt. Dennoch hat die intensive Diskussion unter den aktiven Landwirten gezeigt, dass sich die überwältigende Mehrheit ohne Vorbehalt für eine Beibehaltung der Hofabgabeklausel ausspricht. CDU und CSU haben es sich immer zum Grundsatz gemacht, auf die Praktiker zu hören. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. Heinz Paula (SPD): Eine Petition eines Landwirte-Ehepaares aus Nordrhein-Westfalen beschäftigt seit einiger Zeit meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss: Ein Ehepaar, das in naher Zukunft das Rentenalter erreicht, wehrt sich aus unterschiedlichen Gründen gegen die Hofabgabe als Voraussetzung dafür, ihre Rente aus der Alterssicherung der Landwirte zu erhalten. Auch eine Übertragung an einen gemeinnützigen Hof ist ihnen nicht möglich, solange sie im Vorstand des als Verein eingetragenen Hofes bleiben. Dies ist gesetzlich so vorgeschrieben. Behalten sie bei Eintritt in das Rentenalter ihren Hof oder bleiben sie in einer führenden Position des gemeinnützigen Vereins, müssen sie auf ihre Alterssicherung aus der AdL verzichten. Das Ehepaar sieht sich gegenüber anderen Rentnern - auch im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes im Grundgesetz - benachteiligt. Sie empfinden diese Regelung als in hohem Maße ungerecht. Sie fordern, dass das Gesetz zur Alterssicherung für Landwirte, ALG, geändert wird. 5 Prozent der in Deutschland wirtschaftenden Landwirte - so sagen es die Zahlen - sehen diese Regelung als Beschneidung ihrer Grundrechte an und fühlen sich gegenüber anderen Berufsgruppen benachteiligt. Zumeist aus sehr individuellen Gründen. Einige klagten vor dem Bundesverfassungsgericht. Alle hohen Gerichte haben bisher die sogenannte Hof-abgabeklausel als verfassungsgemäß bestätigt. Eine Benachteiligung gegenüber anderen Berufsgruppen sei nicht gegeben. Sie von den Grünen fordern in dem uns vorliegenden Antrag die Abschaffung der Hofabgabeklausel. Sie bezeichnen sie als - ich zitiere - "nicht mehr zeitgemäß und in höchstem Maße ungerecht." Als Begründung führen Sie den demografischen Wandel an. Die Hofabgabeklausel beschleunige das Höfesterben und den Strukturwandel. Sie bezeichnen es als zutiefst ungerecht, wenn die Landwirte ihre Beiträge vierzig Jahre lang zahlen, ihnen die Rente aber am Ende verwehrt wird, wenn sie ihren Hof nicht abgeben. Sie bezeichnen es als skandalös, dass ein Landwirt seine Rente verliert, wenn er seinen Hof an einen zehn Jahre jüngeren Ehegatten überschreibt. Sie führen an, dass das bessere Beitrags-Leistungs-Verhältnis der AdL gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung keine Verweigerung der Rentenzahlungen bei Beibehaltung des Hofes rechtfertigt. Sie übersehen jedoch dabei, dass jeder Landwirt seinen Hof und 1,5 Hektar Land behalten darf, dass Rentenempfänger anderer Berufsgruppen zwar 400 Euro dazuverdienen, nicht jedoch ein Unternehmen weiterführen dürfen. Sie übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung der Hofabgabe mehrfach als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat. Und Sie übersehen eines: Die Hofabgabe war bisher immer politisch gewollt, und zwar parteiübergreifend. 1957 wurde die Notwendigkeit einer Alterssicherung für selbstständige Landwirte anerkannt. Als Voraussetzung für den Erhalt der Alterssicherung gilt seitdem die Abgabe des Hofes bzw. des landwirtschaftlichen Unternehmens. Auch nach der Reform des Agrarsozialgesetzes 1995 wurde das Instrument der Hofabgabe beibehalten. In § 11 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Alterssicherung für Landwirte, ALG, ist festgelegt, dass Landwirte Anspruch auf Altersrente haben, wenn sie das Unternehmen der Landwirtschaft abgegeben haben. Die Pflicht zur Abgabe des Hofes wurde hauptsächlich aus agrarstrukturellen Gründen eingeführt. Marktorientierung und erhöhte Produktivität auf größeren Flächen waren das Ziel. Das war sinnvoll. Und es war erfolgreich. Es war beabsichtigt, der jüngeren Generation rechtzeitig die Chance zu geben, den Hof der Eltern - oder in einigen Fällen auch von Fremden - zu übernehmen. Und damit auch rechtzeitig die Verantwortung für den Hof. Deutschland ist das Land mit den jüngsten Landwirten in Europa. Die jüngere Generation ist mutiger, innovativer und kreativer. Sie gehen oft neue Wege und suchen Marktnischen, scheuen weniger Veränderungen als die ältere Generation. Sie erhalten die Wettbewerbsfähigkeit und verbessern damit auch die Einkommenssituation der landwirtschaftlichen Betriebe. Heutzutage ist es allerdings so, dass viele Kinder andere Wege gehen. Die Zahl der Übergaben eines Hofes an die eigenen Kinder sinkt stetig. Die alternative Übernahme geschieht häufig durch fremde, expansionswillige Landwirte, durch Nebenerwerbslandwirte und größere Agrarbetriebe, die auch Flächen aufkaufen, die nicht unmittelbar in der Nähe ihrer Unternehmen liegen. Daher wollen die Landwirte häufig ihre, in vielen Fällen eher kleinen Höfe, Unternehmen und Genossenschaftsanteile behalten und so lange weiterwirtschaften, wie es eben geht. Der Hof und die Landwirtschaft ist seit vielen Jahren ihr Lebensmittelpunkt, den sie nicht mit Beginn des Rentenalters verlassen wollen. Die Betriebsabgabe wird in vielen Fällen umgangen. Das stellen die Kollegen und Kolleginnen der Grünen in ihrem Antrag fest. In wie vielen genau, wissen sie und wissen wir nicht. Meine Fraktion tendiert dazu, sich dieser Realität zu stellen. Wir können nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die Hofabgabeklausel für viele Landwirte anscheinend eine erhebliche Einschränkung ihres späteren Lebens bedeutet. Neben der rechtzeitigen Übergabe der landwirtschaftlichen Unternehmen an die jüngere Generation verfolgte die Hofabgabe noch ein anderes Ziel: Die Verpachtung, der Verkauf beziehungsweise die Auflösung pachtfrei werdender Flächen sollte die Hofkonzentration fördern. Es war beabsichtigt, aus vielen kleineren einige größere Höfe zu schaffen. Diese konnten besser und wettbewerbsfähiger wirtschaften. Die rechtzeitige Hofabgabe sollte die Flächen leichter für andere zugängig machen. Somit sollte der Strukturwandel in der Landwirtschaft unterstützt werden. Diese Ziele entsprachen der damaligen Ausrichtung unserer Agrarpolitik und waren durchaus sinnvoll. Heute sehen wir vieles in einem anderen Licht. Agrarpolitik ist nicht mehr nur Agrar- und Wirtschaftspolitik. Sie ist zugleich Umweltpolitik, Tierschutzpolitik, Verbraucherpolitik, Tourismuspolitik. Sie ist multifunktional. Nicht mehr die Größe eines landwirtschaftlichen Unternehmens ist ausschlaggebend, sondern die Art und Weise der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung. Spätestens in der zurzeit laufenden Diskussion um die Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik bekommen Merkmale wie Erhaltung der Artenvielfalt, Sicherung der Bodenfunktion und der Wasserhaushalte, Tierschutz und Klimaschutz einen weitaus höheren Stellenwert. Dies sollten wir beachten, wenn wir über eine mögliche Abschaffung der Hofabgabeklausel diskutieren. Die Alterssicherung der Landwirte ist seit jeher als Teilsicherung konzipiert. Sie ist bewusst so gestaltet, dass sie als zusätzliche Geldleistung zum betrieblichen Anteil wirkt. Sie wird ausdrücklich als staatlich geförderte Geldleistung definiert. Die Höhe der Alterssicherung für Landwirte beträgt 475 Euro. Der Ehegatte erhält 224 Euro. Diese Leistungen sind unabhängig von der Unternehmensgröße. Zusätzliche Rentenleistungen erhalten die Landwirte unter anderem durch die private Altersvorsorge. Die Hofabgabeklausel war immer eng an die hohen Bundeszuschüsse gebunden. Keine andere Berufsgruppe in Deutschland erhält derart hohe Zuschüsse wie die Landwirte. 70 Prozent der AdL werden durch Steuermittel finanziert. Die Hofabgabe wurde auch als Ausgleich für die hohen Zuzahlungen definiert. Durch dieses Instrument werden die hohen Bundeszuschüsse quasi legitimiert. Bisher ist die Hofabgabe politisch gewollt. Es liegt an uns, diese Klausel abzuschaffen oder zu ändern. Auf das Sozialversicherungssystem als Ganzes wird die Abschaffung keine Auswirkungen haben. In vielen Punkten stimme ich den Kolleginnen und Kollegen der Grünen zu. Aber ich sehe auch: Die Hof-abgabe hat sich über Jahre bewährt und war auch an ihren Zielen gemessen sehr erfolgreich. Ich sehe auch, 95 Prozent der Landwirte und landwirtschaftlichen Unternehmen haben keine Probleme mit der Abgabe. Das ist also kein Thema, was man in einem Schnellschuss einfach so abhandelt. Das Für und das Wider wollen sorgsam abgewogen sein: Was sagen die Betroffenen zu diesem Thema? Was sagt der Bauernverband? Was sagt die AbL? Was sagen diejenigen, für die Pflicht zur Hofübergabe kein Problem darstellt? Gibt es Möglichkeiten, nur Teile dieser Klausel zu ändern, eine Härtefallregelung einzuführen, damit beispielsweise das zu Anfang erwähnte Ehepaar seinen Hof behalten kann, obwohl die für die Tiere notwendige Fläche einen halben Hektar zu groß ist? Welche Möglichkeiten gibt es, Problemen solcher Art zu begegnen? Wir suchen das Gespräch mit den Betroffenen. Wir wollen die Meinungen und Sichtweisen der anderen Beteiligten hören. Erst dann werden wir entscheiden, was möglich und nötig ist. Meine Fraktion wird sich daher - trotz einiger Übereinstimmungen - bei der Abstimmung zu diesem Antrag enthalten. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Mit der Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte verfolgte der Gesetzgeber 1957 ein agrarstrukturpolitisches Ziel: Die Junglandwirte sollten die Chance erhalten, ihr Wissen und Können und damit häufig den Mut zur Modernisierung in die landwirtschaftlichen Betriebe einzubringen. Das Ziel war erfolgreich: Die Hofabgabe hat entscheidend dazu beigetragen, dass die deutschen Landwirte im Durchschnitt jünger sind als Ihre Kollegen in den anderen EU-Staaten. Nun ist das Gesetz zur Alterssicherung der Landwirte schon ein halbes Jahrhundert in Kraft - und die Landwirtschaft hat einen tiefgreifenden Strukturwandel hinter sich: Von den knapp 1,5 Millionen Betrieben Mitte der 50er-Jahre waren 2008 noch rund 380 000 übrig. Während ein Landwirt 1950 zehn Menschen mit Nahrungsmitteln versorgte, ernährt er 2006 schon 127 Menschen. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen haben sich mehr als verdoppelt, viele Haupterwerbsbetriebe sind zu Nebenerwerbsbetrieben geworden. Und inzwischen kommen auf 100 aktive Beitragszahler in der landwirtschaftlichen Rentenkasse rund 250 Rentenempfänger. Diesem Strukturwandel in der Landwirtschaft will und muss die Bundesregierung Rechnung tragen. So übernimmt der Bund, ähnlich wie im Bergbau, mit der 1995 eingefügten Defizitdeckung inzwischen rund 70 Prozent der Kosten der Alterssicherung der Landwirte. Bei den Bergleuten liegt das Verhältnis Beiträge zu Bundesmittel sogar bei eins zu sechs. Aber führt der Strukturwandel wirklich dazu, dass die Hofabgabe zutiefst ungerecht ist, sogar das Höfesterben beschleunigt und deshalb abgeschafft werden muss, wie Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag verlangen? Ich habe während meiner Zeit im Petitionsausschuss mehrere Petitionen erhalten, die diese These stützen: Da war zum Beispiel der Fall eines Landwirtes, der den Hof nicht an seine Frau abgeben konnte, weil diese wesentlich jünger war als er. Oder der des Landwirtes, der seinen gepachteten Betrieb aufgrund der wirtschaftlichen Situation weder zu einem angemessenen Preis verpachten noch ihn stilllegen konnte, da seine zu erwartende Rente unter Sozialhilfeniveau lag. Auch habe ich viele Gespräche geführt mit Landwirten, die vehement für eine Abschaffung plädieren - vor allem, weil die angestrebte Förderung des Generationenwechsels mangels Interesse gar nicht oder nur zum Schein zustande komme und weil in Eigentumsrechte eingegriffen werde. Spricht man hingegen mit Vertretern des Deutschen Bauernverbandes, so kommt man zu dem Schluss, dass dies alles doch eher Einzelfälle sind und die breite Mehrheit mit der aktuellen Regelung zufrieden ist. Mein Fazit: Ja, ich halte die Hofabgabeverpflichtung für reformbedürftig und fordere die Bundesregierung auf, zu prüfen, inwieweit der strukturelle Wandel in der Landwirtschaft Anpassungen notwendig macht. Ich halte jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts davon, die Hofabgabeklausel komplett abzuschaffen. Hier erwarte ich auch mit Spannung, ob und wie möglicherweise die Gerichte entscheiden. Das eindeutige Votum der Landjugend ist für mich ausschlaggebend: Wir müssen den Junglandwirten die Chance lassen, den Hof zu übernehmen - um ihnen ihre Zukunft nicht zu verbauen und um modernes Know-how und Management in die Betriebe zu bringen. Es gilt, gemeinsam mit dem Berufsstand eine befriedigende Lösung für alle zu finden. Dafür setze ich mich ein. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Im Antrag 17/1203 fordert die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, die Hofabgabeklausel für den Bezug der Altersrente für Landwirtinnen und Landwirte zu streichen. Als Argument wird angeführt, dass es zutiefst ungerecht und nicht mehr zeitgemäß sei, diese Regelung beizubehalten. Bezieher von Renten aus der normalen gesetzlichen Rentenversicherung müssten auch nicht, wenn sie das Alter für den Bezug der Rente erreicht hätten, nachweisen, dass sie ihre Beschäftigung aufgegeben hätten. Das ist zwar formal richtig; trotzdem ist das Prinzip der Rentenversicherung so, dass Beschäftigte, die in den Ruhestand gehen, ihre bisherige Stelle aufgeben und dann sozial über die Rentenversicherung versorgt werden, und nicht so, dass Menschen nach Eintritt in die Rente normal weiterarbeiten. Agrarpolitisch wird die Verpflichtung zur Hofabgabe damit begründet, dass der Betrieb von Landwirten, die Rente beziehen wollen, freigegeben wird für einen Nachfolger. Vergessen darf man dabei nicht, dass das gesamte System der landwirtschaftlichen Alterssicherung staatlich hoch subventioniert ist. Die Betriebe müssen deshalb nur geringe Beiträge zur Rentenversicherung zahlen und erhalten selbst bei den Beiträgen noch Zuschüsse, wenn sie bestimmte Einkommensgrenzen unterschreiten. Außerdem dürfen auch Landwirte, die in Rente gehen und ihren Betrieb abgeben, weiterarbeiten. Sie bekommen ihre Rente und dürfen zuverdienen, also genau so wie Beschäftigte, die in den Ruhestand gehen. Nur ihren Betrieb müssen sie weitervererben oder verpachten. Die Debatte um die Aufgabe der Hofabgabeklausel in der Rentenversicherung, konzentriert sich gerade auf die Regionen in Deutschland, in denen die Strukturen nach wie vor ungünstig sind und die Landwirtschaft heute kein angemessenes Einkommen garantieren kann. Würde man jetzt landwirtschaftlichen Betriebsleitern eine Rente aus der landwirtschaftlichen Alterssicherung zahlen, die allein vom Alter der Person abhängt, entspräche dies auch noch einer Art Quersubventionierung der landwirtschaftlichen Erzeugung. Dies könnte dazu führen, dass Landwirte länger als wirtschaftlich sinnvoll ihren Betrieb fortführen. In Anbetracht der Überalterung landwirtschaftlicher Betriebe würde diese einen Generationenwechsel noch erschweren. Aber gerade um den Generationenwechsel geht es in dieser Regelung. Die Landjugend in Deutschland fordert daher, auf jeden Fall die Hofabgabeklausel beizubehalten. Die Linke sieht daher den Antrag der Grünen mit Skepsis. Ein Aspekt der bisherigen Regelung erscheint aber auch aus unserer Sicht völlig unsinnig, nämlich die Nichtgewährung einer Rente an Landwirte, wenn sie ihren Betrieb an zehn Jahre jüngere Ehegatten übertragen. Es ist diskriminierend und nicht nachvollziehbar, warum ältere Ehegatten einen Betrieb weiterführen dürfen, jüngere aber nicht. Diese Regelung ist auch für die Linke völlig unhaltbar, vor allem, da sie in erster Linie Frauen diskriminieren dürfte, die häufiger in diese Situation geraten als Männer. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit der letzten Legislaturperiode beschäftige ich mich als Abgeordnete mit der Frage der Hofabgabeklausel. Dabei wurde ich mit ziemlich absurden Fällen konfrontiert. So wuchs meine Überzeugung, dass die Abgabe des eigenen Hofes als Voraussetzung dafür, dass Landwirte eine Altersrente bekommen, zutiefst ungerecht und schon längst nicht mehr zeitgemäß ist. Als besonders skandalös und diskriminierend empfinde ich es, dass Landwirten die Rente verweigert wird, wenn sie ihren Hof an mehr als zehn Jahre jüngere Ehegatten abgeben. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund; denn man sollte annehmen, dass es für Ehegatten, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, selbstverständlich ist, die Erwerbstätigkeit fortzusetzen. Es ist doch absurd, wenn in einer solchen Situation der eigene Hof abgegeben werden muss. Das gilt umso mehr für Ehegatten, die mehr als zehn Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze stehen. Diese Regelung führt das vorgebliche Ziel der Hofabgabeklausel, für eine jüngere Altersstruktur bei den Landwirten zu sorgen, völlig ad absurdum. Besonders von den Absurditäten der Hofabgabeklausel betroffen sind auch diejenigen Landwirte, die gemäß EALG begünstigtes Land von der BVVG gekauft haben. Diese Landwirte dürfen das Land aus durchaus guten Gründen 15 Jahre lang - bis vor wenigen Jahren waren es 20 Jahre - nicht veräußern; andernfalls wird der Kauf rückabgewickelt. Wenn diese Landwirte nun die Regelaltersgrenze erreichen, dürfen sie das Land also nicht verkaufen, sondern allenfalls verpachten. Warum aber soll ein Altenteiler gezwungen sein, seinen Hof zu verpachten statt zu verkaufen, wenn er schon mit der Erwerbstätigkeit aufhört? Wenn man sich mit Landwirten unterhält, dann hört man, dass in der Praxis oft Scheinpachtverträge geschlossen werden, um der Hofabgabeklausel Genüge zu tun. Das heißt, die Hofabgabeklausel entspricht nicht der sozialen Realität auf dem Lande und wird den Bedürfnissen der Landwirte überhaupt nicht gerecht. Es ist ganz offensichtlich, dass viele Landwirte ihren Hof entweder nicht abgeben wollen oder können - sei es, weil ihnen der Hofnachfolger fehlt, sei es, weil sie die Arbeit auf dem Hof weiterhin brauchen, um finanziell über die Runden zu kommen, sei es, weil ihnen sonst der Lebensinhalt fehlt. Kann es richtig sein, diese Landwirte in diese rechtliche Dunkelgrauzone zu drängen? Noch etwas zu der Behauptung, ohne Hofabgabeklausel würden die Bundeszuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte in Höhe von 2,3 Milliarden Euro komplett gestrichen und demzufolge würden die Beiträge um ein Mehrfaches steigen. Hat jemals jemand von Ihnen den Landwirten diese Kürzung angedroht? Gibt es hier im Hause wirklich eine Fraktion, die den Landwirten 2,3 Milliarden Euro an Zuschüssen für die landwirtschaftlichen Alterskassen streichen will, nur weil durch die Abschaffung der Hofabgabeklausel ein paar Millionen Euro an Renten zusätzlich ausgezahlt werden müssen? Das kann ich mir bei allen Meinungsunterschieden zwischen uns beim besten Willen nicht vorstellen. Trotzdem will zumindest der Bauernverband die Landwirte glauben machen, dass die Koalition genau das tun werde. Ich denke, das sollten Sie nicht auf sich sitzen lassen und umgehend richtigstellen. Richtig ist, dass die Alterskassenbeiträge der Landwirte um ein paar Euro steigen müssten. Das aber ist gerechtfertigt. Denn bisher ist es der kleine Teil der Landwirte, die ihren Rentenanspruch vollständig verlieren, die allen Landwirten die Senkung der Rentenbeiträge um diese paar Euro finanzieren. Zukünftig darf es jedoch nicht mehr so sein, dass eine kleine Gruppe von Landwirten diese geringfügige Senkung der Beiträge für alle Landwirte zahlt. Solidarität muss hier wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Unter den Landwirten wächst der Widerstand gegen die Hofabgabeklausel, das lässt sich aus den Rückmeldungen, die ich bekomme, deutlich ablesen. Das zeigt sich nicht zuletzt an den laufenden Klagen aus Westfalen. Wir Bündnisgrüne wollen jedoch nicht warten, bis diese Klagen juristisch entschieden sind. Denn eigentlich wäre es besser, das Thema politisch zu entscheiden. Mit unserem Antrag wollen wir Sie daher auf unsere Seite ziehen und erreichen, dass die Bundesregierung in dieser Frage endlich umsteuert und die überkommene Hofabgabeklausel abschafft. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermöglichen - Drucksache 17/1577 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel und Stephan Mayer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff, FDP, Sevim Daðdelen, Die Linke, Memet Kilic, Bündnis 90/Die Grünen. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der Antrag der Fraktion Die Linke ist integrationsfeindlich, er ist frauenfeindlich und er geht von falschen rechtlichen Voraussetzungen aus. Deshalb lehnen wir ihn ab. Aus jeder Zeile dieses unverantwortlichen Antrags ist Realitätsverweigerung herauszulesen. Sie haben aus den Fehlern der Multi-Kulti-Politik nichts gelernt. Linke Ideologen haben daran geglaubt, und tun das offenbar vereinzelt immer noch, dass sich die Ausländer in unserem Land nach einiger Zeit automatisch integrieren würden und deshalb auf eine sachgerechte Steuerung der Zuwanderung verzichtet werden könne. Erst der von der CDU/CSU 2005 herbeigeführte Kurswechsel, mit dem wir zu einer konsequenten Integrationspolitik gekommen sind unter dem Motto "Fördern und Fordern", hat zu einer deutlichen Verbesserung der Sprachkompetenz unserer ausländischen Mitbürger und damit auch zu einem deutlich besseren Miteinander von Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft geführt. Das will die Linke mit ihrem Antrag torpedieren. Sie wollen Parallelgesellschaften zementieren, weil sie glauben, daraus politisches Kapital schlagen zu können. Sie wollen eine andere Republik. Wir wollen das nicht. Der Antrag ist integrationsfeindlich, weil er auf ein Instrument der Zuwanderungspolitik verzichten will, mit dem es gelungen ist, auch ausländischen Familien, die bisher um alle unsere Integrationsangebote einen großen Bogen gemacht haben, die klare Botschaft zu vermitteln: Ohne Deutsch geht es nicht! Es ist doch eine alte Erfahrung in der Integrationsarbeit, dass gerade schlecht integrierte Familien diejenigen sind, bei denen es auch nach einem teilweise jahrzehntelangen Aufenthalt leider noch üblich ist, dass sich junge Frauen und Männer nicht aus ihrem persönlichen Wohnumfeld oder Freundeskreis Ehepartner suchen, sondern dies in der alten Heimat ihrer Eltern tun. Die nachziehenden Ehegatten kommen in aller Regel in eine Familie, in der kein Deutsch gesprochen wird und in der dann vor allem die Kinder ohne jegliche Deutschkenntnisse aufwachsen. Damit haben sie von Anfang an keine guten schulischen und beruflichen Perspektiven. Mit dem verpflichtenden Nachweis einfacher Deutschkenntnisse erwerben die nachziehenden Ehegatten schon vor ihrem Aufenthalt in unserem Land erste Sprachkenntnisse. In den Kursen, zum Beispiel der Goethe-Institute, lernen sie darüber hinaus etwas über Sitten und Gebräuche in Deutschland, erlangen wichtige Kenntnisse über Fragen des alltäglichen Lebens und erfahren auch etwas über unseren Staatsaufbau und unsere Gesetze. Den nachziehenden Ehegatten ist Deutschland also nicht so fremd, und sie erfahren, wie wichtig es ist, durch den Erwerb von Deutschkenntnissen besser in unserem Land leben zu können. Es gibt keinen Grund, auf diese wichtige Vorbereitung auf ein Leben in Deutschland zu verzichten. Und wir bringen auf diesem Weg deutsche Sprachkenntnisse auch in Familien, die bisher zu abgeschottet in unserem Land gelebt haben. Der Antrag ist auch frauenfeindlich. Wir wissen durch die Ausländerbehörden, Selbsthilfegruppen und unsere Visastellen im Ausland, dass es nach wie vor in einem erheblichen Umfang Zwangsehen gibt. Die Linke verweigert mit ihrem Antrag den zuziehenden Ehefrauen das Recht, sich gegen Zwangsehen überhaupt zur Wehr setzen zu können. Das muss doch nun wirklich jedermann einsichtig sein: Was helfen denn die schönsten Beratungsangebote und Krisentelefone, wenn die betroffenen Frauen schon allein mangels ausreichender Sprachkenntnisse noch nicht einmal in der Lage sind, überhaupt die Polizei um Hilfe zu rufen, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Außerdem wird in den vorbereitenden Sprachkursen durch die geschulten Mitarbeiter natürlich sehr genau hingesehen, ob man vielleicht Fälle von Zwangsehen erkennen und noch vor der Übersiedlung nach Deutschland Hilfe holen und Beratungsangebote machen kann. Wir stärken die betroffenen Frauen, sich gegen Gewalt und Zwang zur Wehr zu setzen. Die Linke will aus ideologischer Verblendung die zwangsverheirateten Frauen ihrem Schicksal überlassen. Ich sage es nochmal: Das ist in schlimmer Weise frauenfeindlich und mit uns nicht zu machen. Die Zahlen über die Entwicklung des Ehegattennachzugs sprechen eine deutliche Sprache und werden von der Linken bewusst fehlinterpretiert. Nach einem Einbruch beim Familiennachzug unmittelbar nach der Einführung des Sprachnachweises sind die Zahlen jetzt wieder deutlich höher. Das ist logisch, weil viele nachziehende Ehegatten erst einmal die Sprachkenntnisse erwerben mussten. Wenn sich jetzt gerade bei Frauen aus den Ländern, in denen klassischerweise Zwangsehen vorkommen, die Zahlen noch auf einem niedrigeren Niveau bewegen, kann das vernünftigerweise nur so interpretiert werden, dass es sich dabei eben um Frauen handelt, die früher noch als Zwangsverheiratete nach Deutschland verbracht worden wären. Es sagt Ihnen jeder informierte Sozialarbeiter oder ehrenamtliche Integrationslotse oder die Stadtteilmütter in Neukölln, dass es für manche fundamentalistisch geprägte Familie eben nicht mehr attraktiv ist, eine junge Frau zwangsweise zu verheiraten, wenn sie Deutsch kann und damit in der Lage ist, sich selbst zu helfen und zu wehren. Die von Ihnen kritisierten Zahlen sind also gerade ein Beleg dafür, dass unser Konzept aufgegangen ist. Die Linke bewertet auch die Rechtslage völlig falsch. In einem bemerkenswert deutlichen Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht die neuen Spracherfordernisse für in jeder Hinsicht rechtmäßig erklärt. Es hat damit übrigens auch einigen in den Reihen unseres früheren Koalitionspartners widersprochen, die, wie etwa der Abgeordnete Edathy, in infamer Weise unserer damals eigentlich gemeinsam beschlossenen Regelung die Verfassungsmäßigkeit abgesprochen haben. Die Regelung, so die Bundesverwaltungsrichter, dient der Integration und verhindert Zwangsehen. Es handele sich deshalb um einen rechtmäßigen Ausgleich des privaten Interesses an einem ehelichen und familiären Zusammenleben im Bundesgebiet mit gegenläufigen öffentlichen Interessen. Die Richter haben es auch als zulässig angesehen, dass auf eine allgemeine Härtefallregelung verzichtet wurde, aus der zutreffenden Überlegung heraus, dass damit die ganze Vorschrift leerlaufen würde. In dem konkreten Fall, der vom Bundesverwaltungsgericht entschieden wurde, handelte es sich sogar um eine Analphabetin. Die Richter haben gleichwohl einen Zeitraum von einem Jahr, in dem man unschwer die einfachen Deutschkenntnisse erwerben kann, als zumutbar betrachtet. Anders als die Linke es behauptet, ist nach dem Urteil des Gerichts die Regelung auch mit dem Europarecht vereinbar, weil die Richtlinie über die Familienzusammenführung die EU-Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigt, den Nachzug der Betroffenen von der Erfüllung von Integrationsanforderungen abhängig zu machen. Insofern ist ein anderslautendes Urteil des EuGH bezogen auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu EU-Bürgern, das sich einseitig an der Freizügigkeit orientiert, auch völlig unverständlich. Die Richter in Straßburg will ich von hier aus nachdrücklich auffordern, ihre Rechtsprechung zu korrigieren. Sie ist integrationsfeindlich. Die Bundesverwaltungsrichter haben es gleichwohl auch als zulässig erachtet, dass der Gesetzgeber für eine Reihe von Drittstaaten wie etwa die USA oder Japan Ausnahmeregelungen erlassen hat. Ich will dazu ergänzen, dass es integrationspolitisch natürlich einen großen Unterschied macht, ob ein Ehegatte auf Dauer in Deutschland lebt oder seinem Partner nur für eine vorübergehende berufliche Tätigkeit in Deutschland nachfolgt. Es ist sicher auch ein Unterschied, ob ein Ehegatte fließend Englisch oder Französisch oder eben Türkisch, Kurdisch oder Arabisch spricht. CDU/CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die praktische Umsetzung der Regelung über den Spracherwerb zu überprüfen. Dabei geht es etwa um eine organisatorische Vereinfachung der Erbringung des Nachweises über den Spracherwerb. Die Goethe-Institute haben hier eine gewisse Monopolstellung, die nicht notwendig ist. Gleichzeitig muss es dabei bleiben, dass auch in unseren Visastellen in Zusammenhang mit der Anhörung des nachzugswilligen Familienmitglieds eine Prüfung der Sprachkompetenz stattfinden kann. Die Evaluation des verpflichtenden Sprachnachweises wird zügig abgeschlossen. Insbesondere aber auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass das Instrument als solches rechtlich zulässig, und integrations- sowie frauenpolitisch dringend erwünscht ist. