Plenarprotokoll 17/62 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 62. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 30. September 2010 I n h a l t : Begrüßung der neuen Abgeordneten Kerstin Griese Wahl des Abgeordneten Thomas Jarzombek als Mitglied und des Abgeordneten Hans-Werner Kammer als stellvertretendes Mitglied in den Eisenbahnstrukturbeirat Wahl der Abgeordneten Josef Rief und Heinz Paula als Mitglieder in den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 und 12 c Nachträgliche Ausschussüberweisung Nachruf auf den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Dr. Egon Alfred Klepsch Zusatztagesordnungspunkt 3: Vereinbarte Debatte: 20 Jahre Deutsche Einheit Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident (Sachsen-Anhalt) Dagmar Ziegler (SPD) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Glos (CDU/CSU) Iris Gleicke (SPD) Arnold Vaatz (CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Tagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales - zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen von Armut bekämpfen - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen (Drucksachen 17/880, 17/675, 17/2092) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten (Drucksachen 17/2921, 17/3081) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Markus Kurth, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Leistungskürzungen bei den Unterkunftskosten im Arbeitslosengeld II verhindern - Vermittlungsverfahren mit den Ländern unverzüglich aufnehmen (Drucksache 17/3058) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) Dagmar Ziegler (SPD) Pascal Kober (FDP) Anton Schaaf (SPD) Katja Kipping (DIE LINKE) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Mechthild Heil (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Angelika Krüger-Leißner (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Katja Kipping (DIE LINKE) Diana Golze (DIE LINKE) Pascal Kober (FDP) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Anton Schaaf (SPD) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Christel Humme (SPD) Miriam Gruß (FDP) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Katja Mast (SPD) Heike Brehmer (CDU/CSU) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) Michael Kretschmer (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 30: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen (Drucksache 17/3025) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. März 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Anguilla über den steuerlichen Informationsaustausch (Drucksache 17/3026) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an den Rat des Anpassungsfonds (Drucksache 17/3027) d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Drucksache 17/3039) e) Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Offensive für einen wirksamen Schutz der Kinder vor Gift in Spielzeug (Drucksache 17/2345) Zusatztagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entflechtungsinstrument ins Wettbewerbsrecht einfügen (Drucksache 17/3062) b) Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Technikfolgenabschätzung im Bundestag und in der Gesellschaft stärken (Drucksache 17/3063) c) Bericht gem. § 56 a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung: Technikfolgenabschätzung (TA) Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - Eine Bilanz (Drucksache 17/3010) Tagesordnungspunkt 31: a)-i) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136 und 137 zu Petitionen (Drucksachen 17/2951, 17/2952, 17/2953, 17/2954, 17/2955, 17/2956, 17/2957, 17/2958, 17/2959) Zusatztagesordnungspunkt 7: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Milliardengarantien und Millionenboni bei der HRE Dr. Carsten Sieling (SPD) Leo Dautzenberg (CDU/CSU) Roland Claus (DIE LINKE) Dr. Volker Wissing (FDP) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Barthle (CDU/CSU) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) Florian Toncar (FDP) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Manfred Zöllmer (SPD) Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz - GKV-FinG) (Drucksache 17/3040) Ulrike Flach (FDP) Elke Ferner (SPD) Johannes Singhammer (CDU/CSU) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG Kathrin Vogler (DIE LINKE) Dr. Karl Lauterbach (SPD) Dr. Erwin Lotter (FDP) Jens Spahn (CDU/CSU) Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Karl Lauterbach (SPD) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Rudolf Henke (CDU/CSU) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Carola Reimann (SPD) Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Harald Koch, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zinssätze für Dispositions- und Überziehungskredite verbrauchergerecht deckeln (Drucksache 17/2913) b) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucherinnen und Verbraucher vor überhöhten Überziehungszinsen schützen (Drucksache 17/3059) Caren Lay (DIE LINKE) Marco Wanderwitz (CDU/CSU) Kerstin Tack (SPD) Dr. Erik Schweickert (FDP) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin BMELV Dr. Carsten Sieling (SPD) Norbert Schindler (CDU/CSU) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Caren Lay (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2011 (HBeglG 2011) (Drucksache 17/3030) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Nicolette Kressl (SPD) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) Otto Fricke (FDP) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Otto Fricke (FDP) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Otto Fricke (FDP) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) Dr. Claudia Winterstein (FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU) Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Lutze (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ELENA aussetzen und Datenübermittlung strikt begrenzen (Drucksachen 17/658, 17/1553) Claudia Bögel (FDP) Doris Barnett (SPD) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Jan Korte (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht (Drucksache 17/2637) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ Dr. Peter Danckert (SPD) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 10: Große Anfrage der Abgeordneten Klaus Barthel, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Arbeitsbedingungen im Briefmarkt - Sozialklausel nach § 6 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3 Postgesetz und Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Branche Briefdienstleistungen auf Grund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (Drucksachen 17/1615, 17/2883) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Klaus Barthel (SPD) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Michael Schlecht (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Kraftfahrsachverständigengesetzes (Drucksachen 17/3022, 17/3035) Gero Storjohann (CDU/CSU) Kirsten Lühmann (SPD) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) Oliver Luksic (FDP) Thomas Lutze (DIE LINKE) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für Haltungseinrichtungen für Nutztiere - Tierschutz-TÜV zügig einführen (Drucksachen 17/2143, 17/2912) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bessere Haltung für Kaninchen zu Erwerbszwecken - Konkrete Haltungsbedingungen in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufnehmen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, Alexander Süßmair, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union tiergerechter regeln - Mindestanforderungen unverzüglich auf den Weg bringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die gewerbliche Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern (Drucksachen 17/2017, 17/1601, 17/2006, 17/2962) Dieter Stier (CDU/CSU) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) Heinz Paula (SPD) Hans-Michael Goldmann (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Carola Stauche (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 13: Vereinbarte Debatte: Bilanz und Zukunftsperspektiven der wissenschaftlichen Politikberatung "Technikfolgenabschätzung" Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Sylvia Canel (FDP) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Axel Knoerig (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik (Drucksachen 17/2434, 17/3084) Gero Storjohann (CDU/CSU) Sören Bartol (SPD) Petra Müller (Aachen) (FDP) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Daniela Raab (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Drucksache 17/2478) Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen (Drucksache 17/2488) Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer (Drucksache 17/2583) Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie (Drucksache 17/3023) Peter Aumer (CDU/CSU) Martin Gerster (SPD) Frank Schäffler (FDP) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren (Drucksachen 17/1049, 17/3085) Tagesordnungspunkt 20: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011 (BBVAnpG 2010/2011) (Drucksachen 17/1878, 17/2066, 17/3086) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/3087) Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Freihandelsabkommen mit Indien stoppen - Verhandlungsmandat in demokratischem Prozess neu festlegen (Drucksache 17/2420) Erich G. Fritz (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Annette Groth (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksachen 17/2251, 17/2571) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksachen 17/2252, 17/2571) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/2253, 17/2571) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/2254, 17/2571) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung des Zusatzabkommens vom 5. November 2002 (Drucksachen 17/2255, 17/2571) Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen (Drucksache 17/3060) b) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern (Drucksache 17/3041) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Peter Bleser (CDU/CSU) Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Dr. Erik Schweickert (FDP) Caren Lay (DIE LINKE) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sozialkassen vor Beitragsverlusten bewahren (Drucksache 17/3042) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Katja Mast (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Klaus Ernst (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Agnes Alpers, Jan van Aken, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Christine Buchholz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Sevim Daðdelen, Werner Dreibus, Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Nicole Gohlke, Diana Golze, Annette Groth, Dr. Gregor Gysi, Heike Hänsel, Dr. Rosemarie Hein, Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Harald Koch, Jan Korte, Caren Lay, Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Ulrich Maurer, Dorothée Menzner, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau, Jens Petermann, Richard Pitterle, Ingrid Remmers, Michael Schlecht, Dr. Herbert Schui, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg und Katrin Werner (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Sammelübersicht 137 zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 31 i) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur vereinbarten Debatte: Bilanz und Zukunftsperspektiven der wissenschaftlichen Politikberatung "Technikfolgenabschätzung" (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Tagesordnungspunkt 15) Marlene Mortler (CDU/CSU) Klaus Brähmig (CDU/CSU) Heinz Paula (SPD) Jens Ackermann (FDP) Kornelia Möller (DIE LINKE) Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen (Tagesordnungspunkt 16) Steffen Bilger (CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU) Ute Kumpf (SPD) Sibylle Laurischk (FDP) Sabine Leidig (DIE LINKE) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer (Tagesordnungspunkt 17) Ute Granold (CDU/CSU) Christoph Strässer (SPD) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren (Tagesordnungspunkt 19) Frank Heinrich (CDU/CSU) Ullrich Meßmer (SPD) Pascal Kober (FDP) Stefan Liebich (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011 (BBVAnpG 2010/2011) (Tagesordnungspunkt 20) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Frank Tempel (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Entwurf eines Gesetzes zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung des Zusatzabkommens vom 5. November 2002 (Tagesordnungspunkt 22) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) Dr. Birgit Reinemund (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 62. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 30. September 2010 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einige amtliche Mitteilungen zu machen. Als Nachfolgerin der im Sommer ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren begrüße ich die Kollegin Kerstin Griese wieder herzlich im Deutschen Bundestag. (Beifall) Ich brauche Ihnen zu den Arbeitsmöglichkeiten und Bedingungen hier nichts wirklich Neues mit auf den Weg zu geben. Wir freuen uns, dass Sie wieder da sind. Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit! Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Dirk Fischer aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidet. (Zurufe von der SPD: Oh! - Thomas Oppermann [SPD]: Ein echter Verlust!) Dies nimmt das Plenum des Deutschen Bundestages mit erkennbarem Bedauern zur Kenntnis. Als Nachfolger wird der Kollege Thomas Jarzombek vorgeschlagen, (Zurufe von der CDU/CSU: Ah!) den offenkundig große Erwartungen in dieses neue Amt begleiten. Neues stellvertretendes Mitglied für die aus dem Bundestag ausgeschiedene Abgeordnete Astrid Grotelüschen soll der Kollege Hans-Werner Kammer werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Jarzombek und Kammer in den Beirat gewählt. Die nächsten Nachbesetzungen betreffen den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr. Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der Kollege Josef Rief Nachfolger der aus dem Bundestag ausgeschiedenen Kollegin Lucia Puttrich werden. Auf Vorschlag der Fraktion der SPD soll der Kollege Heinz Paula für die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß nachrücken. Könnten Sie sich auch mit diesen Vorschlägen einverstanden erklären? - Das sieht so aus. Dann stelle ich hiermit fest, dass der Kollege Rief und der Kollege Heinz Paula in den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr gewählt sind. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Einsprüche gemäß § 39 der Geschäftsordnung der Abgeordneten Herbert Behrens, Heidrun Dittrich, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger und Michael Schlecht gegen den am 17. September 2010 erfolgten Sitzungsausschluss (siehe 61. Sitzung) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Einen fairen Interessensausgleich zwischen Beschäftigten und Arbeitsuchenden mit bedarfsgerechten Regelsätzen schaffen ZP 3 Vereinbarte Debatte 20 Jahre deutsche Einheit ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten - Drucksachen 17/2921, 17/3081 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Carsten Linnemann ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Markus Kurth, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Leistungskürzungen bei den Unterkunftskosten im Arbeitslosengeld II verhindern - Vermittlungsverfahren mit den Ländern unverzüglich aufnehmen - Drucksache 17/3058 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss Haushaltsausschuss ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 30 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entflechtungsinstrument ins Wettbewerbsrecht einfügen - Drucksache 17/3062 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Technikfolgenabschätzung im Bundestag und in der Gesellschaft stärken - Drucksache 17/3063 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss c) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - Eine Bilanz - Drucksache 17/3010 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Petitionsausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Milliardengarantien und Millionenboni bei der HRE ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Steinkohlevereinbarung gilt - Drucksache 17/3043 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für einen geordneten und sozialverträglichen Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau - Drucksache 17/3044 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Finanzausschuss ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Energie 2050 - Sicher erneuerbar - Drucksache 17/3061 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken - Drucksache 17/3083 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss (f) Federführung strittig ZP 12 Unterrichtung durch die Bundesregierung Energiekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung und 10-Punkte-Sofortprogramm - Monitoring und Zwischenbericht der Bundesregierung - Drucksache 17/3049 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen zur Tagesordnung: Der Tagesordnungspunkt 5 - Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit - wird abgesetzt. Stattdessen soll das Thema jetzt gleich anschließend im Rahmen einer Vereinbarten Debatte beraten werden. Der ursprünglich an dieser Stelle vorgesehene Tagesordnungspunkt 3 - Finanzierung des Gesundheitswesens - wird nach der heutigen Aktuellen Stunde aufgerufen. Außerdem muss der Tagesordnungspunkt 12 c abgesetzt werden. Schließlich mache ich auf eine geänderte Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 59. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Überweisung an den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zur Mitberatung soll entfallen. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Regelungen über Teilzeit-Wohnrechteverträge, Verträge über langfristige Urlaubsprodukte sowie Vermittlungsverträge und Tauschsystemverträge - Drucksache 17/2764 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. (Die Anwesenden erheben sich) Am 18. September 2010 verstarb im Alter von 80 Jahren unser ehemaliger Kollege Dr. Egon Alfred Klepsch. Er war der erste deutsche Präsident des Europäischen Parlaments. Der 1930 im Sudetenland geborene Egon Klepsch zog 1965 als direkt gewählter Abgeordneter für Koblenz in den Deutschen Bundestag ein, dem er 15 Jahre, bis 1980, angehörte. 1973 nahm er neben seinem Bundestagsmandat erstmals auch ein Mandat im Europäischen Parlament an, dessen Entwicklung von einer beratenden Versammlung von Mitgliedern nationaler Volksvertretungen zu einem direkt gewählten Parlament er mit großem Engagement betrieb und dessen Präsident er von 1992 bis 1994 war. Europa war sein Thema. Die europäische Idee hat ihn fasziniert. Für ihre Umsetzung in politische Wirklichkeit hat er Beachtliches geleistet. Egon Klepsch erzählte bisweilen, 1973 habe niemand verstanden, warum er ins Europäische Parlament wollte. Dass diese Frage heute, nach dem Lissabon-Vertrag, niemand mehr stellen würde, ist nicht zuletzt auch ein später Erfolg für Egon Klepsch und seine Beharrlichkeit. Der Deutsche Bundestag trauert mit seiner Familie und drückt ihr sein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Wir werden Egon Klepsch nicht vergessen. Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf: Vereinbarte Debatte 20 Jahre deutsche Einheit Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Dr. Wolfgang Böhmer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident (Sachsen-Anhalt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben aus aktuellem Anlass eine Debatte zum Thema "20 Jahre Deutsche Einheit" vereinbart, ohne, wie ich eben erfahren habe, heute schon den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2010 diskutieren zu wollen. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar; denn ich habe ihn erst vor fünf Minuten bekommen und konnte ihn natürlich noch nicht lesen. (Zuruf von der LINKEN: Was?) Auch 20 Jahre nach der von uns damals wie ein Wunder erlebten Wiedervereinigung Deutschlands gibt es immer noch einiges, was zu debattieren ist; denn wir wissen heute besser als damals, was das Zusammenführen zweier so grundsätzlich anders strukturierter Teilstaaten innerhalb eines Landes auch an Langzeitfolgen bedeutet. Es war gut, dass wir damals noch nicht alles wussten, und es war hilfreich, dass es einen Druck aus jenem Bevölkerungsteil gab, der sich zur Freiheit selbst befreit hatte. Wir wollten die Freiheit - wir bekennen uns auch heute noch dazu -, ohne dass wir damals freilich wissen konnten, welche Konsequenzen damit kurzfristig und langfristig verbunden sein würden. Mit den Schwierigkeiten der Umwandlung einer abgeschirmten sozialistischen Planwirtschaft in eine weltoffene privatwirtschaftlich organisierte Wettbewerbswirtschaft haben wir in den 20 Jahren viele Erfahrungen gesammelt, sowohl mit Erfolgen als auch mit Misserfolgen. Die damalige Illusion vom Reichtum durch den Verkauf von sogenanntem Volkseigentum verschwand in einem riesigen Finanzierungsdefizit, hervorgerufen durch die notwendige ökologische Sanierung und die notwendige technologische Modernisierung. Die notwendige Wettbewerbsfähigkeit konnte nur durch interne Rationalisierung und den massiven Abbau von Arbeitsplätzen erreicht werden. Fast drei Viertel der Arbeitnehmer in der ehemaligen DDR haben ihren Arbeitsplatz wechseln müssen. Etwa ein Drittel hat ihn ganz verloren. Wer nicht bald einen neuen fand, der fühlte sich enttäuscht von der Freiheit, für die er selbst mitgekämpft hatte. So kam es über die Jahre hinweg zu einer wechselnden Gemengelage von subjektiven Bewertungen, die durchaus mit den objektiven Daten der wirtschaftlichen Entwicklung korrelierten. Die statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben vor wenigen Tagen eine vom Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz zusammengestellte Datensammlung herausgegeben, die die Entwicklung ausgewählter Parameter in Deutschland zwischen 1991 und 2009 sehr übersichtlich zusammenfasst, weshalb ich nur darauf verweisen und Ihnen hier möglichst viele Zahlen ersparen möchte. So ist die Wirtschaftsleistung je Einwohner in den neuen Bundesländern seit 1991 um rund 100 Prozent gestiegen. Sie entspricht aber noch nicht dem Niveau in den westlichen Bundesländern, weil die Dichte der industriellen Arbeitsplätze noch deutlich niedriger ist. Die politische Bewertung solcher Vergleichszahlen hängt regelmäßig von den Vergleichsparametern und - das wissen Sie besser als ich - von der parteipolitischen Perspektive ab. Im Vergleich zu den ehemaligen sozialistischen Bruderländern östlich von uns haben wir ein hervorragendes Niveau erreicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Im Vergleich zu den westdeutschen Bundesländern haben wir noch nicht die Durchschnittswerte erreicht. Diejenigen, die schon vor 20 Jahren gegen die Wiedervereinigung gestimmt haben, erklären das heute zu einer Katastrophe. Aber diejenigen, die sich auch heute noch über das Wunder der Wiedervereinigung freuen, lassen sich dadurch nicht entmutigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Dabei übersehe ich nicht, dass es Probleme gibt, die uns noch längere Zeit begleiten werden. Eine große Zahl unterbrochener Erwerbsbiografien, eine große Zahl von Langzeitarbeitslosen, das führt natürlich auch dazu, dass eine große Zahl von Rentnern minimalste Renten bekommen werden. Das Problem der Altersarmut sehen wir durchaus auch. Diese Personen werden dann grundsicherungsbedürftig sein. Die Gewährung der Grundsicherung wird - auch wenn der Bund zurzeit 13 Prozent dazuzahlt - von den östlichen Kommunen verlangt werden, die heute nur etwa 51 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen der westlichen Gemeinden haben. Das alles sind Probleme, die wir nicht vor uns selbst verstecken und von denen wir wissen, dass sie zukünftig gelöst werden müssen. In dem schwierigen Übergang der Rentensysteme gibt es Probleme, doch ich bin mir ganz sicher, dass der Gesetzgeber, als er Mitte der 90er-Jahre die entsprechenden Beschlüsse gefasst hat, diese Probleme so nicht gewollt hat. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: 20 Jahre danach!) Es gibt Stichtagsunstimmigkeiten, die zu Problemen geführt haben, über die durchaus noch diskutiert wird und die uns noch beschäftigen werden. Es ist deshalb notwendig, zu sagen, dass noch mehr als nur einiges zu tun übrig geblieben ist. Die Eigenfinanzierungsquote der Haushalte in den neuen Bundesländern liegt knapp über 50 Prozent. Wir sind dankbar für die riesigen finanziellen Hilfen, die wir bekommen haben und die wir leider immer noch brauchen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass sie in der Öffentlichkeit zunehmend als lästig empfunden werden. Auch wir möchten einen Zustand erreichen, in dem wir nicht mehr hilfsbedürftig sind, und dies möglichst nicht nur durch den normalen Finanzausgleich, sondern durch eigene Leistung. Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn wir nur nachmachen, was andere vor uns schon bis zur Marktsättigung gemacht haben. Wer in uns einmal nicht nur Hilfsempfänger sehen möchte, sollte uns die Chance einräumen, auch in den neuen Ländern Forschungs- und Entwicklungskapazitäten aufzubauen, um selbst wettbewerbsfähig zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Auch dabei gilt die Maxime, dass wir die Teilung nur durch Teilen überwinden können. Was an Wirtschaftsförderung für private Unternehmen noch möglich ist, sollten wir auf diese Zielstellung konzentrieren. Die sehr schmale, mit öffentlichen Mitteln ausgehaltene Innovationslandschaft in Ostdeutschland ist völlig anders geprägt als in Westdeutschland und aus eigener Wirtschaftskraft noch nicht lebensfähig. Wir müssen deshalb gemeinsam nach neuen Wegen und Methoden der innovationspolitischen Förderung suchen und dies ohne Argwohn untereinander zulassen. Viele Nebenwirkungen dieses globalen Transformationsprozesses und die noch immer bestehende negative Wanderungsbilanz der neuen Bundesländer konnten nur durch die neben der Währungs- und Wirtschaftsunion geschaffene Sozialunion abgefedert werden. Ohne den zusätzlichen Finanztransfer der Sozialkassen hätten wir diesen strukturellen Transformationsprozess innerhalb eines Landes nicht ausgehalten. Die auch nach 20 Jahren gelegentlich aufflackernde Diskussion über einen anderen Weg zur Wiedervereinigung, zum Beispiel über ein sogenanntes Kondominium mit eigener Währung, ist irreal; das hätten die Menschen in Ost und West damals nicht mit sich machen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist auch irreal, zu glauben, dass sich 60 Millionen Deutsche mit einem erfolgreichen Wirtschaftssystem und einem geschätzten Grundgesetz von einer kleinen Gruppe von 16 Millionen Ostdeutschen mit einem gescheiterten Wirtschaftssystem, von denen ein Teil schon auf dem Koffer saß und die untereinander durchaus nicht einer Meinung waren, hätten erklären lassen wollen, wie man die Welt hätte verbessern können. Trotz aller Folgeprobleme sind wir immer noch glücklich darüber, dass 329 Tage nach der erzwungenen Maueröffnung ausreichten, um Deutschland zu vereinigen und Europa den Weg dazu zu öffnen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Damit das so bleibt, bitte ich ausdrücklich darum, sich im Bereich der sozialen Ausgleichsstrukturen allen Forderungen nach der Lösung regionaler Probleme durch erneute Regionalisierung zu widersetzen. In einer Zeit notwendiger Reformen, die den Menschen auch Belastungen abverlangen, dürfen die sozialen Ausgleichsstrukturen nicht zur Disposition gestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Es ist nicht möglich und auch nicht vorgesehen, in einem kurzen Debattenbeitrag alle Probleme der Wiedervereinigungspolitik anzusprechen. Weil über ein Thema in der Öffentlichkeit sehr häufig diskutiert wird, möchte ich dazu allerdings noch ganz kurz ausführen, nämlich zu der noch immer behaupteten Mauer in den Köpfen nach Entfernung der tatsächlichen Mauer. Wahr ist, meine Damen und Herren, dass in Umfragen zu politisch bedeutsamen Wertungen und bei Wahlen die Menschen in den neuen Bundesländern andere Verteilungsmengen erzeugen und damit andere Verhaltensmuster bezeugen. Wahr ist auch, dass eine Sozialisation in einer vormundschaftlich organisierten Diktatur zu anderen Verhaltensmustern führen musste als eine Sozialisation in einer freiheitlichen Wettbewerbsgesellschaft. Weder muss sich der eine wegen des Versagens seines Wirtschaftssystems persönlich betrogen und als Mensch zweiter Klasse fühlen, noch kann der andere so auftreten, als sei der Erfolg seiner Wirtschaftsstrukturen sein ganz persönlicher gewesen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD - Heiterkeit bei der LINKEN - Thomas Oppermann [SPD]: Eine gute Bemerkung!) Gelegentlich habe ich den Eindruck, meine Damen und Herren, dass wir Deutschen uns viel ähnlicher sind, als wir zuzugeben bereit sind. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dazu ein einziges Beispiel. Ziemlich oft bin ich gefragt worden, warum es in der DDR so viel Opportunismus gegeben habe. Ich gebe zu: Ich kann da gar keinen großen Unterschied sehen, nur andere Ausdrucksformen. In einer Diktatur resultiert angepasstes Verhalten aus der Angst vor Nachteilen und einem Abstieg, in einer Wettbewerbsgesellschaft aus der Hoffnung auf Vorteile und einen Aufstieg. Das ist nicht das Gleiche, aber ein sehr vergleichbares menschliches Verhaltensmuster. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So gibt es auch nach 20 Jahren noch Aufgaben, die wir zum Erreichen gleichwertiger Lebensverhältnisse lösen müssen, und Aufgaben, die wir lösen müssen, um zu verhindern, dass uns die sozialutopische Illusion eines sogenannten konfliktfreien Lebens noch einmal voneinander trennt. Nichts schweißt Menschen mehr zusammen als gemeinsame Erfolge. Wenn wir in den noch ungelösten Problemen gemeinsame Aufgaben sehen und bei der Aufarbeitung der Folgen unserer getrennt erlebten, aber trotzdem gemeinsamen Geschichte erfolgreich sind, dann wird auch die innere Einheit bald vollendet sein. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dagmar Ziegler ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dagmar Ziegler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Wir haben es gerade gehört - wir als SPD-Fraktion teilen diese Haltung selbstverständlich -: Ost- wie Westdeutsche haben in den vergangenen 20 Jahren Großes geleistet. Das war eine herausragende Leistung, die, wie ich glaube, mit nichts in der deutschen Geschichte vergleichbar ist. Sie hat viel Kraft erfordert, und sie hat auch viel Geld erfordert. Wenn wir uns die Statistiken ansehen, dann stellen wir fest, dass zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2009 eine extreme Steigerung stattgefunden hat, was den strukturellen Konvergenzprozess angeht, also beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt, die Produktivität, die Exportquote und auch die Selbstständigenquote. Hier ist uns wirklich eine sehr große Annäherung gelungen. Allerdings ziehe ich die Statistik etwas in Zweifel, weil immer der Durchschnitt der westdeutschen Länder mit dem Durchschnitt der ostdeutschen Länder verglichen wird. Ich glaube, es wäre besser, in Zukunft den Vergleich zwischen strukturschwachen Regionen in Westdeutschland und strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland anzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dann könnte man den Konvergenzprozess besser ableiten, und man würde deutlicher sehen, was bereits erreicht wurde und was in Zukunft noch notwendig ist. Wir können feststellen - auch der Bericht zeigt das -: Es ist zwar schon viel geschafft worden, aber es gibt noch viel zu tun. Beispielsweise ist die Arbeitslosenquote im östlichen Teil Deutschlands fast doppelt so hoch wie im westlichen Teil. Daran sieht man, dass die strukturellen Probleme bei weitem noch nicht gelöst sind. Bei aller Anerkennung dafür, dass in den letzten 20 Jahren viel Geld von West nach Ost geflossen ist, muss man sich den Haushaltsentwurf dieser Bundesregierung einmal genauer ansehen. Spiegelt sich darin wider, was die künftigen Handlungsnotwendigkeiten in Ost und in West ausmacht? Wir haben den Eindruck, dass das, was wir in 20 Jahren aufgebaut haben, gleich wieder abgerissen werden soll - und das im 20. Jahr der deutschen Einheit. Wir müssen feststellen, dass die Sparpotenziale, die im Regierungsentwurf aufgezeigt werden, auf Kosten des Ostens gehen. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!) Einige Politikfelder will ich Ihnen dafür beispielhaft nennen: 37 Prozent des gesamten Sparvolumens fallen in den Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Das heißt, dort, wo mehr Geringverdiener, mehr Arbeitslose vorhanden sind - das ist leider Gottes im Osten Deutschlands der Fall -, werden die Kürzungen stärker durchschlagen als im westlichen Teil Deutschlands. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist ein Skandal!) Ostdeutschland wird damit viel härter getroffen - mit all den Folgewirkungen für das Konsumverhalten, für Kleinbetriebe, für den Mittelstand, für Handwerker etc. Das muss man einfach wissen und bei einem Haushaltsentwurf bedenken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Weiter steht im Bericht zum Programm "Kommunal-Kombi": Auch nach der Erweiterung der förderfähigen Regionen im April 2009 lag der Schwerpunkt des Programms in den ostdeutschen Ländern, so dass insbesondere die Menschen unterstützt werden konnten, die auf Grund der in vielen ostdeutschen Kreisen angespannten Arbeitsmarktlage und der Schwäche der regionalen Wirtschaft keine Arbeit finden konnten. Es wird also positiv bewertet. Fakt ist: Die Bundesregierung hat dieses Programm 2009 enden lassen. Dazu muss man sagen: Wort und Tat stehen einfach nicht in Einheit. (Beifall bei der SPD) Im Juni hat die Bundesregierung beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich dem Problem des Fachkräftemangels widmen soll. Wir wissen: Der Osten läuft, was die demografische Entwicklung angeht, dem Westen um einiges voraus. Das heißt, man könnte auch einmal vom Osten lernen, weil wir schon viele Ansätze für Lösungen gefunden haben, dafür natürlich auch Geld und Initiativen brauchen. Angesichts der demografischen Entwicklung wird nämlich der Fachkräftemangel im Osten viel stärker durchschlagen als im Westen, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird. Wie wird denn nun von der Bundesregierung gegengesteuert? Es wurde eine Arbeitsgruppe installiert. Wie weit ist denn diese Arbeitsgruppe nach drei Monaten? Es sind noch nicht einmal die Mitglieder benannt. Das erste Gespräch soll immerhin schon in diesem Jahr - dafür wäre Beifall angezeigt! - stattfinden. Offenbar ist alles nicht so eilig. Aber wir wissen, dass der Fachkräftemangel in Ostdeutschland in den nächsten Jahren sich extrem entwickeln wird. Wir brauchen Lösungsansätze nicht nur auf Länderebene, sondern auch die Bundesregierung hat eine Verantwortung wahrzunehmen. (Beifall bei der SPD) Es gibt einen weiteren Bereich, nämlich die Städtebauförderung. Herr Ramsauer hofft nun auf die Koalition, darauf, dass sie sich eines Guten besinnt. Im Bericht steht nämlich: Als gemeinsam von Bund, Ländern und Gemeinden finanzierte Aufgabe hilft sie Städten und Gemeinden, städtebauliche Missstände zu beseitigen und eine zukunftsfähige Entwicklung einzuleiten, die in besonderer Weise von unterbliebener Erneuerung, wirtschaftlichem Strukturwandel, der demografischen Entwicklung und von Zuwanderung betroffen sind. Hintergrund: Jeder Euro Fördermittel zieht mehr als 8 Euro Investitionen vor Ort nach sich. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal was zur Wiedervereinigung!) Das wissen Sie als CDU/CSU-FDP-Koalition genauso wie wir. Schauen wir uns dies einmal an! Die Mittel für die Städtebauförderung, wozu auch die Programme "Stadtumbau Ost" und "Soziale Stadt" gehören, sollen halbiert werden. Ich glaube, Herr Ramsauer wartet auf Sie, darauf, dass die Koalition dies ändert. Wir werden auch weiter gegen die Kürzung protestieren. Gehen Sie bitte in die Städte, die davon profitiert haben, auch in die westdeutschen Städte, die davon profitieren, und schauen Sie sich an, was bei einer Halbierung passieren würde! Im Osten würde dies wieder stärker wirken als im Westen. Das muss man sich in seinen Auswirkungen einfach einmal ansehen. (Beifall bei der SPD) Im Bericht steht: Zugleich beeinflusst eine Reihe noch bestehender struktureller Ungleichgewichte das gesamtwirtschaftliche Ergebnis. Hierzu zählt z. B., dass die ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor eine vergleichsweise geringe Zahl großer kapitalkräftiger Unternehmen aufweist. So waren 2008 laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung ... von den 700 größten Unternehmen in Deutschland lediglich fünf Prozent in den neuen Ländern ansässig. Was macht die Bundesregierung? - Sie führt ein Stipendienprogramm ein, durch das Studierende mithilfe finanzstarker Unternehmen unterstützt werden sollen. Sie wissen, was das in Ostdeutschland bedeutet: kein Profit für Ostdeutschland durch dieses Programm. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Was reden Sie denn?) Daneben kürzt sie die Ausgaben für die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", obwohl sie - auch das ist wieder ein Zitat aus dem Bericht - "das zentrale Instrument der Investitionsförderung bleibt". Wie bitte soll das bei einer Kürzung funktionieren? (Beifall bei der SPD) Noch ein paar Sätze zur Familienpolitik. In Sachen Familienpolitik legt die Bundesregierung im Bericht auf folgende Fakten Wert: 20 Euro mehr Kindergeld seit Januar 2010, die Feststellung, dass das Elterngeld sozial ausgewogen ist, und die Einführung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung ab dem Jahr 2013. - So steht es in dem Bericht. Tatsache ist: Durch die Kindergelderhöhung und die Erhöhung der steuerlichen Kinderfreibeträge werden gutverdiendende Eltern überproportional bevorteilt. Wo leben sie? - Sie leben im Westen Deutschlands. Zukünftig sollen Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger kein Elterngeld mehr erhalten, dafür aber beispielsweise die gutverdienende Notarsgattin. Den Kommunen wird durch die Steuerpolitik der Bundesregierung zunehmend die finanzielle Basis für den Ausbau der Infrastruktur weggenommen. Also: Wort und Tat bilden keine Einheit. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit. Dagmar Ziegler (SPD): Der Osten wird in Zukunft noch mehr schmerzliche Einschnitte hinnehmen müssen. Sie wissen: Der Solidarpakt läuft 2019 aus, die Höchstförderung durch die EU-Strukturfonds wird wegfallen, (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Falsche Rede! Peinlich!) und es wird - so sieht es nach dem Regierungsentwurf aus - noch mehr Ost-Sparpakete geben. Deshalb lautet mein Appell an Sie als Koalition: Schauen Sie sich die Auswirkungen des Regierungsentwurfs zum Haushalt ganz genau an! (Maria Michalk [CDU/CSU]: Reden Sie über die deutsche Einheit! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!) Fahren Sie einmal in den Osten! Ich glaube, ein großer Teil von Ihnen war vielleicht noch nicht dort. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Kurth für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich starte, möchte ich sagen, dass ich mich persönlich sehr freue, hier sprechen zu dürfen. Das bewegt mich sehr. Viele von Ihnen waren vor 20 Jahren bereits politisch aktiv, hatten Verantwortung und haben gestaltet. Ich war es nicht; das gebe ich zu. Ich war 13 Jahre alt und bitte da um Nachsicht. Ich bin damals zum Beispiel davon ausgegangen, dass ich im DDR-Schulsystem kein Abitur machen und dementsprechend nicht studieren werde. 1989 bin ich auch davon ausgegangen, meine Westverwandtschaft erst in 50 Jahren sehen zu können, wenn sie dann noch leben würde. Dass es anders gekommen ist, ist eine schöne Entwicklung. Die Ostdeutschen haben die Mauer eingerissen; wir haben Deutschland gemeinsam vereinigt. Wir haben eine beachtliche Entwicklung "hingelegt", und heute reden wir über 20 Jahre deutsche Einheit. Das ist bewegend, und das ist schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: So muss eine Rede zur deutschen Einheit sein!) Die Folgen von 40 Jahren Teilung können auch in 20 Jahren nicht ohne Spuren heilen, aber durch die letzten 20 Jahre zeigt sich, dass der Einigungsprozess eine große Erfolgsgeschichte ist. In dem Jahresbericht wird zum Beispiel davon gesprochen - ich finde, zu Recht -, dass in den letzten 20 Jahren in Ostdeutschland ein kleines Wirtschaftswunder stattgefunden hat. Das ist und bleibt richtig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Um es noch einmal deutlich zu machen: Was hat die DDR hinterlassen? - Sie hat eine verschlissene Infrastruktur, einen veralteten Kapitalstock und zerstörtes Unternehmertum hinterlassen, und mit der Wende trat ein ausgesprochen großes Problem auf: Es gab ein erhebliches, nachvollziehbares Potenzial für Abwanderung in den Westen. Dass diese enorme Mobilität die politischen Gestaltungsmöglichkeiten einschränkte, wissen wir; dass sie die politischen Akteure unter einen ungeheuren zeitlichen Druck setzte, wird heute leider oft vernachlässigt. Sie alle kennen den Ruf aus der Zeit: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Sie sind trotzdem gegangen!) Das muss man auch berücksichtigen, wenn man über die deutsche Einheit spricht. Mit relativ großem Unverständnis habe ich deswegen zum Beispiel das gelesen, was der Wirtschaftsminister aus dem Land Thüringen - er hat auch einmal einer Bundesregierung angehört; nicht dieser, sondern einer anderen -, Herr Machnig, im September in einem sogenannten Mittelstandsförderprogramm verlautbaren lässt: Von dieser hektischen Aufholjagd sollten sich die neuen Länder 20 Jahre nach der Vereinigung verabschieden. Diese hatte negative Begleiterscheinungen wie Niedriglöhne, Abwanderung und unüberlegte Ansiedlungen, die einzelne Regionen nicht weitergebracht, sondern zurückgeworfen haben. (Widerspruch bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, das schreibt ein Wirtschaftsminister eines solchen "neuen Landes" im September des Jahres 2010: "zurückgeworfen"! (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Frau Lieberknecht dazu? - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Er hat doch recht!) - Ach, er hat recht. Das ist ja noch interessanter. Es gibt in Ostdeutschland Millionen Menschen, denen es heute schlechter geht als 1990? Das können Sie doch wahrlich nicht behaupten. Das geht doch überhaupt nicht, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Worüber wir reden können, ist die Frage, ob die sozialen Lebensverhältnisse zum Beispiel mancher SED-Opfer genauso stark gestiegen sind wie die vieler SED-Täter und SED-Mitläufer. Aber das ist heute nicht das Thema. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ihr Entschließungsantrag spricht - Achtung! - von einer - ich zitiere - "vermeintlich desolaten Ausgangslage". - Vermeintlich! Das müssen Sie gleich mal erklären, was Sie mit einer "vermeintlich desolaten Ausgangslage" meinen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es gibt viele Zahlen zum Aufholprozess. Wir hören gerade jetzt in diesen Tagen, bei den 20-Jahr-Feiern, sehr viel dazu. Ich will nur eine Zahl nennen, weil das das Ganze noch mal plastisch macht. Die Arbeitsproduktivität der neuen Bundesländer im Vergleich zum Westen ist in den letzten Jahren von 1990 bis heute von 43 Prozent auf 73 Prozent gestiegen. Man muss dabei immer noch beachten: Auch der Westen hatte seit 1990 ein Wirtschaftswachstum, und dies müssen wir ja entsprechend mit aufholen. Die Zahlen orientieren sich also nicht an 1990, sondern an den jeweils aktuellen Zahlen. Zum Vergleich: Von den anderen osteuropäischen Ländern, die übrigens die gleiche Ausgangslage hatten wie die DDR, liegen zum Beispiel Tschechien und die Slowakei bei 30 Prozent. Ich gehe davon aus, dass wir bei einem langsamen Angleichungsprozess auch ungefähr dort stünden. Wir können uns aber auch ausmalen, welchen Exodus die ostdeutschen Länder erlitten hätten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: 1,8 Millionen seit 1990!) 20 Jahre deutsche Einheit heißt aber auch - ich komme auf die Abwanderung noch zu sprechen -, dass wir den Begriff "Aufbau Ost" noch einmal deutlich definieren müssen. Es ist heute kein abgetrenntes Politikfeld mehr, wie das in den 90er-Jahren richtig war. Viele Themen, die sich in der einen oder anderen Region etwas deutlicher bemerkbar machen oder woanders auch weniger deutlich bemerkbar machen, sind gesamtdeutsch. "Aufbau Ost" als Begriff ist übrigens im Westen und auch im Osten unbeliebt, weil er eher trennt, anstatt zu verbinden. Dennoch sind einige Probleme in Ostdeutschland sehr viel signifikanter als im Westen. Der Herr Ministerpräsident sprach die Arbeitslosigkeit an, sprach die Rente an. Eines der größten Probleme ist die Abwanderung. Wir haben eine hohe Abwanderungsquote. Wir konnten diese hohe Abwanderungsquote trotz der Angleichung nicht in der Weise mildern, wie wir das gern gewollt hätten. (Zuruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]) - Wir hatten den Wendeknick, Frau Gleicke. Der Wendeknick bedeutete den größten ohne Kriegseinwirkung stattfindenden Geburtenabsturz in Deutschland überhaupt. Wir haben seitdem eine Abwanderung in unerhört hohen Ausmaßen über Jahre hinweg. Das ist so. Übrigens haben wir jetzt bereits Teil zwei dieser Abwanderung: In diesen Jahren ab 2010 fehlen bereits die Kinder derjenigen Kinder, die vor 20 Jahren nicht geboren worden sind oder deren Eltern abwanderten. So kommen wir in eine nächste Stufe. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat nichts mit der DDR zu tun!) Die dadurch entstehende Überalterung hat erhebliche Folgen für die Sozialsysteme, die Infrastruktur und vieles mehr. Aber - auch das will ich sagen - das ist kein rein ostdeutsches Problem, auch wenn viele Regionen im Osten davon betroffen sind. Das Problem wird auch auf den Westen zukommen, vielleicht nicht so hart und so schnell, aber es wird auch dort ankommen. Wenn mir zum Beispiel mein Kollege Luksic vom Saarland erzählt, dann stellen wir fest, dass wir da in vielen Fällen ähnliche Probleme haben, und das Saarland liegt ja nun nicht unbedingt im Osten unserer Republik. Daher ist es wichtig, zu wissen, dass die Konzepte, die wir entwickeln, im Osten anwenden und dort erfolgreich praktizieren können, Vorbild auch für die Entwicklung im Westen sein können. Eines muss klar sein: In Gänze können wir die bisherige Entwicklung leider nicht umdrehen. Weder im Osten noch im Westen können die fehlenden Kinder 20 Jahre später auf die Welt gebracht werden. Aber wenn wir die richtigen Strategien anwenden, dann können gelungene Konzepte aus dem Osten Vorbild für den Westen sein. Was können wir von der deutschen Einheit lernen? Ich glaube, wir können sehr viel von der Aufbruchstimmung von 1990 lernen. Die DDR-Bürger stellten sich quasi über Nacht auf ein völlig neues System ein. Sie krempelten ihr Leben um. Sie haben neue Sprachen gelernt, sie haben umgelernt, sie haben neue Berufe angefangen, und sie haben persönliche Belastungen und Risiken auf sich genommen. Sie haben das getan, weil sie die Vision von einem besseren, eigenbestimmten Leben hatten. Diese Haltung könnte auch heute Vorbild für unsere Gesellschaft sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es wurde gerade umfänglich aus dem Sparpaket zitiert. Wir können übrigens aus dem Untergang der DDR auch lernen, dass das Ausplündern der Staatskasse zum Kollaps führen kann. Ein Staat muss sich finanzieren können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Manchmal ist es auch angesichts der Fehler, die geschehen sind, hilfreich, sich an die Worte der ehemaligen Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl zu erinnern, die sagte: Ja, es sind Fehler gemacht worden, und ich verspreche Ihnen, beim nächsten Mal machen wir es besser. - Das hilft manchmal auch schon. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Mit Blick auf die Uhr komme ich zum Schluss. Präsident Dr. Norbert Lammert: Sehr gut. Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Ich möchte noch eines sagen: Gleichwertige Lebensverhältnisse wollen wir anstreben. Wir werden aber keine gleichen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland erreichen. Das müssen wir auch gar nicht. Was wir aber möchten, ist, dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Voraussetzungen vorfinden, um ein glückliches und selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Einheit führen zu können. Dafür steht diese Koalition. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist Kollegin Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die deutsche Einheit wird von vielen in dieser Bundesregierung salbungsvoll beschworen und mit viel Geld gefeiert. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Dass das der SED nicht gefällt, ist klar!) Mein Eindruck ist allerdings, dass sich diejenigen selbst am meisten feiern, die am wenigsten für die deutsche Einheit getan haben. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP - Dagmar Ziegler [SPD]: Was haben Sie denn dafür getan?) Haben Sie sich zum Beispiel schon einmal die Frage gestellt, wie viele der Montagsdemonstranten von 1989 jetzt von Hartz IV leben müssen und dadurch gedemütigt werden? Ist das Ihre Vorstellung von deutscher Einheit? Alle Bundesregierungen der letzten 20 Jahre haben viel getan - der Kollege von der FDP hat es schon angesprochen -, um Zwietracht zwischen Ost und West zu säen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Die taz aus Berlin titelte am Dienstag dieser Woche zutreffend: "Merkel zementiert neue Mauer". Die auf der Titelseite abgebildete Hartz-IV-Deutschlandkarte zeigt deutlich die Grenzen der ehemaligen DDR. In Ostdeutschland leben lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, aber 34 Prozent der Hartz-IV-Empfänger. Sie haben mit Ihrer Politik aus Ostdeutschland ein Hartz-IV-Land gemacht, und das ist alles andere als eine gelungene deutsche Einheit. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Das ist Ihre Vergangenheit!) Heute gibt es allerdings eine weitere Karte in derselben Tageszeitung. Dort steht, der Osten sei arm, aber schlau. Aber davon profitiert vor allen Dingen der Westen, weil gut ausgebildete junge Leute in den Westen gehen. Nach Ihrer Rede, Herr Kurth, hätte ich allerdings diesen Kommentar am liebsten vergessen. Für Sie trifft er nicht zu. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben die Einheit erst wirklich erreicht, wenn wir sagen können: Wir haben gleiche Renten, gleiche Löhne, die gleiche Anzahl von Kitaplätzen, die gleiche Anzahl von Polikliniken in Ost und West. Das wäre ein gutes Ziel, aber das strebt die Bundesregierung augenscheinlich nicht an. Meine Damen und Herren, sagen wir es ganz deutlich: Alle Bundesregierungen haben dafür gesorgt, dass gut gebildete Ostdeutsche keine Chance bekommen, um in dieser Gesellschaft wirklich aufzusteigen. Es gibt in dieser Bundesregierung keinen Minister und keinen beamteten Staatssekretär, keinen Intendanten einer ARD-Anstalt, keinen Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Neuen Deutschland?) keinen Sternegeneral der Bundeswehr und keinen Richter des Bundesverfassungsgerichtes mit einer ostdeutschen Biografie. Das ist wirklich kein Zufall. Nur die Kanzlerin - sie ist gerade verschwunden - stammt aus dem Osten. (Zurufe von der FDP: "Nur"?) Aber was hat sie denn für den Osten getan? Was ist aus ihrem Versprechen geworden, endlich die Renten Ost und West anzugleichen? Kein Wort dazu habe ich seit der Wahl gehört. (Jörg van Essen [FDP]: Sie bekommen nichts mit!) Die Ausgrenzung der ostdeutschen Eliten wird mit ihrer Staatsnähe begründet. Wer in der DDR staatsnah war, sollte in diesem Land keine zweite Chance bekommen. Staatsnah war schon jeder DDR-Bürger, der nicht als Partisan in den Thüringer Wald ging, um mit der Waffe in der Hand gegen das Politbüro zu kämpfen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch auch gegen Eliten! Was erzählen Sie denn für einen Unsinn? Das ist eine klare SED-Rede, die Sie hier halten! Was ist denn los?) Doch selbst die ehemaligen Bürgerrechtler, die die DDR mit allen Mitteln bekämpften, konnten in der bundesdeutschen Elite nicht aufsteigen. Kein einziger ehemaliger Bürgerrechtler ist in der Bundesregierung vertreten. Sie haben sie alle entsorgt. (Dagmar Ziegler [SPD]: Sie hätten ja Gauck wählen können! - Thomas Oppermann [SPD]: Warum haben Sie den Gauck nicht gewählt?) Meine Damen und Herren, wir reden am Tag der Deutschen Einheit immer sehr viel über den Osten; aber die deutsche Einheit hat auch etwas mit dem Westen zu tun. Jetzt stellen wir uns einmal die Frage: Wie hat sich das Leben der Menschen in Westdeutschland seit dem Fall der Mauer verändert? (Dagmar Ziegler [SPD]: Alles Heuchler!) Hatten sie die Chance, Dinge aus dem Osten zu bekommen, von denen jetzt viele sagen: "Die hätten wir gerne gehabt"? Ich denke an Kindergartenplätze, Polikliniken, Bildungschancen. Ganz im Gegenteil: Das Leben der Westdeutschen hat sich seitdem verändert, in vielen Fällen verschlechtert: seitdem sinken die Löhne, seitdem gibt es immer mehr Jobs, von denen man nicht leben kann, und seitdem gibt es Hartz IV. An dieser Stelle will ich etwas länger verweilen. Wir haben in dieser Woche schon sehr viel über Hartz IV diskutiert. Es ist unglaublich, wie diese Bundesregierung arbeitslose Menschen ausspioniert, entmündigt und beleidigt. Was für einen Arbeitslosen gut oder schlecht ist, das will unsere Arbeitsministerin als Supernanny entscheiden. Ich sage Ihnen: Arbeitslose sind keine kleinen Kinder, sondern mündige Bürger. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Partei hat immer recht, egal ob sie SED, PDS oder Linke heißt!) Ich kenne genügend gebildete Arbeitslose, die weder rauchen noch Alkohol trinken und einfach keine Arbeit bekommen, weil sie über 50 Jahre alt sind. Das ist doch der eigentliche Skandal, und darüber sollten wir hier in diesem Parlament viel deutlicher reden. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie sind ein Skandal!) Ich sage Ihnen auch: Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Arbeitslosen ist eine Schande für einen demokratischen Rechtsstaat. Das hat mit Freiheit nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es lebe die neue Parteispitze der Linken!) Seit der deutschen Einheit sinken die Renten. (Zurufe) Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen Augenblick, bitte. - Alle nachfolgenden Redner können alles zurückweisen, was gerade vorgetragen wird. Aber vorgetragen werden darf das; darauf lege ich allergrößten Wert. (Beifall bei der LINKEN - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Zwischenrufe dürfen auch sein! Wir sind ja nicht in der DDR hier!) - Ja, selbstverständlich. Jetzt hat die Frau Kollegin Lötzsch das Wort. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bin gespannt auf die weiteren Beiträge in dieser Debatte; das ist doch klar. Seit der deutschen Einheit sinken die Renten in Westdeutschland. Seit der deutschen Einheit sterben erstmals wieder Soldaten in Kriegen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass viele Westdeutsche die Mauer wieder haben wollen? (Thomas Oppermann [SPD]: Wo leben Sie eigentlich? Wirres Zeug!) Meine Damen und Herren, wie konnte das alles passieren? All das wäre in Zeiten der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus unmöglich gewesen. Aber mit dem Wegfall dieses Wettbewerbs glauben viele, auf die soziale Marktwirtschaft verzichten zu können. Seit dem Fall der Mauer, so formulierte es der Dramatiker Heiner Müller, stecken wir bis zum Hals im Kapitalismus. Je schlechter die soziale Situation für viele Menschen in Ost und West ist, desto heftiger sind die Angriffe auf die längst untergegangene DDR. Aber darum geht es eigentlich gar nicht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an den Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE] gewandt: Dietmar, ist das die Weiterentwicklung bei euch?) Es geht darum, dass es eine Alternative zu dieser kapitalistischen Gesellschaft geben muss. Wir als Linke lassen uns nicht abschrecken. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die nicht profit- und angstgesteuert ist, die Menschen nicht ausgrenzt und demütigt. Wir setzen vielmehr auf eine Gesellschaft mit Solidarität und Gerechtigkeit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: DDR 2.0, das ist das, was Sie wollen!) Davon lassen wir uns von niemandem abhalten. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN - Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die Rede wäre schon vor zehn Jahren schlecht gewesen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen. Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob die Lage besser ist als die Stimmung, wie Herr Minister de Maizière oft sagt, darüber kann man diskutieren. Es ist aber auf jeden Fall falsch, Ostdeutschland auf das Thema Hartz IV zu reduzieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Die Bilanz nach 20 Jahren deutscher Einheit ist zweifelsfrei positiv. Neben Licht gibt es aber auch Schatten. Der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland hat seine Dynamik verloren. Die wirtschaftliche Leistungskraft der neuen Länder stagniert bei ungefähr 73 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Wir haben eine verfestigte Arbeitslosigkeit, die doppelt so hoch ist wie in den alten Bundesländern. Ein schon angesprochenes besonderes Entwicklungshemmnis für die ostdeutsche Wirtschaft ist die anhaltende Abwanderung junger ausgebildeter Menschen. Sie fehlen künftig als Unternehmensgründer und als Betriebsnachfolger. Junge Leute, die an unseren attraktiven ostdeutschen Hochschulen ausgebildet werden, müssen wir halten. Ich sage an dieser Stelle: Wer den Wettbewerb um die klügsten Leute gewinnen will, wird dieses Ziel nicht mit einem niedrigen Lohnniveau erreichen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir können es uns nicht leisten, dass bis zu 10 Prozent der Schuljahrgangsabgänger die Schule ohne Abschluss verlassen. Das kann sich Ostdeutschland nicht leisten. Auch deshalb schlagen wir vor, den Soli in einen Bildungssoli umzuwandeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ostdeutschland erlebt einen Teilungsprozess in einerseits wirtschaftlich potente Wachstumskerne und andererseits abgekoppelte Regionen. Dieser Prozess wird durch den demografischen Wandel beschleunigt. Wir glauben, dass die bisherigen Konzepte einer linearen, nachholenden Modernisierung, die sich oft nur auf den Infrastrukturausbau beziehen - wir haben keine Infrastrukturlücke mehr -, nicht ausreichen, um die im Grundgesetz verankerte Vorgabe der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erreichen; denn wir sind weit davon entfernt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Wenn wir über das Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse reden, dann müssen wir auch über soziale, kulturelle und wirtschaftliche Mindeststandards reden und klären, was die Sicherung der Daseinsvorsorge vor allem in strukturschwachen ländlichen Räumen heißt. Ich glaube nicht, dass das heißt, dass der Bus in der Woche ein Mal täglich fährt und am Wochenende gar nicht mehr. Wir müssen feststellen, dass die Rahmenbedingungen schwieriger werden und diese durch die Politik der Bundesregierung zusätzlich verschärft werden. Die Kommunen im Osten haben nur geringe Einnahmen. Darüber hinaus werden ihnen immer mehr Aufgaben und damit verbundene Ausgaben zugewiesen. Ich erwähne nur den Anteil der Kosten der Unterkunft. Schaut man sich die aktuellen Sparmaßnahmen der Bundesregierung an, dann muss man sagen: Die Mittel für die Städtebauförderung zu kürzen, ist kontraproduktiv. Wenn man die Programme "Stadtumbau Ost" und "Soziale Stadt" infrage stellt, wie will man dann noch die Abwanderung stoppen? Wir brauchen eine städtebauliche Aufwertung und Qualifizierungs- und Beschäftigungskonzepte im Rahmen des Programms "Soziale Stadt". In diesem Bereich zu kürzen, ist ein schwerwiegender politischer Fehler. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn wir mit den herkömmlichen Rezepten der Schrumpfung ostdeutscher Regionen nicht beikommen, müssen wir uns fragen, wie ein selbsttragender Zukunfts- und Entwicklungspfad für die neuen Länder aussehen kann. Wir sagen ganz klar: Wir brauchen einen Perspektivwechsel in der Wirtschaftsförderung. Die Förderpolitik muss neu ausgerichtet werden, weg von der Investitions- und Infrastrukturförderung, hin zu einer Bildungs- und Innovationsförderung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Förderpolitik muss ferner daran angepasst werden, dass mehr als 80 Prozent der Arbeitsplätze in Kleinst-, Klein- und mittelständischen Unternehmen existieren. In Ostdeutschland gibt es viele Unternehmensgründungen. Wir merken aber, dass viele Akteure und Projekte gerade in schrumpfenden Regionen nicht auf dem Radarschirm gängiger staatlicher Infrastrukturprogramme sind. Nur 5 Prozent der industriellen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung werden in den neuen Bundesländern getätigt. Das ist deutlich zu wenig. Wir sagen deshalb: Die Investitionszulage muss in eine Innovationszulage umgewandelt werden. Wir sagen auch ganz klar: Die Stärkung des Bildungs- und Forschungsstandorts Ostdeutschland hat für uns oberste Priorität. Statt 10 Kilometer Autobahn zu bauen, sollten wir aus den Mitteln des Solidarpakts II lieber ein Fraunhofer-Institut finanzieren. Das bringt Ostdeutschland voran; das ist die zentrale Aufgabe. Die Zukunftsperspektive Ostdeutschlands hängt nämlich von seiner Innovationsfähigkeit ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Schlüssel zur Reökonomisierung und zur ökologischen Modernisierung Ostdeutschlands liegt bei den erneuerbaren Energien. Sie sind der Wirtschafts- und Jobmotor. Weitere wirtschaftliche Entwicklungschancen für die neuen Bundesländer sehen wir in den noch jungen und forschungsintensiven Entwicklungsfeldern der Umwelt-, Energie-, Bio- und Nanotechnologie, im Technologiefeld Optik sowie in der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Gesundheitswirtschaft. Damit dies zu einem selbsttragenden Zukunfts- und Entwicklungspfad werden kann, braucht es vor allen Dingen eines, nämlich eine starke Zivilgesellschaft, den Mut der Bürgerinnen und Bürger. Der zentrale Impuls der friedlichen Revolution 1989 ist für uns die Selbstermächtigung der Menschen zum politischen Handeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir brauchen dringend eine Stärkung der Kultur der Selbstständigkeit und Unterstützung von Unternehmungen und Eigeninitiativen. Ostdeutschland als Labor für wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse braucht neue Formen der Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen Politik, Verwaltung, Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen. Wir reden jetzt zwar nicht im Detail über den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit, aber in diesem steht es richtig drin: Es geht um das "noch nicht aktivierte Engagementpotenzial", um die Aktivierung von Eigenverantwortung und Gründungswillen vieler ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger. Letztlich geht es darum, mehr Handlungsräume für regional angepasste Innovationskonzepte, beispielsweise über Regionalbudgets, zu eröffnen. Leider ist die Initiative, die Minister de Maizière in diese Richtung gestartet hat, von den Ländern zurückgewiesen worden. Ich bedaure das zutiefst. Abschließend darf ich sagen: Herr Minister, auch wenn wir jetzt nicht im Einzelnen den Jahresbericht diskutieren, ist doch festzuhalten: Die neue Tonlage, die von Ihnen im Bericht angeschlagen wird, ist richtig. Wir werden Sie aber natürlich nicht an Berichten, sondern an politischen Konzepten und politischen Taten messen. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Michael Glos erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Michael Glos (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar, dass ich dafür ausgesucht worden bin, hier zum Thema "20 Jahre Wiedervereinigung" als Einziger, der nicht aus den neuen Bundesländern kommt, reden zu dürfen. Mein Wahlkreis lag an der Zonengrenze, die es ja nun nicht mehr gibt. Für mich war das die Erfüllung eines Traumes und der Höhepunkt meines politischen Lebens, den Mauerfall und die Wiedervereinigung erleben zu können. Wenn man sieht, was daraus geworden ist, dann ist es eigentlich schade, dass wir über dieses Thema nur eine Stunde im Deutschen Bundestag debattieren. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das liegt aber an Ihrer Koalition!) Das zeigt auch, wie selbstverständlich die Wiedervereinigung nach 20 Jahren inzwischen geworden ist. Ich kann nur sagen: Wenn sich diejenigen, die die Wiedervereinigung herbeigeführt und möglich gemacht haben, so im Klein-Klein ergangen hätten wie manche Redner heute, dann wäre dieses große Werk der deutschen Einheit nie zustande gekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der heutige Tag ist die Gelegenheit, auch denjenigen zu danken, die dies möglich gemacht haben. Dieser Dank richtet sich mit Sicherheit an die Menschen in der ehemaligen DDR, die auf die Straße gegangen sind, friedlich demonstriert haben und Risiken eingegangen sind. All dies ist aber auch durch die Weichenstellungen, die an allererster Stelle von Helmut Kohl vorgenommen wurden, und durch die Unterstützung von George Bush und Michail Gorbatschow möglich gemacht worden; ich kann nicht alle aufzählen. Auch das Vertrauen, das sich die Deutschen in der Welt wieder erworben hatten, hat dieses wunderbare Ereignis möglich gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich war am 9. November 1989 im Bundestag in Bonn und saß in der ersten Reihe, weil ich damals finanzpolitischer Sprecher meiner Fraktion war. Wir haben damals über das Vereinsförderungsgesetz diskutiert, das dann erst später verabschiedet worden ist. Aber es gab ein paar Leute, die gesagt haben: "Ach, verabschieden wir doch erst dieses Vereinsförderungsgesetz, und danach beschäftigen wir uns mit dem Mauerfall." Ich habe das verhindert. Das Thema ist also zu allen Zeiten kleinlich angegangen worden, nicht nur heute von Frau Lötzsch. (Heiterkeit) Zu den Errungenschaften, auf die wir hätten verzichten können, gehört sicherlich die PDS. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Da wäre Ihnen viel verloren gegangen! - Zuruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) - Ich bitte um Vergebung, Frau Kollegin. - Aber ansonsten war die Wiedervereinigung ein wunderbares Geschenk: Wie viel mehr Möglichkeiten wir Deutsche erhalten haben, um wie viel reicher Europa geworden ist, wie der Frieden in der Welt vorangebracht worden ist! Es war ein Fauxpas von Ihnen, Frau Lötzsch, als Sie gesagt haben, keines der führenden Ämter im Staat sei mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt worden. Frau Bundeskanzlerin - ich habe Ihrer Regierung angehört; bei aller Hochachtung: ich will ihr nicht mehr angehören; insofern ist das kein "Radfahren" -, ich finde, Sie sind das beste Beispiel dafür, wie großartig die Menschen, die aus den neuen Bundesländern gekommen sind, hier angenommen worden sind, wenn sie die Kraft hatten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Forbes-Magazin hat Sie einmal zur mächtigsten Frau der Welt erklärt. Wir sind heute sehr stolz auf das, was wir als Bundesrepublik Deutschland gemeinsam erreicht haben. Ich möchte noch einmal sagen, dass es dabei ganz entscheidende Weichenstellungen gab. Ganz wichtig war, dass man sich für die soziale Marktwirtschaft entschieden hat. Ganz wichtig war, dass Theo Waigel die D-Mark noch in der damaligen DDR eingeführt hat. Das war ein sehr großes Risiko. Ich war damals finanzpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, und ich habe auch zu den Bedenkenträgern gehört. Das muss ich zugeben. Ich habe einmal - dazu hat mich einer angestichelt - in einer Sitzung des engeren Fraktionsvorstands Helmut Kohl gefragt, was denn geschehen würde, wenn wir die D-Mark in der DDR einführten und die DDR hinterher dem Beitritt nicht zustimmte. - Er hätte mich beinahe gefressen. (Heiterkeit) Ich werde nie vergessen; er hat gesagt: Solche Fragen stellt man nicht. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Ich denke, wenn wir über die historische Wahrheit reden, sollte man auch über manch kleinliches Denken, das damals vielleicht vorhanden war, sprechen. Aber noch einmal: Die D-Mark war die Erfolgsgeschichte. Deswegen habe ich mich auch gar nicht gewundert, dass sich unsere Landsleute aus den neuen Bundesländern sehr viel schwerer dabei getan haben als wir, von der D-Mark Abschied zu nehmen. Die D-Mark steckt im Euro, und der Euro ist heute unser Schicksal in Europa. Es hat sich gezeigt, dass die Menschen das in Krisen auch gespürt haben. Ich finde, wir haben eine ungeheuer hohe Friedensdividende erreicht. Ich bedanke mich herzlich - als gläubiger Christ sage ich: beim Herrgott; andere können sagen: beim Schicksal, und ich sage auch: bei allen Menschen, die mitgeholfen haben -, dass die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Deutschland so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist. Ich finde, das ist ein Grund zur Freude und nicht zum Jammern. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Iris Gleicke das Wort. (Beifall bei der SPD) Iris Gleicke (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen in drei Tagen den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Das ist zweifelsohne ein wirklich guter Grund zu feiern. Aber einigen ist offenbar schon jetzt so feierlich zumute, dass es ihnen die Sinne ein bisschen vernebelt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es manchen gar nicht so sehr um eine sachliche Auseinandersetzung und Bestandsaufnahme nach 20 Jahren deutscher Einheit geht. Herr Kollege Glos, es geht nicht um Kleinlichkeiten; aber es muss um diese Bestandsaufnahme gehen. Allerdings muss ich auch sagen, liebe Frau Kollegin Dr. Lötzsch: Ihr Beitrag war dazu kein wirklich geeigneter. (Beifall bei der SPD) Ich gewinne diesen Eindruck zum Beispiel dann, wenn die nach der Wende vollzogene Deindustrialisierung Ostdeutschlands penetrant geleugnet wird. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Reindustrialisierung!) Ihre wichtigste Botschaft lautet: Helmut Kohl und die damalige Bundesregierung haben alles richtig gemacht. Aber damit, meine Damen und Herren, sind zwei weitere Botschaften verbunden, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Habe ich doch gar nicht gesagt, Frau Gleicke! Stimmt doch gar nicht!) die nicht zuletzt an die jungen Leute im Osten gerichtet sind. Diese Botschaften lauten: Vor der Wende ist in der DDR nichts geleistet worden, es gab keine konkurrenzfähige Industrie, eure Eltern und Großeltern sind und bleiben ganz alleine verantwortlich für die heutigen Probleme. - Herr Kurth, Ihr Beitrag hat genau dies noch einmal dokumentiert. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Eben nicht!) Ich möchte zwei Sätze aus dem Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit vorlesen - Herr Kollege Kurth, vielleicht hören Sie ganz genau zu -: Die mit der Privatisierung und Sanierung der Staatsunternehmen beauftragte Treuhandanstalt konnte aufgrund ihres konsequenten Privatisierungskonzepts bereits 1994 ihren Kernauftrag, den Unternehmensbestand zu privatisieren, weitgehend abschließen. Damit war eine grundlegende Voraussetzung für die Herausbildung einer leistungsfähigen privaten Unternehmensbasis in den neuen Ländern geschaffen. Das steht übrigens auf Seite 14. Das ist wirklich toll, das ist ganz großes Kino. Ich garantiere Ihnen, dass jeder Ostdeutsche, der das damals wie ich bewusst miterlebt hat, diesen Satz als Realsatire empfinden muss. (Beifall bei der SPD) Ich erinnere kurz daran, was damals wirklich passiert ist: Mit der Art und Weise, wie die Währungsreform gemacht worden ist, gingen den ostdeutschen Unternehmen die Märkte im ehemaligen Ostblock über Nacht verloren. Der von der FDP in den Einigungsvertrag diktierte Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" war ein fundamentaler Fehler, der Investitionen ausgebremst hat. Bei den Privatisierungen durch die Treuhand nutzten nicht wenige der sogenannten Investoren die günstige Gelegenheit, sich missliebiger ostdeutscher Konkurrenz zu entledigen. Beispiele dafür gibt es viele, die Zerschlagung der "Glasring Ilmenau" ebenso wie die Abwicklung der Deutschen Kugellagerfabriken Leipzig. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Da ging es um Planwirtschaft!) Ostdeutschland wurde in den meisten Bereichen zur bloßen Werkbank des Westens deklassiert, und das ist leider heute immer noch so. Die zwangsläufige Folge war eine katastrophale Massenarbeitslosigkeit mit verheerenden ökonomischen und seelischen Folgen für die Betroffenen, die bis heute noch nachwirken. Die Arbeitslosigkeit - das ist von einigen Rednern angesprochen worden - ist immer noch nahezu doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Wer dies alles leugnet und hinter Floskeln zu verstecken sucht, trägt in der Tat nicht zur Vollendung der deutschen Einheit bei. (Beifall bei der SPD) Ich behaupte nicht, dass man alle Betriebe hätte retten können. Aber manches hätte man garantiert vermeiden können, und man hätte es vermeiden müssen, meine Damen und Herren. Davon bin ich überzeugt. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Hinterher ist man immer schlauer!) In Wirklichkeit wissen Sie das auch, aber Sie wollen es nicht sagen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ich habe es doch gesagt!) Stattdessen deklarieren Sie alle Probleme und Schwierigkeiten im Prozess der deutschen Einheit ausnahmslos als Folgen oder Spätfolgen der DDR-Diktatur (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) und lasten sie damit einseitig den Ostdeutschen an. Das ist eben nicht sachgemäß. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, der Diktatur lasten wir das an!) Deshalb hilft es leider nicht viel, wenn der Bundespräsident die "westdeutsche Ignoranz gegenüber den Leistungen im Osten" kritisiert und dies sicherlich aufrichtig und gut meint. Deshalb hilft es leider auch nicht viel, Herr Minister de Maizière, wenn Sie in Ihrem Bericht "Defizite bei der Anerkennung von ostdeutschen Lebensleistungen und Geschichtserfahrungen" anprangern. Dennoch spreche ich Ihnen ganz ausdrücklich meinen Dank und meine Hochachtung dafür aus, dass es in diesem Bericht aufgenommen ist. Sie haben damit einen sehr wichtigen Punkt aufgegriffen, den Sozialdemokraten wie Wolfgang Thierse schon lange thematisieren. Sie sind damit aber, wie Sie jetzt auch an der Debatte und den Zwischenrufen mitbekommen konnten, Ihren Parteifreunden um Lichtjahre voraus. Meine Damen und Herren, im Osten ist nicht nur in den letzten 20 Jahren etwas geleistet worden. Wir dürfen nicht zulassen, dass mit den Biografien unserer Eltern und Großeltern so acht- und würdelos umgegangen wird. Sie haben unter den unendlich schwierigen Bedingungen einer Diktatur Großartiges geleistet; darauf dürfen sie stolz sein. Es gab eben nicht nur die Stasi-Spitzel oder die SED-Funktionäre, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Natürlich nicht nur! Na, klar! Richtig!) sondern auch die vielen Anständigen, die das richtige Leben im falschen System gelebt haben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Auch das sage ich mit tiefer Überzeugung und dem gleichen Engagement: Wir dürfen stolz auf das sein, was wir in den letzten 20 Jahren deutscher Einheit erreicht haben. Dank der Solidarität des Westens und dank des Fleißes, des Mutes und der Anpassungsbereitschaft der Ostdeutschen hat es bereits großartige Fortschritte gegeben. Uns bringen weder Schönfärberei noch Schwarzmalerei weiter; im Sinne einer ehrlichen Bilanz müssen wir aber nüchtern festhalten, dass noch viel zu tun ist. Es gilt, die soziale Einheit zu vollenden. Das ist unsere wichtigste Aufgabe. Insofern sage ich sehr klar: Der Solidarpakt II muss unangetastet bleiben; er ist und bleibt die wichtigste Grundlage für die Fortsetzung des Aufbaus Ost. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen für die neuen Bundesländer und in den neuen Bundesländern eine nachhaltige Finanzpolitik, um Spielräume für Forschung und Entwicklung, für Aufbauleistungen und Infrastruktur zu schaffen. Alle Kürzungen zulasten der Entwicklung Ostdeutschlands - bei der Städtebauförderung, den CO2-Gebäudesanierungsprogrammen und den Gemeinschaftsaufgaben zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie des Küstenschutzes - müssen umgehend rückgängig gemacht werden. Wenn Sie das nicht machen, bedeutet dies für viele Investitionen in den Kommunen das Aus. Das bedeutet, dass Tausende Arbeitsplätze gefährdet werden, gerade in der mittelständischen Bauwirtschaft. Von dieser Bundesregierung gibt es kein klares Bekenntnis zum Aufbau Ost. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das stimmt nicht!) Sie setzen leichtfertig aufs Spiel, was noch immer nicht vollendet ist: (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Stimmt auch nicht!) die soziale Einheit unseres Landes. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Arnold Vaatz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Spiegel hat in seiner letzten Ausgabe eine sehr interessante Betrachtung angestellt: Er ist der Frage nachgegangen, wie die Stimmung bei den europäischen Nachbarn in den Jahren 1989 und 1990 in Bezug auf die Frage der deutschen Wiedervereinigung gewesen ist, und hat festgestellt, dass es eine ungeheure Feindseligkeit gegenüber dem Gedanken einer Wiedervereinigung gegeben hat: von Margaret Thatcher über Ruud Lubbers, Giulio Andreotti und viele andere bis hin zu Mitterrand, am Anfang bis hin zu Gorbatschow. Als ich mir das durchgelesen habe, ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen: Was wäre denn gewesen, wenn in dieser Situation im Bundeskanzleramt ein Mensch gesessen hätte, der der deutschen Wiedervereinigung ebenso feindselig gegenübergestanden hätte wie die eben genannten Menschen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte Ihnen sagen, dass dieser Gedanke für mich gar nicht so abwegig ist: Einem solchen Menschen hätte es mit den entsprechenden Mehrheiten im Deutschen Bundestag ohne Weiteres gelingen können, die deutsche Wiedervereinigung im letzten Augenblick zu vereiteln, und zwar leichter, als es Helmut Kohl und seiner Mannschaft mit vielen Mühen gelungen ist, die deutsche Wiedervereinigung zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das sollte man sich einmal durch den Kopf gehen lassen. Es ist selbstverständlich richtig, dass die große Vorleistung dafür auf den ostdeutschen Straßen erbracht worden ist. Ich will mit diesen Worten aber nur sagen, dass es zu keinem Augenblick selbstverständlich gewesen ist, dass aus dieser guten Vorleistung auf den Straßen Ostdeutschlands am Ende tatsächlich ein Deutschland - auch ein Europa - entsteht, das in Frieden und Freiheit wiedervereinigt ist. Das verdanken wir in hohem Maße der Regierung von Helmut Kohl. Das verdanken wir Wolfgang Schäuble, dem ich von diesem Platz aus ganz herzlich eine vollständige Genesung wünschen möchte. (Beifall) Wir danken es Theo Waigel, wir danken es der Regierung von Lothar de Maizière, und, meine Damen und Herren, wir verdanken es auch noch einem Menschen - (Jörg van Essen [FDP]: Hans-Dietrich Genscher!) ich bin ein bisschen traurig, dass er so selten genannt wird -: dem damaligen EG-Kommissionspräsidenten, Jacques Delors, der uns in enormem Maße unterstützt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unabhängig davon, wie man zu jeder Einzelentscheidung aus der damaligen Zeit steht - auch ich halte manche Dinge, die damals gemacht worden sind, für falsch, wie ich ganz offen sagen will -, halte ich es für ein Grundgebot des politischen Anstandes, dieser enormen politischen Leistung seine Dankbarkeit zu bezeugen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage das auch, weil man sich ab und zu einmal fragen sollte, was eigentlich gewesen wäre, wenn die deutsche Wiedervereinigung ausgeblieben wäre und wir so eine Art "Österreich-Lösung" gehabt hätten. Vorhin haben schon einige Kollegen den Vergleich mit Polen, mit unserem ehemaligen sozialistischen Nachbarn, angestellt. Ich will das einmal mit Zahlen unterlegen, damit man erkennt, wie die Dimensionen eigentlich sind. In Polen gab es 1990 ein ähnliches wirtschaftliches Niveau wie in der DDR. Es gab - ähnlich wie in der DDR - einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, der eben nicht nach 1990 inszeniert wurde, sondern flächendeckend den ganzen Ostblock betroffen hat. Daher bedurfte es einer völligen Erneuerung der gesamten öffentlichen Infrastruktur - wie bei uns. Aber im Gegensatz zu uns mussten die Polen alle diese Leistungen aus eigener Kraft erwirtschaften. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Vaatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan? Arnold Vaatz (CDU/CSU): Gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Kollege, ich danke Ihnen für Ihre Aufzählung, in der Sie die Leistungen all derer genannt haben, die an der deutschen Einheit mitgewirkt haben. Mir ist allerdings aufgefallen, dass ein Name fehlte - der Name einer Person, die eine enorme Leistung vollbracht hat. Das ist Hans-Dietrich Genscher. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich möchte Sie bitten, deutlich zu machen, dass gerade die Leistung von Hans-Dietrich Genscher, beginnend 1975 mit der KSZE-Schlussakte, einen enormen Einfluss darauf gehabt hat, dass der deutsche Einigungsprozess derart positiv verlaufen ist und dass wir es in der Gemeinschaft der Staaten erreicht haben, eine solche Leistung zu vollbringen. Ich denke, es wäre nur ein Gebot der Fairness, den langjährigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher ebenfalls zu nennen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Arnold Vaatz (CDU/CSU): Frau Kollegin Happach-Kasan, ich entschuldige mich von dieser Stelle aus dafür, dass es mir in der Hitze des Gefechtes und als Folge meines Temperamentes leider unterlaufen ist, Hans-Dietrich Genscher in meiner Aufzählung zu vergessen. Ich hole das jetzt mit dem Bekenntnis tiefer Zerknirschung nach und sage Ihnen dazu, dass ich es ihm schon sehr oft persönlich gesagt habe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, wir waren gerade bei der Situation, die sich in Polen eingestellt hatte, und ich wollte mit Zahlen belegen, was sich dort wirklich ereignet hat. In Polen betrug das kaufkraftbereinigte Einkommen pro Haushalt im Jahre 1996, also sechs Jahre nach 1990, etwa 4 200 Euro, während es in Ostdeutschland im selben Jahr 11 000 Euro waren; das ist fast das Dreifache. Im Jahr 2007 hatten die polnischen Haushalte im Durchschnitt 7 700 Euro und die ostdeutschen Haushalte im Durchschnitt 15 000 Euro zur Verfügung; das ist ungefähr das Doppelte. Das sind Zahlen der Europäischen Union, die Sie nachlesen können. Nun sind unsere polnischen Nachbarn aber nicht dümmer oder fauler als wir. Ganz im Gegenteil: Viele von ihnen - und unter ihnen viele Ärzte und Ingenieure - haben, weil sie ihre Familien nach vorne bringen wollten, Sommer für Sommer auf ostdeutschen Feldern gearbeitet und dort Arbeiten verrichtet, die deutschen Arbeitslosen angeblich überhaupt nicht mehr zuzumuten waren. Ich habe einen ungeheuren Respekt vor unseren polnischen Nachbarn, ohne die dieses Europa von heute niemals so zustande gekommen wäre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Menschen mussten alles mit eigener Kraft machen - ohne durch eine Wiedervereinigung etwas abrufen zu können, wie wir es konnten - und sind heute so weit wie wir 1993/94. Das ist die Perspektive, die auf uns gewartet hätte. Dies ergibt sich auch aus dem Schürer-Bericht. Schürer hatte damals dem Politbüro eine Vorlage gemacht, in der es hieß, dass, nur um die Schulden zu stoppen, ein Lebensstandardverlust von 20 bis 30 Prozent in Kauf genommen werden müsste. Das wäre der freie Fall gewesen. Das ist Ihr Werk, Ihre Hinterlassenschaft, und dazu müssen Sie von der Linken stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ihre, Frau Lötzsch!) Ihr Zerstörungswerk in Ostdeutschland war eine zweistufige Rakete. 1946 haben sie die Marktwirtschaft in der Ostzone abgeschafft und durch die sozialistische Planwirtschaft ersetzt. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich nicht!) - Die Partei, deren Geld Sie haben, nicht Sie persönlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach 1990 haben Sie nicht im Mindesten zu Ihrem Zerstörungswerk gestanden. Sie haben eine formale Entschuldigung vorgebracht und sich später in der deutschen Politik als Lobby der Täter profiliert, für die Sie sich vorher entschuldigt haben. Herzlichen Dank! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wie die heutige Rede beweist!) Als Nächstes haben Sie nichts dazu beigetragen, dass die deutsche Wiedervereinigung ein Erfolg wird. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!) Sie haben an ihr herumgemäkelt. Sie haben versucht, die Freude an der Wiedervereinigung nach Kräften zu zerstören. Sie haben ihr alle Steine in den Weg gelegt, die Sie finden konnten. Auch dafür herzlichen Dank! Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das Gegenteil ist der Fall!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3078? Ich bitte um Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktion der SPD und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3079? Ich bitte um Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen von Armut bekämpfen - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen - Drucksachen 17/880, 17/675, 17/2092 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Carsten Linnemann ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten - Drucksachen 17/2921, 17/3081 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Carsten Linnemann ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Markus Kurth, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Leistungskürzungen bei den Unterkunftskosten im Arbeitslosengeld II verhindern - Vermittlungsverfahren mit den Ländern unverzüglich aufnehmen - Drucksache 17/3058 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Carsten Linnemann von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schwerpunktmäßig debattieren wir heute über zwei Anträge, die sich auf das Urteil aus Karlsruhe vom 9. Februar beziehen. Seitdem ist viel passiert. Wir haben Anhörungen durchgeführt. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ist ausgewertet worden. Seit Montag liegt ein vollständiger Referentenentwurf aus dem Hause von Frau von der Leyen vor. Wir sollten uns zunächst mit diesem Referentenentwurf beschäftigen, danach würde ich gerne noch auf Ihre Anträge eingehen. In der gegenwärtigen Diskussion kommt mir das Urteil aus Karlsruhe zu kurz. Wir sprechen nicht mehr darüber. Es hat noch niemandem geschadet, konkret auf das Urteil Bezug zu nehmen und es zu zitieren. Das möchte ich heute machen und mit einem zentralen Satz beginnen, der aus meiner Sicht für die gesamte heutige Debatte entscheidend ist. Ich zitiere: "Schätzungen ‚ins Blaue hinein' laufen ... einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen gegen" das Grundgesetz. Karlsruhe hat damit gesagt, dass das, was Sie von Rot-Grün damals bei der Berechnung der Regelsätze gemacht haben, nicht sachgerecht war. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU war doch dabei! Im Vermittlungsausschuss!) Deshalb sagt uns Karlsruhe jetzt, dass wir ein transparentes, nachvollziehbares Verfahren nutzen sollen. Das machen wir. Ein entsprechender Referentenentwurf liegt vor. Lassen Sie mich kurz auf die wichtigsten Punkte dieses Entwurfs eingehen: Über die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wird viel gesprochen. Im Urteil wird ausdrücklich bestätigt - ich zitiere -: Grundsätzlich ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ein "taugliches Berechnungsverfahren zur Bemessung des Existenzminimums". Die EVS kann also auch künftig als Datenbasis benutzt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat sie bei dem Referentenentwurf herangezogen. Die Angaben von 60 000 Haushalten zu rund 230 Positionen wurden vom Statistischen Bundesamt ausgewertet. Das Ergebnis bildet die Basis. Das Verfahren ist also verfassungskonform. Zum Verfahren: Auch hier hat das Urteil eine klare Sprache. Ich zitiere: Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber - und kein anderer - alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen. Wir machen nicht den Fehler, einfach irgendwelche Abschläge zu nehmen. Entweder die Positionen sind zu 100 Prozent drin, oder sie sind draußen. Bei Möbeln zum Beispiel hat man damals einen Abschlag von 20 Prozent vorgenommen und 80 Prozent angesetzt. Diesen Fehler machen wir nicht. Darüber hinaus gibt es Sonderauswertungen. Das ist bei den Positionen erforderlich, bei denen die Referenzgruppe nicht herangezogen werden kann, beispielsweise beim Thema Mobilität. Außerdem schauen wir uns die Regelsätze für Kinder an und führen eine eigenständige Ermittlung durch. Lassen Sie mich noch einen Satz zum Existenzminimum sagen. Wir reden die ganze Zeit über das "menschenwürdige Existenzminimum". Dieses Schlagwort bestimmt auch die Berichterstattung in der Presse. Ich zitiere: Das Sozialstaatsgebot ... - auch hier ist das Urteil klar - erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber - jetzt kommt es - ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt. Wir haben also existenzsichernde Positionen, beispielsweise Grundnahrungsmittel, und nichtexistenzsichernde Positionen wie beispielsweise Flugreisen oder Autos. Darüber gibt es keinen Dissens. Diese Positionen hatten Sie damals auch nicht drin. Dann gibt es neue Positionen. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt. Wir leben heute im Zeitalter des Internets. Daher haben wir Internetkomponenten aufgenommen. Auch die Praxisgebühr, die es damals noch nicht gab, haben wir aufgenommen. Jetzt kommt ein entscheidender Punkt, über den wir in den Medien oft diskutieren, die sogenannten Wertentscheidungen. In diesem Zusammenhang führen Sie oft das Beispiel Alkohol an. Das Bundesarbeitsministerium schlägt vor, Alkohol nicht länger zu berücksichtigen, weil es nicht zum menschenwürdigen Existenzminimum gehört. Das ist - diesbezüglich haben Sie recht - am Ende des Tages eine politische Entscheidung. Dafür wurden wir gewählt, und deswegen unterstützen wir in diesem Punkt das Ministerium. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der letzte wichtige Punkt - in diesem Zusammenhang möchte ich nicht aus dem Urteil zitieren, weil sich das Thema wie ein roter Faden durch das gesamte Urteil zieht - sind die Lebenschancen für Kinder. Wir sagen: Es geht nicht nur um die Absicherung der materiellen Bedürfnisse, sondern auch um die Absicherung der immateriellen Bedürfnisse, um die Teilhabe an der Gesellschaft. Deshalb bringen wir das Bildungspaket auf den Weg. Wir gehen die Probleme an, indem wir zielgenau auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Unserer Meinung nach hat das Arbeitsministerium seine Hausaufgaben gemacht. Ich habe den Eindruck, dass wir bei vielen Punkten, die in dem Antrag der Grünen angesprochen werden - Herr Kurth, Sie sprechen vermutlich gleich auch noch -, gar nicht so weit auseinanderliegen. Ich glaube sogar, das gilt für mindestens die Hälfte der Punkte, beispielsweise für die eigenständige Bemessung des Regelsatzes für Kinder. Ein Dissens besteht bei anderen Punkten. Beim Thema Kommission zum Beispiel vertreten wir diametral entgegengesetzte Auffassungen. Wir verstehen das Urteil von Karlsruhe so, dass Karlsruhe den Gesetzgeber und nicht irgendwelche Kommissionen beauftragt hat, das Problem der Neuberechnung der Regelsätze anzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So steht es im Urteil!) Deshalb können wir nicht verstehen, dass Sie den Satz jetzt pauschal auf 420 Euro erhöhen wollen. Sie beziehen sich auf einen Lobbyverband. Aber genau das wollte Karlsruhe nicht. Deshalb können wir unter dem Strich Ihre Anträge nicht unterstützen. Zum Schluss etwas Grundsätzliches. Warum stehen wir heute überhaupt hier? Was machen wir hier? Wir reden über die Neubemessung der Regelsätze. Diese werden wir, denke ich, bis zum Ende des Jahres zum Abschluss bringen müssen. Die Organisationsreform haben wir schon gemacht. Das heißt, wir schaffen das Fundament dafür, dass die Hilfebedürftigen in Deutschland Sicherheit haben. Das war die Pflicht. Die Kür ist natürlich auch wichtig. Sie besteht darin, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir den Menschen eine Perspektive geben können, dass sie so schnell wie möglich wieder einen Arbeitsplatz finden. Da schauen wir uns beispielsweise die arbeitsmarktpolitischen Instrumente an. Ich war dieser Tage bei der Bundesagentur für Arbeit und habe dort mit Mitarbeitern gesprochen. Da hat kaum mehr einer den Überblick über die Instrumente. Wenn ich mir die ersten fünf Kapitel des SGB III anschaue, dann stelle ich fest, dass es da kein Prinzip, kein System mehr gibt. Daher sagen wir, wir brauchen für die Vermittler vor Ort einen Koffer mit schlagkräftigen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Das ist der nächste Schritt, den wir angehen, damit Menschen endlich wieder in Beschäftigung kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Mechthild Rawert [SPD]: Deshalb wollten Sie die Zahl der Vermittler nicht erhöhen!) Ein anderer Punkt sind die Hinzuverdienstmöglichkeiten. Dazu steht im Koalitionsvertrag, dass wir sie verbessern wollen. Auch das ist wichtig, damit wir Anreize dafür schaffen, dass jemand in Arbeit kommt und nicht draußen bleibt. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Sie sehen, das ist ein Gesamtkonzept. Wir gehen das im Bündel an, weil wir nicht nur die Kurzzeitarbeitslosigkeit senken wollen, sondern endlich auch die Langzeitarbeitslosigkeit angehen wollen. Ich glaube, dass dieses Konzept gut ist. Ich hoffe, dass ich das Gesamtkonzept sachlich beschrieben habe. In diesem Sinne bedanke ich mich und wünsche Ihnen alles Gute. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Dagmar Ziegler von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dagmar Ziegler (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war für uns alle ein Paukenschlag. Zum ersten Mal haben Verfassungshüter genau definiert, was ein Mensch zum Leben braucht - nicht in Cent und Euro; aber sie haben ein Prinzip verbindlich vorgegeben. Der Mensch braucht nicht nur Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Teilhabe an Bildung, Zugang zu Kultur und die Möglichkeit zum politischen Engagement gehören in einem Sozialstaat wie dem unseren genauso selbstverständlich zum Existenzminimum; denn die Bürgerrechte sind universell. Der Leistungsberechtigte gibt sie eben nicht an der Tür des Jobcenters ab. Meine Fraktion hat deshalb einen Antrag erarbeitet und in den Bundestag eingebracht, der einen Weg zur Umsetzung des Urteils aufzeigt. Bitter notwendig war dieser Antrag; denn die Bundesregierung hat die Chancen des Urteils für mehr Teilhabe und Bildung und einen stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie ich meine, bereits jetzt verspielt. Gefordert haben die Richter ein Leben in Würde auch für Menschen in Not. Bekommen haben sie einen Gesetzentwurf, der Misstrauen gegen Hilfsbedürftige atmet und populistische Ressentiments schürt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gefordert hat Karlsruhe, dass die Regelsätze transparent und nachvollziehbar ermittelt und begründet werden. Mit ansehen mussten sie ein monatelanges Versteckspiel der zuständigen Ministerin von der Leyen, die die vollständigen Daten und Auswertungen des Statistischen Bundesamtes bis heute dem Bundestag und der Öffentlichkeit vorenthält. Gefordert haben die Richter einen umfassenden Zugang zu Bildung gerade für Kinder. Bekommen haben sie ein vollmundig angekündigtes Bildungs- und Teilhabepaket, das sich bei näherer Betrachtung bestenfalls als gutgemeinter Anfang, schlechtestenfalls als übler PR-Gag interpretieren lässt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Denn werfen wir doch einmal einen Blick in das Bildungspäckchen der Bundesregierung. Bildungschipkarte - groß angekündigt, verkümmert zu einer Pilotphase in dem einen oder anderen Modellregiönchen. Vollmundig in Aussicht gestellt: Klavier- und Geigenunterricht für alle, außerdem noch Sportverein, Ferienfreizeiten usw. Zusammengeschmolzen ist das zu einem Teilhabebudget von 10 Euro im Monat. Damit, meine Damen und Herren, spielen die Kinder nicht auf einer Stradivari, sondern sie blasen allenfalls auf einem Kamm. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Schulbedarfspaket - 100 Euro im Jahr für Schulranzen, Zirkel und Hefte -, das ist eine Leistung mit Substanz, aber sie ist weder neu noch von Ihnen. Das Schulbedarfspaket haben die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen noch in der Großen Koalition konzipiert und durchgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Mechthild Heil [CDU/CSU]: Aber nicht allein!) Das warme Mittagessen ist eine sinnvolle Leistung - auch das ist eine Forderung unserer Fraktion -, aber das reicht nicht, um die Vorgaben des Verfassungsgerichts zu erfüllen. (Jörg van Essen [FDP]: Wir setzen es um!) - Sie regieren ja auch manchmal, ab und zu. - Denn der Haken beim Mittagessen ist, dass in Deutschland nur jedes fünfte Kind überhaupt Zugang zu einem Mittagessen in Kita oder Schule hat. Alle anderen haben entweder keinen Kitaplatz bekommen oder gehen auf eine Schule, die immer noch mittags endet. Wenn wir es ernst meinen, dass wir Bildungschancen für alle schaffen wollen, müssen wir genau hier ansetzen. Hier reicht Ihr Maßnahmenpaket eben nicht aus. (Beifall bei der SPD) Wir müssen den Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen vorantreiben. Denn nur diese sind die Orte, an denen alle Kinder Förderung und Unterstützung erfahren, und zwar völlig unabhängig von ihren Eltern. Dort kann ein Kind Geigenunterricht bekommen, nicht weil der Vater gut verdient, sondern weil das Kind talentiert ist und Lust zum Musizieren hat. So schlicht ist das. Deshalb brauchen wir eine Offensive für den Ausbau von Bildungsinfrastruktur, so wie es in unserem Antrag gefordert wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dies können Länder und Kommunen nicht allein schaffen; das wissen wir alle. Vielen steht das Wasser bis zum Hals, was auch eine Folge Ihrer verfehlten Steuerpolitik ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deshalb muss der Bund den Kommunen und den Ländern beim Ausbau von Bildungsinfrastruktur finanziell unter die Arme greifen. Der Verweis, dafür sei er nicht zuständig, überzeugt nicht. Denn auch hierzu trifft das Bundesverfassungsgericht eine Aussage: Wenn es Länder und Gemeinden nicht aus eigener Kraft schaffen, hat der Bund einen Sicherstellungsauftrag. Der Ausbau von Bildung kann nur als gemeinsame nationale Kraftanstrengung gelingen. Bund, Länder und Kommunen müssen an einen Tisch. Sie müssen sich auf Ausbauziele verständigen, sie müssen definieren, was gute Kitas und Schulen ausmacht, und sie müssen vereinbaren, wer es finanziert. (Beifall bei der SPD) Deshalb lautet unsere immer wiederholte Forderung an die Regierung: Laden Sie endlich zu einer nationalen Kinderkonferenz ein! Vereinbaren Sie mit Ländern und Kommunen einen Bildungspakt! Das ist im Interesse aller Kinder - nicht nur der Kinder im Hartz-IV-Bereich - und erfüllt die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Dazu reichen wir Ihnen gern die Hand. Für ein würdeloses Geschachere stehen wir allerdings in keinem Fall zur Verfügung. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hatten wir eine Aktuelle Stunde zur Neuberechnung der Regelsätze. Heute befassen wir uns mit zwei Anträgen von SPD und Grünen, die allerdings schon kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 entstanden sind. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wussten die schon alles! - Gegenruf der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Genau!) Sie von den Grünen fordern eine unverzügliche Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene auf 420 Euro. Diese Zahl beruht auf Berechnungen aus dem Jahr 2004. Nun werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nicht behaupten wollen, dass sich die Lebensumstände seither nicht verändert hätten. Ihre Berechnungen entbehren einer vernünftigen Datenbasis und sind daher erneut Schätzungen ins Blaue hinein. Schätzungen ins Blaue hinein hat das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Fehler mögen verzeihlich sein, aber man muss die Bereitschaft haben, aus gemachten Fehlern zu lernen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Dann machen Sie mal!) Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, hätten die vergangenen Wochen und Monate besser nutzen sollen, um Ihren Antrag auf die Höhe der Zeit zu bringen. So fordern Sie, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe künftig alle drei Jahre erhoben werden soll. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht gerade diese Regelung nicht beanstandet. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das kann man doch trotzdem machen!) Statt sich darüber zu freuen, dass etwas Verfassungskonformes in Ihren Regelungen war, wollen Sie dies nun auch noch ändern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die vergangenen Tage haben eines sehr deutlich gezeigt: Die christlich-liberale Koalition ist imstande, unter hohem Zeitdruck eine sachgerechte und nachvollziehbare Berechnung der Regelsätze für Arbeitslosen-geld-II-Bezieher vorzulegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daher kann ich nur zu dem Ergebnis kommen, dass Ihre voreiligen Anträge hier und heute nicht nötig waren. Sie wissen so gut wie ich, dass Sie in Kürze neue Anträge zum gleichen Thema, aber auf Basis der aktuellen Daten vorlegen werden. Darüber werden wir dann - das sage ich Ihnen zu - gerne diskutieren. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn wir sie denn kriegen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen verdeutlichen, was wir mit der Neuberechnung der Regelsätze erreicht haben. Das Bundesverfassungsgericht hat - es ist wichtig, dies immer wieder zu betonen - nicht die Höhe der Regelsätze, sondern ihre Herleitung beanstandet. Die Herleitung der Regelsätze haben wir jetzt nachvollziehbar dargelegt. So viel Transparenz wie jetzt gab es noch nie. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben gestern im Ausschuss sinngemäß gesagt, dass die Regelsätze unter den Vorgängerregierungen vom Bundesarbeitsministerium immer nach Kassenlage festgelegt worden sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Kober, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf? Pascal Kober (FDP): Vom Kollegen Schaaf immer gerne. Anton Schaaf (SPD): Geschätzter Kollege Kober, Sie haben gerade über Transparenz gesprochen und gesagt: So viel Transparenz war noch nie. - Der Antrag, den wir vorgelegt haben, enthält im Prinzip eine vergleichende Rechnung: Wie waren die Regelsätze bisher, und wie sind sie neu berechnet worden? Die Grundlagen der Berechnung haben Sie uns im Ausschuss ja erklärt. Würden Sie mir recht geben, dass die SPD-Bundestagsfraktion gestern im Ausschuss erstens den Antrag gestellt hat, die Grundlagen der Berechnung, die Basisdaten, zur Verfügung gestellt zu bekommen, und zum Zweiten gebeten hat, darüber informiert zu werden, wie die Alternativrechnungen aussahen, nämlich bei der Berechnung die unteren 20 Prozent und nicht nur die unteren 15 Prozent der Einkommen zugrunde zu legen? Würden Sie mir auch recht geben - so viel zum Thema Transparenz -, dass die Regierungskoalition dieses Begehren der Opposition nach Transparenz im Ausschuss in Bausch und Bogen abgelehnt hat? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Pascal Kober (FDP): Lieber Herr Kollege Schaaf, vielleicht erinnern Sie sich an die Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe, (Anton Schaaf [SPD]: Ja! Er hat ja dafür gesorgt, dass ihr dagegen wart!) der sehr deutlich dargelegt hat, wie es zur Berechnung des unteren Einkommensquintils, wie man so schön sagt, gekommen ist und warum man der Regierung nicht den Vorwurf machen kann, sie sei von diesem Grundsatz abgewichen. Ungefähr 22 Prozent der Einkommen wurden berücksichtigt; (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das ist doch eine Abweichung vom Verfahren!) das hat der Parlamentarische Staatssekretär, wie ich glaube, plausibel und transparent erläutert. Herr Schaaf, ich bin mir übrigens sicher, dass er auf weitere Nachfrage bereit wäre, Ihnen das noch einmal zu verdeutlichen und zu erklären. (Zuruf von der SPD: Machen Sie das doch mal!) Jetzt zu der anderen Frage, zur Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Auch Sie müssen zugeben, dass uns gestern im Ausschuss vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erläutert worden ist, dass die Rohdaten vom Statistischen Bundesamt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in anonymisierter Form vorliegen und wir auf die sogenannten Daten zur wissenschaftlichen Nutzung - das Stichwort lautet: Scientific Use File - noch warten müssen. Wir arbeiten aber jetzt - ich betone das noch einmal - auf einer viel transparenteren Datenbasis, als Sie es in der Vergangenheit jemals getan haben. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!) Lassen Sie uns nun abwarten, bis uns das Statistische Bundesamt weitere Informationen zur Verfügung stellt. - Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Strengmann-Kuhn, ich greife das auf, was Sie gestern im Ausschuss gesagt haben. Sie haben sinngemäß gesagt, dass die Regelsätze unter den Vorgängerregierungen vom Bundesarbeitsministerium immer nach Kassenlage festgelegt worden sind. Dieses Eingeständnis Ihrerseits hat mich sehr gefreut. Ich möchte Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, darauf hinweisen, dass wir zu den damaligen Zeitpunkten jeweils SPD-Arbeitsminister und SPD-Finanzminister hatten. (Jörg van Essen [FDP]: Genauso ist es!) Sie sollten daher nicht von sich auf andere schließen. Sie sollten sich mit Vorwürfen und haltlosen Behauptungen gegenüber dieser christlich-liberalen Regierung zurückhalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht doch das Gleiche!) Die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen sind für jeden nachprüfbar und nachvollziehbar. Wir begründen klar, was Bestandteil des Regelsatzes ist und was nicht. Maßgabe ist für uns die Sicherung des Existenzminimums. Der Grundbedarf ist für uns unantastbar. Allerdings: Genussmittel wie Alkohol und Tabak gehören für uns nicht zum Grundbedarf, (Christel Humme [SPD]: Ja, klar! Geselligkeit ist nur für Reiche!) genauso wenig wie motorbetriebene Gartengeräte und Schnittblumen. Hier haben wir Wertentscheidungen getroffen, zu denen uns das Bundesverfassungsgericht explizit aufgefordert hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zu diesen Wertentscheidungen gehört - auch darauf muss man hinweisen -, dass wir den Ausgaben für Verkehr eine größere Bedeutung als bisher beimessen, da wir möchten, dass die Menschen mobil sind. Wir messen auch den Ausgaben für Telekommunikation und neue Medien eine größere Bedeutung bei, weil die Teilhabechancen in unserer Gesellschaft immer mehr von neuen Medien abhängen. Wir haben Wertentscheidungen getroffen, die zeitgemäß sind und die Menschen voranbringen, und das ist gut so. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erlauben Sie mir noch ein Wort zu den Bildungsleistungen für Kinder, auf die meine Kollegin Miriam Gruß später noch ausführlicher eingehen wird. Ich finde, dass uns hier ein Meilenstein geglückt ist. Wir werden dazu auch noch einen Weg finden, der, wie man so schön sagt, diskriminierungsfrei ist. Dass Sie als Opposition sich jedoch um den Punkt der Diskriminierung so viel Sorgen machen, ist ein Stück unehrlich. Schon heute haben viele Städte und Kommunen Sozialpässe oder ähnliche Angebote, (Zuruf von der LINKEN: Das haben wir noch viel zu wenig!) die fast alle in Ihrem Sinne nicht diskriminierungsfrei sind. Auf kommunaler Ebene haben Sie von SPD, Grünen und Linkspartei nichts gegen Sachleistungen einzuwenden und setzen diese sogar selbst mit um. Wenn Sie nun hier auf Bundesebene versuchen, das Sachleistungsprinzip als diskriminierend zu brandmarken, dann ist das schlichtweg unehrlich. (Beifall bei der FDP - Widerspruch bei der LINKEN) Es ist gut, dass wir im Gegensatz zu Rot-Grün auch auf Bundesebene etwas für die Bildungschancen und Teilhabechancen von Kindern tun. Es ist gut, was wir tun und wie wir es tun. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Kipping von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die Erhöhung der Hartz-Regelsätze ist ein Lehrstück für das Aufhetzen der Armen gegen die ganz Armen. Jahrelang haben verschiedene Regierungen in diesem Land den Niedriglohnbereich gefördert. Im Ergebnis sind viele Menschen arm, obwohl sie von früh bis abends schuften. Anstatt nun engagiert gegen Lohndumping vorzugehen, benutzt Schwarz-Gelb die Menschen mit Hungerlöhnen, um die Hartz-IV-Regelsätze niedrigzurechnen. Ich finde, das ist verdammt blamabel. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Friseurin mit niedrigem Lohn muss herhalten, um Hartz IV niedrigzurechnen. Das ist ein total durchsichtiges Manöver. Als ob die Friseurin nur einen Cent mehr in der Tasche hätte, wenn es den Erwerbslosen noch schlechter geht. Wir wissen doch, dass das Gegenteil der Fall ist - es ist empirisch bewiesen -: Je schlimmer die Situation von Erwerbslosen ist, umso eher sind diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben, bereit, für niedrigere Löhne zu arbeiten. Das heißt im Klartext: Niedrige Sozialleistungen ziehen das Lohnniveau in der Tendenz nach unten. Wenn man also höhere Löhne möchte, dann muss man sich auch für bessere Sozialleistungen einsetzen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau von der Leyen erweckt den Eindruck, dass die Regelsatzhöhe direkt von den kleinen Löhnen abgeleitet worden ist. Vor diesem Hintergrund muss ich einmal fragen: Wie viel Prozent der Haushalte in der Referenzgruppe sind wirklich Erwerbstätige? Gestern konnte uns der Staatssekretär diese Frage im Ausschuss nicht beantworten. Nur zum Hintergrund, warum ich das nachfrage: In der alten Verbrauchsstichprobe war die Mehrzahl der Haushalte in der Referenzgruppe Rentner und Studierende; die Erwerbstätigen haben nur einen ganz kleinen Teil ausgemacht. Sie wissen also noch gar nicht, ob in der Referenzgruppe tatsächlich viele Erwerbstätige sind, oder Sie wollen es uns verschweigen. (Beifall bei der LINKEN) Frau von der Leyen, Sie haben in der Zeitung gesagt, die Opposition müsse das nun empirisch untermauern. Es gibt eine Berechnung des Paritäters. Er nimmt zumindest die offensichtlichsten Rechentricks heraus und kommt auf einen Regelsatz von 412 Euro. Sie wissen genauso gut wie wir, dass man für eine wirklich eigenständige, fundierte Berechnung die Rohdaten braucht. Aber genau deren Herausgabe verweigern Sie uns; Herr Schaaf hat schon darauf hingewiesen. Gestern im Ausschuss hat Schwarz-Gelb dagegengestimmt. Ja, Sie wollten uns noch nicht einmal die alternativen Berechnungsmethoden, die Ergebnisse zur Verfügung stellen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal! Intransparenz!) Mit der gestrigen Abstimmung im Ausschuss haben wir es nun schwarz auf weiß: Schwarz-Gelb will zwar den Eindruck von Transparenz schaffen, aber Sie wollen keine wirkliche Transparenz, zumindest wenn es um die Information der Opposition geht. Das ist höchstpeinlich. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie erwecken den Eindruck, bei den Abschlägen ginge es nur um Zigaretten und Alkohol. Halten wir einmal fest: Die Zigarettendebatte bewirkt vor allem eines: Nebelschwaden, die von Abschlägen in anderen Bereichen ablenken sollen, (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Richtig!) zum Beispiel beim Bereich Benzin oder Autoreparatur. Ich bin sehr für umweltfreundliche Verkehrsmittel wie Bus und Bahn, muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass man im ländlichen Raum leider häufig das Auto braucht, um bestimmte Orte zu erreichen. 60 Prozent der Hartz-IV-Haushalte leben nun einmal im ländlichen Raum. Wie sollen dann die Betroffenen zu den schönen neuen Bildungsangeboten kommen, die Sie ihnen jetzt anbieten? Sie können sich doch nicht hinstellen und sagen: Toll, wir schaffen neue Angebote, aber wie die Leute dahinkommen, das ist uns egal. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Kipping, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Patrick Kurth? Katja Kipping (DIE LINKE): Mit Vergnügen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kurth, bitte. Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Frau Kipping, in diesem Zusammenhang haben Sie am Montag in einer Pressemitteilung geschrieben: Kollektiver Ansturm auf Büros von Union und FDP (Beifall bei der LINKEN) Wenn die Koalition das im Hinterzimmer auskungeln und das Parlament ausschließen will, dann muss diese Auseinandersetzung auf die Straße getragen werden. Ich empfehle allen Erwerbslosen, in den nächsten Wochen kollektiv Besuche in den Büros von Union und FDP abzustatten ... (Beifall bei der LINKEN - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch gut!) Meine Frage aufgrund meiner persönlichen Planung - es gab in Thüringen mehrere Anschläge auf FDP-Büros; jetzt klatscht keiner, sehr gut - ist: Würden Sie mir recht geben, dass in einer rechtsstaatlichen Demokratie, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Haben Sie was gegen Besuche?) egal, wer regiert, die politische Auseinandersetzung ausschließlich mit der Kraft des Wortes gepflegt wird? Wie stehen Sie zu der Aussage: Gewalt ist keine Lösung? - Sie sprachen vorhin von "aufhetzen": Wie bezeichnen Sie Ihren Artikel hier? (Diana Golze [DIE LINKE]: Von Gewalt war doch gar nicht die Rede! Es ging um Besuche!) Katja Kipping (DIE LINKE): Normalerweise verabredet man mit Leuten aus der eigenen Fraktion, solche Zwischenfragen zu stellen, wenn die Redezeit zu kurz ist. Die Fragezeit wird dann dazu genutzt, noch einmal Punkte anzusprechen, die man unbedingt unterbringen will. Vielen Dank, dass Sie viel Zeit Ihrer Frage dafür genutzt haben, meine Pressemitteilung zu zitieren. (Beifall bei der LINKEN - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wenn Sie jetzt die Frage beantworten würden, wäre das gut!) Zu Ihrer Frage kann ich nur sagen: Ich selbst bin Pazifistin, und wenn Sie bei "Ansturm auf Büros" an Anschläge denken, dann ist das eher Ausdruck Ihrer Denke. (Jörg van Essen [FDP]: Ja, ja!) Ich verstehe unter "Ansturm" natürlich, dass man zu Ihnen hingeht und - das stand auch in der Pressemitteilung - dass Ihnen die Erwerbslosen endlich einmal erklären, wie schwer es ist, mit diesem wenigen Geld über die Runden zu kommen; (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die Sprache ist verräterisch!) denn Sie sind ja offensichtlich der Überzeugung, dass man von 364 Euro im Monat leben kann. Ich glaube, hier ist noch viel Aufklärungsarbeit bei Ihnen nötig. - Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Ich würde gerne auf meine Rede zurückkommen. - Ich finde, die Debatte um Zigaretten ist auch deswegen verlogen, weil dadurch der Eindruck erweckt wird, dass Alkohol und Zigaretten nur ein Problem von Erwerbslosen sind. Es kommt doch auch niemand auf die Idee, den Abgeordneten die Diäten zu kürzen, weil sie eventuell den Whiskeyschwenker in Schreibtischnähe haben, (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wenn Sie ein Alkoholproblem haben, dann ist das doch nicht meine Sache!) und es kommt niemand auf die Idee, den Bankern die Boni zu kürzen, weil sie Champagner trinken. Ich meine, es gibt gute Gründe, den Bankern die Boni zu kürzen, aber nicht wegen ihrer Trinkgewohnheiten. Abschließend möchte ich dann doch noch einige Worte zur SPD sagen. Es ist ja unnötig, daran zu erinnern, wer Hartz IV auf den Weg gebracht hat. Man braucht keinen Vaterschaftstest, um an die rot-grüne Elternschaft von Hartz IV zu erinnern. Nun gibt es Ihren Antrag, und ich finde, mit diesem Antrag erwecken Sie schon klar den Eindruck, dass Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, im Gegensatz zu Schwarz-Gelb, sehr ernst nehmen. Das finde ich sehr erfreulich. Ich muss allerdings sagen: Ich finde es beunruhigend, wie sich der Ton der SPD-Spitze zu diesem Thema verändert hat - und das innerhalb von nur ganz wenigen Tagen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Innerhalb von drei Tagen!) Es steht wirklich zu befürchten, dass die SPD, die am Wochenende als Tiger abgesprungen ist, am Ende im Bundesrat als Schoßhündchen bei Schwarz-Gelb landet. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Allerdings!) Ich hoffe wirklich, dass ich mich sehr irre; denn ich meine, wir müssen hier nicht wie das Kaninchen vor der Schlange vor Schwarz-Gelb stehen und sagen: Wir können ja gar nichts machen, die haben die Mehrheit. - Wir als Rot-Rot-Grün hätten es konkret in der Hand. Wir könnten diesen Gesetzentwurf zu Fall bringen, indem wir erstens mit einer Normenkontrollklage gemeinsam nach Karlsruhe ziehen und deutlich machen: "Hier wird das Urteil missachtet", und zweitens kann man ihn im Bundesrat ablehnen. Im Bundesrat wird es tatsächlich zum Offenbarungseid kommen. Ich glaube, bei der SPD muss man sich entscheiden - man steht jetzt vor einer Weggabelung -, ob man sich gemeinsam mit den Linken für Erwerbslose und Niedrigverdienende einsetzen will (Lachen bei der CDU/CSU) oder ob man - das wollen die Kollegen von der CDU - zur Westentaschenreserve der CDU werden will. (Beifall bei der LINKEN - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wahl zwischen Pest und Cholera!) Ich will nur noch einmal daran erinnern: Der geschäftsführende SPD-Fraktionsvorsitzende hat bereits Bereitschaft zum Kompromiss angekündigt. Ich appelliere an Sie: Lassen Sie sich im Bundesrat die Zustimmung nicht für ein paar symbolische Glasperlen abhandeln. Ich meine, die mindeste Voraussetzung für jede Verhandlung im Vermittlungsausschuss muss sein, dass im Bundesrat nicht die Rechentricksereien der Bundesregierung die Grundlage sind, sondern zumindest die um die schlimmsten Tricksereien bereinigte Berechnung des Paritäters. Mir geht das, was der Paritäter berechnet hat, nicht weit genug, aber ich glaube, die Berechnung des Paritäters muss die rote Linie sein, unter die Sie als SPD im Bundesrat nicht zurückfallen dürfen. (Beifall bei der LINKEN) Grundsätzlich ist zu sagen: Der Kurs von Hartz IV führt in die falsche Richtung. Wir als Linke setzen hier auf einen anderen Kurs. Wir wollen einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn, eine Kindergrundsicherung und mindestens eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Finanziert werden kann das alles, wenn man sich endlich an eine ordentliche Besteuerung der Spekulationen heranwagt. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einige Rednerinnen und Redner haben es schon betont: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt uns auf, ein menschenwürdiges Existenzminimum, das der Maßgabe des Art. 1 des Grundgesetzes entspricht, zu schaffen. Ich wundere mich, wie wenig Sie von der Regierungskoalition in der öffentlichen Darstellung auf diesen Bezug zur Menschenwürde eingehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In der öffentlichen Debatte draußen führen Sie doch hauptsächlich, wenn nicht vollständig, eine miserable Lohnabstandsdiskussion nach dem Motto: Wenn schon die Löhne nicht existenzsichernd sind, dann soll es die Grundsicherung erst recht nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Mit dieser Art der öffentlichen Darstellung, nach der die kleine Verkäuferin dafür herhalten muss, dass die Höhe des Arbeitslosengeldes II unzulänglich bleibt, erklären Sie die Grundsicherungsbezieherinnen und -bezieher zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das zieht sich durch das gesamte Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung und natürlich auch durch das Sparpaket. Auf der ganzen Linie treffen Sie Bestimmungen, die gar keinen anderen Schluss zulassen, als dass Sie Langzeitarbeitslose als Bürger zweiter Klasse sehen. Ich fange mit dem Regelsatz an. Ich will da gar nicht den Vorwurf der Trickserei bemühen. Mir reicht völlig aus, welche politischen Setzungen Sie vornehmen, etwa bei Schnittblumen; bei den kleinen Dingen kommt es ja besonders deutlich zum Vorschein. Ich dachte, Sie sind die Partei der Bürgerlichkeit. Nach meinem Verständnis gehört zur bürgerlichen Lebensführung, dass man seiner Mutter zum Geburtstag auch mal einen Strauß Blumen mitbringen kann. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zum Muttertag, Markus! Zum Muttertag!) Auch da, wo Sie Bedarfe nicht aberkennen, zeigen die neuen Berechnungen zum Regelsatz: Die Lebenswirklichkeit - die muss man ja auch einmal heranziehen - scheint für Sie keine Rolle zu spielen. Nehmen wir auch hier nur ein Beispiel, Mobilitätskosten bei Jugendlichen. Für 14- bis 18-Jährige haben Sie 12,62 Euro pro Monat vorgesehen. Dafür kriegen Sie kein Schülerticket und keine Monatskarte. Wenn ich weiß, dass es Landkreise gibt, die über 16-Jährigen keine Monatskarte mehr für den Schulweg finanzieren, weil sie sagen: "Das Ende der Schulpflicht ist erreicht. Wenn du Abitur machen willst, musst du selbst für deine Fahrkarte aufkommen", dann sehe ich doch ein, dass diese 12,62 Euro für Mobilität im Monat völlig unzureichend sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Selbst wenn sie korrekt berechnet worden sind: Ich muss doch den Gegencheck mit der Wirklichkeit machen. Deswegen fordern wir in unserem Antrag ja auch, dass wir zur Gegenprüfung wieder einen Warenkorb zusammenstellen, um zu sehen, ob die Bedarfe, die statistisch ermittelt worden sind, tatsächlich dem entsprechen, was notwendig ist. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ja auch gesagt: Der tatsächliche Bedarf muss gedeckt werden. Wenn Sie mit solchen Dingen konfrontiert werden, sagen Sie immer: Der Regelsatz ist aber doch nicht evident zu niedrig. Das Bundesverfassungsgericht habe gesagt: Er ist nicht evident zu niedrig. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Kurth. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einen Moment bitte noch. - Es muss Ihnen doch auffallen, dass die Bundesagentur für Arbeit mittlerweile 1,1 Millionen Darlehen verwaltet, weil Aufwendungen etwa für langlebige Verbrauchsgüter, die kaputtgegangen sind, wie Kühlschränke, Herde, einfach nicht aus dem Regelsatz angespart werden können. Wollen Sie denn die Bundesagentur für Arbeit zu einer Art Bad Bank für Arme machen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Erlauben Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Weiß? Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gern, Herr Weiß. Bitte. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Kurth, Sie haben eben in Ihrer Rede auf das alte Berechnungsmodell für den Regelsatz - damals noch der Sozialhilfe, heute des Arbeitslosengeldes II - verwiesen, den sogenannten Warenkorb. Würden Sie uns bitte bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich die neue Berechnungsmethode nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe als geeignet bezeichnet hat, um den Regelsatz zu bemessen? Würden Sie zum Zweiten bestätigen, dass die Abschaffung des alten Warenkorbs - da ging es etwa darum: Gehört da eine Banane hinein oder ein Apfel? - damals von allen Wohlfahrtsverbänden und Fachleuten gefordert worden ist, der Übergang zur neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe begrüßt worden ist und dass vor allen Dingen die Abschaffung des Warenkorbs und der Übergang zu der neuen Berechnungsmethode dazu geführt haben, dass die Regelsätze damals um über 10 Prozent gestiegen sind, dass Warenkorb also weniger Leistungen und Einkommens- und Verbrauchsstichprobe mehr Leistungen bedeutet? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausdrücklich kann ich Ihrer letzten Feststellung nicht zustimmen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das wundert mich sehr!) Es ist so gewesen, dass die einmaligen Leistungen, die vorher gewährt worden sind, in den pauschalierten Regelsatz übernommen worden sind. Das geschah leider - das muss man rückblickend sagen - zulasten insbesondere der Kinder, die überproportional einmalige Leistungen in Anspruch genommen haben, weil sie schließlich wachsen. Ich will aber gar nicht in Abrede stellen, dass das Bundesverfassungsgericht die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe als zulässiges und geeignetes Verfahren angesehen hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Na also!) Das entbindet einen aber doch nicht von der Pflicht, wenn es um den tatsächlichen Bedarf geht, eine Art Gegenprüfung vorzunehmen. Der Übergang zur Einkommens- und Verbrauchsstichprobe und die Abkehr vom Warenkorb sind damals mit guten Gründen vorgenommen worden. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dann bestätigen Sie doch, dass das aus guten Gründen gemacht worden ist!) - Das bestätige ich gerne. - Allerdings muss man dazu sagen, dass wir damals ein ganz anderes Lohnniveau hatten. Wir müssen doch sehen, dass seit dieser Zeit die Löhne abgesackt und nicht mehr existenzsichernd sind und dass wir deswegen nicht mehr ausschließlich auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zurückgreifen können, wenn wir den tatsächlichen Bedarf feststellen wollen - und dies umso mehr, als die von Ihnen ausgewählte kleine Gruppe, die den Maßstab für den Regelsatz bildet, nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern nur noch die unteren 14 Prozent der Einkommen umfasst. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Es geht aber nicht nur allein um den Regelsatz. Der Gesetzentwurf ist umfangreicher. Ich möchte abschließend kurz etwas zur Rechtsposition der Langzeitarbeitslosen sagen. Sie verschlechtern nämlich auch deren Rechtsstellung und führen eine Ungleichbehandlung ein, die ich wirklich als unglaublich empfinde. So soll zum Beispiel bei der Verhängung von Sanktionen zukünftig keine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung mehr notwendig sein, sondern es reicht, wenn der Betroffene davon Kenntnis gehabt hat. Im Zweifelsfall reicht also ein Telefonat mit dem Fallmanager, der sagt: Wenn du das und das nicht machst, verhänge ich eine Sanktion. - Das ist dann die Rechtsgrundlage für die Verhängung einer Sanktion. Wir würden uns doch als Steuerbürger oder als Verkehrsteilnehmer, der einen Bußgeldbescheid erhält, niemals gefallen lassen, dass die Rechtsbehelfsbelehrung fehlt. Und so etwas kommt von der angeblichen Rechtsstaatspartei FDP. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Rechtsstaatspartei?) Darüber muss ich mich doch schon sehr wundern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man dann noch sieht, dass Gerichtskosten nicht im Regelsatz enthalten sind und dass von den von Ihnen regierten Ländern Baden-Württemberg und Bayern Vorstöße kommen, die Prozesskostenhilfe einzuschränken, dann erkennt man, dass Sie auf der bürgerrechtlichen Ebene ebenfalls Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse schaffen. Sie können noch so viel von den neu anerkannten Kinderbedarfen reden: Das ist angesichts dieser schwerwiegenden Mängel ein Tröpfchen auf den heißen Stein. Mir jedenfalls ist zu dem, was die schwarz-gelbe Koalition tut, ein Vers aus Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen eingefallen: Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Ich kenn auch die Herren Verfasser, Ich weiß, sie tranken heimlich Wein Und predigten öffentlich Wasser. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mechthild Heil (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debattenbeiträge der Opposition werden wirklich nicht besser. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es!) Gestern hat Frau Ferner noch gesagt, die Sozialministerin von der Leyen sei nicht durchsetzungsfähig; heute haben wir von Frau Ziegler gehört, sie zögere. (Sönke Rix [SPD]: Das widerspricht sich doch nicht!) Ich sage dazu: Zwei Jahre keine Jobcenterreform; die haben Sie nicht hinbekommen. Ursula von der Leyen hat dafür drei Monate gebraucht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Mechthild Rawert [SPD]: Ja, da fragen Sie mal nach den Gründen! - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal den Herrn Röttgen! - Dagmar Ziegler [SPD]: "Partielle Amnesie" nennt man das!) Bei den Regelsätzen ist es genauso: Im September waren die statistischen Unterlagen verfügbar, und noch im September liegt der Referentenentwurf vor. Am 17. Dezember dieses Jahres werden wir diesen Gesetzentwurf verabschieden. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, das verhindern, dann tragen Sie auch dafür die Verantwortung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir als CDU tragen das C in unserem Namen. (Christel Humme [SPD]: Das ist das Schlimme! Wo ist der Inhalt? - Weitere Zurufe von der SPD) - Da dies bei Ihnen Schreierei verursacht, sollten Sie einmal darüber nachdenken, wie weit wir gekommen sind. - Unsere Basis ist nicht sozialistisch. Unser Motto ist eben nicht "alle gleich". Menschenwürde ist deswegen für uns kein politisches Kalkül, sondern eine tiefe Überzeugung. (Beifall bei der CDU/CSU) Hier setzt unser Gesetzentwurf an. Zur Klarstellung: 2008 betrug der Sozialetat 124 Milliarden Euro. 2011 werden es 131 Milliarden Euro sein, also 7 Milliarden Euro mehr. Gleichzeitig hat die Arbeitslosenzahl von 5 Millionen auf circa 3 Millionen abgenommen. Trotz Schuldenbremse geben wir heute 620 Millionen Euro mehr für die Kinder aus. Die bisherige Höhe der Regelsätze wird beibehalten, obwohl es rechnerisch weniger wäre. Würden wir nach Haushaltslage entscheiden, müssten wir kürzen; aber das tun wir nicht. Das nenne ich Solidarität. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es wird dem geholfen, der es wirklich braucht. Eine weitere Klarstellung: Keinen der vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Sachverhalte haben die CDU/CSU oder die FDP zu verantworten. Diese Gesetze stammen nun einmal von der SPD und den Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Bundesrat! - Sönke Rix [SPD]: Was war denn mit dem Vermittlungsausschuss? Leiden Sie an Demenz?) Die SPD schreibt in ihrem vorliegenden Antrag - ich zitiere -: Das BVerfG hat dabei in seinem Urteil weder die absolute Höhe der Regelsätze infrage gestellt noch das Verfahren zur Bemessung der Regelsätze anhand der Verbrauchsausgaben unterer Einkommensgruppen ... als grundsätzlich ungeeignet bezeichnet. Ein spröder, unhandlicher Satz, aber wahr. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Heil, erlauben Sie eine Zwischenfrage Ihres Namenskollegen? Mechthild Heil (CDU/CSU): Aber gern. Wir haben uns noch nie unterhalten. (Heiterkeit - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann wird es Zeit!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Heil. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Frau Heil - weder verwandt noch verschwägert -, es freut mich, dass wir uns einmal kennenlernen. (Heiterkeit) Gestatten Sie mir die Frage, ob Sie sich entsinnen, dass zumindest CDU und CSU, namentlich Herr Laumann und andere, über den Bundesrat und über den Vermittlungsausschuss am Zustandekommen der entsprechenden Gesetze beteiligt waren. Können Sie sich eines Programms Ihres Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber aus dem Jahre 2002 entsinnen, der seinerzeit gefordert hat, die damals bestehenden Regelsätze pauschal auf 75 Prozent zu verringern? Können Sie bestätigen, dass das so war? Wie erklären Sie dann Ihre heutigen Vorwürfe? Mechthild Heil (CDU/CSU): Ich kann mich sehr gut dessen entsinnen, auch wenn ich ein bisschen älter als Sie bin. Ich war damals anders als Sie noch nicht hier im Parlament. Ich fände es wirklich sehr gut, wenn Sie sich gleich hier vorne hinstellten und sagten: Ja, wir haben das damals so beschlossen, und wir stehen auch dazu. - Aber das werden Sie nicht tun; vielmehr werden Sie heute eine Rolle rückwärts machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das Einzige, was Vertreter Ihrer Fraktion, zum Beispiel Ihre Kollegen Nahles oder Gabriel, tun, ist, uns eine verfassungswidrige Vorlage oder Trickserei vorzuwerfen. Sie fordern höhere Transferleistungen; wir haben das eben wieder gehört. Sie stellen diese Forderung auf, obwohl in Ihrem uns vorliegenden Antrag nicht steht, dass die Regelsätze vom Bundesverfassungsgericht infrage gestellt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD, das ist Populismus und Ausdruck notorischer Vergesslichkeit. Die SPD geißelt die Bemessungsverfahren als unzulässig und willkürlich. Gleichzeitig erklären Sie in dem vorliegenden Antrag, dass dieses Verfahren vom Bundesverfassungsgericht als grundsätzlich geeignet eingestuft wurde. Eine eigene nachvollziehbare Berechnung legen Sie nicht vor. Das ist Populismus und Ausdruck notorischer Vergesslichkeit. Liegt es vielleicht daran, dass der Antrag, den Sie vorlegen, schon ein halbes Jahr alt ist - er stammt vom 2. März 2010 - und dass Sie Ihre Meinung in dieser Zeit bekanntlich schon x-mal geändert haben? Liegt es vielleicht daran, dass Sie sich nicht mehr erinnern können? - Wir erleben heute eine Rolle rückwärts der SPD, wie bei vielen anderen Themen in der Vergangenheit auch. Ich erinnere an die Rente mit 67. Ich erinnere daran, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern wollen, dass Sie die Sicherheitsstandards bei Atomkraftwerken ausgesetzt haben. Heute erleben wir das bei den Bemessungssätzen für die Hartz-IV-Empfänger. So arbeiten wir als christlich-liberale Koalition nicht. Wir stehen für Verlässlichkeit und den Mut, die Sozialsysteme heute so zu gestalten, dass sie auch in Zukunft leistungsfähig und bezahlbar sind, auch wenn das unpopulär ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Jetzt wird christlich-liberale Sozialpolitik gemacht. Unser Alternativprogramm heißt: Hilfe, die bei den Kindern ankommt, und Hilfe, die Ideen zur Umsetzung Spielraum lässt. - Das ist ein Paradigmenwechsel zugunsten der Kinder in unserem Land. Am Anfang steht natürlich immer eine solide Ermittlung der Berechnungsgrundlage. Dazu wurden ein Jahr lang 60 000 Haushalte - jeder Haushalt ein Vierteljahr lang - begleitet. Die Zahlen sind sauber ermittelt worden nach einem Verfahren - um das noch einmal zu sagen -, das vom Bundesverfassungsgericht nicht gerügt wurde. - Damit auch die Zuschauer das einmal hören: Wir bewegen uns in einem Korridor von einem Nettoeinkommen von 901 Euro für einen Einpersonenhaushalt bis hin zu einem Nettoeinkommen für eine Familie mit einem Kind von 2 544 Euro. Sie sehen also, dass der Vorwurf der Linken, wir verglichen die Armen mit den Ärmsten, komplett ins Leere geht und reiner Populismus ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Bundesverfassungsgericht hat von der Politik gefordert, eine Wertentscheidung zu treffen. Die Politik muss also klären, was zum Grundbedarf gehört und was nicht. Das haben wir getan. Internetzugang und Mineralwasser gehören für uns zum Grundbedarf. Alkohol, Tabak, ein Pkw oder ein Haustier gehören für uns hingegen nicht dazu. 13 Bereiche sind neu dazugekommen, zum Beispiel optische Geräte oder Videos; zehn Posten sind herausgenommen worden. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD - von den Linken möchte ich gar nicht sprechen -, was wollen Sie denn? Wollen Sie, dass Zigaretten und Alkohol zum Grundbedarf eines Menschen gehören? Dann sagen Sie es uns. (Zuruf von der SPD: Wir wollen Transparenz, die Sie ablehnen! Solange Sie regiert haben, haben Sie die Sätze für auskömmlich erklärt. Was aber ist heute? Ich erinnere an einen Satz von Altbundeskanzler Schröder, der bekanntlich kein Mitglied der CDU oder der FDP ist. Dieser hat im Jahr 2004 zu bedenken gegeben, dass das alles aus den Steuern der Verkäuferin, des Gesellen im Handwerk, des Krankenpflegers und von wem auch immer aufgebracht werde. Angesichts dieser Tatsache durch die Gegend zu laufen und zu sagen, das sei zu wenig, werde der Lage nicht gerecht, so Altbundeskanzler Schröder. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Heil, kommen Sie bitte zum Schluss. Mechthild Heil (CDU/CSU): Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben sich komplett verrannt. Die Öffentlichkeit schüttelt den Kopf über Sie. Es ist höchste Zeit, dass Sie sich wieder auf Ihre Verantwortung für alle Teile der Gesellschaft besinnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge von meiner Fraktion und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liegen schon seit langem vor. Die Antragsteller hatten offensichtlich geahnt, was uns am Wochenende von Frau von der Leyen präsentiert wurde; denn das hat herzlich wenig mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu tun. Wir haben vom Bundesverfassungsgericht den ganz klaren Auftrag bekommen, die Regelsätze am Existenzminimum orientiert, transparent und nachvollziehbar zu gestalten sowie die Situation der Kinder zu verbessern, ihnen Bildung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zuzusichern. Das, was uns nun nach acht Monaten angestrengter Arbeit - wie gesagt wurde - vorliegt, spricht aber eine andere Sprache. Zum einen sind die Regelsätze in Gänze nicht nachvollziehbar. Sie erscheinen willkürlich. Zum anderen liegt der Verdacht sehr nahe, dass sie nicht verfassungskonform sind. Im Ausschuss gab es gestern eine Vielzahl offener Fragen, die nicht beantwortet werden konnten; es gab Irritationen und Wirrwarr bezüglich des Zahlenwerks. Wir werden uns in den nächsten Wochen auf der Grundlage der nachgeforderten Berechnungen noch lange mit den Einzelheiten beschäftigen müssen. Hier scheint ganz offensichtlich der Finanzminister die Hand von Frau von der Leyen geführt zu haben: Der Regelsatz wurde zusammengezimmert auf ein passendes Maß. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein, der wurde berechnet!) Die Menschen im Lande reden noch ganz anders darüber. Monatelang hat die Ministerin bei den 6,8 Millionen betroffenen Grundsicherungsempfängern hohe Erwartungen geweckt. Natürlich ist die Enttäuschung angesichts dieses Ergebnisses groß. Man muss sich nicht wundern, wenn Bürgermeister Buschkowsky sagt, die Menschen fühlten sich verhohnepipelt. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Von der SPD!) Sie sagen, 5 Euro seien Almosen, Almosen für den kleinen Mann. Aber die Ministerin entgegnet: Mehr ist nicht drin. Es muss ja auch bezahlt werden können. - Also doch eine Entscheidung nach Kassenlage! (Beifall bei der SPD) Frau von der Leyen appelliert an uns, man müsse auch an die vielen denken, die wenig verdienen, so wenig wie beispielsweise eine Friseurin, die bei mir zu Hause in Oranienburg 4,22 Euro verdient (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Unter Tarif! Es gibt einen Tarifvertrag!) und zusätzlich Hartz IV braucht, um am Existenzminimum zu leben. Ja, natürlich hat die Ministerin recht: Wir müssen an diese Leute denken. Ich könnte auch noch viele andere Beispiele anführen. Aber die Ministerin zieht die falschen Schlussfolgerungen. Der Hinweis auf das Lohnabstandsgebot hilft hier nämlich überhaupt nicht weiter. Es demütigt die Menschen, die damit leben müssen, und damit spielt sie diejenigen, die zu wenig haben, gegen die aus, die staatliche Leistungen erhalten. Das finde ich besonders perfide. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Ministerin drückt sich vor allen Dingen um eine Aufgabe herum, die sie als Arbeitsministerin hat. Es gibt nur eine einzige Lösung, damit das Lohnabstandsgebot eingehalten wird, nämlich, anstatt die Regelsätze niedrig zu halten, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist eine längst fällige Entscheidung. Um diese drückt sich die Ministerin herum. Es führt aber kein Weg daran vorbei. Auf diese Weise könnten Sie ernsthaft und nachhaltig bei den Ausgaben für die Grundsicherung sparen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Stimmt leider nicht!) Die 50 Milliarden Euro für die 1,3 Millionen Aufstocker würden so nicht mehr fällig. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Stimmt leider nicht!) Viel schlimmer ist aber das Versagen bei der Erfüllung des zweiten Auftrags an uns, nämlich die Verbesserung der Chancen für Kinder. Nach monatelangen Ankündigungen, in den Medien hochgejubelt, und nach vielen Versprechungen - ich denke nur an die Aussage: Das ist die große Chance für die Kinder, die heute viel zu früh scheitern - liegt nun das Ergebnis vor: eine einzige große Enttäuschung. (Miriam Gruß [FDP]: Wo ist denn Ihre Strategie gewesen?) Ich glaube, dass wir hier viel weiter denken müssen. Wenn wir für alle Kinder eine echte Teilhabechance eröffnen wollen, kommen wir nicht drum herum, das Programm zum Ausbau der Kindertagesstätten, das wir begonnen haben, und das Ganztagsschulprogramm fortzusetzen. (Beifall bei der SPD) So kann man den Teufelskreis durchbrechen, von dem Frau von der Leyen spricht - Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Krüger-Leißner, kommen Sie bitte zum Schluss. Angelika Krüger-Leißner (SPD): - ja -, und die Kinder aus der Armut herausführen. Staatssekretär Fuchtel, Sie müssen Frau von der Leyen aus der heutigen Debatte vor allen Dingen mitgeben, dass wir ihre Worte sehr ernst nehmen. (Zurufe von der SPD: Die Ministerin interessiert das nicht! - Wo ist sie heute?) Wir werden sie daran messen, ob sie eine verantwortungsvolle Sozial- und Arbeitsministerin ist. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist sie auch! - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ein wunderbarer Schluss!) Danke. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es gäbe viel zu den Anträgen von SPD und Grünen zu sagen. (Anton Schaaf [SPD]: So viel Zeit haben Sie nicht!) - So viel Zeit habe ich nicht, aber zwei Bemerkungen seien erlaubt, Herr Kollege Schaaf. Ich finde es interessant, dass die SPD in ihrem Antrag ein ganzes Konvolut an Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut vorschlägt, dass sie aber wenig zu den Ursachen von Benachteiligungen sagt, die sie selbst durch ungerechte Zuverdienstmöglichkeiten, durch mangelnde Bildungschancen für Kinder eingebaut hat. Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag erstaunlich wenig. Ich glaube, das sagt viel aus. (Beifall bei der FDP) Im Hinblick auf die Anträge der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen finde ich es sehr bemerkenswert, dass sie von bedarfsgerechten Regelsätzen sprechen, aber den Bedarf noch gar nicht kennen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie geht das denn?) Sie haben, wie Sie selber im Ausschuss zugegeben haben, eine Zahl in die Welt gesetzt, bevor eine Auswertung der EVS vorlag. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das beruht auf der EVS 2003!) Das kann man machen, aber bedarfsgerecht ist das sicherlich nicht, lieber Herr Kollege Kurth. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Da hier aber mehr über den Vorschlag der Regierung als über Ihre eigenen Anträge geredet wurde, will ich auch auf diesen eingehen. Lieber Herr Kurth, Sie haben gesagt, die Regierung habe kleingerechnet und es würden jetzt 15 Prozent und nicht mehr 20 Prozent der Einkommen bei der Berechnung zugrunde gelegt. Das ist eine Irreführung; denn Sie haben von den unteren 15 Prozent gesprochen. Das ist ja nicht wahr, Herr Kollege Kurth. Es ist weiterhin das untere Fünftel der Einkommen. Nur, anders als bei Ihnen, anders als damals, wurden jetzt Transferempfänger komplett herausgerechnet. Die Arbeitslosenhilfeempfänger wurden bei Ihnen noch in dieser Gruppe belassen. Das ist jetzt anders. Die Gruppe wurde angehoben. Es sind nicht die unteren 15 Prozent, sondern es sind, anders als Sie es damals gemacht haben, die 15 Prozent oberhalb der Transferempfänger, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Insofern ist das, was Sie hier behaupten, unredlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Liebe Kollegin Kipping, Sie haben recht: Die Kosten für Autoreparaturen wurden herausgerechnet, weil die Regierung sagt: Das Auto gehört nicht zum Existenzminimum. Nur, dann gehört es zur Ehrlichkeit dazu, auch zu sagen, dass, anders als bisher, bei den Kosten für den öffentlichen Personennahverkehr nun auch die Haushalte betrachtet wurden, die kein Auto haben und die deshalb natürlich höhere Ausgaben für den Personennahverkehr haben. Das wurde zur Grundlage gemacht. Insofern ist es gerechter, weil endlich und anders, als es bisher der Fall war, wenn man Bus oder Bahn fährt, die realen Kosten berücksichtigt werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping? Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Sehr gerne, Frau Kollegin Kipping. Katja Kipping (DIE LINKE): Herr Vogel, Sie haben auf die Gelder hingewiesen, die im Regelsatz für Verkehrsleistungen vorgesehen sind. Für den öffentlichen Personennahverkehr sind jetzt monatlich 18,41 Euro eingeplant. Jetzt nennen Sie mir doch bitte einmal die Stadt oder die Region, in der man für dieses Geld eine Monatskarte bekommt. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Kipping, offenbar haben Sie die Methode der EVS nicht verstanden. (Lachen bei der LINKEN) Hier werden jetzt real die Bedarfe angesetzt, die jene mit kleinem Einkommen in Deutschland, die Verkäuferin, der Lagerarbeiter, jene, die kein Auto haben, für den öffentlichen Personennahverkehr ausgeben. Das ist bedarfsgerechte Regelsatzermittlung, so wie es uns das höchste deutsche Gericht aufgegeben hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir können gerne darüber diskutieren. Ich halte es für legitim, dass Sie sagen, es muss mehr sein. Aber bedarfsgerecht ist es. Aber ich will nicht nur auf die Regelsätze eingehen. Dazu hat der Kollege Kober schon ausgeführt. Sie stehen, und sie sind transparent und solide. Wichtig ist vielmehr, dass wir darüber hinausgehen müssen. Es kann nicht nur um eine faire Grundsicherung gehen, sondern es muss auch um die Perspektiven der Menschen gehen, dort wieder herauszufinden. Wir brauchen eben auch eine trittfeste Leiter aus Hartz IV heraus. Insoweit werden jetzt zwei Ungerechtigkeiten endlich korrigiert. Sie haben bisher Kinderbildungsausgaben gar nicht berücksichtigt. Nun werden endlich faire Chancen für die Kinder geschaffen. Es ist eben nicht nur das Schulstarterpaket, das die Große Koalition schon eingeführt hat. Darüber hinaus sind es eben Kosten für Vereinsmitgliedschaften, aber nicht nur das. Es sind auch die Schulausflüge und das Mittagessen und die Kosten für Nachhilfe für die Kinder, die sie benötigen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Das wurde in Berlin schon längst bezahlt! Das haben andere Länderpolitiken schon längst erledigt!) Hier so zu tun, als sei es nur das, was die Große Koalition vorgelegt hat, hält der Überprüfung mit der Realität nicht stand. (Beifall bei der FDP) Wir werden ein Zweites tun, weil wir nicht nur die Benachteiligung der kommenden Generationen und dort derjenigen, die die Unterstützung der Solidargemeinschaft brauchen, beheben wollen, sondern auch die Benachteiligung der Erwachsenen. Daher fragen wir: Wie können wir das System so weiter umgestalten, dass mehr Menschen wieder herausfinden? Wie können wir den Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt - Sie alle haben heute wahrscheinlich wie ich die diesbezüglichen Zahlen verfolgt - dafür nutzen, dass auch mehr Langzeitarbeitslose eine Chance haben? Diese Koalition wird sich nächstes Jahr nicht nur mit der Überprüfung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen darum kümmern, dass die Vermittlung vor Ort besser und schneller erfolgt, sondern wir wollen auch die Zuverdienstmechanismen verbessern, damit wir eine trittfeste Leiter aus der Grundsicherung heraus haben. Alle Experten, zuletzt wieder die OECD und das IAB, bestätigen uns doch: Derzeit lohnt es sich für viele nicht und es ist nicht ausreichend Motivation vorhanden, sich Schritt für Schritt aus dem Transferbezug emporzuarbeiten, weil eben nach den ersten 100 Euro von jedem Euro nur 20 Cent behalten werden können. Das ist ungerecht, das ist unfair, und das werden wir korrigieren. Dann ist es ein Paket, das die Grundsicherung natürlich noch nicht perfekt macht - daran werden wir in den nächsten Jahren auch weiterarbeiten -, das aber das Sozialsystem in Deutschland erheblich fairer macht als das, was Sie uns hinterlassen haben. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bemerkenswert, wofür Ministerin von der Leyen die wirklich kurze Zeit seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar genutzt hat - nämlich für Debatten über Chipkarten und Gutscheine, ohne zu sagen, was wirklich darin stecken soll -, statt sich um die Probleme zu kümmern, deren Lösung eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre: der Öffentlichkeit einen Entwurf zu präsentieren, was sie zur Existenzsicherung von Kindern machen will. Dies hat sie nach meiner Ansicht nicht getan. (Beifall bei der LINKEN) Sie hat jetzt ein Teilhabe- und Bildungspaket vorgelegt, das die Regelsätze für Kinder ergänzen soll. Diese Regelsätze sollen angeblich völlig kindbezogen und vom Erwachsenenregelsatz unabhängig berechnet worden sein. Wie sie das bewerkstelligt hat, obwohl in ihrer Referenzgruppe kaum Familien mit Kindern enthalten sind, wird ihr Geheimnis bleiben, auch deshalb, weil sie sich immer noch weigert, uns die Rohdaten und die daraus abgeleiteten Berechnungen vorzulegen, (Zuruf der Abg. Miriam Gruß [FDP]) nicht nur uns, Frau Gruß, sondern auch den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, die ihre Berechnungen sehr gern überprüfen würden, um das tatsächliche Ausmaß der Manipulation darstellen zu können. Ministerin von der Leyen sagte gestern in der Aktuellen Stunde, dass sie Wertentscheidungen treffen musste. Wenn das, was Sie uns als kindgerechten Regelsatz präsentieren und als Bildungspaket vorschummeln, das darstellen soll, was Kinder aus armen Familien Ihnen wert sind, dann sieht es um die Zukunft dieser Kinder schlecht aus. (Beifall bei der LINKEN) Schauen wir uns doch einmal Ihre Berechnungen etwas genauer an: Ausreichende und ausgewogene Ernährung ist nach wie vor nicht enthalten; denn Ernährung ist mehr als nur ein warmes Schulessen. Was ist denn mit den Kindern, in deren Schulen es diese Essenversorgung überhaupt nicht gibt? (Mechthild Heil [CDU/CSU]: Die essen zu Hause, wie es normal ist!) Das ist leider die Mehrzahl der Kinder. Sie bekommen immer noch kein Schulessen und auch nichts als Gutschein zusätzlich zum Regelsatz. Sie gehen also weiter hungrig in den Unterricht. Es interessiert Sie auch gar nicht, ob die Leistung wirklich bei den Kindern ankommt oder nicht. Sie freuen sich eher noch - das schreiben Sie auch: Die Kosten hängen davon ab, inwieweit die Angebote wirklich in Anspruch genommen und die Gutscheine eingelöst werden -, weil jedes nicht angebotene Schulessen ein bisschen im Haushaltssäckel spart. Aber es geht noch so weiter: Als Familienministerin hat Frau von der Leyen noch medienwirksam an einer groß angelegten Vorlesekampagne teilgenommen. Wie aber Familien, die von dem leben sollen, was Sie ihnen jetzt geben wollen, für 2,16 Euro im Monat ihrem Kind ein Buch kaufen sollen, bleibt mir als Mutter von zwei Kindern schleierhaft. Ganze 6,07 Euro sind im Monat für Windeln vorgesehen. Halten Sie dies wirklich für realistisch? Davon bekommt man vielleicht, wenn man Glück hat, eine Packung Billigwindeln. Aber ich habe mein Kind öfter als nur eine Woche im Monat gewickelt. Auch die Leistungen, die Sie in das sogenannte Bildungspaket packen, werden das, was im ganz normalen Leben zu finanzieren ist, nicht decken; denn auch hier betreiben Sie Augenwischerei und schummeln die Zahlen groß. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kober? Diana Golze (DIE LINKE): Ja, gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte. Pascal Kober (FDP): Frau Kollegin Golze, würden Sie mir recht geben, dass es ein ziemlich dichtes, flächendeckendes Netz an öffentlichen kostenlosen Stadtbibliotheken in Deutschland gibt, die auch von Menschen, die im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind, zu nutzen sind? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Diana Golze (DIE LINKE): Wissen Sie, Herr Kober, ich bin auch kommunalpolitisch tätig; ich habe ein Mandat in einer Stadtverordnetenversammlung. Ich weiß sehr wohl, wie es um die finanzielle Situation der Kommunen bestellt ist, übrigens auch aufgrund von Regierungshandeln in den letzten Jahren. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Deswegen müssen sie für Arbeitslosengeld-II-Empfänger nichts tun?) Ich weiß also, wie viele Bibliotheken in den letzten Jahren entweder geschlossen wurden oder nur noch ehrenamtlich betrieben werden. Zum Teil mussten auch die Gebühren angehoben werden. Insofern ist klar, dass von 2,16 Euro eine Bildungsbeteiligung dieser Kinder nicht möglich ist. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Kommunen müssen sich um ihre Arbeitslosen nicht kümmern? Das ist interessant! Unglaublich!) Zurück zum sogenannten Bildungspaket. Das Schulbedarfspaket - das ist schon gesagt worden - gibt es schon seit mehr als einem Jahr; aber Sie feiern es jetzt, als hätte es das vorher nicht gegeben. Ihr angeblich so großes Bildungspaket verringert sich also weiter, und zwar um 120 Millionen Euro. Das gilt umso mehr, weil heute der Presse zu entnehmen war, dass die Bezieher des Kinderzuschlags keinen Anspruch mehr auf dieses Paket haben sollen. (Miriam Gruß [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Das heißt, die Kinder von Geringverdienern werden herausgenommen; ihnen soll diese Leistung weggenommen werden. Das hat das Arbeitsministerium in der Presse bestätigt. (Miriam Gruß [FDP]: Das wird klargestellt! Stimmt nicht!) Es wird also weiter geschummelt und von den Armen noch etwas weggenommen. Ich kann lesen, dass Sie Kindern nun monatlich 10 Euro für Sport, Spiel, Kultur, Geselligkeit und außerschulische Bildung zur Verfügung stellen wollen. Eine tolle Sache! Davon könnte ich nicht einmal die Musikschule meiner Tochter bezahlen. Es ist gestern in der Aktuellen Stunde schon viel dazu gesagt worden: Flötenunterricht oder Reitunterricht (Zuruf von der FDP: Segelunterricht!) kann man wohl kaum mit 10 Euro monatlich bezahlen. Auch im Sportbereich - wir waren gerade bei den Kommunen - sind die Vereinsbeiträge in den letzten Jahren angestiegen. Aber warum sollte sich ein Kind, das sich nicht einmal gesundes Essen leisten kann, auch noch im Sportverein bewegen und soziales Miteinander und Fairness lernen! Das passt gar nicht zueinander. Sie sollten den Experten, die dem Ministerium diese Ratschläge gegeben haben, einen Bildungsgutschein für Realitätskunde geben. Das würde weiterhelfen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es müssen im Übrigen die gleichen realitätsfremden Berater gewesen sein, die Ihnen vorgeschlagen haben, dass zukünftig Fallmanager oder Familienlotsen die Bildungsberatung für fast 2 Millionen Kinder und Jugendliche übernehmen sollen. Sie bauen eine Parallelstruktur auf - neben den Ämtern, die das originär zu tun hätten, nämlich die Jugendämter; denn Sie wissen, dass die Jugendämter auch aufgrund von Bundespolitik in den letzten Jahren Personal abbauen mussten; nun soll das das Jobcenter erledigen - mit Personal, das dafür gar nicht qualifiziert ist und diese Aufgabe im Übrigen auch gar nicht übernehmen will. Auch das spricht für Ihre Realitätsferne. Unter dem Strich bleibt festzuhalten: Dieser Entwurf hat mit "kindgerecht" nichts zu tun. Er erfüllt nicht den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes. Wir werden deshalb weiter über diesen Gesetzentwurf streiten. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann von Bündnis 90/Die Grünen. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige der Beiträge von CDU/CSU und FDP zeigen ganz deutlich, dass die Wortwahl von Diana Golze - sie hat von Realitätsferne gesprochen - absolut zutreffend ist. Herr Kober, ich habe gerade nachgesehen: Sie kommen aus Reutlingen. Vielleicht gibt es in Reutlingen eine Stadtbibliothek, die noch kostenfrei ist. Ich habe mir gerade sagen lassen: Selbst in Baden-Württemberg ist es nicht so. Mein Gott, wo leben Sie denn? (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn, Frau Haßelmann?) In den meisten Städten und Gemeinden geht es darum: Können wir Stadtteilbibliotheken überhaupt noch offen halten, oder müssen wir die Beiträge erhöhen, um nicht alle schließen zu müssen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich finde, Ihre Äußerungen sind nur eine Bestätigung dafür, wie die Lebenswirklichkeit von Ihnen eigentlich wahrgenommen wird. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Städte können für die Arbeitslosen auch was tun!) Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Sie werden bei aller Statistik, bei allen Zahlen, mit denen Sie hier aufwarten, nicht darum herumkommen, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der Bevölkerung - in den Kreisen, in denen Menschen Armut erleben oder mit Menschen konfrontiert sind, die in Armut leben oder in Armut zu fallen drohen - als absolutes Gerechtigkeitsproblem empfunden wird, dass Sie hier eine Erhöhung des Arbeits-losengeldes II um 5 Euro vorschlagen. Schauen Sie sich doch einmal die Welt draußen an! Verfolgen Sie die Debatten in Kirche und Gesellschaft! Schauen Sie, was da los ist! Kein Mensch versteht, dass ausgerechnet wir kluge Ratschläge bei der Frage geben, was in einen Regelsatz gehört und was nicht. Darüber sollten Sie wenigstens einen Moment lang nachdenken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Beim Bildungspaket steht die Antwort auf die große Frage aus - da kneifen die Ministerin und auch Sie -: Gibt es hier einen individuellen Rechtsanspruch eines jeden Kindes, ja oder nein? Ich sende einen schönen Gruß an die Haushälter: Wenn ein individueller Rechtsanspruch besteht, dann müssen Sie auf die 620 Millionen Euro kräftig etwas drauflegen, dann werden Sie mit einer Deckelung bei 620 Millionen Euro nicht hinkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Antwort auf die große Frage bleibt offen; Sie haben sie nicht beantwortet. Es wurde vieles zu den Regelsätzen gesagt. Ich komme jetzt zu den Kosten der Unterkunft. Wir haben die Sparbeschlüsse; wir haben den Referentenentwurf, der natürlich auch auf das Thema der Kosten der Unterkunft eingeht. Seit Januar, als es die schwarz-gelbe Bundesratsinitiative gegeben hat, endlich die Angemessenheit der Unterkunftskosten zu überprüfen und den Bundesanteil neu zu berechnen und zu erhöhen, hampeln wir an der Frage der Kosten der Unterkunft herum. Und was machen Sie jetzt? Jetzt frieren Sie den Bundesanteil der Kosten der Unterkunft ein. Das heißt in Richtung der Länder und der Städte und Gemeinden: Es wird nichts mit einer Erhöhung, der Bundesanteil wird eingefroren. (Zuruf von der FDP: Wo ist da etwas eingefroren, Frau Kollegin?) Sie ziehen das Vermittlungsverfahren immer weiter hinaus und kommen jetzt im Referentenentwurf auf die Idee, den Bundesanteil schon einmal einzufrieren und den Kommunen mehr Rechte zu geben. Die dürfen demnächst per kommunaler Satzung entscheiden, was "Angemessenheit der Unterkunftskosten" bedeutet. Wissen Sie eigentlich, was das für die Städte und Gemeinden bedeutet? 400 Landkreise und kreisfreie Städte entscheiden demnächst darüber, was angemessen ist, weil Sie das nicht zustande bringen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein, weil es deren Aufgabe ist!) Das fördert doch die Klagen, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) 3,4 Milliarden Euro - darauf lassen Sie es beruhen. Sie gehen auch nicht daran, dass Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine andere Zuweisung bekommen als die 14 anderen Länder. Ich habe mehrfach Anfragen gestellt, warum das eigentlich so ist. Das kann mir niemand erklären. Das sei damals im Bundesrat so ausgehandelt worden, heißt es. Ausgerechnet diese beiden Länder bekommen ein paar Prozentpunkte mehr. Wenn man fragt, wo die sachliche Grundlage dafür ist, erhält man keine Erklärung. Anstatt die Unterkunftskosten den tatsächlichen Kosten entsprechend zu finanzieren und den Bundesanteil endlich zu erhöhen - so wie das nicht nur die Grünen, sondern auch die Städte und Gemeinden und der Bundesrat fordern -, drücken Sie sich weg, frieren Ihren Anteil ein, ziehen das Vermittlungsverfahren in die Länge und kommunalisieren jetzt noch durch die Satzungen. Was das für Auswirkungen auf die Betroffenen und auf die Debatten vor Ort hat, darauf können wir sehr gespannt sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den lebhaften Ausführungen der Kollegin Haßelmann und auch der Vorredner von der SPD muss man sich schon fragen, über was wir heute eigentlich diskutieren. Wir diskutieren über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine bis zum 9. Februar von diesem Hause durchaus mitgetragene Regelung hinsichtlich der Berechnung der Langzeitarbeitslosenbedarfssätze für verfassungswidrig erachtet hat. Um einer kollektiven Amnesie gerade der Gruppe in der Mitte dieses Raumes vorzubeugen, muss man mitteilen, wer Vater und wer Mutter des entsprechenden Gesetzes war. Das war Rot-Grün! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gut, wir waren Taufpaten; wir haben mitgemacht. (Zurufe von der SPD: Aha!) - Damit habe ich kein Problem. Wissen Sie: Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. - Wie gesagt: Die SPD hat es damals auf den Weg gebracht. Daher würde es Ihnen im Interesse der Betroffenen gut anstehen, den heute Zuhörenden zu sagen: Wir arbeiten konstruktiv mit. (Zuruf von der SPD: Wir haben doch die Hand gereicht!) Insofern sind Sie nämlich als Väter und Mütter dieses Gesetzes weiterhin in der Verantwortung, Hartz IV als lernendes System weiterzuentwickeln. Ich appelliere an Sie als ehemaligen Koalitionspartner, anders als die Kollegin Kipping, die Sie aufhetzt und auffordert, im Bundesrat nicht zuzustimmen: Wenn ihr in der SPD noch ein bisschen Vernunft habt, dann stimmt im Bundesrat zu und hetzt eure Länder nicht auf! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unser Problem ist, dass Teile dieses Hauses das Urteil im letzten halben Jahr schlicht missinterpretiert und der Bevölkerung vorgegaukelt haben, im Urteil stünde etwas anderes, als tatsächlich drinsteht. Damit wurde natürlich die Erwartung erweckt: Hartz IV muss steigen. Im Urteil steht aber - mit Ihrer geschätzten Erlaubnis, Herr Präsident, möchte ich im O-Ton aus dem Urteil zitieren -: Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro nach § 20 Abs. 2 1. Halbsatz SGB II a.F. kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht ... Das hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, und das muss man unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern einfach einmal sagen. Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich - damals - geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist. Das steht - für die Kolleginnen und Kollegen, die es nachlesen wollen - auf Seite 27 des Urteils. Auf Seite 38, also kurz vor dem Schluss des Urteils, bestätigt das Bundesverfassungsgericht diese Feststellung abermals: Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Gegenteiliges haben Sie der Bevölkerung in vielen Bereichen glauben machen wollen. Ich habe natürlich erwartet, Frau Kollegin Krüger-Leißner, dass Sie sagen, dass Sie den Verdacht haben, dass auch das Gesetz in neuer Form nicht verfassungskonform ist. Mit verfassungswidrigen Gesetzen haben Sie in den letzten Jahren genauso viel Erfahrung machen dürfen wie wir auch. Natürlich musste auch das Argument Mindestlohn kommen. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Das ist ja richtig!) Ich möchte abermals mit der Mär aufräumen, dass der von Ihnen geforderte Mindestlohn - Ihre Forderungen sind von 7,50 Euro schon auf 8,50 Euro gestiegen, andere verlangen 10 Euro; all das ist bekannt - geeignet ist, beispielsweise eine vierköpfige Familie aus dem Transferbezug herauszuholen. Sie bräuchten einen Mindestlohn in der Größenordnung von 11,80 Euro, wenn Sie tatsächlich eine Familie davon ernähren wollten. Auch das muss man den Menschen sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zumindest die Alleinstehenden und die Zweipersonenhaushalte wären draußen) Exemplarisch ist eine Aussage meines Lieblingslinken Klaus Ernst - heute ist er nicht da, ich habe ihn in der Debatte vermisst -, des berühmtesten Aufstockers der Republik: Wenn der Regelsatz bei rund 370 Euro liegen soll, dann wird das Prinzip Armut per Gesetz fortgeschrieben. (Diana Golze [DIE LINKE]: Ihre Parteivorsitzende ist auch nicht hier!) - Ich habe ihn doch nur als Nachbarn aus Schweinfurt vermisst. Ich bitte um Verständnis. Wir verstehen uns so gut. Die Tatsachen sind: Der Sozialhilfeempfänger des Jahres 2004 bekam einen monatlichen Regelsatz von rund 260 Euro. Heute erhält ein Alleinstehender nach SGB II einen monatlichen Regelsatz von 359 Euro bzw. in Zukunft, nach dem neuen Gesetz, von 364 Euro. Man muss aber auch sagen, dass dazu noch die Wohnkosten kommen. Frau Kollegin Haßelmann hat darauf hingewiesen, dass die Höhe der Zuschüsse in Zukunft, den regionalen Gegebenheiten entsprechend, von den Kommunen festgesetzt werden kann. Ich bitte um Verständnis, dass wir die Kommunen ins Boot holen; denn sie müssen einen Teil der Chose mitbezahlen. Es ist doch nur legitim, dass der Landrat bzw. der Oberbürgermeister bei der Festsetzung der Wohn- bzw. Mietkosten mitreden darf. Das ist unser Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) - Stellen Sie eine Frage, dann dauert es bei mir noch ein wenig länger, Herr Kollege Kolb. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) 359 bzw. 364 Euro je Grundbedarf plus die Wohnkosten von derzeit rund 300 Euro, dann kommen noch Heizkosten, Sozialversicherung - ungefähr 165 Euro - hinzu. All dies zusammen muss jemand, der als Single selbstständig bzw. berufstätig ist, erst einmal erwirtschaften, bevor ich sagen kann: Er ist genauso gestellt wie ein Hartz-IV-Empfänger. (Christel Humme [SPD]: Grenzen Sie doch nicht Geringverdiener gegen Arbeitslose aus!) Herr Kollege Schaaf hat eine Zwischenfrage. Ich wäre bereit, sie zuzulassen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort erteile ich. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Das weiß ich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber Sie genehmigen das. Paul Lehrieder (CDU/CSU): In vorauseilendem Gehorsam, selbstverständlich, Herr Präsident. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Schaaf, zu Ihrer Zwischenfrage, bitte. Anton Schaaf (SPD): Ich will nicht über die Urheberschaft mit Ihnen streiten, aber eines ist völlig klar: Ich habe aus der Union und auch aus der FDP keine Proteste gehört, was die Berechnungsgrundlage angeht, als wir damals das SGB II so formuliert haben, wie es jetzt ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch auch okay!) Es gab keinen Widerstand im Bundesrat, was die Frage der Berechnungsgrundlage angeht. Es gab aber massiven Widerstand bei Union und FDP, was die Höhe angeht, und zwar dahin gehend, dass gesagt worden ist, dass das, was von Rot-Grün gemacht wurde, viel zu hoch angesetzt ist. Das zur Klarstellung, bevor ich meine Frage stelle. Herr Lehrieder, sind Sie mit mir nicht auch der Meinung - vor dem Hintergrund, wie dieses Urteil ausgestaltet ist, es geht nämlich ausschließlich darum, das soziokulturelle bzw. das übliche Existenzminimum festzulegen -, dass das Lohnabstandsgebot schlichtweg pulverisiert worden ist? Sie argumentieren immer, dass die Hartz-IV-Empfänger nicht zu viel bekommen dürfen, weil die unteren Lohngruppen nicht so viel bekommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Frage?) Das wollen Sie einfach nicht anerkennen. Das ist genau der Haken an Ihrer Argumentation. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Schaaf, zu dieser Auffassung können auch nur Sie und einige wenige andere in diesem Haus gelangen. Der Punkt ist: Im Urteil steht genau, dass die wirtschaftliche Absicherung, aber natürlich auch die Zugangsteilhabe gewährt werden. Das ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, der Garantie der Menschenwürde, und dem Sozialstaatsprinzip. Genau das hat das Urteil umgesetzt. Es hat nicht vorgeschrieben, in welcher Form oder in welcher Höhe. Es wurde lediglich angemahnt: Rechnet sauber und transparent, macht es schlüssig und nachvollziehbar! Es hat der Koppelung an die Renten widersprochen, und auch die Pauschalierung, die jetzt von manchen aus völlig unverständlichen Gründen wieder gefordert wird, wurde abgelehnt. Es wurde eben nicht vorgeschrieben: Orientiert euch an irgendwelchen Löhnen! Herr Kollege Schaaf, Sie sind Praktiker und lang genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Bereitschaft, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anzunehmen, 40 Stunden die Woche zur Arbeit zu gehen und jeden Morgen um halb acht aufzustehen, nicht steigt, wenn die Sozialleistungen höher sind als die Löhne. (Elke Ferner [SPD]: Vielleicht sind die Löhne zu niedrig!) Sie müssen mir den Menschen zeigen, der die Sozialleistungen unter diesen Umständen nicht in Anspruch nimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eine aktuelle Emnid-Umfrage ergibt, dass der überwiegende Teil unserer Bevölkerung eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze nicht versteht. 56 Prozent sind das, glaube ich. 42 Prozent halten die Regelsätze für ausreichend. Lediglich 36 Prozent halten einen Zuschlag für erforderlich. Bei unserer Arbeit richten wir uns natürlich nicht nach Umfragen, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach Lobbyverbänden richten Sie sich!) sondern danach, was die Menschen brauchen, und danach, was uns das Verfassungsgericht aufgegeben hat. Gleichwohl haben wir diese 5 Euro hinzugerechnet. Im Übrigen hätte diese Neuberechnung - es wurde bereits darauf hingewiesen - eigentlich zu einer geringfügigen Senkung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche geführt. Das haben wir selbstverständlich nicht gemacht; denn wir wollen die Kinder und die Jugendlichen in unserer Gesellschaft stärker unterstützen. Dementsprechend haben wir diese Sätze so belassen. (Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Aus Gründen des Vertrauensschutzes haben wir diese Leistungen - - Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie fordern die Zwischenfragen ja geradezu heraus, Herr Kollege Lehrieder. (Heiterkeit) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich habe mich schon gewundert, Herr Kollege Birkwald. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben bis morgen Abend Zeit!) - Wenn Sie so lange dableiben, Frau Künast. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die ich während Ihrer Rede zulasse, Herr Lehrieder. - Bitte schön. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Herr Kollege Lehrieder, Sie erwecken gerade den Eindruck, dass Sie für die Bildungschancen von Kindern alles tun wollen. Erklären Sie mir doch bitte einmal, warum den Kindern, die wegen des geringen Einkommens der Eltern einen Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro erhalten, nach einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers von heute 100 Euro gestrichen werden sollen. (Miriam Gruß [FDP]: Informieren Sie sich aktuell über die Fakten!) Das Bundesarbeitsministerium hat diese Kürzung eingeräumt. (Miriam Gruß [FDP]: Das ist dementiert worden!) Meinen Sie nicht auch, dass man, wenn man so etwas hört oder liest, zu der Ansicht kommen kann, dass das, was Sie hier erzählen, nicht ernst gemeint ist und es Ihnen in Wirklichkeit nicht darum geht, allen Kindern aus ärmeren Familien entsprechende Bildungschancen zukommen zu lassen? Paul Lehrieder (CDU/CSU): Herr Birkwald, ich danke sehr herzlich für die Frage, gibt sie mir doch die Möglichkeit, das großzügige Angebot der Bundesregierung aus der Ausschusssitzung hier noch einmal zu wiederholen. Kollege Brauksiepe hat angeboten, für Nachfragen und Erklärungen gerne in die Arbeitsgruppen zu kommen. Er kommt sicherlich auch zu den Linken. Der SPD hat er es expressis verbis angeboten. Tatsache ist, dass die Bildungsmöglichkeiten als letzte Möglichkeit verrechnet werden. Das heißt, zunächst wird bei den Aufstockern der Bedarfssatz verrechnet. In gleicher Weise verhält es sich bei den Kinderzuschlägen. Das heißt, jedes Kind, das kinderzuschlagsberechtigt ist - so sind die Informationen, die uns das Ministerium gegeben hat -, ist auch kinderbedarfspaketberechtigt. Das ist die Leistung, die bei einem Anwachsen der eigenen Leistungsfähigkeit als letzte wegfallen würde. Sie können sich gerne noch einmal beim Ministerium kundig machen. Es wäre gut, wenn die vereinigte Linke in diesem Hause etwas mehr auf das Ministerium als auf den Kölner Stadt-Anzeiger hören würde. Bei allem Respekt vor dem Journalisten, aber hier gibt es die Informationen und nicht im Kölner Stadt-Anzeiger. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist doch zugegeben worden!) Meine Damen und Herren, jeder Empfänger von Hartz-IV-Leistungen hätte sich grundsätzlich über höhere Regelleistungen gefreut. Das ist kein Thema. Aber der Staat muss sich nicht nur ihnen gegenüber rechtfertigen, sondern auch gegenüber den Menschen mit niedrigem Einkommen. Darauf habe ich bereits hingewiesen. Im Übrigen halte ich das Kinderbedarfspaket für eine reelle Chance. Einige Kollegen von der SPD haben moniert, dass viele Schulen noch kein warmes Mittagessen anbieten. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines Schulaufwandsträgers. Wenn er weiß, dass seine Klientel ein warmes Mittagessen nachfragt, dann wird er ein entsprechendes Angebot schaffen. Ich bin der Auffassung: mens sana in corpore sano. Es ist richtig, über ein warmes Mittagessen, über die Beteiligung in Sportvereinen und Musikvereinen - ich selbst bin in einem Musikverband organisiert - die Möglichkeiten der Kinder zur Teilhabe an Bildung und Gesellschaft zu verbessern. Das tun wir mit diesem Gesetz. Es ist ein gutes Gesetz. Jeder, der es mit den Langzeitarbeitslosen ernst meint, insbesondere die SPD und die Linke, müsste diesem Gesetz zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Um Gottes willen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich habe jetzt über eine Stunde zugehört, wie Sie verzweifelt versucht haben, die intransparenten Regelsätze zu verteidigen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Zum ersten Mal sind sie transparent!) Ich kann nicht sagen, dass sie für mich transparenter geworden sind, im Gegenteil. Strategien und Wege aus der Armut habe ich von den Rednern der Regierungskoalition überhaupt nicht gehört. (Beifall bei der SPD) Gestern in der Aktuellen Stunde (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wurde viel Gutes gesagt!) habe ich das wahre Gesicht von Frau von der Leyen kennengelernt. Das war ein anderes Gesicht als in den letzten Jahren. Vergessen sind ihre Zeiten als Familienministerin. Damals - muss man sich erinnern - war es mit uns, also mit der SPD, im Rücken für sie sehr leicht, die Kämpferin für die Familie herauszukehren. Damals haben wir gemeinsam Wege aus der Armut beschritten. Wir haben mit dem Kinderzuschlag 300 000 Kinder aus der Armut geholt. Wir haben mit einem bedarfsgerechten Ausbau bei der Kinderbetreuung die Bildungsbeteiligung für die Kinder verbessert. Mit unserem Mindestelterngeld haben wir auch arbeitslose Eltern mit 300 Euro unterstützt. Schon damals war es der richtige Weg, zwei Dinge zu tun, nämlich finanzielle Unterstützung zu gewähren und Bildungsinfrastruktur auszubauen. Das sind die wahren Strategien, um Armut zu bekämpfen. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich frage mich, was aus der Ministerin heute geworden ist, ohne die SPD im Rücken, aber mit Herrn Westerwelle und Herrn Seehofer im Nacken, so muss man ja schon sagen. Während wir hier locker über die Agenda 5 Euro - so stand es heute in der Zeitung - diskutieren, schafft sie nämlich gleichzeitig ganz unsoziale Fakten. Sie nimmt den Ärmsten der Armen die 300 Euro Elterngeld wieder weg. Sie kürzt die Altersversorgung, weil sie Beiträge in die Rentenversicherung nicht mehr zahlt. Ferner streicht sie - es stand heute in der Zeitung; wir haben es gerade noch einmal gehört - den Kindern mit Kinderzuschlag die 100 Euro für das Schulbedarfspaket. Damit verhöhnen Sie genau die Menschen, die unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten; denn Elternarmut, Kinderarmut und vor allem Altersarmut sind mit Ihrer unsozialen Politik vorprogrammiert. (Beifall bei der SPD) Mit unserem Antrag, den wir heute diskutieren, zeigen wir ein schlüssiges Konzept zur Bekämpfung der Armut auf. Ich möchte auf drei Vorschläge eingehen. Für mehr reicht meine Zeit nicht; ich habe nur sechs Minuten. Das erste Ziel ist für uns natürlich, die Spirale der Armut zu durchbrechen. Über 1,3 Millionen Menschen in Deutschland - wir haben es heute an verschiedenen Stellen schon gehört - arbeiten, doch sie können von ihrem Einkommen nicht leben und brauchen zusätzliche Unterstützung. Wie einfach wäre es, mit einem Mindestlohn diese Spirale der Armut zu durchbrechen? Das wäre der richtige Weg. Höhere Zuverdienstgrenzen à la Westerwelle dagegen sind ein Dammbruch für die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Herr Lehrieder, kommen Sie und die anderen mir nicht mit dem Argument, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Arbeitsplätze vernichten, ja!) Schauen Sie sich die Statistiken einmal genau an. In den Ländern, in denen es Mindestlöhne gibt, zum Beispiel in Großbritannien, liegt die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten bei 4,8 Prozent. In Deutschland beträgt sie 20 Prozent. Das ist der Skandal, und das ist die Wahrheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Punkt zwei, den ich erwähnen möchte, ist folgender: Gute existenzsichernde Löhne sind das eine, aber schnelle Integration in den Arbeitsmarkt ist das andere. Was war die Antwort von Frau von der Leyen gestern in der Aktuellen Stunde? Sie hat vehement vertreten, wir müssen dafür kämpfen, dass der SGB-II-Bezug so kurz wie möglich ausfällt. Natürlich, Menschen schnell in Arbeit zu bringen, ist unser oberstes Ziel. Aber was tun Sie? Es ist ja bei dieser Ministerin immer das Gleiche gewesen: Zwischen dem Tun und dem Sagen liegt das Meer. Sie kürzt nämlich gleichzeitig die aktiven Arbeitsmarktmittel um 16 Milliarden Euro in den nächsten 4 Jahren. Was das mit Armutsbekämpfung zutun hat, ist mir schleierhaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Last, but not least - wir haben heute schon öfter darüber diskutiert - verweist Frau von der Leyen stolz auf das Bildungspaketchen, auf das neue Bildungspaket. Damit bin ich bei dem dritten und wichtigsten Punkt, dem Kern des Themas einer nachhaltigen Armutsbekämpfung. Echte Bildungsbeteiligung lässt sich nur mit guten Kitas und Ganztagsschulen vor Ort organisieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Daher fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einen Rechtsanspruch auf Bildung, und zwar für alle Kinder. Das ist der richtige Weg aus der Armut. Ich fordere Sie auf: Starten Sie zusammen mit Ihrer Kollegin Schavan - sie ist auch nicht mehr da; aber das ist egal - eine nationale Bildungsoffensive, in der Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie nicht wieder kostbare Zeit - wie in den letzten acht Monaten - ungenutzt verstreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das Europäische Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Was macht Frau Schröder als zuständige Ministerin für Familie und Jugend? Sie ist anscheinend abgetaucht; sie ist auch gerade nicht anwesend. Es gibt hier wohl keine Ministerin, die sich für Strategien, aus der Armut zu kommen, interessiert. Ich sage dieser Ministerin - das ist weiterhin ein Auftrag; es geht nicht nur um Infrastruktur -: Schaffen Sie das unsinnige Betreuungsgeld ab. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Worin besteht die Bildungsbeteiligung, wenn man Eltern eine Prämie dafür zahlt, dass ihre Kinder von der Bildung ferngehalten werden? Nehmen Sie die 1,5 Milliar-den Euro und bauen Sie Kitas und Ganztagsschulen aus. (Zuruf von der CDU/CSU: Legen Sie einmal Ihre Rede auf Wiedervorlage!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Humme, kommen Sie bitte zum Schluss. Christel Humme (SPD): Wir reden hier über unseren Antrag. Dass Sie ihn nicht gelesen haben, habe ich in der Debatte vorhin ganz genau gemerkt. (Beifall bei der SPD) Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, wie Armutsbekämpfung aussehen muss. Lobbypolitik für Hoteliers und Atomindustrie werden Sie dort genauso wenig finden wie Haushaltssanierung auf Kosten der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Sie betreiben eine unsoziale Politik, die die soziale Ausgrenzung und Spaltung in der Gesellschaft verstärkt. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich nenne drei gute Nachrichten von dieser schwarz-gelben Bundesregierung: Erstens. Die Wirtschaft boomt. Wir sind damit international spitze. Zweitens. Die beste Nachricht kommt heute aus Nürnberg. Die Arbeitslosenquote ist weiter gesunken. Die Zahl der Arbeitslosen liegt bei 3,3 Millionen. Ich erinnere: Während Rot-Grün lag sie bei 5 Millionen. Drittens. Diese schwarz-gelbe Bundesregierung investiert in einem Maß, wie es zuvor nicht der Fall war, in Bildung. Mit 12 Milliarden Euro sind wir auch hier spitze und Vorreiter. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Damit kann ich Ihnen ganz gelassen gegenüberstehen, wenn Sie uns vorwerfen, wir würden nichts für die Bildungschancen der Kinder tun. Fehlanzeige! Was haben Sie denn getan? Sie haben null Komma null an Bildung gedacht, als Sie das rot-grüne Hartz-IV-Konzept aufgelegt haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir investieren zum ersten Mal direkt in die Bildung von Kindern, in die Teilhabechancen von Kindern, und zwar durch unser Bildungspaket, das ich von Ihnen nicht als "Bildungspäckchen" verunglimpfen lassen möchte. Denn, wie gesagt, bei Ihnen war null Komma null in der Tasche. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Sie wissen, dass das nicht stimmt!) Wir investieren in die Ermöglichung von Lernförderung. Wir investieren in ein warmes Mittagessen. Wir investieren in Teilhabe beispielsweise durch Sportvereine. Dabei denkt hier keiner an Reitunterricht oder sonst etwas; auch ein Fußballverein bietet eine Teilhabechance. Da investieren wir. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Gruß, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald von den Linken? Miriam Gruß (FDP): Ja. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Frau Kollegin Gruß, Sie haben sich eben dagegen verwahrt, dass das Bildungspaket "Bildungspäckchen" genannt wird. Sie verweisen immer auf die 620 Millionen Euro. Wenn ich jetzt die 620 Millionen Euro nehme und durch 1,7 Millionen arme Kinder teile, komme ich auf den Wert von 1 Euro am Tag. Können Sie nachvollziehen, dass man angesichts dieser Größenordnung sehr wohl von einem "Bildungspäckchen" sprechen kann? Miriam Gruß (FDP): Nein, das kann ich nicht nachvollziehen. Denn vorher - das habe ich gerade eben gesagt - gab es null Komma null für Bildung oder Teilhabe. Deswegen lasse ich diesen Vorwurf an dieser Stelle nicht gelten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch einmal: Wir nehmen doch keine Zahlen aus Wolkenkuckucksheim, sondern wir nehmen die Zahlen, die von Familien aufgeschrieben worden sind. Wir nehmen die Zahlen von Familien, die Kinder haben und die wollen, dass ihre Kinder in Sportvereine gehen. (Diana Golze [DIE LINKE]: Dann legen Sie uns die Zahlen doch einmal vor!) Diese Zahlen haben wir angeschaut und ausgewertet; sie stehen jetzt zur Verfügung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Gruß, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Mast? Miriam Gruß (FDP): Bitte schön. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die ich jetzt zulasse. Miriam Gruß (FDP): Ja, aber ich bin ja gnädig. Katja Mast (SPD): Mit Gnädigkeit hat das nichts zu tun, Frau Kollegin Gruß, wenn wir hier parlamentarische Gepflogenheiten wahren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Frau Kollegin Gruß, können Sie mir bestätigen, dass in der Großen Koalition ein Schulbedarfspaket nur für Schulmittelbedarf von 100 Euro eingeführt worden ist und Sie jetzt einen Bedarf für Mittagessen, Nachhilfe, kulturelle Teilhabe und Vereinsteilhabe von 120 Euro pro Jahr definieren? Finden Sie das verhältnismäßig und angemessen: 100 Euro für Schulbedarf und 120 Euro für kulturelle und soziale Teilhabe und warmes Mittagessen? (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Die kommen doch zu den 100 Euro noch dazu, Frau Mast!) Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das davon bezahlen kann. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Zusammen schon! Das kommt doch noch dazu!) Dazu hätte ich gerne Ihre Meinung gehört. (Beifall des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Miriam Gruß (FDP): Ich stelle eine Frage zurück: Was haben denn Sie in Ihrem Hartz-IV-Gesetz berücksichtigt? Wo war denn das Geld, das Sie für Bildung und Teilhabe zur Verfügung gestellt haben? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau! Nichts haben die gemacht! Das kannst du vergessen! - Oliver Kaczmarek [SPD]: Das ist keine Antwort, Frau Gruß! Das ist Arroganz!) Das Schulstarterpaket, sehr geehrte Frau Kollegin, gibt es seit gut einem Jahr. Es wurde nicht auf den Weg gebracht, als Rot-Grün die Hartz-IV-Gesetze gemacht hat, sondern unter Schwarz-Rot; aber es gibt es zugegebenermaßen erst seit etwa einem Jahr. (Oliver Kaczmarek [SPD]: Kennen Sie das Ganztagsschulprogramm?) Unsere Anstrengungen für Bildung und Teilhabe kommen nun hinzu. Ich sage nochmals: Wir definieren gar nichts, sondern wir setzen das um, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das ist arrogant!) Wir investieren in Bildung und nehmen dafür ordentlich Geld in die Hand. Natürlich ist wünschenswert, dass die Möglichkeiten in diesem Bereich ausgebaut werden. Aber, meine Damen und Herren, wir alle sind in einem bestimmten Bundesland zu Hause, und auch dort wird regiert. Deswegen appelliere ich an Berlin und die anderen Länder, zum Beispiel an NRW, wo Rot-Grün regiert: Machen Sie in der Bildungspolitik Ihre Hausaufgaben! (Sebastian Blumenthal [FDP]: Schulden machen die! Sonst nichts!) Schaffen Sie doch noch mehr Ganztagsschulen! Sorgen Sie für noch mehr Bildungschancen und Teilhabe! (Beifall bei der FDP) In den Ländern, in denen Sie regieren, häufen Sie allerdings nur noch mehr Schulden an. Die Kinderarmut ist trotzdem erheblich gestiegen, siehe Berlin. (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Meine Damen und Herren, in anderen Bundesländern, beispielsweise in Bayern, ist die Situation verhältnismäßig gut. Warum? Ich sagte es ganz am Anfang: weil dort massiv in Arbeit und Wirtschaft investiert wird, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau! Weil CSU und FDP regieren!) um dafür zu sorgen, dass die Familien eigenständig sind, ein selbstständiges Einkommen haben und die Zukunft ihrer Kinder sichern können. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig! Ja!) Um diejenigen, die ihre Zukunft nicht aus eigener Kraft sichern können, zu unterstützen, haben wir das Thema Bildung ganz explizit in die existenzfördernden Maßnahmen aufgenommen. Deswegen kann ich Ihre Vorwürfe an dieser Stelle nicht nachvollziehen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Meine Damen und Herren, ich will Ihnen erklären, was im Sommer dieses Jahres den Medien zu entnehmen war. Natürlich können wir uns vorstellen, dass die Bildungskarte, die als Vehikel bezeichnet wurde und auch so verstanden werden kann, ausgeweitet wird. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass sich gerade die Familien, deren Einkünfte nur knapp über Hartz-IV-Niveau liegen, denken: Warum sind wir die Gekniffenen? (Sebastian Blumenthal [FDP]: So ist es!) Auch diese Familien sollen die Chance haben, ihren Kindern Bildung und Teilhabe zu ermöglichen. Die sogenannte Bildungskarte kann Bildung und Teilhabe gewährleisten. Andere Länder, einzelne Kommunen und Bundesländer machen uns das bereits vor. Das ist der Hintergrund dieser Diskussion. Zum 1. Januar nächsten Jahres setzen wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil um, können uns allerdings sehr gut vorstellen, dass die entsprechenden Regelungen insgesamt ausgeweitet werden. Jetzt noch kurz zum Kinderzuschlag. Informieren Sie sich, wie die aktuelle Situation ist. Die Kinder bzw. Familien, die den Kinderzuschlag bekommen, sind von den Maßnahmen nicht betroffen. Sie erhalten die Leistungen, die im Bildungspaket enthalten sind, nach wie vor. (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) Meine Damen und Herren, diese schwarz-gelbe Regierung (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sagen Sie lieber "christlich-liberal"!) investiert tatsächlich in Bildung und Teilhabe. Von Ihnen lassen wir uns rein gar nichts vorwerfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Heike Brehmer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Sie, verehrte Opposition, so reden hört, dann hat man den Eindruck, dass die Hartz-IV-Reform als Waisenknabe auf die Welt gekommen ist. (Dagmar Ziegler [SPD]: Wird das eine Büttenrede?) Wenn Sie noch einen Funken politischen Anstands haben, erinnern Sie sich an ihre geistigen Eltern. Die damalige rot-grüne Bundesregierung und Ihr Bundeskanzler Schröder haben diese Reform als größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik propagiert. (Beifall bei der CDU/CSU - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Genauso war es! Aber davon wollen die nichts mehr wissen! - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Kollektive Amnesie!) Damals haben Sie gejubelt. Aber jetzt, da wir es besser machen, betreiben Sie Miesmacherei. Allerdings - das sollte nicht in Vergessenheit geraten - war und ist Hartz IV eine Erfindung von Rot-Grün auf Bundesebene, keine Erfindung der Union. Mit den von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen setzen wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts um. Wie gestern in der Aktuellen Stunde für jedermann sichtbar wurde, haben Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts offenbar noch immer nicht verstanden. (Christel Humme [SPD]: Doch! Wir schon!) Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Hartz-IV-Regelsätze sind vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht für verfassungswidrig erklärt worden. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! - Katja Kipping [DIE LINKE]: Doch!) Es wurde vielmehr Transparenz gefordert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es! Und keine Schätzungen, wie bei Rot-Grün noch üblich!) Die Höhe der Regelsätze wurde nicht beanstandet. Wären die Regelsätze nicht beim Verfassungsgericht gelandet, dann hätten Sie die bisherige Regelung weiterhin für gut befunden. (Dagmar Ziegler [SPD]: Sie auch!) Zu Ihrer Zeit betrug der Regelsatz 345 Euro. Inzwischen beträgt der Regelsatz 359 Euro. Künftig bekommen die Betroffenen 364 Euro. Diese Steigerung bedeutet allein im nächsten Jahr rund 400 Millionen Euro mehr Sozialausgaben. Dazu stehen wir trotz der Schuldenbremse. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Den Kindern wird die Teilhabe an Bildung ermöglicht. Jetzt gibt es erstmals über 250 Euro pro Kind pro Jahr. Wieso haben Sie das über die ganzen Jahre hinweg verschlafen? Endlich stehen die Belange der Kinder im Mittelpunkt. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Teilnahme an Wandertagen, an Schulausflügen, an außerschulischen Vereinsaktivitäten und nötigenfalls Kosten für Nachhilfeunterricht sowie ein Zuschuss von knapp 2 Euro pro Mittagessen in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen - das ist unser neuer Weg. (Beifall bei der CDU/CSU - Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Sie bekommen auch in Ostdeutschland keinen Nachhilfeunterricht für 25 Cent!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald? (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der Kollege hat heute aber viel Informationsbedarf!) Heike Brehmer (CDU/CSU): Aber gerne, wenn es meine Redezeit verlängert. Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Bitte sehr. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Frau Kollegin Brehmer, Sie haben gesagt, die neuen Regelsätze seien transparent hergeleitet worden. Können Sie nachvollziehen, dass angesichts der Tatsache, dass im Existenzminimumbericht vom 27. Oktober 2008 - es war der siebte - wörtlich zu lesen ist: "Daher wird für 2010 ein Regelsatzniveau bei Alleinstehenden von 4.368 Euro (364 Euro/Monat) und bei Ehepaaren von 7.860 Euro (655 Euro/Monat) in Ansatz gebracht", die Annahme naheliegt, dass die 364 Euro schon seit zwei Jahren politisch gewollt sind und man nicht zu der Einschätzung kommt, dass die neuen Zahlen jetzt extra gerechnet worden sind? (Beifall bei der LINKEN) Heike Brehmer (CDU/CSU): Mein lieber Kollege, Ihre Auffassung teile ich nicht. Die Regelsätze sind transparent dargestellt worden. Jeder Bürger hat erstmalig die Möglichkeit, das nachzuvollziehen. Schauen Sie auf die Homepage des Bundesministeriums. Dort können Sie die Tabellen einsehen. Wir haben umfangreiches Material zur Verfügung gestellt bekommen. Deswegen kann ich Ihre Auffassung nicht teilen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Katja Kipping [DIE LINKE]: Geben Sie uns die Rohdaten! Dann rechnen wir nach!) Die christlich-liberale Koalition stellt die Kinder in den Mittelpunkt. Wir haben diese Notwendigkeit erkannt; Sie haben sie leider verschlafen. Für diese Maßnahme werden insgesamt 620 Millionen Euro bereitgestellt. Hier wird in junge Menschen investiert, damit ihnen von Kindesbeinen an aus der Hartz-IV-Szene geholfen werden kann. (Zurufe von der SPD, der LINKEN und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: "Hartz-IV-Szene"? - Dagmar Ziegler [SPD]: Unglaublich! - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist das denn?) Herr Trittin ist leider nicht mehr da. In den Medien konnten wir lesen, dass er die Pläne als "soziale Kälte vom Schlimmsten" bezeichnet hat. Frau Schwesig von der SPD nannte es gestern sogar ein "unwürdiges Schmierentheater auf Kosten der Ärmsten". (Beifall bei der CDU/CSU - Anton Schaaf [SPD]: Jawohl, da hat sie recht!) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, so nennen Sie heute eine Reform, welche Sie damals, als Sie Regierungsverantwortung trugen, auf den Weg gebracht und als die größte Arbeitsmarktreform betitelt haben. Bei einem so ernsten Thema sollte man die Menschen nicht ungerechtfertigt aufstacheln, sondern ihnen mit Sachlichkeit und Alternativen begegnen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Dann müssen Sie eine andere Rede halten!) Die Forderung "Mehr Geld!" allein reicht nicht. Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Der Redakteur der Bild-Zeitung, Herr Nikolaus Blome, hat in dieser Woche kommentiert - das konnten Sie alle nachlesen; ich zitiere wörtlich -: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hochseriöse Quelle! - Katja Kipping [DIE LINKE]: Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind! Verstecken Sie sich jetzt hinter der Bild-Zeitung?) Schrill, schriller, Hartz-IV: Opposition, Gewerkschaften und "Sozialverbände" toben ... Ich zitiere wörtlich weiter: Das ist unterste Schublade. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das schreibt die Bild-Zeitung! - Dagmar Ziegler [SPD]: Wir kennen ja jetzt Ihr Niveau!) - Genau. - Des Weiteren kritisiert er in seinem Artikel: In Wahrheit ist Hartz IV viel besser als sein Ruf. ... SPD und Grüne wussten das einmal. Dass Sie jetzt für ein bisschen billigen Applaus das Gegenteil behaupten, ist der wahre Hartz-Skandal. (Beifall bei der CDU/CSU - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es! Schämen sollten Sie sich!) Lassen Sie uns zur Sachlichkeit zurückkehren. (Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann zitieren Sie nicht die Bild-Zeitung!) Lassen Sie uns gemeinsam das Verfassungsgerichtsurteil im Interesse der Betroffenen und vor allem der betroffenen Kinder umsetzen. Die christlich-liberale Koalition ist sich darüber einig, dass Hartz IV für den Betroffenen kein Dauerzustand sein soll. Unser Ziel muss es sein - - Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Schmidt würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Heike Brehmer (CDU/CSU): Wenn es meine Redezeit weiterhin verlängert, gern. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Frau Brehmer, Sie sind ja ehemalige Landrätin des Landkreises Aschersleben-Staßfurt. Wissen Sie, wie viel Geld vom Bund für Ganztagsschulen geflossen ist? Haben Sie als Landrätin dieses Geld für Ihren Landkreis eingesetzt, und wissen Sie, dass wir in diesem Zusammenhang natürlich etwas für Kinder getan haben? Heike Brehmer (CDU/CSU): Als Landrätin habe ich die Mittel, die wir zur Verfügung hatten, natürlich auch eingesetzt. (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Sehr schön!) Zu meiner Zeit haben wir aber keine Ganztagsschulen ausgebaut, die Programme waren damals erst auf dem Weg. (Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah!) Wir haben natürlich Wert darauf gelegt, dass das Geld in die Umsetzung richtiger Konzepte und nicht einfach pauschal geflossen ist und dass das auch mit Bildungsinhalten unterlegt war. Ich möchte Ihnen das auch einmal sagen: Vor Ort wird sehr viel getan. Man kann die Verantwortung nicht dem Bund alleine auferlegen, sondern auch die Länder und Kommunen sind in der Pflicht, etwas für Bildung zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die christlich-liberale Koalition ist sich darüber einig, dass Hartz IV für die Betroffenen kein Dauerzustand sein soll. Unser Ziel muss es sein, die Betroffenen besser als bisher zu qualifizieren, sie umzuschulen und in Arbeit zu vermitteln. Das gilt besonders in einer Zeit rückgängiger Arbeitslosigkeit. Wir werden uns so gut wie noch nie um die Langzeitarbeitslosen kümmern. Dafür gibt es drei Schritte: An dem ersten haben Sie von der SPD mitgewirkt, nämlich an der Jobcenterreform. Der zweite Schritt sind Maßnahmen wie die Umsetzung der Bürgerarbeit bundesweit. Wir kümmern uns künftig um die Alleinerziehenden und werden sie aus der Hartz-IV-Isolierung herausholen. Der dritte Schritt wurde heute schon mehrfach genannt: Wir werden die arbeitsmarktpolitischen Instrumente wirksamer machen. So werden wir in Deutschland eine neue Sozialpolitik mit besserer Qualität umsetzen. Wie Sie wissen, komme ich aus einem Bundesland mit einer etwas höheren Arbeitslosigkeit. Von 1994 bis 2002 waren wir Opfer einer Tolerierung von Rot-Grün durch die Linken. Ich erspare Ihnen, zu sagen, was dabei herausgekommen ist, aber die Mitteldeutsche Zeitung in Sachsen-Anhalt hat am Montag eine TED-Umfrage durchgeführt. Die Frage lautete: Halten Sie eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze um 5 Euro für angemessen? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie wollten zur Sachlichkeit zurückkehren! TED-Umfrage!) 58,81 Prozent stimmten mit Ja, und 41,19 Prozent stimmten mit Nein. Ich finde, dadurch sollten Sie zum Nachdenken angeregt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Diana Golze [DIE LINKE]: Vielleicht wollten sie aber auch noch mehr! - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie wieder zurück und werden Sie Landrätin!) Sehr geehrte Damen und Herren, ich sage dies sehr ernst: Es macht keinen Sinn, Steuerzahler und Empfänger von Sozialleistungen gegeneinander auszuspielen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Warum tun Sie es denn dann?) Fakt ist: Was wir verteilen und an Sozialleistungen zur Verfügung stellen, muss durch den Steuerzahler hart erarbeitet werden. (Beifall der Abg. Mechthild Heil [CDU/CSU]) Was denken Sie eigentlich, wie diese Debatte und Ihre Aussagen auf all die Betroffenen wirken? Wer arbeitet, muss mehr haben. Wir brauchen sozial gerechte Lösungen, und diese setzen wir in der christlich-liberalen Koalition um. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vielleicht geht es Ihnen so wie mir: Ich bin bisher immer davon ausgegangen: Auch Parlamentarier sind lernende Systeme. Im Verlauf dieser Debatte sind mir allerdings erhebliche Zweifel gekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deshalb möchte ich, bevor ich zur Sache spreche, Frau Heil, Herrn Lehrieder und Herrn Vogel ansprechen. Frau Heil, Sie haben ja die Vergesslichkeit erwähnt. Ich habe schwere Bedenken hinsichtlich Ihres Erinnerungsvermögens. Ich bekenne mich dazu: Ich habe der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe damals zugestimmt. (Beifall der Abg. Mechthild Heil [CDU/CSU] - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) Ich verstecke mich nicht hinter dieser Entscheidung. Seinerzeit saß eine prominente Sozialministerin auf der Bank der Bundesländer. Es gab keine Einrede. Soll ich Ihnen sagen, wie sie hieß? Sie haben das vergessen. Sie hieß Ursula von der Leyen. Insofern sage ich einmal: Bei Vaterschaften, Mutterschaften oder aber Patenschaftsverhältnissen, Herr Kollege Lehrieder, finde ich, sollten wir auf dem Boden der Tatsachen bleiben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Gesetzentwurf war damals von Ihnen, Frau Lösekrug-Möller!) Herr Vogel, Sie haben dieses nette Bild einer trittfesten Leiter benutzt. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Ich stelle mir diese trittfeste Leiter gerade vor, bezogen zum Beispiel auf die Frage warmes Mittagessen. Das ist ja ein wichtiges Stichwort. Damit wärmt ja Ministerin von der Leyen die ganze Welt. Wissen Sie, dieser Trittleiter fehlen im Grunde genommen immer vier Stufen, es ist nur jede fünfte da. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Denn mehr Kinder haben überhaupt keinen Zugang zu einem warmen Essen in Einrichtungen. Insofern, finde ich, ist es mit der trittfesten Leiter von da unten nach da oben nicht weit her. Ich bin gespannt, wie Sie die weiteren fehlenden Stufen jetzt ergänzen werden. Wir haben dazu Vorschläge. Deshalb komme ich zu unserem Antrag und zu dem Antrag der Grünen, denn das ist heute Gegenstand der Beratung. Gestern hatten wir Gelegenheit, zu erleben, dass das durchaus enttäuschend und mutlos ist, was in dem Gesetzentwurf steht, der gestern Anlass für die Aktuelle Stunde war. Wir haben heute bessere Vorschläge zu diskutieren. Ich habe gestern eine Ministerin und heute auch die Mehrheit in diesem Haus erlebt, die im Grunde genommen eines nicht sind: Sie sind nicht Lobby kleiner Leute. Das ist mein großer Vorwurf an Frau von der Leyen und auch an Sie. (Beifall bei der SPD - Zuruf der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU]) - Frau Connemann, das werden Sie auch nicht ändern können. Ich sehe das schon. Ich begründe das jetzt auch. In dieser Diskussion über die Höhe der Regelsätze werden nämlich zwei bedürftige Gruppen in unserer Gesellschaft gegeneinander ausgespielt. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wer bezahlt denn Hartz IV?) Sorgen Sie für ein höheres Lohnniveau. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann haben wir auch die Chance, dass es endlich aufhört, dass Umfragen dabei herauskommen, die die Menschen, die wenig verdienen, Ja zu der Frage sagen lassen, ob sie eine Erhöhung angemessen finden oder ob es mehr sein sollte. Dann sagen sie Nein, weil sie selber fleißig sind und viel arbeiten und trotzdem nicht genug nach Hause bringen. Das ist der eigentliche Skandal in unserer Gesellschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Insofern sage ich, dieses Ministerium ist eine schlechte Lobby, und deshalb haben wir eine Debatte auf einem anderen Level, nämlich auf dem Level einer horizontalen Gerechtigkeit, die Sie auf einem Niveau herstellen, das ich persönlich unwürdig finde. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will dazu sagen, dass ich leider nicht die Hoffnung habe, dass sich das ändert. Denn in wenigen Wochen werden wir es erleben, dass wir hier über Hinzuverdienst reden. Was ist das eigentlich wirklich? In Wirklichkeit heißt das: Sie zementieren Bedürftigkeit. Noch mehr Menschen als jetzt werden über Niedriglöhne in prekärer Beschäftigung sein, abhängig von Leistungen nach dem SGB II. Das, Herr Vogel, ist so, auch wenn Sie den Kopf schütteln. Wir werden unseren Protest deutlich machen. Denn wir haben die Vorstellung, dass eine Art Reichtum aus dieser prekären Situation herausführt, worüber hier noch gar nicht gesprochen wurde. Wir plädieren dafür, dass wir uns der Frage Bildungsreichtum stellen. Die kommt über Ihren Gesetzentwurf auch nicht daher. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir setzen auf bessere Infrastruktur in der Bildung; wir setzen darauf, dass jedes Kind eine Chance bekommt. Ernsthaft: Die Formulierung in dem Gesetz für die Begründung der Nachhilferegelung ist nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Wir werden es erleben. Ich glaube nicht, dass es Kinder wirklich nach vorn bringen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Im Übrigen - das will ich Ihnen sagen - gibt uns auch die OECD recht mit unserem Ansatz, der sich in dem Antrag wiederfindet, über den wir hier reden. Die OECD sagt, die Staaten, die den Sozialstaat nicht gegen Bildungsinvestitionen ausspielen, kommen gut nach vorn. Dafür gibt es Belege. So wollen wir das auch in Deutschland - keine Selektion und kein Gegeneinanderausspielen von Armen und Chancenlosen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Insofern sagen wir: Es gehört deutlich mehr Mut hierher. Das Prinzip, das sich derzeit bei der Regierung wirklich Bahn bricht, ist ja: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nichts hat, der hat eben Pech gehabt. So kann man das wohl am besten zusammenfassen. (Widerspruch bei der FDP) Deshalb möchte ich Ihnen abschließend eine Empfehlung geben. Sie appellieren an das Verantwortungsgefühl der Sozialdemokraten, wenn es darum geht, dass die Gesetzesvorlage ja den Bundesrat erreichen wird: Schauen Sie doch noch einmal in das hinein, was Sie gemacht haben! Geben Sie sich mal einen Ruck, zu sagen: Wir begleiten das Ganze mit einem dicken Investitionspaket. Das würde übrigens auch Landkreisen in den neuen Bundesländern sehr guttun, Frau Landrätin in Ruhe oder a. D. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Insofern finde ich: Es ist noch nicht zu spät. Ich komme auf den Beginn meiner Rede zurück: Meine Zweifel allerdings, inwieweit wir es bei der Regierung bzw. der Mehrheit mit einem lernenden System zu tun haben, haben heute kräftig Nahrung bekommen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Michael Kretschmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Dinge sind auffällig in der Debatte. Das Erste ist: Die Linke versucht permanent, die Verantwortung der rot-grünen Regierung für die Hartz-IV-Gesetze zu leugnen. (Zurufe von der LINKEN: Das tun wir nicht!) Das ist nicht in Ordnung. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Es war Ihr Bundeskanzler Schröder, der den gleichnamigen Spitzenmanager Hartz eingesetzt hat, der später wegen zu viel Rotlicht aus dem Amt gejagt wurde und der an vielem schuld ist, was wir heute zu diskutieren haben. Wir legen transparente Berechnungsmethoden vor, die nachvollziehbar sind. Das ist wichtig für den sozialen Frieden in diesem Land. Es ist gut, dass wir das jetzt endlich so machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einfach über den rot-grünen Daumen zu peilen und zu sagen: "Das ist der Bedarf für Kinder", ist nicht in Ordnung. Nein, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie haben einen eigenen Bedarf. Das Zweite ist: Es wird hier permanent der Eindruck erweckt, als könnte nur der Bund in der Frage der Bildung und auch der Grundsicherung richtig agieren. Auch das ist falsch. Kommunen, Länder und der Bund tragen gemeinsam Verantwortung. Ich kann nur vor Hochmut und davor warnen, meine Damen und Herren von der linken Seite, hier den Eindruck zu erwecken, als würden sich die Länder, die Bürgermeister und auch die Landrätinnen und Landräte dieser Verantwortung nicht stellen. Das ist nicht redlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich finde es richtig, auch heute noch einmal den Grundsatz zu betonen und dazu zu stehen - ich glaube, dass die Mehrheit der Deutschen das ganz genauso sieht -, dass diejenigen, die arbeiten, mehr haben müssen als diejenigen, die von Sozialleistungen leben, die von denen erarbeitet werden, die die Steuern zahlen. Deswegen muss es das Lohnabstandsgebot geben. Das halten wir ein, das ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Mehrheit der Deutschen und sogar die Mehrheit der Hartz-IV-Empfänger sagt: Die Einführung von Sachleistungen ist richtig. - Ich bin schon immer der Meinung gewesen, dass die Linken schlechte Anwälte der kleinen Leute sind. Ich würde es anders formulieren: Die kleinen Leute sind erwachsen geworden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wollen nicht mehr das, was Sie sich ausdenken. 54 Prozent derjenigen, die von Hartz IV betroffen sind, sagen Ja zu Sachleistungen. Was ist denn das für ein Signal? Die Menschen merken, dass die Lösungen, die bisher vorhanden waren, nicht richtig funktioniert haben. Nicht bei allen, die in der Grundsicherung waren, aber bei einem großen Teil ist das Geld für die Kinder nicht angekommen. Deswegen muss man das jetzt ändern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesrepublik Deutschland hat seit mehreren Jahren klare Schritte in Richtung Innovation getan. Wir meinen es mit der Wissensgesellschaft, der Bildungsrepublik, wie wir das nennen, ernst. Wir sind deutlich besser als andere Länder durch diese Krise gekommen, weil wir schon vor Jahren auf Innovationen gesetzt haben. Wir stellen in dieser Legislaturperiode 6 Milliarden Euro mehr für Bildung und 6 Milliarden Euro mehr für Forschung zur Verfügung. Wir wollen das 10-Prozent-Ziel erreichen. Ich glaube, dass es richtig ist, wenn wir im Zusammenhang mit der Grundsicherung über das Thema Bildung reden. Das ist etwas Neues. Es gab viele Jahre Sozial- und Arbeitsminister der SPD, die das nicht getan haben. Aus diesem Grunde sollten Sie zuerst einmal anerkennen, dass wir einen neuen Weg gehen. Ich finde es lobenswert, dass wir das tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Verantwortlich sind zunächst einmal die Eltern. Deswegen muss der Grundsatz auch bei dem neuen Projekt lauten, dass wir die Eltern nicht aus der Verantwortung entlassen dürfen. Im Gegenteil: Wir müssen sie stark mit einbeziehen. Verantwortung tragen auch die Länder und die Kommunen. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Angeboten, die funktionieren und an die man anknüpfen muss. Ein weiterer Grundsatz ist folglich: Wir wollen vorhandene Dinge nutzen, und wir wollen gemeinsam mit den Trägern der Bildung Verantwortung tragen. Selbst wenn wir es wollten, könnten wir auch nur im Ansatz all das gar nicht übernehmen, was schon heute geleistet wird. Allein die Finanzierung des kostenlosen Mittagessens - bisher wird es von den Eltern finanziell getragen - hat ein Volumen von 5 Milliarden Euro. Schon anhand dieser Zahl sieht man, dass es unmöglich ist, dass der Bund dies übernimmt. Angesichts dessen sagen wir jetzt: Wir wollen denjenigen helfen, die an dieser Stelle ein Problem haben. 620 Millionen Euro ist eine ganze Menge Geld. Mit diesem Geld kann man viel tun, vor allen Dingen, wenn man es zielgenau einsetzt. Das wollen wir jetzt durch die Sachleistungen tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Euro pro Kind pro Tag!) Diese Bildungsdefizite sind auf ganz verschiedene Art und Weise zu beheben. Ich glaube, es ist richtig, vor Ort subsidiär die richtigen Lösungen zu finden. Wichtig ist, dass die Schule eine starke Rolle spielt; denn der Lehrer weiß, welches Kind welche Defizite hat. Ich stehe auch dafür, dass wir die Ausgaben für das Mittagessen derjenigen subventionieren, die es in ihrer Schulkantine einnehmen wollen. Die eigentliche Diskriminierung besteht ja darin, dass Kinder das, was ihnen zusteht - ein Mittagessen -, nicht bekommen. Ich möchte, dass in diesem Land in Zukunft nicht mehr eine Diskussion darüber geführt wird, dass Kinder hungrig in der Schule sitzen. Dass das passiert, war schon vorher weder notwendig noch richtig. Die Diskussion darüber ist jetzt endgültig vorbei, und das ist eine wunderbare Sache. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was? Gehen Sie doch mal raus in die Welt! Wo leben Sie denn?) Eltern tragen Verantwortung für ihre Kinder. Das war vor dieser Reform so, und es ist mit diesem klaren Bekenntnis noch einmal festgestellt. Wichtig ist auch die Teilhabe. Ich glaube, man muss die vorhandenen Angebote der Sportvereine, der kulturellen Vereine, der Musikschulen nutzen. Schon heute bieten Vereine in vielen Fällen denjenigen, die es schwerhaben, einen ermäßigten oder einen kostenlosen Mitgliedsbeitrag. Ich wünsche mir, dass wir hier zu einer Lösung kommen, durch die dies weiter unterstützt wird. Insgesamt ist diese Reform eine wirkliche Neuausrichtung der Grundsicherung, mit dem Ziel, Bildung zu einem Teil von Sozialpolitik zu machen. Bildung ist nämlich von zentraler Bedeutung für Aufstieg und Zukunft. Jetzt sollten Sie sich nicht abseits stellen. Der eine oder andere hat in der Debatte heute gesagt: Dagegen werden wir kämpfen, gegen die Sachleistungen, gegen die Grundsicherung, gegen den Bildungsanteil. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Hören Sie auf damit! Die Menschen wollen das nicht. Was wir vorhaben, ist für die Zukunft dieses Landes wichtig. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie verschärfen die Sanktionen!) 20 Prozent unserer jungen Leute haben Schwierigkeiten, einen vernünftigen Schulabschluss zu machen. Denen müssen wir helfen. Beteiligen Sie sich daran und stellen Sie sich nicht abseits! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu einigen Abstimmungen. Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/2092. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/880 mit dem Titel "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen von Armut bekämpfen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/675 mit dem Titel "Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen SPD und Die Linke. Im Rahmen des Zusatzpunktes 4 geht es nun um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel "Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene statt Experimenten". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3081, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2921 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke. Beim Zusatzpunkt 5 wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3058 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e sowie Zusatzpunkte 6 a bis c auf: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen - Drucksache 17/3025 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. März 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Anguilla über den steuerlichen Informationsaustausch - Drucksache 17/3026 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an den Rat des Anpassungsfonds - Drucksache 17/3027 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Drucksache 17/3039 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Offensive für einen wirksamen Schutz der Kinder vor Gift in Spielzeug - Drucksache 17/2345 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Federführung strittig ZP 6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entflechtungsinstrument ins Wettbewerbsrecht einfügen - Drucksache 17/3062 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Technikfolgenabschätzung im Bundestag und in der Gesellschaft stärken - Drucksache 17/3063 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss c) Beratung des Berichts gem. § 56 a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - Eine Bilanz - Drucksache 17/3010 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Petitionsausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Zunächst kommen wir zu einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist. Tagesordnungspunkt 30 e: Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD mit dem Titel "Offensive für einen wirksamen Schutz der Kinder vor Gift in Spielzeug" auf Drucksache 17/2345 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wir stimmen zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD - Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - ab. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diese Überweisung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Damit wird der Antrag zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen. Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisungen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 31 a bis i. Dabei geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Es sind im Wesentlichen Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 31 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 129 zu Petitionen - Drucksache 17/2951 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 129 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 130 zu Petitionen - Drucksache 17/2952 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 131 zu Petitionen - Drucksache 17/2953 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 131 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 31 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 132 zu Petitionen - Drucksache 17/2954 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 132 ist damit angenommen mit den Stimmen des ganzen Hauses. Tagesordnungspunkt 31 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 133 zu Petitionen - Drucksache 17/2955 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 133 ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 31 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 134 zu Petitionen - Drucksache 17/2956 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 134 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 31 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 135 zu Petitionen - Drucksache 17/2957 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 135 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 136 zu Petitionen - Drucksache 17/2958 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 136 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 137 zu Petitionen - Drucksache 17/2959 - Zu den Petitionen auf Drucksache 17/2959 liegen mehrere Erklärungen der Fraktion Die Linke nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Sammelübersicht 137 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Nun kommen wir zu Zusatzpunkt 7: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zu Milliardengarantien und Millionenboni bei der HRE Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Carsten Sieling (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die HRE ist zu einem Symbol geworden, wie stark sich die Finanzbranche von der Gesellschaft entkoppelt hat. Millionenboni trotz fehlendem Erfolg zu zahlen und quasi gleichzeitig neue Milliardengarantien zu beantragen, zeigt, dass hier einige die Bodenhaftung verloren haben. (Beifall bei der SPD) Sie sind offensichtlich in ein Paralleluniversum entschwunden, und die Bundesregierung spielt den Kopiloten. (Lachen des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]) Dem muss Einhalt geboten werden, (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Unglaublich!) auch um den Ruf und die Solidität der Finanzwelt wiederherzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das Erste war gut, das Letzte kann man so nicht sagen!) Ich will gleich hier am Anfang klarstellen: Die Rettung der HRE im Jahre 2008 war richtig und notwendig. (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Ein "Lehman II" hätte man sich damals angesichts der unabsehbaren Folgen überhaupt nicht erlauben können. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber jetzt?) Und es war richtig, so zu handeln. Ich sage das deshalb so deutlich und gleich zu Anfang, (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben doch damals den Finanzminister gestellt!) weil jetzt die Schlaumeier der Nation kommen, Herr Kollege, die alles vergessen haben und den Schwarzen Peter uns zuzuspielen versuchen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wie hieß denn der Finanzminister: Steinbrück, oder wie? - Zuruf von der FDP: Der fehlt heute!) - Regen Sie sich nicht auf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Ganz vorne steht die FDP. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich habe gelesen, dass Herr Wissing uns heute wieder seinen Lieblingssong präsentieren möchte, der da heißt: Die SPD hat Schuld. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber trösten Sie sich: Die Töne werden wieder schief sein, wie es immer ist, wenn Sie hier antreten. In Ihrer heutigen Fassung werden Sie uns wohl erzählen, dass die Verträge, die unter Federführung von Peer Steinbrück erarbeitet worden sind und die wir abgeschlossen haben, die Bonizahlungen nicht verhindert hätten. (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD] - Zuruf von der FDP: Das ist ja auch so!) Ich will Ihnen aber eines sagen: Ohne die SPD gäbe es überhaupt keine (Zuruf von der FDP: Bonizahlungen!) gesetzlichen Regelungen, die Vorstandsvergütungen begrenzen. Das ist der entscheidende Schritt gewesen. Bevor Sie, Herr Wissing, Ihre Argumentation entfalten, denken Sie daran: Die FDP hat damals gegen das Gesetz gestimmt. Sie wollten eine Begrenzung überhaupt nicht. (Beifall bei der SPD - Zurufe von der FDP: Falsch!) Sie wollten überhaupt keinen Rahmen, der der Finanzbranche ethisches Verhalten auferlegt und Grenzen setzt. Im Übrigen gilt natürlich - ich hoffe, das gilt für alle, wenn wir ehrlich sind -, dass niemand hier, der mit sozialer Marktwirtschaft Vernunft, Verantwortung und Gemeinwohl verbindet, geglaubt oder erwartet hat, dass so nassforsch gegen den Geist der Regulierung von überhöhten Gehältern vorgegangen wird und gewisse Leute jede Möglichkeit ausnutzen, um sich Zulagen zahlen zu lassen, selbst wenn der Erfolg ausgeblieben ist. Das passiert zwar noch nicht flächendeckend, aber wir müssen das beobachten, da dies bei vielen Instituten der Fall ist. Meine Damen und Herren, ich hoffe, dieses Haus tritt geschlossen dagegen an. (Beifall bei der SPD) Aber dazu gehört auch, dass man die politische Verantwortung übernimmt und darüber wacht, dass Normen und Werte durchgesetzt werden. Mit den Insiderkenntnissen, die die Regierung gehabt hat, hätte man dem frühzeitig entgegentreten müssen. Es gibt verschiedene Beispiele. Herr Wieandt hat als Chef der HRE sehr früh signalisiert, dass für 2008 keine Boni gezahlt werden. Da wusste man: Das Thema der Boni ist virulent. Als er Ende des ersten Quartals dieses Jahres seinen Rücktritt eingereicht hat, hatte das auch mit dieser Thematik zu tun. Man hat gewusst, dass die Kultur bei der HRE in dieser Frage nicht in Ordnung ist. Trotzdem hat man nicht reagiert. Man hat nicht versucht, dem frühzeitig Einhalt zu gebieten. Somit muss man sich schlicht und einfach damit auseinandersetzen, dass nicht gehandelt wurde, dass gerade innerhalb der letzten zwölf Monate die Entwicklung verschlafen wurde. Wenn ich mir die Erklärungen dafür anschaue, dann muss ich sagen: Sie alle überzeugen überhaupt nicht. Wie das immer so ist: Wenn etwas schiefläuft, werden neue Definitionen und Worte gefunden. Man spricht nun nicht mehr das böse Wort "Boni" aus, sondern es wird ordentlich geschwurbelt. Es geht um "Halteprämien" und "Ausgleichszahlungen". Das alles hört sich nett an; aber in Wirklichkeit ist hier etwas verschlafen worden. Schwarz-Gelb hat sich auch bei diesem Thema als handlungsunfähig und letztlich auch zerstritten gezeigt. Das ist die Wahrheit, und das ist der entscheidende Punkt. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der FDP: Davon wissen wir aber gar nichts!) Ich fordere Sie auf - wir sind anscheinend auf gutem Weg -: Legen Sie eine wasserdichte gesetzliche Regelung vor! Wir müssen allerdings sehen, dass Minister Schäuble noch vor zwei Tagen erklärt hat, er sehe keinen rechtlichen Handlungsbedarf, (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: So ist es!) und hinzugefügt hat: Es wird keine gesetzliche Änderung oder Ergänzung geben. Wir werden die Entwicklung aufmerksam beobachten. - Das ist das Prinzip Hoffnung. (Beifall bei der SPD - Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch auch nicht!) - Herr Kollege Fricke, wenn Sie hier das Wort ergreifen, dann denke ich an die Griechenlanddebatte und frage mich, welche Märchen und Geschichten dabei von Ihnen wieder kommen werden. Gestern kam es jedenfalls zu einer Veränderung. Endlich ist gesagt worden: Wir wollen zu gesetzlichen Regelungen kommen. - Ich begrüße das. Das ist die öffentliche Debatte. Auch meine Partei hat an dieser Stelle Druck gemacht. Wir brauchen jetzt endlich Verträge. Wir müssen eingreifen und dagegen vorgehen. Ich habe wahrgenommen, dass dies in allen Fraktionen so gesehen wird, und sage an dieser Stelle - auch das will ich hier deutlich machen -: Das Informationsfiasko der letzten Wochen darf sich ebenfalls nicht wiederholen. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie das Parlament ernst! Kontrolle muss hier möglich sein, und dafür brauchen wir auch die entsprechenden Informationen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kommen Sie bitte zum Schluss. Dr. Carsten Sieling (SPD): Ich komme zum Schluss. Ich darf mit Blick auf die weitere Debatte noch sagen: Ich erwarte, dass jetzt der Kollege Dautzenberg nach vorne tritt und mit großer moralischer Empörung erklärt, die Wahrheit sei, dass wir Sozialdemokraten nur die Bücher der HRE schließen wollen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie, dass ich Sie unterbreche. Sie haben die Redezeit überschritten. Dr. Carsten Sieling (SPD): Ich komme zum Schluss. - Die zukünftige Entwicklung der HRE ist ausgesprochen fraglich. Die EU-Kommission hat das Ganze deutlich infrage gestellt. Wir müssen dies ernst nehmen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, ich muss Sie erneut auf die Redezeit hinweisen! Dr. Carsten Sieling (SPD): Ich bitte um Verzeihung. - Ich bitte darum, dass wir uns daran halten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Leo Dautzenberg das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Sieling, ich bin sehr erfreut, dass Sie das, was ich sagen will, schon antizipiert haben. Deshalb kann ich mir einiges ersparen. Nur so viel: Erster Punkt. Wir sollten, glaube ich, vermeiden, dieses Thema zum Gegenstand einer parteipolitischen Kontroverse zu machen; denn alle Verantwortlichen haben zusammengestanden, als es darum ging, die HRE mit Maßnahmen zu retten und gesetzliche Grundlagen für ihre Umstrukturierung zu schaffen. Von daher sollte man jetzt nicht Schuldzuweisungen in unterschiedlichste Richtungen vornehmen. Wir sollten vielmehr gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das Vertrauen in den Finanzmarkt und das Bankensystem stärken können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweiter Punkt. Für uns war es auch nicht vertrauensbildend, und deshalb muss man das in zwei Sachbereiche trennen: einerseits die Diskussion über Boni und Vergütungsstrukturen und andererseits das, was weiterhin zur Restrukturierung der HRE im Hinblick auf die Kernbank und auf die Abwicklungsbank erforderlich ist. Hier geht es darum, ob die Kernbank eine Chance für die Zukunft hat. Mit dem, was vorliegt, setzen wir darauf, dass sie eine Zukunft haben wird. Zu dem, was allgemein mit den Bonivorgängen bezeichnet wird, haben wir - das muss ich für meine Fraktion konstatieren - kritisch angemerkt, dass es schwierig ist, zu vermitteln, wenn es bei einer Bank, die vom Steuerzahler gerettet worden ist und die durch weitere Maßnahmen umstrukturiert wird, Kommunikationsschwierigkeiten gab, sowohl was die beiden Garantien vor 14 Tagen als auch die Bonizahlungen anbelangt. Das kritisieren wir, und wir können nur an unsere Vertreter der Bundesregierung in den zuständigen Gremien appellieren, zukünftig eine größere Sensibilität beim Thema Bonizahlungen an den Tag zu legen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Bravo!) Herr Sieling, es dürfte Ihnen aber nicht entgangen sein, dass das Gesetz damals unter Federführung des Finanzministers Steinbrück gemacht worden ist: Ich sage das, weil Sie hier konstatieren, dass in diesem Gesetz nicht alles enthalten war, was Vergütungsstrukturen anbelangt. Wir haben damals eine Deckelung der Vorstandsbezüge beschlossen. War es für Sie denn zum damaligen Zeitpunkt schon erkennbar, dass man auch die Vergütungsstrukturen der Mitarbeiter und ihre rechtlichen Ansprüche in einem Krisenfall hätte neu regeln müssen? Dann hätte das gemacht werden müssen. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber seitdem sind viele Monate, zwei Jahre vergangen!) Damals haben wir auch gemeinsam Beschlüsse über Vergütungsstrukturen für Vorstände bei Finanzinstituten gefasst. Die christlich-liberale Koalition hat Vergütungsstrukturen für Mitarbeiter bei Finanzinstituten im Juli dieses Jahres verabschiedet. Das alles sind natürlich Punkte, die für die Betrachtung, die wir hier anzustellen haben, zu spät kamen. Wir haben bereits damals festgestellt, dass ein Eingriff auch dann, wenn aufgrund von Vergütungsstrukturen bestimmte rechtliche Ansprüche bestehen, im Krisenfall, wenn die Bank in die Schieflage kommt, erfolgen können muss. Dieser Punkt, der bei Verabschiedung des Gesetzes noch nicht geklärt werden konnte, muss jetzt vom Bundesjustizministerium geklärt werden. Wenn wir dort rechtlich saubere Anhaltspunkte bekommen, dann werden wir das in das vorhandene Restrukturierungsgesetz ergänzend aufnehmen. Aber es muss rechtssicher sein, wenn man in bestehende Verträge und Vergütungsstrukturen eingreifen will. Ich glaube, das ist auch Konsens. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Damit hätte man früher anfangen müssen!) - Damit hätten Sie schon beginnen können. Es ist doch unbestritten, dass Sie zum Vergütungsstrukturgesetz diese Anträge schon hätten stellen können, wenn Sie diese Erkenntnis damals gehabt hätten. Dritter Punkt. Das ist das Dominierende, was Sie leider nicht angesprochen haben. Ich weiß auch, warum: weil Sie innerhalb der SPD-Fraktion nicht einig sind, wie es mit der HRE als Kernbank weitergehen soll. (Joachim Poß [SPD]: Stimmt gar nicht, dass wir nicht einig sind!) Gilt das, was Herr Kollege Schneider nicht nur in dem Gremium, sondern auch öffentlich erklärt hat - er gebe der Kernbank für die Zukunft keine Chance; sie müsse abgewickelt werden -, oder gilt das, was wir gemeinsam vereinbart haben, nämlich die Ausgliederung? Es war ein hoher Anspruch, 200 Milliarden Euro auszugliedern und abzuwickeln und sich auf die Kernbank zu konzentrieren, die eine Zukunft haben soll. Nach allem, was bisher an Erkenntnissen vorliegt, hat sie aus unserer Sicht auf dem Markt nach wie vor Zukunft. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da ist die EU-Kommission aber anderer Meinung!) Mit Ihrem Gerede werden Sie dazu beitragen, dass sie keine Zukunft hat, was zur Folge hat, dass dies für den Steuerzahler sehr teuer wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland Claus das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Roland Claus (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Hartz-IV-Debatte reden wir jetzt über Banken und Boni - ein schöner Zufall. Die Münchener Hypo Real Estate ist der größte Skandalfall in der Bankenkrise in Deutschland. Die HRE nennt sich heute Deutsche Pfandbriefbank. Schon daran merkt man, dass wir in einer anderen Zeitrechnung sind. Die Finanz- und Wirtschaftskrise erweist sich bei näherem Hinsehen mehr und mehr als eine Krise des gesellschaftlichen Systems. (Beifall bei der LINKEN - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das müsste Ihnen doch entgegenkommen! Sie plädieren doch für Staatsbanken!) Diese Krise liegt nicht hinter uns. Richtig ist: Die Banken haben ihr Eigengeschäft wieder in Gang gesetzt - das Kasino ist wieder offen -, aber ihrer Verantwortung für die Gesellschaft und die Wirtschaft, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen, werden sie in keiner Weise gerecht. (Beifall bei der LINKEN) Weil all das so unglaublich ist und fast niemand mehr versteht, was hier vorgeht, will ich versuchen, mit einer kleinen Chronik zur Aufklärung beizutragen. Genau vor zwei Jahren, am 30. September 2008, kam Minister Steinbrück in alle Bundestagsfraktionen und warb für die Rettungsaktion bei der HRE. Begleitet hat ihn Staatssekretär Jörg Asmussen, der heute noch Staatssekretär ist, und zwar bei Bundesfinanzminister Schäuble. Herr Steinbrück hat damals gesagt, der Bund müsse für eine Summe von 26 Milliarden Euro bürgen; eine teilweise Verstaatlichung von Banken wie in England und den USA sei in Deutschland ausgeschlossen. Die privaten Banken bürgten für 8,5 Milliarden Euro. - Es sollte anders kommen. Im Frühjahr 2009 wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Rolle der Bundesregierung bei der HRE-Krise eingesetzt. Das ist ein Extrakrimi; ich kann das hier nicht im Einzelnen ausführen. Im Mai 2009 wurde der Rettungsschirm für Banken mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro gespannt. Der Hauptanteil davon entfiel auf die HRE, immer mit Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion, die in ihrer Meinungsbildung selbstverständlich völlig frei ist, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) aber im Moment in Sachen Wandlungsfähigkeit - das muss man einmal aussprechen - wirklich nicht zu toppen ist. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Im August 2009 fragt mein Fraktionskollege Axel Troost öffentlich nach der Eignung des neuen Chefs der HRE, Axel Wieandt. Die Bankenaufsicht hat Zweifel an der Eignung, die Linke auch; aber Wieandt erhält 500 000 Euro Sonderzahlung für 2009. Ende März 2010, einen Tag vor der Bilanzpressekonferenz der HRE, erklärt Herr Wieandt seinen Rücktritt, weil er sich nicht mit dem SoFFin über sein Gehalt einig wurde: Es war ihm zu wenig. Mit dem Rücktritt erwirbt er aber Betriebsrentenansprüche in Höhe von 240 000 Euro jährlich, und das als Mittvierziger. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wahnsinn!) Jetzt das Verrückte: Nachdem die Münchener HRE über Jahrzehnte ausschließlich eine Männerwirtschaft war, muss nun, nachdem die Bank so richtig gegen die Wand gefahren ist, mit Frau Better zum ersten Mal eine Frau an die Spitze gestellt werden. Auch das spricht für eine Zeitenwende. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Im Juni 2010 steht die spannende Meldung im Netz: Seit 1. Juni 2010 arbeitet Axel Wieandt wieder im Vorstandsbereich der Deutschen Bank. Ende August 2010 bewilligt die Bundesregierung über die bestehenden Garantien in Höhe von 102 Milliarden Euro hinaus Garantien in Höhe von 40 Milliarden Euro für die HRE, am Parlament vorbei, am geheim tagenden Parlamentsgremium zur Bankenrettung vorbei. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Das stimmt nicht! Die gesetzliche Grundlage stammt vom Parlament! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) - Um Ihre Zwischenrufe etwas abzumildern: Das Parlament ist sauer, von der Linken bis zur CSU. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie haben die Zeit vor 1989 in Erinnerung! Das darf nicht passieren!) Mitte September 2010 wird bekannt, dass Boni in Höhe von 25 Millionen Euro an Bankmanager der staatlichen HRE gezahlt wurden. Die Bundesregierung sitzt mit zwei Abteilungsleitern aus dem Bundesfinanzministerium im Aufsichtsrat - ich dachte, sie seien schon als Abteilungsleiter ausgelastet; aber es ist offenbar anders -, der dazu sagt: Das geht in Ordnung. Nun stellen Sie sich vor, all das hätte ich Ihnen vor vier Jahren erzählt. So eine Story wäre unglaublich gewesen. Selbst in meiner Fraktion hätte man mir wahrscheinlich gesagt: Genosse, du musst zum Arzt! Frei nach Shakespeare: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Wahnsinn und Methode bedeuten heute: Was da verstaatlicht wurde, sind vor allem Schulden. Selbst die Vollverstaatlichung reicht nicht aus, um die HRE auf dem Finanzmarkt wieder handlungsfähig zu machen. Wir reden gerade über den Haushalt für 2011 im Umfang von 300 Milliarden Euro. Neben diesem Haushalt wurden inzwischen Sondervermögen in Höhe von über 750 Milliarden Euro angehäuft. Die Bundesregierung redet von der Schuldenbremse und will im nächsten Jahr 10 Milliarden Euro einsparen, macht aber im gleichen Atemzug Zusagen über Garantien in Höhe von 40 Milliarden Euro, also das Vierfache, für die schon erwähnte Bank. Nun sagen Sie: Hartz-IV-Empfänger sollen monatlich 5 Euro mehr bekommen. Ich habe die Bezüge der Menschen - die Boni bei der HRE und die zusätzlichen 5 Euro für die Bezieher von Hartz IV - ins Verhältnis gesetzt und ausgerechnet. Hier kommt exakt ein Verhältnis von 1 : 10 000 heraus. So kommt es also zu dem Begriff "die oberen Zehntausend". (Beifall bei der LINKEN) So groß ist der Abstand, so gespalten ist die Gesellschaft, so kaputt haben Sie das Gemeinwesen regiert. Das ist doch nicht staatseigene Bank, das ist doch bankeigener Staat. (Beifall bei der LINKEN) Das muss sich ändern, meine Damen und Herren. Zwei radikale Schritte sind notwendig. Zum einen muss die Dominanz der Finanzwirtschaft über die sogenannte Realwirtschaft überwunden werden. Zum anderen muss man etwas hinzufügen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege. Roland Claus (DIE LINKE): Das mache ich gern, Frau Präsidentin. - Die Regeln der globalen Börsen, die anfangs einmal vernünftig waren, haben das globale Zusammenleben in die Sackgasse geführt. Das internationale Finanzmarktkasino - zu dieser Überzeugung bin ich gelangt - ist nicht länger reformierbar; es gehört geschlossen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Allein die Tatsache, dass Sozialdemokraten sich hier hinstellen und gegen irgendjemanden im Zusammenhang mit der Hypo Real Estate Vorwürfe erheben, ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich weiß nicht, Herr Kollege Sieling, was man Ihnen und Ihrer Fraktion erzählt hat. Ich weiß aber, was in der letzten Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag gelaufen ist. Wir haben im Finanzausschuss erfahren, dass alles, was Sie heute hier lautstark kritisieren - sowohl die zusätzlichen Milliardensicherheiten als auch die Vergütungen, die Sie heftigst angehen -, nichts anderes ist als die Konsequenz einer Verstaatlichungsentscheidung, die Sozialdemokraten vehement gefordert und vorangetrieben haben (Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ein Quatsch!) und die Ihr Finanzminister Peer Steinbrück unbedingt wollte. Jetzt haben Sie, was Sie wollten, meine Damen und Herren! (Beifall bei der FDP - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Platter geht's nicht!) Sie waren in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Verstaatlichungsentscheidung, die wir heftigst kritisiert haben, vernünftig vonstattengeht, dass Gehaltszahlungen ordentlich geregelt werden und dass genau die Dinge nicht passieren, die Sie heute kritisieren. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dafür kann die Bundesregierung sorgen!) Jetzt kann man sich natürlich bequem vom Acker machen. Aber ich erinnere daran, dass wir in der letzten Legislaturperiode einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hatten. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Reden Sie doch einmal über diese Legislaturperiode! Kommen Sie doch einmal in der Zukunft an!) In diesem Untersuchungsausschuss haben wir gefordert, dass zu klären ist, ob bei der Verstaatlichungsentscheidung alles richtig gemacht worden ist. Da haben die Sozialdemokraten gesagt: Das braucht man nicht zu klären; alles ist richtig gemacht worden. - Wenn Sie heute einsichtig sind und sehen, dass das nicht so toll war, was Peer Steinbrück gemacht hat, dann ist das gut. Aber dann sollten Sie etwas demütiger in Ihren Reihen sitzen und nicht lautstark das Wort ergreifen und anderen Vorwürfe machen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die HRE-Partei ist die SPD. Es war Ihr Wunsch, diese Bank nicht abzuwickeln, sondern zu verstaatlichen, Herr Kollege Schneider. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das war auch richtig so! - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber es ist ein bisschen Zeit vergangen! - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jetzt müssen Sie kontrollieren!) Für den Steuerzahler in Deutschland faule Tomaten einzukaufen und hinterher, wenn es ein Problem gibt, zu sagen, man könne sie doch wieder verkaufen, das zeugt, Herr Kollege Schneider, nicht von besonderem Sachverstand. Weil ich weiß, dass Sie es besser wissen, finde ich es dreist, was Sie nun machen. Sie haben die Verstaatlichung mit wehenden Fahnen gefordert. Sie waren begeistert von der Verstaatlichung. Sie wollten es so, und Sie wollten auch die Gehaltsregelungen so. Jetzt haben Sie es so. Wir fanden es nicht gut; wir finden es auch heute nicht gut. (Nicolette Kressl [SPD]: Dann ändern Sie es doch!) Aber Sie können die Verantwortung für die Verstaatlichung der Hypo Real Estate nicht mehr loswerden. Frau Kressl, Sie wollen damit heute nichts mehr zu tun haben. Sie wollen heute die treibende Kraft sein, die dafür sorgt, dass bei der HRE Gehaltsbegrenzungen kommen. Warum haben Sie das denn damals nicht gemacht? Wir haben damals gefordert: Lasst uns das überprüfen; es stimmt nicht alles, was Peer Steinbrück gemacht hat. - Darauf haben Sie gesagt: Das stimmt; das ist perfekt. - Heute fällt es Ihnen vor die Füße. Wir als Koalition wollen uns jetzt nicht davonmachen. Wir wollten nicht, dass es so weit kommt. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was wollten Sie denn?) Aber es ist nun unsere Aufgabe, den Schaden für den Steuerzahler zu begrenzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Jetzt kommen Sie doch mal in der Gegenwart an!) Nur dass sich diejenigen Sozialdemokraten, die gesagt haben, dass es so kommen muss, und die mit aller Kraft für die Verstaatlichung der Hypo Real Estate gekämpft haben, heute vom Acker machen und sich nicht an der Schadensbegrenzung beteiligen, das finde ich unverfroren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Wir hätten es anders gemacht. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wie denn? Was hätten Sie denn gemacht?) Wir haben Ihnen damals gesagt: Wir sind gegen die Verstaatlichung. Wir haben damals Ihre Begeisterung nicht teilen können. Sie waren lautstark der Meinung: Wenn man diese Bank verstaatlicht und die Eigentümer hinausdrängt, dann macht man das Beste für den Steuerzahler. - Schon damals haben wir daran erinnert, dass Sie dem Steuerzahler damit alle Risiken vor die Füße kippen. Das wollten Sie so. Jetzt haben wir es so. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was wollten Sie, Herr Wissing?) Wir wollen eine Schadensbegrenzung. Wir wollen, dass das, was Sie angerichtet haben, für den Steuerzahler nicht noch teurer wird. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was machen Sie jetzt?) - Was wir machen? Wir bzw. die Bundesregierung sorgen beispielsweise dafür, dass innerhalb der HRE Ansprüche möglichst nicht gerichtlich geltend gemacht werden, dass möglichst nicht noch höhere Zahlungen auf der Grundlage Ihrer Verstaatlichungsentscheidung geltend gemacht werden, damit der Schaden begrenzt wird. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber jetzt wollen Sie noch ein Gesetz machen!) Aber das können Sie der jetzigen Regierung nicht vorwerfen. Da müssen Sie mit sich selbst ins Gericht gehen. Ich bleibe dabei: Die Sozialdemokraten sind die HRE-Partei. Die Sozialdemokraten sind die HRE-Verstaatlichungspartei. (Lachen bei der SPD) Die Sozialdemokraten sollten kleinlaut anerkennen, dass diese Regierung - das hat man Ihnen im Finanzausschuss bis ins Detail berichtet; Herr Rehm war anwesend - alles tut, um verantwortungsvoll mit der Entscheidung der Vergangenheit umzugehen. Dabei bleibt es auch. Es gibt keinen Grund, mit dem Finger auf die christlich-liberale Koalition zu zeigen. Alles, was Sie an der Verstaatlichung zu kritisieren haben, können Sie mit Peer Steinbrück besprechen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Selbstanklage der SPD ist das! - Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Man muss hier nicht reden, man kann auch verzichten!) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst wenn die Kritik, die wir in den letzten Tagen gehört haben, gerechtfertigt ist, kann man nicht alles, was bei der Hypo Real Estate passiert ist, den Sozialdemokraten vor den Laden kippen. Es gibt noch andere Verantwortliche. Das muss man in aller Nüchternheit feststellen. In dieser Hinsicht haben Sie etwas übertrieben, Herr Wissing. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer hat denn die Aktuelle Stunde verlangt? Das ist doch eine Selbstanklage, was die SPD macht!) Ich finde aber, dass angesichts der Empörung aus den Koalitionsfraktionen der Blick zurück durchaus gerechtfertigt ist. In der Debatte im Oktober 2008, als es um die Finanzmarktstabilisierung ging, gab der damalige und heutige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Kauder, das Versprechen, dass es Konsequenzen für die Geschäftspolitik und das Entlohnungssystem haben muss, wenn Eigenkapitalhilfen zur Verfügung gestellt werden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!) Weiter sagte er: "Wir erwarten in den Rechtsverordnungen klare Konsequenzen". (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Es muss "eine gesunde Relation zwischen dem eigenen Handeln und Einkommen" geben, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer Verluste macht, muss Verluste tragen!) so Herr Kauder. Das haben Sie damals den Menschen versprochen. Jetzt stellen wir fest, dass das nicht durchgesetzt wurde. Empören Sie sich doch bitte nicht nur über irgendjemanden in München, sondern fragen Sie sich, warum das Versprechen Ihres Fraktionsvorsitzenden nicht eingelöst wurde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das Gleiche gilt auch für die SPD. Herr Steinbrück hat damals gesagt - ich zitiere seine Äußerungen zur HSH Nordbank und zu den großzügigen Regelungen dort -: Mir fehlt ... jegliches Verständnis für die Landesregierungen in Kiel und Hamburg, die hier anscheinend beide Augen zudrücken wollten. Aber die Pensionszahlungen an Herrn Wieandt, die wir heute kritisieren, sind nur möglich gewesen, weil der damalige Finanzminister Steinbrück beide Augen zudrücken wollte. Er hat Garantien ausgereicht, ohne die Kontrolle übernehmen zu wollen. Das ist ein Fehler. Fehler darf man auch als solche benennen. Dazu müssen Sie stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!) Ich würde mich freuen, wenn Herr Steinbrück in dieser Debatte anwesend wäre. (Florian Toncar [FDP]: Er schreibt gerade ein Buch!) Statt durch die Republik zu touren und eine Lesung zu halten, könnte er uns hier erklären, warum seine Finanzpolitik unterm Strich ein Desaster war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) Angesichts der Pensionszahlung muss man feststellen: Es ist eine Selbstbedienung zulasten des Steuerzahlers, was hier passiert. Das Verhältnis zwischen der Leistung und dem, was man dafür bekommt, stimmt nicht mehr, wenn jemand, der 19 Monate in einem Institut arbeitet, nachher eine jährliche Rente von 240 000 Euro kassieren kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU) Nun ist es ja nicht so, dass es hier keine großkoalitionäre Empörung gab. Davon konnte man in den letzten Tagen einiges merken. Ich möchte Ihnen aber sagen: Dieses Haus ist kein Empörungstempel, sondern hier tagt eine gesetzgebende Versammlung. Deshalb erwarten wir, dass die Bundesregierung jetzt einen Gesetzentwurf vorlegt und diese Zahlungen korrigiert, damit so etwas in den vom Staat geretteten Banken nicht mehr möglich ist. Das ist unsere Forderung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich möchte aber auch die Verantwortung jenseits der Gesetze ansprechen. Ich glaube, dass ein Land, dessen wirtschaftliche Elite jeden Bezug zur Realität verloren hat, keiner guten Zukunft entgegensieht. Deswegen möchte ich von dieser Stelle aus als Volksvertreter ganz bewusst einen Appell an Herrn Dr. Wieandt richten - vielleicht können Sie sich diesem Appell an-schließen -: Ich fordere Sie, Herr Wieandt, auf, auf so eine Pensionszahlung zulasten der Steuerzahler, die niemand in diesem Land versteht, zu verzichten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Es gibt eben beide Verantwortungen, und ich finde es wichtig, dass in dieser Debatte beide Verantwortungen deutlich werden. Es gibt auf der einen Seite die Verantwortung des Gesetzgebers. Er darf sich nicht nur vor den Fernsehkameras empört zeigen, sondern hat als Gesetzgeber und Kontrolleur der staatlichen Banken seine Arbeit zu leisten. Diesbezüglich haben Sie bisher nicht geliefert. Auf der anderen Seite gibt es die Verantwortung der wirtschaftlichen Elite dieses Landes, soziale Marktwirtschaft nicht nur in evangelischen Akademien zu predigen, sondern im täglichen Geschäft auch wirklich zu leben. Auch daran fehlt es in diesem Land. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will noch einmal daran erinnern, dass diese Aktuelle Stunde von der SPD-Fraktion beantragt wurde. Eigentlich geht es um zwei Punkte, um die Garantien für die HRE und um die Bonizahlungen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und um Steinbrück!) Ich meine, dass man diese zwei Bereiche zunächst einmal auseinanderhalten und getrennt beleuchten muss. Ich komme zum ersten Punkt, zu den Garantien. Es geht um die HRE. Ich darf uns alle daran erinnern, dass es eine Zeit gab - das war noch zur Zeit der Großen Koalition -, in der wir hier gemeinsam beschlossen haben, systemrelevante Banken vor der Insolvenz zu bewahren. Ich meine, das war ein kluger und weiser Beschluss, getragen von der Großen Koalition. Wir hatten damals die Pleite der großen amerikanischen Bank Lehman vor Augen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie der damalige Finanzminister Peer Steinbrück uns allen klargemacht hat, was eine solche Insolvenz für Deutschland bedeuten würde, indem er die Auswirkungen der Insolvenz der Lehman-Bank auf die HRE übertragen hat. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst einmal hat er gesagt, dass das bei uns nicht passieren kann! - Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war noch davor! Der hat alles gesagt, die ganze Palette!) Ich erinnere mich sehr gut, welch schwerwiegende Störungen nicht nur des Finanzkreislaufs, sondern unserer gesamten Wirtschaft uns vor Augen geführt wurden - bis hin zu der Feststellung, dass viele soziale Sicherungssysteme damit ins Wanken geraten oder gar kaputtgehen würden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) Ich weiß noch sehr gut, dass wir damals darüber nachgedacht haben, wie man das alles regeln kann. Dann wurde das SoFFin-Gremium mit einem Leitungsausschuss eingerichtet. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat leider nichts zu sagen!) Das war eine kluge Entscheidung; denn dieses Gremium begleitet die Stabilisierung der Finanzmärkte in einer angemessenen Art und Weise. (Beifall bei der CDU/CSU - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Ohne Mitbestimmung!) Ich erinnere mich auch noch sehr gut, dass wir damals eine Auseinandersetzung darüber hatten, ob wir die HRE zu 100 Prozent übernehmen, also voll verstaatlichen sollten. Das war die Forderung von Peer Steinbrück und von der SPD. Wir waren da ordnungspolitisch etwas zurückhaltender. Uns hätte auch ein geringerer Anteil gereicht; denn wir haben ein ordnungspolitisches Gewissen. Wir wollen nicht alles verstaatlichen. Die Entscheidung, die wir mitgetragen haben, lautete dann aber: Die HRE wird zu 100 Prozent übernommen. Nun stelle ich fest, dass sich die SPD Stück für Stück von allen Entscheidungen, die in der Zeit der Großen Koalition getroffen wurden, verabschiedet. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In die Büsche schlagen!) Noch im Juli 2009 hat mein geschätzter Kollege Carsten Schneider die Rettung der HRE vor der Insolvenz hier, an diesem Rednerpult gerechtfertigt und gelobt. Ich habe das Protokoll dabei und kann das gerne vorlesen. Heute fordert er die sofortige Abwicklung dieser Bank. Ich hoffe, dass er, der nach mir redet, uns erklären wird, wie das zusammengeht. (Joachim Poß [SPD]: Ist alles erklärt! - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das soll er einmal erklären!) Wir als CDU/CSU-FDP-Koalition stehen zu der Verantwortung, die wir damals übernommen haben. Wir sprechen uns dafür aus, dass die HRE in einem kontrollierten Verfahren ordentlich restrukturiert wird. Zu diesem kontrollierten Verfahren gehört auch, dass, wie ich der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung entnehme, der ich auch Glauben schenke, noch heute Nacht der Knopf für die Auslagerung der toxischen Papiere in eine sogenannte Bad Bank gedrückt wird. Aber - das ist das Entscheidende - der Kernbereich der Bank bleibt erhalten. Das ist die Deutsche Pfandbriefbank. Meine Damen und Herren, allein mit dieser Aktuellen Stunde beschädigen Sie die Aussichten dieser Bank auf künftige marktgerechte Geschäfte. Was Sie betreiben, ist für uns volkswirtschaftlich von Schaden. Das muss man an der Stelle einmal ganz deutlich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ein Quatsch! - Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie denn hier die Diskussion unmöglich machen? Das geht doch nicht!) Ich wünschte mir, die Kollegen würden sich an der Stelle vielleicht einmal Rat bei ihrem Parteifreund Staatssekretär Asmussen einholen. Der sieht das etwas anders. Lassen Sie mich jetzt noch zwei, drei Sätze zu den Bonizahlungen sagen. Auch dies geht auf ein Gesetz zurück, das der Finanzminister Peer Steinbrück - in Klammern: SPD - erlassen hat. (Zuruf von der FDP: Aha!) Da ging es um Maßnahmen zur Begrenzung der Gehaltszahlungen und um Rekapitalisierungsmaßnahmen. Über-sehen hat man damals die Tatsache, dass so etwas vielleicht auch bei der Übernahme von großen Garantien infrage kommen könnte oder sollte. Übersehen hat man auch, dass es nicht nur um die Vorstandsebene geht, sondern dass es vielleicht auch um die zweite und dritte Ebene gehen kann; (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Wir haben damals einen Antrag gestellt und das vorgeschlagen! Sie wollten das nicht!) Es kann eigentlich nicht sein, dass jetzt in der Vorstandsebene weniger verdient wird als in der zweiten oder dritten Ebene, weil dieses übersehen wurde. Was also lernen wir daraus? Auch an der Stelle macht sich die SPD wieder vor ihrer Verantwortung vom Acker. Sie äußert hier kein Verständnis für diese Bonizahlungen. Meine Damen und Herren, auch ich habe kein Verständnis für diese Bonizahlungen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn jemand versagt, müsste es eigentlich einen Malus geben und keinen Bonus. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ist es!) So ist das ganz gesunde Empfinden unserer Bürgerinnen und Bürger. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Das müssen wir so zur Kenntnis nehmen; das tun wir auch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was tun, nicht nur zur Kenntnis nehmen!) Deshalb kann ich an der Stelle wiederum feststellen: Was bleibt unter dem Strich? (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nichts!) Wir als bürgerlich-christlich-liberale Koalition (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun nichts!) müssen die Fehler wieder ausbügeln, die ein SPD-Finanzminister gemacht hat. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß [SPD]: Sie waren doch in der Großen Koalition! Das ist unter allem Niveau hier!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD - Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt sind wir einmal gespannt! - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Abwickler!) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute schon viel zitiert worden und auch auf die Vergangenheit verwiesen worden. Ich kann Ihnen klipp und klar sagen, Herr Wissing: Wir als SPD-Fraktion stehen zu dem, was wir in den vergangenen Jahren beschlossen haben; ganz klar. (Beifall bei der SPD - Dr. Volker Wissing [FDP]: Warum haben Sie denn dann die Aktuelle Stunde beantragt?) Mich hätte interessiert, was denn eigentlich damals in der Frage der Hypo Real Estate Ihre Alternative gewesen war. (Beifall bei der SPD) Wir sind uns in diesem Hause doch sicherlich einig, dass es eine systemrelevante Bank war. (Joachim Poß [SPD]: Da müssen Sie klatschen, Herr Barthle!) Wir hatten Anhörungen im Haushaltsausschuss dazu. Da haben der Bundesbankpräsident, aber auch der damalige Chef des SoFFin gesagt: Die Rettung der HRE muss geschehen. - Das war die damalige Sicht. (Zuruf von der FDP: Das haben Sie gesagt!) Natürlich weiß ich, dass es heute etwas anders ist - ich komme noch darauf -, was die Weiterentwicklung der HRE betrifft. Aber aus der damaligen Sicht gab es zu dieser Haltung und letztendlich zu der Verstaatlichung der HRE keine Alternative. Sie haben sich damals als Opposition sehr schnell in die Büsche geschlagen und nichts Eigenes vorgeschlagen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der FDP: Natürlich haben wir das! Wir haben doch alles aufgezeigt, was wir wollten!) Dass Sie das jetzt alles Herrn Steinbrück und der SPD in die Schuhe schieben wollen, ist geschenkt. Es geht der FDP-Fraktion in anderen Punkten ja sowieso schlecht genug; da habe ich kein Mitleid mehr. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Stehen Sie doch zu dem, was Sie wollten!) Ich will Ihnen ganz klar sagen: Man muss sich nach zwei Jahren Finanzmarktgesetzgebung - Rettung und allem, was dann passiert ist - auch fragen: Ist das richtig gewesen? Gibt es Punkte, bei denen man Veränderungen vornehmen muss? (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir Ihnen damals schon gesagt!) - Ja, Sie haben immer alles gewusst; klar. Das haben wir heute zur Kenntnis genommen. (Nicolette Kressl [SPD]: Jetzt macht er immer noch Opposition! - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Der Schlaumeier!) Was die Frage der von uns allen sicherlich nicht gewollten - das ist ja so zum Ausdruck gebracht worden - Bonizahlungen bei der Hypo Real Estate angeht, so beruht ein Teil dieser Boni auf Altverträgen. Ein anderer Teil geht klar auf Ihre Verantwortung zurück. 8 Millionen Euro sind zu Zeiten der neuen Regierung an neue Kollegen in der HRE gezahlt worden. Dafür gab es keine vertragliche Grundlage. Das sind Halteprämien gewesen. (Beifall bei der SPD) Das folgt der Logik des Marktes. Die HRE hat einen schlechten Ruf. Das ist ja so; das will keiner bestreiten. Wenn man da einen Guten halten will, dann muss man ihm so viel zahlen wie bei der Deutschen Bank. Das folgt aber der Logik, dass man diese Bank weiter halten und entwickeln will, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das stimmt nicht! Das ist jetzt falsch!) und das wollen Sie. Morgen gehen Sie einen weiteren Schritt mit der Gründung der AIDA, der Abwicklungsanstalt, in die Sie knapp 200 Milliarden Euro auslagern wollen. Das ist ein Abwicklungsfall. Dann haben wir noch 150 Milliarden Euro Bilanzsumme der HRE übrig. Darauf wollen Sie und Ihre Regierung eine neue Bank gründen, die Deutsche Pfandbriefbank. Da stellt sich die Frage: Braucht der Markt diese Bank? Haben wir in Deutschland nicht genügend Staatsfinanzierer und gewerbliche Immobilienfinanzierer, dass der Bund ins Risiko gehen muss und diese Bank mit einer horrenden Bezahlung, mit neuen Werbebroschüren, die gedruckt werden müssen, und weiteren Implikationen entwickeln muss? (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben doch das Risiko aufgebaut!) Oder ist für den Bund, den Steuerzahler etwas anderes günstiger? Das muss man sich überlegen, darüber muss man diskutieren. Wir sind doch hier ein Ort der Meinungsbildung und kein Ort, wo wir etwas vorgesetzt bekommen und nichts dazu sagen. (Beifall bei der SPD - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unverantwortlich ist das! - Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Unter jedem Niveau!) Ist für den Bund also vielleicht etwas anderes günstiger? Ich verweise auf die Kommunikation mit dem Parlament. Die 40 Milliarden Euro an neuen Garantien für die HRE wurden hier ja angesprochen. Das war wirklich eine Sauerei; entschuldigen Sie, Frau Präsidentin, den Ausdruck. Es ist nicht zu akzeptieren, dass wir darüber nicht informiert werden. (Beifall bei der SPD) Aber dass es gegenüber dem Finanzmarkt nicht einmal eine Information gab, ist der entscheidende Punkt und zeigt mir, dass der Markt kein Vertrauen in die Bank hat. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihre Rede führt dazu!) Ich persönlich glaube, dass es für den Steuerzahler günstiger ist, jetzt zu sagen: Wir ziehen einen Schlussstrich, wir beteiligen uns nicht mehr an der Logik des Marktes (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nein, Sie beschädigen den Markt!) und entwickeln keine neue Bank, die wir in vier oder fünf Jahren eventuell zu einem niedrigen Preis verkaufen können. In der Marktwirtschaft gibt es ja Angebot und Nachfrage. Es gibt von der WestLB über die Bayern LB und Banken, die in England und Europa auf den Markt kommen, kein Geschäftsmodell, das große Rendite bringt. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das können Sie nie mehr gutmachen, was Sie machen!) Das heißt, es wird keine Käufer geben, die einen Preis zahlen, der dem entspricht, was wir als Eigenkapital hineinstecken. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das steht Ihnen doch gar nicht zu, die Bank runterzumachen! - Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Macht doch keiner!) Dann muss man sich doch die Frage stellen: Ist es vielleicht nicht günstiger, die Bank generell abzuwickeln? Das muss man überlegen. Ich persönlich bin da festgelegt; in meiner Partei gibt es Meinungsbildung. Es stünde Ihnen gut an, das zu erwägen. Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf angeschaut. (Zuruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]) - Herr Dautzenberg, kennen Sie diesen Gesetzentwurf? - Mir liegt der Kabinettsbeschluss von vor zwei Tagen vor. Darin geht es um die SoFFin-Nachfolgeeinrichtung. Ich habe im Finanzmarktgremium - das kann ich sagen, das ist nicht geheim - vor einer Woche gefragt, ob die Bundesregierung darüber nachdenkt, die Möglichkeiten der Garantien und der Rekapitalisierung auch vor dem Hintergrund der zusätzlichen Milliardengarantien an die HRE zu verlängern. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ein Spiel mit dem Geld der Steuerzahler, was Sie machen!) Da hieß es Nein. Das war vor einer Woche. Jetzt schau ich in diesen Gesetzentwurf und sehe: Für genau zwei Banken, WestLB und HRE, nämlich die, die AIDAs, die Abwicklungsanstalten, gegründet haben, werden hier Garantien in Höhe von 300 Milliarden Euro neu ausgebracht oder verlängert und 50 Milliarden Kapitalzuschüsse. Dann frage ich mich: Wie kommt es zu diesem Wechsel? Das ist noch nicht Ihr Beschluss, aber (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist doch kein Wechsel!) ein Wechsel der Positionen. Es heißt nämlich, im Kern behalten Sie sich vor, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die Frage war nach neuen Garantien!) Ich meine, wir sollten im Bundestag eine Entscheidung treffen - nicht nur die Regierung -, die den Steuerzahler so weit wie möglich schont. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie schaden dem Steuerzahler!) Sie haben sich in der letzten Regierung gewehrt, als wir gesagt haben: Wenn es ein Minus aus dem Rettungsfonds gibt, zahlen das die Banken. Dazu haben Sie Nein gesagt. Wir sind dafür, dass die Banken das zahlen. Das wäre dann auch ein Nullsummenspiel für den Steuerzahler. Meine Damen und Herren, es liegt an Ihnen. (Beifall bei der SPD - Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Unglaublich! - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war wieder teuer für den Steuerzahler! - Dr. Volker Wissing [FDP]: Absurd!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Florian Toncar (FDP): Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor knapp 2000 Jahren schrieb der bekannte römische Dichter Ovid sein Hauptwerk, die Metamorphosen. Im Jahr 2010 schreibt der bekannte Pädagoge aus Niedersachsen Sigmar Gabriel den zweiten Teil der Metamorphosen, die Metamorphosen der SPD. (Joachim Poß [SPD]: Was soll das denn? - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Hat er auch Argumente oder nur Zitate?) Der Unterschied ist: Ovid kam mit 15 Büchern aus, in denen rund 250 mythische Geschichten enthalten waren; bei Ihrer Entwicklung kommen Sie in absehbarer Zeit mit 15 Büchern und 250 Mythen beileibe nicht über die Runden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie verabschieden sich sozusagen im täglichen Rhythmus von bekannten Positionen Ihrer Regierungszeit. Dies betrifft Hartz IV, die Rente mit 67 und jetzt die HRE. Es ist eigentlich keine Überraschung, wenn man sieht, wie Sie sich in den letzten Monaten gewandelt haben. (Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie gerade nötig!) Ich kann das verstehen. Sie scheinen sich für Ihre Regierungsarbeit zu schämen. Das ist Ihnen unangenehm; das kann ich nachvollziehen. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Wie sind denn im Moment die Umfragen? - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das hat niemand hier gesagt!) Deswegen muss man, vielleicht auch im Kontext der Finanzmarktstabilisierung, sagen: Die vermutlich größte Abwicklungsanstalt Deutschlands heißt derzeit SPD. Das stellen wir im Moment fest. (Joachim Poß [SPD]: Dass Sie die Backen so aufblasen, nachdem Sie ein Jahr lang nur rumgegurkt haben, ist interessant!) Die Bundesregierung zieht übrigens in diesem Herbst - das wird hier im Bundestag beraten - entscheidende Konsequenzen aus dem Fall der Hypo Real Estate und der staatlichen Reaktion auf die Finanzkrise. (Joachim Poß [SPD]: Sie sind eine Gurkentruppe, aber hier haben Sie so eine große Klappe! - Gegenruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]: Immer mit der Ruhe da drüben! Ihr habt elf Jahre herumgegurkt!) Das Stichwort heißt "Restrukturierungsgesetz". (Joachim Poß [SPD]: Sie sind ein Mitglied der Gurkentruppe! Sie sollten hier nicht so die Backen aufblasen!) Mit diesem Gesetz werden all die Instrumente, die der Staat vor zwei Jahren nicht zur Verfügung hatte (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) und die Sie bis letztes Jahr auch nicht schaffen konnten, weil Sie sich innerhalb der Großen Koalition uneinig waren, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na ja, das stimmt so aber nicht!) geschaffen. Das heißt mehr Prävention im Hinblick auf Bankenkrisen, das heißt mehr Eingriffsbefugnisse für die Aufsicht in Fällen, in denen wirklich etwas schiefläuft, (Nicolette Kressl [SPD]: Na ja! Das wird sich dann zeigen!) und das heißt letzten Endes auch ein Auffangmodell, das erstens von den Banken bezahlt wird und zweitens die Haftung von Eigentümern und Gläubigern wiederherstellt. Diese Koalition handelt, und sie beseitigt viele der Ursachen, die zu dieser Krise geführt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich finde es bemerkenswert, dass Sie mehr oder weniger offen einräumen, dass sich Peer Steinbrück an vielen Stellen getäuscht hat. (Nicolette Kressl [SPD]: Wie bitte? Der Entwurf ist die Steinbrück-Vorlage zur Restrukturierung! - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Steinbrück ist der Einzige, der einen Rahmen geschaffen hat! Das wissen Sie doch! Sie haben sich in die Büsche geschlagen!) Ich will zwei Punkte erwähnen, die heute noch nicht angesprochen worden sind. Es war Peer Steinbrück, der 340 Millionen Euro gezahlt hat. (Joachim Poß [SPD]: Herr Kollege, Sie sind der größte Schlaumeier, der hier herumläuft!) - Ich weiß, das trifft Sie, Kollege Poß; aber es ist die Wahrheit. - Sie haben 340 Millionen Euro aus Steuermitteln gezahlt bzw. Schulden aufgenommen, um Altaktionäre auszuzahlen oder aus einer schon damals wertlosen Bank herauszukaufen. Das haben Sie gemacht. Damals flossen 340 Millionen Euro an Aktionäre - nicht einmal in die Bank, sondern an die Altaktionäre -, und zwar dafür, dass der Bund eine wertlose Bank übernehmen kann. (Joachim Poß [SPD]: Auf Anraten der Bundesbank!) Das rechtfertigen Sie hier auch noch! Ich glaube, dass bei Ihnen wirklich einiges schiefgelaufen ist. (Beifall bei der FDP - Joachim Poß [SPD]: Auf Anraten Ihres Parteifreundes Thiele und der Bundesbank! - Gegenruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU]: Na, na, na! Das ist aber ein schlechtes Argument, Herr Kollege! - Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Wieso? Die Bundesbank war doch dafür!) - Das ist schon lange vorher passiert, Kollege Poß. Sehen Sie sich die zeitlichen Abläufe noch einmal an! (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Damals war der noch gar nicht da, Herr Kollege Poß! Anders als Sarrazin! Der war schon da! - Joachim Poß [SPD]: Ach! Das hat doch mit dem Thiele nichts zu tun! - Lachen bei der FDP - Joachim Poß [SPD]: Die Bundesbank war dafür! Jeder bei der Bundesbank hat das vertreten! Oder etwa nicht?) Auch ein weiterer Aspekt ist bemerkenswert. Im Zusammenhang mit der Verstaatlichung der HRE im Jahr 2009 hat Peer Steinbrück im Bundestag mit dramatischen Worten gesagt, dass der Bund zu 100 Prozent an der HRE beteiligt sein muss, dass er also Alleineigentümer werden muss. Dafür hat er auch einen Grund genannt. Peer Steinbrück hat immer wieder gesagt - das kann man anhand der Protokolle belegen -: Wir müssen eine 100-prozentige Verstaatlichung durchführen, weil die HRE nur so an den Finanzierungskonditionen des Bundes teilhaben kann. Die Realität von heute ist jedoch, dass sich diese Vorhersage nicht einmal im Ansatz erfüllt hat. Die HRE ist immer noch weit von den Finanzierungskonditionen des Bundes entfernt. Der deutschen Öffentlichkeit wurde von Peer Steinbrück unter Vorspiegelung falscher Annahmen ein Gesetz präsentiert, in dessen Folge überhaupt nichts so gekommen ist, wie er es erwartet hat. (Nicolette Kressl [SPD]: Was sagt denn Herr Dautzenberg zu dieser Rede?) Die Folgen dieser Fehleinschätzungen haben wir heute zu tragen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir zahlen die Schulden!) Es ist sicherlich richtig, dass die HRE systemrelevant war und ist. (Joachim Poß [SPD]: Sie kritisieren Ihren Koalitionspartner jetzt aber sehr hart!) - Ich stelle nur fest, was in den letzten Jahren geschehen ist; jetzt komme ich zur Zukunft, Kollege Poß. - Wir müssen einen Weg finden, diese Bank nicht unkontrolliert in die Insolvenz zu schicken, die Sie nie wollten und die für den Markt auch schädlich wäre. Wir müssen dieses Konstrukt Stück für Stück vom Markt nehmen, (Klaus Brandner [SPD]: Das ist aber schwer!) die Risiken für die Steuerzahler reduzieren und ihre Interessen so weit wie möglich wahren. Wir müssen im Interesse der Steuerzahler das Beste aus dieser Entwicklung machen. Es ist wichtig, festzustellen: Die Bilanzsumme der Bank ist bereits geschrumpft. In dieser Woche werden mehr als 60 Prozent des Volumens der Bank auf eine Abwicklungsanstalt übertragen; wenn diese Operation gelingt, wäre das ein beträchtlicher Erfolg, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) weil die Refinanzierung dadurch nachhaltig stabilisiert würde. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Kernbank, die übrig bleibt, wird nach ihren eigenen Geschäftsplänen weiter schrumpfen. Das heißt, ein großer Teil, ungefähr drei Viertel der Bank, wird entweder abgewickelt oder läuft aus, und Neugeschäft wird nur ausgesprochen zurückhaltend betrieben. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist aber die schrittweise Annäherung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Ist das Neugeschäft der Bank etwas, das wir wollen, weil es uns Chancen eröffnet, oder etwas, das wir nicht wollen? Diese Regierung sagt: Da wir die Interessen des Steuerzahlers zu vertreten haben, müssen wir alles dafür tun, dass zumindest der gute, verwertbare Teil der Bank eines Tages verkauft werden kann. - Ich warne Sie vor der Annahme - sie ist nämlich falsch -, dass eine komplette Abwicklung, die übrigens nicht realistisch ist, billiger wäre und man dem Steuerzahler damit irgendeinen Gefallen täte. Das Gegenteil ist der Fall. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Herr Kollege Schneider, weil Sie dieses Thema angesprochen haben, sage ich Ihnen: Es ist mitnichten so, dass man bei einer Abwicklung keine Mitarbeiter mehr braucht. Gerade bei einer Abwicklung braucht man ausgesprochen qualifizierte Mitarbeiter, die sich gut auskennen. Es macht nämlich einen Unterschied, ob der Schaden bei einer Abwicklung groß, mittelgroß oder klein ist. Das hängt nicht zuletzt auch davon ab, wer abwickelt und wie gut. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aha! Und deswegen die Boni, ja?) - Das haben Sie gesagt, Herr Kollege, nicht ich. Meine Äußerungen dazu haben Sie gelesen. Die Logik, dass man keine guten Mitarbeiter mehr braucht, wenn man das Ganze abwickelt, ist schlicht und ergreifend falsch; das Gegenteil ist nämlich der Fall. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Achten Sie bitte auf die Redezeit, Herr Kollege. Florian Toncar (FDP): Deswegen ist das, was diese Regierung tut, im Interesse des Steuerzahlers. Das, was Sie tun, ist nur ein weiterer Akt in Ihren Metamorphosen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort der Kollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben morgen in erster Lesung ein Gesetz hierzu zu beraten, und wir haben eben viel über Steinbrück gehört. Interessant ist, dass der Teil der Restrukturierungsklausel, die in dem Gesetz vorhanden ist, maßgeblich - vielleicht zu 95 Prozent - aus der Feder von Steinbrück und Zypries stammt. Das ist eine interessante Fortsetzung einer falschen Politik, die Sie hier doch reklamieren. (Florian Toncar [FDP]: Sie sind also begeistert!) In Wahrheit reden wir über Steinbrück, weil er damals gehandelt hat. In Wahrheit reden wir heute nicht über die Regierungskoalition, weil sie eben nicht handelt. Herr Wissing hat das demonstriert. (Beifall bei der SPD) Er hat zwar ganz viel über die Vergangenheit geredet, aber keinen Ton dazu gesagt, was in dieser Lage konkret passieren soll. Er hat sogar gesagt, wir hätten uns in die Verstaatlichung verliebt - er hat das nicht wörtlich gesagt -, aber gemeint, das sei unserer Meinung nach ein tolles Projekt von uns gewesen. Die Antwort ist ganz anders: Wir wollten nicht verstaatlichen, sondern wir wollten retten. (Ulrike Flach [FDP]: Sie wollten die Zerschlagung!) Retten ist etwas ganz anderes. Das Mittel die Verstaatlichung kann das richtige Mittel sein. (Beifall bei der SPD) Es ging darum, eine Systemkrise abzumildern, den Pfandbrief zu retten. Es ging auch um viele Kunden der Bank (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Darum geht es heute auch noch, aber er will die Abwicklung! Sie widersprechen doch dem Kollegen Schneider!) - darum geht es auch jetzt noch - und um das Wirtschaftswachstum, von dem besonders ihr euren Stolz ableitet. Das geht auf solche Maßnahmen zurück. Trotzdem muss man zugeben: Wir haben uns in einer bestimmten Phase geirrt. Wir haben ein Gesetz gemacht, in dem steht, dass wir Vorstandsgehälter kleiner gleich 500 000 Euro festlegen wollen. Ganz ehrlich: Auch ich habe mich geirrt. Ich hätte nicht gedacht, dass die Leute, für die man das Gesetz macht, auf die Idee kommen, dieses Gesetz zu unterlaufen, indem in der zweiten Reihe plötzlich Gehälter gezahlt werden, die höher sind als die, die man für die erste Riege hat regeln wollen. Das konnte ich mir nicht vorstellen; das muss ich ehrlich sagen. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ CSU: Eine ehrliche Antwort!) Daraus mache ich Peer Steinbrück keinen Vorwurf. Das ist eine Frage von Anstand, ob man ein Gesetz so oder so unterläuft. Jetzt wird natürlich gefordert, das alles zu regeln. Man kann alles regeln. Dann heißt es aber wieder, die Regelungsdichte sei zu hoch und die Regelungswut sei überbordend. Ich will ehrlich sagen: Wenn wir alles regeln müssen, weil alles getan wird, was nicht verboten wird, wenn alles erlaubt ist, was nicht explizit verboten wird, dann werden wir eine Gesetzgebung haben, mit der niemand in dieser Gesellschaft mehr zurande kommt. Ich glaube, wir müssen den Bürgern und sogar Leuten, die in der Bank arbeiten, eine gewisse Eigenverantwortung zuschreiben, sonst funktioniert das gesamte System nicht. (Beifall bei der SPD) In welcher Lage sind wir heute? Das haben wir schon gehört. Die HRE überträgt 191 Milliarden Euro auf eine Abwicklungsbank, nämlich auf die Finanzmarktstabilisierungsanstalt, die FMS Wertmanagement. Das ist ein mutiger Begriff für das, was da passiert. Aber es deutet in die Richtung, in die wir gehen wollen. Eine Situation beschreibt ein bisschen das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament. Ich fand die Art, wie der Parlamentarische Staatssekretär Kampeter uns informiert hat, sehr grenzwertig. (Zuruf von der LINKEN: So ist er!) Er hat das in einer Weise getan, die uns vielleicht hinters Licht hätte führen sollen, wenn es nicht rechtzeitig aufgefallen wäre. Ich glaube, da muss noch sehr viel mehr Transparenz hineinkommen. Welche Risiken gibt es in diesem Kontext noch? Wir haben risikogewichtete Aktiva in Höhe von 191 Milliarden Euro, die jetzt übertragen werden. Es gibt ein Kursschwankungsrisiko, das heute noch gar nicht abgeschätzt werden kann, in Bezug auf den US-Dollar und das englische Pfund. Es gibt Staatsanleihen, die in besicherten Refinanzierungstransaktionen ausgegeben werden, die unterlegt werden müssen. Die EZB-Offenmarktgeschäfte sind noch nicht in der notwendigen Weise refinanziert. Das ist ein erneutes Risiko. Ich beschreibe nur ein bisschen die Innensicht der Bank. Die Frage ist auch: Wie verändert sich eigentlich die Bonität der Staatsanleihen? Denn bei einer Änderung der Bonität der Staatsanleihen ändert sich auch der Credit Spread, der Diskontaufschlag. Das erhöht den Liquiditätsbedarf und bringt die Bank unter dramatischen Druck. Was machen verantwortliche Banker, die diesen Druck aus der Innensicht der Bank kennen, in dieser Phase? Sie erhöhen sich die Boni. Das Problem ist der Widerspruch im unterschiedlichen Umgang mit der Verantwortung für das Ganze und für das Eigene. Ich glaube, wer diesen Widerspruch nicht auflöst, hat zukünftig ein großes Problem. Deshalb sehe ich auch eine große Verantwortung für ein ordentliches Gesetz, mit dem dies überwunden wird. Deshalb meine ich: Die Regierung muss aktiv werden und kann sich nicht hinter dem verstecken, was der Kollege Wissing gesagt hat, weil das den Niedergang bedeuten würde. (Beifall bei der SPD) Deshalb will ich noch einmal betonen, dass die Entscheidungen, die die Große Koalition damals getroffen hat, sehr gut für die Stabilisierung der Situation waren; das kann man auch im Nachhinein sagen. Wenn sich die Situation jetzt wieder ändert, dann muss man ein neues schönes Gesetz machen, das wir in zwei Jahren dann hoffentlich nicht so kritisieren wie das jetzige. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD - Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Was wollte uns der Redner damit sagen?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung hat das Wort Herr Parlamentarischer Staatssekretär Steffen Kampeter. Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politik hat viel mit Verantwortung zu tun. Wer in der Politik tätig ist, der muss bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Regieren hat besonders viel mit Verantwortung zu tun. Wer allerdings nicht bereit ist, zu den von ihm verantworteten politischen Entscheidungen zu stehen, der ist politik- und regierungsunfähig. Mit jedem Redebeitrag der Sozialdemokratischen Partei wurde diese These hier heute nachhaltig belegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jedem Beitrag aus der Union genauso! Da sollten Sie aber auch einmal ehrlich sein!) Dass sich die Partei Die Linke, die das Bonusproblem ihres Parteivorsitzenden ja über Wochen diskutiert hat, hier auch noch zum moralischen Wächter aufschwingt, ist ein nettes Aperçu in dieser Debatte. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Roland Claus [DIE LINKE]: Gern geschehen!) Die Bundesregierung steht zu der Entscheidung, über die Stabilisierungsmaßnahmen bei der Hypo Real Estate Schaden vom Finanzmarkt und Schaden von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Entscheidung war richtig, und sie war im Interesse des Finanzplatzes Deutschland und zur Abwendung von weiteren Schäden nachhaltig verantwortbar. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Milliarden sind denn jetzt schon weg?) Die Instrumente im Finanzmarktstabilisierungsgesetz, die wir dazu angewandt haben, sind im Konsens zwischen den damaligen Koalitionspartnern entwickelt worden. Ich möchte hiermit ausdrücklich meinen Respekt gegenüber unserem neuen Koalitionspartner dafür aussprechen, dass er die damals getroffenen Entscheidungen mitträgt und auch bereit ist, Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die er seinerzeit nicht ganz optimal gefunden hat. Das ist verantwortungsvolle Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Lob der Anpassung ist das! - Joachim Poß [SPD]: Wissing ist rausgegangen!) Wo stehen wir heute? - Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass durch diese Aktuelle Stunde offenkundig davon abgelenkt werden soll, dass in Kürze, wahrscheinlich in dieser Nacht, eine der erfolgreichsten und notwendigsten, aber auch kompliziertesten Transaktionen in der Finanzgeschichte der Bundesrepublik Deutschland über die Bühne gehen wird. Alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland müssen wissen: Der Erfolg dieser Transaktion ist wichtig, um Schaden für die deutsche Politik und für die deutsche Volkswirtschaft abzuwenden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn man 192 Milliarden Euro in einen Hochsicherheitstrakt für Finanzmüll überführt, dann ist das keine simple, sondern eine hochkomplexe Leistung. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kostet das den Steuerzahler?) Was dort in den letzten Monaten vorbereitet worden ist, ist trotz der schwierigen Ertragssituation eine wichtige Leistung, die wir nicht mit einer Art von Populismus und Opportunismus begleiten sollten, wie wir es von Teilen dieses Hauses hören, sondern mit Respekt und mit einer Hoffnung auf deren Erfolg. Wir als Bundesregierung und als Deutscher Bundestag haben ein existenzielles Interesse an dem Erfolg der Stabilisierung der Hypo Real Estate. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will auch überhaupt gar keinen Zweifel daran lassen, dass es richtig war, die Bank nicht abzuwickeln. Es war damals in der Großen Koalition unsere Auffassung, dass das für den Steuerzahler die nachhaltig teurere Lösung wäre, und wir haben keinen Anlass, von dieser Beurteilung heute abzurücken. Wir handeln so im Interesse des Bundeshaushalts und im Interesse unserer Volkswirtschaft. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte meinen Respekt all denjenigen zollen, die diese Finanzmarktstabilisierung in den vergangenen zwei Jahren zu einem Erfolg geführt haben, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Wo ist denn der Erfolg bei der HRE?) beispielsweise den Mitarbeitern im Finanzministerium, in der BaFin, aber auch im SoFFin. Wegen mancher Begrifflichkeiten in dieser Debatte will ich aber auch nicht unerwähnt lassen, dass diejenigen, die heute in der HRE arbeiten, nicht diejenigen sind, die die HRE in die Situation geführt haben, dass sie gerettet werden musste. Dort sind nicht mehr die Brandstifter an der Spitze, sondern viele sind dabei, die Aufräumarbeiten zu erledigen. Ich finde, wir sollten sie nicht für die Versäumnisse ihrer Vorgänger in Haftung nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Gibt es jetzt neue Boni?) Ich glaube, dass die Sozialdemokraten vergessen haben, was die Grundlagen für die derzeitigen Vergütungsregelungen sind. Wir haben im Finanzmarktstabilisierungsgesetz eine bewusste Entscheidung für die Begrenzung der Vergütungen auf Vorstandsebene getroffen. Allen, die daran beteiligt waren, war klar, dass dies für die erste Ebene gilt, weil wir zu diesem Zeitpunkt nicht umfassend in Vertragsfreiheit und in Vertragsbestandsschutz eingreifen wollten. Dem Kollegen von der SPD-Fraktion, der hier heute erklärt hat, er habe es nicht gewusst, muss ich ehrlich sagen: Dann hat er seine Aufgabe im Haushaltsausschuss in der vergangenen Legislaturperiode wohl nicht vollumfänglich und verantwortlich wahrgenommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß [SPD]: Er hat gesagt, er hat sich geirrt!) - Lieber Herr Kollege Poß, was wir damals beschlossen haben, war Ihnen in den Konsequenzen genauso klar. (Joachim Poß [SPD]: Ich habe das auch nicht gesagt!) Sie sollten bitte an dieser Stelle nicht vergessen, dass der Schutzpatron der Bonuszahlungen der Hypo Real Estate Mitglied Ihrer Bundestagsfraktion ist. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Im August 2009 - dies stammt aus einer ddp-Meldung - hat der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück die Bonuszahlungen in Höhe von 500 000 Euro an den Vorstandschef der Hypo Real Estate, Axel Wieandt, mit den Worten verteidigt: Herr Wieandt ist der Feuerwehrmann, der bei der Hypo Real Estate einen überaus schwierigen Job macht - und ich bin froh, dass er da ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört! - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der eigentlich, der Steinbrück?) Sie verhalten sich wie der beim Einbruch erwischte Dieb, der dann ruft: Haltet den Dieb! Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kann man mit der deutschen Öffentlichkeit allen Ernstes wirklich nicht umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was hat sich mit dieser neuen Bundesregierung an den Vergütungsstrukturen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist eine neue Lage!) in dem von uns stabilisierten Bereich geändert? (Florian Pronold [SPD]: 7 Millionen mehr!) Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass der Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat der Hypo Real Estate Ende des vergangenen Jahres gefordert hat, die Einmalzahlungen, die bei der Hypo Real Estate aufgrund von Altverträgen vor Einstieg des Bundes geleistet werden müssten, einer Überprüfung zuzuführen. Am Ende dieser Überprüfung steht ein anderes Vergütungssystem, das sich an den drei Kriterien, die wir im Deutschen Bundestag festgelegt haben, orientiert: Transparenz, Nachhaltigkeit und Angemessenheit. Es war im Übrigen auch die letzte Bundesregierung, die im Rahmen des SoFFin erstmals für das Finanzwesen Vergütungsstrukturen festgelegt hat; sie sind dann von der BaFin aufgegriffen worden, und international haben sie Eingang in den Financial Stability Report gefunden. Wir strukturieren die Vergütungen in der HRE grundlegend um. Dies geschieht nicht schon seit der letzten Legislaturperiode, sondern es war Wolfgang Schäuble, der diese Maßnahmen wenige Wochen nach seinem Amtsbeginn eingeleitet hat. Entsprechend können wir hier jetzt sehr selbstbewusst feststellen: In der letzten Legislaturperiode war kein politischer Wille vorhanden, mehr zu machen. In dieser Legislaturperiode hingegen ist der politische Wille in Handeln umgewandelt worden. Das ist die Tatsache, über die hier in dieser Art und Weise zu berichten ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich gehe davon aus, dass es in diesem Bereich, wenn wir zukünftige Verträge nach diesen Prinzipien regulieren werden, zu verantwortbaren und kommunikationsfähigen Entscheidungen kommen wird. Wir sind offen für mitnichten die Vertragsfreiheit aushebelnde oder den Bestandsschutz von Verträgen überflüssig machende Regelungen. Wir sind offen dafür, dies auch im Bereich des Restrukturierungsgesetzes zu machen. Aber ich finde es unangemessen, in populistischer und opportunistischer Art und Weise die in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen so darzustellen, als ob man an ihnen nicht beteiligt gewesen wäre. Ich glaube nämlich, dass in einem Punkt die SPD, die Sozialdemokraten, Farbe bekennen müssen: Sind Sie für variable Vergütungen, wie Peer Steinbrück sie hier vertreten hat, ja oder nein? Sind das nachhaltige Bereiche? Darüber werden wir in den nächsten Wochen und Monaten streiten müssen. Zum Schluss will ich sagen, dass ich Ihnen, Herr Schick, in einem Punkt meinen Respekt zolle. Ich finde es richtig und unterstütze Sie - das nicht als Mitglied der Bundesregierung, sondern als Abgeordneter -: Neben der gesetzlichen Verantwortung haben alle diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, auch eine private Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft, und ich respektiere und unterstütze Ihren Appell an die Betroffenen, privatwirtschaftlich und freiwillig auf die nach meinem Empfinden unanständig erworbenen Ansprüche zu verzichten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Kampeter, eine Lehre sollten Sie aus Ihrem Fauxpas der Fehlinformation ziehen: Sie sollten einfach genauer zuhören, was hier gesagt wird, bevor Sie darauf eingehen. (Beifall bei der SPD) Bis zur Finanzkrise waren die Banker die am besten bezahlte Berufsgruppe überhaupt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zocker vor allen Dingen!) Es gab schwindelerregende Gehälter, es gab exzessive Boni, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spekulanten!) und sie waren mit dafür verantwortlich, dass es zu dieser Finanzkrise in diesem Umfang kommen konnte. Die Prinzipien guter Unternehmensführung - auf Neudeutsch: Corporate Governance - sind in der Finanzbranche auf ganzer Linie missachtet worden. Dies hat eine Expertenkommission der EU festgestellt. Nun beschäftigen wir uns heute mit der HRE. Das, was wir gehört haben, hat eines deutlich gemacht: Die HRE ist ein ganz besonderes Biotop. Ihr Management hat das Unternehmen grandios in die Pleite gewirtschaftet. Der Staat musste als Retter einspringen. Über die Garantierahmen haben wir einiges gehört. Überlegen wir doch einmal kurz, was passiert wäre, wenn der Steuerzahler nicht eingesprungen wäre. Die Bank wäre nicht mehr existent, alle arbeitsrechtlichen Verträge wären hinfällig, es gäbe weder Gehalts- noch Bonizahlungen. Das wäre die Situation. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber das Gesamtsystem wäre gekippt, Herr Kollege!) - Das ist völlig richtig. - Ich unterstreiche, dass Peer Steinbrück in der Großen Koalition richtig gehandelt hat. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir gemeinsam!) Er hat zu Recht gesagt: Es ging nicht nur darum, eine Bank zu retten, sondern es ging darum, insgesamt den Kollaps des Finanzsystems in Deutschland mit weitreichenden Konsequenzen zu verhindern. - Das ist geschehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]) Ich frage mich: Wo würden wir heute eigentlich stehen, wenn wir den Vorschlägen der FDP gefolgt wären? Das will ich mir überhaupt nicht ausmalen. (Beifall bei der SPD) Mit der Verstaatlichung der HRE wurden eine Kernschmelze und ein Kollaps des Finanzsystems verhindert. Aber wir müssen feststellen, dass bereits damals durch die Informationspolitik des Managements das wahre Ausmaß der Katastrophe nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit kam und das wahre Ausmaß des ökonomischen Destasters erst nach und nach publik wurde. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum? Weil Steinmeier und Steinbrück das nicht wollten!) - Das ist jetzt ein bisschen zu blöd, sorry. - (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil sie die Öffentlichkeit belogen haben!) Das Ganze war ein unglaublicher Skandal aufgrund ökonomischer Unfähigkeit von Bankern, die sich selbst für unverwundbar hielten und als sogenannte Master of the Universe in der Realität die größten Versager waren, die man sich vorstellen kann. Zu Recht wurden die Vorstandsgehälter bei 500 000 Euro gedeckelt. Man muss sich vorstellen, dass das Durchschnittsgehalt eines Vorstands einer großen deutschen Bank bei 2,2 Millionen Euro pro Jahr lag. Die Deckelung war richtig. Ich kann das, was mein Kollege hier eben gesagt hat, nur unterstreichen. Meine Fantasie jedenfalls hätte nicht ausgereicht, sich vorzustellen, dass in einer Bank, die nur noch mit Hilfe des Steuerzahlers existiert, diese Boni-Exzesse in der zweiten und dritten Reihe wieder an der Tagesordnung sind. (Beifall bei der SPD) Besonders dreist finde ich es, wenn ein Sprecher der Hypo Real Estate laut einer Meldung der Tagesschau dieses mit dem Hinweis rechtfertigt, die Bonuszahlungen seien nun deutlich geringer als vor der Krise. Das muss man sich einmal vorstellen. In anderen Unternehmen müssen die Beschäftigten in der Krise Gehaltsverzicht üben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lieber Herr Kollege Kampeter, 7 Millionen Euro dieser Bonizahlungen gehen allein auf Ihr Konto. (Zuruf von der LINKEN: Er hört nicht zu!) - Das ist klar. Das kann er nicht. Das haben wir eben festgestellt. - (Joachim Poß [SPD]: 7 Millionen allein auf Kampeters Konto!) - Genau so ist es. Die Frage nach der Zukunft der HRE wird zu Recht gestellt. Wir müssen in der Tat die Frage beantworten, ob die Kernbank nach Übertragung eines Teilportfolios in die Abwicklungsanstalt zukünftig lebensfähig ist. Ich finde es richtig, dass der Kollege Schneider diese Frage so offensiv stellt; (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war keine Frage, das war eine Feststellung!) denn wir können den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in Deutschland auf Dauer nicht immer neue Garantien abverlangen. Das wird nicht möglich sein. Schaut man sich jetzt die politischen Reaktionen an, dann stellt man fest: Die Bundesregierung war informiert, sie war involviert, sie war im Aufsichtsrat beteiligt. Auf der anderen Seite hat es jede Menge kritische Stimmen aus der CDU und der FDP gegeben. Herr Dautzenberg hielt die Vorgänge für nicht akzeptabel. Richtig! Dann haben Sie darauf hingewiesen, die Vorstände hätten schon zum damaligen Zeitpunkt mit Änderungskündigungen arbeiten können, um überhöhte Ansprüche zu begrenzen. Diesen Vorschlag habe ich dann nicht wieder von Ihnen gehört. Schade! Das Ganze hätte man wirklich einmal ausloten können. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir wollen es auf eine andere Grundlage stellen, Herr Kollege! Ein Restrukturierungsgesetz!) Insgesamt zeigt sich: Koalitionsfraktionen und Bundesregierung sind sich in der Bewertung der Sache nicht einig. Das ist bei dieser Bundesregierung nicht neu. Der Streit sollte aber bald beendet werden; denn wir müssen jetzt gemeinsam die richtigen Konsequenzen aus dieser Situation ziehen. Joachim Poß hat es auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt: Da, wo sich der Staat engagiert, haben Boni nichts zu suchen. (Beifall des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]) Jetzt ist die Regierung gefordert, zu handeln. Wir warten auf Ihre Vorschläge. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum die SPD für heute diese Aktuelle Stunde beantragt hat. (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]) Eigentlich müssten Sie zu dem Ergebnis kommen, dass es für Sie bisher nicht sehr gut gelaufen ist. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die SPD gehört selber auf die Anklagebank!) Sie sind daran erinnert worden, dass all die Maßnahmen, die wir im Zusammenhang mit der HRE hier beschlossen haben, unter der Federführung des von Ihnen gestellten, von mir hoch geschätzten Finanzministers Peer Steinbrück vorgenommen worden sind und dass wir auf dringendes Anraten und auf dringende Empfehlung von ihm all die Maßnahmen zur Rettung der HRE - bis hin zur Verstaatlichung - beschlossen haben. Kollege Dautzenberg hat darauf hingewiesen, dass wir es uns sehr lange überlegt haben, ob wir all diese Schritte mitgehen können und mitgehen müssen. Heute müssen wir feststellen: Diese Schritte waren unvermeidbar. Sie sind auch nach heutiger Beurteilung dem Grunde nach richtig und nicht zu beanstanden. Dass es dabei auch Aspekte gibt, die man vorher nicht richtig gesehen hat, nicht richtig einordnen konnte, war uns auch damals bewusst. Man bedenke die Geschwindigkeit, mit der wir die Entscheidungen in diesem Zusammenhang zu treffen hatten. Die Frage, warum die SPD heute diese Aktuelle Stunde beantragt hat, kann ich mir nur damit erklären, dass sie konsequent ihren neuen Weg verfolgt, nämlich die Flucht aus der Verantwortung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei Abgeordneten der SPD - Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das war fast philosophisch!) - Doch, doch. - Sie wollen sich von Ihrem früheren Regierungshandeln verabschieden. Sie wollen Spuren verwischen. Sie wollen mit dem, was Sie früher einmal verantwortet haben, nichts mehr zu tun haben. (Joachim Poß [SPD]: Deswegen gehen wir in den Bundestag, um Spuren zu verwischen!) Das gilt für die Rentenpolitik, das gilt für die Steuerpolitik, das gilt für die Sozialpolitik, und das gilt auch in diesem Punkt. Ihre Parole heißt "Zurück, marsch, marsch! - Spuren verwischen". Ich sage Ihnen aber: Das Ansehen von Politikern und das Ansehen einer Partei steigen mit Sicherheit nicht, wenn man sich zum eigenen Handeln und zur eigenen Verantwortung nicht mehr bekennt. Das ist der konsequente Weg in die organisierte Verantwortungslosigkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es stellt sich die nächste Frage: Warum beantragt die SPD diese Aktuelle Stunde genau in dieser Woche? Von anderen Rednern und vom Herrn Staatssekretär ist darauf hingewiesen worden, dass genau in dieser Woche eine äußerst schwierige Aktion stattfindet: die gesamte Umstrukturierung. Eigentlich sollte es, unserer Verantwortung entsprechend, so sein, dass wir diesen Prozess nicht auch noch erschweren. Stattdessen beklagt der Kollege Carsten Schneider mögliche nachteilige Auswirkungen auf den Steuerzahler wegen der Sonderzahlungen, und gleichzeitig betreibt er hier eine Rufschädigung des Unternehmens, die zu dramatischen nachteiligen Konsequenzen für den Steuerzahler führen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich habe den Eindruck, Sie wollen aus der öffentlichen Empörung Honig saugen. Es gibt Vorurteile ganz allgemeiner Art in Sachen HRE. Ein besonderes Ärgernis sind die aktuellen Vorgänge. Wir haben aber die HRE gemeinsam gerettet im Interesse der Stabilität des Bankensektors in der Bundesrepublik Deutschland, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind sie sicher, dass Sie sie gerettet haben?) um zu vermeiden, dass Werte vernichtet werden, und um sicherzustellen - der Herr Staatssekretär hat es ausgeführt -, dass andere Institutionen wie zum Beispiel die sozialen Sicherungssysteme und kommunale Einrichtungen nicht noch mehr Schaden nehmen. Wir haben schnell gehandelt. Deswegen muss man natürlich auch mit gewissen Ungenauigkeiten rechnen. Es gibt ein Arbeitsrecht und ein Vertragsrecht. Wir wissen, dass Arbeitsrechtsprozesse und Ähnliches anhängig sind. Das ist das eine. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, die sich immer stellt, wenn Unternehmen in Schwierigkeiten sind: Welcher Beitrag muss von der Spitze bis zu jedem Mitarbeiter geleistet werden? Gleichwohl sind wir in der Lage, objektiv zu unterscheiden zwischen Bonizahlungen einerseits und variablen Gehaltsbestandteilen andererseits. Auch das muss in einer solchen Debatte zumindest angemerkt werden. Insgesamt gesehen geht es aber darum, dass alle mithelfen müssen, und zwar unabhängig von ihren Ansprüchen, die sie geltend machen können oder wollen. Es geht darum, dass das Unternehmen wieder in ruhiges Fahrwasser gelangt, sodass es wieder Erfolg haben kann. In diesem Zusammenhang will ich meinen großen Respekt zum Ausdruck bringen gegenüber vielen Betriebsräten, die in ihren Unternehmen, die in der zurückliegenden Zeit in Schwierigkeiten waren, gemeinsam mit der Belegschaft dazu beigetragen haben, dass Unternehmen konsolidiert werden konnten, dass Unternehmen wieder auf einen guten Weg gekommen sind. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie von der HRE oder von wem?) Ich sage das voller Anerkennung und voller Respekt vor diesen Leuten, die sich dafür bei den eigenen Leuten im Unternehmen stark gemacht haben. Damit haben sie einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass wir jetzt schneller als viele andere in Europa aus der Krise herausgekommen sind und wieder eine hervorragende wirtschaftliche Entwicklung verzeichnen können. Auch das sollten wir hier erwähnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich sage auch im Hinblick auf den Bankensektor: Es müssen sich alle darüber im Klaren sein, welche Verantwortung sie zu tragen und zu übernehmen haben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns am Ende einer emotionalen Debatte. Ich glaube, dass in dieser Debatte durchaus das aufgegriffen worden ist, was in der Bevölkerung zu diesem Thema gedacht wird, was in Stammtischrunden und in den Familien diskutiert wird. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir an dieser Stelle darüber sprechen. Hier ist auch der Platz, um darüber zu sprechen. Zum Schluss der Debatte möchte ich diesen Komplex aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus beleuchten, weil ich fest davon überzeugt bin, dass es nicht nur Aufgabe der Politik ist, sich zu empören und zu kritisieren, sondern auch schwierige Sachverhalte zu erklären und den Menschen näherzubringen. Was sind die Fakten, meine Damen und Herren? Die Fakten sind, dass wir im Herbst 2008 die Entscheidung getroffen haben, die HRE nicht in die Insolvenz gehen zu lassen. Wir wissen, dass dies in der Folge dem Steuerzahler verdammt teuer zu stehen kommen wird. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch Zahlen!) Wir wissen auch, dass wir - ob Abwicklung oder nicht - aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen. Wir haben dem HRE-Rettungsprozess als Parlament einen Rahmen gesetzt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt - ich glaube, dem fühlen wir uns alle noch verpflichtet -, den Schaden für den Steuerzahler möglichst zu begrenzen. Wir haben damals auch einen Weg vorgegeben, Herr Kollege Schneider. Der Weg war, dass wir die gefährdeten Teile in eine Abwicklungsbank bringen und den Rest - damals und vielleicht auch heute noch mit Erfolgsaussichten - auf den Markt bringen und verkaufen. In dem Wissen, dass wir als Parlamentarier nicht alles können, haben wir die Bundesregierung beauftragt, diesen Prozess zu begleiten. Wir haben eine Finanzmarktstabilisierungsanstalt gegründet und mit Bankenexperten besetzt. Außerdem - und das ist ganz entscheidend - haben wir dafür gesorgt, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass das Parlament entmachtet wird! - Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, nein!) dass dieser Prozess von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie vom Management der HRE selbst abgewickelt wird, weil letztlich nur sie wissen, was in den Depots und in den Büchern dieses Instituts steht. Das heißt, wir haben Verantwortung übertragen, und wir haben den Beteiligten Freiheit gegeben, die Freiheit, Situationen zu bewerten und zu entscheiden. Das war unsere Entscheidung. Genau diese Freiheit ist auch genutzt worden. Der Vorstand der HRE hat Entscheidungen getroffen. Er hat vielleicht Entscheidungen getroffen, die zu kritisieren sind. Er hat die Entscheidung getroffen, dass Mitarbeiter einen Rechtsanspruch auf variable Gehaltsbestandteile haben und dass dieser Rechtsanspruch umzusetzen ist. Er hat auch die Entscheidung getroffen, dass man wichtige Mitarbeiter gerne halten möchte, weil man genau heute, am 30. September, die anspruchsvollste Transaktion in der Finanzgeschichte über den Tisch bringen muss. Heute muss man Wertpapiere im Wert von über 200 Milliarden Euro von über 4 000 Vertragspartnern in 60 verschiedenen Rechtssystemen übertragen. Das ist schwierig genug. Der Vorstand der HRE hat auch die Entscheidung getroffen, um weitere Garantien zu bitten, damit eben nicht der Fall der Insolvenz, den wir ja alle vermeiden wollen, eintritt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele denn noch?) Noch einmal: Wir haben dem Vorstand der HRE und den Mitarbeitern die Freiheit gegeben, diese Entscheidungen zu treffen. Damit sind wir auch das Risiko eingegangen, dass falsche Entscheidungen getroffen werden. Aber wenn wir nicht ein Minimum an Vertrauen in die handelnden Personen haben, wenn wir als Parlament nicht den Mut haben, gegebenenfalls auch Fehlentscheidungen zu ertragen, dann stellt sich die Frage: Wie soll der ganze Prozess denn laufen? Vielleicht können Vorstand, Mitarbeiter und Anstalt auch vom Parlament verlangen, dass es Stehvermögen zeigt und diese Entscheidungen in kritischen Situationen auch mitträgt, unbeschadet des Rechts des Parlamentes, diese zu kritisieren. Ganz sicher, meine Damen und Herren, können Vorstand und Mitarbeiter erwarten, dass das Parlament verlässlich ist und den gemeinsam eingeschlagenen Weg einhält. Der gemeinsam eingeschlagene Weg besteht bis heute im Erhalt und Verkauf einer Restbank. Diesen Weg kann man als Parlamentarier infrage stellen, aber bitte nach genauer Prüfung, nach genauer Abwägung in den entsprechenden Gremien und nicht im Vorbeigehen bei irgendwelchen Interviews. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Meine Damen und Herren, wir haben Verantwortung übertragen. Das heißt auch, dass wir einen Vertrauensvorschuss gegeben haben: einen Vertrauensvorschuss gegenüber der Anstalt, gegenüber der Bundesregierung und insbesondere gegenüber den Mitarbeitern und dem Management der HRE. Wir erwarten auch, dass dieser Vertrauensvorschuss zurückgezahlt wird. Parlament und Öffentlichkeit sind zu informieren - rechtzeitig zu informieren, schwierige Sachverhalte sind zu erklären - rechtzeitig zu erklären. Ich habe nicht das Gefühl, dass das alle Beteiligten verstanden haben. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass alle Beteiligten bereit sind, Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen. Da wird mir, ehrlich gesagt, im Moment viel zu viel hin und her geschoben. Wenn aber jemand Verantwortung übernimmt, dann müssen wir als Parlament und Öffentlichkeit auch damit umgehen können. Ich glaube, dass wir das können, haben wir in der Vergangenheit und leider auch in der heutigen Debatte nicht immer gezeigt. Manchmal denke ich: Wir lauern hier auf jeden Fehler und jede missverständliche Information; wir skandalisieren lieber, anstatt zu ergründen und zu erklären. Dabei sitzen wir alle in einem Boot: Ministerium und Management, Regierung und Opposition, wir alle sind darauf angewiesen, dass das Projekt HRE in der von uns angedachten Form funktioniert. Im Übrigen weise ich darauf hin: Dieses Projekt ist auf eine so lange Zeit angelegt, dass eine gewisse Restwahrscheinlichkeit da ist, Herr Schneider, dass auch Sie dieses Projekt als Regierungsverantwortlicher irgendwann mit zu Ende führen müssen. Ich empfehle daher dringend: Lassen Sie uns die HRE aus dem parteipolitischen Geplänkel herausnehmen! Lassen Sie uns trotz allem sehr verständlichen Ärger langfristig denken! Ich denke einmal - das richtet sich bewusst an die Opposition -: Morgen ist dafür eine sehr gute Gelegenheit. Morgen werden wir das Gesetz zur Restrukturierung von Banken mit auf den Weg bringen. Wenn Sie entsprechende Anregungen haben, das eine oder andere noch zu ändern oder besser zu machen, sind Sie herzlich willkommen. Ich möchte meine Rede damit schließen, dass ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der HRE für den heutigen Prozess in unser aller Interesse alles Gute und eine glückliche Hand wünsche, damit der Schaden, der durch dieses Projekt entstanden ist, möglichst gering bleiben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß [SPD]: Die haben sich auch selbst beschädigt!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz - GKV-FinG) - Drucksache 17/3040 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Bevor wir in die Debatte einsteigen, darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, die den Diskussionen hier im Plenum über die gesetzliche Krankenversicherung nicht folgen wollen, ihre Gespräche vor dem Saal weiterzuführen, und die anderen, Platz zu nehmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ulrike Flach für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ulrike Flach (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion heute vorlegen, hat wie die meisten unserer Gesetze zwei Komponenten. (Elke Ferner [SPD]: Ja, Klientelpolitik!) Erstens trägt er ebenso wie das AMNOG dazu bei, Ausgaben zu begrenzen und das Defizit von rund 11 Milliarden Euro, welches sich aufgrund der Unterfinanzierung des Gesundheitsfonds aus der Regierungszeit Ulla Schmidts aufgebaut hat, zu verringern. Zweitens hat er starke strukturelle Elemente zur Sicherung der Nachhaltigkeit des Systems. Dies ist - das will ich an dieser Stelle betonen - nur durch eine gemeinsame und solidarische Kraftanstrengung aller Akteure im Gesundheitswesen möglich. (Elke Ferner [SPD]: Was ist denn an Ihrem Entwurf solidarisch?) Krankenkassen, Krankenhäuser, Ärzte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden an den Kosten beteiligt. Die Apotheken, der Großhandel und die Pharmaindustrie wurden bereits im AMNOG erfasst. Es ist kein Wunder - das will ich an dieser Stelle auch sehr deutlich sagen -, dass dies keine Jubelstürme auslöst. Das erstaunt keinen hier in diesem Hause. Niemand zahlt gern mehr oder verzichtet auf Zuwächse. (Elke Ferner [SPD]: Wie war das mit "Mehr Netto vom Brutto"?) - Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Alternative wäre, nach dem, was Sie uns hinterlassen haben, ein Streichen der Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer will das denn? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe von der SPD) Wenn man mit der Sanierung eines maroden Hauses beginnt - das war unsere Aufgabe -, dann sichert man im Allgemeinen zunächst das Dach gegen Regen, um den Verfall zu stoppen, und erst dann beginnt die Innensanierung. (Elke Ferner [SPD]: Im Gegenteil: Sie nehmen die Abrissbirne und reißen es ein!) So ist es auch hier. Mit den Einsparungen stabilisieren wir die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, die darüber übrigens erheblich glücklicher ist, als so manche Pressemeldung in diesen Tagen vermuten lässt. (Zurufe von der SPD) Gleichzeitig entkoppeln wir die Gesundheits- von den Arbeitskosten. Das ist - das will ich an dieser Stelle sagen - kein unsolidarischer Akt, sondern das sichert zum einen Arbeitsplätze - dafür ist diese Koalition angetreten -, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Das glauben Sie selber nicht!) weil die Lohnzusatzkosten bei steigenden Krankenkassenbeiträgen nicht automatisch mit anwachsen, und zum anderen kommt es bei schlechter Konjunktur und steigender Arbeitslosigkeit nicht mehr zu Einnahmeausfällen. Das ist doch genau das, was wir erlebt haben. Das hat uns angetrieben, und damit müssen wir jetzt kämpfen. (Joachim Poß [SPD]: Ja, genau! Wegen Ihrer Politik!) Die Stabilisierung der Einnahmebasis der GKV ist natürlich - das sollte man bei dieser sehr emotionalen Diskussion nicht vergessen - für diejenigen, die die Leistungen beziehen wollen, besonders wichtig. Wenn uns das nicht gelingt, dann müssen die Menschen draußen im Lande dafür bezahlen, und zwar mit ihrer Gesundheit, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Wo ist der Nutzen für die Versicherten?) Strukturell kehren wir durch die Einführung einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge, die sozial ausgeglichen werden, zur Beitragsautonomie der Krankenkassen zurück. Das steigert den Wettbewerb - so hat es unser Koalitionsvertrag vorgesehen - und wird, anders als bei der SPD, für Menschen, die wenig verdienen, einen zielgenauen und unbürokratischen Sozialausgleich vorsehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Es weiß nur keiner, wie er finanziert wird!) Man muss in diesem Hause ja immer mit der zunehmenden politischen Vergesslichkeit unserer Opposition rechnen. (Zuruf von der FDP: Politische Demenz!) Daher noch einmal zur Erinnerung: Für den Erhalt des Sozialausgleichs nach der alten Regelung musste man, wenn man die 1-Prozent-Grenze erreicht hatte, einen Antrag stellen und seine Überlastung nachweisen. Wir machen es einfacher. Dafür sind wir angetreten. (Zuruf von der LINKEN: Das muss man weiterhin!) Außerdem: Wer hat denn die Leute auf diese Art und Weise, dadurch, dass sie Anträge ausfüllen müssen, zu Bittstellern gemacht? Frau Ulla Schmidt war diejenige, die an dieser Stelle das bürokratische Monstrum auf den Weg gebracht hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Herr Spahn, Frau Widmann-Mauz!) Und da Steuern auf alle Einkommensarten erhoben werden, beziehen wir damit erstmals alle Einkommen solidarisch in die Finanzierung ein. Das ist neu, meine Damen und Herren, und es ist etwas, was die FDP immer versprochen hat. (Joachim Poß [SPD]: Was? - Elke Ferner [SPD]: Wo generieren Sie denn mehr Steuern, Frau Flach?) Die Umverteilung zwischen Arm und Reich gehört ins Steuersystem, und genau dort siedeln wir es an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bild des maroden Dachs, das geflickt werden muss, bevor Sanierungen im Innenraum vorgenommen werden, passt natürlich auch in anderer Hinsicht gut. Ich habe Verständnis für die Proteste von Leistungsträgern, zum Beispiel von Ärzten, bei denen die Honorarreformen der Vergangenheit zu Verwerfungen geführt haben und die mit einem System leben müssen, das weder transparent noch leistungsgerecht ist. (Beifall bei der FDP - Zuruf von der FDP: Das stimmt! - Elke Ferner [SPD]: Ein System, das die Ärzte selber wollten!) Ich sage Ihnen: Diese Reform ist natürlich auch für diese Gruppen; denn wir können nicht durch ein löchriges Dach immer mehr Geld hineinschütten, von dem kaum etwas unten ankommt. Wir werden, genau wie versprochen, die Honorarreform im nächsten Jahr angehen. Aber solange die Finanzen nicht solide sind, hätten wir natürlich keine nachhaltige Basis, um Leistungen auch nur in etwa gerecht zu entlohnen. Gleiches gilt übrigens für die Hausärzte. Hier wird niemandem etwas weggenommen, sondern es werden Zuwächse begrenzt. Für bestehende Hausarztverträge gilt Bestandsschutz. Selbstverständlich können auch künftig höhere Vergütungen vereinbart werden, wenn - das ist jetzt wichtig - diese über Effizienzsteigerungen und Einsparungen an anderer Stelle kompensiert werden. Das muss bei all der Propaganda, die jeden Tag über uns erscheint, klar und deutlich gesagt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Debatte an sich sagen. (Joachim Poß [SPD]: Die ganze Zeit hat sie nichts zur Debatte gesagt!) In der letzten Sitzungswoche überbot sich die Opposition mit Vorwürfen, diese Koalition sei der Erfüllungsgehilfe einmal der Pharma-, einmal der PKV- und einmal der Apothekenlobby. (Joachim Poß [SPD]: Ja, richtig! - Elke Ferner [SPD]: Genau, das beweisen Sie wieder!) - Wie ich höre, wird uns Frau Ferner das sicher auch gleich sagen. Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dies Unfug ist. Sie wissen auch, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineingegangen ist. (Zurufe von der SPD: Ah!) Diesen Vorgang haben wir übrigens mit dem Namen Ihres ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Struck so schön zum Struck'schen Gesetz verbunden. Vielleicht lesen Sie auch einmal sein neues Buch - es lohnt sich -, vielleicht auch die Passage, in der er die Chaosmonate der ersten rot-grünen Regierung beschreibt. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Dagegen ist der Streit, der manchmal in dieser Koalition aufkommt, (Elke Ferner [SPD]: Manchmal? - Lachen bei der SPD) weil wir eben engagiert miteinander reden, ungefähr wie eine Diskussion in einer Waldorfschule. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Ist denn ein Ende schon absehbar?) Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an die Gesundheitsreform 2000 und den rot-grünen Versuch, Globalbudgets zu verankern. Damals gab es massive Vorwürfe, die Zustimmung der Ostländer sei mit Milliardenhilfen an die Ost-AOKs erkauft worden. War das eigentlich Lobbyismus für die AOK? Als Ulla Schmidt kam, liefen die Arzneimittelausgaben aus dem Ruder; das GKV-Defizit im Jahr 2001 betrug 5 Milliarden Euro. Rot-Grün plante eine Erhöhung des Zwangsrabattes. (Elke Ferner [SPD]: Kommen Sie mal zu Ihrem Gesetzentwurf, Frau Flach!) Stattdessen - jetzt bitte aufpassen - ergab die berühmte Bordeaux-Runde im Kanzleramt einen einmaligen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie von 200 Millionen Euro. Damals konnte man den Vorwurf hören, die Regierung sei von der Pharmaindustrie gekauft worden. (Joachim Poß [SPD]: Zum Gesetzentwurf! Werden Sie doch mal sachlich! - Gegenruf von der FDP: Ganz übler Lobbyismus war das!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle tun uns mit solchen Vorwürfen keinen Gefallen. Jeder von uns - das sage ich jetzt ganz ausdrücklich für diese Koalition - nimmt für sich in Anspruch, verantwortungsvoll für dieses Land zu handeln, (Elke Ferner [SPD]: Das Gegenteil kommt dabei heraus! - Gegenruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Hören Sie doch mal zu!) und zwar für das gesamte Land und nicht für einzelne Interessengruppen. Unser Ziel ist ein Gesetz für ein gerechtes, nachhaltiges und wettbewerbsfreundliches Gesundheitssystem. Den Entwurf dazu legen wir Ihnen heute vor, und wir erwarten auch von Ihnen einen fairen Umgang mit uns. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Elke Ferner hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Elke Ferner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Rösler, Sie haben jetzt ein Jahr lang versucht, die Probleme wegzulächeln, die wir im Gesundheitswesen haben. Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf ist die Maske gefallen; es erscheint das hässliche Gesicht derer, die den Sozialstaat mit der Abrissbirne kaputtmachen wollen. So sieht es aus! (Beifall bei der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Sie sind ja sogar blind! Ganz schwacher Einstieg!) Was bringt diese schwarz-gelbe Gesundheitsreform? Als Erstes bringt sie eine Beitragsanhebung zum 1. Januar des kommenden Jahres um 0,3 Beitragssatz-punkte. Das hört sich noch relativ harmlos an; aber bei einem Einkommen von 1 000 Euro sind es 36 Euro mehr im Jahr, bei 2 000 Euro sind es 72 Euro mehr im Jahr. Das ist schon ganz nett. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was hätten Sie denn gemacht?) Für die Rentner und Rentnerinnen heißt das, was Sie machen, schlicht Rentenkürzung. Aber wer glaubt, dass dies die schlechte Nachricht sei, der irrt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist die gute Nachricht in diesem Gesetzentwurf. Die schlechte Nachricht heißt, die Arbeitgeberbeiträge werden dauerhaft eingefroren. Das bedeutet, dass die Versicherten in Zukunft ganz alleine alle Kostensteigerungen tragen müssen, die es in diesem Gesundheitswesen geben wird. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) - Jeder muss erst einmal mindestens 2 Prozent seines Einkommens drauflegen. Um noch einmal das Beispiel mit den 1 000 Euro zu nehmen: Das heißt für jemanden mit 1 000 Euro Einkommen mindestens 20 Euro Monat für Monat, die von vornherein weg sind. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Höchstens!) - Mindestens, weil der Zusatzbeitrag bzw. die Kopfpauschale nicht in der Höhe gedeckelt ist. (Heinz Lanfermann [FDP]: Die kann ja nicht mal rechnen!) Das wissen Sie auch. Sie sollten nicht solche dümmlichen Zwischenrufe machen, wenn Sie es eigentlich besser wissen. (Beifall bei der SPD) Bei jemanden, der ein Einkommen von 2 000 Euro monatlich hat, sind es monatlich 40 Euro netto weniger. Da frage ich mich: Was ist denn aus dem Spruch "Mehr Netto vom Brutto" geworden, Herr Westerwelle? (Joachim Poß [SPD]: Da sitzt er ja, der mit dem Spruch, der Westerwelle!) Es bleibt weniger Netto vom Brutto. Je höher die Kopfpauschale steigt, um so weniger Netto vom Brutto wird es mit dieser Koalition geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Lesen Sie beim Bund der Steuerzahler, dass es mehr ist, nicht weniger!) Ich möchte es vielleicht zwei oder drei Jahre weiterdenken: Die Kopfpauschale steigt und steigt und erreicht schließlich einen Betrag von 30 Euro. Das heißt dann: Alle, die im Monat weniger als 1 500 Euro brutto verdienen - wir reden immer vom Bruttoeinkommen -, werden auf einen sogenannten Sozialausgleich angewiesen sein. (Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt geht aber alles durcheinander!) - Herr Lanfermann, wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen das sind? Das sind mehr als 50 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten, mehr als Dreiviertel aller gesetzlich versicherten Rentnerinnen und Rentner. Sie nehmen sie dann aus wie eine Weihnachtsgans, nur um die Arbeitgeber davon zu entlasten, sich weiterhin paritätisch an den Kosten des Gesundheitssystems zu beteiligen. (Beifall bei der SPD) Die öffentliche Hand wird nach Ihren eigenen Angaben mit mehr als 1 Milliarde Euro zusätzlich belastet, einmal weil sie selber Arbeitgeber ist, zum Zweiten weil es aufgrund der steuerlichen Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge zu Mindereinnahmen kommen wird. (Heinz Lanfermann [FDP]: Haben Sie etwas dagegen, oder was? - Jens Spahn [CDU/CSU]: Das haben wir übrigens gemeinsam eingeführt! Das hat Herr Poß eingeführt!) Wir kommen jetzt zu dem komischen Sozialausgleich. Der Sozialausgleich ist in Wahrheit gar kein Sozialausgleich, sondern eine Wechselprämie. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das stimmt schon mal nicht!) Sie sagen, bis 2015 würden dafür keine Steuermittel aufgewendet. Das heißt, die Beitragsmittel werden irgendwie umverteilt. Heute haben wir einen funktionierenden Sozialausgleich: Diejenigen, die mehr Einkommen haben, finanzieren die Beiträge derjenigen mit, die weniger Einkommen haben. Ich frage mich, warum man einen funktionierenden Sozialausgleich abschaffen will. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man muss sich einmal anschauen, mit welchem Bürokratieaufwand das verbunden ist. Niemand zu Hause an den Bildschirmen kann sich das vorstellen: Die Krankenkassen sollen dem Arbeitgeber eine Nachricht dazu übermitteln, ob ein Sozialausgleich stattfindet. Also muss von jedem Arbeitgeber Monat für Monat eine Meldung vorgenommen werden, und zwar für jeden einzelnen Arbeitnehmer und jede einzelne Arbeitnehmerin. (Ulrike Flach [FDP]: Das macht er doch jetzt schon! Das ist doch nichts Neues!) - Nein, Frau Flach, das gibt es noch nicht; im Moment gibt es hier ein System der Summenbildung. Das, was Sie vorhaben, ist im Moment in keinem Lohn- und Gehaltsprogramm vorgesehen. Es wird Jahr für Jahr zu 600 Millionen Meldungen kommen. Das nenne ich ein wirklich gelungenes Beispiel für Bürokratieabbau. (Beifall bei der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Wissen Sie, wie Software funktioniert?) - Ja, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Lanfermann, weiß ich das. (Heinz Lanfermann [FDP]: Dann wüssten Sie, dass man das ganz leicht umstellen kann!) - Nein, das ist eben nicht ganz so leicht; glauben Sie es mir. Der Punkt ist: In der Gruppe derjenigen, die einen sogenannten Sozialausgleich erhalten sollen, sind auch diejenigen, die Mitglied einer Krankenversicherung sind, die überhaupt keine Kopfpauschale erhebt. Bei den SGB-II-Empfängern wird es noch doller: Der Grundsicherungsträger überweist der Krankenkasse auch dann den durchschnittlichen Beitrag, wenn sie ihn gar nicht braucht. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was hätten Sie denn jetzt konkret gemacht?) Was ist aber mit der Krankenkasse, die mehr als den durchschnittlichen Beitrag braucht? Wo bekommt sie die Differenz erstattet? Alles, was Sie da machen, ist Murks hoch drei. Der neue Renner ist jetzt die Kostenerstattung. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Für die Versicherten ist das eine Falle, weil sie auf den Kosten hängen bleiben. Mit Blick auf die Ärzteschaft will ich sagen: Wenn die Ärzte auf Kostenerstattung setzen, haben sie das Geld noch lange nicht; denn das Geld geht erst von der Kasse zum Patienten und erst dann zum Arzt. (Ulrike Flach [FDP]: Das kann jeder machen, wie er will!) Letzter Punkt: PKV. Hier haben wir es mit Klientelpolitik pur zu tun. Der PKV wird eine Frischzellenkur verpasst. Das ist im Übrigen der einzige Punkt im ganzen Gesetzentwurf, der schon Ende dieses Jahres in Kraft tritt, damit möglichst viele schon zu Beginn des nächsten Jahres von der solidarisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung in die PKV wechseln können. Ihr Gesetz sorgt für ein Exklusivgeschäft der PKV bei den sogenannten Zusatzversicherungen. Herr Rösler sprach in der Financial Times Deutschland von einer "Zusammenarbeit". Wie sieht denn die Zusammenarbeit aus? Die GKV schafft der PKV die Kunden bei. Die GKV muss schauen, dass sie alle Kranken und Beladenen versorgt; die PKV darf sich die Rosinen heraussuchen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie haben die Zusammenarbeit selber beschlossen! Wir haben sie gemeinsam beschlossen!) So sieht Ihre Gesundheitspolitik aus. Das ist heute ein schwarzer Tag für das deutsche Gesundheitswesen. Ich verspreche Ihnen: Wir werden all diesen Murks 2013 wieder rückgängig machen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Johannes Singhammer hat das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer in Deutschland krank werden sollte, der erhält auch im kommenden Jahr eine bessere Versorgung als in den meisten unserer Nachbarstaaten. Wer einen Arzt aufsuchen oder in ein Krankenhaus eingewiesen werden muss, der kann sich auch im kommenden Jahr darauf verlassen, dass alle Rechnungen von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden, weil Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht sind und weil der von einigen von Ihnen vor wenigen Monaten noch vorhergesagte Kollaps des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht stattfindet. Wer Beiträge zahlt, der kann sich auch im kommenden Jahr darauf verlassen, dass mit seinem Geld sorgfältig umgegangen und dass effizient eingespart wird. 2 Milliarden Euro niedrigere Zahlungen an die Pharmaindustrie (Elke Ferner [SPD]: Luftbuchungen!) und noch einmal 400 Millionen Euro Einsparung bei den Impfstoffen - das ist ein historisch einzigartiger Sparerfolg. (Elke Ferner [SPD]: Das ist ein Totalverriss!) - Frau Ferner, warum man nun ausgerechnet diesen Ansatz mit Lobbyismus in Verbindung bringt, weiß niemand. Denn die Rechnung, die Sie aufstellen, lautet ja: Je weniger bei der Pharmaindustrie ankommt, desto erfolgreicher ist der Lobbyismus. Intellektuell gesagt ist das etwas unredlich, und in verständlicher Weise sage ich: Das ist Unsinn. Auf das Argument, das Sie im Zusammenhang mit der privaten Krankenversicherung gebracht haben, gehe ich gleich noch einmal ein. Sie müssen sich bei Ihrem Vorwurf nur schon einmal entscheiden, wem gegenüber wir dem Lobbyismus denn erlegen sein sollen. Zwangsrabatte und Preismoratorium gehen ganz eindeutig auf Kosten der Pharmaindustrie. Denn deren Gewinne werden nicht im gewünschten Umfang fließen, und auch die Übertragung dieser Einsparmaßnahmen auf die 10 Mil-lionen Versicherten der privaten Krankenversicherungen wird bei der Pharmaindustrie alles andere als Freude wecken. Schließlich profitieren von den Einsparmaßnahmen nicht nur die 70 Millionen gesetzlich Versicherten, sondern noch einmal 10 Millionen Versicherte in der privaten Krankenversicherung. Dazu sagen Sie, das sei ein besonderes Entgegenkommen gegenüber der privaten Krankenversicherung, sozusagen ein Lobbyismus, den man lückenlos nachweisen könne. Sie müssen sich also schon einmal überlegen, wohin Sie den Vorwurf richten: entweder, oder - beides geht nicht, weil die Interessen zu unterschiedlich sind. Ich sage Ihnen eines: Lassen Sie endlich einmal diese Unterstellungen! Holen Sie tief Luft, denken Sie nach! Wenn Sie Himbeeren meinen, dann sprechen Sie nicht von Eisbären! Bei Krankenhäusern und Ärzten werden die Ausgaben nicht wie bei den Arzneimitteln verringert. Aber die Zuwächse der vergangenen Jahre können wir nicht in der bisherigen Weise wiederholen. Wir schaffen Sicherheit für die hausärztliche Versorgung. Mit einer Bestandsschutzregelung wird ein Sonderkündigungsrecht für rechtskräftige Verträge ausgeschlossen. Ganz wichtig: Auch bei Anschlussverhandlungen über den Vertragsinhalt wird bis zum 31. Dezember 2012 das bisherige Recht angewandt. Das ist ein erster großer Schritt. Aber wir wollen im Gesetzgebungsverfahren noch mehr Sicherheit für die hausärztliche Versorgung der Menschen in Deutschland erreichen. Die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen hat sich bisher noch nicht auf eine Honorarverteilung zwischen den einzelnen KV-Bezirken und Bundesländern einigen können. Ich sage: Zunächst muss die Selbstverwaltung ihre Hausaufgaben machen, aber die Politik wird nicht endlos zuschauen. Den Zuwachs für die Ärzte von 5 Milliarden Euro in den vergangenen beiden Jahren wollten wir. Aber ich halte es nicht für möglich, dass ein weiterer Zuwachs, den wir ebenfalls wollen, dann so aussieht, dass einige Bundesländer oder KV-Bezirke vollständig leer ausgehen. Länder, die in der ambulanten Versorgung Vorbildliches leisten und Versichertengelder ökonomisch einsetzen, dürfen bei der Verteilung der Zuwächse nicht bestraft werden. Auch die Krankenhäuser werden einen Zuwachs bekommen. Wie in den vergangenen beiden Jahren, in denen ein Zuwachs von fast 4 Milliarden Euro erzielt wurde, wird es auch in den nächsten Jahren einen Zuwachs geben. Wir erkennen die Leistung an, die gerade in den Krankenhäusern von den Ärzten und vom Pflegepersonal erbracht wird. Wir wollen ihren verantwortungsvollen Dienst an den Patienten würdigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit Zusatzbeiträgen und Sozialausgleich schaffen wir ein neues Element des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen, und das ist dringend nötig. Die Lohnkosten werden von den steigenden Gesundheitsaufwendungen abgekoppelt. Das ist gerecht, Frau Ferner, (Elke Ferner [SPD]: Das war nie gerecht und wird nie gerecht sein!) weil damit die Arbeitsplätze sicherer werden und wieder mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Beschäftigung kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bevor Sie so dazwischenschreien: (Elke Ferner [SPD]: Weniger Netto vom Brutto!) Die Auflösung der Parität ist keine Erfindung dieses Gesetzgebungsvorgangs, sondern die Auflösung der Parität ist maßgeblich unter Mitwirkung und Verantwortung der Sozialdemokraten zustande gekommen. Mit der Einführung der Zusatzbeiträge, so wie sie jetzt gelten, und mit der Schaffung der Sonderbeiträge ist schon vor Jahren die Parität eindeutig verändert worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Das war doch die Zahnprämie!) Damals haben Sie noch verantwortungsbewusst gehandelt und mitentschieden. (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) Jetzt wird die Änderung der Parität bei der gesetzlichen Krankenversicherung als Teufelszeug bekämpft. (Elke Ferner [SPD]: Was sagt Herr Söder eigentlich zu Ihren Reden hier?) Weil wir uns in einer Gesundheitsdebatte befinden, rate ich Ihnen dringend: Besuchen Sie Ihren Hausarzt. Lassen Sie sich auf politische Amnesie - auf gut Deutsch: Gedächtnisverlust - (Mechthild Rawert [SPD]: Wie häufig waren Sie schon beim Hausarzt?) untersuchen und erinnern Sie sich daran, welche Entscheidungen Sie mitgetragen haben. (Elke Ferner [SPD]: Da habe ich noch lange Zeit! Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Singhammer!) Noch schlimmer machen Sie es dadurch, dass Sie in dieser Frage den Schulterschluss mit der Linkspartei suchen. (Lachen bei der SPD) Die Erfolge der Linkspartei bei der Sicherung von Arbeitsplätzen - das ist der Hintergrund dieser neuen Regelung - sind, freundlich und höflich ausgedrückt, sehr marginal. Das haben wir heute Vormittag bei der Debatte über die deutsche Einheit schon gehört. Wir, die christlich-liberale Koalition, schaffen neue Arbeitsplätze. Nach den Vorhersagen aller Institute werden wir im kommenden Jahr erstmals wieder über 40,2 Millionen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland haben. (Mechthild Rawert [SPD]: Mindestlöhne! Mindestlöhne!) Das zeigt, dass der Weg der Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten erfolgreich ist, dass dieser Weg weiter beschritten werden muss und dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden darauf achten, dass die neuen Verfahren bei der Ausgestaltung der Zusatzbeiträge und des Sozialausgleichs bürokratiearm geregelt werden. Dabei wird es keine Kopfpauschale geben, wie Sie es immer behaupten. (Elke Ferner [SPD]: Natürlich!) Kopfpauschale heißt: Pro Kopf muss eine Pauschale gezahlt werden. (Lachen bei der SPD) Die beitragsfreie Mitversicherung der Ehepartner und Kinder - allein dieses Argument müsste Sie überzeugen - steht nicht in Frage. Es gibt keine Kopfpauschale. Deshalb sind Ihre Vorwürfe schlicht falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Kopfpauschale! Das können Sie nicht schönreden!) Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass wir keine Einheitsversicherung, die Sie immer mit dem Begriff der Bürgerversicherung umschreiben, wollen; denn das, was Sie mit der Bürgerversicherung anstreben, ist letztendlich eine Rolle rückwärts. Sie wollen die private Krankenversicherung abschaffen, um an die Rücklagen der privaten Krankenversicherung in Höhe von über 100 Milliarden Euro heranzukommen. Nun frage ich Sie: Was gibt es im Krankenversicherungssystem Nachhaltigeres, als Rücklagen für das Alter zu bilden? Das ist zukunftsgewandte Politik. (Elke Ferner [SPD]: Deshalb werden die Prämien auch immer teurer bei der PKV!) An diese Rücklagen wollen Sie ran. Deshalb wollen Sie die private Krankenversicherung mit ihren auf die Zukunft ausgerichteten Instrumenten schleifen. Das wollen wir nicht. Wir wollen auch keine Politik des Neids. Wer aus Neid die Nachhaltigkeit in der Versicherung zerstört, der schafft nicht mehr Gerechtigkeit, sondern mehr Ungerechtigkeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Singhammer, wollen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bender zulassen? Johannes Singhammer (CDU/CSU): Noch einen Gedanken, dann kommt die Kollegin dran. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch Folgendes sagen: Wir wollen keine andere Form der Einheitsversicherung, und wir wollen auch keine Privatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. (Elke Ferner [SPD]: Natürlich!) Das wollen wir nicht. Deswegen wird es auch keine sogenannte Vorkasse als Pflichtveranstaltung geben. Das wird es nicht geben. Das will ich hier klar sagen. - So, jetzt die Zwischenfrage, bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Bender, bitte. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade die Altersrückstellungen in der privaten Krankenversicherung ausdrücklich gelobt. Können Sie uns bitte erklären, wie es kommt, dass privat Krankenversicherte, die schon länger Mitglied dieser Versicherung sind, ihre Versicherung nicht wechseln können, weil sie die Altersrückstellungen nicht mitnehmen können, die Altersrückstellung also im Wesentlichen zur Folge hat, dass es in der privaten Krankenversicherung keinerlei Wettbewerb gibt? Was soll daran eigentlich schön sein? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Kann man beantworten! Das ist einfach falsch, was sie sagt!) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Kollegin Bender, Sie wissen sicher ebenso wie ich, dass die Koalition in der zurückliegenden Legislaturperiode genau diese Frage geklärt hat. Wir haben die Mitnahme der Altersrücklage ermöglicht und damit das Wechseln erleichtert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Aber nur in den Basistarif! Da mussten wir Sie ja schon hinprügeln! Da mussten Sie hingetragen werden, Herr Singhammer!) - Das ist so, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. - Sie können sich wieder setzen, Frau Bender. (Mechthild Rawert [SPD]: Die Antwort blieb aus!) - Die Antwort war klar. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Gedanken zu sprechen kommen. Die Solidargemeinschaft der Steuerzahler beteiligt sich im kommenden Jahr mit 15,1 Milliarden Euro an den Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Damit wird entsprechend der Leistungskraft des jeweiligen Steuerzahlers ein Solidarbeitrag geleistet. (Elke Ferner [SPD]: Absurd! Das sparen Sie an anderer Stelle ein!) Das ist ehrliche Solidarität, die jeden entsprechend seiner Möglichkeiten beteiligt. Das ist gerecht, das ist solidarisch, und das ist das Prinzip unseres Gesetzentwurfs, den wir hiermit einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Klientelpolitik!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Martina Bunge hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, mit Ihrem Gesetzentwurf soll die Solidarität endgültig zu Grabe getragen werden. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) Einige Belege dafür: Sie geben vor, mit einer einkommensunabhängigen Beitragserhebung und dem sogenannten Sozialausgleich mehr Gerechtigkeit schaffen zu wollen und über Steuern die Belastung auf mehr Schultern zu verteilen. Tatsächlich belasten Sie die Versicherten drei- bis viermal so stark: erstens mit der generellen Beitragssatzerhöhung auf 8,2 Prozent für die Versicherten, (Ulrike Flach [FDP]: Was hätten Sie eigentlich gemacht?) zweitens mit dem Zusatzbeitrag - bis zu 2 Prozent des Bruttoeinkommens - und drittens mit den Steuern für den Sozialausgleich; (Ulrike Flach [FDP]: Welche Leistungen hätten Sie denn eingespart?) denn Mehrwertsteuer und andere Verbrauchssteuern zahlen auch die Bezieher kleiner Einkommen. Das alles ist ungerecht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Sie behaupten, wir bräuchten eine Entkoppelung der Beiträge von den Arbeitskosten, um Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze auch künftig zu sichern. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sondern?) Tatsächlich wälzen Sie mit dem Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge bei 7,3 Prozent alle künftigen Ausgabensteigerungen im Gesundheitssystem allein auf die Versicherten ab. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Das ist unsozial. (Beifall bei der LINKEN) Sie geben vor, damit die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zukunft zu stabilisieren. Tatsächlich wissen Sie heute noch nicht, woher die Steuern für den in wenigen Jahren garantiert rasch wachsenden Sozialausgleich kommen sollen. Dieser Gesetzentwurf ist untauglich für die Zukunft. Sie wollen die Kopfpauschale durch die Hintertür zugunsten der Bestverdienenden und der Arbeitgeber. Das ist des Pudels Kern. Übrigens, das Grab für die Solidarität haben viele über viele Jahre geschaufelt. Den ersten Spatenstich hat Bundesgesundheitsminister Seehofer, CSU, mit dem Gesundheitsstrukturgesetz gesetzt. 1993, als der Wettbewerb in der Krankenversicherung eingeführt wurde, ging es los mit dem Wettbewerb um gute Risiken, um die gesunden Versicherten. Seither finden immer mehr die Kategorien "Gesundheitsmarkt" und "Kunde statt Patient" Einzug in die gesetzliche Krankenversicherung. Die Linke sagt, Gesundheit ist keine Ware, Gesundheit ist Daseinsvorsorge. (Beifall bei der LINKEN) Also Vorsicht, wenn sich Ministerpräsident Seehofer heutzutage als Gralshüter sozialer Gerechtigkeit gebärdet. Aber auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben an diesem Grab für die Solidarität mitgeschaufelt, zuletzt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die die Stellschraube "Zusatzbeiträge" am Gesundheitsfonds angebracht hat. Die Rösler-Reform ist nun nicht etwa nur eine etwas andere Art der Finanzierung des Gesundheitssystems. Sie ist der dritte große Angriff auf das Sozialsystem. Nach Hartz IV, nach der Zerstörung der Rentenformel ist jetzt die Gesundheit dran. Das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Gott sei Dank lassen Ihnen das die Bürgerinnen und Bürger nicht so einfach durchgehen. Außerparlamentarische Kräfte, also Gewerkschaften, Sozialverbände, Initiativen, Einzelne, sind in diesem Herbst auf der Straße. Ich gebe zu: Ich bin froh, dass die drei Oppositionsfraktionen bzw. -parteien dabei sind und auch mehr und mehr gemeinsam machen. Ich billige der SPD ja Lernfähigkeit zu. Sigmar Gabriel, SPD, Claudia Roth, Grüne, Gesine Lötzsch, unsere Parteivorsitzende, zeigten vorgestern gemeinsam mit dem DGB-Vorsitzenden Sommer ihre Köpfe gegen die Kopfpauschale. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Übrigens, auch im Bundesrat sind nach dem Wahlausgang in Nordrhein-Westfalen die Karten neu gemischt. Ich bin sicher, dass das Gesetz auch dort nicht einfach nur so durchgewunken wird, und das zu Recht. Besinnen Sie sich und ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück, meine Damen und Herren. Der Gesetzentwurf löst kein Problem, er schafft nur neue. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Nun wollen Sie - wie wir gestern und heute erfahren durften - über Änderungsanträge auch noch das Prinzip der Kostenerstattung ganz schnell im Gesetz etablieren. Ich habe mir schon einen Kopf gemacht, wie ich diese Gefahr den Bürgerinnen und Bürgern erläutern soll. (Ulrike Flach [FDP]: Warum? Das gibt es doch schon! Das haben doch Ihre Freunde von den Sozialdemokraten gemacht!) Doch heute früh hat mich in gewissem Sinne mein Taxifahrer beruhigt. Als im Radio die Meldung kam, dass hier heute diese Debatte geführt wird, sagte er: Nun sollen wir alle auch noch die Rechnungen vorher beim Arzt bezahlen. (Ulrike Flach [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Wo lebt dieser Minister denn? Der ist doch total durchgeknallt. - (Beifall bei der LINKEN - Heinz Lanfermann [FDP]: Da hätten Sie ihn einmal aufklären sollen, dass das gar nicht stimmt!) Das sollte ich Ihnen sagen. Das ist Volkes Stimme. Hören Sie auf mit ihrer Lobby- und Klientelpolitik. Eine für alle, die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, die die Mehrheit der Bevölkerung will, muss her. Das hat Zukunft. So sieht Solidarität aus. (Beifall bei der LINKEN - Heinz Lanfermann [FDP]: Die Berliner Taxifahrer sind klüger, als Sie das jetzt dargestellt haben! - Ulrike Flach [FDP]: Nur wäre es Ihre Pflicht gewesen, ihn aufzuklären!) - Dann fahren Sie einmal mit ihnen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Fritz Kuhn hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Meinung, wenn man über grundlegende Gesundheitsreformen spricht, müsste man in diesem Haus eigentlich auch mit einer Debatte über die zugrundeliegenden Werte beginnen. Denn eine Gesundheitsreform kann nicht nur Technik sein - das ist sie vielleicht teilweise in den Einzelheiten der Gesetze -, sondern muss aus Werten abgeleitet und begründet sein. Wir, die wir Freiheit zu Recht als großartigen Wert unserer Verfassung ansehen, wissen alle - das Bundesverfassungsgericht erinnert uns gelegentlich daran -, dass Freiheit nur von jedem Einzelnen in Selbstbestimmung verwirklicht werden kann, wenn es ein Netz von Sicherheiten gibt, die es jedem Einzelnen ermöglichen, Freiheit in Anspruch zu nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dies sind Sicherheiten des Rechtsstaats gegen Gewalt, aber es sind auch soziale Sicherheiten. Das haben wir jetzt ja beim Hartz-Urteil gehört. Es sind auch Sicherheiten wie der Schutz vor Krankheiten. Zu einem freien selbsttätigen Leben gehört in unserer Demokratie, dass alle, wenn sie krank werden, zu fairen Bedingungen geschützt sind und medizinische Leistungen in Anspruch nehmen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, deshalb wird dieses Gesetz eingebracht! - Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Nein, dafür ist es nicht, Herr Lanfermann!) - Ich freue mich über die Einigkeit an dieser Stelle. Wir haben unterschiedliche Einkommensverteilungen in Deutschland. Es wird also Personen geben, die in der Lage sind, für sich diesen Schutz leicht selber zu finanzieren, allein oder in Verbindung mit dem Versicherungssystem. Jetzt kommt aber der wichtige Punkt: Weil es viele Menschen gibt, die dieses Einkommen nicht haben, sind sie auf eine funktionierende Solidarität zur Herstellung dieser Sicherheit angewiesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) - Da gehen Sie auch noch mit. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja!) Sehen Sie, man kann mit einer Ableitung aus Werten in Deutschland noch etwas erreichen. Jetzt kommt der Dissens: (Heinz Lanfermann [FDP]: Aber nur schürfen im Grundgesetz bringt es auch nicht!) Wenn Sie hierbei mitgehen, warum legen Sie heute einen Gesetzentwurf vor, der systematisch, Schritt für Schritt, diese Solidarität infrage stellt und abbaut? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann nur jemand behaupten, der keine Ahnung hat! - Jens Spahn [CDU/CSU]: Das sagt der Gesundheitspolitiker Kuhn!) Das ist der Kernpunkt unseres Streits. Ich will es Ihnen an drei Beispielen darstellen. Warum greifen Sie ein Kernelement der Solidarität - seit Bismarck, auf jeden Fall in der sozialen Marktwirtschaft verwirklicht -, nämlich dass die Sicherheit des Einzelnen im Schutz vor Krankheit in Deutschland eine gemeinsame Sache von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist, an, indem Sie den Arbeitgeberbeitrag einfrieren wollen, wie es in dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, steht? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das war ja nicht einfach irgendetwas, etwa nach dem Motto: "Gesundheit hat auch etwas mit Arbeit zu tun", sondern es war ein Kernelement der sozialen Marktwirtschaft, dass sich alle darum kümmern müssen - auch die Arbeitgeber -, dass die Leute geschützt sind. Es hatte die wichtige Auswirkung, dass die Arbeitgeber und ihre Verbände bei der Kostenentwicklung immer mitdiskutiert haben und im Hinblick auf die Lohnnebenkosten darauf geschaut haben, dass es nicht ins Uferlose wächst. Von dieser Verpflichtung werden Sie die Arbeitgeber mit Ihrem Gesetzentwurf entbinden, übrigens zum Schaden von denjenigen, die auf Kostensenkung und Kostenbewusstsein achten. Das, was Sie in diesem Punkt machen, ist brandgefährlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ein weiterer Punkt betrifft den Zusatzbeitrag bzw. die Kopfpauschale. Vom Begriff her ist das natürlich noch nicht die Kopfpauschale, aber es ist aufgrund der 2-Prozent-Grenze und der Möglichkeit, an der Finanzierungstechnik immer wieder zu drehen, eine hervorragende Strategie des Einstiegs in die Kopfpauschale. Die Summen sind jetzt für alle möglich; Sie haben den Deckel, den es bisher gegeben hat, jetzt entfernt. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist jetzt mehr Spekulation als Wissen!) Deswegen wird dies eine Einstiegsstrategie in die Kopfpauschale sein. Das ist eine soziale Belastung für viele Menschen. Das wurde vorher angesprochen: Wer 1 000 Euro brutto verdient, wird höchstens 20 Euro monatlich zu zahlen haben. Das sind 240 Euro im Jahr. Fragen Sie einmal die Rentnerinnen und Rentner oder die Geringverdiener, die mit so wenig Geld auskommen müssen, was 240 Euro für sie im Jahr bedeuten! Das ist eine zusätzliche soziale Belastung. Wenn Sie sich christlich-soziale Union nennen, wenn Sie etwas von sozial verstehen, können Sie nicht einfach sagen, 240 Euro würden bei kleinen Leuten nichts ausmachen. Ich sage Ihnen: Das ist eine Belastung. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Alternative ist, dass Leistungen gestrichen werden müssen! Sie würden den Leuten doch ab 60 nichts mehr geben!) Früher galt das Prinzip: Wer mehr hat, trägt mehr. An dieses Prinzip halten Sie sich nicht mehr. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Im Gegenteil! Es wird gestärkt! Sie haben den Gesetzentwurf wohl nicht gelesen!) Jetzt müssen die Leute Leistungen individuell bezahlen. Deswegen ist das, was Sie da machen, nicht in Ordnung. Das ist der Einstieg in die Entsolidarisierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Lars Lindemann [FDP]: Jetzt müssten Sie eigentlich auch mal darüber reden, was die Leute dafür kriegen können! - Ulrike Flach [FDP]: Wollen Sie denn das Gesundheitssystem zurückfahren, oder was wollen Sie?) Die großen Sprüche von Minister Rösler haben Sie nicht verwirklicht. (Lars Lindemann [FDP]: Sagen Sie doch mal: Was kriegen die Leute denn alles?) Eine Finanzierung aus Steuermitteln sei viel gerechter, haben wir immer wieder gehört. Darüber haben wir viele Debatten geführt. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, und? Ist das schlimm?) Aber tatsächlich nehmen Sie das benötigte Geld aus dem Fonds. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Nein! - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie verstehen es nicht!)) Sie nehmen die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds bis 2015 in Anspruch. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ihr versteht es nicht!) Etwas anderes werden Sie nicht tun. Steuerfinanzierung ist das, was Sie hier machen, nicht. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Doch! Ihr kapiert es nur nicht! - Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Nein! - Weiterer Zuruf von der SPD: Seit wann duzen wir uns, Herr Spahn?) Zum nächsten Punkt, den ich ansprechen will. Natürlich machen Sie Lobbypolitik, und zwar im Interesse der PKVs. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein! Der Patienten!) Herr Minister, Ihr gestern in der Financial Times erschienenes Interview war interessant. Sie sprachen von einer Angleichung der Systeme. Herr Singhammer, interessant ist, festzuhalten, dass die PKVs mit ihrer Finanzierungstechnik und den Altersrückstellungen nicht zukunftsfähig sind. Die Beiträge werden Jahr für Jahr steigen, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja! Weil die Menschen älter werden!) weil die Grundbedingung für die Finanzierung von PKVs - dass sie Jahr für Jahr einen möglichst wachsenden Anteil junger, gesunder Mitglieder gewinnen, die nur geringe Kosten verursachen - aufgrund der demografischen Entwicklung und vieler anderer Punkte schwindet. Nur wenn diese Bedingung erfüllt wäre, stünden sie auf einem sicheren finanziellen Fundament. Das heißt, die finanzielle Basis der PKVs ist ausgehöhlt. Das PKV-Modell ist nicht zukunftsträchtig und zukunftssicher. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Herr Kuhn, haben Sie eigentlich damals die Riester-Rente eingeführt?) Herr Minister, Sie gehen einen anderen Weg, nämlich die GKVs neuen Belastungen auszusetzen oder jungen Leuten schneller das Verlassen der GKVs zu ermöglichen. Das ist kein zukunftssicherer Weg. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Also, ich bin gesetzlich versichert! Ich weiß ja nicht, wie Sie versichert sind! - Ulrike Flach [FDP]: Aber Ihre Lösung, ja?) Ich glaube, dass man mit einer solidarischen Bürgerversicherung, (Ulrike Flach [FDP]: Die gibt es doch gar nicht!) die keine Einheitsversicherung ist, den Weg der Stabilisierung beider Systeme gehen kann, - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - der gesetzlichen Krankenversicherung und der privaten Krankenversicherung, und das in Solidarität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Frau Präsidentin, wollten Sie mich fragen, ob ich eine Zwischenfrage zulasse? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein. Ich wollte deutlich machen, dass Ihre Redezeit bereits abgelaufen ist. (Heinz Lanfermann [FDP]: Seine Zeit ist schon seit längerem abgelaufen!) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Okay. - Ich komme zum Schluss. Einen kurzen Punkt möchte ich noch ansprechen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein, keinen Punkt mehr; einen halben Satz vielleicht noch. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein Semikolon sozusagen. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Am 1. Februar 2010 hat der Minister im Fernsehen bei Herrn Beckmann gesagt - - (Die Verstärkeranlage wird abgeschaltet - Lars Lindemann [FDP]: Na! Jetzt ist aber Schluss! - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das darf doch wohl nicht wahr sein! - Zurufe von der CDU/ CSU: Keine Zitate mehr! - Schluss jetzt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber es wollen doch alle wissen, was er gesagt hat. (Vereinzelt Heiterkeit - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein! - Zurufe von der FDP: Nein! - Bitte nicht! - Elke Ferner [SPD]: Das will wohl doch keiner mehr hören, Herr Kollege!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich fürchte, dem ist nicht so. Wenn Sie jetzt weiterreden, geht das von der Redezeit Ihrer Kollegin ab. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich muss mich der höheren Gewalt beugen (Lars Lindemann [FDP]: Jawohl! Endlich!) und danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Bundesminister Philipp Rösler hat jetzt das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Lieber Herr Kollege Kuhn, darf ich Ihnen sagen, was ich ganz persönlich für ungerecht halte? Ich halte es für ungerecht, wenn man, wie Sie von Grün und Rot, elf Jahre lang Verantwortung (Joachim Poß [SPD]: Was? Das ist aber falsch gezählt! Da ist ja schon der erste Fehler! - Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sieben Jahre, meinen Sie?) für ein Gesundheitssystem hatte und den Menschen am Ende ein Milliardendefizit hinterlässt und sie damit alleine lässt. Das ist ungerecht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was bedeutet es eigentlich, dass man ein Milliardendefizit zu erwarten hat, wenn man im deutschen Gesundheitssystem nichts tut? Wenn wir hören, dass wir von einem zweistelligen Milliardendefizit ausgehen müssen, handelt es sich nicht nur um eine banale Zahl, sondern das bedeutet ganz konkret: Wir müssten jedes fünfte oder sechste Krankenhaus schließen, womöglich auch jede dritte Arztpraxis - übrigens egal ob Hausarzt, Facharzt oder Kinderarzt -, und wir könnten jedes dritte Medikament nicht mehr bezahlen. Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, wären zu Leistungseinschränkungen bereit; das ist uns allen klar. (Elke Ferner [SPD]: Jetzt wird es aber wirklich unverschämt, Herr Minister! - Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist unter Ihrem Niveau! - Weiterer Zuruf von der SPD: Gibt es in Deutschland eher Unterversorgung oder eher Überversorgung? - Lars Lindemann [FDP]: Genau! Ich sage nur: Leistungskürzungen, Praxisgebühr usw.!) Aber diese christlich-liberale Regierungskoalition hat ein anderes politisches Ziel. Wir nehmen beim Ausgleich des Defizits jeden in die Verantwortung, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, und zwar durch die Rückführung des Krankenversicherungsbeitragssatzes auf seinen ursprünglichen Wert, den Sie vor der Krise eingeführt haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Und den Sie damals bekämpft haben!) Die Leistungserbringer werden genauso in Verantwortung genommen: Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Krankenkassen und natürlich auch die Pharmaindustrie. Damit können wir eines sicherstellen: Es muss im nächsten Jahr kein durchschnittlicher Zusatzbeitrag erhoben werden; der Wert wäre null. (Elke Ferner [SPD]: Ja, ja! Sie werden es 2012 und 2013 schon sehen!) Damit ist eines klar: All die Menschen, die nächstes Jahr Leistungen in Anspruch nehmen wollen, haben die Garantie, dass sie weiterhin Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung haben, die man sich vorstellen kann, nämlich zum exzellenten deutschen Gesundheitssystem. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Mechthild Rawert [SPD]: Wann? Im nächsten Jahr?) Nicht nur die kurzfristigen Probleme des Jahres 2011 sind angegangen worden, sondern wir wagen auch den Einstieg in eine langfristig andere Finanzierung (Elke Ferner [SPD]: Anders ja, aber nicht nachhaltig!) der gesetzlichen Krankenversicherungen für die weitere Zukunft. Ich weiß, dass Sie kritisieren, dass wir beispielsweise den Arbeitgeberbeitrag festschreiben wollen. Zugegebenermaßen ist das keine angenehme Antwort auf die Frage, wie man die gesetzliche Krankenversicherung zukünftig finanzieren kann. Aber offensichtlich beantworten Sie Fragen nur nach der Annehmlichkeit, ob die Antworten Ihnen genehm sind oder nicht, ob sie leicht zu transportieren sind oder nicht. Wir hingegen beantworten Fragen danach, ob die Antworten richtig sind oder nicht. (Mechthild Rawert [SPD]: Das haben wir bei der Anhörung gemerkt! - Elke Ferner [SPD]: Ja! Weniger Netto vom Brutto!) Ich sage Ihnen: Es ist richtig, den Krankenversicherungsbeitrag festzuschreiben, um zu einer stärkeren Entkoppelung der Krankenversicherungskosten von den Lohnzusatzkosten zu kommen, um die Krisenanfälligkeit zu beseitigen und um endlich den Teufelskreis zu durchbrechen, der da lautet: Mehr Gesundheit bedeutet weniger Beschäftigung. - Dies ist ein wesentlicher Beitrag für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland insgesamt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Natürlich wird es einen Sozialausgleich geben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Minister, würden Sie eine Zwischenfrage von Frau Vogler zulassen? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Aber gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, wie erklären Sie sich, dass die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion zugibt, dass der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund der geplanten Änderungen schon im nächsten Jahr vermutlich 40 000 junge, gesunde, gut verdienende Mitglieder verloren gehen werden? In welcher Art und Weise stellen Sie sich vor, dass man den Einnahmeverlust bei der gesetzlichen Krankenversicherung durch einen Zusatzbeitrag kompensieren kann - vielleicht noch nicht im nächsten, aber im übernächsten Jahr -, den alle bezahlen müssen? Mit diesem Gesetz machen Sie die Scheunentore auf, damit junge, gesunde Menschen die gesetzliche Krankenversicherung verlassen. Sie beschädigen die Nachhaltigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zugunsten der Privatversicherung. Das geben Sie selber in der Antwort auf diese Kleine Anfrage zu. (Heinz Lanfermann [FDP]: Da müssen Sie aber ein Fragezeichen setzen! - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die müssen ein Jahr drinbleiben!) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit: Sehr geehrte Frau Kollegin Vogler, ich kann Ihnen ein bisschen die Angst nehmen. Zunächst einmal wird in der Tat die Wechselfrist wieder auf das ursprüngliche eine Jahr zurückgeführt, wie es über die größte Zeit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hinweg der Fall gewesen ist. Die Versicherungspflichtgrenze bleibt aber erhalten. (Elke Ferner [SPD]: Da hat die CDU damals übrigens zugestimmt! Komisch! Die Halbwertszeiten sind groß!) Das heißt, nur oberhalb der Versicherungspflichtgrenze wird sich überhaupt ein Wettbewerb abspielen. Eines möchte ich hier noch einmal festhalten - ich hatte es schon in der Haushaltsdebatte gesagt -: Die Aussage, dass diese Regierungskoalition für mehr als 80 Millionen Menschen verantwortlich ist, bedeutet auch, dass sie für die 70 Millionen gesetzlich versicherten, aber natürlich genauso für die mehr als 8,6 Millionen privat versicherten Menschen Verantwortung trägt. Wir machen da keinen ideologischen Unterschied wie Sie. (Elke Ferner [SPD]: Nein, gar nicht! - Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) Deswegen ist es richtig, dass wir den Wettbewerb zwischen diesen beiden Systemen stärken und nicht schwächen, wie das bei Ihnen der Fall gewesen ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vielen Dank für diese großartige Frage. Ich komme wieder zu der Frage des Sozialausgleichs zurück. Selbstverständlich wird es einen Sozialausgleich aus Steuermitteln geben. Dafür werden wir 2 Milliarden Euro - technisch, Herr Kuhn - in die Liquiditätsreserve einzahlen. Es sind natürlich Steuergelder. Damit wird die Solidarität auf eine breitere Basis gestellt, (Elke Ferner [SPD]: Absurd! Sie nehmen ja keine zusätzlichen Steuern ein! Das ist eine Milchbubenrechnung, die Sie da aufmachen!) weil sich die Steuerzahler, also die Menschen mit allen ihren Einkunftsarten, übrigens auch privat Versicherte, künftig an einem Sozialausgleich zwischen Arm und Reich beteiligen. Ich halte das für wesentlich solidarischer als nur einen Ausgleich innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Ausgleich erfolgt automatisch. "Automatisch" heißt: Man muss selbst nicht mehr prüfen, ob man an der Grenze ist. Wenn man an der Grenze ist, muss man den Ausgleich nicht beantragen. Das ist heute übrigens anders, nicht dass das vergessen wird. Wer heute an der Grenze ist, das selbst feststellt und einen Ausgleich haben will, der muss einen Antrag stellen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Bittsteller!) Sie machen die Menschen zu Bittstellern und nicht wir. Wir sorgen vielmehr dafür, dass es technisch vernünftig ausgeführt wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Das ist absurd! Das glauben Sie doch selber nicht!) Der Einnahmereform werden weitere Reformen folgen müssen, weil wir uns nicht damit zufrieden geben, dass die Schere zwischen den Einnahmen und den Ausgaben des Fonds immer weiter auseinandergeht. Selbstverständlich muss das System effizienter werden, zum Beispiel durch eine faire und gerechte Honorarreform, durch eine vernünftige Kostenerstattung und durch Stärkung von Prävention. (Elke Ferner [SPD]: Das heißt doch, wenn Sie das sagen: mehr Geld!) Am Ende muss das eingezahlte Geld den Menschen für Leistungen zur Verfügung stehen. Jeder Euro muss am Ende bei den Menschen für Vorsorge und Versorgung ankommen. Das bietet das bisherige System nicht. Das haben Sie uns hinterlassen. Es ist richtig, dass wir angetreten sind, neben der Finanzierungsfrage auch die Reformen im System mit anzugehen. Sie werfen uns immer vor, wir würden der einen oder anderen Interessengruppe nachgeben. Das ist hier keine bloße Diskussion und kein bloßer Austausch von Argumenten, sondern - wie heißt es so schön -: An den Taten sollt ihr sie messen. - Gucken Sie sich die Zahlen einfach an: 11 Milliarden Euro bekommen die gesetzlichen Krankenversicherungen im nächsten Jahr, um ein Defizit auszugleichen. Gleichzeitig nehmen wir der Pharmaindustrie 2 Milliarden Euro. (Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Das glaubt doch kein Mensch!) Einen besseren Beweis für den Irrsinn und den Unfug, die Sie mit Ihren Argumenten betreiben, hätte es an dieser Stelle gar nicht geben können. Hier sind die Zahlen besser als all Ihre ständig wiederkehrenden Argumente. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich freue mich, dass sich die Linksfront wieder zusammengefunden hat. Ich will das hier ganz offen ansprechen. (Mechthild Rawert [SPD]: Gibt es denn jetzt eine Rechtsfront?) Sie dürfen sich am Ende nur nicht darüber wundern, dass Sie gemeinsam mit den Linken untergehen werden, wenn Sie sich mit den Linken in ein Boot setzen. (Mechthild Rawert [SPD]: Sie gehen unter! - Elke Ferner [SPD]: Sie kratzen ja schon an der 5-Prozent-Hürde!) Ich sage Ihnen für den kommenden Herbst: Sie dürfen nicht glauben, dass Sie plötzlich Vorkämpfer für ein gerechtes und solidarisches Gesundheitssystem sind, nur weil Sie sich zu den Demonstranten stellen. Wenn überhaupt, dann sind Sie nur schlechte Nachläufer. Mit politischer Führung hat das am Ende nichts, aber auch gar nichts zu tun. (Elke Ferner [SPD]: Ihre politische Führung ist aber auch nichts! - Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hieß es nicht vor kurzem noch, Sie müssen besser werden?) - Frau Ferner, wer dem Gegenwind den Rücken zudreht, wie Sie das tun, und glaubt, er habe dann Rückenwind, der irrt sich. (Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie gerade nötig, nach dem letzten Jahr von Untergang zu sprechen! - Elke Ferner [SPD]: Schwarz-gelbe Chaostage!) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auf der einen Seite die Grundlage für eine solide Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen haben und auf der anderen Seite die kurzfristigen Probleme für 2011 gelöst haben werden. Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Karl Lauterbach, der bereits hier vorne ist, hat das Wort. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es hat ihn nicht mehr auf dem Sitz gehalten!) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Zunächst einmal eine Korrektur: Minister Rösler hat gerade gesagt, es sei ein großes Defizit übernommen worden. Ich weise noch einmal darauf hin - Sie wissen das ganz genau -: Als Sie das Amt übernahmen, hatte die gesetzliche Krankenversicherung ein Plus von 1,8 Milliarden Euro. (Beifall bei der SPD - Lars Lindemann [FDP]: Herrn Lauterbachs Märchenstunde! - Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!) Sie können nicht die eigene, jetzt misslungene Reform mit einem Defizit begründen, welches Sie selbst verursacht haben, sehr verehrter Herr Minister. (Beifall bei der SPD - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Unglaublich! Innerhalb von zwei Monaten? - Heinz Lanfermann [FDP]: Unglaublich!) 85 Prozent der Menschen in Deutschland lehnen diese Gesundheitsreform ab, und nur 5 Prozent glauben, diese Reform führe zu einer nachhaltigen Finanzierung des Systems. Sind alle diese Menschen dumm? Verstehen sie die Geschenke des Ministers nicht? Verstehen sie nicht die dahinterstehende Brillanz der Reform? Ich sage Ihnen: Hier gibt es nichts zu verstehen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Er hat die Reform "brillant" genannt!) Bei der Reform läuft es doch darauf hinaus: Der Kollege Singhammer sagt, wir müssen die Lohnnebenkosten senken, damit Arbeitsplätze entstehen. Das Erste, was Sie mit der Reform aber machen, ist: Sie erhöhen die Lohnnebenkosten. Sie verstehen Ihre eigene Reform nicht. (Heinz Lanfermann [FDP]: Auf Ihren Beitragssatz! Den haben Sie mit eingeführt!) Weshalb haben Sie es denn dann zu dem Defizit kommen lassen, das jetzt dazu führt, dass die Lohnnebenkosten steigen, Herr Singhammer? (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Das ist Unlauterbach!) Genauso loben Sie die eigene Reform und sagen, es komme zu einer verbesserten Versorgung. Gestern haben wir gehört: Der Präsident der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, des obersten Kontrollgremiums der deutschen Ärzteschaft für die Arzneimittelversorgung, sagt, die Versorgung würde durch Ihre Reform schlechter werden. Gibt Ihnen das denn nicht zu denken? (Elke Ferner [SPD]: Nein, die denken ja nicht mehr! Die lassen denken! Von der PKV, von der Pharmaindustrie!) Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses macht sich Sorgen darüber, dass die Versorgungsqualität bei Arzneimitteln schlechter wird. (Ulrike Flach [FDP]: Sie sind jetzt aber in der falschen Debatte!) Besorgt Sie das nicht? Besorgt es Sie nicht, dass diese Reform nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von den Experten abgelehnt wird? (Ulrike Flach [FDP]: Das ist ein ganz anderes Gesetz, Herr Lauterbach!) Ich sage Ihnen: Es ist nicht so, dass die Reform gut ist und die Bevölkerung denkt, die Reform sei schlecht, sondern die Reform ist schlecht. (Beifall bei der SPD und der LINKEN - Heinz Lanfermann [FDP]: Das war gestern in der Anhörung aber ein anderes Gesetz!) Sie argumentieren, die Reform sei sozial ausgewogen. Ich frage Sie hier ganz offen - auch die Kollegen von der CDU -: Was ist denn sozial ausgewogen an einem Gesetz, durch welches die Kosten des zukünftigen technischen Fortschritts und aufgrund der demografischen Herausforderung in der Gesellschaft allein bei den Arbeitnehmern abgeladen werden, während die Arbeitgeber davon komplett entlastet werden? Was ist daran sozial ausgewogen? (Ulrike Flach [FDP]: Wo ist denn die komplette Entlastung? Das ist doch Unfug!) Fritz Kuhn hat es zu Recht gesagt: Das ist eine Störung des sozialen Friedens und eine so weitgreifende Veränderung unseres Solidarempfindens, dass die Bevölkerung dies in der Masse ablehnt, und zwar zu Recht. (Lars Lindemann [FDP]: Sie haben einen Phantomschmerz!) Es bedeutet eine einseitige Belastung der Arbeitnehmer über Jahrzehnte hinweg, wenn das nicht geändert wird, weil die Arbeitnehmer den technischen Fortschritt und die Kosten aufgrund der demografischen Entwicklung alleine bezahlen sollen; das ist die Wahrheit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Das stimmt doch nicht! Sie wissen es doch besser! - Ulrike Flach [FDP]: Sie haben doch damit angefangen!) Es gibt nur eine Gruppe, die hier ausgenommen wird: die Privatversicherten. Jetzt wundern Sie sich darüber, dass wir das zum Thema machen. Ja, ist es denn gerecht, (Zuruf des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) dass ausgerechnet derjenige mit einem sicheren Arbeitsplatz und mit hohen Einkünften an der zukünftigen Finanzierung des Systems nicht beteiligt wird? Diese Reform ist doch eine Lobbypolitik für die Arbeitgeberverbände und für die private Assekuranz. Mehr haben wir hier doch nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist eine Reform gegen die Leistungserbringer. Schauen Sie doch, was hier passiert! Die Leistungserbringer, die Bezieher von mittleren Einkommen, müssen sich auf Zusatzbeiträge, kleine Kopfpauschalen einstellen, sie müssen Mehrkosten bei den Arzneimitteln bezahlen, sie müssen demnächst beim Arzt in Vorkasse gehen, (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Stimmt doch nicht!) wenn sie schnell einen Termin haben wollen. Sie bekommen keine Strukturreform. Es gibt eine zusätzliche Bürokratie: Wenn jemand mit 800 Euro Einkommen 4 Euro Sozialausgleich haben will, muss er dafür Anträge stellen. Für lumpige 4 Euro bauen Sie eine riesige Bürokratie auf. (Widerspruch bei der FDP) Das ist die Qualität Ihrer Reform: Bürokratie, ungerechte Belastung und keine Strukturreform, (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist jenseits der Realität, was Sie da erzählen!) eine Strukturreform, zu der Sie nicht in der Lage waren, sehr verehrter Herr Minister Rösler. Das ist die Wahrheit. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie sprechen die Unwahrheit! Unglaublich!) In der Summe ist es so: Diese Reform wird zu mehr Bürokratie führen, zu weniger Netto vom Brutto, zu keiner besseren Versorgung. Wir werden eine Dreiklassenmedizin bekommen. Der Privatversicherte ist der Patient erster Klasse; derjenige, der sich Zusatzversicherungen und Vorkasse leisten kann, ist der Patient zweiter Klasse, und derjenige, der das alles nicht bezahlt, ist der Patient der Holzklasse. Das ist die Reform, die Sie hier einleiten; das ist der Einstieg in die Dreiklassenmedizin, meine sehr verehrten Damen und Herren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Lauterbach, der Kollege Lotter würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sehr gern, ja. Dr. Erwin Lotter (FDP): Sehr verehrter Herr Professor Lauterbach, ich habe mit Interesse Ihre Kritikpunkte zur Kenntnis genommen. Aber was hätten Sie denn unternommen, um ein milliardenschweres Defizit in diesem Jahr und im nächsten Jahr auszugleichen? Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: (Mechthild Rawert [SPD]: Wir hätten es gar nicht erst entstehen lassen!) Es wäre zu unserer Zeit gar nicht zu dem Defizit gekommen. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Wir hatten ja noch einen Überschuss. Wir hätten eine Strukturreform gemacht - zu der Sie nicht in der Lage waren -, wir hätten die Arbeitgeber und die Gutverdiener in der Gesellschaft an den Kosten beteiligt und sie nicht entlastet. Wir hätten das Gegenteil dessen getan, was Sie getan haben. (Beifall bei der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Arbeiten Sie mal an Ihrer Bürgerversicherung!) Ich komme zum Abschluss. Ich bitte Sie, sich zu erinnern: Ich habe an dieser Stelle vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl gesagt: Für die Gesundheitsreform, die Sie planen, wird Ministerpräsident Rüttgers bezahlen; er wird seinen Schreibtisch räumen müssen. - Das ist das, was jetzt Herrn Mappus erwartet. Sie werden für diese Reform bei der nächsten Landtagswahl büßen. (Zuruf von der FDP: Hochmut kommt vor dem Fall!) Wir werden in Baden-Württemberg flächendeckend Gesundheit 21 zum Thema machen, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stuttgart 21!) sodass auch dort der Regierungswechsel erfolgen kann, den dieses Land unbedingt braucht. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD - Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Stuttgart 21! Haben Sie das verwechselt?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Jens Spahn. (Beifall bei der CDU/CSU) Jens Spahn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lauterbach, Sie sind ja, glaube ich, schon ein paar Jahre länger hier im Parlament. Bei Ihrer Frage "Woher kommen eigentlich diese bis zu 11 Milliarden Euro Defizit?" mussten ja gerade selbst Ihre Kollegen das Lachen verstecken. (Elke Ferner [SPD]: Wir verstecken unser Lachen nicht!) Sie wissen ganz genau, dass das maßgeblich mit Entscheidungen der Großen Koalition zu tun hat, Entscheidungen, die wir bewusst getroffen haben, weil wir wollten, dass Ärzte in Ostdeutschland, die bisher auf einem niedrigeren Niveau der Entlohnung waren und in einem sehr dünn besiedelten Gebiet einen schwierigen Job tun, mehr Geld bekommen, (Elke Ferner [SPD]: Da hat Herr Singhammer aber etwas anderes gesagt!) weil wir im Krankenhausbereich wollten, dass die Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte, für die Ärzte vernünftig finanziert werden können; denn gerade die Pflegekräfte verrichten einen harten, aufopferungsvollen Job, der oft nicht gut bezahlt wird. Dafür ist das Geld bereitgestellt worden. Wenn Sie das hier jetzt kritisieren, dann müssen Sie das auch den Pflegekräften sagen und deutlich machen, welche Konsequenz es denn gehabt hätte, wenn wir diese Entscheidung nicht getroffen hätten, lieber Herr Lauterbach. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eines ist doch bemerkenswert: Wir haben jetzt 23 Mi-nuten lang, vielleicht sogar etwas länger, Reden von vier Oppositionspolitikern gehört. Wir stehen vor der Situation, dass wir im nächsten Jahr das größte Defizit in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung erwarten, einer Situation, in der Nichtstun keine Option wäre. Denn wenn wir nichts täten, wären die Krankenkassen aufgrund der derzeitigen Systematik nicht in der Lage, an dieses Geld heranzukommen. Sie müssten in die Insolvenz gehen. Das heißt, wir stehen im Grunde vor einer Situation, in der man handeln muss. Da kann man auch von einer Opposition mehr erwarten als substanzloses Geschrei, da kann man erwarten, dass Sie zumindest zwei Minuten darauf verwendet hätten, zu sagen, was Sie denn tun würden, wenn Sie regieren würden, was ja gottlob nicht der Fall ist. Was würden Sie denn tun? Was sind denn Ihre Alternativvorschläge? Dazu sagen Sie gar nichts. Das ist ein bisschen arm. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir kehren im nächsten Jahr im Übrigen zum alten Beitragssatz von 15,5 Prozent zurück. Den haben wir einmal gemeinsam eingeführt, (Elke Ferner [SPD]: Wir haben ihn gemeinsam eingeführt, was Sie jetzt zurücknehmen!) und wir haben ihn auch gemeinsam auf 14,9 Prozent gesenkt, weil wir in der Krise die Lohnnebenkosten stabil halten wollten. Die Krise ist nun offensichtlich vorbei, (Ulrike Flach [FDP]: Gott sei Dank! - Elke Ferner [SPD]: Jetzt werden die Arbeitnehmer geschröpft!) die Arbeitslosigkeit sinkt - das haben wir gerade heute wieder gehört -, die wirtschaftlichen Daten verbessern sich. Deshalb ist es richtig, wieder zum alten Beitragssatz von 15,5 Prozent zurückzukehren und Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam an der Bewältigung des Defizits zu beteiligen. Aber wir machen nicht nur das. Wir sagen: Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, mit diesem größten Defizit in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung klarzukommen. Deswegen kehren wir zum alten Beitragssatz zurück. Deswegen müssen aber auch alle Leistungserbringer, alle im Gesundheitswesen Tätigen einen Beitrag leisten. (Elke Ferner [SPD]: Weniger oder weniger Zuwachs?) Deswegen werden wir bei den Krankenhäusern und bei den Ärzten weniger Zuwachs haben. (Elke Ferner [SPD]: Aha!) Wir werden bei den Apotheken und beim Großhandel sparen, (Elke Ferner [SPD]: Auch die Apotheker? Das wäre ja das erste Mal!) aber auch bei den Verwaltungskosten der Krankenkassen und im Übrigen auch bei der Pharmaindustrie. Wir haben mit dem 10-prozentigen Herstellerabschlag, der im nächsten Jahr wirksam wird, eins zu eins das umgesetzt - nicht auf Ihren Vorschlag hin; auf diese Idee sind wir selber gekommen -, was auch Sie in Ihren eigenen Antrag hineingeschrieben haben. Sie haben gefordert, den Herstellerabschlag auf 10 Prozent zu erhöhen, nachdem wir bereits angekündigt hatten, dass wir es tun. An dieser Stelle müssten Sie eigentlich mit uns übereinstimmen und sagen, dass es richtig ist, dass wir die Pharmaindustrie nächstes Jahr mit über 1 Milliarde Euro beteiligen. Ein, zwei Worte der Anerkennung für etwas, das Sie selbst gefordert haben und das gut läuft, wären auch von der Opposition zu erwarten. Wie ist es denn heute? Sie sprechen immer von Antragstellung, Bittstellern und Ungerechtigkeit. Wie ist die Situation heute, die wir gemeinsam herbeigeführt haben? Sie wollten die 8-Euro-Regelung und die Deckelung auf 1 Prozent. (Elke Ferner [SPD]: Sie wollten ja keinen Deckel!) Frau Ulla Schmidt, die damalige Gesundheitsministerin, hat die Regelung eingeführt, dass eine Zuzahlung von bis zu 8 Euro erhoben werden kann, ohne dass überprüft wird, ob eine Überforderung des Versicherten gegeben ist. (Elke Ferner [SPD]: Frau Merkel wollte diese 8 Euro, Herr Spahn! Da war ich dabei, im Gegensatz zu Ihnen!) Das führt dazu, dass bis zu einem Betrag von 800 Euro überhaupt nicht geprüft wird, ob jemand überfordert ist. (Elke Ferner [SPD]: Das war Frau Merkel!) Wenn sich jemand finanziell überfordert fühlt, wird das nur auf Antrag überhaupt berücksichtigt. (Elke Ferner [SPD]: Fragen Sie doch Herrn Zöller! Das war Frau Merkel!) Dann muss in einem komplizierten Verfahren das Einkommen geprüft werden. Sie sind die Letzten, die behaupten können, wir würden etwas einführen, was unsolidarisch sei oder dazu führen würde, dass die Menschen Bittsteller würden. Sie schlagen sich in die Büsche und wollen nicht mehr wahrhaben, was Sie selbst einmal entschieden haben. (Elke Ferner [SPD]: Ach Gott, was Sie hier erzählen!) Sie können vor allem nicht verkraften, dass wir es jetzt sind, die das Ganze gerechter ausgestalten, als es heute ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Lügen, ohne rot zu werden! - Mechthild Rawert [SPD]: Sie werden noch nicht mal rot!) Wir entwickeln die Systematik des Zusatzbeitrags mit einem Sozialausgleich, der ab einer Belastung von 2 Pro-zent greift, weiter fort. Das heißt, es sind höchstens 2 Pro-zent des Einkommens zu zahlen. (Elke Ferner [SPD]: Mindestens 2 Prozent zahlen sie selber!) Der entscheidende neue Gesichtspunkt ist, dass der Sozialausgleich steuerfinanziert ist. Der ist übrigens jetzt schon steuerfinanziert, Herr Kuhn. Den zusätzlichen Bundeszuschuss in Höhe von 2 Milliarden Euro, den es im nächsten Jahr gibt, stecken wir nämlich in die Liquiditätsreserve der gesetzlichen Krankenversicherung, in den Gesundheitsfonds. Somit wird bereits ab dem nächsten Jahr der Sozialausgleich bis 2014 aus Steuermitteln finanziert. Dieser Sozialausgleich ist gerechter als das, was wir heute haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Elke Ferner [SPD]: Stimmt doch nicht!) Heute findet der Sozialausgleich ausschließlich auf dem Rücken der 28 Millionen abhängig Beschäftigten in diesem Land statt, und zwar nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von rund 3 700 Euro. In Zukunft sind wegen der Finanzierung über die Steuern alle nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit beteiligt. (Elke Ferner [SPD]: Welche Steuern zahlen die denn darüber mehr? Welche zahlen die denn mehr in Zukunft, Herr Spahn?) Berücksichtigt werden Mieteinkünfte, Kapitaleinkünfte und selbst Unternehmensgewinne. (Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Milchbubenrechnung, was Sie da aufmachen!) Sie müssen mir schon sagen, wie man es noch gerechter ausgestalten kann. Wir verteilen die Lasten auf mehr und breitere Schultern. Das ist gerechter, das ist fairer. Das sollten Sie in einer solchen Debatte auch anerkennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt: Herr Spahn, die Kollegin Klein-Schmeink würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Jens Spahn (CDU/CSU): Bitte schön. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Spahn, ist es richtig, dass im nächsten Jahr 400 Millionen Euro Steuermittel weniger als in diesem Jahr in den Gesundheitsfonds fließen und dass der steuerliche Ausgleich damit nicht höher, sondern sogar niedriger ist? Jens Spahn (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, Sie wissen ja, wie sich die unterschiedlichen Steuerzuschüsse entwickeln. Das eine ist der Steuerzuschuss für gesamtgesellschaftliche Aufgaben - den haben wir übrigens gemeinsam beschlossen -, der schrittweise auf 14 Milliarden Euro anwächst. Das andere sind zusätzliche Mittel, die in der Krise zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung gegeben wurden, nicht zuletzt weil wir den Beitragssatz gesenkt haben. (Elke Ferner [SPD]: Ist es nun mehr, oder ist es weniger?) Der Umfang dieser Mittel wird jetzt reduziert. Um den steuerfinanzierten Sozialausgleich zu gewährleisten, geben wir aber gleichzeitig 2 Milliarden Euro in die Liquiditätsreserve. Ich gebe zu: Man muss hier einige Finanzströme auseinanderhalten. Ich glaube, im Hinblick auf die Gesamtübersicht kann man das tun. Entscheidend ist die Botschaft - unser Versprechen wird eingehalten -: Wir schaffen einen Ausgleich, der gerechter ist als der heutige, (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt ja nicht, Herr Spahn! Das können Sie so lange wiederholen, wie Sie wollen!) weil wir für eine Steuerfinanzierung sorgen und die Finanzierung damit auf breitere Schultern stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Da wir gerade bei den Alternativen sind: Herr Lauterbach, man hätte sich gewünscht, dass Sie einmal ein oder zwei Sätze zu der Frage sagen, wie eine Bürgerversicherung unter dem Stichwort "Bürokratieabbau" aussehen soll. (Ulrike Flach [FDP]: Ja, das ist wohl wahr!) Würde man Ihrem Vorschlag folgen, würde das dazu führen, dass Mieten, Kapitaleinkünfte und andere Einkünfte verbeitragt werden müssen (Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!) und dass Krankenkassen auf einmal Einkommensprüfungen in großem Maße vornehmen müssen. Wenn Sie Krankenkassen zu zweiten Finanzämtern machen wollen, dann müssen Sie mir einmal erzählen, inwiefern Ihr Weg unbürokratischer ist als das, was wir heute haben, nämlich eine für den Versicherten einfache Lösung: Der Sozialausgleich findet ohne Antragstellung automatisch bei der Renten- und der Lohnauszahlung statt. (Beifall des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Spahn, geben Sie Herrn Lauterbach die Gelegenheit zur Zwischenfrage? Jens Spahn (CDU/CSU): Bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Spahn, ich verstehe, ehrlich gesagt, die Logik Ihres Vortrages nicht. Sie sagen, dass wir kein Konzept einer Bürgerversicherung vorgelegt haben. Unmittelbar danach sagen Sie, was Ihnen an unserem Konzept der Bürgerversicherung alles nicht gefällt. Entweder haben wir kein Konzept - dann können Sie daran auch nichts kritisieren -, oder wir haben ein Konzept. Es ist aber nicht logisch, unser Konzept zu kritisieren, obwohl Sie zuvor unterstellt haben, wir hätten ein solches Konzept nicht. Können Sie folgen? Jens Spahn (CDU/CSU): Ich kann folgen, Herr Professor. Ich kann sogar so gut folgen, dass ich erwidern kann. Natürlich kennen wir die Grundzüge Ihres Konzeptes, die Sie auch hier immer wieder einmal darlegen. Aber über Grundzüge sind Sie nie hinausgekommen. Wie wäre es denn einmal mit etwas sauber Durchfinanziertem? (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben Sie ja versprochen! Das haben Sie hier angekündigt!) Sie sollten den Menschen auch sagen, dass die Umsetzung Ihres Konzeptes insbesondere für Facharbeiter und die Mittelschicht in Deutschland zusätzliche Belastungen bedeuten würde, weil diejenigen, die kleine Ersparnisse haben, und diejenigen, die zusätzlich kleine Mieteinkünfte haben, besonders getroffen würden, während alle diejenigen, die ein großes Vermögen haben, wegen der Beitragsbemessungsgrenze nicht getroffen würden. Genau diese Gruppe belasten wir aber mit unserem Modell der Steuerfinanzierung. Wir warten auf ein paar konkrete Aussagen von Ihnen. Sie versprechen sie uns seit 2003. Noch im vergangenen Dezember haben Sie gesagt, wir könnten bald mit einem Konzept rechnen. Es ist immer noch keines zu sehen. Sie wissen genau, warum Sie keines vorlegen: Die schöne Überschrift "Bürgerversicherung" würde bei den Menschen ganz anders ankommen; denn sie würden merken, was dahintersteckt, nämlich dass Sie vor allem die Mittelschicht, die Facharbeiter treffen wollen. Das wollen Sie ihnen nicht ehrlich sagen, und das ist das Problem, lieber Kollege Lauterbach. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Heinz Lanfermann [FDP]: Dann platzt der Luftballon!) Lieber Herr Kuhn, Sie sind grundsätzlich geworden. Man munkelt, Sie wollten der nächste Bundesgesundheitsminister werden. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: In welchem Land?) Insofern war Ihre Rede so etwas wie eine Bewerbungsrede. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Sozialversicherung seit Bismarck paritätisch finanziert wird. Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine rot-grüne Bundesregierung, die die paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung als erste Regierung verlassen hat, indem sie gesagt hat, die Arbeitnehmer müssten 0,9 Prozentpunkte mehr zahlen. (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine rot-grüne Bundesregierung, die Steuerzuschüsse in massivem Umfang zusätzlich in die sozialen Sicherungssysteme gegeben hat, weil sie der Meinung war: Diese Finanzierung ist am Ende gerechter, als wenn nur die abhängig Beschäftigten getroffen würden. Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine rot-grüne Bundesregierung, die die Riester-Rente eingeführt hat, also eine kapitalgedeckte Zusatzprivatvorsorge, die der Einzelne alleine tragen muss, weil man die Lohnnebenkosten nicht zusätzlich belasten wollte. (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) Wenn das alles so ist - ich finde übrigens richtig, was Sie damals gemacht haben -, wie können Sie sich dann heute hierhin stellen und kritisieren, dass irgendjemand das Bismarck'sche System verlasse? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben zu Recht damit begonnen, dieses System zu verlassen. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was war denn damals die Alternative Ihrerseits?) Aber das war etwas wohlfeile Kritik. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das hat auch bei der Lohnfortzahlung begonnen!) Sie haben recht - insofern war ich dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben -: Man muss einmal darüber reden, was eigentlich die Grundsätze sind. Wir brauchen eine langfristige Antwort auf den Umstand, dass die Gesundheitskosten steigen. Das ist übrigens die Botschaft, um die Sie von der SPD sich immer herumdrücken: den Menschen ehrlich zu sagen, dass man in einem Land, in dem die Menschen - Gott sei Dank bei besserer Gesundheit als früher - immer älter werden, in einem Land, das medizinischen Fortschritt will, wobei die Kosten nicht wegen Grippemedikamenten oder Hustensaft steigen, sondern aufgrund von Krebsbehandlungen, von neuen Diagnosemöglichkeiten, mit denen viele Hoffnungen für die Patienten verbunden sind, in der Situation steigender Gesundheitskosten eine andere Antwort auf die Frage der Finanzierung dieser Kosten braucht als nur die Belastung von Lohnnebenkosten - in einer Gesellschaft im Übrigen, in der die durchgängige abhängige Beschäftigung bei einem Arbeitgeber über 30 oder 40 Jahre hinweg nicht mehr der Regelfall ist. Deshalb sind andere Grundlagen der Finanzierung eines solchen elementaren sozialen Sicherungssystems erforderlich. Genau diese neue Grundlage wollen wir schaffen. Insofern haben Sie recht, dass wir grundsätzlich darüber diskutieren müssen. Dann sollten Sie aber auch ein paar Antworten liefern, die Sie unserem Konzept gegenüberstellen; denn unser Konzept weist in die richtige Richtung, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Spahn, ich habe jetzt noch eine Zwischenfrage der Kollegin Volkmer anzubieten. Jens Spahn (CDU/CSU): Ich nehme fast alles, was kommt. - Bitte schön. (Zuruf von der FDP: Das ist aber eine gefährliche Aussage!) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Herr Spahn, ich möchte Sie fragen, ob Sie mir recht geben, dass da ein Unterschied ist. Wir haben damals zur Entlastung des Systems von versicherungsfremden Leistungen zusätzlich Steuermittel ins System gegeben. Durch Ihre neue Finanzierung fließen nicht mehr Mittel ins System; es wird nur anders umverteilt. Sie bringen nicht einen Euro mehr hinein, sondern entlasten nur diejenigen, die den Zusatzbeitrag nicht selbst aufbringen können. Dafür verwenden Sie die Steuermittel. Es fließt aber nicht mehr Geld ins System. Jens Spahn (CDU/CSU): Ich stimme mit Ihnen überein, dass die bisherige Steuerfinanzierung insbesondere zur Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben erfolgt ist. Dies gilt etwa für die beitragsfreie Mitfinanzierung von Kindern. Wenn steigende Kosten über Zusatzbeiträge lohnunabhängig finanziert werden und ein steuerfinanzierter Sozialausgleich erfolgt, indem der Anteil für diejenigen, die den Zusatzbeitrag nicht tragen können, weil er sie überfordert, weil man mit 400 Euro Rente nicht 20 Euro Zusatzbeitrag zahlen kann, über Steuermittel zusätzlich ins System gegeben wird, dann fließt zusätzliches Geld ins System. Das ist gerechter, weil es im bestehenden System nur die rund 28 Millionen abhängig Beschäftigten und deren Arbeitgeber wären, die das Ganze finanzieren müssten. Durch eine Steuerfinanzierung wird das jedoch auf wesentlich breitere Schultern verteilt. Jeder muss dann nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit seinen Beitrag leisten, auch mit seinen zusätzlichen Einkünften. Dabei werden auch Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sowie Einkünfte von Privatversicherten berücksichtigt. Selbst Unternehmensgewinne werden berücksichtigt und mit zur Finanzierung beitragen. Insofern gibt es zusätzliches Geld. (Elke Ferner [SPD]: Das ist doch absurd!) Mit diesem zusätzlichen Geld wird das System sogar gerechter als heute, und das ist eine gute Lösung, liebe Frau Kollegin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen trägt dies - es ist die Frage nach der grundsätzlichen Richtung gestellt worden - auch zu mehr Wettbewerb bei. Sie müssen schauen, welche Preissignalwirkung dieser Zusatzbeitrag hat. Früher, vor gut zwei Jahren, hatte die eine Krankenkasse einen Beitragssatz von 16,7 Prozent, während die andere Krankenkasse einen Beitragssatz von 13,5 Prozent hatte. Bei einem Monatseinkommen von 1 000 Euro brutto macht dies einen Unterschied von 32 Euro pro Monat aus. Bei 3 000 Euro Bruttoeinkommen sind dies 96 Euro pro Monat. Das heißt, es hat einen Unterschied von 96 Euro - aufgeteilt auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer - ausgemacht, ob man bei der einen oder bei der anderen Kasse versichert war. Heute haben wir einen Zusatzbeitrag der Kassen, der bei etwa 8 Euro liegt; in Zukunft wird sich das weiterentwickeln. Früher hat aber niemand so richtig den Beitragsunterschied zwischen der einen und der anderen Kasse gemerkt, weil man schon den Dreisatz beherrschen musste, da die Beiträge automatisch vom Lohn abgezogen wurden. Deshalb war dem Einzelnen gar nicht so richtig bewusst, wie teuer seine Kasse eigentlich ist. In Zukunft haben wir durch den Zusatzbeitrag eine ganz andere Preissignalwirkung. Ich kann ganz anders vergleichen, ob ich für das, was meine Kasse durch Zusatzbeitrag teurer ist - 5 Euro, 8 Euro, 10 Euro, 12 Euro -, tatsächlich auch das Mehr an Leistungen bekomme. Wenn das nicht der Fall ist, wird sich eine ganz andere Wechselbereitwilligkeit ergeben, wie wir schon im Laufe dieses Jahres gesehen haben. Das führt uns abschließend zum nächsten Schritt. Es reicht eben nicht - das ist uns sehr bewusst -, nur eine Finanzierungsreform zu machen. Wir wollen im Weiteren, also im Laufe des nächsten Jahres, auch über die Strukturfragen reden, (Elke Ferner [SPD]: Da sind wir sehr gespannt! - Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Darauf warten wir schon lange!) also über die Fragen: Wie wird denn eigentlich Versorgung organisiert? Welchen Anreiz gibt es für die Krankenkassen, sich mit einem vernünftigen Versorgungsmanagement um die chronisch Kranken zu kümmern? Wer wird eigentlich wofür und wie in diesem System honoriert? Wie sieht es mit der Schnittstelle ambulant-stationär aus? Müssen wir hier zu besserer und mehr Zusammenarbeit kommen? Wie kommen eigentlich Arzneimittel neu in den Markt, und wie werden sie angewandt? (Elke Ferner [SPD]: Das haben Sie doch in der letzten Wahlperiode strikt abgelehnt! Das ist ja lächerlich!) Das heißt, die Finanzierungsreform ist die notwendige Vorstufe, um anschließend Strukturreformen angehen zu können, (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das glaube ich erst, wenn es da ist, Herr Spahn!) damit die Krankenkassen im Wettbewerb auch die Chance haben, sich in der Qualität ihres Versorgungsmanagements, in der Qualität der Verträge, die sie abschließen, (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dürfen sie jetzt gar nicht mehr!) in der Qualität dessen, was sie für ihre Versicherten und insbesondere für ihre chronisch Kranken tun, zu unterscheiden. Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie diesen Weg - ich spreche insbesondere Sie, Herr Kuhn, an, da Sie gesagt haben, wir müssten einmal grundsätzlich über Neues nachdenken - konstruktiv begleiteten. Bis jetzt gab es nur substanzlose Kritik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Mechthild Rawert [SPD]: Sie wollen doch die Qualität der Verträge abschaffen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kathrin Senger-Schäfer hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Rösler! Herr Professor Lauterbach hat gerade den schönen Begriff "Gesundheit 21" geprägt. Lassen Sie mich bitte aus aktuellem Anlass kurz auf Stuttgart 21 eingehen. Mich erreicht gerade die Nachricht, dass die Polizei in einem äußerst aggressiven Einsatz in eine Kinderdemonstration eingegriffen hat, in deren Verlauf viele, viele Kinder verletzt wurden. Für mich ist das ein Zeichen, wie Sie mit Bürgerinnen und Bürgern und Kindern in diesem Land umgehen. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Pfui! - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist unverschämt! Ich glaube, es geht los! Sie haben wohl etwas an der Schüssel!) Ich fordere Sie auf: Greifen Sie sofort ein und stoppen Sie diese Veranstaltung! (Beifall bei der LINKEN - Jens Spahn [CDU/ CSU]: Das ist eine Unverschämtheit, Frau Präsidentin! Dazu muss man etwas sagen!) Herr Minister Rösler, Ihr Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist mit drei Worten kurz zu beschreiben: (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Soll ich Ihnen einmal sagen, wie die Kommunisten die Christen verfolgen? Sollen wir einmal darüber reden?) Es ist weder sozial noch ausgewogen noch nachhaltig. Es ist vielmehr unüberlegt, unehrlich und ungerecht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Jens Spahn [CDU/CSU]: Gerade so wie Sie! Unglaublich!) Hartz IV, Rente mit 67, das Sparpaket - (Jens Spahn [CDU/CSU]: Reden wir hier eigentlich über Gesundheitspolitik?) geplündert werden immer nur die schmalen Geldbeutel. Die Bundesregierung gefährdet damit massiv den sozialen Frieden in diesem Land. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie schüren das! - Jens Spahn [CDU/CSU]: Und noch ein breites Grinsen dabei! - Gegenruf der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Spahn, jetzt ist es aber gut!) Das ist eine Schande. (Beifall bei der LINKEN) Die Regierungskoalition beteuert zwar, die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung auf Dauer lösen zu wollen, doch scheint es hier einen anderen Masterplan zu geben: Die Kleinen zahlen, die Großen lässt man laufen, und zwar zur privaten Krankenversicherung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Jens Spahn [CDU/CSU]: Schön! Eine Seite, ein Gag!) Sie wollen, dass es den Besserverdienenden bereits nach einem Jahr möglich ist, die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung zu verlassen. Verwundern tut das nicht, sitzt doch der Cheflobbyist der privaten Krankenversicherung, seit Herr Rösler das Gesundheitsministerium übernommen hat, dort an entscheidender Stelle. Was für ein Schachzug! Auch die Wirtschaftsverbände sollten zufrieden sein. Ihre Lobbyisten haben ganze Arbeit geleistet, bereitet die kleine Kopfpauschale doch den Weg für eine komplette Abwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein über 120 Jahre altes Erfolgsmodell mit den gewachsenen Grundfesten von Solidarität und Parität wird von dieser Bundesregierung in wenigen Monaten demontiert. Bravo, gut gemacht! Die Lohnquote in Deutschland sinkt seit Jahren. Gleichzeitig steigt die Zahl der Einkommens- und Vermögensmillionäre. Durch das Einfrieren des Arbeitgeberanteils wird dieser Trend verstärkt; dadurch werden die abhängig Beschäftigten überproportional belastet. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!) Außerdem werden die Arbeitgeber aus der Beteiligung und dem Interesse an der künftigen Kostenentwicklung entlassen. Also auch hier von Nachhaltigkeit keine Spur. Soziale Ausgewogenheit ist nicht erkennbar; denn die Kopfpauschale wird in Euro und Cent gerechnet, mit dem Argument, der Millionär wäre genauso krank wie die Briefzustellerin. Ihre Argumente haben mit dem realen Leben nichts zu tun; denn auch noch heute gilt: Wer arm ist, wird häufiger krank und stirbt in der Folge früher. Erschreckend dabei ist, dass diese soziale Ungleichheit zunimmt. Die Schere der Lebenserwartung geht von Tag zu Tag weiter auseinander. Es ist eine Tatsache, dass das untere Fünftel der Bevölkerung in jedem Alter ein doppelt so hohes Risiko trägt, schwer zu erkranken oder zu sterben, als das obere Fünftel. Das ist unsolidarisch, und das ist unchristlich. (Beifall bei der LINKEN) Wo sind die Zweifler der CSU, Herr Singhammer? Wo ist das Gewissen einer angeblichen Volkspartei, die noch vor kurzem erklärt hat, mit ihr werde es keine Kopfpauschalen geben? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Gibt es auch nicht! Sie machen beim Zuhören Fehler! - Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Hätten Sie aufgepasst! Das habe ich schon erklärt!) Die Linke lehnt Ihre Pläne zu einer Kopfpauschale grundsätzlich ab und steht damit im Schulterschluss mit den Sozialverbänden und den Gewerkschaften und vor allem mit der Mehrheit der Menschen in unserem Land. (Beifall bei der LINKEN - Lars Lindemann [FDP]: Das Gesundheitssystem ist auch für Sie da!) Grundsätzlich brauchen wir für ein echtes solidarisches Gesundheitssystem eine stabile und gerechte Finanzierungslage. Dafür steht die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Linken. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Schwarz-Gelb will ein rund 120-jähriges Gesundheitssystem, das im Grundsatz gut funktioniert und um das uns viele in der Welt beneiden, angeblich alternativlos gegen die Wand fahren. Sie werden damit als diejenigen in die Geschichtsbücher eingehen, welche die Mehrklassenmedizin eingeführt haben. Die kleine Kopfpauschale wird ihre volle Wirkung aber erst 2011/2012 entfalten. Die Wählerinnen und Wähler werden Ihnen diese Ungerechtigkeit bei den nächsten Landtags- und Bundestagswahlen nicht durchgehen lassen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Maria Klein-Schmeink hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will meine Rede weniger grundsätzlich anlegen, als dies meine Vorredner und Vorrednerinnen getan haben. (Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP]) Ich glaube nicht, dass Sie mit dieser Gesundheitsreform tatsächlich in die Geschichte eingehen werden. Ich bezweifle das sogar sehr. Ihr Paket besteht aus einem Sparpaket, das nicht sonderlich fantasievoll und auch nicht außergewöhnlich ist, und aus einem zweiten Teil, der tatsächliche Geschichte machte, würde er umgesetzt. Ich hoffe aber, dass wir Wahlentscheidungen haben, die diesen zweiten Schritt verhindern werden. Ein zentrales Element Ihres Vorschlags ist ja ein Sozialausgleich, der aber wahrscheinlich erst - so vermuten Sie jedenfalls - 2014, nach der nächsten Bundestagswahl, zum Tragen kommen muss. Von daher hoffe ich, dass dieser Teil der Geschichte ausfallen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ansonsten haben sich die Vorredner und Vorrednerinnen der Regierungskoalition sehr bemüht, so zu tun, als sei der Vorschlag alternativlos, als lägen keine anderen durchgerechneten Vorschläge vor und als handele es sich um einen sozial gerechten Vorschlag. Alle Unterstellungen kann man abweisen. Erstens wird gesagt, der Vorschlag sei alternativlos. Natürlich haben wir Alternativen. Man hat in der langen Debatte um die Gesundheitsreform gesehen, dass auch Sie Alternativen erwogen haben. Ich denke dabei nur an Herrn Rösler, der noch vor der Sommerpause den Vorschlag in die Debatte eingebracht hat, die Beitragsbemessungsgrenze hochzusetzen. Es gibt also schon verschiedene Möglichkeiten, etwas zu tun. Wir jedenfalls schlagen vor, dass man die Bemessungsgrundlage insgesamt erweitert und dafür sorgt, dass nicht nur diese Gehälter und Löhne als Grundlage genommen werden, sondern auch andere Einnahmen, auch Einnahmen, die sonst in die PKV abwandern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Alternativlos ist der Vorschlag also nicht, und die Alternative wäre auch sofort umzusetzen. Zweitens haben Sie gesagt, der Vorschlag sei sozial ausgewogen. Die FDP versucht immer gern zu sagen, dass dieses Sparpaket zu einer Anhebung führt, die vertretbar sei. 0,3 Beitragspunkte seien bei 2 000 Euro Bruttogehalt nicht mehr als die Pizza im Monat. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie haben etwas dazugelernt!) - Herr Bahr, das haben wir bereits letztens in einem Gespräch miteinander diskutiert. - Sie tun so, als sei diese Pizza eine Kleinigkeit, eine Bagatelle; aber Sie unterschlagen natürlich, dass die Zusatzbeiträge zu massiven zusätzlichen Belastungen führen werden. Das wissen Sie auch ganz genau. Deshalb haben Sie die Einführung auf die Zeit nach den nächsten Wahlen geschoben, und damit sind Sie da wohl auch eher im Sicheren. Außerdem haben Sie die Steuerfinanzierung für genau diesen Sozialausgleich noch in keiner Weise geregelt. Auch das ist Ihnen klar. Wir meinen, diese Mogelpackung wird Ihnen die Bevölkerung nicht abkaufen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dann verweisen Sie gern darauf, dass Sie strukturelle Maßnahmen als zweiten Schritt in Angriff nehmen wollen. Sie hätten diese strukturellen Maßnahmen natürlich schon in diesem Jahr beginnen können und müssen. Ich erinnere hier nur an die Honorarreform sowie daran, wie man die Versorgung im ländlichen Raum sicherstellen will. All diese Themen haben Sie auf die lange Bank schieben müssen, weil Sie mit sich beschäftigt waren, weil Sie damit beschäftigt waren, eine verkorkste Gesundheitsreform und eine verkorkste Finanzierungsreform auf den Weg zu bringen. Das ist doch die eigentliche Wahrheit, die wir hier zur Kenntnis nehmen müssen. (Ulrike Flach [FDP]: Nein!) - Doch, genau so ist es; das wissen Sie auch. (Lars Lindemann [FDP]: Da klatscht nicht einmal Ihre eigene Fraktion!) Sie haben eine Honorarreform angekündigt, aber nicht auf den Weg gebracht. Sie haben es nicht geschafft, ein Konzept für die ländliche Versorgung vorzulegen. Sie haben es nicht geschafft, ein Konzept für eine Präventionsstrategie vorzulegen. (Ulrike Flach [FDP]: Wir haben gerade mal ein knappes Jahr rum!) All diese Dinge haben Sie in die nächsten Jahre verschoben, weil Sie mit sich beschäftigt gewesen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nun kommen wir noch einmal zur sozialen Ausgewogenheit und zu dem, was Fritz Kuhn zu Recht eben angesprochen hat: Natürlich geht es hier um eine Wertefrage. Es geht darum, ob wir den Ausstieg aus der Solidarität mit diesem Gesetz festschreiben oder nicht. Er soll zwar erst ein bisschen verlagert kommen; aber im Grunde haben Sie festgeschrieben, dass sämtliche Kostensteigerungen im System in Zukunft alleine und ausschließlich von den Versicherten zu tragen sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin! Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie alle wissen, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dass das nicht stimmt!) dass das zu stark erhöhten Zusatzbeiträgen führen wird und es zu massiven Belastungen der Versicherten kommen wird. (Zurufe von der CDU/CSU und FDP) - Nein, Sie wissen das sehr genau. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das weiß auch die Bevölkerung sehr genau. Auch die Bevölkerung kann rechnen und weiß, dass man Ihren schönen Worten in dieser Form in keiner Weise glauben kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Koschorrek für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es mir nicht verkneifen, gegen diese Stutt-gart-21-Nummer einen Satz zu sagen. Ich halte es für eine Katastrophe, was dort vorgefallen ist; ich habe das im Internet nachgelesen. Da wurden Schüler und kleine Kinder instrumentalisiert und einer wirklich militanten Demonstration vorangetrieben. Das ist ein Zustand, der wirklich nicht hinzunehmen ist. (Beifall bei der CDU/CSU - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja nun unglaublich, was Sie da behaupten! Woher wissen Sie das eigentlich? - Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Herr Koschorrek, das wissen Sie doch gar nicht! Das kann doch keiner von uns sagen, Sie genauso wenig wie wir! Sie wissen das doch auch nicht! - Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Die Tochter eines Kollegen ist da auch drin! Die wird ihrem Vater wohl die Wahrheit gesagt haben!) Aber heute geht es hier um die Gesundheitsreform. Frau Klein-Schmeink, Sie sagten eben, dass wir die strukturellen Veränderungen, die wir im Koalitionsvertrag vorgesehen haben, noch nicht umgesetzt hätten. Wir gehen da relativ systematisch vor, um es ganz klar zu sagen. Wir haben ein Finanzdefizit in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Kenntnis zu nehmen, ob wir es wollen oder nicht und wer auch immer es verschuldet hat; das ist ja alles schon gesagt. Dieses Defizit haben wir in jedem Falle zuerst zu regeln. Bevor wir die Finanzen der GKV nicht auf ein vernünftiges Maß gebracht haben, ist es einfach unredlich, über Strukturen zu reden und Strukturentscheidungen voranzustellen. Wir haben uns jetzt in mehreren Gesetzesvorhaben mit der Finanzierung befasst und schon einiges auf den Weg gebracht. Das größte Paket liegt heute zum ersten Mal hier im Parlament zur Diskussion vor. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, der Kollege Kuhn würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Nein, brauche ich nicht. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Hosen voll, Herr Kollege!) Zur Finanzierung des Systems ist heute so ziemlich alles gesagt worden. Aber wir haben im zweiten Teil des Reformgesetzes auf Ausgabenbeschränkungen gesetzt. Wir legen großen Wert darauf, dass wir nicht in die einzelnen Leistungsbereiche hineingehen und die Kürzungen mit dem Rasenmäher vornehmen. Vielmehr haben wir uns ganz klar darauf konzentriert, für die zukünftigen Jahre die Ausgabenzuwächse zu beschränken. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Auch das geht natürlich nicht ohne Kritik einher. Wir haben allen im System einiges abverlangt, was sie in den nächsten Jahren zur Sanierung und Stabilisierung der Finanzen im Gesundheitswesen beizutragen haben. Das, was wir da machen, ist alternativlos. Wir nehmen sämtliche Bereiche in den Fokus: Krankenkassen - hier die Verwaltungskosten -, Krankenhäuser, Ärzte und in ganz besonderem Maße Pharmaunternehmen und -großhändler. Wir gehen an alle Leistungsbereiche heran und sorgen dafür, dass wir in Zukunft eine stabile Grundlage für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung haben. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja-wohl! - Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eindeutig zulasten der Versicherten!) Für den Bereich der Ärzteschaft bedeutet dies, dass unter anderem die Verträge zwischen Krankenkassen und Hausärzten auf ein vernünftiges Maß begrenzt werden. Wir bleiben dem Grundsatz einer Begrenzung des Kostenanstieges auch bei der überfälligen Angleichung der Zahnarzthonorare in den neuen Bundesländern und Berlin absolut treu. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Und was ist mit den Krankenhäusern? Sollen da die Pflegekräfte noch weniger Zeit haben oder intensiver arbeiten?) Da hätten wir uns das eine oder andere mehr gewünscht; aber das ist in der heutigen finanziellen Situation nicht möglich. Bei der Ost-West-Angleichung der Honorare in diesem Bereich - der letzte, der noch verblieben ist - sind wir auf einem richtigen Weg; wir werden dort einen deutlichen Schritt zur Angleichung vornehmen. (Beifall der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]) Trotz des großen und - das kann niemand bestreiten - unabwendbaren Reformbedarfs nehmen wir keinen Radikalumbau im Gesundheitswesen vor. Wir werden mit schrittweisen Reformen dafür sorgen, dass unser Gesundheitswesen nach wie vor demografiefest und zukunftstauglich ist. (Elke Ferner [SPD]: Gott sei Dank haben Sie dazu nicht mehr lange Zeit!) Die demografische Entwicklung ist, wie sie ist: Die älter werdende Gesellschaft und das Geburtendefizit bei den jüngeren Jahrgängen zwingen uns zu Maßnahmen, von denen durchaus nicht alle populär sind; sie sind aber alternativlos. Das ist aber bestimmt nicht das Ende unserer Arbeit. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Ist das eine Drohung?) Ich erinnere daran, dass eine Legislaturperiode vier Jahre dauert und es keinesfalls darum geht, dass eine Regierung schon im ersten Jahr alle Vorhaben in trockenen Tüchern hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben in den nächsten Monaten und Jahren noch einige große Dinge vor uns. Wir werden das machen: Wir werden in einer Art und Weise an die Strukturen herangehen, (Mechthild Rawert [SPD]: Die Hören und Sehen vergehen lässt!) die deutlich über das hinausgeht, was in den letzten Jahren gemacht worden ist. Wir haben heute Bereiche, die nicht mehr transparent sind: In der Selbstverwaltung haben sich Strukturen etabliert, die es uns unmöglich machen, die Dinge, die dort ablaufen, politisch beurteilen zu können. Wir müssen uns zwar politisch dafür gerademachen - wir werden für das, was da gemacht wird, beschimpft -; aber wenn man in eine Diskussion darüber einsteigt und die Selbstverwaltungsstrukturen hinterfragt - das haben wir gestern in der Anhörung plastisch erleben dürfen -, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) dann wird geblockt und gemauert. Wir sind nicht bereit, das länger hinzunehmen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Mechthild Rawert [SPD]: Sie können sich die Experten halt nicht backen!) Wir gehen bei der nächsten gesetzgeberischen Anstrengung sicherlich daran, dort für erheblich mehr Transparenz zu sorgen. Gestatten Sie mir einige Sätze zum Thema Kostenerstattung. Dazu standen heute abenteuerliche Dinge in der Presse. Es geht uns wirklich nicht darum, hier einen Prinzipienwechsel zu erreichen. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber den Einstieg, ganz heftig! - Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja nur der Einstieg! Das hat Herr Rösler doch schon angekündigt!) Es geht nicht darum, vom Sachleistungs- zum Kostenerstattungsprinzip zu wechseln, auch nicht morgen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil der Versicherten eine Transparenz der Kosten wünscht. Wir wollen es ihnen ermöglichen, in ein Kostenerstattungssystem einzusteigen, ohne dass sie dafür Strafe zahlen müssen. Wir wollen die Strafbewehrung der Kostenerstattungstarife, die heute vorgesehen ist, beseitigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen dort zu Strukturen kommen, die eine transparente Kostenerstattung ermöglichen, ohne dass Versicherte und Patienten übervorteilt werden. Wir wollen eine Möglichkeit zur Eigenbeteiligung schaffen, damit Eigenverantwortung - wir alle reden irgendwie immer davon - wirklich gelebt werden kann. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz. Ich fordere Sie auf, nicht nur mit Überschriften und Kampfparolen zu arbeiten, sondern in den konstruktiven Dialog mit uns einzusteigen: Wie kann dort ein vernünftiges System etabliert werden, das niemanden übervorteilt? Bei dieser Frage sollten Sie mitarbeiten; darüber sollten wir diskutieren. Ich denke, da haben wir einiges vor. Ich freue mich auf den Dialog. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Wort zu dem, was Sie, Herr Koschorrek, zum Thema Stuttgart 21 gesagt haben. Ich denke, es sollte in diesem Hause Einigkeit darüber bestehen, dass gewaltsame Einsätze gegen Kinder und Jugendliche nicht hinnehmbar sind. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich denke, die Verantwortung für diese Einsätze liegt beim baden-württembergischen Ministerpräsidenten Mappus. Zudem möchte ich einige Sätze zum Thema Transparenz sagen. Es ist schon heute möglich - das wissen Sie -, eine Patientenquittung ausstellen zu lassen. Jeder, der sie haben möchte, kann sie haben. (Lars Lindemann [FDP]: Was steht denn da drauf?) Sie wird leider viel zu wenig beantragt. Aber ich denke, sie könnte zur notwendigen Transparenz beitragen Mit meinem Redebeitrag wollte ich mich als bayerische Abgeordnete aber eigentlich mit der Rolle der CSU in diesem ganzen Spiel beschäftigen. Die CSU hat vor der Bundestagswahl zugesichert, dass es mit ihr keine Kopfpauschale geben wird und (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Gibt es auch nicht!) dass dieses unsoziale Konzept tot wäre. Dann hat dieselbe Partei, Herr Singhammer, dem Koalitionsvertrag, der die Kopfpauschale euphemistisch als einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge bezeichnet, zugestimmt. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist etwas völlig anderes!) Damit startete erst eine Posse, die ihren vorläufig letzten Höhepunkt in der heutigen Debatte hat. Lassen Sie uns etwa ein Jahr zurückschauen. Im November 2009 erklärt Horst Seehofer die Kopfpauschale, die eigentlich einige Monate zuvor schon für tot erklärt worden war, für beerdigt. Im Februar 2010 legt Horst Seehofer sein Veto gegen die eigentlich schon lange tote und auch schon beerdigte Kopfpauschale ein. Ich zitiere aus der Rheinischen Post: Eine Umstellung der bestehenden, am Lohn orientierten ... Arbeitnehmerbeiträge auf eine Pauschale wird es mit mir nicht geben. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hört! Hört!) Im Juni 2010 verkündet Herr Dobrindt, dass die eigentlich schon sehr lange tote und beerdigte Kopfpauschale, gegen die Herr Seehofer sein Veto eingelegt hatte, nun wirklich endgültig vom Tisch sei. Im Juli 2010 stimmt die CSU den Eckpunkten der Gesundheitsreform und damit einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen - also Kopfpauschalen - zu. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Eben nicht! - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben es nicht kapiert!) Denn was ist es denn anderes, wenn ich eine Pauschale erhebe, die pro Kopf berechnet wird? Das ist doch eine Kopfpauschale. (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU) - Selbstverständlich. Wenn ich Herrn Rösler heute und auch in der Vergangenheit richtig verstanden habe, dann will er diese einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträge auch noch weiterentwickeln. Das heißt, wir können abwarten, wie sich das einmal so darstellen wird. Glaubwürdigkeit sieht, denke ich, anders aus. Als bayerische SPD-Abgeordnete und auch als Landesvorsitzende unserer Seniorenarbeitsgemeinschaft hätte ich mich wirklich darüber gefreut, wenn die Ankündigungen und Versprechungen der CSU ernst gemeint gewesen wären. (Elke Ferner [SPD]: Das wäre das erste Mal!) Aber leider war es, wie ich denke, ein ziemlich erbärmliches Theater, das Sie aufgeführt haben. Die Umsetzung Ihrer Pläne würde dramatische Auswirkungen vor allen Dingen auf die Rentnerinnen und Rentner haben. Ich weiß nicht, ob Sie sich deren Situation wirklich vorstellen können. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Besser als Sie!) Ich habe den Eindruck: eher nicht. Ich frage Sie: Wie sollen die Rentnerinnen und Rentner nach diversen Nullrunden bzw. kaum steigenden Renten die nun unbegrenzt wachsenden Kopfpauschalen bezahlen? (Beifall bei der SPD - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Das ist doch schon wieder falsch! Die wachsen nicht unbegrenzt!) Man rechnet im Jahre 2014 mit 16 Euro im Monat; das macht knapp 200 Euro im Jahr. Es klingt ein bisschen flapsig, aber ich sage Ihnen: Dafür muss eine alte Frau ganz schön lange stricken. Woher sollen die Rentnerinnen und Rentner mit kleinen Einkommen das Geld nehmen? Es ist doch jetzt schon absehbar, dass die Kosten für die Versicherten künftig in doppeltem Tempo steigen, weil Sie die Arbeitgeber aus der Solidarität entlassen. Die Folge wird sein, dass keine Steuerungswirkung mehr da ist. Ganz abgesehen davon halte ich persönlich Arbeitgeberbeiträge schon allein deshalb für wichtig, weil durch die Beschäftigung der Arbeitgeber mit der Situation der Arbeitnehmer gewährleistet ist, dass die Arbeitgeber im Betrieb noch viel mehr auf die gesundheitliche Situation der Arbeitnehmer achten. Man kann mit bloßem Auge sehen, dass die Arzneikosten unbegrenzt steigen werden, wenn Sie - wie wir das gestern in der Anhörung mitbekommen haben - der Pharmalobby die Geschenke nur so hinterherwerfen. (Beifall bei der SPD) Sie sagen: Wenn die Zusatzbeiträge zu stark steigen, dann könnten die Versicherten ja die Krankenkasse wechseln. Sie können mir doch nicht erzählen, dass eine Frau, die seit 50 Jahren in der AOK versichert und nun alt, verwitwet, eventuell pflegebedürftig ist, die Kasse wechselt. Das liegt außerhalb jeder Vorstellungskraft. (Beifall bei der SPD - Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Die Leute sind nicht so dumm, wie Sie sie hinstellen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Graf, kommen Sie bitte zum Ende. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Bitte!) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Ich komme zum Ende. - Wenn Sie die viele Kritik, die aus den verschiedenen Bereichen bezüglich dieses GKV-Finanzierungsgesetzes vorgetragen wurde, nicht ernst nehmen, dann müssen Sie sich fragen lassen, für wen Sie eigentlich Politik machen. Ich denke, Sie werden die Quittung für das, was Sie hier tun, auch bekommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rudolf Henke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit Ihrem Bericht aus dem Taxi anfangen, Frau Bunge. Sie waren in der letzten Legislaturperiode Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. Sie sind Ministerin eines Bundeslandes gewesen. Sie haben uns hier gesagt, Sie machen sich darüber Sorgen, wie Sie die Kritik an der Gesundheitspolitik der Koalition unter die Leute bringen. Sie haben gesagt: Seit dem, was ich heute Morgen im Taxi gehört habe, mache ich mir keine großen Sorgen mehr; (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich war überrascht, wie schnell es der Taxifahrer begriffen hat!) denn der Taxifahrer hat es begriffen, so haben Sie gesagt, und äußerte, dass wir nun alle die Arztrechnung im Voraus bezahlen sollen. (Ulrike Flach [FDP]: Das war schon eine Unverschämtheit!) Verehrte Frau Bunge, ich weiß, dass wir politisch komplett unterschiedliche Ausgangspositionen haben. Wir haben eine komplett unterschiedliche Geschichte. Ein Teil dieser Geschichte ist heute Morgen Gegenstand der Debatte zu 20 Jahren deutsche Einheit gewesen. Aber ich erwarte von einer ehemaligen Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses und von einer ehemaligen Landesministerin - auch wenn sie in einer anderen Partei ist -, dass sie diese falsche Aussage richtigstellt; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn es hat überhaupt keine Ankündigung gegeben, dass die Kostenerstattung pflichtweise eingeführt wird. Es wurde lediglich angekündigt, dass es eine Debatte darüber geben wird, ob eine Kostenerstattung als Option gestärkt wird gegenüber dem, was jetzt Praxis ist. Mehr ist nicht angekündigt worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: In der letzten Wahlperiode wollten Sie nichts anderes als Kostenerstattung!) Deswegen ist das, was Sie in dieser Debatte vortragen, ein Beleg für die Art - Herr Lauterbach gehört auch zu denen, die gesagt haben: Die Versicherten müssen demnächst in Vorkasse gehen -, wie Sie die Auseinandersetzung mit der Gesundheitspolitik der Koalition betreiben. Sie versuchen jedes Verhetzungspotenzial zu nutzen. Dabei schrecken Sie nicht davor zurück, Richtigstellungen zu unterlassen, die im parlamentarischen Umgang der Fairness halber geboten wären. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, es gibt mehrere Wünsche nach Zwischenfragen, und zwar seitens der Kollegin Bunge, der Kollegin Bender und des Kollegen Lauterbach. Ich würde sie alle nacheinander zulassen, aber in gebotener Kürze. Rudolf Henke (CDU/CSU): Aber ich habe hinterher noch drei Minuten vierzig? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Du kannst dann reden, so lange du willst!) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Kollege Henke, können Sie mir zustimmen, dass der Begriff "Kostenerstattung" sehr sperrig ist? Ich habe mir einen Kopf gemacht: Wie willst du den Bürgerinnen und Bürgern erläutern, was dahintersteckt, welche Gefahren sich ergeben, dass sie erst bezahlen müssen? Ich war überrascht, dass heute früh der Taxifahrer gleich das Wesentliche begriffen hatte und mir das kurz vor dem Aussteigen erzählte. Ich habe den Änderungsantrag, den der Minister gestern in den Medien angekündigt hat, noch nicht vorliegen. Ich konnte also erstens zeitlich und zweitens inhaltlich keine große Aufklärung betreiben, aber das Prinzip der Kostenerstattung hat er doch wohl richtig erkannt. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Vielleicht sollten Sie lieber S-Bahn fahren! - Heinz Lanfermann [FDP]: Wenn Sie die Taxikosten nachher vom Deutschen Bundestag erstattet bekommen, ist das auch Kostenerstattung!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Bender möchte doch keine Zwischenfrage stellen. Dann erteile ich das Wort Herrn Lauterbach. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ich ziehe zurück!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Sollen wir nicht erst einmal die gestellte Frage behandeln? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein. Ich hatte gesagt, alle drei nacheinander. Ich gehe davon aus, dass Sie ein gutes Gedächtnis haben, dass Sie sich das merken können. - Frau Bender zieht ihre Zwischenfrage doch nicht zurück. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Henke, kann es sein, dass Ihnen entgangen ist, dass der von Ihnen politisch unterstützte Bundesminister für Gesundheit gestern in einem Interview kundgetan hat, er strebe eine Systemangleichung von PKV und GKV an? Es sei langfristiges Ziel, die Kosten-erstattung für alle zur Regel zu machen. Stimmen Sie mir deswegen zu, dass die Lektüre des Pressespiegels manchmal der politischen Einsichtsfähigkeit dienlich sein kann? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das steht nicht im Interview!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Wer ist der dritte Fragesteller? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der dritte Fragesteller ist uns abhanden gekommen. (Elke Ferner [SPD]: Er wollte Ihren Blutdruck nicht weiter bemühen, Herr Kollege!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Vielen Dank. - Auch die Stimme nicht. Verehrte Frau Bunge, ich glaube, der Terminus "Vorkasse" ist gestern in dem ministeriellen Interview gefallen. Jedenfalls ist das dem Pressespiegel von heute zu entnehmen. Er hat sich offensichtlich bemüht, den sperrigen Begriff "Kostenerstattung" durch den Begriff "Vorkasse" zu ersetzen. Für die Union kann ich Ihnen sagen, dass wir eine obligate, pflichtweise Einführung der Vorkasse als generelles System, das für alle gilt, für das man sich nicht optional entscheiden kann, nicht anstreben. Wir wollen das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Das hat der Kollege Singhammer eben deutlich gemacht. Da sind auch die Ausführungen des Ministers sehr klar gewesen. Das wird es vielleicht als Teil der reinen Lehre der FDP geben. Das weiß ich noch nicht so genau, darüber müssen wir noch einmal debattieren. Jedenfalls ist nicht das Ziel der Politik dieser Bundesregierung, auch nicht der Politik dieser christlich-liberalen Koalition, eine Vorkasse für alle - das ist Ihr Vorwurf - einzuführen. Als Wahlrecht ist das etwas anderes. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin mit der Antwort auf die Frage von Frau Bunge fertig. Daher könnte sich Frau Bunge jetzt eigentlich setzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Bunge entscheidet das sicher selbst. Rudolf Henke (CDU/CSU): Das entscheidet sie selbst? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn Sie ihre Frage zu Ende beantwortet haben. Rudolf Henke (CDU/CSU): Ja, damit bin ich fertig. Zur zweiten Frage. Ich bin natürlich der Meinung, dass man die Presse immer aufmerksam studieren sollte. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich dachte, die Änderungen kommen aus dem Parlament, aber die kommen aus dem Ministerium!) Ich glaube, dass ich, was die Systemangleichung von PKV und GKV angeht, à jour bin. Wenn Sie die System-angleichung von PKV und GKV als Ziel dieses Gesetzentwurfs bezeichnen, dann verstehe ich überhaupt nicht mehr, wieso Sie sich über Ungleichbehandlungen und Unterschiede zwischen PKV und GKV so aufregen. (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]) Dann müssten wir auf einem Weg sein, die Unebenheiten zu beseitigen. Das ist aber nicht das, was Sie sonst kritisieren. Insofern antworte ich mit einer Gegenfrage: Glauben Sie nicht auch, dass man manchmal etwas widerspruchsfreier argumentieren sollte? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gibt keine nachklappenden Zwischenfragen zu Zwischenfragen. Jetzt, Herr Kollege, geht es weiter mit Ihrer Rede. Sie haben noch drei Minuten zweiunddreißig. Rudolf Henke (CDU/CSU): Meiner Ansicht nach ist Ihre Darstellung angesichts der bestehenden Probleme ein bisschen zu kleines Karo. Kern dieser Probleme sind der demografische Wandel, eine veränderte Altersschichtung in der Bevölkerung und ein Zuwachs an Herausforderungen, die wiederum mit den Krankheitsentwicklungen, die sich aus der veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung ergeben, zusammenhängen. Ich spare es mir, das in allen Einzelheiten darzulegen. Ich will nur einige Beispiel nennen: In den nächsten 50 Jahren werden wir bei der altersbedingten Makuladegeneration - das ist eine Krankheit, die zu einer zentralen Blindheit führen kann - eine Zunahme um 125 Prozent verzeichnen; bei der Osteoporose erwarten wir in den nächsten 30 Jahren einen Zuwachs um 23 Prozent; bei der rheumatoiden Arthritis müssen wir mit einer Zunahme um 18 Prozent rechnen. Das ist doch die Herausforderung. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Dann machen Sie doch die Untersuchungen billiger!) Die Frage ist: Wie setzen Sie sich damit auseinander? Ich finde, Sie starten mit einer falschen Analyse. Sie versuchen, die Menschen möglichst bange zu machen. Sie sagen: Die Kopfpauschale steigt und steigt und wird allein bei den Arbeitnehmern abgeladen. Aber genau das ist nicht der Fall; denn es gibt eine Belastungsgrenze. Diese Belastungsgrenze führt dazu, dass der Steuerstaat dort einspringt, wo bisher der Beitragszahler bis zur Beitragsbemessungsgrenze belastet wurde. Das bedeutet, dass das Spektrum derer, die sich an dem solidarischen Ausgleich, an diesem Zusatzbeitrag beteiligen, zunimmt und nicht abnimmt. Deswegen, auch wenn Sie immer wieder das Gegenteil behaupten, ist dies eine größere solidarische Leistung des Steuerstaates als das, was Sie planen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube auch, dass Sie mit falschen Ankündigungen operieren. Frau Ferner, Sie haben gesagt - das wollen wir einmal festhalten -: Wir werden das 2013 alles wieder rückgängig machen. Ich erinnere an die Einführung des demografischen Faktors in der Rentenversicherung durch Norbert Blüm in der bis 1998 amtierenden Regierung unter Helmut Kohl. Sie haben einen Wahlkampf mit dem Versprechen gemacht, den demografischen Faktor, den wir durchgesetzt hatten, wieder abzuschaffen. Sie haben dieses Versprechen 1999 gehalten und haben diesen demografischen Faktor 1999 wieder abgeschafft. Dann hat sich die Finanzlage der Rentenkasse verschlechtert, und die Rentenkasse ist in Schwierigkeiten gekommen. Dann hat die rot-grüne Schröder-Regierung den Nachhaltigkeitsfaktor, der nichts anderes war als die bekehrte rot-grüne Variante des demografischen Faktors, 2004 mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz wieder eingeführt. Das ist davon zu halten, wenn Sie sagen, wir machen das rückgängig. Das, was wir hier leisten, ist im Grunde ein Stück demografischer Faktor für die Verlässlichkeit der Krankenkasse. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das brauchen wir, damit wir ein zuverlässiges Leistungsversprechen der gesetzlichen Krankenkasse geben können. Übrigens, ein Jahr vor Verabschiedung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes war es die rot-grüne Regierung, die den Satz von 7,9 Prozent für die Arbeitnehmer und von 7,0 Prozent für die Arbeitgeber eingeführt hat. Sie haben damals die Parität verlassen. Das war nicht die Entscheidung einer Merkel-Regierung, sondern es war die rot-grüne Schröder-Regierung, die die Parität aufgegeben hat. Letzter Punkt: Ich glaube, dass Sie in der Tat eine fehlende Alternative auszeichnet. Das, was Sie immer wieder als Bürgerversicherung ankündigen, werde ich bis auf Weiteres als Schildbürgerversicherung bezeichnen; denn mir bleibt völlig rätselhaft, wie Sie dabei die Finanzmittel verfassungskonform aufbringen wollen, die Sie brauchen, um all das zu vermeiden, was Sie bei uns kritisieren und was Sie nicht haben wollen. Meine Bilanz ist also: falsche Analyse, falsche Ankündigungen, fehlende Alternative. Mein Prädikat: flaue Arbeitsleistung bei der Opposition. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Carola Reimann hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Carola Reimann (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das vorliegende GKV-Finanzierungsgesetz trägt auf den ersten Blick einen passenden Namen; denn es befasst sich nur mit Finanzierungsfragen. Es geht Ihnen allein um das Stopfen von Finanzlöchern durch ein halbherziges Sparpaket auf der einen und ein doppeltes Abkassieren der Versicherten auf der anderen Seite. Es ist wirklich bemerkenswert: Uns liegt eine Gesundheitsreform vor, die kein einziges Strukturproblem in unserem Gesundheitswesen anpackt. Dabei hat der Kollege Koschorrek - er schwätzt zwar gerade - gesagt, das sei das größte Paket der Reform. Fast 70 Seiten, aber kein Wort von Ärztemangel im ländlichen Raum, kein Wort zu den Schnittstellenproblematiken zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, kein Wort zu Wartezeiten in Arztpraxen, kein Wort zu dem Hauptproblem in unserem Gesundheitswesen, nämlich der widersinnigen Ungleichbehandlung gesetzlicher und privater Krankenversicherungen. (Ulrike Flach [FDP]: Weil wir Politik machen, Frau Reimann! Es geht hier darum, Lösungen zu finden!) Herr Minister Rösler, mit dieser Reform lösen Sie kein einziges der Probleme in unserem Land. Diese Reform bringt uns keinen Schritt weiter. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Sie ist in Wahrheit ein Rückschritt; denn das Wenige, das Sie regeln wollen, geht in eine völlig falsche Richtung und ist obendrein noch handwerklich schlecht gemacht. So gesehen, Herr Minister, ist der ausführliche Titel Ihres "Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung" eher ein Fall für Ihre Kollegin Aigner; denn hier handelt es sich ganz offensichtlich um einen klaren Fall irreführender Produktbeschreibung. (Beifall bei der SPD und der LINKEN - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Etikettenschwindel!) Das, was Sie den gesetzlich Versicherten zumuten, ist weder nachhaltig noch sozial ausgewogen, sondern das komplette Gegenteil. Das schätzt die Bevölkerung ähnlich ein. Nach der aktuellen Politbarometererhebung glauben 5 Prozent der Bevölkerung - das ist hier schon einmal gesagt worden -, dass damit Finanzierungsprobleme gelöst werden. 95 Prozent der Bevölkerung fragen sich zu Recht, was eine Reform bringt, die sich nicht mit der Lösung von Strukturproblemen befasst. (Ulrike Flach [FDP]: Lesen bildet!) Wenn man daran nichts ändert, ist die nächste Beitragssatzerhöhung vorprogrammiert. Das heißt in diesem Fall: massiv steigende Zusatzbeiträge. Damit sind wir beim Punkt der sozialen Ausgewogenheit. Ist es denn sozial ausgewogen, wenn künftig alle Kostensteigerungen auf die Versicherten abgewälzt werden? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ist es sozial ausgewogen, wenn diese Steigerung in Form einer stetig anwachsenden Kopfpauschale allein von den Versicherten erhoben wird? Ist es sozial ausgewogen, wenn der sogenannte Sozialausgleich erst bei 2 Prozent des Bruttoeinkommens einsetzt? Wohl nicht, meine Damen und Herren. Auch mit der Bezeichnung "Sozialausgleich" müsste sich Frau Aigner beschäftigen; denn er ist nichts anderes als Etikettenschwindel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was ist denn mit dem Sozialausgleich, wenn der durchschnittliche Zusatzbeitrag bei null liegt, die jeweilige Kasse trotzdem einen kassenindividuellen Beitrag verlangt? Was ist denn, wenn dieser Beitrag höher ist als der durchschnittliche Zusatzbeitrag? Dann gibt es keinen Sozialausgleich. Dieser Pseudo-Sozialausgleich dient in Wahrheit nur dazu, die sozialpolitische Schieflage Ihrer Reform zu kaschieren. Sie können den Begriff "Sozialausgleich" natürlich mit blumigen Worten - das ist hier schon versucht worden - noch tausendmal erklären. Es bleibt dabei: Diese Reform ist der Ausstieg aus dem solidarischen System und komplett unsozial. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Reform ist auch unsozial, weil Sie die Versicherten reichlich zur Kasse bitten, während sich andere Akteure die Hände reiben können. Von der Pharmalobby will ich heute gar nicht sprechen; sie ist mit dem AMNOG bereits bedient. Über das GKV-Finanzierungsgesetz hingegen können sich besonders die privaten Krankenversicherungsunternehmen freuen. Schwarz-Gelb macht es nämlich möglich, dass die PKV demnächst dank Fristverkürzung eine stolze Zahl an gut verdienenden Neukunden begrüßen darf. Dieses "PKV-Neukunden-Akquise-Gesetz" kostet die gesetzliche Krankenversicherung schlappe 500 Millionen Euro. (Ulrike Flach [FDP]: Das meinen Sie nur!) Das ist aber erst der Anfang. Demnächst werden auch noch die Wahltarife in der GKV verboten und private Zusatzversicherungen in der Pflege eingeführt. Und schon hat die PKV zwei weitere lukrative Geschäftsfelder. (Ulrike Flach [FDP]: Sie sollten Ihre Zahlen einmal überprüfen!) In diesem Zusammenhang hat der Minister den Begriff "Wettbewerb" benutzt. Hier kommt wieder einmal Ihr absurder Wettbewerbsbegriff zum Vorschein. Dort, wo der Wettbewerb Ihrer Klientel - das sind die Gutverdienenden - dient, da wird er forciert, und dort, wo die Lobby Einbußen erwartet, da werden Schutzzäune errichtet. Die Folge sind weitere Wettbewerbsverzerrungen und zusätzliche Ineffizienzen im System. (Beifall bei der SPD) Dieses Gesetz löst keine Probleme, es schafft zusätzliche. Der gravierendste Fehler aber ist, dass das Gesetz die Solidarität, einen der Hauptpfeiler unserer gesetzlichen Krankenversicherung, untergräbt. Sie werden dieses Gesetz durchdrücken, schon allein deswegen, um Ihr Gesicht zu wahren. (Ulrike Flach [FDP]: Nein, weil es gut ist!) Aber spätestens 2013 wird auch über dieses Gesetz abgestimmt, und dann wählt nicht die Lobby, sondern dann wählen die Bürgerinnen und Bürger. Spätestens dann wird es Geschichte sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Sie sind also einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Lay, Harald Koch, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zinssätze für Dispositions- und Überziehungskredite verbrauchergerecht deckeln - Drucksache 17/2913 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherinnen und Verbraucher vor überhöhten Überziehungszinsen schützen - Drucksache 17/3059 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Federführung strittig Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Caren Lay (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele Menschen in diesem Land ärgern sich über hohe Dispozinsen. Jeder Sechste steckt in den Miesen. Ich nehme an, auch Sie haben die ganz aktuellen Zahlen zur Kenntnis genommen, die belegen, dass die Zahl der Verbraucherinsolvenzen in einem Jahr über 10 Prozent gestiegen ist. Im letzten Halbjahr war der Anstieg sogar noch stärker. Das heißt, auch dieses Thema wird an Bedeutung zunehmen. Auch andere aktuelle Zahlen sprechen für sich. 777 Millionen Euro haben die Bankkunden allein in einem guten Jahr durch überhöhte Dispozinsen, durch Dispoabzocke, verloren. Denn die Banken geben die niedrigen Leitzinsen, zu denen sie sich selbst Geld leihen können, nicht an ihre Kunden weiter. Sie alle wissen, dass die Europäische Zentralbank im Zuge der Finanzkrise den Leitzins deutlich gesenkt hat. Während die Banken sich Geld also für nur 1 Prozent leihen können, (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht, was Sie da erzählen!) verlangen sie von ihren Kunden durchschnittlich über 12 Prozent, wenn sie ihren Dispo nutzen. Einige Banken verlangen von ihren Kunden sogar fast 17 Prozent, wenn sie ihren Dispo nutzen. Wir als Linke finden das unverschämt. Wir wollen diese Dispoabzocke beenden. (Beifall bei der LINKEN) Das Problem verschärft sich dadurch, dass die Betroffenen vor allem Erwerbslose und Geringverdiener und Geringverdienerinnen sind; denn diese haben keine Rücklagen. Der Dispo ist für sie häufig die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen. Hinzu kommt, dass viele Menschen die finanzielle Notlage, in die sie durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geraten sind, durch den Dispo zu überbrücken versuchen. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich die Banken zum Teil auf Kosten von Erwerbslosen und Geringverdienern sanieren. Das halten wir als Linke wirklich für skandalös. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, warum gehören denn die Dispokredite - übrigens nicht erst seit der Finanzkrise - zu den teuersten Krediten? Erstens ist das deshalb so, weil davon, wie gesagt, vor allen Dingen Menschen betroffen sind, die den Banken ausgeliefert sind, die keine Lobby haben - in den letzten Wochen und Monaten haben wir ja sehr deutlich gesehen und gelernt, dass bei Schwarz-Gelb vor allen Dingen die Lobby zählt -, (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Oh! Oh!) zweitens, weil die Banken ihre Allmacht ausnutzen, und drittens, weil es Schwarz-Gelb bislang versäumt hat, dem Wucher beim Dispo ein Ende zu bereiten. Die Fraktion Die Linke hat erneut einen Antrag eingebracht, mit dem wir die Zinssätze für Dispokredite begrenzen wollen. "Erneut" sage ich: Wir haben dieses Problem schon in der letzten Legislaturperiode thematisiert. Wir fordern, die Zinsen für Dispo- und Überziehungskredite zu deckeln. Wir haben uns dabei für das Modell entschieden, das die Verbraucherzentrale Bremen vorgeschlagen hat, ein Modell, das schon heute bei Zahlungsverzug gilt. Wenn es nach uns ginge, dann läge der maximale Zinssatz für den Dispo derzeit bei 5,12 Prozent (Beifall bei der LINKEN) und die Überziehungszinsen, die dann anfallen, wenn ein Konto überzogen wird, ohne dass ein Dispo eingeräumt war, bei maximal 8,12 Prozent. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Mit Kapitalrücklegung oder ohne?) Meine Damen und Herren, Zinsen müssen angemessen sein. Zinsexzesse auf Verbraucherkosten darf es nach Auffassung der Linken nicht geben. Deswegen müssen wir der Dispoabzocke ein Ende machen. Es wäre schön, wenn sich die Koalition dieser Argumentation anschließen würde. (Beifall bei der LINKEN) Nach unserer Auffassung sind die überhöhten Dispozinsen in keiner Weise zu rechtfertigen. Die Argumentation der Kreditinstitute halte ich für nicht zielführend; darüber können wir diskutieren. Das Problem ist vielmehr die mangelhafte Regulierung. Das sehen auch Vertreterinnen und Vertreter der Regierungskoalition so. Frau Aigner, die Verbraucherministerin, hat im Handelsblatt vom 15. September dieses Jahres mitgeteilt, es könne nicht sein, dass sich Banken auf Kosten der Verbraucher sanieren; das sagen auch wir. Ich habe auch Sie, Herr Professor Schweickert von der FDP, so im Ohr, dass Sie in der letzten Debatte eine ähnliche Argumentation vorgetragen haben. Auch hier gilt, wie bei vielen verbraucherpolitischen Themen, bei denen wir uns in der Zielstellung einig sind: Es zählen die Taten und nicht die Ankündigungen. (Beifall bei der LINKEN) Die Dispoabzocke reiht sich in eine Palette von Missständen ein, die auch zwei Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers immer noch ungehindert fortbestehen, da die Koalition bis jetzt nicht agiert hat. Dies beginnt mit der fehlenden Zuständigkeit der Finanzaufsicht für den Verbraucherschutz. Es geht weiter mit dem Verkaufsdruck, der auf den Beschäftigten lastet, und der mangelnden oder nicht erfolgten Einführung der Honorarberatung. Außerdem geht es um die mangelhafte Kostentransparenz, die wir bei vielen Finanzprodukten zu beklagen haben; das gilt sogar für die staatlich geförderte Riester-Rente. Noch immer gibt es keine Regulierung von Finanzprodukten, die einfach nicht auf den Markt gehören. Wir als Linke fordern hier einen Finanz-TÜV. Dem, meine Damen und Herren - ich komme zum Schluss -, müssen Sie, muss die Koalition ein Ende machen. Ich hoffe, dass die Verbraucherschutzpolitiker den Ankündigungen, die sie hier im Plenum gemacht haben, tatsächlich Taten folgen lassen. Eine Bundesregierung muss zu mehr in der Lage sein als nur zu Ankündigungen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Marco Wanderwitz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was sich derzeit rund um das Thema Banken und Finanzmarkt dreht, wird so schön als "vermintes Gelände" bezeichnet. Die Finanzkrise steckt uns allen, glaube ich, in den Knochen. Dispozinssätze in Deutschland von durchschnittlich 12,5 Prozent - in der Spitze von fast 17 Prozent - sind alles andere als ein Pappenstil. Der Leitzinssatz der Europäischen Zentralbank befindet sich seit geraumer Zeit auf einem historischen Tief von glatt 1 Prozent. Diesen niedrigen Geldbeschaffungszinssatz geben die Banken nicht an ihre Kunden weiter, so der naheliegende Schluss. Der Vorwurf wiegt schwer, da das Volumen der Überziehungskredite in Deutschland rund 40 Milliarden Euro beträgt. Allerdings relativiert sich manches, wenn man genauer hinschaut, und das sollte man auch bei diesem Punkt tun. Die Höhe des Dispozinssatzes einer Bank hat nur bedingt mit dem Refinanzierungszinssatz zu tun. Sie hat auch mit den Refinanzierungsstrukturen der Bank zu tun und natürlich mit einer betriebswirtschaftlichen Risikoeinschätzung des Produktes Dispositionskredit. Dispokredite - das sollten wir uns an dieser Stelle vor Augen führen - sind ihrem Wesen nach kurzfristig nutzbare Angebote zur Steigerung der finanziellen Flexibilität; so sind sie gedacht. Der Verbraucher kann sich jederzeit sehr schnell innerhalb eines vorab eingeräumten Limits mit Geld versorgen. Er kann eine Kreditsumme in Anspruch nehmen, ohne sich einer nochmaligen Risikoprüfung zu unterziehen und ohne zusätzliche Sicherheiten stellen zu müssen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wenn er ein laufendes Gehalt bekommt!) Diese Flexibilität, sowohl im Hinblick auf den Zeitpunkt der Inanspruchnahme und auf die tatsächliche Kredithöhe innerhalb des Limits als auch der, anders als bei einem Ratenkredit, unbestimmte Zeitpunkt der Rückführung, ist eine Summe von zusätzlichen Risikofaktoren für die Bank, und diese fließen in die Gestaltung der Konditionen ein. Folglich sind Dispozinssätze höher als Zinssätze bei anderen Kreditarten, die beispielsweise besichert sind. Die bloße Bereitstellung eines Dispokredits bindet unabhängig von seiner Inanspruchnahme Eigenkapital der Bank, das nicht anderweitig gewinnbringend verwendet werden kann. Diese bloße Bereitstellung kostet den Verbraucher überhaupt nichts. Deswegen sind die Disporahmen üblicherweise eher gering gehalten. Sie sind nach meinem Kenntnisstand in letzter Zeit eher nach unten korrigiert worden. Darüber hinaus sind Dispokredite im Gegensatz zu beispielsweise lang laufenden Immobilienkrediten grundsätzlich unbesichert und erhöhen das Ausfallrisiko der Bank. Zehnjährige Immobiliendarlehen gibt es in Deutschland bei der Mehrzahl der Banken aktuell für unter 4 Prozent inklusive der Zinsbindung über die gesamte Laufzeit. Der Dispokredit ist also aus all den genannten Gründen der teuerste unter den Krediten. Hohe Flexibilität hat einen höheren Preis. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, das ist grundsätzlich so!) Die Inanspruchnahme von Dispokrediten soll eben nicht zum Dauerzustand werden; so ist der Dispo nicht angelegt. Wer längerfristigen oder größeren Geldbedarf hat, sollte einen Ratenkredit oder einen anderweitigen regulären Kredit mit seiner Bank vereinbaren; denn diese weisen deutlich niedrigere Zinssätze auf. Die Stiftung Warentest hat aufgezeigt, dass die Spanne sehr groß ist, nämlich zwischen 7 und 17 Prozent. Das fordern die Banken aktuell. Wie es zu einem solchen Auseinanderklaffen kommt, ist in der Tat sehr schwer nachvollziehbar. Ein Argument, das angeführt wird, ist, dass die Direktbanken die niedrigsten Zinsen haben und dass das etwas mit dem nicht vorhandenen Filialnetz zu tun hat. Das kann bis zu einem gewissen Punkt überzeugen. Es gibt aber beispielsweise einige Sparkassen, die sich im Bereich von 9 Prozent bewegen. Sie haben üblicherweise ein großes Filialnetz. Es muss also mehr dahinter sein. Ich glaube, es ist unter anderem die unternehmerische Entscheidung, wie man Risiken im Bereich des Dispositionskredits bewertet. Im Juni haben wir hier im Hohen Haus die Umsetzung der Europäischen Verbraucherkreditrichtlinie diskutiert und haben am Ende das deutsche Gesetz beschlossen. "Transparenz bei den Zinssätzen" war das Leitmotiv dieser Gesetzgebung. Wichtig ist, dass jeder vorab weiß - das ist gewährleistet -, was im Fall der Fälle auf ihn zukommt. Der Bundesgerichtshof hat den Schutz der Verbraucher in einem Urteil vom letzten Jahr seinerseits ebenfalls besonders betont. Für Zinsanpassungsklauseln gelten die allgemeinen Grundsätze für Preisanpassungsklauseln, wonach das Äquivalenzprinzip zu beachten ist und die Bank nicht einseitig begünstigt werden darf. Die Ankündigung von Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner, zum Zinsanpassungsverhalten der Banken nun eine ausführliche Studie durchführen zu lassen, kann ich nur begrüßen; denn dort sehe ich die Baustelle. Darüber können und sollten wir aber sprechen, nachdem wir das Ergebnis dieser Studie erhalten haben. Dazu ist das, was Stiftung Warentest hier getan hat, allein zu wenig. Bis dahin und darüber hinaus gilt aber auch Folgendes: Durch die Auswertung von Stiftung Warentest werden verschiedene bestehende Zinssätze aufgezeigt. Es wird nicht gezeigt, ob und in welchem Maße die teuersten der Angebote überhaupt genutzt werden. In Deutschland herrscht ein großer Wettbewerb unter den Banken. Die Verbraucher sollten die Zahlen von Stiftung Warentest daher zum Anlass nehmen, die Angebote ihrer Bank mit anderen Angeboten zu vergleichen und gegebenenfalls einen Wechsel in Erwägung zu ziehen. Jeder hat die Möglichkeit, zu einer Bank zu wechseln, die ihm im Rahmen dieser Spanne, die wir gesehen haben, günstigere Konditionen einräumt. Die Höhe des Dispozinssatzes ist dabei ein Baustein von vielen. Für viele, für die große Mehrzahl, ist er kein Baustein, weil sie ihr Konto schlicht und einfach im Haben führen. Ein paar Sätze zum Schluss dazu, was Kollegin Lay sagte - Stichpunkt: Es gibt nun viel mehr, die davon betroffen sind. Ich habe mir just vorhin die aktuellen Arbeitslosenstatistiken für meinen Wahlkreis angeschaut. Ich kann nur sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Man nehme einmal die Zahlen von vor der Wirtschaftskrise und schaue sich die Zahlen von jetzt an. Danach prüfe man noch einmal, ob das, was man sagt, stimmt. Bei meinem Wahlkreis stimmt es nicht, und der liegt auch in Sachsen. Ich glaube, uns allen wird durch die Dinge, die wir jetzt beispielsweise bei der HRE wieder sehen, und vieles mehr die Zornesröte ins Gesicht getrieben. Wir als Politiker haben aber nicht die Aufgabe, Öl ins Feuer zu gießen, und das auch noch in der möglichst pauschalsten Art und Weise, sondern wir haben den wenigen Unverbesserlichen, die am Ast der Wirtschaftsordnung sägen, das Feuer aus der Hand zu nehmen. Wir als Koalition versuchen, das zu tun. Ich möchte Sie herzlich bitten, damit aufzuhören, Öl ins Feuer zu gießen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kerstin Tack (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Zuschauertribüne! Ich glaube, die derzeit absolut überzogenen Zinsen für die Dispo- und Überziehungskredite finden wir über alle Fraktionen hinweg nicht in Ordnung. Ich glaube, diese Feststellung können wir hier im Parlament für alle gemeinsam treffen. (Beifall im ganzen Hause) Nur bei der Antwort auf die Frage, was aus dieser Erkenntnis folgt, wird unsere Bewertung sicherlich sehr unterschiedlich sein. Dass die Banken derzeit Geld zu einem Zinssatz von lediglich 1 Prozent bekommen, wenn sie es sich leihen, während sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern, die ihr Konto überzogen haben, im Gegenzug Zinssätze von 6 bis 17 Prozent in Rechnung stellen, ist nicht in Ordnung. Jeder sechste Bankkunde steht mit seinem Konto in den Miesen. Die Europäische Zentralbank hat die Leitzinssätze von 4,25 Prozent im Oktober 2008 auf 1 Prozent - ich habe es gerade erwähnt - im Mai 2009 gesenkt, und dort steht dieser Leitzins heute noch immer. An die Verbraucherinnen und Verbraucher werden niedrige Guthabenzinsen weitergereicht, gleichzeitig werden von ihnen hohe Überziehungszinsen verlangt. Beides ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher ein deutlicher Nachteil; das müssen wir so sagen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es! Sehr richtig!) Es hat den Anschein, als würden die Banken die hohen Dispozinsen zum Gegenstand des Sanierungsprogramms erklären, um den Verlust, den sie aus der Krise erlitten haben, wieder auszugleichen. So geht es aber nicht. Das können und sollten wir auf keinen Fall zulassen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) - Ich nehme zur Kenntnis, dass auch Sie von der Koalition mir hierin zustimmen. Jeder Prozentpunkt, um den der Zinssatz für Dispo- und Überziehungszinsen nicht gesenkt wird, kostet die Verbraucherinnen und Verbraucher 416 Millionen Euro im Jahr, so die Stiftung Warentest. 416 Millionen Euro im Jahr, bezogen auf das aktuelle Kreditvolumen, das laut der Bundesbank mit 41,6 Milliarden Euro - der Kollege hat es gesagt - ausgewiesen ist. Der Zentrale Kreditausschuss verteidigt selbstverständlich die hohen Zinsen und sagt, das sei mit dem flexiblen Kreditrahmen und mit der Notwendigkeit der Eigenkapitalbildung zu begründen. Aber, liebe Kollegin-nen und Kollegen, wenn das zur Begründung herhalten soll, dann frage ich mich, wie es zu Unterschieden zwischen 6 und 17 Prozent kommen kann. Das ist eine an den Haaren herbeigezogene Begründung. Auf die sollten wir uns nicht verlassen, wenn wir uns über die Frage unterhalten: Was lernen wir denn aus der Situation, und gibt es einen akuten Handlungsbedarf? Die Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen im Moment doppelt. Auf der einen Seite zahlen sie für die überzogenen Zinsen, und auf der anderen Seite haben sie bereits als Steuerzahlende für die staatlichen Unterstützungen bezahlt, die wir ja teilweise denselben Banken, die jetzt die hohen Zinsen nehmen, vorher in die Tasche gesteckt haben. Sie zahlen also auf der einen Seite als Steuerzahler für die Unterstützung der Banken, und auf der anderen Seite als "Melkkuh", wenn ihnen hohe Überziehungszinsen zugemutet werden. Wir haben seit Juni dieses Jahres mit der Verbraucherkreditrichtlinie das Erfordernis, dass die Banken ihre Anpassungskriterien offenlegen. Aber - das müssen wir klar sagen - wenn es so ist, dass die Differenz zwischen den Überziehungszinsen und den Referenzzinsen so deutlich wie im Moment ist, dann ist das ein verbraucherunfreundliches Verhalten, das nicht zum Maßstab für die künftige Entwicklung der Dispozinsen genommen werden darf. Deshalb müssen wir hier sehr genau überlegen, ob die Verbraucherkreditrichtlinie an dieser Stelle genügt, um zum jetzigen Zeitpunkt die Differenz zu bestimmen. Deshalb fordern ja auch alle Bundesländer die Ministerin für Verbraucherschutz auf, staatliches Eingreifen hier nicht länger auszuschließen. Sie sagte: "Die Zinssenkungen müssen unverzüglich an die Kunden weitergegeben werden". Die Kreditinstitute dürften sich nicht länger auf Kosten der Verbraucher sanieren. Ferner sagte sie: Die Institute sollen endlich die Leitzinssenkungen weitergeben. "Das ist nicht akzeptabel". Da denkt man sich: Wunderbar, die Verbraucherschutzministerin will da was tun. Die beiden Zitate, die ich eben gebracht habe, stammen aus dem Jahr 2009. Da fragt man sich: Was ist passiert zwischen dem Zeitpunkt der Erkenntnis der Ministerin in 2009 und der Situation, die wir am heutigen Tag haben? Da nehmen wir wahr, dass die von der Ministerin als inakzeptabel beschriebene Situation bis heute keine Veränderung erfahren hat, und wir nehmen auch wahr, dass die Verbraucherschutzministerin ihre Regelungskompetenz in diesem Bereich nicht wahrnimmt, sondern sich wie immer in Ankündigungen, in tollen Worten, in Entsetztsein erschöpft, aber mal wieder nicht in der Lage ist, irgendeine Regelung auf den Weg zu bringen. Die Leidtragenden sind die Verbraucherinnen und Verbraucher, und das kann es nicht sein. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Deshalb fordern wir die Ministerin ganz nachdrücklich auf, an dieser Stelle mit ihrer Studie nicht noch mehr Zeit zu vertun. Wir haben doch von der Stiftung Warentest genau eine solche Studie vorliegen, und zwar nicht nur für dieses Jahr, sondern auch noch für die letzten Jahre. Da brauchen wir jetzt nicht noch mehr Zeit ins Land gehen zu lassen, bis wir wissen, dass es hier einen Handlungsbedarf gibt und wie sich das alles entwickelt hat. Deshalb sagen wir: Ran, entscheiden, vorlegen! Die Frage, ob geltendes Recht reicht oder nicht - das will ich noch zum Schluss sagen -, soll auch Teil der jetzt vorzulegenden ausführlichen Studie sein. Dazu muss man sagen: Ob das geltende Recht das abdeckt oder nicht, dazu brauchen wir keine mehrmonatige Erarbeitung einer Studie. Das müssen die Juristen aus einem Ministerium einem in wenigen Stunden sagen können. Diese Erwartungshaltung an gutbezahlte Juristen kann man haben. Das können die auch, wir brauchen also keine Zeit zu vergeuden. Wir haben Grund genug, die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht länger wegen Nichthandeln Kosten tragen zu lassen. - Frau Präsidentin, ich weiß, ich habe meine Redezeit überzogen. - Deswegen unterstützen wir das Ansinnen der beiden antragstellenden Fraktionen. Ich sage noch einmal deutlich: Es gibt einen Handlungsbedarf und kein Erkenntnisdefizit. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun der Kollege Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Erik Schweickert (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um das Überziehen nicht nur der Zeit, sondern auch der Konten. Nicht nur der Staat hat die letzten Jahre deutlich über seine Verhältnisse gelebt, was übrigens jetzt die christlich-liberale Koalition beenden wird, nein, auch viele Bürgerinnen und Bürger haben mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Oftmals hat dieses Schuldenmachen damit begonnen, dass das Konto überzogen worden ist. Es ist aber auch klar: Dispo- und Überziehungszinsen sind der Preis für Flexibilität - wir haben es schon gehört -, und die Möglichkeit der Überziehung bedeutet einen Notpuffer. Allerdings wird dieser Notpuffer von vielen Verbrauchern heute so genutzt, als ob es sich dabei um ein Guthaben handele. Ob das so ist, weil sich der Bürger dazu gezwungen sieht oder weil er sich keine Gedanken macht, sei dahingestellt. Aus diesem Grund sollten wir die Diskussion nicht so aufgeregt führen, wie es bisher geschehen ist. Ich halte es für gerechtfertigt, dass die Banken für einen Dispositionskredit höhere Zinsen veranschlagen, da für diesen ein höheres Ausfallrisiko besteht. Man könnte nämlich sagen: Es gibt kein Recht auf billige Schulden. Jeder Verbraucher hat die Verantwortung, darauf zu achten, dass er sein Konto nicht überzieht. Man kann ein Konto so einrichten, dass man es nicht überziehen kann. Die Frage ist, ob das sinnvoll ist. Man hat auch die Möglichkeit, beispielsweise einen Ratenkredit in Anspruch zu nehmen. Dann hat man klare Verhältnisse. (Kerstin Tack [SPD]: Wenn man kreditwürdig ist! - Caren Lay [DIE LINKE]: Wenn man einen festen Job hat, ja!) - Frau Lay, ich komme gleich dazu. - Grundsätzlich haben wir als Verbraucher auch die Möglichkeit, die Bank zu wechseln. Daher sehe ich schon eine große Verantwortung des Bankkunden. Jeder ist für seine Kassenlage verantwortlich. (Beifall bei der FDP) Die Sache hat natürlich einen Haken; denn einige Entwicklungen erscheinen mir etwas problematisch. Der Leitzins der Europäischen Zentralbank liegt derzeit bei 1 Prozent und damit auf einem historischen Tiefstand. Das dient den Banken als Rechtfertigung, dass sie für Guthaben und Festgeld so gut wie keine Zinsen zahlen. Auf der anderen Seite werden für Dispo- und Überziehungskredite sehr hohe Zinsen verlangt. Während der Leitzins von 4,25 Prozent im Oktober 2008 auf derzeit 1 Prozent gesunken ist, sind die Zinsen für Dispo- und Überziehungskredite im Durchschnitt nur unwesentlich zurückgegangen. Die Banken können sich also sehr günstig Geld bei der Europäischen Zentralbank leihen, aber dem verschuldeten Verbraucher stellen sie überhöhte Zinsen in Rechnung. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt geht's los!) wenn die Banken die Schuldenspirale der Verbraucher weiterdrehen. Ich sage Ihnen ganz offen: Zinsen für Dispo- bzw. Überziehungskredite in Höhe von 16,99 Prozent grenzen fast schon an Wucher. (Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN - Kerstin Tack [SPD]: Kollege, wir sind begeistert!) Die Verbraucherzentralen überprüfen das, und die Gerichte werden entscheiden, ob der Tatbestand des Wuchers erfüllt ist. Eines erscheint mir noch wichtiger - das kommt in der Diskussion viel zu kurz, und ich hätte gedacht, dass dieser Punkt insbesondere von Ihnen vorgebracht wird -: Was ich noch kritischer als die hohen Zinsen sehe, ist die Tatsache, dass es Banken gibt, die über die Zinsen für einen Dispo- oder Überziehungskredit hinaus noch eine Gebühr pro Abhebung berechnen, also on top. Da muss man den Banken sagen: Irgendwann ist auch mal Schluss. (Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Norbert Schindler [CDU/ CSU] - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das schlägt dem Fass den Boden aus!) Jetzt ist die Frage, wie sich das Ganze darstellt; denn nicht nur einzelne Banken machen das, sondern das ist ein weit verbreitetes Phänomen. Die Verbraucherzentrale Bremen hat die entsprechenden Daten erhoben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Welche Maßnahmen ergreifen Sie?) - Die Maßnahmen kommen jetzt. Herr Heil, Sie sind doch sonst nicht so ungeduldig. - Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass die Dispozinsen durch verbraucherfeindliche Klauseln in den AGBs zu Recht unzulässig sind. Wörtlich heißt es: Danach muss eine Zinsänderungsklausel das Äquivalenzprinzip beachten und darf die Bank nicht einseitig begünstigen. Allerdings ist es in der Realität etwas anders. Deswegen habe ich das Bundeskartellamt letzte Woche aufgefordert, die Geschäftspraxis der Banken einer wettbewerblichen Prüfung zu unterziehen, und zwar deshalb, weil diese Überziehungszinsen insbesondere in räumlichen Clustern genommen werden. Wie interpretiere ich sonst, dass dies insbesondere in Bremen und zwei anderen Clustern geschieht? Also, wir wollen kein Konjunkturprogramm für Peter Zwegat, sondern einen effizienten Verbraucherschutz, und deshalb wollen wir eine Überprüfung. (Beifall bei der FDP) Darum ist auch die Regelung zum Referenzzinssatz zu hinterfragen, nach der die Banken einen überprüfbaren Referenzzinssatz benennen müssen, an dem sie ihre Zinsentwicklung anpassen. Denn natürlich werden die Banken den derzeit niedrigen Leitzins als Referenz angeben. Steigt der Leitzins, werden die Banken die Möglichkeit haben, auch die Dispo- und Überziehungszinsen weiter zu erhöhen und dies anhand des steigenden Referenzzinses zu rechtfertigen. Das darf natürlich nicht sein. Deswegen muss dieses Thema im Ausschuss angesprochen werden. Für mich ist eins deutlich: Die Commerzbank ist bei dieser Sache mit dabei. (Kerstin Tack [SPD]: Das stimmt!) Frau Kollegin Tack, ich habe es in der letzten Sitzungswoche angesprochen, und ich bleibe bei meiner Meinung: Der Staat ist nicht der bessere Banker. (Beifall bei der FDP) Wenn die Commerzbank einen Zinssatz von 13,24 Prozent im Dispobereich verlangt, dann komme ich zu dem Schluss: Der Staat ist gefordert, sich aus seiner Zuständigkeit für die Commerzbank schnellstmöglich zurückzuziehen. (Beifall bei der FDP) Was da stattfindet, bringt dem Verbraucher nichts. Heute, kurz vor dem 20. Jahrestag der deutschen Einheit, möchte ich wiederholen: Der Staat ist nicht der bessere Banker. Meine Damen und Herren, Sie haben mich auf Ihrer Seite, wenn es darum geht, dem Verbraucherschutz in der Finanzaufsicht zu mehr Durchschlagskraft zu verhelfen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da bin ich mir nicht so sicher!) Das Ganze gehört, da es um Verbraucherschutz geht, institutionell in die Finanzaufsicht. Wir werden unser Vorhaben umsetzen, spätestens bei der Zusammenführung der Bankenaufsicht unter dem Dach der Deutschen Bundesbank. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Warten wir erst mal ab!) Das macht die von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag angeregte Marktwächterfunktion in diesem Bereich überflüssig, übrigens so überflüssig wie im Moment manche Bank aufgrund ihres Geschäftsgebarens. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktienmärkte haben sich beruhigt, aber für die Verbraucherinnen und Verbraucher geht die Finanzkrise weiter. Diese Krise ist für die Kundinnen und Kunden natürlich vor allem eine Krise des Vertrauens in die Banken. Die Referenzzinsen, die wir zur Verfügung haben - zum Beispiel den EZB-Leitzins oder den Drei-Monats-Euribor; das sind übliche Referenzzinsen -, liegen um 1 Prozent. Die Banken und Sparkassen geben den Sparern diese niedrigen Zinssätze weiter; gleichzeitig senken sie die Zinssätze für den Dispo aber nicht. Angesichts dessen weiß man, woher diese Vertrauenskrise kommt. Die Anlegerinnen und Anleger, die Bankkunden glauben nicht mehr daran, dass sie von den Banken fair und ehrlich behandelt werden. Herr Wanderwitz, Sie haben gesagt: Wir als Politiker haben die Aufgabe, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Ich glaube, dass durch solches Geschäftsgebaren Öl ins Feuer gegossen wird. Eine Studie, die die Stiftung Warentest durchgeführt hat, zeigt: Durch solches Geschäftsgebaren wird Öl ins Feuer gegossen; dadurch wird Vertrauen auf den Finanzmärkten zerstört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es gibt unterschiedliche Erhebungen. Wir Grünen haben im Sommer selber eine durchgeführt. Dabei ist herausgekommen: Zinssätze von 13 oder 14 Prozent - nur nominal; effektiv sind sie höher - und für eine geduldete Überziehung von bis zu 20 Prozent sind keine Seltenheit. Der Kollege Schweickert hat es gesagt: Wenn man 20 Prozent Zinsen für eine geduldete Überziehung zahlen muss, dann ist das hart am Wucher. Herr Wanderwitz, Sie haben argumentiert, dass eine Kopplung an einen Leitzins nicht sachgerecht sei, weil die Beschaffungskosten für Geld nur ein Element der Kosten des Dispos seien. Da stimme ich Ihnen zu. Trotzdem gibt es Banken, die einen Referenzzins gewählt haben, an den sie ihre Dispozinssätze koppeln. Da gibt es unterschiedliche Modelle, entweder den EZB-Leitzins oder den Euribor. Das Problem ist nur, dass die Banken dabei einen Zeitpunkt in der Finanzkrise herangezogen haben, sodass aufgrund der Koppelung die Zinssätze für die Verbraucher noch weiter nach oben gehen. Das zerstört weiter Vertrauen auf den Finanzmärkten. Ich möchte kurz noch etwas zum Dispo sagen. Es stellt sich ja die Frage, ob alle, die einen solchen Kredit in Anspruch nehmen, über ihre Verhältnisse leben. Klar ist: Natürlich soll man den Dispo nicht jeden Monat als erweitertes Einkommen benutzen; das weiß jedes Kind. Es gibt aber auch Menschen, die unverschuldet in finanzielle Notlagen geraten. Wir hatten während der Wirtschaftskrise eine ganze Menge Kurzarbeiter. Das sind Personen, die nicht über ihre Verhältnisse gelebt und unverantwortlich gehandelt haben; vielmehr blieb vielen von ihnen keine andere Möglichkeit, als ihr Konto zu überziehen. Ich glaube, dass wir es im Dispobereich mit einem Marktversagen zu tun haben. Das ist übrigens nicht nur regional so. Ich habe eine ähnliche Erhebung für Hessen wie die für Bremen gemacht. Ich habe einfach einmal die Banken angerufen und dabei festgestellt, dass die Zinssätze ähnlich sind: 18 Prozent oder 19 Prozent für eine geduldete Überziehung findet man überall. Die Vielfalt des deutschen Bankensystems ist dabei keine Hilfe. Wir haben kleine Sparkassen, große internationale Player wie Santander oder Targobank, große Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Diese geben sich alle nichts. Es sind teure und billige dabei. Das heißt, wir haben es sowohl quer durch die Regionen als auch quer durch die unterschiedlichen Sektoren mit solchen überhöhten Zinsen zu tun. Deshalb haben wir Ihnen einen Antrag zur Debatte vorgelegt. Wir fordern einen gesetzlichen Referenzzinssatz, an dem sich die Banken orientieren sollen. Dieser sollte möglichst einheitlich sein, damit es für die Kunden transparent ist. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Der ist festgelegt!) - Es wäre aber schön, wenn man sich auf einen einigen könnte, entweder auf den Euribor oder den EZB-Leitzins. Im Moment wählen die Akteure im Markt unterschiedliche Referenzzinssätze. Die Commerzbank hat einen anderen Referenzzinssatz als bestimmte Sparkassen. Ich finde, Einheitlichkeit würde für mehr Transparenz sorgen. Wir fordern außerdem eine gesetzliche Obergrenze, einen Korridor oberhalb dieses Zinssatzes. Wie breit dieser Korridor ist, darüber muss man diskutieren. An dieser Stelle eröffnet sich der Spielraum für die betriebswirtschaftlichen Erwägungen der einzelnen Banken. Wir finden, wenn man solche fairen Leitplanken für Wettbewerb setzt, dann passt das zu einer sozialen Marktwirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir fordern, dass die Finanzaufsicht verbessert wird. Ich denke, wenn solches Marktversagen möglich ist, wenn solche Wucherzinsen möglich sind, dann zeigt das, dass hier noch einiges im Argen liegt. Wir haben Vorschläge von Herrn Schweickert und Ankündigungen von Frau Aigner gehört. Wir hoffen, dass Sie als schwarz-gelbe Regierung irgendwann einmal auch das machen, wozu Sie da sind, nämlich zu regieren und Handlungen folgen zu lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Julia Klöckner. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe mich geärgert. Ich habe mich richtig geärgert, als wir die Ergebnisse von "Finanztest" lesen konnten. Ich bin übrigens der Stiftung Warentest sehr dankbar dafür. Deshalb haben wir als Koalition sie mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie genau die aktuellen Themen, die uns beschäftigen, aufgreift. Das tut manch einem weh. Das ist oft unbequem. Wir halten es für richtig, dass die Stiftung Warentest genau aus diesem Grund Schritt für Schritt in die Unabhängigkeit entlassen wird, damit sie etwas anpackt, was vielen anderen eben nicht passt. Deshalb noch einmal: Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Thema der Banken seit Wochen und Monaten auf der Tagesordnung haben. Ich wünsche mir, dass sie dieses Thema auch in Zukunft weiter so im Blick haben, auch wenn es um die Beratungsprotokolle und um die Produktinformationsblätter geht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich stimme Frau Kollegin Maisch zu. Ganz klar: Nicht jeder, der sein Konto überzieht, ist jemand, der nicht mit Geld umgehen kann. Ansonsten könnten die Banken auch nicht mit Geld umgehen, weil sie sich bei den Bürgerinnen und Bürgern Geld leihen. Die Asymmetrie, dass auf der einen Seite die Bürger den Banken gerne Geld leihen, aber nicht zu zweistelligen Prozentsätzen, und dass auf der anderen Seite Bürgerinnen und Bürger mitunter 17 Prozent oder gar 20 Prozent Zinsen an die Banken zahlen müssen, halte ich für unanständig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Das halte ich deshalb für unanständig, weil das immer nur in eine Richtung geht. Viele Banken kennen immer nur eine Richtung. Wenn die Refinanzierungskosten hoch sind, dann geben sie diese hohen Kosten weiter. Das ist schnell zu erläutern. Man bekommt aber selten einen freundlichen Brief mit dem Hinweis, dass die Refinanzierungskosten günstiger geworden sind und dass es deshalb für den Kunden günstiger wird. Das ärgert uns alle, ganz gleich, welcher Fraktion wir angehören, welcher Partei wir angehören. Auf der einen Seite wird versucht, richtig Kasse zu machen. Auf der anderen Seite, wenn etwas nicht funktioniert, soll der Staat einspringen - das sind übrigens auch die Kunden, nämlich die Steuerzahler -, dann wiederum zeigt sich ein demütiges Verhalten. Ich denke, das wird auf Dauer nicht funktionieren. Deshalb müssen wir hier auch ganz klare Worte finden. Jetzt geht es natürlich darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Lösung zu finden. Dazu gibt es in den heute vorliegenden Anträgen verschiedene Vorschläge. Man kann es sich einfach machen, indem man banal fordert, eine Obergrenze festzusetzen. Ich halte diesen Vorschlag, mit Verlaub, für sehr schlecht. Eine Obergrenze einzuziehen, ist meiner Meinung nach auch falsch, weil das der marktwirtschaftlichen Realität und der Vielfalt der angebotenen Preismodelle bei Girokonten nicht gerecht wird. Dass die Linken da zusammenzucken, ist klar, da sie mit Marktwirtschaft nicht so viel am Hut haben. Die Zinssätze im Test variieren zwischen 6 und 17 Prozent. Da muss man genau hinschauen, damit wir den Verbrauchern nicht einen Bärendienst erweisen. Der Kollege Wanderwitz hat eben erläutert, wie unterschiedlich die Berechnungsgrundlagen sind. Bei dem einen Girokonto ist die Kontoführung kostenlos, was viele schätzen; vielleicht kostet dafür aber eine beleggebundene Überweisung etwas mehr, oder der Dispozins liegt etwas höher. Bei einem anderen Girokonto wird dagegen eine Kontoführungsgebühr erhoben; vielleicht liegt dafür aber der Dispozins etwas niedriger. Natürlich wird die Gebührenhöhe auch davon beeinflusst, wie engmaschig das Filialnetz ist. Ich selbst komme aus Rheinland-Pfalz, einem ländlich geprägten Raum. In vielen Regionen sind wir dankbar dafür, dass dort einige Banken noch Filialen haben, während andere Banken sich schon zurückgezogen haben. Ein Filialnetz kostet Geld. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!) Das muss natürlich, sozial gerecht, mischfinanziert werden, also nicht nur von denen, die ein kleines Portemonnaie haben. All das muss in die Überlegung einfließen, ob wir nicht, wie ich vorhin sagte, dem Verbraucher einen Bärendienst erweisen, wenn wir eine starre Obergrenze einziehen. Ich glaube, dass diese Lösung dem Gesamtkomplex nicht gerecht wird und zur Folge haben würde, dass einige kleinere Banken nicht mehr im ländlichen Raum vertreten wären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist meiner Meinung nach der staatsdirigistische Ansatz nicht die richtige Lösung. Dass es aber klare Regeln braucht, wie Zinssätze anzupassen sind, darin sind wir uns sicherlich alle einig. Es gibt einen klaren Grundsatz, dem Geltung verschafft werden muss: So stark wie die Sollzinsen in Hochzinsphasen steigen, genauso stark müssen sie auch in Niedrigzinsphasen sinken. Einen starken Verbündeten bei der Durchsetzung dieser Maxime haben wir im Bundesgerichtshof. Er hat im April 2009 erneut entschieden, dass auf der Basis des geltenden Rechts eine Anpassungssymmetrie der Zinssätze der Banken nach oben und nach unten bestehen muss. Neue gesetzliche Regelungen sorgen zwar immer für eine schöne Schlagzeile, aber meiner Meinung nach besteht überhaupt kein Gesetzesdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es hilft doch keinem Bürger, wenn er sich eine weitere Drucksache anschauen kann - das macht ja nur bedingt Spaß -, sondern dem Verbraucher hilft es, wenn die vorhandenen gesetzlichen Regelungen auch effektiv und nachhaltig durchgesetzt werden. Es gibt zum Beispiel das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, gemäß dem die Art und Weise der Anpassung des Sollzinssatzes im Kreditvertrag anzugeben ist. Hier richte ich meine Aufforderung an die Finanzaufsicht, gegen vielfache Rechtsverstöße und Missverständnisse vorzugehen, und an die Kartellbehörden, genau zu prüfen. Abschließend möchte ich sagen: Es liegen einige Lösungsvorschläge vor. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben haben, die untersuchen soll, wie sich die mit der Kontoführung verbundenen Kosten flächendeckend entwickeln, damit wir eine solide Basis für unser Handeln erhalten, statt - davor warne ich noch einmal - dem Verbraucher einen Bärendienst zu erweisen. Wir werden also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern als Verbraucherministerium weiter am Thema dranbleiben und dafür sorgen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nach wie vor ein flächendeckendes Filialnetz vorfinden und die Zinssätze so verbraucherfreundlich wie möglich gestaltet werden. Andere Regierungen haben hier ja, als sie etwas zu sagen hatten, nichts getan. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Carsten Sieling (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt haben wir also gehört, was sich die Regierung vorstellt. Die Staatssekretärin hat gesagt, dass sie sich ärgert (Heiterkeit bei der SPD) und dass alles, was wir diesbezüglich vorfinden, unanständig ist. Dann hat sie über Lösungen gesprochen. Aber ich habe hier nichts anderes gehört, als dass alle Lösungen, die in der Diskussion sind, infrage gestellt werden und dass die kritischen Punkte und die Problemlagen beschrieben werden. Ich erwarte etwas anderes. Es reicht nicht, eine Studie in Auftrag zu geben. Das Problem ist schließlich seit längerem bekannt. Das Ministerium muss zügig eine Lösung vorlegen und darlegen, in welche Richtung es gehen soll; darum geht es. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ansonsten - wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, Frau Staatssekretärin - reicht Ihre Darbietung zu nicht viel mehr als vielleicht dazu, irgendwann einmal die Oppositionsführerin in Rheinland-Pfalz zu werden. Das kann es aber nicht sein. (Zurufe bei der FDP: Oh! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) - Dass es so kommen wird, wissen wir alle. Von daher brauchen wir uns darüber jetzt nicht aufzuregen. Ich möchte darauf eingehen, in welche Richtung das Konzept gehen muss. Wir werden darüber reden müssen, wie man ein entsprechendes Konzept verbindlich machen kann und welche nachvollziehbaren und umsetzbaren Regeln es geben soll. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gerade wenn man die Entgleisungen in den letzten Monaten sieht, ist es natürlich vom Grundsatz her richtig, einen Referenzzinssatz zu nehmen, auf den man einen Korridor setzt. Die Kritik an einem solchen Vorschlag, den unter anderem die Staatssekretärin gemacht hat, lautet: Die Banken haben unterschiedliche Geschäftsmodelle. - Natürlich muss der Korridor so beschaffen sein, dass keine Bank gezwungen ist, ihn voll auszunutzen. Vielmehr müssen sich andere Kostenpositionen kalkulatorisch wiederfinden. Wenn eine Bank Girokonten führt, muss man berücksichtigen, welche Fixkosten und welche variablen Kosten - zum Beispiel für Überweisungen - damit einhergehen. Wir brauchen einen Rahmen, der marktwirtschaftlichen Wettbewerb der Banken um unterschiedliche Dinge ermöglicht. Dieser fehlt bislang. Ich weiß gar nicht, warum man die Korridoridee kleinredet und auf die unterschiedlichen Geschäftsmodelle verweist. Vielmehr ist ein ordentlicher Rahmen erforderlich, in dem sich die unterschiedlichen Geschäftsmodelle wiederfinden. Dann konkurrieren die Finanzinstitute endlich miteinander. Sie tun das bislang nicht und erhöhen nur die Dispozinsen. Das ist wirklich unanständig. Darin gebe ich Ihnen recht. (Beifall bei der SPD) In diese Richtung muss es also gehen. Ich möchte nun noch ein Argument aufnehmen, das in der Debatte von Ihnen, Herr Kollege Schweickert, genannt worden ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Dispozinsen einen Bezug zum vorhandenen Ausfallrisiko haben müssen. Es ist völlig richtig, dass ein solcher Bezug vorhanden sein muss. Wenn wir uns die Realität anschauen, müssen wir jedoch feststellen, dass es keinen Bezug mehr gibt. Ich hoffe, darin sind wir uns einig. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Trotzdem muss der Dispozins, der Überziehungszins, immer höher sein!) - Er darf auch immer höher sein. - Es darf aber nicht sein, dass man, wenn man noch im Disporahmen ist, 17 Prozent und, wenn man den Disporahmen überschreitet - das ist noch schlimmer -, sogar bis zu 25 Prozent Zinsen zahlen muss. Da besteht kein Bezug mehr zum Ausfallrisiko. Deshalb muss man an dieser Stelle einschreiten. (Beifall bei der SPD - Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja, völlig richtig!) Es ist richtig und notwendig, hier das Kartellamt ins Spiel zu bringen. Jeder, der das fordert - auch Sie haben das getan -, ist auf dem richtigen Weg. Aber man kann noch weitergehen. - Wie ich sehe, ist der Staatssekretär Kampeter, der ebenfalls damit befasst ist, wieder anwesend. Da die Entwicklung im Bankensektor, die zu einer völligen Entkoppelung von den Realitäten geführt hat, in den Zuständigkeitsbereich der Finanzaufsicht fällt, stellt sich die Frage, warum nicht auch die BaFin für diese Verbraucherfragen zuständig ist. Herr Staatssekretär Kampeter, wie ich in der Zeitung gelesen habe, geben Sie als Amtsvertreter von Herrn Schäuble Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie auch Ihren Staatssekretärskollegen gern einmal ein paar Hinweise und Anweisungen. (Zuruf von der FDP: Das sollte ein Staatssekretär auch tun! Sonst würde er nicht arbeiten!) Machen Sie das an dieser Stelle! Sorgen Sie dafür, dass die Dispozinsen endlich begrenzt werden! Seien Sie eine Regierung der Tat! Darauf warten wir. Tun Sie etwas! Das brauchen die Verbraucherinnen und Verbraucher. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Norbert Schindler für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Schindler (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Gäste auf den Tribünen! Meine Damen und Herren hier im Plenum! Es ist gut, dass wir über dieses Thema reden. Es grenzt schon an Unverschämtheit, was sich manche Bankenvorstände erlauben. Darin sind wir uns alle in diesem Saal mit Sicherheit einig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es kann nicht sein, dass zwischen 8 und 17 Prozent Überziehungszinsen beim Dispo berechnet werden. Kommt dann noch ein Zuschlag von 4 Prozent obendrauf, sind es 20 oder 21 Prozent. Nun ist aber die Frage, was wir in diesem Staat noch alles reglementieren sollen. Ich komme aus dem Sparkassenbereich Rhein-Haardt. Wenn Sie in den Test der Stiftung Warentest schauen, stellen Sie fest, dass die zweitbeste Sparkasse mit 8 Prozent meine Sparkasse ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich weise nur darauf hin, dass man auch als Verwaltungsratsmitglied auf die Geschäftspolitik der Vorstände einwirken kann. Dies kann man auch im Genossenschaftsbereich tun. Aber wie "Warentest" mit Unterstützung des Bundes, also des Steuerzahlers, völlig zu Recht solche Vergleiche anstellt und so den Markt anschiebt, das war eine gute Berichterstattung. Nur muss der Gesetzgeber in all diesen Bereichen fragen, worin ein Korridor bestehen könnte: Sind es 3 oder 5 Prozent über dem Referenzzins der Europäischen Zentralbank? Derzeit liegt er bei zweijährigen Kreditaufnahmen der Banken bei 1,32 Prozent. Bei zehnjährigen Kreditaufnahmen - der Fachbegriff ist DGZF - liegt der Zins bei 2,7 Prozent. Daraus wäre zu entwickeln, was die Banken darüber hinaus nehmen dürfen. Auf der anderen Seite reden wir vom vollständig geschäftsfähigen, mündigen Bürger. Wem die Abrechnung nicht passt, wer mit Ärger feststellt, dass 15 Prozent Zinsen genommen werden, zu denen vielleicht noch Einzelabrechnungen in Höhe von 4 Cent bis zu 20 Cent pro Überweisung und Kosten für die Kontoführung pro Monat kommen, der sollte sich die schwäbische Hausfrau zum Vorbild nehmen. Sie bemüht sich, von den in Rede stehenden 41 Milliarden Euro nichts in Anspruch zu nehmen. Das wäre doch die Konsequenz. Im Schnitt nehmen 25 Prozent der Bankkunden in der Bundesrepublik Deutschland Überziehungskredite in Anspruch, und zwar in Höhe von einem bis drei Monatseinkommen. Da muss man jeden Kreditnehmer einmal an die Kandare nehmen und ihn fragen: Warum dulden Sie das so? Können Sie nicht einmal fünf, sechs Monate etwas weniger ausgeben, um sich selbst aus der Zwangsjacke "Kontoüberziehung" zu befreien und beim laufenden Konto nicht mehr im Minus zu stehen? Diese Chance haben der selbstständig-mündige Bürger und natürlich auch die Bürgerin. Vor diesem Hintergrund appelliere ich an uns alle, wenn wir eine solche Diskussion führen, zwar darauf hinzuweisen, mit welcher Unverschämtheit manche Banker dabei vorgehen, aber auch deutlich zu machen, dass jeder das Recht hat, selbst solche Zinssätze abzuwehren. Dann soll er die Bank wechseln; dann soll er ein ernstes Gespräch führen. Das ist auch möglich, indem man solche Banker in der eigenen Region vorführt und ihnen klar sagt, dass man so miteinander nicht umgeht. Wenn man immer nur hilflos nach dem Gesetzgeber ruft und ihn auffordert, diese oder jene Latte anzulegen, dann führt dies zu Zwangswirtschaft. Lieber Herr Troost, das haben wir mit Totalvorschriften in der Deutschen Demokratischen Republik erlebt, (Zurufe von der LINKEN: Oh!) und bankrott seid ihr dann auch geworden. Ein bisschen Wettbewerb darf ja sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abschließend noch ein mahnendes Wort an die Banken. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, bevor Sie das mahnende Wort sprechen, wollte die Kollegin Maisch noch eine Zwischenfrage stellen. Norbert Schindler (CDU/CSU): Bitte schön. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich danke Ihnen, Herr Kollege. - Mit dem Thema des Bankenwechsels habe ich mich natürlich befasst. Ich habe geschaut, welche Banken Filialen in meiner Region haben und wie hoch die Zinssätze sind. Bei mir in Kassel sind es bei Commerzbank, Kasseler Sparkasse, Genossenschaftsbank zwischen 13,5 und 12,9 Prozent. Wenn man nicht zu einer Direktbank gehen will, weil man seinem Bankberater ins Gesicht schauen will, dann frage ich Sie bei solchen Preisen, die eigentlich sehr ähnlich und alle zu hoch sind, wo denn der Wettbewerb ist. Norbert Schindler (CDU/CSU): Frau Kollegin, der recht große Unterschied zwischen den Zinssätzen von Direktbanken auf der einen Seite und den Sparkassen sowie Genossenschaftsbanken auf der anderen Seite lässt sich dadurch erklären, dass uns die Sparkassen und Genossenschaftsbanken in der Fläche viel besser versorgen als etwa die Banken in Schottland. Kollegin Klöckner hat darauf hingewiesen: In Schottland ist die nächste Bankfiliale durchschnittlich 30 Kilo-meter entfernt; in der Bundesrepublik Deutschland sind es zwei oder drei Kilometer. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage beantworten!) - Ich wollte nur feststellen, dass es zwischen den einzelnen Bereichen Unterschiede geben kann. Jeder, der die Unterschiede kennt, kann doch ein ernstes Gespräch mit der Bank führen oder einen Wechsel vornehmen. Ich mache das; Sie selbst machen das doch auch. Ich akzeptiere keinen Zinssatz von 12 oder 15 Pro-zent. Es steht doch jedem frei, ein solches ernstes Gespräch zu führen. Jeder hat zudem die Freiheit, sich zurückzunehmen und das Auto ein Jahr später zu kaufen. Leute, so ist es doch! Manche sind offenbar der Meinung: Das Konto zu überziehen, ist sportlich; das tun wir. Die Konsumgesellschaft ist angesagt. - Darauf beziehe ich mich in meiner Rede. Nun möchte ich auf etwas anderes zu sprechen kommen; denn es geht nicht nur um die eigene Verantwortung. Der Euribor-Zinssatz betrug am 1. April 2001 4,56 Prozent, am 1. April 2004 2,07 Prozent, am 1. Juni 2008 4,86 Prozent, am 1. Oktober 2009 0,75 Prozent und am 1. August 2010 0,9 Prozent. Obwohl die Zinssätze um fast 4 Prozentpunkte variieren, hat es bei den Zinsen, die in den zehn Jahren draußen berechnet wurden, keine gravierenden Veränderungen gegeben. Es ist schon eine Unverschämtheit, wie sich da Banken bereichert haben. Der Geschäftspartner, der Kunde kann aber probieren, seine Macht auszuspielen; das ist nicht immer nur dem Gesetzgeber zu überlassen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber dann brauchen wir keinen Verbraucherschutz mehr! Dann können wir das alles über den Markt machen!) - Herr Kollege, sind wir nicht volljährig, selbstständig und mündig genug? Alle rufen nach dem Gesetzgeber, und nur wenig später reden wir über zu viel Bürokratie. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Dann verlängern Sie Ihre Redezeit, Herr Kollege Schindler. Norbert Schindler (CDU/CSU): Bitte schön. Caren Lay (DIE LINKE): Herr Kollege, Sie haben gesagt, man müsse nicht alles per Gesetz regeln. Wir haben nichts anderes vorgeschlagen, als die Regelungen, die es für den Zahlungsverzug längst gibt, jetzt auch auf Dispokredite anzuwenden. Wie können Sie dann Ihre Argumentation aufrechterhalten, dass dies zu einer Überregulierung des Marktes führen würde? Wir wollen nur, dass bestehende Gesetze, die in anderen Fällen offensichtlich auch von der Koalition akzeptiert werden, auf einen Bereich ausgeweitet werden, in dem es keine Regulierung gibt. Warum kann das, was in anderen Bereichen längst Stand der Gesetzgebung ist, nicht auch für Dispokredite gelten? Norbert Schindler (CDU/CSU): Ich kann nur an die Worte der Staatssekretärin Klöckner erinnern. Sie sagte zu der Frage, ob wir ein Gesetzes- oder ein Vollzugsdefizit haben, dass wir hier ein Vollzugsdefizit mehr haben. Die Überregulierung in diesem Staat wird in anderen Debatten in diesem Haus bis zum Exzess gegeißelt. In der angesprochenen Frage ist Selbstverantwortung in der Geschäftspartnerschaft angesagt, auch vonseiten der Bankkunden. Wir beklagen doch zu Recht, dass die Kunden ihre Konten überziehen. Wenn wir das alles in Gesetzesform gießen, lassen die nächsten Änderungen nicht lange auf sich warten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Das, was die Linken wollen, klappt doch nur mit Kontrahierungszwang!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Die Linke zu Zinssätzen für Dispositions- und Überziehungskredite auf Drucksache 17/2913 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke - Federführung beim Ausschuss für Verbraucherschutz - abstimmen. Wer stimmt für den Vorschlag der Linken? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der Koalitionsmehrheit abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung beim Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der Koalitionsmehrheit angenommen. Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zu Zinssätzen für Überziehungskredite auf Drucksache 17/3059. Dieser Antrag soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist ebenfalls strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Verbraucherschutzausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, also Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2011 (HBeglG 2011) - Drucksache 17/3030 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Steffen Kampeter für die Bundesregierung das Wort. Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was mit dem Titel "Haushaltsbegleitgesetz 2011" so technisch daherkommt, ist eigentlich Bestandteil eines wirklich fundamentalen Wechsels in der Haushalts- und Finanzpolitik. Die alte Haushalts- und Finanzpolitik, insbesondere die der letzten zwei Jahre, basierte auf der Grundlage "Wachstum durch Schulden". Wir erkennen jetzt, dass diese These zumindest in Zukunft nicht weiter tragfähig ist. Schuldenwachstum hat nicht zu mehr wirtschaftlichem Wachstum geführt. Vielmehr erkennen wir in diesen Tagen, dass diejenigen Staaten, die konsolidieren, sehr viel schneller, sehr viel nachhaltiger und sehr viel überzeugender aus der Krise herausgekommen sind. Aus diesem Grund haben wir uns, beginnend mit der Kabinettsklausur und der Auflegung des Zukunftsprogramms im Juni, entschlossen, unsere Haushalts- und Finanzpolitik unter den Oberbegriff "Wachstum durch Konsolidierung und Reform" zu stellen. Wir glauben, dass dies für die Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, für die Gestaltung der Phase nach der Krise eine zukunftsfähige Konzeption ist. Die ersten Erfolge, die ersten Früchte dieser Politik können wir an der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung dieses Jahres ablesen. Dies ist eine Gemeinschaftsleistung derjenigen, die in der Krise die Ärmel hochgekrempelt haben - beispielsweise die Tarifvertragsparteien -, aber es ist auch eine Leistung kluger Politik, wie sie zum Beispiel bei der Kurzarbeiterregelung betrieben wurde, die sich als erfolgreich erwiesen hat. Es ist aber auch festzuhalten, dass wir angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung einen Grundsachverhalt nicht vergessen dürfen. Die Wirtschaftslage ist deutlich besser als die Haushaltslage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Bundeshaushalt, über den wir in der vorvergangenen Woche diskutiert haben, weist mit fast 60 Milliarden Euro noch immer eine der höchsten Nettokreditaufnahmen in der Finanzgeschichte auf. Deswegen ist wachstumsfreundliche Konsolidierung das Gebot der Stunde. Das Zukunftspaket, der Bundeshaushalt und das Haushaltsbegleitgesetz 2011 sind die Bausteine dieser wachstumsfreundlichen Konsolidierung. Die Ausgaben werden gesenkt. Die Schulden und die Nettokreditaufnahme werden gesenkt. Die strukturellen Defizite der öffentlichen Haushalte werden gesenkt. Zugleich halten wir die Investitionen stabil und stärken Bildung und Forschung. Das sind die konkreten Bausteine, mit denen wir Zukunft gestalten. Das sind die konkreten Bausteine für eine nachhaltige Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik der christlich-liberalen Koalition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist auch eine gesellschaftspolitische Weichenstellung, die wir mit diesem Wechsel in der Haushaltspolitik vornehmen. Freiheit und Verantwortung stehen im Kern unserer Haushaltspolitik. Wir treten damit der Behauptung entgegen, dass staatliche Bevormundung und verantwortungslose Verschuldung ein zukunftsfähiges, ein nachhaltiges Konzept sind. Das unserer Politik zugrundeliegende Menschenbild bedeutet, dass wir den Menschen etwas zutrauen. In der letzten Debatte sind die unterschiedlichen Auffassungen in diesem Haus deutlich geworden. Wir sind der Meinung: Der Staat kann nicht alle Probleme der Welt lösen. Wir setzen - auch durch die Zurücknahme von staatlichen Aktivitäten - auf mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Der Mensch ist zur Freiheit bestimmt; wir müssen sie ihm auch lassen. Unsere Haushaltspolitik ist daher darauf ausgerichtet, die Staatsquote in diesem Land zu senken und damit die Freiräume für die Bürgerinnen und Bürger auszuweiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Otto Fricke [FDP]: Endlich etwas mehr FDP in der CDU!) Mit dem Zukunftspaket und dem Haushaltsbegleitgesetz gehen bestimmte sozialpolitische Maßnahmen einher. Der Bundeshaushalt besteht zu weit über 50 Prozent aus Sozialausgaben. Unsere Konsolidierungsstrategie setzt nicht auf Steuererhöhungen, sondern auf Ausgabensenkung und fördert damit das Wachstum. Wir müssen uns daher auch mit den Sozialausgaben befassen. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das geht nicht anders!) Viele in diesem Hause unterliegen dem Missverständnis, dass viel Geld für Soziales viel soziale Gerechtigkeit bedeutet. Das Gegenteil ist der Fall: Ein Sozialstaat, der nicht treffsicher agiert und die Ziele, die er vorgibt, nicht erreicht, wird von den Menschen nicht akzeptiert. Ein Sozialstaat, der viel Geld ausgibt und wenig erreicht, delegitimiert sich in seinem Kern. Einen solchen Sozialstaat wollen wir nicht. Wir wollen einen treffsicheren Sozialstaat, der in den Bereichen, in denen er Geld ausgibt, die Ziele erreicht, die er ankündigt. Ich will einige Beispiele für die Steigerung von Treffsicherheit und mehr Fairness bei staatlicher Ausgabenpolitik aus unserem Zukunftspaket nennen. Beispiel Elterngeld. Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung. Künftig wird jeder Anspruch auf Elterngeld haben, der in der entsprechenden Situation ist. Es wird nur in bestimmten Bereichen auf andere Lohnersatzleistungen angerechnet, weil wir vermeiden wollen, dass es eine Doppelauszahlung von Lohnersatzleistungen gibt. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei armen Familien!) Das ist fair, insbesondere dann, wenn man unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit nicht ausschließlich diejenigen betrachtet, die Leistungen empfangen, sondern auch diejenigen einbezieht, die die Leistungen zu finanzieren haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Soziale Gerechtigkeit definiert sich auch über die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Deshalb ist es richtig und bedeutet es mehr soziale Gerechtigkeit, wenn wir Doppelforderungen ausschließen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl? Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Aber selbstverständlich, Frau Kollegin Kressl. Nicolette Kressl (SPD): Herr Kollege Kampeter, wären Sie so freundlich, uns zu erklären, warum im Haushaltsbegleitgesetz vorgesehen ist, dass die Frau eines sehr vermögenden Partners, die zehn Jahre nicht gearbeitet hat, weiterhin Elterngeld bekommen wird, obwohl das Elterngeld eine Lohnersatzleistung ist, wie Sie eben behauptet haben. Das hat doch mit Lohnersatzleistung nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN) Ihrem Gesetz fehlt völlig die Logik. (Beifall bei der SPD - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Als ob die Frau nie arbeitet! Das gibt es nicht mehr!) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Kollegin Kressl, das ist ein völlig anderer Sachverhalt, den Sie hier vortragen. Es entspricht der kontinuierlichen Diskriminierung der Erziehungsleistung in der Familie, dass Sie diesen Sachverhalt als Beispiel nennen. Jener Bevölkerungskreis, der eine Lohnersatzleistung - wir werden im Oktober noch über das Thema Hartz-IV-Leistungen sprechen - und damit eine umfassende existenzsichernde Leistung inklusive der für Kinder bekommt, würde doppelt gefördert, wenn wir ihm mit steuerlichen Mitteln finanzierte zusätzliche Lohnersatzleistungen geben. Zum einen wäre das nicht angemessen. Zum anderen wäre das im Hinblick auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und das Lohnabstandsgebot ein Fehlanreiz; das wäre unfair. Durch unsere Politik hingegen sorgen wir für mehr soziale Gerechtigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das gilt im Übrigen auch für die Veränderungen, die wir beim Heizkostenzuschlag vornehmen. Dieser Heizkostenzuschlag geht zurück auf eine Explosion der Heizkosten. Dieser Zustand ist nicht mehr existent. Die Rücknahme dieses Heizkostenzuschlags ist daher nichts anderes als eine Anpassung an die realen Verhältnisse. Es wäre unfair und sozial ungerecht, ihn beizubehalten. Wenn wir im Kontext unserer Treffsicherheitsstrategie für den Sozialstaat darüber hinaus auch den Wildwuchs bei den arbeitsmarktpolitischen Leistungen beenden, die nicht zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung führen, dann bedeutet das sowohl für die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die diese Leistungen finanzieren, als auch für diejenigen, die von Brücken in Beschäftigung profitieren, ein Mehr an Fairness und damit ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, und das ist das Credo des Zukunftspaketes, das ich Ihnen hier heute vorstelle. Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass die Bundesregierung gut daran tut, in diesem Bereich auch international Vorbild zu sein. Wir stellen fest, dass immer mehr Staaten in der Welt aufgrund ihrer Haushaltspolitik in Schwierigkeiten geraten. Das Beispiel Griechenland ist in aller Munde. Es ist ein Beleg dafür, dass wir in Europa und weit darüber hinaus nur dann dauerhaft stabile Verhältnisse erreichen können, wenn wir dauerhaft stabile Haushalte haben. Dieses Credo einer nachhaltigen Finanzpolitik, das wir zum Maßstab dieses Haushaltsbegleitgesetzes gemacht haben und auch zukünftig beachten werden, macht es Deutschland möglich, im internationalen Kontext für eine stärkere Konsolidierungspolitik in Europa einzutreten. Nur wer Vorbild ist, kann von anderen mehr einfordern. Das ist der Unterschied zu 2004/2005, als wir - unter anderen Mehrheitsverhältnissen im Deutschen Bundestag - in Sachen Haushaltspolitik kein Vorbild waren und der europäische Stabilitätspakt mit deutscher und französischer Hilfe verwässert worden ist. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das waren Schröder und Fischer!) Jetzt geht es darum, durch unsere Haushaltspolitik dafür zu sorgen, dass es als legitim angesehen wird, wenn wir von anderen Staaten verlangen, im Gleichschritt mit uns zu einem Mehr an haushaltspolitischer Konsolidierung und zu einem Mehr an fiskalpolitischer Stabilität zu gelangen. Was wir angestoßen haben, wird jetzt konkret. Die Van-Rompuy-Gruppe wird Ende Oktober ihre Empfehlungen vorlegen. Die Kommission hat am gestrigen Tag mit sechs Gesetzespaketen ihren Beitrag zur Wiedererstarkung des 2004/2005 geschwächten europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes geleistet. Dies zeigt, dass unser Vorbild auf Europa ausstrahlt und es mit gemeinsamem Wirken gelingen wird, die Finanz- und Haushaltspolitik wieder auf einen Kurs zu bringen, der nicht nur die Stabilität der Haushalte, sondern auch die Stabilität unserer gemeinsamen Währung garantiert. Zum Schluss meiner Ausführungen möchte ich deutlich machen: Konsolidierung ist nicht allein zu betrachten. Nur mit Sparen oder Konsolidieren werden wir nachhaltiges Wachstum und Stabilität nicht erreichen. Wir müssen diese wachstumsfreundliche Konsolidierung durch eine Reformstrategie begleiten. Deswegen ist es richtig, dass wir beispielsweise in der Gesundheitspolitik bei den Reformen wieder Tempo aufnehmen und der Gesundheitsminister Rösler heute hier im Parlament engagiert Stellung bezogen hat. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Subvention für die PKV! - Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Beitrag, von der Pharmabranche gesponsert! Da hätten Sie die Firmennamen einblenden müssen!) Auch das ist ein Beleg dafür, dass unsere Konsolidierungsstrategie begleitet wird durch glaubwürdige Reformelemente in anderen Bereichen. So entsteht ein Gesamtbild: Konsolidierung plus Reform. Das ist der Markenkern von wachstumsfreundlicher Konsolidierung. Das ist zukunftsgerichtete Politik. Das ist christlich-liberale Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lobbypolitik! - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Unsozial bis ins Letzte!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was jetzt deutlich wird, ist das Bild von Schwarz-Gelb. Bisher haben Sie sich hinter Ihrem Nichtstun versteckt. Herr Kampeter, die Schulden, die Sie eben genannt haben, haben Sie in den vergangenen Jahren mit verursacht. Es gibt einen guten Grund für diese Schulden. Hätten wir die Konjunkturprogramme nicht aufgelegt, wäre die Situation in diesem Land jetzt noch viel schlimmer. Dann hätten wir nicht nur 3 Millionen Arbeitslose. Das vergessen Sie gerne. (Beifall bei der SPD - Otto Fricke [FDP]: Gerade die Abwrackprämie!) Das Bild, das Sie von der Zukunft in diesem Land gezeichnet haben, dass Sie von Freiheit und Verantwortung gezeichnet haben, zeigt, was uns in diesem Land erwartet. Ich habe den Eindruck, dass es bei Ihnen um Freiheit von Verantwortung geht, insbesondere bei denen, die es sich eigentlich leisten könnten, Verantwortung zu übernehmen. (Beifall bei der SPD - Otto Fricke [FDP]: So versteht ihr Freiheit!) Ich will einmal aufzeigen, welche Auswirkungen dieses Gesetz, das aus 23 Artikeln besteht, im Sommer 2011 haben wird. Im Sommer 2011 wird es zwei Lager in diesem Land geben. Da wird es die Familie geben, die mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen will. Das wird teurer für sie, weil Sie eine neue Steuer auf Flüge einführen. (Otto Fricke [FDP]: Sind Sie dagegen?) - Herr Fricke! (Otto Fricke [FDP]: Sind Sie dagegen?) - Bisher sind Sie - zur Bundestagswahl, in den Koalitionsverhandlungen, bis in den Mai hinein - damit angetreten, dass Sie Steuern senken wollen. (Otto Fricke [FDP]: Nein, ob Sie dagegen sind!) Sie haben gesagt, dass Sie kein Gesetz unterschreiben, in dem nicht Steuersenkungen drin sind. Sie wollen keine Steuererhöhung. (Otto Fricke [FDP]: Nein!) Jetzt tun Sie das Gegenteil dessen, Herr Fricke. Sie führen eine neue Steuer ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zu denjenigen, die wenig verdienen. Ich habe heute in der Post den Brief einer Rentnerin gehabt. Herr Kampeter, Sie haben das mit dem Wohngeld gerade angesprochen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Wohngeld erhöht. Wir haben für diejenigen, die gerade so viel verdienen, dass sie nicht Hartz-IV-Empfänger sind, und die Rentner, die eine relativ niedrige Rente haben und daher Wohngeld erhalten, den Heizkostenzuschuss eingeführt. Da haben Sie mit zugestimmt. Die damalige Begründung waren nicht die hohen Preise, sondern es waren vor allem die niedrigen Löhne und Renten, die wir stützen wollten. Ich kann Ihnen also von einer Bürgerin aus meinem Wahlkreis berichten, die mir vorgerechnet hat, wie viel sie im Monat hat: Nettorente 588 Euro, Wohngeld 60 Euro, Heizgeld 24 Euro. Das heißt, sie verliert in einem Jahr Monat für Monat die 24 Euro. Sie sagt, sie habe nicht einmal mehr Geld, um die GEZ-Gebühren für den Fernseher zu bezahlen. Das sind Leute, die an dem Letzten knabbern, was sie haben. Diese Menschen bluten in diesem Land für Ihre Politik. (Beifall bei der SPD) Es geht weiter mit denen, die Sie eigentlich entlasten wollten, nämlich den Arbeitnehmerhaushalten. Diese werden belastet. Sie werden belastet durch höhere Sozialabgaben - höhere Sozialabgaben sind eine Belastung -, auch bei der Krankenversicherung, weil es Ihnen nicht gelingt, die Kosten in den Griff zu bekommen. Im Gegenteil, die private Krankenversicherung wird mit 1 Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung gestützt. Es geht weiter mit der Pharmaindustrie, die Ihnen die Gesetze diktiert, was dazu führt, dass Mehrausgaben in Milliardenhöhe entstehen. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die jeden Tag arbeiten gehen, werden das bezahlen. Das heißt, weniger Netto vom Brutto. Das ist das Gegenteil dessen, was wir bräuchten, und auch das Gegenteil dessen, was Sie versprochen haben. Dazu kommen die Kürzungen im Bereich des Arbeitslosengeldes. Der Zuschlag für diejenigen, die Arbeitslosengeld I erhalten haben und dann Arbeitslosengeld II bekommen, wird komplett gestrichen. Das fehlt bei der Binnennachfrage, und es fehlt natürlich den Menschen mit den geringsten Einkommen. Ich glaube, sie hätten sogar Verständnis dafür, dass sie etwas geben sollen; denn sie wissen: Die Situation ist kritisch. - Aber wenn man einmal den Blick auf Europa wirft und sich die Proteste gestern in Spanien ansieht, dann muss man eines festhalten: Sie werden eine Konsolidierungsstrategie, einen Ausgleich des Staatshaushalts nur hinbekommen, wenn Sie die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, wenn es sozial gerecht zugeht. Das Urteil über dieses Gesetz ist ganz eindeutig: Es ist nicht sozial gerecht und nicht ausgewogen. Im Gegenteil, es ist sozial ungerecht, weil die FDP sich zu 100 Prozent durchgesetzt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vermögende in diesem Land werden nicht herangezogen. Auch eine Finanztransaktionsteuer gibt es nicht. (Otto Fricke [FDP]: Das war die, die Herr Steinbrück wollte, nicht?) Herr Schäuble hat vorige Woche in einem Hintergrundkreis des Wirtschaftsrates - so heißt das, glaube ich, bei der CDU - gesagt, er sei kein Freund der Finanztransaktionsteuer. Die Krise auch der öffentlichen Haushalte haben wir nur, weil sich an den Finanzmärkten Menschen mit sehr viel Geld verspekuliert haben. (Zuruf des Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter) - Herr Kampeter, Sie haben die Finanztransaktionsteuer in Ihre mittelfristige Finanzplanung geschrieben. 2 Milliarden Euro wollen Sie darüber ab 2012 jedes Jahr einnehmen. Herr Schäuble aber hat erklärt, er sei kein Freund davon. Er wird sie in Europa auch nicht durchsetzen. Das ist doch der Punkt. Er hat uns hier etwas vorgemacht. Ihnen geht es nur darum, die Armen zu schröpfen und die Reichen zu schonen, meine Damen und Herren. So bitter ist das. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Pfui! - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das ist so was von flach! Das ist erschreckend!) - Tut mir leid. Ich kann nur das bewerten, was hier vorliegt und was Sie bisher beschlossen haben. Ich will Ihnen auch sagen, was unsere Gegenvorschläge wären. Es geht auch gerecht. Nehmen Sie das zum 1. Januar 2010 - man kann es nicht oft genug sagen - in Kraft getretene Gesetz, das den Hoteliers 1 Milliarde Euro einbringt, zurück! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Norbert Barthle [CDU/CSU]: Für den Bund 500 Millionen!) Nehmen Sie noch die Geschenke für die Unternehmen und die reichen Erben dazu! Dann sind wir bei 3 Milliarden Euro. Erhöhen Sie, wie es ursprünglich auch in der CDU, als sie - zumindest inhaltlich - noch Volkspartei war, Konsens war, den Spitzensteuersatz in Deutschland! Die Leute sind bereit, ein Stück weit zurückzugeben, damit in diesem Land sozialer Frieden herrscht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das tun Sie aber nicht; im Gegenteil. Als Letztes wollen Sie das Lohnabstandsgebot dadurch erreichen, dass Sie bei den Hartz-IV-Empfängern kürzen. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ich denke, wir erhöhen die Sätze! Seit wann kürzen wir?) Herr Kampeter, eine Frau, die von Hartz IV lebt und Mutter wird, hat bisher Elterngeld in Höhe von 300 Euro bekommen. Es nutzt dieser Frau - und dem Kind - nun überhaupt nichts, wenn Sie sagen, das sei systemisch nicht gerecht. Genau das hat der Bundestag hier beschlossen. Wir haben es guten Gewissens getan, weil wir wollten, dass sie diese zusätzlichen 300 Euro bekommt. Sie braucht sie nämlich. Es handelt sich hierbei um diejenigen, die am wenigsten haben und das Geld daher am meisten brauchen. Sie kürzen an dieser Stelle radikal. Das ist das Gesicht von Schwarz-Gelb. Mit Verlaub: Sie machen Politik für die Atomkonzerne und für die Pharmalobby. Bei den Armen aber kürzen Sie. Das ist das Gesicht von Schwarz-Gelb. Das ist ziemlich bitter und kalt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Otto Fricke für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Otto Fricke (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Schneider, es ist schon bemerkenswert, welches Bild von diesem Land Sie zu erzeugen versuchen. Sie mögen weiterhin Ihre Vorurteile haben. Sie werden aber bemerken, dass es Ihnen am Ende nichts nutzt. Gerade als Haushälter müssten Sie doch eigentlich von Zahlen reden und nicht nur von Gefühlen und Vorurteilen. (Joachim Poß [SPD]: So wie Herr Kampeter! Der hat auch nur von Zahlen geredet!) Das passt gar nicht zu Ihnen. Sie sind in der Sache doch viel besser. Ich sage Ihnen einmal, was Sie hätten erwähnen können. Sie hätten es am liebsten getan, haben es aber vermieden. Sie hätten fragen können: Wie hoch war die Arbeitslosenquote vor einem Jahr, und wie hoch ist sie heute? Wie viele Hunderttausend Leute mehr sind mittlerweile in Arbeit, weil die Politik des letzten Jahres - bei aller Kritik - so gut funktioniert hat? Ich kann Ihnen eines sagen: Diese 300 000 Leute, die nun weniger in Arbeitslosigkeit sind, sind es, worauf es uns ankommt. Für Sie kommt es auf Vorurteile an. Für uns kommt es auf Arbeitsplätze an. Darum muss es gehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Joachim Poß [SPD]: Dann müssten Sie ja freiwillig in die Opposition gehen! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben gegen jede Maßnahme gestimmt, die uns durch die Krise gebracht hat!) Herr Kollege Schneider, ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie in Bezug auf das Thema Sparen einmal überlegen, wie man es dem Bürger sagt. Man müsste doch erklären: Ja, es ist in den letzten Jahren in der Tat eine Verschuldung aufgebaut worden. Ja, wir haben eine Rekordverschuldung. Bürger, bitte verstehe: Es ist beim Staat wie bei dir auch. Wenn du zu viele Schulden hast, dann musst du irgendwann auch an deine Ausgaben herangehen. - Diese Ehrlichkeit vermissen wir als Koalition bei Ihnen. Diese Art von Ehrlichkeit wurde doch bisher von Ihnen immer unterstützt. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Aber es geht doch dabei nicht nur um Ehrlichkeit!) Man kann nicht jahrelang immer nur mehr fordern, wenn man am Ende der Krise nicht bereit ist, zu sagen: Wir müssen in der Zeit sparen, um in der Not zu haben. - Diese Koalition spart, (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ja! An der falschen Stelle!) wissend, dass es nicht einfach ist, dies zu erklären. Es ist immer der einfache Weg, wenn man sagt: Wir geben mehr. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Hotels geben Sie auch mehr! Und den Atomkonzernen und der PKV! Denen gibt man!) Sie gehen den einfachen Weg. Sie haben an keiner Stelle gesagt, dass Sie unangenehme Sachen machen wollen. (Joachim Poß [SPD]: Sie bauen doch Pappkameraden auf!) Ich möchte den Bürgerinnen und Bürgern einmal sagen: Sicherlich kann man diese Politik fahren. Natürlich hört es sich im ersten Moment gut an, wenn ein Politiker sagt: Du kriegst das. Das ist gerechter. Das ist sozialer. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jürgen Großmann kriegt das, was er will!) Sie vergessen aber völlig, was am Ende dabei herauskommt. Und das ist spätestens nach einer Legislaturperiode der Fall. Das wäre auch der Fall, wenn Sie wieder an die Macht kämen. Sie würden als Nächstes nicht nur die angebliche Reichensteuer erhöhen. Sie würden machen, was Sie in der Vergangenheit auch gemacht haben: Sie würden die Mehrwertsteuer erhöhen. Nichts anderes würden Sie machen. Und wer würde leiden? Die von Ihnen genannte Dame aus Ihrem Wahlkreis würde leiden. Der Rentner würde leiden. Der Hartz-IV-Empfänger würde leiden. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie senken die Mehrwertsteuer für die Hotels!) Das ist die Politik, die Sie machen, weil Sie nicht bereit sind, zu sparen. Im Endeffekt fordern Sie mehr für alle, um dann am Ende zu sagen: Jetzt müsst ihr es zahlen. Wir präsentieren euch die Rechnung nach der Wahl. - Das ist Ihre Politik. Diese wollen wir nicht mittragen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ein beliebter Vorwurf ist es, etwas als unsozial zu bezeichnen. In einer sozialen Marktwirtschaft, die von der Freiheit zur Verantwortung geprägt ist, Kollege Schneider, wird nämlich sofort erklärt: Nein, das will ich dann nicht. - Dazu kann man sagen: Okay. Man muss sich aber auch die Zahlen ansehen. Ist es denn beim Sparpaket so, dass wir im Verhältnis zum Anteil des Sozialen übermäßig sparen? Nein. Das Gegenteil ist der Fall. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wo spart ihr denn?) Ist denn das, was die Koalition im nächsten Jahr für Soziales ausgibt, prozentual weniger als das, was Sie unter Rot-Grün ausgegeben haben? Nein, auch das ist nicht der Fall. Das ist auch keine Trickserei. Wissen Sie, der große Vorteil ist: Zahlen lügen nicht, und gegen Zahlen kann man nicht allein mit Emotionen ankommen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Doch! Man kann mit Zahlen lügen!) - Sehen Sie, das ist Ihre Reaktion. Für die linke Seite des Hauses ist es so, dass sogar Zahlen lügen. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sehen das doch einseitig! Völlig einseitig!) Wer so Haushaltspolitik macht und so über die Zukunft redet, der kann zukünftigen Generationen nicht ehrlich in die Augen schauen. Das sollten Sie sich merken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Aber bei der PKV und bei den Atomkonzernen draufzahlen!) - Entschuldigung, es war doch gerade so, dass ich gesagt habe: Zahlen lügen nicht. - Dann haben Sie gesagt: Doch, natürlich; das können sie. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Was ist denn mit der 1 Milliarde Hotelsteuer?) Ich muss sagen: Wenn das so ist, haben Sie in den letzten Legislaturperioden, zumindest unter Ihren Finanzministern, ein wirklich interessantes Bild abgeliefert, meine Damen und Herren. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich sage nur: 5 Prozent FDP! Die Zahl lügt auch nicht!) Ich will noch auf das Thema Soziales eingehen. Es hieß, soziale Maßnahmen seien nicht vorgesehen. Unseren Bürgerinnen und Bürgern sage ich: Diese Koalition stellt im Bereich Soziales für die gesetzliche Krankenversicherung 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Für die private Krankenversicherung 1 Milliarde!) - Nein, lieber Kollege Schneider, (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Doch! Es gibt 1 Milliarde für die private Krankenversicherung!) dieses Geld ist nicht für die private Krankenversicherung. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was denn? Das ist doch ein toller Erfolg für euch! Da hat sich die FDP doch durchgesetzt!) Lieber Kollege Schneider, Sie wissen ganz genau, dass diese 2 Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung bereitgestellt werden. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: 1 Milliarde Steuergelder!) Es geht um die Frage, ob Sie sich diesen Zahlen verweigern oder ob Sie diese Zahlen zur Kenntnis nehmen und anerkennen - das ist gerade schon dargelegt worden -, dass im nächsten Jahr aufgrund unserer guten Politik von den gesetzlichen Krankenkassen keine Zusatzbeiträge erhoben werden müssen. Auch dies verschweigen Sie. Meine Damen und Herren, zum Schluss. Es werden noch umfangreiche Beratungen dieses Haushaltsbegleitgesetzes, das sich technisch anhört, stattfinden. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist auch nötig! - Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!) Es kann sicherlich auch noch Verbesserungen geben. Aber eines steht für diese Koalition fest: Die Verbesserungen müssen sich erstens im Rahmen der Verfassung bzw. der Schuldenbremse bewegen, die Sie völlig ignorieren. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sie ja auch!) Zweitens müssen diese Verbesserungen konkret, belastbar und geeignet sein. Ich bin sehr gespannt, welchen Beitrag Sie dazu liefern werden, außer der Wiederholung Ihrer Vorurteile, außer dem Verneinen von Zahlen und außer der Verkennung der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zu Beginn, beste Genesungswünsche an den Herrn Bundesfinanzminister zu senden. Ich hoffe, dass er sein Amt möglichst schnell wieder in vollem Umfang ausüben kann. Denn selbst eine CDU-Rede ist besser als eine FDP-Rede wie die, die Herr Kampeter gehalten hat. (Otto Fricke [FDP]: Das war eine christlich-liberale! - Gegenruf des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, eine schwarz-gelbe!) Ich will zunächst darauf eingehen, dass von einem fundamentalen Wechsel die Rede war. Im Haushaltsbegleitgesetz steht, dass eine Wende in der Haushalts- und Finanzpolitik vollzogen wird und dass es zur Einleitung der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte kommt. (Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Ja! Und das ist sehr gut!) Ich muss schlicht und einfach feststellen, dass das nicht wahr ist. Es gibt keine Wende in der Haushalts- und Finanzpolitik des Bundes, und die Einleitung der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte findet nicht statt. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ja, ja! Mehrausgaben gibt es nach Ihnen ja auch nicht!) Eben wurde gesagt: Zahlen lügen nicht. - Hören Sie sich die Zahlen an: Im nächsten Jahr machen wir rund 60 Milliarden Euro neue Schulden, (Otto Fricke [FDP]: Nein!) und die Koalition sagt, dass in dieser Legislaturperiode insgesamt 200 Milliarden Euro neue Schulden gemacht werden. Das ist die Realität. Das Markenzeichen Ihrer Koalition sind Kürzungen bei den Ärmsten der Gesellschaft. Das ist die Realität. Ich höre immer wieder, dass Sie treffsicher vorgehen wollen. Lassen Sie uns doch einmal über das Elterngeld reden. Wie ist denn da die Praxis? Bei wem kürzen Sie das Elterngeld? Sie kürzen es ausschließlich bei den Hartz-IV-Empfängern. Eine Millionärsgattin bekommt natürlich den bisherigen Betrag auch weiterhin. Selbst jemand, der nicht gearbeitet hat, bekommt 300 Euro pro Monat. Aber bei den Ärmsten streichen Sie. (Otto Fricke [FDP]: Nein! - Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Sie wollen die treffen) Daran ist nur eines treffsicher: eine Kürzung bei den Schwächsten der Gesellschaft. Ein anderes Beispiel ist der Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II. Hier kürzen Sie. Warum an dieser Stelle? Warum streichen Sie den Heizkostenzuschuss? Sie sagen, die Preise seien gesunken. Einverstanden! Angesichts dessen hätten Sie den Heizkostenzuschuss vielleicht etwas kürzen können. Aber Sie streichen ihn komplett. Auch das trifft die Ärmsten der Gesellschaft. Zu diesem Thema gehört auch - das ist die Kehrseite der Medaille -, dass Sie den Banken inzwischen 50 Milliarden Euro direkte Kapitalhilfen gegeben haben. Das ist die Wahrheit. Die Garantieübernahmen haben inzwischen eine Größenordnung von 200 Milliarden Euro, (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ja! Damit sich die Sparer ihrer Konten sicher sind!) und niemand weiß, was uns HRE und andere Banken in den nächsten Tagen kosten werden. Das alles gehört mit zur Wahrheit. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wir geben jedes Jahr 40 Milliarden für Hartz-IV-Empfänger aus! 40 Milliarden jedes Jahr!) Ja, die Bundesregierung hat gespart. Sie hat wieder einmal an sozialer Gerechtigkeit gespart, das allerdings sehr heftig. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD] und des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Natürlich muss ich noch kurz auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen eingehen. Dazu kann ich nur sagen: Der Berg kreißte und gebar letztlich ein Mäuschen. - Warum ausgerechnet diese neue Schikane der von Hartz IV Betroffenen, wie die Kanzlerin gesagt hat, ein sehr großer Schritt für die Menschen sein soll, um aus Hartz IV herauszukommen, können Sie niemandem erklären. Es ist ein Hohn, diese Regelsätze willkürlich und nach Kassenlage festzulegen. Aber das Entscheidende ist: Mit dieser Regelung finden Sie sich damit ab, dass Menschen in Armut leben. Das ist schlicht eine Tatsache. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie haben kein Interesse, die Menschen aus Hartz IV herauszuholen! - Gegenruf des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Sie kürzen also die Eingliederungshilfen, um sie da herauszuholen, ja?) Die Regierung hat keinerlei Kenntnis und Einfühlungsvermögen, was die Lage derjenigen Menschen angeht, die wirklich am Existenzminimum leben müssen. (Otto Fricke [FDP]: Was sagen Sie denn zu den 300 000 Arbeitsplätzen, die es jetzt mehr gibt?) Im Übrigen - das möchte ich noch ergänzen; das muss man festhalten - hat die Sozialdemokratie sehr laut dazu geschrien; wie ich finde, zu Recht. Sie hat aber offensichtlich vergessen, dass der Regelsatz, der davor galt, in sozialdemokratischer Verantwortung eingeführt worden ist. Ich hoffe nur, dass Sie im Bundesrat ein Stück weit Wiedergutmachung leisten, wenn Sie dieser Sache in Konsequenz nicht zustimmen, und dass Sie nicht irgendwelche Kompromisse machen, die nicht akzeptabel sind. (Joachim Poß [SPD]: Das war der Bundesrat, der damals die Entscheidung getroffen hat! Damals war auch die Union beteiligt!) Warum gibt es denn Kinderarmut in Deutschland? Bei der Politik, die Sie machen, spielen Sie die Ärmsten gegen die Armen aus. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz verschärfen Sie das noch. Natürlich trifft die Streichung des Elterngelds die Kinder. Wen denn sonst? Damit treffen Sie genau die Kinder, die in unserem Land schon jetzt in Armut leben. Dort, wo Reichtum ist, dort, wo Geld ist, bei den Krisenverursachern, bei den Gewinnern der Krise, kneifen Sie in Gänze. Es ist doch kein Zufall, dass die Brennelementesteuer in dem Haushaltsbegleitgesetz nicht vorkommt. (Otto Fricke [FDP]: Wie bitte?) - Ja, sie kommt nicht vor, sie ist nicht drin. (Otto Fricke [FDP]: Sie wissen doch, warum!) - Ich weiß, warum. Aber sie ist nicht drin. Das ist kein Zufall. (Otto Fricke [FDP]: Weil das ein eigener Gesetzentwurf ist!) Ist die Luftverkehrsabgabe eine Steuererhöhung? Ja, sie ist eine Steuererhöhung. Das widerspricht doch Ihren vor der Wahl gemachten Versprechungen, Herr Fricke. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Steuererhöhung ist gut!) Es bleibt dabei: "Einfach, niedrig und gerecht" war Ihr Versprechen. Richtig ist: Die Umfragen sind einfach, niedrig und gerecht, und das ist auch gut so. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Otto Fricke [FDP]: Aber es wird nicht so bleiben!) Ihre Politik, die in dem Haushaltsbegleitgesetz sichtbar wird, ist falsch. Sie ist ungerecht, sie ist unsolide, und sie ist auch unsozial. Sie kürzen bei Investitionen, Stichwort "Stadtumbauprogramm". (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Marktanreizprogramm!) Herr Kampeter, Sie sagen, Sie würden da kürzen, wo es notwendig sei. Warum tun Sie das dann? Selbst der Minister ist dagegen. Das ist eine völlig falsche Maßnahme. Bei der Gebäudesanierung ist es genauso. Warum kürzen Sie genau dort, wo wirklich Investitionen für die Zukunft geleistet werden müssen? Das alles ist eine grundsätzlich falsche Politik. Die Linke wird dies nicht akzeptieren. Ich kann nur hoffen, dass in den Beratungen, die stattfinden werden, auch unsere Vorschläge ernsthaft geprüft werden; denn dieser neoliberale Kurs ist nicht alternativlos. Es muss Schluss sein mit dem Abkassieren bei den Ärmsten der Armen. Steuerpolitische Handlungsfähigkeit für Bund, Länder und Kommunen muss hergestellt werden. Da Sie unsere Vorschläge vielleicht nicht so gut finden, will ich einen Saarländer zitieren, (Otto Fricke [FDP]: Ist das Herr Lafontaine?) nämlich den Ministerpräsidenten des Landes Saarland, Herrn Müller. Er sagt: Unsere Steuerquote ist die niedrigste in Europa. Da sehe ich Spielraum. - Der Mann hat recht. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehen Sie, seit er mit uns regiert!) Deswegen sage ich Ihnen: Warum machen Sie in dieser Situation keine