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Angesichts dessen, dass nunmehr auch das Bundesverwaltungsgericht am 30. März 2010 die Regelungen zum deutschen Aufenthaltsrecht als verfassungs- und europarechtskonform bestätigt hat - vgl. Urteil des BVerwG v. 30.03.2010 - 1 C 8.09V - sind die rechtlichen Ausführungen der Linken zur angeblichen Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit in ihrem Antrag schlicht falsch und nicht haltbar. Aber auch bereits vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts haben alle Verwaltungsgerichte, die mit der Überprüfung von abgewiesenen Anträgen auf Ehegattennachzug wegen fehlender Deutschkenntnisse beschäftigt waren, die bestehende Rechtslage für verfassungsgemäß und europarechtskonform gehalten - vgl. VG Ansbach, Urteil vom 20. Oktober 2009; VG Berlin, Urteil vom 11. März 2009; VG Freiburg, Urteil vom 20. November 2009. Die Regelungen des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet stünden insbesondere im Einklang mit den Vorgaben der EU-Richtlinie 2003/ 86/EG zur Familienzusammenführung vom 22. Septem-ber 2003. Schließlich ermächtigt gerade Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie die Mitgliedstaaten, von Drittstaatsangehörigen zu verlangen, dass sie vor dem Nachzug Integrationsmaßnahmen durchgeführt haben. Den Nachweis über die erfolgten Integrationsmaßnahmen müssen die Antragsteller auch gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung und nicht erst nach erfolgter Einreise vorlegen. Dass dies auch nicht wegen Unzumutbarkeit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, wurde ebenfalls durch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte bereits festgestellt und nunmehr durch das Bundesverwaltungsgericht in der zuvor bereits zitierten Entscheidung auch obergerichtlich bestätigt. Ein Anspruch auf Ehegattennachzug besteht daher nach deutschem Recht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nur, wenn sich der Ehegatte zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann. Dieser Nachweis kann auch durch die erfolgreiche Ablegung eines Sprachtests im Ausland erbracht werden. Hierbei handelt es sich schlicht um eine wünschenswerte und erforderliche Voraussetzung für die Integration der nachziehenden Ehegatten. Schließlich ist die Basis jeglicher Integration das Erlernen der Sprache. Sie ist Voraussetzung für die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und die Eingliederung in die Gesellschaft. Ich sehe daher auch keinen Anlass für eine Änderung des bestehenden Rechts. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zutreffend festgestellt hat, ist das Spracherfordernis in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch mit dem besonderen Schutz zu vereinbaren, den Ehe und Familie nach dem Grundgesetz genießen. Art. 6 GG gewährt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zu einem hier lebenden Familienangehörigen, sondern verpflichtet zu einem schonenden Ausgleich des privaten Interesses an einem ehelichen und familiären Zusammenleben im Bundesgebiet mit gegenläufigen öffentlichen Interessen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 12. Mai 1987 - Az. 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84 - klargestellt. Es verstoße insbesondere auch nicht gegen das Schutz- und Förderungsgebot von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG, wenn den Betroffenen zugemutet würde, in das jeweilige Heimatland überzusiedeln, sofern sie zeitlich unbegrenzt die Lebensgemeinschaft mit ihren Ehegatten sogleich herstellen wollten. Dieser Auffassung wird die derzeit geltende Regelung, die ein Zusammenleben im Bundesgebiet im Übrigen regelmäßig nur für einen überschaubaren Zeitraum verhindert, gerecht. Die Vorschrift ist im Übrigen auch nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie keine allgemeine Ausnahmeregelung für Härtefälle enthält. Falls die deutschen Sprachkenntnisse aus nicht zu vertretenden Gründen innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht erworben werden können und keine zumutbare Möglichkeit besteht, die Lebensgemeinschaft im Ausland herzustellen, kann der verfassungsrechtlich gebotene Interessenausgleich einfachgesetzlich auf andere Weise, etwa durch die Erteilung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Spracherwerbs - § 16 Abs. 5 AufenthG - herbeigeführt werden. Abschließend möchte ich noch etwas zu den von der Linken aufgeführten Zahlen zu angeblich gescheiterten Sprachtests von zuzugswilligen Ehegatten ausführen. Die bisherigen Erkenntnisse aus einer noch nicht vollständig abgeschlossenen Evaluierung der geltenden Rechtslage legen im Gegensatz zu den Schilderungen im Antrag der Linken das Ergebnis nahe, dass zuzugswilligen Ehegatten in den Herkunftstaaten auch tatsächlich ausreichende und zumutbare Möglichkeiten zum Erwerb einfacher deutscher Sprachkenntnisse und zum Ablegen der Sprachprüfung zur Verfügung stehen. Die Zahl der zum Ehegattennachzug erteilten Visa sank zwar unmittelbar nach Einführung des Sprachnachweiserfordernisses. Im langjährigen Vergleich konnte allerdings auch bereits vor der Einführung des Spracherfordernisses ein Rückgang bei Erteilung der Visa zum Ehegattennachzug festgestellt werden. In den letzten Monaten ist zudem die Zahl der Visa wieder angestiegen. Dies belegt, dass Schwankungen in diesem Bereich nicht unüblich sind. Es liegen somit weder die in dem Antrag geschilderten rechtlichen noch die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Einschreiten des Bundestages vor. Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Kolleginnen und Kollegen von der Linken das im August 2007 im Rahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsgesetzes eingeführte Erfordernis des Spracherwerbs für Ehegatten vor der Einreise nach Deutschland abschaffen. Ich brauche nicht daran erinnert zu werden, dass diese Regelung unter der Großen Koalition eingeführt worden ist, also auch von uns mitgetragen wurde. Ebenso richtig ist jedoch, dass ganz viele von uns - ich gehöre auch dazu - die Einführung des Spracherwerbs für falsch gehalten haben. Das zeigen insgesamt fünf Erklärungen von SPD-Bundestagsabgeordneten nach § 31 Geschäfts-ordnung und nicht zuletzt 21 Gegenstimmen und 5 Ent-haltungen zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz. Diese Zerrissenheit in der eigenen Fraktion hat zum Beispiel der Kollege Sebastian Edathy in seiner Rede vom 14. Juni 2007 zum Ausdruck gebracht, indem er klar sagte, dass man dem Richtlinienumsetzungsgesetz zustimmen wird, obwohl es so schwerwiegende Mängel aufweist wie die Einführung ebendieses Spracherwerberfordernisses. Auch ich habe dem Gesetzentwurf zwar zugestimmt, aber in einer gesonderten Erklärung deutlich gemacht, mit wie viel Bauchschmerzen und mit wie vielen Zugeständnissen. Schon in dieser Erklärung habe ich die Einführung des Spracherwerberfordernisses als eindeutig negativ und als eine Verschlechterung beim Familiennachzug beschrieben. Dass viele von uns dem Gesetzentwurf dennoch zugestimmt haben, liegt einzig und allein darin, dass die Kompromisse, insbesondere die Verschärfungen im Familienzusammenzug, der "Preis" für die erstmalige Einführung einer gesetzlichen Altfallregelung waren. Diese Altfallregelung hat dazu beigetragen, dass für einen Teil der bis dahin bei uns nur mit einer Duldung lebenden Menschen der Teufelskreis nach dem Motto "Hast du keine Arbeit, bekommst du keine Aufenthaltserlaubnis; hast du keine Aufenthaltserlaubnis, bekommst du keine Arbeit" durchbrochen werden konnte. Hier ging es um Menschen, die bereits seit zum Teil sehr langer Zeit bei uns gelebt haben. Maßgeblich um ihnen eine Perspektive zu geben, habe ich damals dem Gesetz zugestimmt. Die Einführung des Spacherwerberfordernisses sollte neben der Verbesserung der Integrationschancen für nachziehende ausländische Ehegatten vor allem ein Mittel zur Bekämpfung von Zwangsehen sein. Bis heute kenne ich keine einzige Studie oder irgendwelches Zahlenmaterial, welches belegen würde, dass die Anzahl der Zwangsehen nach Einführung der Neuregelungen im Ehegattennachzug zurückgegangen wäre. Eine Regelung, deren Wirksamkeit nicht plausibel ist, ist jedoch überflüssig und im Grunde schon deswegen abzuschaffen. Zudem ist es für mich und viele von uns nach wie vor schwierig, zu akzeptieren, dass die Regelung eben nicht alle nachziehenden Ehegatten betrifft, sondern nur Anwendung findet auf bestimmte Gruppen und Ethnien. Ich selbst habe diese Regelung sogar immer für verfassungsrechtlich höchst problematisch gehalten und es an dieser Stelle auch gesagt. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass sich beispielsweise zwangsverheiratete Frauen viel besser aus einer Zwangsehe befreien können, wenn sie bereits in Deutschland sind, als wenn sie im Herkunftsland aufgehalten werden. Allerdings gibt es, was die rechtliche Bewertung des Spracherwerberfordernisses anbelangt, seit dem 30. März 2010 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes. In einer Entscheidung kommt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Beherrschen von einfachen Deutschkenntnissen als Voraussetzung für den Ehegattennachzug sowohl mit Art. 6 Grundgesetz als auch mit der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie im Einklang steht. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes muss man nicht teilen; ich jedenfalls sehe sie sehr kritisch. Zudem sind schon Fälle vorgekommen, in denen das Bundesverfassungsgericht gegen das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat. Aber man wird jetzt nicht mehr ohne Weiteres sagen können - schon gar nicht, ohne sich mit den Argumenten unseres obersten Verwaltungsgerichts auseinanderzusetzen -, dass die Neuregelung des Familiennachzugs pauschal gegen das Grundrecht auf Schutz der Ehe und Familie, Art. 6 Grundgesetz, und die Familienzusammenführungsrichtlinie verstößt. Genau das macht die Fraktion Die Linke aber pauschal in weiten Teilen der Begründung ihres Gesetzentwurfes, ohne sich auch nur ein einziges Mal mit den Argumenten des Bundesverwaltungsgerichtes auseinanderzusetzen. Das ist, mit Verlaub, nicht gerade gründlich erarbeitet. Ich habe zudem den Eindruck, dass bei dem in dem Antrag genannten Zahlenmaterial nicht viel sorgfältiger gearbeitet wurde. Vor ziemlich genau einem Jahr, im Mai 2009, haben wir in der SPD-Querschnittsarbeitsgruppe "Migration und Integration" das Thema "Integration von Migrantinnen" behandelt. In einem Themenblock ging es um die Frage der Wirksamkeit der neuen Regelungen zum Ehegattennachzug. In diesem Zusammenhang berichteten Staatsministerin Professor Dr. Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, und Dr. Griesbeck, Vizepräsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass die Zahlen der erteilten Visa zum Familienzusammenzug 2008, also kurz nach Einführung der Regelung, zurückgegangen seien, sich aber bereits 2009 wieder auf dem Niveau von 2007 befänden. Das mir vorliegende Zahlenmaterial, das ich in Vorbereitung mit meiner Stellungnahme zum vorliegenden Antrag beim BAMF eingeholt habe, bestätigt diese Aussage. Zudem berichtete Frau Kollegin Professor Dr. Böhmer in der vorerwähnten Sitzung unserer Querschnittsarbeitsgruppe, dass sie auf einer Reise in die Türkei erfahren habe, die türkische Regierung stehe dem Ehegattennachzugsanforderungen nach wie vor kritisch gegenüber, allerdings vornehmlich deshalb, weil es sich um eine gesetzliche Regelung handelt und nicht, weil sie nicht vom Inhalt der Regelung überzeugt sei. Schon aus den dargestellten handwerklichen Mängeln, die der Antrag der Fraktion Die Linke aufweist - das heißt wegen der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes und wegen des unsauber aufgeführten Zahlenmaterials -, wobei es sich nicht um Kleinigkeiten handelt, über die großzügig hinweggesehen werden könnte, empfehle ich, den Antrag abzulehnen. Zudem erzwingt das Zahlenmaterial kein sofortiges und umgehendes Handeln. Andere Regelungen, zum Beispiel die Schaffung eines wirksamen, dauerhaften und fortlaufenden Bleiberechts, sind aus meiner Sicht im Moment dringender. Ich will auch heute nicht verheimlichen, dass die Ehegattennachzugsregelungen innerhalb der SPD-Fraktion nach wie vor umstritten sind. Anlässlich der Debatte zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz habe ich gesagt: "Für mich ist das Richtlinienumsetzungsgesetz ein schmerzhafter Kompromiss. Einige von uns sagen: Wir wollen einen Spracherwerb im Herkunftsland. Andere, auch in unseren Reihen, sagen: Das halten wir für verfassungswidrig und kritikwürdig." Auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gehöre ich immer noch zu der zweiten Gruppe. Aus meiner Sicht wäre es zumindest politisch das Richtige, die Erschwernisse im Ehegattennachzug wieder abzuschaffen. Wenn sich das Zahlenmaterial diesbezüglich ändert, werden wir über einen eigenen Gesetzesentwurf beraten. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Seit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre 2007 durch die Koalition aus Union und SPD wird von Personen, die ein Visum zum Zwecke des Ehegattennachzuges nach Deutschland beantragen, die Fähigkeit zur Verständigung in deutscher Sprache "auf einfache Art" verlangt. In der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hat sich hinsichtlich des Erwerbs und des Nachweises der erforderlichen Sprachkenntnisse eine Praxis herausgebildet, die die Antragsteller vor zusätzliche, in Einzelfällen unzumutbare Hürden stellt. Dazu gehörte hinsichtlich des Nachweises von Sprachkenntnissen der ausschließliche Verweis auf Kurse und Prüfungen der Goethe-Institute. Zudem waren die deutschen Auslandsvertretungen angewiesen, nur in Ausnahmefällen auch andere Sprachzertifikate als das Sprachzertifikat "Start Deutsch 1" des Goethe-Instituts anzuerkennen. Die FDP hatte diese Regelung auch deshalb kritisiert: Weder existieren in allen Ländern Goethe-Institute, noch ist es zumutbar, dass Antragsteller bis zu dreimonatige Sprachkurse in Hunderten von Kilometern Entfernung von ihrem Wohnort oder sogar in Nachbarländern absolvieren müssen und somit weder ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen können noch über eine ständige Unterkunft verfügen. Eine regelmäßige Sprachkursteilnahme unter solchen Umständen kann unzumutbar sein. Eine einmalige Teilnahme an einer Sprachstandserhebung kann dagegen durchaus auch bei einem gewissen Aufwand zumutbar sein, weil dadurch die Einreiseerlaubnis für Deutschland im Rahmen des Ehegattennachzugs erworben wird. Deshalb muss es möglich sein, einen entsprechenden Sprachnachweis auch ohne Kursteilnahme zu erbringen, wenn die Sprachkenntnisse auf anderem Wege erworben wurden. Wichtig ist, dass die sprachliche Qualifikation verlässlich erhoben wurde. Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierung nichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keine Sprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familienangehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgern keine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlung führt im Ergebnis zu Ehen erster und zweiter Klasse. Anstatt beim Nachweis der Deutschkenntnisse auf die Staatsangehörigkeit desjenigen abzuheben, der seinen Ehegatten in die Bundesrepublik nachholen möchte, haben wir 2007 vorgeschlagen, im Sinne der Gleichbehandlung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH auf die Staatsangehörigkeit des nachziehenden Ehegatten abzuheben. Ebenso fehlt eine allgemeine Härtefallregelung. In der Koalitionsvereinbarung ist festgelegt, dass der grundsätzliche Ansatz, den Beginn des Spracherwerbs für Ehegatten schon vor Zuzug hierher beginnen zu lassen, sinnvoll ist. Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Sie sind aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linke will, wie sie auch mit dem vorliegenden Antrag beweist, etwas anderes: Sie will die Abschaffung der Nachzugsregelung. Damit will sie, wie immer in ihren Anträgen zur Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. Die FDP hat hingegen mit der Union vereinbart, dass die Probleme, die durch die Nachzugsregelung 2007 entstanden sind, behoben werden sollen. Wir wollen die Möglichkeiten verbessern, im Ausland Deutsch zu lernen, und wir wollen den Sprachnachweis organisatorisch vereinfachen. Dabei soll vor allem das Monopol des Goethe-Instituts gelockert werden. Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stets gemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Der Schutz der Familie, auf den Art. 6 GG den Staat verpflichtet, entbindet die zu schützenden Familien nicht von der Pflicht, auf zumutbare Weise Verantwortung für unsere Zivilgesellschaft zu übernehmen. Art. 6 GG ist von den Vätern und Müttern des GG nie als Freibrief für unkontrollierte und bedingungslose Zuwanderung nach Deutschland gedacht gewesen. Bis heute wird er von der Rechtssprechung auch nicht so interpretiert. Familiennachzug sollte zudem vor allem bedeuten, dass bei Zuwanderung bestehende Familien bei Integrationsbereitschaft eine Zuzugsmöglichkeit erhalten sollen. Die Kultivierung von desintegrierten Parallelgesellschaften durch systematische und von Großfamilienclans organisierte Verheiratung von Zuwanderern oder Zuwandererkindern mit Partnern aus dem Herkunftsland ist nicht gewollt und mit dem Grundanliegen von Art. 6 GG nicht vereinbar. Die Linken verwenden jeden beliebigen Vorgang aus der Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwanderung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme und ansteigende Ausländerfeindlichkeit nehmen die Linken dafür billigend in Kauf. Wir Liberalen haben mit der Union dagegen eine Steuerung der Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien vereinbart. Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet, für die, die nicht nur "territorial" nach Deutschland kommen, sondern auch in seiner Sprache und Kultur sowie seiner Gesellschaft mit ihren Grundwerten ankommen wollen, und diejenigen anerkennt, die das geschafft haben. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Wir beraten vorliegend einen Antrag meiner Fraktion, weil die seit Ende August 2007 geltende Neuregelung, wonach im Rahmen des Ehegattennachzugs bereits vor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen sind, zu einer erheblichen Einschränkung des Ehegattennachzugs geführt hat. 2008 lag die Zahl der zum Ehegattennachzug erteilten Visa um 22 Prozent unter dem Wert von 2006. Direkt nach Inkrafttreten der Neuregelung gab es einen drastischen Einbruch der Visumzahlen um weltweit 40 Prozent, bezogen auf die Türkei gar um 67,5 Prozent. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung die Betroffenen dafür verantwortlich macht. Nicht anders ist die Bemerkung der Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine Kleine Anfrage mit der Drucksachennummer 17/1112 zu verstehen. Laut Bundesregierung haben sich diejenigen, die die Deutschprüfung im Ausland nicht bestanden haben, oftmals einfach nicht ausreichend auf die Prüfung vorbereitet. Das ist eine Unverschämtheit! Es ist der gezielte Versuch, über die eingeführten diskriminierenden Regelungen zum Ehegattennachzug hinwegzutäuschen und die bestehenden Probleme auf die Betroffenen abzuwälzen. Ließen sich die geforderten Sprachkenntnisse leicht und schnell erwerben, hätte die Zahl der erteilten Visa im ersten Quartal 2008, das heißt vier bis sieben Monate nach Inkrafttreten der Regelung, in etwa wieder dem Wert von vor der Gesetzesänderung entsprechen müssen; tatsächlich aber lag sie immer noch um mehr als 30 Prozent darunter. Nur 64 Prozent aller Prüfungsteilnehmenden weltweit bestanden im Jahr 2009 den Deutschtest, der Voraussetzung für den Ehegattennachzug ist. Nicht erfasst wird dabei, wie viele Versuche die Betroffenen unternehmen mussten, um den Sprachtest zu bestehen. Vermutlich schafft nur etwa die Hälfte aller nachzugswilligen Ehegatten die Hürde des Sprachtests im ersten Anlauf. Problematisch ist auch, dass die Erfolgsaussichten, den Sprachkurs zu bestehen, dann größer sind, wenn Kurse am Goethe-Institut absolviert wurden. Doch viele Betroffene haben keinen Zugang zu einem Sprachkurs eines Goethe-Instituts im Ausland. Viele können sich diesen auch schlicht nicht leisten. Denn um Sprachkurse besuchen zu können, müssen die Betroffenen oftmals in weiter entfernte Städte reisen, sie müssen sich dort eine Unterkunft nehmen und können in der Zeit des Spracherwerbs nicht erwerbstätig sein. Besonders prekär ist die Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika. Für die Bundesregierung aber ist all dies zumutbar. Vermutlich hält es die Bundesregierung auch für zumutbar, unter Brücken schlafen zu müssen, wenn das Geld für Übernachtungsmöglichkeiten nicht ausreicht. All das ist wenig überraschend, denn das Ziel der Neuregelung ist die soziale Selektion beim Ehegattennachzug und der Ausschluss sogenannter bildungsferner und sozial ausgegrenzter Menschen. Diese Selektionswirkung wurde von der Bundesregierung sogar mehr oder weniger eingeräumt. So hält sie finanzielle Belastungen in Höhe mehrerer Tausend Euro aufgrund von sich hinziehenden Visumverfahren ausdrücklich für zumutbar; sehen Sie dazu die Bundestagsdrucksache 16/10732, Fragen 11 und 15. Die vorgegebenen Ziele einer angeblichen Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder einer Förderung der Integration können nach Auffassung aller fachkundigen Verbände mit Sprachtests im Ausland gar nicht erreicht werden. Im Gegenteil: Der Druck auf Zwangsverheiratete im Ausland dürfte sich häufig sogar noch vergrößern, und die Integration in Deutschland wird durch die Hürde des Spracherwerbs im Ausland ganz klar behindert und verzögert. Die Bundesregierung täuscht aber nicht nur die Öffentlichkeit, indem sie den Betroffenen die Verantwortung für ihre Situation zuschiebt. Sie täuscht die Öffentlichkeit überdies in dem Sinne, dass sie eine nach Angaben der Bundesregierung bereits im Jahr 2009 fertiggestellte Evaluierung der Auswirkungen der Neuregelung der Sprachnachweise beim Ehegattennachzug nicht veröffentlicht. Dabei handelt es sich nicht einmal um eine unabhängige Evaluierung, sondern um eine interne Bewertung. Doch vermutlich passen der Bundesregierung die Fakten nicht ins politische Konzept und lassen sich kaum beschönigen. Denn selbst im Rahmen einer vom Ministerium veranlassten Evaluierung dürfte die Notwendigkeit zumindest einer Härtefallregelung für Ausnahmefälle offenkundig geworden sein. Eine solche Härtefallregelung als Minimallösung, wie von der FDP noch vor kurzem im Parlament gefordert wurde, wird aber von der CDU/CSU abgelehnt. Die Linke hat die Neuregelung von Beginn an als eine verfassungswidrige Einschränkung des Familiennachzugs und als eine Selektion nach Nützlichkeitskriterien abgelehnt. Verfassungs- und europarechtliche Bedenken wurden auch von zahlreichen Sachverständigen im Rahmen der Anhörung zum EU-Richtlinienumsetzungsgesetz im Innenausschuss des Bundestages 2007 vorgetragen. Die Verwirklichung eines Grundrechts darf nicht vom Geldbeutel der Betroffenen oder ihrer Fähigkeit zum Fremdsprachenerwerb abhängig gemacht werden. Völlig unverständlich ist, warum das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zum Ehegattennachzug vom 30. März 2010 die europarechtlichen Fragen nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung und Entscheidung vorgelegt hat. Nicht nachvollziehbar ist auch, dass sich das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis über die inhaltlichen Argumente und mühsam dokumentierten Einzelfälle hinwegsetzt, die die Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit der Neuregelung belegen. Stattdessen wurde offenbar unkritisch die durch nichts zu belegende Behauptung der Großen Koalition einer angeblich beabsichtigten Verhinderung von Zwangsverheiratungen und Erleichterung der Integration übernommen. Tatsächlich ist die Regelung familienfeindlich, diskriminierend und sozial selektierend. Für die Betroffenen ist sie mit einer Zwangstrennung auf unbestimmte Zeit, erheblichen Kosten und psychischen Belastungen verbunden. Die Linke ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass die Regelung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt und mit Art. 6 des Grundgesetzes unvereinbar ist. Damit stehen wir nicht alleine. Der Deutsche Gewerkschaftsbund bewertete in einer Stellungnahme die Neuregelung als nicht zu akzeptierende soziale Selektion. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte in seiner Bilanz vom 27. August 2009 "Ein Jahr nach der Reform des Zuwanderungsgesetzes" die Abschaffung der Nachweispflicht von einfachen Sprachkenntnissen als Voraussetzung für den Ehegattennachzug. Es handele sich um eine soziale Selektion, die mit dem grundgesetzlich geschützten Recht auf Ehe und Familie nicht vereinbar sei. Selbst der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes und ehemalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters, CDU, forderte in einem Brief vom 9. Oktober 2008 an den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble aufgrund der Erfahrungen des DRK mit der Neuregelung eine Ausnahme- bzw. Härtefallregelung bis hin zur Rückgängigmachung der Gesetzesverschärfung. In ihrem Antrag fordert die Linke eine sofortige Rücknahme der diskriminierenden Beschränkungen des Ehegattennachzugs. Das Parlament sollte im Interesse der Menschen nicht darauf warten, dass uns der Europäische Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht diesen Job abnimmt. Aus all diesen sowie weiteren Gründen und Erfahrungen haben wir unseren Antrag eingebracht. Es muss Schluss sein mit der für alle offensichtlichen Diskriminierung. Deshalb bitten wir um Unterstützung des Antrags. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit der Einführung des Spracherfordernisses beim Ehegattennachzug im Jahr 2007 kommt es bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu Verzögerungen, die sogar Jahre ausmachen können. In dieser Zeit müssen die Ehegatten getrennt voneinander leben und Härten verschiedenster Art ertragen. Der Spracherwerb im Ausland ist oft kaum möglich, da es zum Beispiel in ländlichen Regionen an Schulungsmöglichkeiten fehlt. In der Regel werden von den Auslandsvertretungen zum Nachweis der Deutschkenntnisse nur Zertifikate des Goethe-Institutes anerkannt. Jedoch existieren Goethe-Institute nicht in allen Regionen, nicht einmal in allen Ländern. Zudem sind die Sprachkurse allzu oft mit hohen Kosten verbunden, die für viele Menschen eine erhebliche Belastung bedeuten. Kurse beim Goethe-Institut sind teuer; oft übersteigen die Kosten ein durchschnittliches Monatsgehalt in den Herkunftsländern. Die Pflicht, Deutsch im Herkunftsland unter schwierigen Bedingungen zu lernen, trifft sozial schwache Personen besonders heftig. Auch für Personen ohne oder mit nur wenig Erfahrung mit Bildungseinrichtungen stellt das Spracherfordernis eine erhebliche Hürde dar. So kann die Regelung etwa für Analphabeten zu einem dauerhaften Einreisehindernis führen. Das Spracherfordernis verfehlt die Ziele, die es erreichen soll. Es wirkt Zwangsehen nicht entgegen und trägt zur Integration der nachziehenden Ehegatten nicht bei. Somit kann es die Eingriffe in Art. 6 Grundgesetz nicht rechtfertigen. Die Einführung des Sprachnachweises wurde von der Großen Koalition damit begründet, dass Sprachkurse Zwangsverheiratungen verhindern. Belege dafür gibt es nicht. Sprachkurse können zwar die individuelle Handlungsfähigkeit und damit die persönliche Autonomie steigern; wie Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler jedoch zeigen, gelingt das nur dann, wenn sie kontextbezogen stattfinden und mit Orientierungen im Gesellschafts- und Unterstützungssystem des Zielstaates verbunden sind. Derartiges "Empowerment" durch Sprachkurse ist daher erst im Zielland, etwa im Rahmen der Integrationskurse, nicht aber durch Fernlehrkurse vor der Einreise zu gewährleisten. Das Spracherfordernis ist also nicht geeignet, Zwangsverheiratungen entgegenzuwirken. Die Einschränkung des Grundrechts auf Ehe- und Familienleben ist zudem unverhältnismäßig. Denn sie betrifft eine große Zahl von Einwanderinnen und Einwanderer, während Zwangsehen nur in wenigen Ländern und hier jeweils nur bei kleinen Bevölkerungsgruppen geschlossen werden. Auch nach Aussagen der Bundesregierung spielen Zwangsverheiratungen beim Ehegattennachzug überhaupt nur in Ausnahmefällen eine Rolle. Der Eingriff in das Recht auf familiäres Zusammenleben in Deutschland ist auch durch das Ziel der Integration nicht gerechtfertigt. Denn es gibt mildere Mittel, durch die der intendierte Zweck besser erreicht wird. Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gesprochen werden. Nur dann ist gewährleistet, dass das in den Kursen erworbene Wissen praktisch umgesetzt und eingeübt wird, nicht zuletzt mithilfe der hier lebenden Familienangehörigen und Freunde und unterstützt durch die Sprachanwendung im Alltag. Kurz: Der Spracherwerb im Inland ist viel leichter, schneller, kostengünstiger und weitaus weniger belastend für die Betroffenen als im Ausland. In Bezug auf den Ehegattennachzug zu Deutschen stellt die Regelung zudem eine "Inländerdiskriminierung" dar. Denn der Nachzug zu Deutschen wird anders behandelt als der Nachzug zu Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern. Während Ehegatten deutscher Staatsangehöriger vor der Einreise Sprachkenntnisse nachweisen müssen, sind Ehegatten von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern von dieser Verpflichtung befreit. Letztere können sich auf die vorteilhafteren Regelungen des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts berufen. Mangels sachlicher Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung steht die Regelung nicht im Einklang mit Art. 3 Grundgesetz. Das Spracherfordernis gilt auch nicht für alle Ehegatten von Ausländerinnen und Ausländern. So müssen beispielsweise Ehegatten von Staatsangehörigen aus Ländern, mit denen Deutschland enge wirtschaftliche Beziehungen pflegt, Sprachkenntnisse nicht nachweisen. Ausgenommen von der Nachweispflicht sind auch Ehegatten von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern sowie die Ehegatten von Hochqualifizierten, Selbstständigen und Forscherinnen und Forschern. Diese Bevorzugung bestimmter Drittstaatsangehöriger ist im Hinblick auf den vorgeblichen Zweck des Sprachnachweises sachfremd. Wir betrachten die Regelungen zum Spracherwerb beim Familiennachzug als menschenunwürdig, verfassungswidrig und überflüssig. Daher haben wir uns in unserem Gesetzentwurf mit der Drucksachennum-mer 17/1626 für ihre Abschaffung ausgesprochen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Europäische Bürgerinitiative - Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU - Drucksache 17/1781 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Petitionsausschuss Ausweislich der Tagesordnung werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Dörflinger, Karl Holmeier, CDU/CSU, Michael Roth, SPD, Dr. Stefan Ruppert, FDP, Dr. Dieter Dehm, Die Linke, Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen. Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Zu den vielen positiven Neuigkeiten, die der Vertrag von Lissabon in die europäische politische Realität gebracht hat, gehört die Europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV. Insofern ist es gut, im Lichte des Verordnungsvorschlags des Europäischen Parlaments und des Rates im Deutschen Bundestag eine Debatte hierüber zu führen, auch wenn - und dies schicke ich voraus - im uns heute vorliegenden Antrag wenig zu finden ist, was unsere Zustimmung finden kann. An vielen Punkten ist der Vorschlag der Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments und des Rates zielführender. Ich will dies schlaglichtartig aufzeigen: Erstens. Der Verordnungsvorschlag gibt als Richtschnur für das Mindestalter der Antragsteller das Wahlalter in den Mitgliedstaaten an. Wir halten dies für zielführend. Der Vorschlag des Antrags der Grünen geht von einem Mindestalter von 16 Jahren aus; dies korrespondiert nicht mit den Bestimmungen des deutschen Wahlgesetzes. Zweitens. Bündnis 90/Die Grünen fordern ein einklagbares Recht auf obligatorische Befassung der Kommission mit einer formal erfolgreich eingereichten Initiative. Das liegt nicht in der Intention der Vertragsautoren von Lissabon. Ein solches Recht, die Europäische Kommission habe sich mit eingereichten Vorlagen zu befassen, hat im Übrigen nicht einmal der Deutsche Bundestag. Drittens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, den Antragstellern müsse eine informelle Vorabberatung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission zur Verfügung gestellt werden. Mit Verlaub: Das ist etwas zu viel des Guten und käme der Praxis gleich, dass der Petitionsausschuss beim Deutschen Bundestag die Petenten selbst vorab berät. Viertens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, dass die 1 Million benötigter Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten stammen solle. Der Verordnungsvorschlag geht von einem Drittel aus. Wenn man weiß, dass die grüne Position in der von der Kommission durchgeführten Anhörung insbesondere von Organisationen vertreten wurde, wird die Absicht etwas deutlicher. Hier soll offensichtlich befreundeten Organisationen der Zugang erleichtert werden; Klientelpolitik im klassischen Sinne. Diese Auffassung teilen wir nicht. Man kann trefflich darüber streiten, ob eine Zulässigkeit vorab durch die Kommission oder ex ante geprüft werden sollte. Im Interesse möglicher Initianten sollte es liegen, dass der Fall vermieden wird, dass mit verhältnismäßig großem Aufwand eine Initiative gestartet und durchgeführt wird, von der sich nachher herausstellt, sie war überhaupt nicht zulässig. Die Hoffnung, alleine durch diesen Prozess werde schon eine europäische öffentliche Debatte ausgelöst, scheint mir dagegen eher virtueller Natur zu sein. Letzte Bemerkung: Die Europäische Bürgerinitiative soll die repräsentative Demokratie und damit das Parlament ergänzen und nicht ersetzen; sie soll auch nicht in Teilen Aufgaben der Legislative übernehmen. Insofern können wir den vorgelegten Antrag nicht mittragen. Karl Holmeier (CDU/CSU): Demokratie hat Konjunktur - und das inmitten einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Nachdem durch den Vertrag von Lissabon bereits die Mitwirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlamentes und die Einbindung der nationalen Parlamente in den europäischen Gesetzgebungsprozess verbessert wurden, setzen wir nun auf europäischer Ebene ein weiteres Zeichen zur Stärkung der Demokratie. Wir geben den Startschuss für ein echtes europäisches Volksbegehren - die Europäische Bürgerinitiative. Den Grundstein dafür haben wir bereits im Vertrag von Lissabon gelegt, und derzeit diskutieren wir mit der Europäischen Kommission und unseren europäischen Partnern die Einzelheiten für das konkrete Verfahren zur Ausgestaltung der Bürgerinitiative. Doch lassen Sie mich vielleicht zunächst kurz erläutern, worum es bei dieser Europäischen Bürgerinitiative eigentlich genau geht und was sie bedeutet. In ihrem Zusammenhang wird viel von der sogenannten partizipatorischen Demokratie gesprochen, im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, die wir hier als Abgeordnete im Deutschen Bundestag praktizieren. Da es sich jedoch bei der Europäischen Bürgerinitiative um ein Instrument handelt, das direkt für die Bürgerinnen und Bürger geschaffen wurde, sollten wir uns vielleicht bei der Erläuterung dieses Instruments etwas verständlicher ausdrücken. Die Europäische Bürgerinitiative ist, wie eingangs bereits kurz erwähnt, eine Art Volks- oder Bürgerbegehren auf europäischer Ebene. Sie erlaubt den Unionsbürgern erstmals in der Geschichte der EU, europäische Rechtsvorschriften direkt anzuregen - mit der Sammlung von mindestens einer Million Unterschriften zu einem ganz konkreten Thema. Die Bürger können mit diesen Unterschriften die Kommission auffordern, konkrete Gesetzesvorschläge auf europäischer Ebene vorzulegen. Dies gilt selbstverständlich nur im Rahmen der Kompetenzen, die die EU hat. Das sogenannte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip bleiben also gewahrt. In Deutschland ist uns das von Länder- und Kommunalebene bereits bekannt. Im Bund gibt es so etwas nicht, dafür aber nun in Europa. Das ist ein Meilenstein für die Demokratie. Wir sind damit in Europa also sogar ein Stück weiter als in Deutschland. Ziel der Europäischen Bürgerinitiative ist es, einen spürbaren Akzent zu setzen, um die EU bürgernäher zu machen. Wir von der CDU/CSU haben immer klargemacht, dass wir nicht nur ein starkes, sondern vor allem auch ein bürgernahes Europa wollen. Das haben wir in unseren Wahlprogrammen und auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Mit der Europäischen Bürgerinitiative setzen wir dies nun um. Die Menschen in der EU können sich mit dieser Initiative selbst Gehör verschaffen und erhalten die Möglichkeit, selbst ein Wort mitzureden. Die Europäische Bürgerinitiative hat damit einen immensen symbolischen Wert und ist ein Beleg dafür, dass es der EU ernst damit ist, sich um die Belange ihrer Bürgerinnen und Bürger zu kümmern. Außerdem soll die Bürgerinitiative grenzüberschreitende europaweite Debatten fördern, weniger auf nationale Themen und nationale Interessen begrenzt, sondern verstärkt auf gesamteuropäische Themen. Damit leisten wir einen bedeutenden Beitrag zur Förderung der europäischen Identität. Ziel bei der Ausgestaltung der europäischen Bürger-initiative muss es sein, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Instrument aktiv nutzen. Es darf nicht nur ein populistisches Vehikel für Oppositionsparteien oder auch für Mitgliedstaaten sein, deren Vorstellungen zu bestimmten Themen nicht mehrheitsfähig sind. In diesen Tagen beschleicht mich jedoch der Eindruck, dass diese Initiative für die Bürger genau hierzu missbraucht wird. Ich bin der Letzte, der hohe bürokratische Hürden für die Bürgerinitiative fordert. Ich sehe mich eher als Kämpfer für Bürokratieabbau an allen Fronten. Position von CDU und CSU war es auch von Anfang an, die Europäische Bürgerinitiative unbürokratisch, unkompliziert und praktikabel auszugestalten. Aber es muss natürlich auch hinreichend sichergestellt sein, dass dieses Instrument tatsächlich ein Instrument der Bürgerinnen und Bürger wird und eben nicht als populistisches Mittel missbraucht werden kann. Genauso muss sichergestellt sein, dass es keinen Missbrauch durch fingierte Unterschriften gibt. Das ist nicht einfach, denn die Nachprüfung von einer Million Unterschriften in ganz Europa ist verständlicherweise eine echte Herausforderung. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir das in den aktuellen Verhandlungen in den Griff bekommen. Was die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angeht, das Mindestalter auf 16 Jahre festzulegen, denke ich, ist es sinnvoll, sich hier am Wahlrecht für das Europäische Parlament zu orientieren. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein demokratisches Instrument auf europäischer Ebene und wir sollten hier in Europa keine unterschiedlichen Altersgrenzen einführen. Insgesamt sind wir mit dem, was zurzeit von der Europäischen Kommission vorgelegt wurde, auf einem sehr guten Weg. Dem aktuellen Verordnungsvorschlag stehen keine wesentlichen Bedenken entgegen. Ich halte daher auch eine besondere Intervention des Deutschen Bundestages nicht für erforderlich. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den ich vor dem Hintergrund meiner Ausführungen ablehne. Angesichts der bedeutenden gesamteuropäischen Herausforderungen, vor denen wir in diesen Tagen stehen, ist diese Europäische Bürgerinitiative ein Signal für uns alle, für unseren europäischen Gemeinsinn, die gemeinsame Solidarität in Europa und die gemeinsame Identität. Michael Roth (Heringen) (SPD): Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. - Man muss nicht erst Heinrich Heines berühmtes Zitat in abgewandelter Form bemühen, um das beherrschende Thema dieser Tage in den Blick zu nehmen: Wird das vereinte Europa die dramatische Krise überstehen? Oder endet eine wohl einmalige Erfolgsgeschichte europäischer Integration, weil wir vor einem ungezügelten Raubtierkapitalismus und einer wachsenden Entsolidarisierung als Staaten- und Bürger-union kapitulieren? Trotz aller berechtigten Sorge: Von Schwarzmalerei halte ich nichts. Anlass zu Optimismus ist sicher auch das neue Instrument der Europäischen Bürgerinitiative. Mit dem Vertrag von Lissabon und der Bürgerinitiative wagen wir mehr Demokratie. Gerade jetzt ist nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Bürgerbeteiligung in Europa entscheidend. Bürgerinnen und Bürger haben eine Chance verdient, sich stärker in den Entscheidungsprozess der EU einzubringen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns schon im Verfassungskonvent für eine Europäische Bürgerinitiative stark gemacht, und das mit Erfolg! Heute debattieren wir über die konkrete Umsetzung. Endlich liegt ein Verordnungsentwurf der EU-Kommission auf dem Tisch. Die SPD will die Bürgerinnen und Bürger zur Teilhabe in der EU ermuntern. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein wichtiger Baustein direkter Demokratie. Die Europäische Bürgerinitiative ist stets als ein Glanzstück des Verfassungsvertrages bzw. des Vertrages von Lissabon bewertet worden. Jetzt muss das Projekt möglichst unbürokratisch und bürgerfreundlich ausgestaltet werden, damit es wirken und von der Bevölkerung auch angenommen werden kann. Meine Fraktion hat sich bereits mit einer ausführlichen Stellungnahme am öffentlichen Konsultationsprozess der Europäischen Kommission zur Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative beteiligt. Denn bis auf die Mindestanzahl von 1 Million Unterschriften aus einer bestimmten Anzahl von Mitgliedstaaten schreibt der Vertrag von Lissabon nicht viel zur Durchführung einer Europäischen Bürgerinitiative vor. Deshalb sind viele der Forderungen, die die Grünen-Fraktion in ihrem Antrag nennt, durchaus unterstützenswert. Das Quorum für die Anzahl der Unterstützer pro Mitgliedsland hat die Kommission selbst herabgesetzt. Das ist schon einer unserer ersten Erfolge. Der ursprüngliche Prozentsatz von 0,2 Prozent der Bevölkerung hätte beispielsweise für Deutschland bedeutet, dass sich ungefähr 160 000 Bürgerinnen und Bürger hätten beteiligen müssen. Wenn ich mich recht entsinne, fand selbst die Petition an den Deutschen Bundestag zu den umstrittenen Internetsperren nicht einmal 140 000 Unterzeichner. Das zeigt: Eine Mindestanzahl von 160 000 war einfach zu hoch angelegt. Das haben im Konsultationsverfahren nicht nur wir bemängelt, sondern auch eine Vielzahl weiterer Akteure - auch aus anderen Mitgliedstaaten. Der aktuelle Vorschlag fußt zwar auf einer komplizierten Berechnungsgrundlage; aber die erforderliche Unterstützerzahl wurde für Deutschland damit auf 72 000 vermindert. Das ist gut so. Der nun vorliegende Vorschlag der Kommission legt jedoch in vielen Bereichen die Messlatte weiterhin zu hoch an. Der Rat und das Parlament sind nun in der Pflicht, im weiteren Verfahren, die zu hohen Hürden im Interesse der Bürgerinnen und Bürger herabzusetzen. Wir werden sehr genau beobachten, wie sich die Bundesregierung in den Verhandlungen verhalten wird. Ich möchte einige weitere Punkte benennen, die zu korrigieren sind, damit dieses Instrument für die Organisatorinnen und Organisatoren von Bürgerinitiativen vereinfacht wird. Nur dann wird es den EU-Bürgerinnen und -Bürgern möglich sein, sich über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus zu vernetzen, gemeinsame Anliegen zu verfolgen und mitzugestalten. Eine Schicksalsgemeinschaft muss auch immer Gestaltungsgemeinschaft sein. Erstens sollte die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, die im aktuellen Vorschlag bei neun liegt, auf ein Viertel, also derzeit sieben Mitgliedstaaten, herabgesetzt werden. Mit Unterstützern aus sieben Mitgliedstaaten ist ein europäisches Interesse ausreichend gewährleistet. Wir unterstützen damit den Vorschlag des Europäischen Parlaments. Zweitens spricht sich meine Fraktion für eine Verlängerung des Zeitraums von 12 auf 18 Monate aus. Die Vernetzung der Organisatorinnen und Organisatoren aus mehreren EU-Mitgliedstaaten bedeutet einen sehr hohen Aufwand. Dem muss mit einem angemessenen Zeitraum Rechnung getragen werden. Wenn die nötige Anzahl von Unterstützern von 1 Million vor Ablauf dieser Zeit erreicht wird, beginnt die Arbeit der Kommission eben früher. Drittens ist die im vorliegenden Entwurf vorgeschriebene Angabe der Personalausweisnummer fraglich. Diese Vorgabe kennt auch das deutsche Petitionsrecht nicht. Aus welchem Grund sollte diese Erschwernis für eine Bürgerinitiative auf europäischer Ebene gelten, die schlussendlich keine Pflicht, sondern lediglich eine Aufforderung zum Handeln des europäischen Gesetzgebers beinhaltet? Unsere Position werden wir als SPD-Fraktion in einem eigenen Antrag im Deutschen Bundestag detailliert darstellen, und wir werden die Bundesregierung auffordern, sich für weitere Vereinfachungen im Sinne der Bürgerfreundlichkeit einzusetzen. Die Abwehrhaltung der Kolleginnen und Kollegen der CDU gegen direktdemokratische Elemente vermag ich nicht nachzuvollziehen. Zeigen Sie jetzt, ob Ihnen das Projekt einer EU der Bürgerinnen und Bürger ebenso wichtig ist wie uns. Demokratie und Europa werden von oben nicht funktionieren, sondern nur von unten. Nur wenn das gelingt, werden wir die Akzeptanz der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern steigern. Noch scheint diese vielen Menschen als bürokratisch-technokratisches Ungetüm. Brüssel ist vielen fern. Das verhindert die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins, das wir auch zur Bewältigung von Krisen dringend benötigen. Die Europäische Bürgerinitiative vermag Debatten auf europäischer Ebene anzustoßen. Wir brauchen diese europaweiten Debatten auch, um mehr Menschen an die Wahlurnen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu bewegen. Das Europäische Parlament als einziges demokratisch legitimiertes Organ der EU verdient das Interesse und die Anerkennung der Wählerinnen und Wähler. Die Menschen in der EU verstehen nicht, warum sie die Kosten der Krise, die schamlose Banker und Spekulanten verursacht haben, allein schultern sollen. Erfreulich, dass diese Einsicht jetzt doch, wenn auch verspätet und im Schneckentempo, bei der schwarz-gelben Koalition durchdringt. Wenn die Europäische Bürgerinitiative jetzt schon genutzt werden könnte, hätte ich keinen Zweifel am erfolgreichen Ausgang einer Initiative zur Zügelung der Finanzmärkte. Es hätte den konservativen und liberalen Kräften in der EU längst den Wind aus den Segeln genommen und sie endlich zu mutigen Schritten zur weitreichenden Finanzmarktregulierung gezwungen. Der Beschluss der Sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Österreichs vom 17. Mai 2010 war nur der erste Schritt einer europaweiten Mobilisierung für das gemeinsame Anliegen, die Märkte wieder dem Primat der Politik unterzuordnen. Es ist wünschenswert, dass sich Rat und Europäisches Parlament schnell auf genannte Korrekturen verständigen und die Verordnung zur Durchführung einer Europäischen Bürgerinitiative schnell in Kraft treten kann. Wir haben schon genug Zeit vertan. In der heutigen Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" formuliert ein Journalist zutreffend: "Auch Tiefpunkte haben einen Höhepunkt". Der Tiefpunkt, den wir in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten gerade erleben, kann zu einem Höhepunkt des Interesses für Europa werden. Selten hat Europapolitik so viel Aufmerksamkeit wie dieser Tage erhalten. Diese Chance gilt es zu nutzen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger am Geschehen in Gesellschaft und Staat. Selbst ein repräsentatives System, wie es in Deutschland und der Europäischen Union zu finden ist, kann immer noch um Elemente der direkten Demokratie, das heißt durch stärkere und unmittelbare Einbeziehung des Bürgerwillens, bereichert werden. Das ist ein wichtiger Grundsatz liberaler Politik. Mit der Europäischen Bürgerinitiative, die zuerst im Verfassungsvertrag der EU Erwähnung fand und dann erfreulicherweise in den Vertrag von Lissabon übernommen wurde, wird erstmals ein bedeutsames direktdemokratisches Instrument auf der europäischen Ebene geschaffen. Es soll den Bürgern eine unmittelbare Teilnahme am europäischen Gesetzgebungsverfahren ermöglichen. Aus demokratietheoretischer Sicht kann die Europäische Bürgerinitiative eine Lücke im politischen System der EU in Bezug auf Bürgerpartizipation und Kontrolle der europäischen Politik füllen. Diese ist vor allem durch die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU im Zuge der vergangenen Vertragsrevisionen entstanden. So sind mit der Schaffung der Europäischen Bürgerinitiative eine Vielzahl von Chancen für das politische System der Europäischen Union verbunden: zum ersten eine direkte Mitwirkung der Bürger am Gesetzgebungsverfahren und damit auch eine mögliche Erweiterung des Wissens und des Verständnisses für europäische Politik, zum zweiten eine Stärkung von Pluralismus in der EU, da auch Minderheiten stärker Berücksichtigung finden werden. Letztlich kann die Europäische Bürgerinitiative auch einen Beitrag zur Herausbildung von transnationalen Diskursen leisten. Es erscheint jedoch ein wenig illusorisch, von dem Instrument den Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit zu erwarten, wie es im Antrag der Grünen anklingt; denn die Bürgerinitiative wird wohl vor allem von Minderheiten genutzt werden. Nichtsdestotrotz ist die Schaffung des neuen direktdemokratischen Elements auf europäischer Ebene ein bedeutsamer Schritt. Welche Praxis sich hinsichtlich der Europäischen Bürgerinitiative in den kommenden Jahren einspielen wird, hängt in hohem Maße von der konkreten Ausgestaltung der Verordnung ab. Hier muss es aber eine sinnvolle Balance zwischen Effektivität und Nutzerfreundlichkeit des neuen Instruments einerseits und Schutz vor Missbrauch der Europäischen Bürgerinitiative andererseits geben. Gerade dieses Gleichgewicht lassen die im Antrag der Grünen gestellten Forderungen doch etwas vermissen. Ich möchte jedoch zuerst die Kernelemente des Antrags benennen, die bei uns Liberalen ausdrücklich auf Zustimmung stoßen. Zum einen ist die geforderte Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unterstützungsbekundungen kommen müssen, mit sieben, was einem Viertel entspricht, zu begrüßen. Auch das von der EU-Kommission vorgeschlagene degressiv proportionale System zur Bestimmung der Mindestanzahl der Bürger pro Land, die für eine erfolgreiche Bürgerinitiative notwendig sind, befürworten wir. Darüber hinaus kann aus unserer Sicht die Forderung unterstützt werden, dass eine Zulässigkeitsprüfung durch die Kommission bereits zum Zeitpunkt der Registrierung und nicht erst, wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen, nach der Sammlung von 300 000 Unterstützungen erfolgt. Der Antrag der Grünen bleibt aber hinter dem Anspruch zurück, das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative gegenüber Missbrauch zu schützen. Zwar wird im Antrag beispielsweise thematisiert, die Bürger-initiative vor der Instrumentalisierung und Durchsetzung rein nationaler Interessen zu bewahren; konkrete Vorschläge dazu kommen bei ihnen jedoch nicht zur Sprache. Vielmehr ist erkennbar, dass sie mit ihren sehr freizügigen und weitreichenden Forderungen die Hürden zu niedrig ansetzen und deshalb die Effektivität der Europäischen Bürgerinitiative gefährden. In diesem Zusammenhang ist etwa der Zeitraum für die Sammlung von Unterschriften zu nennen, der mit zwölf Monaten zu lang ist. Auch das von ihnen geforderte einheitliche Mindestalter von 16 Jahren zur Teilnahme an der Initiative ist unverhältnismäßig. Obwohl sie die von uns favorisierte Kopplung der Teilnahme an die Altersgrenze für die Wahlen zum Europäischen Parlament als "rückschrittlich" bezeichnen, müssen sie dennoch anerkennen, dass sich eine klare Mehrheit im Anhörungsverfahren für diese Regelung ausgesprochen hat. Abschließend sei auf die in ihrem Antrag sehr weitreichend skizzierten Widerspruchs- und Einklagungsrechte verwiesen, die nicht unproblematisch sind. Im Grünbuch der Kommission wie auch im ersten Verordnungsvorschlag wurden solche Forderungen gar nicht thematisiert. Auch im Konsultationsverfahren spielten sie lediglich am Rande eine Rolle. So kann ich abschließend nur zu dem Urteil kommen, dass ihrem Antrag trotz einiger positiv hervorzuhebender Punkte in der Summe die notwendige Balance fehlt, um eine solide Grundlage für eine effektive und missbrauchssichere Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative zu liefern. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Die Lektüre des Antrags Ihrer Fraktion hat mich ratlos zurückgelassen: Ich frage mich, ob wir von denselben vertraglichen Grundlagen ausgehen. Gleich im Feststellungsteil nehmen Sie positiv Bezug auf Art. 11 Abs. 4 des Lissabon-Vertrags, mit dem die Europäische Bürgerinitiative, EBI, eingeführt und in ihren Grundzügen umrissen wird. In dem Zusammenhang stellen Sie fest - ich zitiere -: "Die EBI verkörpert ein neues Element partizipatorischer Demokratie. Der Einfluss möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger auf die politische Willensbildung wird die demokratische Arbeitsweise der EU bereichern. Das neue Instrument bietet der EU eine einzigartige Chance, näher an die Bürgerinnen und Bürger zu rücken ..." Ich frage mich, an welcher Stelle Sie in Art. 11 Abs. 4 des Lissabon-Vertrags eine "einzigartige Chance" für mehr Bürgerbeteiligung und wo Sie Ansatzpunkte für eine demokratischere EU entdecken konnten. Mir ist dies nicht gelungen. Der Wortlaut des entsprechenden Artikels liest sich wie folgt - ich zitiere aus dem Vertragstext -: "Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ... können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen." Nach meiner Lesart dieser Passage eröffnet sie keine Chancen für eine direkte Beteiligung der EU-Bürgerinnen und -Bürger an der politischen Gestaltung, ganz im Gegenteil. Im Text wird sogar jede effektive Beteiligung ausgeschlossen. Lassen Sie mich diese Einschätzung, mit der ich im Übrigen keineswegs allein stehe, sondern die von meiner Fraktion sowie von zahlreichen Bürgerrechtsorganisationen wie zum Beispiel von "Mehr Demokratie e. V." geteilt wird, begründen: Erstens. Nach Vertragslage kann eine EBI die EU-Kommission lediglich dazu auffordern, Vorschläge für Rechtsakte - also "EU-Gesetzesvorschläge" - zur Umsetzung der EU-Verträge zu entwickeln. Damit ist ausgeschlossen, dass Vertragsänderungen oder Ergänzungen des Lissabon-Vertragswerkes eingefordert werden können. Beispielsweise ließe sich die Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag, wie dies unter anderem von meiner Fraktion, aber auch von Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Initiativen verlangt wird, nicht über eine Bürgerinitiative verwirklichen, da dies eine Primärrechtsänderung darstellt. Damit bleibt die EBI ein zahnloses Instrument, das den Bürgerinnen und Bürgern eine Beteiligung an den wichtigsten europapolitischen Fragen von vornherein verweigert. Zweitens. Dies zeigt sich auch daran, dass sich die Initiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen nur an die EU-Kommission und nicht an das EU-Parlament oder den Rat wenden können. Drittens. Last, but not least enthält der Vertragstext keinerlei Formulierungen, die die Kommission inhaltlich und politisch an die von einer Bürgerinitiative erhobenen Forderungen binden. Es ist somit theoretisch möglich, dass die Kommission ein Bürgerinnen- oder Bürgeranliegen zwar aufgreift, daraus aber einen Vorschlag einer EU-Verordnung mit komplett anderer politischer Stoßrichtung entwickelt. Der Lissabon-Vertrag hat die EU nicht demokratischer gemacht, sondern er hat bestehende Demokratiedefizite festgeschrieben. Das gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auch ganz konkret für die direktdemokratischen Elemente. Art. 11 Abs. 4 EUV stutzt die angeblich mit "Lissabon" angestrebten erweiterten Mitbestimmungsrechte auf den Status unverbindlicher Massenpetitionen zurück. Eine undemokratische EU, die eine wirkliche, direkte Beteiligung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger am politischen Prozess verhindert, schadet der europäischen Idee. Anstatt politische und soziale Integration zu ermöglichen, fördert sie Desintegration und den Rückfall in Nationalismen. Davor hat die Linke immer gewarnt, und auch darum haben wir gegen den Lissabon-Vertrag geklagt. Die EBI in ihrem jetzigen Zuschnitt trägt dieser Gefahr keine Rechnung. Dabei haben Erfahrungen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten gezeigt, dass die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger schnell frustriert werden, wenn einerseits die organisatorischen und formalen Voraussetzungen einer direkten Beteiligung zu hoch angesetzt und andererseits die Bürgerinitiativen keine politisch bindende Wirkung für die Regierenden haben und somit ignoriert werden können, wenn das Volk nicht nach der Pfeife der Mächtigen tanzen will. Wer direktdemokratische Einflussmöglichkeiten großartig ankündigt und zugleich die Bedingungen dafür so zuschneidet, dass wirkliche Mitsprache per definitionem ausgeschlossen wird, riskiert wachsende Politikverdrossenheit und die Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von jeder demokratischen Mitgestaltung - ob fahrlässig oder bewusst, lasse ich hier einmal dahingestellt. Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative vom 6. April diesen Jahres - KOM (2010) 119 - an das Europäische Parlament und an den Rat, auf die sich der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bezieht, und in dem die genauen Verfahren und Bedingungen für die EBI festgelegt werden, riskiert genau dies. Er ist unter Demokratiegesichtspunkten in höchstem Maße ungenügend. Erwartungsgemäß werden von der Kommission die oben angesprochenen elementaren Mängel des Vertragstextes mit keiner Silbe angesprochen; es werden keine vertraglichen Änderungen oder Korrekturen angeregt, die eine wirkliche Demokratisierung der EU gewährleisten würden. Darüber hinaus setzt die EU-Kommission die Formalkriterien für Bürgerinitiativen unverhältnismäßig hoch an: Dies betrifft beispielsweise die Mindestbedingungen des Quorums, die neben der Festlegung der Mindestzahl der Unterstützerinnen und Unterstützer auf insgesamt 1 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger auch vorschreibt, dass die Initiative eine festgelegte Mindestzahl von Unterstützerinnen und Unterstützern in mindestens 30 Prozent der Mitgliedstaaten findet. In Anbetracht der Tatsache, dass die EBI derzeit nur auffordernden und keinen verbindlichen Charakter hat, ist dies nur als Schikane zu bewerten, die sich besonders gegen Graswurzelbewegungen mit begrenzten finanziellen und organisatorischen Mitteln richtet. Auch die Vorschriften zur Unterschriftensammlung, die neben dem Namen, der Adresse und des Geburtsdatums der Unterstützerin oder des Unterstützers auch die Angabe zur Ausweis- und Sozialversicherungsnummer verlangen, erschweren die Sammlung von Unterstützungsbekundungen erheblich und unnötig. Einige dieser und weiterer Hürden, die die Kommission der direkten Bürgerbeteiligung entgegenstellt, werden zwar im Antrag der Grünen angesprochen; allerdings vermisse ich dort die nötige Vehemenz. Bezeichnend ist, dass im Grünen-Antrag das faktische Vetorecht, das sich die EU-Kommission in ihrem Vorschlag selbst einräumt, nicht als das bezeichnet wird, was es ist: Es ist nach meiner Auffassung ein Skandal, dass sich die Kommission in Art. 4 ihres Vorschlags selbst das Recht nimmt, eine Bürgerinitiative durch Nichtregistrierung bereits im Vorfeld zu verhindern. Die Kriterien sind jedoch derart vage formuliert, dass sie leicht politisch missbraucht werden können. Die Möglichkeit, "unangemessene" Initiativen zu verhindern, eröffnet der Kommission Tür und Tor für willkürliche Entscheidungen gegen politisch unliebsame Initiativen. Dass der Kommissionsvorschlag weder hier noch bei der Zulässigkeitsprüfung, Art. 8, Einspruchsrechte der Initiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen vorsieht, spricht Bände. Mit ihrem Vorschlag zur EBI wirft die EU-Kommission die bekannten Nebelkerzen. Es ist schade, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sich erneut davon blenden lassen. Damit eine demokratische EU und eine direkte Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung an europapolitischen Prozessen Realität werden können, bedarf es weit mehr als der - zweifellos richtigen, letztlich aber kosmetischen - Korrekturen am Kommissionsvorschlag, die Sie hier und heute einfordern. Wir von der Linken bleiben dabei: Der Lissabon-Vertrag muss grundlegend korrigiert und die EU muss durch effektive und bindende Instrumente der Bürgerbeteiligung wirklich demokratisiert werden. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir alle wissen, Europa steht vor wegweisenden Entscheidungen. Mit der Zustimmung zu den Griechenland-Hilfen in der vergangenen Sitzungswoche und der Einführung eines europäischen Rettungsschirms sind die Hausaufgaben noch lange nicht gemacht. Wir müssen die Probleme bei den Wurzeln packen und die Ursachen für die Krise bekämpfen. Die Finanzmärkte müssen umfassend reguliert, die Regeln für die Euro-Zone grundlegend reformiert werden. Die europäische Gestaltung der Wirtschaftspolitiken und die Nachhaltigkeit öffentlicher Haushalte werden noch Monate Platz eins der europäischen Agenda einnehmen. Bei der Tragweite, die diese Entscheidungen haben und haben werden, sollte uns allen eines besonders am Herzen liegen: die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Europas. Sie müssen mitgenommen werden auf dem Weg zu mehr europäischer Integration, ihre Stimmen müssen Gehör finden bei der künftigen Ausgestaltung der EU. Die Bürgerinnen und Bürger müssen mitentscheiden, in welchem Europa sie leben möchten. Mit dem Vertrag von Lissabon, genauer gesagt, mit der darin verankerten Bürgerinitiative bekommen die EU-Bürgerinnen und Bürger ein neues Instrument der Partizipation. Künftig werden eine Million Bürgerinnen und Bürger die Kommission auffordern können, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Rechtsetzungsvorschläge zur Umsetzung der EU-Verträge vorzulegen. Wir Bündnisgrünen sehen in dieser neuen Bestimmung die einmalige Chance, die EU noch näher an ihre Bürgerinnen und Bürger zu rücken. Wir haben uns bereits im Februar an der Konsultation beteiligt und der Kommission mitgeteilt, wie wir uns die Ausgestaltung der Bürgerinitiative konkret vorstellen. Aus den Koalitionsfraktionen habe ich bisher zu dem Thema allerdings herzlich wenig gehört. Ich freue mich, wenn künftig vermehrt grenzüberschreitende Debatten zu europäischen Fragen stattfinden und der Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit spürbar wird. Ich weiß, dass diese Ziele nicht einfach zu erreichen sind. Umso wichtiger ist es, dass auch die Bürgerinnen und Bürger das neue Instrument der Bürgerinitiative als Chance sehen und nicht bereits im Vorfeld durch zu hohe Hürden und undurchsichtige Regeln von ihrem Engagement abgehalten werden. Das Verfahren für die Organisation und Durchführung einer Initiative muss daher transparent, verbindlich, nutzerfreundlich und unbürokratisch ausgestaltet werden. Für uns Grüne bedeutet das konkret: Ein Anliegen von mindestens einer Million Bürgerinnen und Bürger darf nicht sang- und klanglos in einer Schublade der Kommission verschwinden. Angemeldete Initiativen müssen beispielsweise in ein Online-Register aufgenommen und Ergebnisse von Zulässigkeitsprüfungen öffentlich gemacht werden. Außerdem sollten Organisatorinnen und Organisatoren ein Widerspruchsrecht gegen das Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung und ein Recht auf öffentliche Anhörung erhalten. Ein hohes Maß an Transparenz muss gewährleistet werden. Wir finden, dass alle Finanzierungsquellen einer geplanten Initiative offengelegt werden müssen. Mit der Bürgerinitiative bekommt die EU auch endlich die Möglichkeit, junge Menschen verstärkt an europäischen Prozessen und Debatten zu beteiligen. Gerade junge Menschen müssen ermutigt werden, sich aktiv am demokratischen Leben zu beteiligen und ihre Anliegen über nationale Grenzen hinaus zu formulieren. Die von der Kommission vorgeschlagene Kopplung des Mindestbeteiligungsalters an die Altersgrenze für Wahlen zum Europäischen Parlament wäre vor diesem Hintergrund extrem rückwärtsgewandt. Wir Grüne fordern, dass sich alle EU-Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren beteiligen dürfen. Außerdem ist es uns wichtig, dass eine freie Unterschriftensammlung möglich ist. Insbesondere muss ein zentral bei der Kommission oder einer geeigneten dritten Stelle angesiedeltes System zur Onlinemitzeichnung geschaffen werden. Das von der Kommission vorgeschlagene System, von den Organisatorinnen und Organisatoren für jede Bürgerinitiative ein eigenes Online-Sammelsystem einrichten zu lassen, wäre nicht nur extrem aufwendig, sondern für alle Beteiligten eine Zumutung. Es bedarf niedriger Hürden und unkomplizierter Regeln. Nur so werden sich auch Privatpersonen sowie kleinere und weniger gut vernetzte Organisationen ermutigt fühlen, eigene Initiativen zu starten. Gleichzeitig muss aber auch gewährleistet werden, dass die Europäische Bürgerinitiative nicht als Deckmantel für nationale Interessen dient. Meine Fraktion spricht sich dafür aus, dass die Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten kommen müssen und das Quorum für die Mindestzahl an Unterstützungsbekundungen pro Mitgliedstaat je nach Größe des Landes zwischen 0,05 Prozent und 0,2 Prozent der Bevölkerung gestaffelt wird. Last, not least ist es unerlässlich, innerhalb des gesamten Verfahrens den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzustellen. Eigentlich dachte ich, dass sich zumindest bei dem Thema Bürgerbeteiligung alle einig sind. Doch da hatte ich die Rechnung ohne die Bundesregierung gemacht. Aus Kommissionskreisen erfuhr ich, dass die Bundesregierung nun auch noch bei der Bürgerinitiative auf der Bremse steht. In den Ratsverhandlungen drängt sie derzeit darauf, dass das Inkrafttreten der Umsetzungsverordnung um Monate hinausgezögert wird. Angeblich gibt es bei einigen Punkten noch Prüfungsbedarf. Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf angemessene Beteiligung, und das so schnell wie möglich. Die Bundesregierung scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass es um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU geht. Sie sollte endlich ihre Verzögerungsspielchen sein lassen und sich im Rat für zügige Verhandlungen einsetzen. Wir brauchen jetzt ein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1781 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Mai 2010, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22.55 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.05.2010 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.05.2010 Binder, Karin DIE LINKE 20.05.2010 Binding (Heidelberg), Lothar SPD 20.05.2010 Bollmann, Gerd SPD 20.05.2010 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 20.05.2010 Goldmann, Hans-Michael FDP 20.05.2010 Groschek, Michael SPD 20.05.2010 Groth, Annette DIE LINKE 20.05.2010 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 20.05.2010 Kramme, Anette SPD 20.05.2010 Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.05.2010 Maurer, Ulrich DIE LINKE 20.05.2010 Monstadt, Dietrich CDU/CSU 20.05.2010 Nietan, Dietmar SPD 20.05.2010 Petermann, Jens DIE LINKE 20.05.2010 Pflug, Johannes SPD 20.05.2010 Reichenbach, Gerold SPD 20.05.2010 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 20.05.2010 Steinbach, Erika CDU/CSU 20.05.2010 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: - Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz und Renaturierung von Nass- und Feuchtgebieten fördern - Hochwassergefahren mindern, Klima schützen - Auenschutzprogramm vorlegen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesordnungspunkt 8) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Beide Anträge, der von der Fraktion der SPD sowie der von Bündnis 90/Die Grünen, enthalten wesentliche korrekte Beschreibungen von Problemlagen und greifen eine Reihe von Themen auf, die in der Tat noch einiger Lösungen bedürfen. Wasser, die Verfügbarkeit von Trinkwasser, der Schutz des Grundwassers, die Verbesserung der Wasserqualität einer ganzen Reihe von Fließ- und Oberflächengewässern - dies alles sind Themen, über die zu sprechen es sich allemal lohnt. Ich halte es deshalb auch für eine lohnenswerte Aufgabe, in den anschließenden Ausschussberatungen den Versuch zu unternehmen, zu einem gemeinsamen überfraktionellen Beschluss zu kommen. Wasser, das ist ein sehr hohes Gut. Wir sind uns dessen oftmals gar nicht bewusst. Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, den Wasserhahn aufzudrehen und sauberes Trinkwasser zu bekommen. In anderen Ländern ist dies keineswegs so. Dort fehlt Wasser als Grundlage jeden Lebens. Der Klimawandel wird dieses Problem verschärfen. Auch für uns wird jederzeit verfügbares Grundwasser an jedem Ort Deutschlands nicht auf Dauer selbstverständlich sein. Der Klimawandel hat vielfältige und in Deutschland regional unterschiedliche Auswirkungen. Darauf weist der Antrag der SPD-Fraktion zu Recht hin. Den im Antrag beschriebenen Auswirkungen möchte ich eine nicht genannte Herausforderung hinzufügen. Während wir in manchen Regionen Deutschlands zu wenig Wasser haben werden, werden wir in bestimmten Situationen insbesondere an der deutschen Nordseeküste zu viel Wasser haben - und zwar nicht nur durch Sturmfluten und Hochwasserstände von See aus, sondern auch durch Probleme bei der Binnenentwässerung. Schon heute ist es so, dass in etlichen Niederungsgebieten die Ableitung des Binnenwassers nur zu Zeiten von Niedrigwasser möglich ist bzw. es ins Meer gepumpt werden muss. Wenn jetzt wegen eines steigenden Meeresspiegels und durch Klimaveränderungen diese verfügbaren Zeitfenster kleiner werden, bekommen wir auch bei der Binnenentwässerung ein Problem - und das bei saisonal steigenden Niederschlägen. Das ist eine Problemlage, der wir uns auch widmen müssen. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Koalition sich vorgenommen hat, die Anpassungsstrategie an den Klimawandel fortzuschreiben. Aus dem Antrag der SPD möchte ich für die heutige Diskussion nur zwei weitere wesentliche Aspekte herausgreifen. Zum einen geht es mir um den Grundwasserschutz. Ich habe die große Bitte, dass hier kein falscher Eindruck erweckt wird. Wir haben in Deutschland bereits ein hohes Schutzniveau. Aber aus der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie wissen wir auch, dass es Problembereiche gibt. Die werden gerade in der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie seit einigen Jahren identifiziert und mit Maßnahmenprogrammen angegangen. Grundwasserschutz war auch ein wichtiges Thema in unseren Beratungen zum Wasserhaushaltsgesetz. Die Föderalismusreform I gibt dem Bund eine höhere Kompetenz, die wir in der vergangenen Wahlperiode mit dem neuen Wasserhaushaltsgesetz genutzt haben. Das Ergebnis ist kein geringerer, sondern ein stärkerer Grundwasserschutz. Auf dieser Basis sind jetzt die notwendigen Verordnungen zu erstellen. Das Umweltministerium arbeitet mit Hochdruck an diesem Thema, mit dem wir uns in den kommenden Wochen ja noch intensiv beschäftigen können. Insofern wäre es auch falsch, den Eindruck zu erwecken, dass in diesem Sektor nichts geschieht. Aus einer Reihe von Briefen und vielen Gesprächen höre ich eher Kritik, dass das Umweltministerium mit den bisherigen Entwürfen für eine Grundwasserverordnung über das Ziel hinausschießt und das Schutzniveau zu stark anhebt. Insofern kann aus meiner Sicht überhaupt nicht die Rede davon sein, dass es hier Defizite seitens der Regierung gebe. Ausdrücklich möchte ich das Umweltministerium ermuntern, mit den Verordnungen auf der Basis des neuen Wasserhaushaltsgesetzes das erreichte Schutzniveau zu verstetigen und dort, wo wir Wasserprobleme haben, Instrumente zur Verbesserung an die Hand zu geben. Dass dies praxistauglich sein muss und Nutzungen, die bisher unproblematisch stattgefunden haben, auch in Zukunft weiterhin möglich sein müssen, versteht sich aus meiner Sicht von selbst. Als zweiten Bereich möchte ich den allerletzten Punkt des Forderungskataloges der SPD an die Bundesregierung aufgreifen, weil ich hier schon anderer Auffassung als die Antragsteller bin. Sie fordern, die Ausweisung von Gewässerrandstreifen in einer ausreichenden Breite zu regeln. Dies ist doch gerade erst mit dem Wasserhaushaltsgesetz geschehen. Ich halte nichts davon, dass wir jedes Jahr die gleichen Schlachten aufs Neue führen. Im Wasserhaushaltsgesetz ist im vergangenen Jahr ausdrücklich geregelt worden, dass Gewässerrandstreifen im Außenbereich 5 Meter breit sind. Aber wir haben auch ein Abweichungsrecht für die Länder aufgenommen und die Möglichkeit für die zuständigen Behörden geschaffen, die Gewässerrandstreifen nach örtlichen Bedingungen zu verändern. Genau das ist auch sachgerecht, weil die Verhältnisse in Deutschland nun einmal unterschiedlich sind. Ich kann einen Gebirgsbach in den Alpen nicht mit dem gleichen Maßstab messen wie Entwässerungsgräben in der Marsch auf Eiderstedt. Insofern kann ich zu dieser Forderung nur feststellen: Was da gefordert wird, ist längst erledigt. Wir haben eine gute Regelung im neuen Wasserhaushaltsgesetz; neuer gesetzlicher Änderungsbedarf besteht hier aus meiner Sicht nicht. Josef Göppel (CDU/CSU): Zum Schutz von Feuchtgebieten wurden in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen: Ich nenne die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, den Auenzustandsbericht und das Positionspapier des Bundesamtes für Naturschutz zu Klimawandel, Landnutzung und Biodiversität. Um den Herausforderungen der Klimawandelfolgen zu begegnen, hat die Bundesregierung im Dezember 2009 die Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel beschlossen. Zwei der 15 Handlungsfelder beschäftigen sich eingehend mit dem Thema Gewässerschutz. Der Antrag der SPD greift wichtige Anliegen auf. Dazu gehören die Reinhaltung des Grundwassers, die Sicherung der Trinkwasservorräte und die Sicherung der Artenvielfalt. Im Zuge des Klimawandels werden Regionen, die bereits bisher unter Trockenheit zu leiden haben, mit weiterer Verringerung der Sommerniederschläge rechnen müssen. Das betrifft große Gebiete in Brandenburg. In Zukunft werden auch die klassischen Weinanbaugebiete am Rhein und in Franken mit zunehmender Trockenheit zu tun haben. Vor diesem Hintergrund bekommt der Grundwasserschutz besondere Dringlichkeit. Die Verbesserung des Wasserrückhalts in der Fläche trägt insbesondere unter dem Aspekt des Klimawandels neben dem Hochwasserschutz und dem Erhalt der biologischen Vielfalt zur Grundwasseranreicherung und damit zur Grundwassersicherung bei. Ich möchte in Ergänzung zu den Ausführungen meines Kollegen Liebing insbesondere auf die Naturschutzaspekte des Antrages eingehen. Grundsätzlich ist erfreulich, dass die Energieerzeugung mit nachwachsenden Rohstoffen aus der Landwirtschaft zunimmt. Allerdings führt dies zum Beispiel zu vermehrtem Maisanbau mit negativen Folgen für Landschaft und Wasserhaushalt. Mais gehört zu den wasserintensiven Kulturen. Der zunehmende Anbau von Energiepflanzen führt zu mehr Nutzungsdruck bis in die letzten Winkel der Fluren. Diese Entwicklung muss genau beobachtet, gesteuert und, wo nötig, eingeschränkt werden. Der energetische Gewinn durch nachwachsende Rohstoffe darf nicht zu einem Verlust an natürlichen Lebensgrundlagen führen. Es ist allgemein bekannt, dass gerade in den Feuchtgebieten, Mooren, Flüssen und Flussauen die größte Artenvielfalt besteht. Drei Beispiele aus dem Antrag zu diesem Tagesordnungspunkt möchte ich herausgreifen: Erstens die Forderung, den Erhalt und die Renaturierung von Feuchtgebieten bei der Neugestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik einzubeziehen. Die Berücksichtigung des Wassermanagements in der Gemeinsamen Agrarpolitik für die Zeit nach 2013 ist eine ernsthafte Herausforderung. Genauso wie ein TEN-Programm für die Verkehrsinfrastruktur brauchen wir den Ausbau der "Green-Infrastruktur" als Netz für die biologische Vielfalt. Zweitens die Forderung nach der Schaffung einer Genehmigungspflicht für den Umbruch von Grünland und ein generelles Umbruchverbot auf feuchten und anmoorigen Standorten. Ich persönlich unterstütze ein solches Umbruchverbot. Drittens die Forderung, die Ausweisung von Bauland in der Aue zu unterlassen. Diese Forderung ist nicht neu, aber dennoch berechtigt. Die Ausweisung von Bauland in der Aue provoziert Hochwasserschäden und erzwingt teure technische Schutzmaßnahmen, die volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigt sind. Wir sollten versuchen, einen gemeinsamen Antrag zum Schutz des Wasserhaushalts und der Feuchtgebiete zustande zu bringen. Oliver Kaczmarek (SPD): Die erste Hälfte des "Internationalen Jahres der Biodiversität" ist fast vorbei. Leider hat sich bis heute der Bundestag kaum ernsthaft mit dem Thema beschäftigt. Wir haben deshalb unseren Antrag bewusst wenige Tage vor dem "Internationalen Tag der biologischen Vielfalt" am kommenden Samstag gestellt. An diesem Tag finden in ganz Deutschland auf Einladung zahlreicher Verbände und Organisationen aus dem Bereich des Naturschutzes Wanderungen statt, die für den Erhalt der Artenvielfalt sensibilisieren sollen. Alle diese Aktivitäten sind ehrenamtlich. Sie sind aber unverzichtbar für den Naturschutz und insbesondere den Schutz der Artenvielfalt. Deshalb soll mit diesem Antrag auch ein Dank an die vielen ehrenamtlichen Helfer im Naturschutz verbunden werden. Wir wissen alle, dass wir die für 2010 gesteckten Ziele zur biologischen Vielfalt nicht erreichen werden. Dies gilt für Deutschland, aber auch für die internationale Gemeinschaft. Das hat der Bericht der Vereinten Nationen, der am Montag letzter Woche veröffentlicht wurde, noch einmal gezeigt. Für uns darf das aber nur bedeuten: Wir müssen die Anstrengungen nachhaltig forcieren, um dem Schutz der biologischen Vielfalt den notwendigen Stellenwert zu geben. Moore, Fließgewässer, Auen und Grundwasserökosysteme haben für die Artenvielfalt und den Klimaschutz eine besondere Bedeutung, wie unser Antrag beschreibt. Wir glauben, dass dem insbesondere auf drei Handlungsfeldern Nachdruck verliehen werden muss: Erstens. Die Landwirtschaft kann einen bedeutsamen Beitrag für den Erhalt und die Renaturierung von Feuchtgebieten leisten. Dies gilt insbesondere für eine strenger geregelte landwirtschaftliche Nutzung im Bereich von Fließgewässern und die notwendige massive Einschränkung des Grünlandumbruchs. Zweitens. Die Instrumente der Raumordnung können einen weiteren wesentlichen Beitrag leisten. Ein ausgeglichener Wasserhaushalt und der Rückhalt von Wasser in der Fläche sollten als Leitziele Eingang in die Raumplanung finden. Und drittens weisen wir dem Naturschutz einen eigenen Stellenwert zu. Über die Ausweisung und Pflege von Gewässerrandstreifen sollten beispielsweise auch die Unternehmen der Wasserverbände zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen. Das alles sind Vorschläge, die wir miteinander diskutieren sollten. Wichtig ist nur, dass wir auch zu konkreten Aktivitäten kommen. Das erwarten auch die Verbände und Organisationen von uns, denn nur geredet wurde genug darüber. Wasser ist die Grundlage für einzigartige Lebensräume. Es sorgt für ausgeglichene Ökosysteme. Deshalb sollten wir den "Internationalen Tag der Biodiversität" auch zum Anlass nehmen, uns mit der Bedeutung des Wassers auseinanderzusetzen. Denn Wasser - das ist immer wieder wichtig, zu betonen - ist keine x-beliebige Ware. Deshalb sollten wir damit sorgfältig umgehen. Die Auswirkungen des Klimawandels auf den Wasserhaushalt sind insbesondere im globalen Maßstab immens. Aber auch in Deutschland wird es zu vermehrten Problemen kommen: durch plötzlich auftretenden Starkregen; Hochwasser, wie wir es in diesen Tagen aus Osteuropa kommend sehen; kürzere Regenphasen sowie längere Trockenperioden. Besonders bedroht davon sind die sensiblen Ökosysteme der Moore, Auen und des Grundwassers. In ihnen bildet sich eine Vielfalt von Lebensgemeinschaften und Arten ab. Dazu kommt, dass insbesondere Moore und Auen als große CO2-Senken gelten, das heißt, große Mengen des klimaschädlichen Gases speichern können. Wasser in der Fläche zu halten, ist also auch eine der herausragenden Aufgaben für den Klimaschutz in Deutschland. Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Erträge aus dem Emissionshandel auch für die Wiedervernässung von Mooren und die Reaktivierung von Flussauen und Altarmen verwendet werden sollten. Denn damit würden Klima und Biodiversität sinnvoll geschützt. Politisches Handeln ist also gefragt. Doch die Bundesregierung hat auch hier erneut Glaubwürdigkeit verspielt. Ich will dazu nur ein Beispiel nennen: Zu einer glaubwürdigen Naturschutzpolitik gehört es, dass politisch gemachte Zusagen eindeutig und einwandfrei eingehalten werden. Das gilt auch für die auf dem Weltklimagipfel in Kopenhagen gegebene Zusicherung, pro Jahr 420 Millionen Euro für den Klimaschutz in den Entwicklungsländern bereitzustellen. Es war bereits bekannt, dass diese Mittel mit den Entwicklungshilfegeldern teilweise verrechnet werden. Nun hat der Umweltminister in einem Zeitungsinterview einräumen müssen, dass von den 1,2 Milliarden Euro, die bis zum Ende der Wahlperiode fällig sind, 500 Millionen Euro aus der Zusage auf der internationalen Biodiversitätskonferenz stammen. Mittel also, die eigens für den Erhalt der Artenvielfalt im Besonderen vorgesehen waren und nun verrechnet werden. Damit hat die Bundesregierung nicht nur die Menschen und die Naturschutzverbände getäuscht, sondern auch die internationale Gemeinschaft. Und so etwas richtet nachhaltigen Schaden an. Moore, Auen, Fließgewässer und Grundwassersysteme haben eine enorme Bedeutung für den Klimaschutz und für den Erhalt der Artenvielfalt. Dafür zu sensibilisieren, ist eines der Ziele des Wandertages zum "Internationalen Tag der Biodiversität" am kommenden Samstag. Es wird höchste Zeit, dass der Bundestag dessen Anliegen nicht nur verbal unterstützt, sondern sie auch kraftvoll in die politische Tat umsetzt. Horst Meierhofer (FDP): Flüsse, Auen und Feuchtgebiete sind von enormer Bedeutung für die biologische Vielfalt, den Klimawandel und den Hochwasserschutz. Wie wichtig sie sind, sehen wir gerade an den Überschwemmungen in Osteuropa. Schon fünf Menschen sind den Fluten zum Opfer gefallen. Morgen wird das Hochwasser an der Oder erwartet. Alle Anzeichen sprechen aber Gott sei Dank dafür, dass die Heftigkeit der Überschwemmungen an der Oder nicht so gravierend sein wird. Aufgrund der überragenden Bedeutung hat die FDP schon in ihrem Wahlprogramm den Schutz von Flüssen und Auen festgeschrieben. Auch der Koalitionsvertrag misst den Flüssen und Auen einen großen Stellenwert bei. Wir belassen es aber nicht bei Lippenbekenntnissen. Die Koalition handelt. Nachdem der Auenzustandsbericht im Oktober vergangenen Jahres vorgelegt wurde, werden die Daten jetzt evaluiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Künftig wird man sich mit einem Mausklick kilometergenau den Zustand der Auen in Deutschland anschauen können. Im Bundesprogramm für biologische Vielfalt werden die Auen und der Auenschutz eine zentrale Rolle spielen. Der Koalitionsvertrag wird umgesetzt. Die zuständigen Ministerien arbeiten bereits daran. Deutschland ist ein dicht besiedeltes, industrialisiertes Land. Nachteilige Veränderungen an den Gewässern, die über Jahrzehnte erfolgt sind, können nicht in wenigen Jahren beseitigt werden. Einige Veränderungen, zum Beispiel durch die Nutzung der Flüsse als Wasserstraßen, lassen sich auch nicht von heute auf morgen rückgängig machen, zum Beispiel am Rhein, einer der meist befahrenen Schifffahrtsstraßen in Europa. Wir sind uns dessen bewusst, dass die Umsetzung und das Erreichen der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie ein Kraftakt werden wird. Aber - wir sind dran. Ich möchte hier nur einige Beispiele nennen: Deutschland war einer von 9 der 27 EU-Mitgliedstaaten, die am 22. Dezember 2009 die Bewirtschaftungspläne und Maßnahmenprogramme nach der Wasserrahmenrichtlinie aufgestellt und die Pläne veröffentlicht hatte. Pünktlich am Weltwassertag, dem 22. März 2010, hat Deutschland für die zehn Flussgebietseinheiten, die für unser Land relevant sind, alle Bewirtschaftungspläne offiziell an die Europäische Kommission übermittelt. Damit liegt für die nächsten sechs Jahre eine Planung für die Verbesserung des Zustandes der Gewässer in Deutschland vor. Es sind von den Bundesländern viele Maßnahmen vorgesehen, die nun konkret umgesetzt werden müssen. Das betrifft Maßnahmen im Bereich der Durchgängigkeit der Gewässer, aber auch bei den diffusen und punktuellen Belastungen, zum Beispiel Maßnahmen in der Landwirtschaft. Die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie wird bis Ende 2015 geschätzt 9,4 Milliarden Euro in Deutschland kosten. Es braucht Zeit, die Wasserrahmenrichtlinie umzusetzen. Der nächste Bewirtschaftungsplan muss 2015 vorliegen, der darauffolgende 2021. Die Bundesländer, die für die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie zuständig sind, haben in vielen Fällen Fristverlängerungen in Anspruch genommen; wie im Übrigen die anderen EU-Staaten auch. Auch der Klimawandel soll in den nächsten Bewirtschaftungsplänen berücksichtigt werden, das heißt, die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie soll diesen Belastungsfaktor in Zukunft auch mit einbeziehen. Als die Wasserrahmenrichtlinie 2000 in Kraft trat, war das noch kein so brisantes Thema. Wasserknappheit, Erhöhung der Wassertemperaturen, Niedrigwasser für die Schifffahrt, vermehrte Dürren vor allem im Süden Europas werden für die Staaten bei der Wasserbewirtschaftung eine Rolle spielen. Wichtig sind hier belastbare Aussagen zu den Klimaveränderungen und ihren Auswirkungen, die für Mitteleuropa nicht einfach zu treffen sind. Etwas möchte ich noch besonders hervorheben: die aktive Arbeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie an Bundeswasserstraßen. Was noch vor einigen Jahren als unmöglich betrachtet wurde, wird jetzt Realität. Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung fühlt sich nicht mehr nur für die Erhaltung der Wasserstraßen verantwortlich, sondern auch für die Verbesserung des ökologischen Zustands. Natürlich ist dies ein Prozess. Und natürlich klappt es noch nicht überall. Es ist aber an der Zeit, dass Flüsse nicht nur als Wasserstraßen, sondern als Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Menschen gesehen werden. Es ist gut, dass die Anträge gestellt wurden und wir über das wichtige Thema im Bundestag und den Ausschüssen reden - Ihre Forderungen allerdings werden heute schon erfüllt. Sabine Stüber (DIE LINKE): "Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss ..." - dieses kämpferische Zitat ist der Begründung der EU-Kommission zur Wasserrahmenrichtlinie entnommen. Die Richtlinie verpflichtet alle EU-Staaten - aus gutem Grund, wie ich meine -, sich um das Wasser in ihrem Land zu kümmern. Das Ziel dabei ist, einen guten ökologischen und chemischen Zustand für oberirdische Gewässer und eine gute Qualität des Grundwassers zu erreichen. Um es verkürzt zu sagen: Es geht um einen naturnahen ausgeglichenen Landschaftswasserhaushalt. Durch den Klimawandel gewinnt die Wasserrückhaltung in der Landschaft immer mehr an Bedeutung, insbesondere für wasserabhängige Lebensräume, wie Feuchtgebiete, Moore und Auen mit ihrer speziellen Artenvielfalt. Wir haben das Jahr der biologischen Vielfalt und in dieser Woche auch noch den internationalen Tag der biologischen Vielfalt. Da darf und muss man, trotz aller schwergewichtigen politischen Debatten zur Rettung des Euro, auch einmal über die Rettung unserer Lebensgrundlagen nachdenken und sprechen. Der Landschaftswasserhaushalt gehört zweifelsohne dazu und benötigt dringend einen Schutzschirm. Im Gegensatz zu dem Rettungspaket für den Euro, ist die Wirkung der Maßnahmen für einen naturnahen Landschaftswasserhaushalt bekannt. Der Antrag der SPD zum naturnahen Wasserhaushalt und der Antrag der Fraktion der Grünen zum Auenschutz sind kleine Rettungspakete, wenn sie umgesetzt werden. Ein naturnaher Landschaftswasserhaushalt bedeutet auch funktionstüchtige Moore als Lebensraum für viele heimische Arten. Gleichzeitig binden intakte Moore CO2 und leisten damit eine Beitrag zum Klimaschutz. Mit naturnahen Flussauen wird der Hochwasserschutz verbessert, weil den Flüssen mehr Raum gegeben wird. Das kann man sich einzigartig für Deutschland in Brandenburg bei Lenzen an der Elbe ansehen. Der 6 Kilometer lange neue Deich wurde 1 300 Meter landeinwärts verlegt. So entstanden 425 Hektar neue Überflutungsflächen für die Elbe. Die Schlitzung des alten Deiches ermöglicht an sechs Stellen einen ungesteuerten Wassereintritt in das Gebiet. So regenerieren sich jetzt verschiedene Lebensräume wie Auwald, Auengewässer oder halboffene Weidelandschaft. Die Menschen zeigen mit Stolz, wie sich ihre Landschaft in den letzten Jahren verändert hat und wie vielfältig sich die Pflanzen- und Tierwelt entwickelt. Es gibt viel zu sehen auf dem neuen Deich, über den der Elberadweg führt. Kranich und Schwarzstorch brüten hier. 300 Hektar naturnaher Auwald wachsen nach Initialpflanzungen vor etwa zehn Jahren. Bei Hochwasser kann die neue Überflutungsfläche zusätzlich rund 15 Millionen Kubikmeter Wasser speichern. Im Moment wäre mir bei der Hochwasserwarnung wohler, wenn es auch an der Oder mehr Platz für Wasser gäbe. Genau das kann man vielleicht bald mit einem Auenschutzprogramm erreichen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Flussauen in Deutschland sind ein besonders wertvoller, aber auch ein besonders bedrohter Naturraum. Sie sind besonders schützenswert, weil sie wichtige Funktionen miteinander verbinden. Sie dienen dem natürlichen Hochwasserschutz, sind Lebensraum für eine Vielzahl von Arten, verbessern die Wasserqualität und dienen dem Klimaschutz. Der Antrag der SPD zum verstärkten Schutz des Wasserhaushalts findet in seinen Grundsätzen unsere Zustimmung. Wasser ist die Grundlage allen Lebens. Wasser ist Nahrungsmittel und keine Ware wie jede andere. Der Antrag der SPD ist aber auch sehr unkonkret und wirft einiges durcheinander. Viele Stichworte bleiben nur Worthülsen. Die Forderungen der SPD zur Überarbeitung des Wasserhaushaltsgesetzes entsprechen ziemlich genau den Änderungsanträgen, die wir vor fast einem Jahr bei der Verabschiedung des Wasserhaushaltsgesetzes hier im Bundestag zur Abstimmung gestellt haben. Damals wurden sie auch mit den Stimmen der SPD abgelehnt - nachzulesen im Protokoll der 228. Sitzung des 16. Deutschen Bundestages. Ausreichend breite Gewässerrandstreifen, den Wasserrückhalt in der Fläche verbessern, Bauland in Flussauen verbieten, das sind alles grüne Forderungen, die sie vor nicht mal 12 Monaten abgelehnt haben. Die Forderungen der Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion zur Erreichung der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie bis 2015 sind wirklich aller Ehren wert. Allein wir wissen, das wird nichts. Die Bewirtschaftungspläne liegen vor, und da kann man nachlesen, wie es bestellt ist um die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie, WRRL, in Deutschland. Die Ziele der WRRL werden verfehlt. Hier ein paar Beispiele: In der Flussgebietsgemeinschaft Elbe werden nur 10 Pro-zent der Flüsse bis 2015 den guten ökologischen Zustand erreichen. In der FGG Weser sind es an Ober- und Mittelweser nur 9 Prozent, an Fulda und Diemel 16 Prozent. Das ist ernüchternd. Und der Bund ist da mit in der Verantwortung, sei es an den Bundeswasserstraßen oder bei der Umsetzung der WRRL gegenüber Europa. Es sind konkrete Ideen und Lösungen gefragt. Daran mangelt es bis heute, und da liefert auch der SPD-Antrag nur wenig Konstruktives. Wir wollen wassergebundene Biotope schützen, deshalb benennen wir ein konkretes Instrument, wie das gemacht werden soll: das Auenschutzprogramm. Das Auenschutzprogramm muss ressortübergreifend umgesetzt werden. Wirtschaft, Landwirtschaft, Bauen, Verkehr, das sind alles Bereiche, die wesentliche Einflüsse auf die Flüsse und Flussauen in Deutschland haben. Deshalb müssen sie bei Erarbeitung und Umsetzung des Programms mit einbezogen werden. Besonders wichtig erscheint uns beispielsweise der Verzicht auf unnötige Ausbaumaßnahmen an Bundeswasserstraßen. Der Ausbau der mittleren Elbe und der Elbe-Saale-Kanal sind Projekte, die mehr schaden als nutzen. Ein weiterer wichtiger Handlungsbereich liegt bei den Richtlinien zu Pflanzenschutz- und Düngemitteln. Hier müssen wir umgehend eine Reduzierung der indirekten Einträge in die Gewässer erreichen. Die bestehenden Regelungen reichen dazu nicht aus. Zum Abschluss noch ein paar Worte an die Koalitionsfraktionen: - Für den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürliche Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer möglich, renaturiert werden. - Das ist eine der Forderungen aus dem Koalitionsvertrag. CDU, CSU und FDP können mit unserem Antrag diese Forderung umsetzen. Ich freue mich auf die weitere Beratung in den Ausschüssen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen (Tagesordnungspunkt 15) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Im letzten Monat habe ich an dieser Stelle zum Antrag der Grünen "Energieeffizienzgesetz unverzüglich vorlegen" gesprochen. Heute haben wir bereits die erste Lesung zur Umsetzung der EU-Richtlinie über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen. Sie sehen, die Regierung arbeitet effizient. Wir haben nun einen Gesetzentwurf vorliegen, mit dem wir sehr zufrieden sein können. Es gibt noch ein paar Punkte, die mir wichtig sind in der weiteren Gesetzesberatung. Beispielsweise sollten wir uns nochmals die Sorgepflicht der Energieunternehmen vornehmen. Hier darf es nicht zu unverhältnismäßigen Belastungen und Marktverzerrungen kommen. An kleinen Stellschrauben gilt es also noch zu drehen, dann steht einer Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie nichts mehr im Wege. Stellenwert der Energieeffizienz. Ich denke, wir sind uns alle darin einig, dass im Bereich der Energieeffizienz noch erhebliche Potenziale liegen. Der Schlüssel dafür liegt unter anderem in der Erhöhung der Energieeffizienz durch den Einsatz innovativer Energietechnologien - sowohl auf der Seite der Energiebereitstellung als auch auf der Nachfrageseite. Wer zum Beispiel energiesparende Gebäude oder Fahrzeuge mit einem geringen Kraftstoffverbrauch herstellt bzw. einsetzt, hat bei steigenden Energiepreisen auf dem heimischen Markt, aber auch auf den Exportmärkten hohe Wettbewerbsvorteile. Gleichzeitig verringert eine Erhöhung der Energieeffizienz die Abhängigkeit von Energieimporten und senkt die Energiekosten für Verbraucher und Wirtschaft. Große Erfolge wurden bereits erzielt. Die Umsetzung der EU-Richtlinie ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Erreichung unserer ambitionierten Energieeffizienzziele. Fakt ist aber auch, dass wir in diesem Bereich bereits einige Erfolge vorweisen können. Mit dem Integrierten Energie- und Klimaprogramm unserer Bundesregierung setzten wir zum Beispiel auf den weiteren Ausbau der gekoppelten Erzeugung von Strom und Wärme, also auf die Kraft-Wärme-Kopplung. Um Brennstoffe effizient zu nutzen, soll bis 2020 der Anteil der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an der Stromproduktion von derzeit circa 12 Prozent auf circa 25 Prozent verdoppelt werden. Die Gebäudesanierung ist ein weiterer wichtiger Bereich, in dem es noch erhebliche Potenziale gibt und wo wir aber ebenfalls schon einige Erfolge erzielen konnten: Auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion hat der Haushaltsausschuss Anfang des Jahres die Mittel zur Förderung von Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms um 400 Millionen Euro erhöht. Äußerst bemerkenswert ist dabei übrigens, dass die SPD den Antrag im Ausschuss abgelehnt hat, und dies, obwohl sie dieses Programm in den vergangenen Jahren in der Großen Koalition noch mitgetragen hat. Mit der beschlossenen Erhöhung steht im Haushaltsjahr 2010 nun ein Programmvolumen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zur Förderung von Maßnahmen zur Energieeinsparung und Reduzierung des CO2-Ausstoßes bei Wohngebäuden, in Großwohnsiedlungen und bei kommunalen Einrichtungen, wie zum Beispiel Schulen und Kindergärten, zur Verfügung. Mit Maßnahmen wie dem Energieeinspargesetz, der Heizkostenverordnung und der Energieeinsparverordnung hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren bereits weitere wichtige Schritte vollzogen. Ich möchte an dieser Stelle aber auch nochmals klarstellen, dass zu einer nachhaltigen Politik nicht nur eine nachhaltige Energiepolitik, sondern auch eine nachhaltige Haushaltspolitik gehört. Wir müssen uns daher immer auch fragen, mit welchen Kosten unsere Zielsetzungen verbunden sind, und zwar auch für die Volkswirtschaft und die Privathaushalte. Wir haben die ambitioniertesten Klimaschutzziele der Welt; das gilt auch für die Energieeffizienz. In unserem Energiekonzept werden wir aber auch auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen unseren Einsparzielen und den entstehenden Kosten achten. Die Umsetzung der EU-Richtlinie ist nun ein wichtiger Schritt, um beim Thema Energieeffizienz voranzukommen. Klar ist natürlich auch, dass wir weitere Maßnahmen folgen lassen müssen. Auch darin sind wir uns sicherlich alle einig. Dabei spielt das für Oktober geplante Energiekonzept der Bundesregierung eine wichtige Rolle. Ich will an dieser Stelle nochmals davor warnen, dass sich die Diskussion um das Energiekonzept auf den Punkt Laufzeitverlängerung der Kernenergie beschränkt. Dies ist sicherlich ein sehr wichtiger Aspekt. Allerdings halte ich das Thema Energieeffizienz ebenfalls für essenziell. Bei dem Energiekonzept werden wir deshalb darauf achten, klar herauszuheben, mit welchen Mitteln wir unsere ambitionierten Ziele erreichen können. Die Steigerung der Energieeffizienz ist der Königsweg, nicht nur, um unsere ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen, sondern auch aus Gründen der Versorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der EU-Energiedienstleistungsrichtlinie ist ein wichtiger Schritt getan, dem wir nicht zuletzt im Rahmen unseres Energiekonzepts weitere wichtige Schritte folgen lassen werden. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bei der Debatte um Energieeffizienz sollten wir uns einen Satz Immanuel Kants zu Herzen nehmen: "Ich kann, weil ich will, was ich muss." Mir stellt sich die Frage, wie weit die Oppositionsparteien die Aufklärung beim Thema Energieeffizienz inzwischen hinter sich gelassen haben, wenn sie, statt an den Verstand und den freien Willen der Menschheit zu appellieren, ein Korsett aus Vorschriften, Kontrolle und Überwachung fordern. Wir tun dies nicht. Wir möchten vielmehr die Energiekompetenz der Verbraucher stärken. Mit dem heute im Bundestag vorgestellten Gesetzentwurf setzen wir - nach zähen Verhandlungen und langen Streitigkeiten - die europäische Richtlinie über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen eins zu eins in deutsches Recht um. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich mit der Richtlinie auf einen generellen nationalen Einsparwert von 9 Prozent für den Zeitraum zwischen 2008 und 2016 geeinigt, der auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten explizit die Wahl zwischen verschiedenen Instrumenten. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, geeignete politische Rahmenbedingungen zu schaffen und gezielt Anreize dafür zu geben, dass sich der Markt der Energiedienstleistungen und Energieeinsparmaßnahmen schnell entwickeln kann. Wichtig ist uns dabei, dass die Energieeinsparmaßnahmen wirtschaftlich umsetzbar sind, damit vor allem die Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger auf ein Minimum reduziert werden können. Um Ökonomie und Ökologie gewinnbringend zu verknüpfen, brauchen wir bei der Energieeffizienz eine strikte Orientierung an Wirtschaftlichkeit. Energiesparen kann man nur mit den Menschen und den Unternehmen, nicht gegen sie. Also nicht durch Diktat und Zwang, sondern durch Anreize. Mit dem Gesetzentwurf sind wir zwar etwas verspätet, aber für die Zielerreichung haben wir bereits einen guten Teil der Wegstrecke zurückgelegt: Wie von der EU in der Richtlinie gefordert, lag unser erster Nationaler Aktionsplan 2007 pünktlich vor. Er orientiert sich an den Zielen der Wirtschaftlichkeit: Wir haben die energetischen Anforderungen an Gebäude deutlich verschärft, verstärkt in die Energieeffizienz öffentlicher Gebäude investiert und gleichzeitig das CO2-Gebäudesanierungsprogramm erweitert. Eine weitere Verschärfung der Anforderungen ist für 2012 geplant. Zusätzlich haben wir bestehende Programme zur Energieberatung privater Verbraucher deutlich ausgeweitet. Im Bereich Gewerbe, Haushalte, Land- und Forstwirtschaft, Handel, Dienstleistungen sowie im Verkehrssektor wurden neue Programme aufgelegt, die kostengünstige Effizienzpotenziale mobilisieren. Inzwischen wird in diesen Bereichen mit viel staatlichem Geld zu Möglichkeiten der Effizienzsteigerung geforscht. Durch die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes haben wir das Messwesen bei Strom und Gas für den Wettbewerb liberalisiert; eine dringende Voraussetzung für die zügige Verbreitung der zeitgenauen Verbrauchsmessung und somit für einen mündigen Endabnehmer. Des Weiteren haben wir mit der Novelle der Verordnung über die Heizkostenabrechnung einen weiteren Anreiz zum Sparen gegeben, denn der verbrauchsabhängige Anteil der Abrechnung bei Mietwohnungen wurde erhöht. Auch der Bund und seine Einrichtungen selbst sind zu einem guten Beispiel geworden. Seit 2008 gibt es Leitlinien zur Beschaffung energieeffizienter Produkte, die von allen Bundesbehörden anzuwenden sind. Die Länder und Kommunen überprüfen derzeit, ob eine derartige Verpflichtung auch für sie infrage kommt. Mit der KWK-Novelle haben wir eine Verdoppelung des Anteils von Strom aus KWK auf 25 Prozent der jährlichen Gesamtstromerzeugung bis 2020 beschlossen. Ich gebe zu, das geht nicht per Dekret. Aber - und hier kommt wieder die Freiwilligkeit ins Spiel -: Zusätzlich hat sich die Wirtschaft zur verstärkten KWK-Förderung verpflichtet. Des Weiteren haben wir mit unserer Klimaschutzinitiative Richtlinien zur Förderung von Mini-KWK verabschiedet. Besonders für unseren Mittelstand haben wir weitere Förderprogramme aufgelegt. Mit dem "Sonderfonds Energieeffizienz in KMU" vergibt der Staat zinsgünstige Kredite an kleine Unternehmen. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, dass wir zusätzlich Investitionsanreize durch Änderungen im Mietrecht und durch Einführung des Energiecontracting geben wollen. Das alles sind marktorientierte und gleichzeitig technologieoffene Anreize, die wir gezielt einsetzen, um unseren Bürgerinnen und Bürgern, aber auch unseren Unternehmen das Energiesparen schmackhaft zu machen. Und wir sind bereits heute auf einem guten Weg, unser Einsparziel zu erreichen. Mit der marktwirtschaftlichen Eins-zu-eins-Umsetzung der Energiedienstleistungsrichtlinie kommen wir jetzt einen formalen Schritt weiter: Wir verpflichten die Bundesregierung auf die Festlegung eines nationalen Energieeinsparwertes. Wir führen neue Informationspflichten für Energieversorgungsunternehmen ein bis hin zu Energieaudits, die vom Unternehmen selbst angeboten werden müssen, wenn für den Endverbraucher keine anderen Energieberater greifbar sind. Wir übertragen die Aufsicht einer Bundesstelle für Energieeffizienz und schaffen somit einen einheitlichen Ansprechpartner. Diese Bundesstelle wird beim Bundesamt für Ausfuhrkontrolle, BAFA, eingerichtet. Dennoch bleibt auch nach der Umsetzung der Richtlinie noch jede Menge Arbeit zu tun: Wir müssen die Energiekompetenz der Verbraucher weiter stärken, zum Beispiel durch unbürokratische Kennzeichnung des Energieverbrauchs von energierelevanten Produkten. Denn nur der gut informierte - aufgeklärte - Verbraucher wird seinen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland seine Energieeinsparziele erreicht. Rolf Hempelmann (SPD): Die Energieeffizienz, also die effiziente Erzeugung, Nutzung von sowie ein sparsamer Umgang mit Energie ist einer der wichtigsten Grundpfeiler der Energiepolitik. Denn eine Volkswirtschaft ist nicht um so leistungsstärker, je mehr Megawattstunden sie erzeugt und verbraucht, sondern je mehr Wirtschaftskraft sie aus so wenig Energieeinsatz wie möglich erschafft. Ein effizienter und sparsamer Einsatz von Energie birgt zum einen enorme ökonomische Potenziale für die Wirtschaft und privaten Verbraucher. In Zeiten stetig steigender Rohstoff- und Energiepreise ermöglicht ein effizienter Einsatz von Energie finanzielle Einsparungen für Unternehmen und Privatkunden. Darüber hinaus führt die Entwicklung und der Export von Effizienztechnologien zu steigendem Umsatz und der Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Industrie. Auf der anderen Seite ist eine Energieeffizienzpolitik ein wichtiger Teil der notwendigen Klimaschutzpolitik. Gerade in diesem Bereich hat sich Frau Merkel in letzten Jahren gerne als sogenannte Klimakanzlerin inszeniert. Wenn die von mir geschilderten Effekte eintreten sollen, sind weitgreifende Umwälzungen in allen Energiesektoren nötig. Das heißt, die Politik muss die Entstehung eines neuen Geschäftsmodells begleiten und, wenn nötig, auch forcieren. In diesem Geschäftsmodell werden Energielieferanten und Verbraucher in einem Boot sitzen, denn das Ziel ist nicht mehr die reine Versorgung des Kunden mit soviel Energiemengen wie möglich. Vielmehr wandelt sich der Energielieferant zu einem Energiedienstleister, der, genau wie der Kunde, ein Interesse daran hat, dass der Verbraucher fürs Betreiben seiner elektrischen Geräte oder das Heizen seiner Wohnung so wenig Energie wie möglich verbraucht. Wenn diese Ziele erfolgreich umgesetzt werden sollen, ist es nötig, in einem Energieeffizienzgesetz Wege dorthin aufzuzeigen. Umso bedauerlicher ist es, dass wir heute in diesem Hohen Hause ein Energieeffizienzgesetz diskutieren, das seinen Namen nicht verdient. Ich denke, es herrscht hier Konsens darüber, dass Energieeffizienz die Grundlage einer nachhaltigen Energie-, Umwelt-, Klima- und Wirtschaftspolitik ist. In keinem dieser Sektoren wird die schwarz-gelbe Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf den großen Anforderungen auch nur annähernd gerecht.Wirtschaftsminister Brüderle lobt öffentlich die, ich zitiere: "marktwirtschaftliche Eins-zu-eins-Umsetzung" der Vorgaben der Europäischen Union. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell klar: Mit dieser Vorlage fallen Sie sogar hinter die EU-Vorgaben zurück. Die EU hat das Ziel formuliert, innerhalb von neun Jahren mindestens 9 Prozent der Endenergie einzusparen. Nun hat das wissenschaftliche Institut errechnet, dass dieses 9-Prozent-Ziel mit dem vorgelegten Gesetzentwurf verfehlt wird. Im ganzen Gesetzestext findet sich nicht eine klare Vorgabe zur Energieeinsparung. Stattdessen wimmelt es von unverbindlichen Formulierungen, in denen viel von Freiwilligkeit und Information die Rede ist. Und wenn man nach der Ausgestaltung wichtiger Effizienzmaßnahmen sucht - beispielsweise der Art der Beratung von Endkunden, der Sorgepflicht der Energieunternehmen oder der Anforderungen an die Anbieter von Energieberatungen -, findet man lediglich Verordnungsermächtigungen für die Bundesregierung - ohne Beteiligung des Bundestages. Das heißt, Sie verschieben die Umsetzung zentraler Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz auf einen späteren Zeitpunkt und ohne Beteiligung der gewählten Volksvertreter. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, sich im Laufe des folgenden Gesetzgebungsprozesses dafür einzusetzen, dass die Mitspracherechte des Parlamentes bei solch wichtigen Fragen nicht durch nebulöse Verordnungsermächtigungen beschnitten werden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein großer Schritt zurück. Denn was Vorhaben im Effizienzbereich angeht, waren wir in Deutschland schon einmal viel weiter. So hat sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2007 dazu bekannt, die Energieproduktivität bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 1990 zu verdoppeln. Dies bedeutet, dass ab heute der Energieaufwand zur Erzeugung einer Einheit des Bruttoinlandsproduktes Jahr für Jahr um deutlich mehr als drei Prozent sinken müsste. Dieser Aspekt findet sich übrigens auch im Koalitionsvertrag der großen Koalition von 2005. Das zeigt, wenn die Union mit der FDP Energie- und Klimapolitik betreibt, kommt dabei nichts Gutes für unser Land heraus. Den energiepolitischen Dilettantismus dieser Koalition konnte man schon beim Umgang mit dem Marktanreizprogramm und dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm bewundern, welche ebenfalls von der großen Koalition ins Leben gerufen und nun von Schwarz-Gelb zu Grabe getragen wurden. Darüber hinaus hat sich die damalige Bundesregierung ebenfalls im Jahr 2007 das Ziel gesetzt, den End-energieverbrauch in Deutschland bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 2005 zu reduzieren. Von all diesen wichtigen und unter öffentlichkeitswirksamen Einsatz der ehemaligen Klimakanzlerin auf europäischer Ebene ausgehandelten Zielen ist in dem vom Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf keine Rede mehr. Aus festen Zielen zur Energieeffizienz und -einsparung sind unter Schwarz-Gelb also bisher nicht greifbare sogenannte Richtwerte geworden. Eine verlässliche Energie- und Klimapolitik sieht anders aus! Ich möchte an dieser Stelle noch kurz einige Maßnahmen nennen, die aus unserer Sicht nötig sind, um das Thema Energieeffizienz voranzubringen. Absolut unerlässlich ist die Einbeziehung der Energielieferanten in Effizienzmaßnahmen. Denn nur so werden diese zum Energiedienstleister. Zudem sollten standardisierte und überprüfbare Effizienzmaßnahmen und -programme festgelegt werden. Auch müssen jene Bürgerinnen und Bürger bei Energieeinsparmaßnahmen unterstützt werden, die dies aus eigener Kraft nicht leisten können. Dies könnte durch die Einrichtung eines Energieeffizienzfonds gewährleistet werden. Ich appelliere an meine Kolleginnen und Kollegen, sich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Wirtschaft, der Umwelt und des Klimas für wirksame Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz einzusetzen. Die SPD-Fraktion wird diesen Prozess mit konstruktiven Vorschlägen begleiten. Klaus Breil (FDP): Eines vorab: Vor nicht einmal einem Monat hatten die Grünen mit einem Antrag auf die Umsetzung der EU-Richtlinie über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen gedrängt. Heute sitzen wir hier schon zur ersten Lesung des Umsetzungsgesetzes. Die Zeit damals hätten wir sicher besser nutzen können. Aber zur Sache: Im internationalen Vergleich liegt Deutschland zusammen mit Japan in der Gruppe derjenigen Staaten mit der höchsten Energieproduktivität. Seit 1990 wurde der Primärenergieverbrauch bei wachsendem Sozialprodukt in Deutschland sogar absolut gesenkt. Die Entkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum halte ich für die wichtigste globale Herausforderung, um nachhaltige Fortschritte im Klimaschutz zu erzielen. Deutsche Unternehmen liegen bei "grünen" Industrieprodukten ganz vorne. Sie haben sich auf den Weltmärkten einen beachtlichen Anteil von mehr als 16 Prozent erarbeitet. Deutschland zeigt damit auch den Emerging Markets, dass Energieeffizienz und Wirtschaftswachstum kein Widerspruch, sondern - ganz im Gegenteil - nachhaltige Zukunftsinvestitionen in die Wettbewerbsfähigkeit sind. Der Gesetzesentwurf zur Umsetzung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie, der uns hier heute vorliegt, ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg hin zur weiteren Steigerung unserer Energieeffizienz. Der Entwurf, wie er heute vorliegt, entspricht endlich der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Vorgaben. Das Ziel der Richtlinie ist die europaweite Einsparung beim Endenergieverbrauch von mindestens 9 Prozent bis 2017: Dazu zählen Einsparungen in Unternehmen wie auch in privaten Haushalten, aber auch in der öffentlichen Hand. Der Gesetzentwurf ermächtigt die beim BAFA angesiedelte Bundesstelle für Energieeffizienz, einen nationalen Energieeinsparrichtwert festzulegen. Dies wird nunmehr zügig auf der Basis des Nationalen Energieeffizienz-Aktionsplans von 2007 geschehen. Dieser Aktionsplan soll dann bis Juni 2014 noch einmal aktualisiert werden. Schon mit der am 20. April von der Bundesregierung beschlossenen Änderung der Vergabeverordnung wurden Anforderungen der Richtlinie an das Vergaberecht umgesetzt. Zusammen mit den Maßnahmen des Integrierten Energie- und Klimaprogramms zur Steigerung der Energieeffizienz sind damit alle wesentlichen Schritte zur Umsetzung der Richtlinie abgeschlossen. Aber Hand aufs Herz: Was kümmert die Bürgerinnen und Bürger oder die Mittelständlerin und den Mittelständler ein Einsparungsziel der Bundesregierung? Die oder der Einzelne interessiert sich nicht dafür, wie viel Endenergie Deutschland bis wann einsparen muss! Was interessiert, sind die direkten Auswirkungen des Gesetzes auf das Tagesgeschäft. Wenn man einen ganz beachtlichen Anteil der Arbeitszeit für überbordende Bürokratie aufwenden muss, dann ist das gewiss nicht im Interesse derer, die für die Wertschöpfung und Wirtschaftsleistung unseres Landes stehen. Im Gegensatz zu den dirigistischen Ansätzen des Entwurfs eines von der SPD beeinflussten Energieeffizienzgesetzes aus der letzten Legislaturperiode setzt der vorliegende Entwurf auf die Entwicklung eines Marktes für Energiedienstleistungen und anderen Energieeffizienzmaßnahmen. Der Entwurf kennt keinen Zwang von Unternehmen zur Einführung von Energiemanagementsystemen. Denn staatlich oktroyierte Bürokratie setzt in den Unternehmen keine Effizienzpotenziale frei; vielmehr blockiert sie dringend benötigte Kapazitäten; besonders in kleinen Betrieben. Notwendig sind aber umfassende Informationen über solche Energieeinsparmaßnahmen, die sich für Energieverbraucher wirtschaftlich rechnen und damit einen hohen Anreiz zur Eigeninitiative setzen. Als zentrale Hilfestellung für alle Verbraucher werden Energielieferanten die am Markt verfügbaren Dienstleister, Verbraucherorganisationen und Energie-agenturen unterrichten. Im jetzigen Gesetzesentwurf steht zentral die Stärkung der Transparenz im Markt. Ich bin davon überzeugt, dass der Endkunde besonders von den ausgeweiteten Informationen über sparsamen Energieeinsatz profitieren wird. Viele Gruppen können heute aufatmen. Denn sie wissen, dass die planwirtschaftlichen Gängelungen des Entwurfs aus der letzten Legislaturperiode verworfen wurden. Im Übrigen zeigt sich das Interesse der Verbraucher am Thema an folgenden Zahlen: Lag die Zahl der Energieberatungen durch Verbraucherzentralen 2000 noch bei 50 000, sind für das Jahr 2010 circa 100 000 Beratungen geplant. Bei den Vor-Ort-Beratungen im Gebäudebereich hat sich in zehn Jahren die Anzahl der Beratungen verzehnfacht. In diesem Zusammenhang halte ich die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand insbesondere bei Energieeinsparungen im Gebäudebereich für eminent wichtig. Dazu ist der öffentliche Sektor nunmehr im Gesetzentwurf aufgefordert. Gelungene Beispiele der öffentlichen Hand sollen zeigen, mit welchen baulichen Maßnahmen man die strengen Anforderungen der Energieeinsparverordnung übertreffen und dabei noch kurz- und längerfristig wirtschaftliche Vorteile erzielen kann. In diesem Sinne sind auch die Gespräche der Bundesregierung mit der Energiewirtschaft über das freiwillige Angebot von Stromsparschecks zu verstehen. Ich halte es für entscheidend, dass wir den marktorientierten Weg über die Aktivierung des Eigeninteresses sowohl der gewerblichen Wirtschaft als auch des Verbrauchers an Energieeinsparungen und energieeffizienten Produkten und Gebäuden konsequent weitergehen. Deshalb haben wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm verlängert. Erfolge wie der KfW-Sonderfond Energieeffizienz in kleinen und mittleren Unternehmen mit über 7 000 geförderten Beratungen bestätigen diesen Weg. Es ist ein Weg, den wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner weiterhin gehen werden. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Der Stromverbrauch in Deutschland ist seit 1992 um 10 Prozent gestiegen, die CO2-Emissionen durch Stromerzeugung sind immer noch auf dem damaligen Niveau. Seit fast 20 Jahren tut sich also fast nichts im Stromsektor. Nichts, was auch nur ansatzweise dazu geeignet ist, die klimapolitischen Ziele zu erreichen. Der Mehrverbrauch an Strom wird zwar durch erneuerbare Energien gedeckt, fossile Kraftwerke aber nicht zurückgebaut, und so bleiben die erderwärmenden Treibhausgasemissionen konstant. Das alles können Sie sich detailliert auf den Seiten des Bundesumweltamtes anschauen. Wir, die Politik, aber auch die Bürgerinnen und Bürger reden seit Jahren darüber, dass Strom und Energie eingespart, Energie effizient eingesetzt werden muss; allein, es fehlt den politischen Akteuren der Wille, diesen Weg konsequent zu gehen. Seit 2006 hat die Bundesregierung den Auftrag, ein Gesetz vorzulegen, das Maßnahmen zur effizienten Nutzung von Energie in geltendes Recht fassen soll. 2008 hätte es vorliegen müssen. Jetzt endlich, kurz vor einer Rüge durch die EU, haben wir einen Entwurf auf dem Tisch. Anstatt aber die Chance und die Zeit zu nutzen, endlich wirkungsvolle Maßnahmen zu Energieeffizienz auf den Weg zu bringen, legt die Bundesregierung ein weichgespültes, völlig unmotiviertes Schriftstück vor, das vielleicht gerade so ausreicht, wenigstens formal der Richtlinie des Europäischen Parlaments gerecht zu werden, aber selbst das scheint mir zweifelhaft. Keine konkreten Maßgaben, keine ordnungspolitischen Vorgaben an Wirtschaft und Länder, nur luftige Absichtserklärungen und unverbindliche Freiwilligkeiten finden sich in diesem Entwurf. Es zeigt sich, dass die Bundesregierung das Thema Energieeffizienz nicht ernsthaft angeht und man bekommt fast den Eindruck, die Koalition finde das Thema lästig. Dabei gibt es zahlreiche Studien, die riesige wirtschaftlich erschließbare Energieeffizienzpotenziale ausmachen, die in Handel, Gewerbe, Industrie, aber auch in privaten Haushalten einfach nicht genutzt werden, solange es keine ordnungsrechtliche Steuerung gibt. Aber die brauchen wir, um den Stromverbrauch endlich zu senken und die billigste Maßnahme, die uns energiepolitisch zur Verfügung steht, um die Emissionsziele zu erreichen, nämlich Energie effizient zu nutzen, endlich festzuschreiben. Die Strommenge von zwei Atomkraftwerken ist notwendig, um alle Stand-by-Geräte Deutschlands im ausgeschalteten Zustand mit Strom zu versorgen. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie man gegen Energieverschwendung vorgehen kann - wenn man denn den Willen dazu hat. Stattdessen werden Förderprogramme wie das der KfW für energetische Gebäudesanierung von der Koalition gekürzt, eine Haushaltssperre für erneuerbare Wärme verfügt, die Vergütung für Solarstrom im EEG über alle Maßen abgesenkt und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz von Ihnen nicht wirklich angegangen. Das ist keine zukunftsfähige Politik, das führt uns in die ökologische Krise und das wird die Linke nicht mitverantworten. Die Linke fordert stattdessen die Festlegung konkreter Einsparziele im Gesetzentwurf. Ähnlich wie bei Emissionszielen brauchen wir Zielmarken, bis wann Einsparziele erreicht werden müssen. Und da reicht es nicht aus, das eben mal die Bundesregierung festlegen zu lassen, damit die nächste Regierung es vielleicht wieder aufhebt - siehe Atomkonsens -, so etwas muss sich im Gesetzestext wiederfinden. Die Linke fordert eine Kennzeichnungspflicht für Energieeffizienzklassen für sämtliche Elektrogeräte, wie es heute bereits bei Waschmaschinen und Kühlschränken vorgeschrieben ist. Die Linke fordert ein Verbot von Stand-by-Geräten und kostenlose Energieberatung für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Linke fordert einen aus den Einnahmen des Emissionshandels gespeisten Energiesparfond, aus dem spezifische Steuerungsmaßnahmen und Anreizprogramme finanziert werden. Konjunkturprogramme für Energieeffizienz ließen sich daraus finanzieren, was sinnvoller und nachhaltiger wäre als die ressourcenverschleudernde Abwrackprämie. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man solch einen Gesetzentwurf sinnvoll und vernünftig ausgestalten könnte, um mit Blick auf die Zukunft den Energiebedarf zu senken. Aber der Regierungsentwurf ist die manifestierte Ideen- und Fantasielosigkeit. Zurück in die Zukunft: Die Linke erwartet mit Spannung die Anhörung zu diesem Entwurf und die Vorschläge der Experten sowie die weitere Debatte. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt erst recht. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise kommt vieles unter die Räder. Doch ich sage: Die Energieeffizienz brauchen wir jetzt erst recht. Sie sagen, dass die Zeiten der Verschwendung vorbei sein müssen. Dann hören Sie auf mit der Energieverschwendung! Sie sagen, dass wir vor der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit vielen Jahrzehnten stehen. Dann sorgen Sie dafür, dass mit Energieeffizienztechnologien die europäische Wirtschaft gestärkt wird, anstatt Jahr für Jahr Milliarden von Euro für den Import von fossilen Energieträgern auszugeben. Allein im Jahr 2008 waren das 87 Milliar-den Euro. Jetzt erst recht brauchen wir die Energieeffizienz. Aber auch alle alten Argumente sind weiterhin gültig: Unabhängigkeit von Energieimporten, Klimaschutz. Auch die Ziele für erneuerbare Energien werden wir nur erreichen, wenn wir mit Energieeffizienz vorankommen. Nach Jahren des Stillstands legen Sie einen Gesetzentwurf vor, jedoch nur gezwungenermaßen und nicht aus eigenem Antrieb. Sie legen das Gesetz vor, weil ein Vertragsverletzungsverfahren der EU läuft. Aber was lange währt, wird längst nicht gut. Denn was Sie uns hier jetzt auftischen wollen, grenzt schon an Arbeitsverweigerung. Neben wenigen kleinen Begleitmaßnahmen wie dem Sammeln von Informationen bei der Bundesstelle für Energieeffizienz besteht das Kernstück des vorliegenden Gesetzentwurfs daraus, dass die Verbraucher einmal im Jahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis auf eine Internetseite bekommen, auf der sich eine Liste von Anbietern von Energiedienstleistungen befindet. Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungskoalition, das ist ein Suchspiel und kein Energieeffizienzgesetz. Ein kleiner Hinweis auf der Stromrechnung bringt noch keine Energieeinsparung. Auch die Vorgaben der EU werden Sie mit diesem Entwurf verfehlen. Mit diesem lahmen Gesetz gelingt es Ihnen nicht einmal, verspätet die EU-Richtlinie umzusetzen. Sie verweisen in Ihrem Gesetzentwurf darauf, mit Maßnahmen aus dem Integrierten Energie- und Klimaprogramm, IEKP, die Effizienzziele erreichen zu wollen, zum Beispiel mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes zur Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für den Wettbewerb. Aber es fehlen klare Standards, mit denen Innovation tatsächlich zu Einsparungen führen könnte. Als Verbesserung aufgeführt haben Sie auch die Novelle der Energieeinsparverordnung. Doch in der Novellierung der Energieeinsparverordnung 2009 verwässern eine Vielzahl an Ausnahmeregelungen die ohnehin schon wenig ambitionierten Vorgaben zur Energieeinsparung zusätzlich. Sie wollen Förderprogramme zur energetischen Sanierung von Gebäuden; aber Sie stellen dieses Jahr weniger Gelder zur Verfügung als im letzten Jahr, und für das nächste Jahr sehen Sie nur noch einen Bruchteil vor. Sie setzen auf Kraft-Wärme-Kopplung, aber auch für die KWK haben Sie Gelder gestrichen. Das novellierte KWK-Gesetz sorgt dafür, dass der Ausbau in Deutschland stagniert und Sie von ihren Zielen meilenweit entfernt sind. Sie wollen die Klimaschutzinitiative für die Zielerreichung in Ihrem Gesetzesentwurf nutzen, aber genau diese Mittel haben Sie gekürzt, und einen Teil haben Sie mit einer Haushaltssperre versehen. So geht Energieeffizienz nicht. Nun sprechen Sie davon, dass das nur ein Umsetzungsgesetz der EU-Richtlinie sei und dass im Herbst im Rahmen des Energiekonzeptes mehr zu erwarten sei. Dass Sie heute schon davon sprechen, im Bereich der Energieeffizienz im Herbst nachzulegen, zeigt doch auch, dass Sie Ihr eigenes Gesetz für nicht zielführend halten. Die Debatten mit Regierungsvertretern untermauern leider, dass im Herbst nicht mehr zu erwarten sein wird. Denn warum steht in diesem Gesetz so wenig? Dieser Entwurf entspricht fast eins zu eins der Wunschvorstellung des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Umweltpolitiker Ihrer Fraktion wollen mehr; aber es fehlt ihnen an Durchsetzungskraft. Nehmen wir als Beispiel die Haushaltsverhandlungen. Die internationalen Klimaschutzmittel wurden drastisch gekürzt, die Mittel aus dem Marktanreizprogramm mit einer Haushaltssperre versehen, und Mittel für Energieeffizienz werden Jahr für Jahr in großen Schritten weniger. Wir glauben nicht an die schönen Worte, wir wollen Taten sehen. Wir haben in unserem Antrag gezeigt, wie ein Energieeffizienzgesetz aussehen kann. Für den Endkundenbereich fordern wir, konkret Verantwortliche zu benennen, die Energieeffizienzmaßnahmen durchführen müssen. Die Kosten werden wie beim EEG auf alle Stromkunden umgelegt. Hierbei profitiert die ganze Gesellschaft: durch Energieeinsparungen und durch Vermeidung externer Kosten. Für die Industrie fordern wir geregelte Energieaudits und Energieberatung mit konkreten Energiesparvorschlägen sowie eine verlässliche Evaluation. Wir fordern dynamische Effizienzstandards. Wir fordern einen Energieeffizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliarden Euro, und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt, der weniger Schulden aufweist als der Ihre. Sie reden in Zeiten der Krise ständig davon, Verschwendung zu stoppen. Fangen Sie an: Stoppen Sie endlich die teure Energieverschwendung! Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen (Tagesordnungspunkt 18) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Heute ist ein besonderer Tag: Jedes Jahr am 20. Mai begehen wir den "Europäischen Tag der Meere". Der "Europäische Tag der Meere" wurde von der EU offiziell im Jahr 2008 ins Leben gerufen. Er dient dazu, uns an die entscheidende Rolle der Ozeane und Meere zu erinnern und die zur See gehörenden Sektoren besser sichtbar zu machen und ihre Bedeutung für unser tägliches Leben stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rufen. Nicht zuletzt will dieser Tag und die mit ihm verbundene jährliche EU-Konferenz einen Beitrag dazu leisten, durch die stärkere Einbeziehung der Interessengruppen, die Bildung von Netzwerken und den Austausch bewährter Praktiken zu einer neuen Kultur des sektor- und politikfeldübergreifenden Dialogs beizutragen. Damit ist der "Europäische Tag der Meere" Ausdruck der integrierten Meerespolitik der EU, die im Jahr 2007 konzipiert wurde und sich seitdem rasch entwickelt hat. Die Grundlinie dieser Politik haben wir hier im Deutschen Bundestag einhellig begrüßt. Ihr sektorübergreifender Ansatz hebt die Bedeutung der Meeres- und Küstenwirtschaft für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung in Europa hervor. Sie verfolgt das Ziel, Innovation zu erleichtern, Synergien zu erzeugen, ein kohärenteres Vorgehen zu ermöglichen und die wertvolle Ökologie der Meere zu schützen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die Meerespolitik erfährt eine hohe Aufmerksamkeit. Der Schutz der Meere ist ein wichtiges Anliegen, dem in den vergangenen Jahren auf verschiedenen Ebenen verstärkt Rechnung getragen wurde. Obwohl bereits viel Gutes erreicht werden konnte, geben wir uns mit dem bisher Erzielten noch nicht zufrieden. Denn noch lange sind nicht alle Probleme einer zufriedenstellenden Lösung zugeführt worden. Diese allgemeine Situationsbeschreibung der Meeresschutzpolitik gilt auch für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel "Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen", der uns heute zur Beratung vorliegt. Der Müll in den Meeren, verursacht zum Beispiel durch die Seeschifffahrt oder die Fischerei, stellt nach wie vor ein Problem dar, obwohl das Einbringen von Plastikmüll in die Meere bereits weltweit verboten ist. Durch die Ansammlung von Plastikmüll in bestimmten Meeresgebieten verwechseln Meerestiere und Vögel diesen mit Nahrung und verenden qualvoll. Mikroteile gelangen durch die Fische zudem auch in unsere Nahrungskette. Und da Plastik nicht "vergeht", führt die "Entsorgung" von Plastikverpackungen zu einer dauerhaften Verseuchung der Meere. Die Vermüllung der Meere ist aber nicht nur in ökologischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht ein Problem. Das habe ich in meiner Zeit als Bürgermeister auf Sylt erlebt. Erhebliche Reinigungskosten belasten die betroffenen Gemeinden mit dem Herausholen des Mülls aus den Meeren und der Säuberung der Strände. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Probleme, die aus der Vermüllung der Meere resultieren, nicht nur ökologischer, sondern auch ökonomischer Natur sind - insbesondere mit Blick auf die Tourismusbranche. Allerdings warne ich auch davor, ein falsches Bild zu zeichnen. Unsere Küsten und Strände sind ein großartiger Naturraum, dessen Wert unsere Gäste zu schätzen wissen. Nicht von ungefähr kommen Hunderttausende immer gerne an die Strände der Nord- und Ostsee zurück. Deshalb sollten wir es auch, anders, als der vorliegende Antrag der Grünen es tut, vermeiden, den Eindruck zu erwecken, als sei alles schlecht und bislang nichts Substanzielles zugunsten des Meeresschutzes erreicht worden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte, neben der bereits eingangs erwähnten Initiierung einer gemeinsamen, integrieren EU-Meerespolitik, auf folgende weitere Beispiele verweisen: - Den Baltic Sea Action Plan der Umweltminister der Ostseeanliegerstaaten, HELCOM, der konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Gewässerqualität und Biodiversität des Meeresökosystems Ostsee beinhaltet. - Die EU-Meeresstrategie-Richtlinie mit dem Ziel eines guten Umweltzustandes der europäischen Meere bis 2020. Auf dem Weg dorthin wird unter anderem bis Ende 2010 ein Maßnahmenprogramm vorgelegt. - Die "Nationale Strategie für die nachhaltige Nutzung und den Schutz der Meere", ein wesentlicher Baustein der nationalen Meerespolitik. Dies zeigt: Die Bundesregierung betrachtet das Thema "Vermüllung der Meere" als ernst zu nehmendes Problem und widmet sich seit einigen Jahren intensiv einer Lösung. Aber zurück zum Antrag: Grundsätzlich wäre es sinnvoller gewesen, hätte sich der Antrag, wie es seine Überschrift zunächst vermuten lässt, auch wirklich auf das Problem des Mülls in den Meeren konzentriert. Stattdessen beinhaltet er ein Sammelsurium verschiedenster meerespolitischer Probleme. Er enthält auch zu viele ordnungsrechtliche Regelungen, anstatt positive Anreize zu setzen. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Darstellung nicht korrekt ist bzw. ganz fehlt. Hinsichtlich einer fehlerhaften Darstellung verweise ich auf die Aussage auf Seite 1 des Antrags, dass für die problematischen Schiffsemissionen bislang keine befriedigende Lösung gefunden worden sei. Dem halte ich entgegen, dass in diesem Zusammenhang bereits viel erreicht wurde, nämlich das Verbot des sogenannten Bunker-C-Öls für Nord- und Ostsee als Schiffsdiesel sowie die Begrenzung von Schwefel, bzw. auf EU- und IMO-Ebene in Erarbeitung ist. Die Ausweisung von Immissionsschutz-Sondergebieten, SECAs, durch die IMO für Nord- und Ostsee ist doch ein gutes Beispiel; allerdings auch dafür, wie schwer es ist, diese Regelungen isoliert national zu betrachten, ohne gleichzeitig nachteilige Wettbewerbsverzerrungen hervorzurufen. Deshalb ist es richtig, dass diese Regelungen über Nord- und Ostsee hinaus ausgedehnt werden. Ein Beispiel für das Fehlen eines zentralen Punkts in Zusammenhang mit dem Thema "Verschmutzung der Meere" ist die notwendige Steuerbefreiung von Landstrom für Schiffe. Hierzu gab es bereits in der Vergangenheit ein einheitliches Votum im Deutschen Bundestag, das die Bundesregierung auffordert, die Steuerbefreiung von Landstrom auf europäischer Ebene zu unterstützen. Ich habe den neuen EU-Energiekommissar Günther Oettinger auf dieses Thema hingewiesen, das seit Jahren auf der EU-Ebene nicht vorankommt. Er will sich darum kümmern, hat er zugesagt. Herausgreifen möchte ich ferner drei weitere Punkte des Antrags: Erstens die praxisfremde Forderung nach Nutzung bio-zidfreier Anti-Fouling-Anstriche: Ich habe gerade erst vor einigen Wochen den größten mittelständischen Hersteller von Anti-Fouling-Mitteln in Deutschland besucht, ein Unternehmen in der Nähe von Hamburg. Die haben den Versuch mit biozidfreien Produkten gemacht - mit negativem Ergebnis: geringere Wirkung des Anstrichs, keine Akzeptanz auf dem Markt. Auf eine durchschlagende Wirkung der Anti-Fouling-Produkte können wir aber nicht verzichten, und zwar auch aus Naturschutzgründen. Schließlich geht es auch um die Vermeidung des Einzugs invasiver Arten. Nicht zuletzt sollten wir in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, dass wir hier in Deutschland gute und sichere Anti-Fouling-Produkte mit einer sicheren Verwendung von Bioziden herstellen. Dies ist in jedem Fall sinnvoller, als würden beispielsweise Werften in China und in Korea weniger sicherere Anti-Fouling-Mittel anderswo beziehen oder selber herstellen. Zweitens halte ich den Hinweis auf eine allgemeine Müllvermeidungsstrategie zwar für gut, aber für die Vermeidung von Müll im Meer für wenig hilfreich. Um zielgerichtet Müll zu vermeiden, halte ich es für sinnvoller, die verantwortlichen Akteure einzubinden, und zwar weltweit. Biologisch abbaubare Produkte müssen gerade zielgerichtet für den Einsatz an Bord entwickelt und vermarktet werden. Gleichzeitig brauchen wir eine noch bessere Überwachung mit Fahndungsdruck, um mögliche Müllsünder abzuschrecken. Drittens kritisiere ich den Antrag, weil er das Thema "Schiffsverkehr" zu negativ darstellt. Neben allen Problemen, die aus dem Schiffsverkehr für den Meeresschutz unstrittig resultieren können, sollten wir nicht vergessen, dass der Schiffsverkehr das umweltfreundlichste Verkehrsmittel ist. Eine Verlagerung des Warenverkehrs auf die Landseite wäre mit einer massiven Zunahme von Emissionen verbunden. Dies kann nicht gewollt sein. Der Schutz der Meeresökologie ist ein wichtiges Thema, es stellt auch einen Eigenwert an sich dar. Wir müssen die Meere aber auch schützen, um ihre Potenziale nachhaltiger nutzen zu können - sei es in der Fischerei, in der Energiegewinnung oder in der Gewinnung mariner Wirkstoffe. Unser Ziel ist dabei ein ausgewogenes Verhältnis von Schutz und Nutzung, die nur eine nachhaltige Nutzung sein kann. Daran werden wir uns auch bei den weiteren Beratungen orientieren. Josef Göppel (CDU/CSU): Jedes Jahr am 20. Mai wird der "Europäische Tag der Meere" begangen, so auch heute. Der Tag der Meere soll die entscheidende Rolle der Ozeane und Meere hervorheben und dazu beitragen, ihre Bedeutung ins Bewusstsein der Menschen zu rufen. Ich erinnere daran, dass die Weltmeere 71 Prozent der Erdoberfläche bedecken. Sie bilden das größte zusammenhängende Ökosystem der Erde. Die Meere verdienen deshalb unsere besondere politische und öffentliche Aufmerksamkeit. Die Erhaltung der Meere ist nicht nur ein Anliegen des Umwelt- und Naturschutzes, sondern liegt auch in unserem sozialen und wirtschaftlichen Interesse. Der Kinodokumentarfilm Plastic Planet von Regisseur Werner Boote beweist eindringlich, wie Plastik oder, besser gesagt, "synthetische Kunststoffe" gerade in den Meeresökosystemen weltweit zu einem gravierenden Problem geworden sind. Nach einer Studie des Umweltbundesamtes bestehen mehr als zwei Drittel des Meeresmülls aus Plastik. Neben den ökologischen Schäden verursacht der Abfall ganz reale Kosten: In Ostholstein entstehen zum Beispiel pro Jahr Unkosten in Höhe zwischen 750 000 und 1,2 Millionen Euro für die Entsorgung gestrandeter Abfälle. Alleine bei der Reinigung des 7 Kilometer langen Westerländer Badestrandes auf Sylt fallen täglich bis zu zwei Tonnen Müll an. Das entspricht 23 000 gefüllten Müllsäcken im Jahr. Die Vermüllung der Meere ist ein ernst zu nehmendes Problem. Deshalb teile ich die Einschätzung des Präsidenten des Umweltbundesamtes, Jochen Flasbarth, der sagt: "Es ist höchste Zeit, endlich effektive Strategien gegen den Meeresmüll zu entwickeln." Seit dem 15. Juli 2008 ist die Europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie 2008/56/EG, MSRL, in Kraft. Ziel der Richtlinie ist es, den Meeresschutz und die Meeresnutzung in eine Balance zu bringen. Bis zum Jahr 2020 soll damit ein "guter Umweltzustand" der europäischen Meere erreicht werden. Am 1. Oktober 2008 hat die Bundesregierung die "Nationale Strategie für die nachhaltige Nutzung und den Schutz der Meere", kurz: "Nationale Meeresstrategie", beschlossen. Damit wird die Europäische Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat mit Erlass vom 17. Juli 2009 das Umweltbundesamt beauftragt, einen Bericht zu erstellen, wie die Aufgaben aus der EU-Meeresstrategie-Richtlinie in Nord- und Ostsee erfüllt werden können. Der Bericht des Umweltbundesamtes vom 12. Oktober 2009 "Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie: Abfälle im Meer" liegt für jedermann öffentlich zugänglich unter dem Titel "Abfälle im Meer - Ein gravierendes ökologisches, ökonomisches und ästhetisches Problem" vor. Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit, zum Schutz der Meere aktiv zu handeln. Die Müllvermeidung muss dabei Vorrang haben. Der Antrag und die Presse der letzten Monate - ich denke dabei an den Spiegelartikel "Müllflut in den Ozeanen: Regierungspapier enthüllt Scheitern des Meeresschutzes" - rückt unsere politischen Bemühungen für den Meeresschutz nach meiner Meinung in ein falsches Licht. Die Nationale Meeresstrategie zeigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Bei der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie befinden wir uns in der ersten Phase: Der Analyse des Ist-Zustandes und dem Aufzeigen von Lösungsansätzen. Mit dem Bericht des Umweltbundesamtes liegen nun die ersten Ergebnisse vor. Ich teile die Auffassung, dass diese Ergebnisse der Analyse erschreckend sind. Jetzt muss die Nationale Meeresstrategie konsequent umgesetzt werden. Der vorliegende Antrag rennt offene Türen ein. Unterstützen Sie deshalb den Bundesumweltminister bei der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie. Frank Schwabe (SPD): Gut dass heute, anlässlich des "Europäischen Tages der Meere", hier diese Debatte zum Thema Meere und deren Schutz stattfindet. Seit der verheerenden Explosion auf der Bohrplattform "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko am 20. April 2010 überschlagen sich die Artikel in der Presse zum Thema Bedrohung und Schutz der Meere. Amerika bereitet sich auf eine der schwersten Umweltkatastrophen in der Geschichte des Landes vor, denn das austretende Öl bedroht hochsensible Ökosysteme mit bisher kaum absehbaren Folgen und Kosten für Mensch und Meeresökosysteme. Aber wir dürfen uns diesem wichtigen Thema nicht nur annehmen, wenn es große Schlagzeilen in den Medien gibt. Denn die größte Bedrohung der Meere sind nicht nur die spektakulären Umweltkatastrophen, wie wir sie gerade im Golf von Mexiko erleben, sondern die alltägliche Verschmutzung, die es nicht auf die Titelseiten der Zeitung schafft, aber umso verheerender ist. Vielen von uns sind die dramatischen Bilder von großen Tankerunglücken oder Katastrophen auf Bohrinseln im Gedächtnis, wenn wir an Öl im Meer denken. Doch so spektakulär diese Unfälle auch sind, sie stellen nicht den Haupteintrag von Öl in die Meere dar. Nur etwa 13 Prozent des jährlich ins Meer gelangenden Öls stammt von Tankerunfällen. Der weitaus größte Anteil von rund 3 Millionen Tonnen Öl, die jährlich in die Weltmeere fließen, stammt vom normalen Schiffsverkehr, aus kommunalen Abwässern und vom täglichen Betrieb auf den Ölplattformen. Neben der Verschmutzung durch Öl werden die marinen Ökosysteme derzeit vor allem durch den Eintrag gefährlicher Stoffe, durch Überdüngung, durch schädliche Wirkungen der Fischerei wie Überfischung und durch die Zerstörung von Lebensräumen durch schweres Fanggeschirr bedroht. Hinzu kommen die Einschleppung fremder Tier- und Pflanzenarten, die eventuell mit einheimischen Arten konkurrieren, die Verluste von Habitaten und Wirkungen von Lärmquellen, die zum Beispiel Meeressäuger stören oder gar schädigen können. In zunehmendem Maße wächst die Bedrohung der Meere durch den Klimawandel. Die Folgen des Klimawandels werden voraussichtlich immens sein. Wenn die globale Erwärmung nicht auf unter 2 Grad Celsius begrenzt wird, drohen ganze marine Ökosysteme zu verschwinden. Plastikmüll ist ein weltweites Problem und gefährdet in zunehmendem Maße unsere Meere und Küsten. Von den jährlich bis zu 240 Millionen Tonnen produziertem Plastik landen nach Schätzungen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen mehr als 6,4 Millionen Tonnen Müll in den Ozeanen Ich könnte diese Liste der Gefahren noch um einige Punkte erweitern. Dabei wissen wir doch alle, dass wir unsere Anstrengungen zum Schutz der Meere dramatisch erhöhen müssen. Wie wichtig die Meere sind, erschließt sich mit einem Blick, wenn man unseren Planeten aus dem Weltall betrachtet. Wir leben auf einem blauen Planeten. Die Meere bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche, bieten volumenmäßig 99 Prozent des Lebensraumes auf dem Planeten und stellen somit das größte Ökosystem dar. Die Meere sind Ursprung allen Lebens, sie sind Regulator für das Klima unserer Erde, sie bergen gewaltige Energieressourcen und sind eine wichtige Nahrungsquelle. Die Meere sind ein kostbares Naturerbe. Sie bilden die größten zusammenhängenden Ökosysteme der Erde. Der Schutz der Meere ist deshalb besonders wichtig. Lange Zeit wurden die Meere in einem Irrglauben an die Unerschöpflichkeit der Ressourcen und eine grenzenlose Regenerationsfähigkeit genutzt. Die Folgen dieses Handels wurden viel zu spät erkannt. Heute drohen ökologische Risiken und negative Auswirkungen auf die Meeresumwelt. In nur wenigen Jahrzehnten hat der Mensch es geschafft, die ältesten Lebensräume unseres Planeten bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus auszubeuten. Der faszinierenden Vielfalt der Ozeane droht die Vernichtung. Damit wird aber auch gleichzeitig die Nutzung der Meere durch den Menschen beeinträchtigt. Meeresumweltschutz dient also dazu, Schädigungen des Ökosystems Meer zu verhindern und gleichzeitig das Potenzial für ihre nachhaltige Nutzung zu sichern. Dieses Ziel kann am besten durch die Integration meeresschutzrelevanter Aspekte in andere Politikbereiche wie Fischerei, Landwirtschaft, Industrie, Verkehr usw. erreicht werden. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zeigt aber auch, dass es richtig war, dass sich die SPD schon vor einigen Jahren für eine Strategie "weg vom Öl" entschieden hat. Und das nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern weil das "schwarze Gold" auf der ganzen Welt dreckige Spuren hinterlässt. Erdöl belastet die Umwelt von der Suche, über die Förderung, Verarbeitung und den Transport bis hin zum Verbrauch. Mitverantwortlich dafür: die weltweit operierenden Ölkonzerne, die viel für Gewinnmaximierung, aber wenig bis nichts für Umweltschutz und Menschenrechte übrig haben. Ölleckagen verseuchen Böden und Gewässer, machen Ackerflächen unbrauchbar, das Trinkwasser ungenießbar und töten Fischbestände und andere Lebewesen. Ölteppiche aus verunglückten Tankern verseuchen Küstengebiete, lassen Vögel und Meerestiere qualvoll krepieren und bringen die örtlichen Fischer um ihre Existenz. Mit Erdöl und Chemikalien belastete Abwässer, Schlämme und Bohrgestein werden von Ölplattformen ins Meer gekippt, vergiften die Meeresflora und -fauna und landen letztlich in der Nahrungskette. Neben dem Öl werden die Meere auch durch andere Stoffe dauerhaft belastet. Nicht erst seit dem Film "Plastic Planet" wissen wir, dass wahre Müllteppiche im Meer schwimmen. Mehr als Zweidrittel des Meeresmülls besteht aus Plastik. Dieser ist für die Ökosysteme besonders gravierend, denn für viele Meerestierarten ist er lebensbedrohlich, zum Beispiel für Meeresschildkröten, die an Plastiktüten ersticken können. Verschärfend hinzu kommt die lange Abbauzeit von Plastikkunststoffen, die bis zu 450 Jahre beträgt. Neben der Bedrohung der Meerestiere verursacht der Meeresmüll hohe ökonomische Kosten. Das Umweltbundesamt hat gestern bekannt gegeben, dass allein bei der Reinigung des fast 7 Kilometer langen Westerländer Badestrands auf Sylt jeden Tag bis zu 2 Tonnen Müll anfallen. Das entspricht jährlich circa 23 000 Müllsäcken - allein für die Reinigung des Strandes bei Westerland! Laut Umweltbundesamt entstehen in Ostholstein jährlich Kosten für die Müllbeseitigung zwischen 750 000 und 1,2 Millionen Euro. Obwohl in vielen Häfen bereits Auffanganlagen für Schiffsmüll existieren, geht die Abfallmenge nicht signifikant zurück. Das liegt auch an den Entsorgungskosten. Die Abnahme ist nicht immer kostenfrei, die Preise dafür schwanken von Hafen zu Hafen. Der Antrag der Grünen fordert daher zu Recht von der Bundesregierung, dass sie Strategien erarbeiten muss, um den Eintrag von Müll ins Meer zu reduzieren. Auch muss sich die Bundesregierung auf internationaler Ebene verstärkt für die Schaffung eines globalen Netzwerkes von Meeresschutzgebieten durch das UN-Übereinkommen über biologische Vielfalt, CBD, einsetzen. Zwar ist die Schaffung von Meeresschutzgebieten äußerst wichtig, sie alleine werden jedoch nicht ausreichen, um die biologische Vielfalt der Meere zu sichern. Hinzukommen muss ein Umdenken in der Fischerei. Die gegenwärtige Überfischung und Übernutzung der Fischbestände muss beendet werden. Zurzeit fangen zu viele Fischer zu viel Fisch. Wissenschaftliche Empfehlungen für Fangquoten werden nicht umgesetzt, und in vielen Meeresregionen fehlen Regularien ganz. Insgesamt dominiert kurzfristiger Profit über langfristige Nutzung. Zukunft hat jedoch nur eine Fischerei, die sich an dem Kriterium der Nachhaltigkeit orientiert. Arbeitsplätze in der Fischerei werden nicht durch den Meeresschutz bedroht, sondern durch den Raubbau an der Natur. Die Überfischung heute macht die Fischer morgen arbeitslos. Bisher ist diese Erkenntnis leider noch nicht überall angekommen. Der nächste wichtige Schritt hin zu einer nachhaltigen Fischerei ist mit der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik in der EU-Politik möglich. Bei dieser Reform muss sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür einsetzen, dass die Fischerei auf einen Kurs gebracht wird, der die Ökosysteme schont und ein Überleben bedrohter Arten sichert. Sei es auf nationaler Ebene, sei in europäischen oder internationalen Verhandlungen - Ziel muss sein, die Nutzung und Bewahrung der Meere wieder miteinander zu verbinden. Ansonsten wird es zum Kollaps ganzer Fischbestände kommen und zu Tausenden von arbeitslosen Fischern. Das hat uns die Entwicklung vor Neufundland deutlich gezeigt. Aufgabe der Politik ist hierbei, in einen engen Dialog mit den relevanten Akteuren zu treten und kurzfristiges Profitdenken durch langfristige Verantwortung abzulösen. Angelika Brunkhorst (FDP): Die Grünen haben hier einen Ziel- und Forderungskatalog vorgelegt, der ihr großes Herz und Anliegen für den Meeresnaturschutz darlegt. Sie können sicher sein, auch uns Liberalen ist der Schutz der Meere ein wichtiges Anliegen. Meere bilden die größten zusammenhängenden Ökosysteme unserer Erde und sind für uns eine wesentliche Lebensgrundlage. Sie haben eine enorme Bedeutung für eine intakte Umwelt und besitzen gleichzeitig ein beträchtliches Potenzial für wirtschaftliches Wachstum. Deshalb sollten wir diese besondere, einzigartige Ressource schützen. 70 Prozent des Sauerstoffs, den wir einatmen, wird von der Meeresflora produziert. Sieben Zehntel der Erdoberfläche sind von Weltmeeren bedeckt. Gut ein Drittel der Weltmeere ist 4 000 bis 5 000 Meter tief. Eine langfristige erfolgreiche Meerespolitik basiert auf abgesichertem Wissen über die Ressource Meer und einer intakten Meeresumwelt. Wir sind uns alle einig, dass das Meer vor Verschmutzungen und Müll geschützt werden muss - gerade am heutigen "Europäischen Tag der Meere". Die Adressaten des Antrags sind direkt die Bundesregierung und mittelbar die EU und international die IMO. Mit insgesamt 38 Forderungsspiegelstrichen beinhaltet er einen thematisch breiten Ansatz. Die Grünen müssten eigentlich wissen, dass einige ihrer Forderungen an Schutz und Genehmigungsstandards im Sinne des Meeresumweltschutzes bereits auf einem guten Weg sind und in einigen europäischen oder internationalen Abkommen vertraglich umgesetzt wurden. Der Schutz der Meere ist neben der Sicherheit der Seefahrt eines der Hauptanliegen der International Maritime Organization, IMO. Ein international einheitlicher Meeresumweltschutz auf der Ebene der IMO hat dabei immer den Vorteil global abgestimmter Maßnahmen und der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Schifffahrt. Die Überwachung und Durchführung der vereinbarten Maßnahmen ist auf europäischer Ebene schwierig. Das MARPOL-Übereinkommen ist ein internationales, weltweit geltendes Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt. Hier finden sich allgemeine aber auch spezielle Regelungen zu den verschiedenen Arten von Verschmutzungen im Zusammenhang mit dem Schiffsbetrieb. Gemäß dieser Regelung ist zum Beispiel das Einleiten von Schiffsabwasser grundsätzlich verboten. Auch die Verschmutzung der Luft durch Seeschiffe sollte vermieden werden. Das Einleiten von Schiffsmüll ist auch strengstens verboten. Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über das Einbringen von Schiffsmüll stellen gemäß § 6 Abs. 1 MARPOL-ZuwV Ordnungswidrigkeiten dar, die mit Geldbußen bis zu 50 000 Euro geahndet werden können. Die von den Grünen geforderten Regelungen existieren schon. Ehrlich gesagt machen mir allerdings die vielen Forderungen im Bereich der weltweiten Schiffsverkehre Sorge. Ein Herz für die Seeschifffahrt haben die Grünen anscheinend nicht, wobei circa 90 Prozent aller interkontinentalen Warenbewegungen mit dem Schiff erfolgen, Tendenz steigend. Zudem gehört das Verkehrsmittel Schiff, legt man den CO2-Ausstoß pro Tonne im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern zugrunde, zu den umweltverträglichsten. Die höchst anspruchsvollen Verschärfungen an technische Auslegung der Schiffe, Zertifizierung, Art der Kraftstoffe, Restriktionsgebote und Strafsysteme und vieles mehr - und das möglichst auch alles zugleich - sind gleichbedeutend damit, dass man am besten die Seeschifffahrt ganz abschaffen sollte. Das kann nicht wirklich ihr Ernst sein. Nur ein integrativer Politikansatz kann die diversen Nutzungs- und Schutzinstrumente zusammenführen. Alle Maßnahmen in der Küstenzone müssen daher auf der Basis ganzheitlicher und nachhaltiger Ansätze geplant, entschieden und kontrolliert werden. Eine solche Gesamtbetrachtung erfordert die Entwicklung eines adäquaten Instrumentariums im Rahmen eines Küstenzonenmanagements. Eine stärkere Verknüpfung der verschiedenen maritimen Sektoren und Akteure dient auch einer Verfahrens- und Planungsbeschleunigung. Wir werden auf europäischer Ebene darauf hinwirken, dass ein globales System von Meeresschutzgebieten geschaffen wird. In Nord- und Ostsee werden wir in enger Abstimmung mit den betroffenen Bundesländern die Einrichtung von Meeresschutzgebieten prüfen. Der vorliegende Antrag ist eine Diskussionsgrundlage für eine kontroverse, aber vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle fruchtbare Diskussion im Fachausschuss. Ich freue mich darauf. Sabine Stüber (DIE LINKE): "Das unendliche Lächeln des Meeres" ist der Titel einer interessanten Fotoausstellung, die zurzeit in Bad Saarow zu sehen ist. Eine Begegnung mit Orten und Momenten für die Seele - so las sich das gestern in der Presse, und so nähere ich mich auch am liebsten dem Meer. Das klappt auch immer wieder mit der Faszination, wenn ich davor stehe. Dabei wissen wir alle, dass der Schein trügt, doch keiner will am Strand oder in der kleinen Kneipe am Hafen beim "frischen Fisch" daran denken. Und wenn doch, dann haben wir es uns so schlimm nun wirklich nicht vorgestellt. Die Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko wird immer bedrohlicher. Vier Wochen nach dem Untergang der Bohrinsel konnte der Ölaustritt noch nicht gestoppt werden. Ganze Meeresregionen werden so auf Jahrzehnte hinaus vergiftet. Hinzu kommen auch immer noch Abfälle, man kann sagen jeglicher Art, aus der Schifffahrt. Neben Verklappung von Dünnsäure und den Schwerölrückständen bei der Tankreinigung reicht die Palette bis hin zu radioaktiven Abfällen. Das Meer - ein Fass ohne Boden? Nichts zu sehen und doch ein Mülleimer. Tonnenweise lagern sich Plastiktüten, Styroporreste und alte Fischernetze am Meeresboden ab. Knapp 80 Prozent des Meeresmülls besteht aus Plastik. Verschärfend hinzu kommt die lange Abbauzeit, die bis zu 450 Jahre beträgt. Der Plastikmüll wird oft mit der Nahrung aufgenommen und ist dann für viele Meerestiere lebensbedrohlich. 600 000 Kubikmeter Müll machen die Nordsee zu einem der mit am stärksten verschmutzten Meere. Und 20 000 Tonnen kommen jährlich dazu. Die Weltmeere haben die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht. Eine Notbremse muss gezogen werden. Die europäische Meeresstrategie fordert von den Mitgliedstaaten, das Müllvorkommen in ihren Meeresregionen zu bewerten und die Einträge dahingehend zu regulieren, dass 2020 ein guter Umweltzustand der Meeresökosysteme hergestellt ist. Das Ziel ist gesetzt, den Weg dahin müssen die Mitgliedstaaten gehen. Die Linke unterstützt den Antrag der Fraktion der Grünen. Damit ist ein guter erster Aufschlag vorgegeben. Um einen Schritt weiterzukommen, sollten aber aus unserer Sicht klare Prioritäten mit zeitlichen Vorgaben dafür festgelegt werden, was wir wann für den Meeresschutz vor unserer Haustür tun werden. In dem Antrag finden sich durchaus praktikable Vorschläge. Aber all das ist nicht ausreichend, um die Meere umfassend zu schützen. Initiativen zur Minderung der Belastungen durch die Seeschifffahrt sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene müssen weiter vorangetrieben werden. Oder nehmen wir nur das Stichwort Emissionen im Schiffsverkehr. Auch da sollte man sich nicht ausschließlich auf technische Lösungen konzentrieren. Es geht auch um Maßhalten beim Ressourcenverbrauch, wenn wir an den besorgniserregenden Zustand der Fischbestände denken. Deshalb sind auch weitergehende Reformen in der gemeinsamen Fischereipolitik erforderlich. Der Antrag verweist auf viele Defizite und es wird klar, dass ein umfassender Meeresschutz keinen Aufschub mehr duldet. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieses Haus wird morgen über ein milliardenschweres Rettungsprogramm für den Euro und die Finanzmärkte entscheiden. Wir kennen hierfür die Ursachen: Fehler im System und das unverantwortliche Handeln Einzelner, denen es durch nicht vorhandene oder zu lasche Regeln auch noch leicht gemacht wird. Das Gleiche geschieht mit unseren Meeren: Die Ozea-ne erscheinen unerschöpflich in ihren Ressourcen, ihre Ausbeutung vollzieht sich weitgehend ohne Kontrolle - und Abfälle werden entsorgt, weil man glaubt, inmitten dieser riesigen Menge Wasser würde es nicht weiter auffallen. Im Golf von Mexiko können wir derzeit täglich beobachten, was dann geschieht: Die unerschöpflich erscheinende Ressource steht am Rande des Kollapses. Auch hier braucht es Milliarden, um die Schäden zu beheben. Ganz deutlich wird hier - wie eben auch bei der Finanzkrise -, dass global gehandelt werden muss. Allein können wir die Probleme unserer Ozeane nicht lösen. Aber wir dürfen uns auch nicht dahinter verstecken: Globale Lösungen bedeuten nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und auf die Vereinten Nationen und IMO warten können. Nein, das Handeln beginnt hier bei uns. Als wichtige europäische Nation können wir maßgeblich die Richtung beeinflussen. Hierzu haben wir Grüne einen Vorschlag auf den Tisch gelegt; denn wir müssen ganz klar feststellen: Das Bewusstsein für die Sensibilität der marinen Ökosysteme hat sich zwar geändert, und auf europäischer und globaler Ebene gibt es erkennbar Initiativen und Anstrengungen. Aber: Der Zustand der Meere ist weiterhin akut gefährdet! Wenn wir weitermachen wie bisher, stehen wir absehbar vor leergefischten, vergifteten und ölverschmutzten Meeren. Am politischen Handeln in der Finanzkrise sollten wir uns dabei nicht orientieren. Das ist wahrlich kein Glanzstück: Obwohl wir die Katastrophe seit mindestens eineinhalb Jahren beobachten, machen wir uns erst jetzt viel zu langsam und viel zu unentschlossen auf den Weg zu neuen Regeln. Ich kann nur hoffen, dass wir diese Fehler als mahnendes Beispiel nehmen und beim Meeresschutz endlich einmal rechtzeitig, präventiv und fraktionsübergreifend handeln. Denn ein milliardenschweres Programm wird es für die Meere ganz sicher nicht geben, und das, obwohl die Ozeane für mich absolut "systemrelevant" sind, wie es in der derzeitigen Krise so oft heißt. Ohne ein Leben in den Meeren gibt es auch kein Leben an Land. Das sollte uns immer klar sein. Deswegen fordere ich Sie auf, die von der EU gemachten Vorschläge zu präzisieren und so zu fassen, dass sie auch eindeutig und messbar sind. Mit schwammigen Wunschvorstellungen kommen wir nicht weiter. Um die Meere zu schützen, brauchen wir klare Maßnahmen: Erstens müssen wir alle dafür sorgen, dass durch die Landwirtschaft weniger Stickstoff und Nitrat in die Flüsse und anschließend in die Meere gelangt. Zweitens müssen wir endlich ein verbindliches und einheitliches Entsorgungssystem für den Müll auf Schiffen durchsetzen. Drittens sollten wir die Fischer zum Teil eines Entsorgungssystems machen: Für gesammelten Müll erhalten sie eine Vergütung, die mit einer Gebühr für verlorene Netze verrechnet wird. Viertens müssen wir den Schiffsverkehr endlich in den internationalen Klimaschutz einbeziehen und dafür sorgen, dass mit sauberem Treibstoff statt mit Raffinerie-rückständen gefahren wird. Dies ist nur ein Teil der dringend notwendigen Maßnahmen, um die wertvollen Ressourcen der Meere auch für die nächsten Generationen zu erhalten. Wir müssen endlich bei der Nutzung der Meere nachhaltig handeln. Wir haben es in der Hand und heute - am europäischen Tag der Meere - müssen wir endlich damit beginnen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Verfahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Wir haben es heute mit einem etwas sperrigen Thema zu tun: Wir sprechen über den Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Verfahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung. Im Kern geht es dabei darum, die Beschränkung der Verkehrsfähigkeit von Grundstücken in den neuen Bundesländern auslaufen zu lassen. Momentan bedürfen Grundstücksgeschäfte dort nämlich einer besonderen Grundstücksverkehrsgenehmigung durch die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen, um etwaige Restitutionsansprüche nach dem Vermögensgesetz zu sichern. Auch heute - etwa 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung - ist die Lösung der offenen Vermögensfragen eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Herausforderungen auf dem Weg zu einem vollständig geeinten Deutschland. Deswegen ist es ebenso wichtig wie richtig, sich mit dem Restitutionsverfahren auseinanderzusetzen und sich die derzeitige Rechtslage genau im Hinblick auf den Verbesserungsbedarf anzusehen. Obwohl dieser Entwurf aus der Feder meiner SPD-Kolleginnen und Kollegen stammt, lässt sich sein Anliegen nicht von vornherein von der Hand weisen. Das Gesetz soll nämlich, wie zu lesen ist, grundsätzlich ermöglichen, dass Grundstücke, die nicht mit Rückübertragungsansprüchen belastet sind, unbeschränkt am Grundstücksverkehr teilnehmen können. Das ist vernünftig. Gleichzeitig wollen die geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der SPD sicherstellen, "den Sicherungsgedanken zielgenau zugunsten noch offener vermögensrechtlicher Ansprüche aufrechtzuerhalten". Auch das ist vernünftig. Richtig ist es obendrein; denn es gilt dem vermögensrechtlichen Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" in seiner jetzigen Form Rechnung zu tragen. Davon werden wir als Unionsabgeordnete auch nicht abweichen. Im Gesetzentwurf schreibt man nun, dass die Grundstücksgeschäfte innerhalb des Beitrittsgebiets durch das derzeitige Verfahren belastet werden. Man zählt auf, erstens, die zeitliche Verzögerung für alle Beteiligten, zweitens, finanzielle Belastungen durch Bereitstellungszinsen und Gebühren sowie, drittens, die Behinderung von Investitionen in den ostdeutschen Ländern. Dieser Problemdarstellung kann ich mich durchaus anschließen; denn es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass Genehmigungsverfahren - solche Verfahren dauern in den vorliegenden Fällen um die drei Monate - nicht gerade zur Verfahrensbeschleunigung beitragen. Wenn bei diesen Genehmigungsverfahren in den allermeisten Fällen keine Restitutionsansprüche im Raum stehen, kann das vom Ergebnis her niemanden befriedigen. Dann erfüllt die Grundstücksverkehrsordnung ihren Sicherungszweck nämlich wirklich, wie im Gesetzentwurf zu lesen ist, zunehmend auf Kosten des übrigen Grundstücksverkehrs. Es bleibt also festzuhalten: Betrachtet man den Titel des Gesetzes und das grundsätzliche Anliegen, könnte ich dem Antrag im Grundsatz folgen. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Schauen wir uns einmal an, auf welcher Grundlage und wie Sie das Gesetzesziel erreichen wollen. Um bei den rechtstatsächlichen Annahmen des Gesetzentwurfs anzufangen: Sie behaupten, dass in Sachsen-Anhalt bereits mehr als 99 Prozent der grundstücksbezogenen vermögensrechtlichen Ansprüche beschieden werden konnten und dass in den übrigen Ländern "überwiegend ein vergleichbarer Abarbeitungsstand erreicht worden" sei. Fundierte Daten zu den anderen neuen Bundesländern bleiben sie indes schuldig. Angesichts der durchaus unterschiedlichen Ausgangslagen in den neuen Ländern habe ich meine Zweifel, ob die Zahlen aus Sachsen-Anhalt tatsächlich verallgemeinerungsfähig sind. Doch wenden wir uns vorrangig dem vorgeschlagenen Anmeldeverfahren zu. Auch hier bin ich mir nicht so sicher, ob dieses so vorteilhaft ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Freilich, die theoretischen Vorteile liegen auf der Hand. Die vorgeschlagene Lösung über einen Anmeldevermerk wäre geeignet, alle Grundstückstransaktionen vom Genehmigungserfordernis auszunehmen, in denen keine Restitutionsansprüche in Betracht kommen. Dies würde bei Grundstückskaufverträgen zu einer beschleunigten Abwicklung und einer Kostensenkung führen. Auch würde durch den Abwicklungsvermerk am bewährten Verfahren nach der GVO festgehalten. So sehr diese Vorteile aus Sicht der Betroffenen im Grundstücksverkehr auch zu begrüßen wären: Der vorliegende Gesetzentwurf verschweigt uns leider auch erhebliche Probleme bzw. blendet einige gravierende Folgen einfach aus. Eintragung und Löschung des Anmeldevermerks erfordern zunächst ein neues Verfahren. Auch das kostet Zeit und Geld. Der Gesetzentwurf sagt nichts dazu, wie insbesondere die Löschung des Anmeldevermerks zu gestalten ist. Allerdings wurde ein ähnliches Verfahren beim Sanierungsvermerk bereits mit Erfolg erprobt, sodass ich hierin letztlich nicht das entscheidende Problem sehe. Viel erheblicher dürfte aber der Punkt sein, den der Gesetzentwurf lapidar hinter dem Stichwort "einmaliger Verwaltungsaufwand" versteckt. Was steckt tatsächlich dahinter? An die Restitutionsanträge wurden seinerzeit keine hohen Anforderungen gestellt. Es kam lediglich auf eine gewisse Bestimmbarkeit an, tagesaktuelle Katasterangaben wurden nicht verlangt. Diese Ausgangslage hat aber Auswirkungen für die künftige Eintragung eines Anmeldevermerks. Das Grundbuchamt bräuchte für die Eintragung des Anmeldevermerks nämlich eine präzise katastermäßige Bezeichnung des betroffenen Flurstücks. Gibt es diese nicht - entweder weil es sie nie gab oder weil die Grundstücke seit der Wende neu vermessen wurden -, was dann? Dann muss die begehrte Eintragung eigentlich zurückgewiesen werden; denn nachforschen dürfte das Grundbuchamt wohl nicht, da das Verfahren "ohne inhaltliche Prüfungskompetenz des Grundbuchamtes" ausgestaltet werden soll. Es bliebe also Sache der ersuchenden Ämter, sich darum zu kümmern oder den Eintragungsantrag sozusagen blindzustellen und zu schauen, was passiert. Das kann kaum befriedigen. Wenn andererseits für die Antragstellung intensive Nachprüfungen erforderlich sind und diese den Ämtern - in Person der Rechtspfleger - zugewiesen werden, so resultieren daraus Kosten, und zwar nicht unerhebliche. Mit dem derzeitigen Personalbestand dürfte der Arbeitsaufwand nämlich kaum zu bewältigen sein. Wer diese Kosten finanziert, besagt der Antrag leider nicht. Dies alles verbirgt sich hinter dem scheinbar harmlosen "einmaligen Verwaltungsaufwand". Hieran schließt sich eine zweite, ebenso wichtige Frage an: Wie ist mit den Folgen fehlerhafter Eintragungen umzugehen? Eine gewisse Fehlerquote lässt sich nach dem Vorgesagten kaum ausschließen. Fest steht: Wird aus welchen Gründen auch immer kein Anmeldevermerk im Grundbuch eingetragen, verliert der Restitutionsanspruch seine dingliche Sicherung. Denn die Publizität des Grundbuches trägt eine Richtigkeitsgewähr in sich und vermittelt entsprechenden guten Glauben. Ein Dritter könnte das Grundstück also gutgläubig erwerben, auch wenn es tatsächlich restitutionsbehaftet ist. Der eigentlich Berechtigte würde dann seinen Restitutionsanspruch verlieren und ginge im Ergebnis leer aus. Was würde dieser tun? Er würde sich wohl kaum klaglos in sein Schicksal ergeben. Nein, er würde mit einiger Sicherheit den Staat in Haftung nehmen wollen. Zu diesem Risiko besagt der vorliegende Gesetzentwurf leider auch nichts. Ebenso wenig finde ich zur umgekehrten Frage etwas: Wie wollen wir künftig mit "offensichtlich unbegründeten Restitutionsanträgen" umgehen? Hierunter fallen beispielsweise Personen, die zwischen 1945 und 1949 enteignet wurden, demnach an sich einen Anspruch hätten, diesen aber aus bekannten Gründen aufgrund der deutschen und europäischen Rechtsprechung nicht erfüllt bekommen. Derzeit ist dieses Problem in § 1 Abs. 2 Satz 2 Grundstücksverkehrsordnung geregelt. Aber künftig? Auch hierzu findet sich im Gesetzentwurf der SPD leider nichts. Ein weiterer Punkt dürfte in der Praxis eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Ich spreche von der Publizität, die das Restitutionsverfahren durch den Anmeldevermerk erhält. Auf der einen Seite ist es natürlich gerade Sinn und Zweck, den guten Glauben an die Eigentümerstellung am Grundstück bzw. dessen Lastenfreiheit zu erschüttern. Auf der anderen Seite aber frage ich mich, wie beispielsweise die rechtssichere Eintragung einer Grundschuld zur Absicherung von Krediten nach dem Jahr 2014 möglich sein soll. Nach der bisherigen Rechtslage war nur vor dem Eigentümerwechsel eine Genehmigung nach der GVO einzuholen. Eine Belastung mit einer Grundschuld zugunsten einer Bank oder zugunsten eines Wohnrechts zugunsten eines Familienangehörigen ist ohne Genehmigung möglich. Und künftig? Wir sollten uns diese Frage jedenfalls stellen. Auch sollten wir uns die Frage stellen, ob das bisherige Rechtssystem in diesem Punkt geändert oder angepasst werden soll. Hierzu lese ich im Gesetzentwurf, wie gesagt, leider nichts. Kommen wir als Letztes zu dem von Ihnen vorgegebenen 1. Januar 2014. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Nach diesem Zeitpunkt sind alle bestehenden, aber aus welchen Gründen auch immer nicht eingetragenen Rückübertragungsansprüche wegen der Gutglaubenswirkung des Grundbuchs gefährdet. Aus diesem Grunde sollten wir auch diesen Zeitpunkt im weiteren Verfahren genau überprüfen. Ich möchte die wesentlichen offenen Fragen zusammenfassen: Erstens. Es ist ungeklärt, ob und inwieweit die restitutionsbehafteten Grundstücke im Einzelfall überhaupt identifiziert werden können. Hieraus folgt, zweitens, dass eine erhebliche Fehlerquote zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, die, drittens, Staatshaftungsansprüche nach sich ziehen können. Viertens, der Anmeldevermerk würde es dem derzeitigen Eigentümer wohl faktisch unmöglich machen, wie bisher durch Grundschulden besicherte Kredite aufzunehmen. Fünftens ist offen, wie mit "offensichtlich unbegründeten Restitutionsanträgen" umzugehen ist. Es bleibt also festzuhalten: Das Ziel des Gesetzentwurfs, den - ich zitiere - "der GVO zugrundeliegenden Sicherungsgedanken zielgenau zugunsten noch offener vermögensrechtlicher Ansprüche weiter zu verfolgen", nicht mit Rückübertragungsansprüchen belasteten Grundstücken aber "eine unbeschränkte Teilnahme am Grundstücksverkehr zu ermöglichen" teile ich. Allein der Weg, der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgt wird, scheint mir nicht vollkommen und bis in die Details durchdacht zu sein. Burkhard Lischka (SPD): In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie vereinbart, in dieser Legislaturperiode Genehmigungsverfahren, die bundesgesetzlich geregelt sind, zu überprüfen, zu verkürzen und zu beschleunigen. Regeln, so heißt es in ihrem Koalitionsvertrag, sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht mehr Regeln geben soll als erforderlich. Nun sehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit Sorge, dass sich diese Bundesregierung seit inzwischen einem halben Jahr in einer Art Selbstfindungsprozess befindet und politische Aufgaben so beherzt anpackt wie ein Murmeltier im Winterschlaf. Bekanntlich kann der Winterschlaf eines Murmeltiers acht oder sogar neun Monate dauern. Ganz so viel Zeit wollen wir Ihnen nicht lassen. Und deshalb legen wir hier heute einen Antrag vor, mit dem Sie ganz praktisch etwas zum Thema "Bürokratieabbau" beitragen können; einem Thema, dem Sie sich immerhin auf vier Seiten Ihres Koalitionsvertrages unter der Überschrift "Investitionsbremsen lösen" beschäftigen. Also, bitte schön: Hier haben Sie die Möglichkeit, das zu tun. Mit unserem Antrag wollen wir ein Genehmigungsverfahren beenden, dass es erstens nur in den ostdeutschen Bundesländern gibt, das zweitens Investitionen erschwert und verzögert und das drittens bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern Jahr für Jahr unnötige Kosten in Millionenhöhe verursacht. Worum geht es? Direkt nach der deutschen Wiedervereinigung wurde in den ostdeutschen Bundesländern, einschließlich des ehemaligen Ostteils von Berlin, ein Genehmigungsverfahren bei Immobilienkaufverträgen eingeführt: die sogenannte "Genehmigung nach der Grundstücksverkehrsordnung". Danach musste bei jedem Immobilienvertrag, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Genehmigung eingeholt werden, in deren Rahmen überprüft wurde, ob hinsichtlich des verkauften Grundstücks ein Rückübertragungsanspruch von einem Alteigentümer vorliegt. Gab es einen solchen Rückübertragungsanspruch, so durfte das verkaufte Haus, das verkaufte Grundstück nicht auf den Käufer übertragen werden. Lag kein Anspruch vor, so konnte der neue Eigentümer ins Grundbuch eingetragen werden. Nahezu jeder Kaufvertrag über ein Grundstück, ein Ein- oder Mehrfamilienhaus, eine gewerbliche Immobilie, eine Eigentumswohnung, ein Erbbaurecht wurde in den letzten 20 Jahren diesem Genehmigungsprozedere in den neuen Bundesländern unterworfen. Und dieses Prozedere war und ist eine immense Belastung für den Immobilienverkehr der ostdeutschen Bundesländer. Auf die Erteilung der Genehmigung musste teilweise ein oder zwei Jahre gewartet werden. Während dieser Zeit unterblieben - im Einzelfall millionenschwere - Investitionen, weil eine Eigentumsumschreibung eben ohne diese Genehmigung nicht möglich war. Immobilienkäufer mussten, während sie auf die Genehmigung warteten, im Regelfall Bereitstellungszinsen an ihre finanzierende Bank zahlen: oft vier- und fünfstellige Beträge. Und: Jede Genehmigung - egal ob ein Rückübertragungsanspruch vorlag oder nicht - war und ist gebührenpflichtig. Allein in Sachen-Anhalt mussten Immobilienerwerber im vergangenen Jahr fast 1 Million Euro an Gebühren für diese Genehmigung berappen. Macht in 20 Jahren etwa 20 Millionen Euro nur in Sachsen-Anhalt. Für alle ostdeutschen Bundesländer und Berlin bedeutet das weit mehr als 100 Millionen Euro Gebühren in den letzten 20 Jahren. Wir Sozialdemokraten wollen diese Benachteiligung des ostdeutschen Immobilienverkehrs, diese Benachteiligung für Investitionen in den neuen Ländern beenden. Dafür ist es 20 Jahre nach der Wiedervereinigung höchste Zeit. Denn inzwischen sind über 99 Prozent der Rückübertragungsansprüche abgearbeitet und entschieden. Konkret heißt das: Während im vergangenen Jahr - allein in Sachsen-Anhalt - über 15 000 Immobilienverträge das Genehmigungsverfahren nach der Grundstücksverkehrsordnung durchlaufen mussten, waren ganze 37 Grundstücke hiervon tatsächlich noch mit einem Restitutionsanspruch belastet. Es gibt Regionen in Ostdeutschland, da gibt es schon seit Jahren keinen offenen Restitutionsanspruch mehr; trotzdem muss für alle Grundstücksverträge noch eine Genehmigung eingeholt werden. Es ist jetzt schon absehbar, dass irgendwann in naher Zukunft der letzte Rückübertragungsanspruch rechtskräftig beschieden wird und trotzdem noch alle Grundstücksverträge in den neuen Ländern diesem Genehmigungsverfahren unterworfen sind. Das ist Unsinn. Und das wollen wir Sozialdemokraten beenden. Deshalb schlagen wir vor, ab dem 1. Januar 2014 das Genehmigungsverfahren nur noch auf diejenigen Grundstücke zu beschränken, für die tatsächlich ein Rückübertragungsanspruch vorliegt, und den restlichen Immobilienverkehr in den ostdeutschen Bundesländern von dieser Investitionsbremse zu befreien und den gleichen Regeln zu unterwerfen, wie sie für den Immobilienverkehr in den alten Ländern gelten. Ein riesiger Bürokratieaufwand würde damit entfallen: Investitionen werden beschleunigt, die Betroffenen sparen Zeit, Geld und Nerven, und die Verwaltungen in den ostdeutschen Kommunen und Landkreisen werden entlastet. Wie sagen Sie so schön in Ihrem Koalitionsvertrag - ich zitiere nochmals: Wir halten an der Zielsetzung fest, die Lebensverhältnisse in Deutschland ... bundesweit ... anzugleichen. Also, bitte schön: Hier können Sie das ganz praktisch und im Sinne der Bürger unter Beweis stellen. Marco Buschmann (FDP): Die wesentliche Funktion der Grundstücksverkehrsordnung ist die Sicherung möglicher Rückübertragungsansprüche, die sich aus dem Vermögensgesetz ergeben. Die dingliche Rückübertragung soll nicht dadurch unmöglich werden, dass zuvor veräußert wurde. Hier sieht der Gesetzgeber schon heute eine dingliche Sicherung vor. Vor Übertragung muss zunächst geprüft werden, ob ein entgegenstehender Übertragungsanspruch besteht. Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion fordert lediglich den Ersatz einer bereits bestehenden dinglichen Sicherung durch eine neue. Der hier vorliegende Vorschlag, einzelne Vorschriften der Grundstücksverkehrsordnung, der Grundbuchordnung und des Vermögensgesetzes zu ändern, um den Sicherungsgedanken zielgenau zugunsten der noch offenen vermögensrechtlichen Ansprüche zu gestalten, hat in der Theorie durchaus einen gewissen Charme. Der Gedanke, die Prüfung durch eine Eintragung ins Grundbuch zu ersetzen, enthebt den vermeintlichen Erwerber davon, auf das Ergebnis einer Prüfung warten zu müssen. Praktisch ist dieser Vorschlag aber derzeit undurchführbar. Folge wäre ein unüberschaubarer Rechercheaufwand. Denn all die Recherchen, die bisher auf Antrag und damit über die Zeit gestreckt erfolgen, müssten dann quasi auf einen Schlag erledigt werden. Die notwendige grundbuchgenaue Bezeichnung der Grundstücke würde eine übergroße Belastung der Grundbuchämter durch eine Vorratseintragung der Vermerke zur Folge haben. Wie Sie sehen, setzt die Wirklichkeit dem Charme der geforderten Gesetzesänderung Grenzen. Um der Mehrbelastung in den Grundbuchämtern dann Herr zu werden, hätte man zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte man zusätzliches Personal einstellen - ein Vorschlag, der mit Blick auf die Haushaltslage der öffentlichen Hand gleich wieder verworfen werden kann. Im anderen Fall würden alle anderen Aufgaben in den Grundbuchämtern liegen bleiben. Und das kann nicht gewollt sein. Auch in Zukunft müssen etwa Grundbucheintragungen möglichst zügig bearbeitet werden. Diese massiven Belastungen in der Praxis werden sicher auch der Grund dafür gewesen sein, dass ein inhaltsgleicher Antrag des Landes Sachsen-Anhalt im Bundesrat bereits 2006 zu keiner Einigung zwischen den betroffenen Ländern führte. In meinen Augen sollte es zunächst Aufgabe der betroffenen Länder sein, sich hier über eine mögliche Regelung zu verständigen und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Wir sollen uns hier positionieren zu einem Gesetzentwurf, der die Anwendung der Grundstücksverkehrsordnung verändert. Bevor ich das für meine Fraktion tue, möchte ich einige Worte zum eigentlichen Grundübel der ganzen Geschichte sagen. Zur Sicherung von Restitutionsansprüchen von Alt-eigentümern wurde 1993 das Gesetz "Rückgabe vor Entschädigung" von einer Koalition verabschiedet, wie sie heute wieder vor uns sitzt. Dieses Gesetz führte nach 17 Jahren Anwendung in den neuen Bundesländern zu zum Teil verheerenden Auswirkungen auf die Städte im Osten. Schauen Sie nach Plauen im Vogtland: Hier haben viele Alteigentümer ihre Häuser zurückübertragen bekommen. Nach Aussagen der Bauverwaltung haben viele Eigentümer seit diesem Zeitpunkt ihre Immobilien noch nicht ein einziges Mal persönlich besichtigt. Viele haben bis heute keinen einzigen Cent in ihre Häuser investiert. Dort stehen mitten in den Altstadtvierteln Ruinen en gros. Die Mieter sind in die Plattenbauten gezogen, und die Quartiere sind perforiert, soll heißen: ein Haus kein Haus, ein Haus eine Bauruine. Heute gibt das Land Sachsen Fördermittel an die Alteigentümer für den Abriss ihrer Häuser, und auch das mit nur wenig Erfolg. Ein anderes Beispiel ist Köthen, eine IBA-Stadt in Sachsen-Anhalt: Hier wird über homöopathische Rezepte im wahrsten Sinne des Wortes versucht, die Eigentümer zu provozieren, sich ihrer Häuser jetzt anzunehmen und der Eigentümerverpflichtung endlich gerecht zu werden. Auch Medienberichte zu Leipzig haben das Grundübel des damaligen Gesetzes intensiv beleuchtet. Heute ist also zu konstatieren, dass die Rückgabe der Immobilien an die Eigentümer eine falsche Entscheidung war. Damit sind logischerweise auch alle Begleitgesetze und Verordnungen zur Durchsetzung dieser Rückgabe falsch. Das, was die SPD hier heute beantragt, könnte auf den ersten Blick vermitteln, dass es jetzt endlich an der Zeit sei, einen Mangel zu beseitigen. Aber wie die SPD in ihrer Begründung bereits selbst einräumt, handelt es sich dabei nur noch um eine ganz kleine Gruppe von Menschen, die davon vielleicht profitieren würde. Ich finde, dafür hätte die SPD in den vergangenen Jahren, wenigstens in der Zeit unter Kanzler Schröder, genügend Zeit gehabt. Damals wären noch mehr Alteigentümer in den Genuss der vermeintlichen Vorteilsregelung dieses vorliegenden Gesetzentwurfes gekommen. Heute betrifft das nur noch ganze 1 Prozent aller Antragsfälle - ein bisschen viel Aufwand. Diesen aber will die SPD gerade abbauen. Ich fürchte, dass, so halbherzig wie die Sache angegangen wird, keines der beschriebenen Probleme - wenn es denn welche sind - gelöst werden kann. Ich fürchte auch, dass das vorgeschlagene Prozedere nicht zu weniger, sondern zu mehr Verwaltungsaufwand und damit natürlich auch zu mehr Kosten - wenn auch an anderer Stelle - führt. Unsere Rückfrage in die Praxis von Notariaten hat nämlich ergeben, dass nach dortiger Einschätzung der größte Teil der Grundstücksgeschäfte mittlerweile gar nicht mehr dem Erfordernis einer Genehmigung nach § 2 der Grundstücksverkehrsordnung, GVO, unterliegt. Wie sollen an dieser Stelle Verwaltungsaufwand und Verwaltungskosten gesenkt werden, wenn hier unter Punkt 6 noch ein weiterer zu prüfender Sachverhalt, nämlich der kreierte "Anmeldevermerk", eingeführt werden soll? Auch diesbezüglich haben unsere Rückfragen ergeben, dass bei der Vielzahl von einzuholenden Genehmigungen und Bescheinigungen im Grundstücksverkehr gar nicht gesagt werden kann, ob darunter die Grundstücksverkehrsgenehmigung die meiste Zeit verbraucht oder ob es - je nach örtlichen Gegebenheiten - eine Löschungsbewilligung, die Beauflagungen aus einer Sanierungssatzung, die Bedenken von Trägern öffentlicher Belange oder andere "Zeitfresser" sind. Schließlich: Ihr zitiertes Beispiel aus Sachsen-Anhalt zeigt, dass im Jahr 2009 durchschnittlich 56,33 Euro pro Grundstücksgeschäft an Gebühren für die Erteilung der Grundstücksverkehrsgenehmigung aufgewendet wurden, was immerhin Einnahmen für die Landkreise von 846 000 Euro zur Folge hatte. Stattdessen entstünden bei den Landesämtern oder den Mittelbehörden zur Regelung offener Vermögensfragen und bei den Grundbuchämtern Mehrkosten aus dem von ihnen vorgeschlagenen "Anmeldevermerk". Nach Ihren Vorstellungen müssten zunächst die Grundstücke, für die keine vermögensrechtlichen Ansprüche angemeldet sind, verwaltungstechnisch von jenen Grundstücken separiert werden, für die solche Ansprüche angemeldet, aber noch nicht abschließend bearbeitet sind. Das wäre der erste zusätzliche Verwaltungsaufwand, der aus Ihrer Systematik entstünde, der in Ihrem Begründungstext aber keine Berücksichtigung findet. Für den verbleibenden Rest der Grundstücke wollen Sie die Landesämter bzw. die zuständigen Mittelbehörden zur Regelung offener Vermögensfragen verpflichten, die Grundbuchämter zu ersuchen. Das ist dann schon der zweite zusätzliche Verwaltungsaufwand. Der dritte zusätzliche Verwaltungsaufwand entstünde, wenn die Grundbuchämter - Ihrer Änderung der Grundstücksverkehrsordnung folgend - einen Anmeldevermerk in Abteilung II des Grundbuchs einzutragen hätten. Ein Vierter folgte automatisch aus der Eintragung, nämlich bei der Löschung eben dieses Anmeldevermerkes. Das alles soll nichts kosten und Verwaltungsaufwand einsparen? Fazit: Prüfen Sie bitte noch einmal, wie groß das Problem und der Handlungsdruck wirklich sind. Vielleicht kommen Sie dann wie ich zu der Auffassung, dass die Grundstücksverkehrsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Dezember 1993, zuletzt geändert durch Art. 4 Abs. 44 des Gesetzes vom 22. Septem-ber 2005, tatsächlich historisch überholt ist und ersatz- und schadlos abgeschafft werden kann. Das wäre eine wirkliche Einsparung von Verwaltungsaufwand. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD klingt auf den ersten Blick vernünftig. Wer wollte nicht von einer lästigen Genehmigungserfordernis befreit werden und Geld für eine Verwaltungsgebühr sparen? Die Zahlen, die Sie dafür nennen, sind auch durchaus beeindruckend. Dass für jeden Kauf eines Grundstücks in den neuen Bundesländern und in Ost-Berlin auch fast zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch bescheinigt werden muss, dass das Grundstück frei von Ansprüchen ist, hat aber auch seinen Grund. Der Käufer soll geschützt werden. Denn erwirbt er das Grundstück, muss es aber später aufgrund berechtigter Ansprüche wieder herausgeben, ist er weitaus stärker geschädigt. Den Schutz des Käufers nehmen Sie von der SPD auch weiterhin ernst. Ich frage aber, ob die Schutzmechanismen, die Sie vorgesehen haben, reichen. Denn ich will ja nicht ein Haus kaufen, und es später wieder herausgeben müssen. Sie wollen den Käufer schützen, indem Sie in das Grundbuch eintragen lassen, dass ein Anspruch auf Rückübertragung gestellt worden ist. Das klingt erst einmal gut. Denn spätestens der Notar wird dann darüber aufklären, was es mit einem solchen Anspruch auf sich hat und dass es alte berechtigte Ansprüche auf das Anwesen gibt. Wenn man ihr Gesetz aber genau liest und mit der alten Rechtslage vergleicht, ergibt sich doch ein wichtiger Unterschied. Die Grundstücksverkehrsgenehmigung wird heute auch dann nicht erteilt, wenn nur eine Mitteilung über einen solchen Restitutionsantrag eingegangen ist. Die Vormerkung kommt nach Ihrer Vorstellung aber nur dann ins Grundbuch, wenn ein Antrag auf Rückgabe auch wirklich gestellt wurde. Was ich auch vermisse, sind Aussagen zu Anträgen, die nicht von Privatpersonen, sondern von Institutionen gestellt worden sind. Ich vermisse ganz konkret, was Sie für den Fall vorschlagen, wenn nur eine Mitteilung über einen Rückgabeantrag bei der Behörde vorliegt. Bisher heißt das: Es wird keine Genehmigung erteilt. Ihr Gesetzentwurf sagt dazu aber nichts, sodass ich annehme, dass es dann auch zu einer Grundbucheintragung käme. Das wären dann allerdings Steine statt Brot für die Käufer, die sich nur eine Genehmigung sparen wollten, die in Berlin im Höchstfall 250 Euro kostet und in der Praxis heute schon binnen weniger Tage erteilt wird. Vielleicht haben Sie auf diese Frage auch eine Antwort. Der Ansatz ist vernünftig, die Antwort auf die Frage nach dem Käuferschutz warte ich ab. 1 Anlage 2 2Anlage 3 3 Anlage 4 4 Anlage 5 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 4218 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 43. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 43. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4217 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 4402 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 43. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 43. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4401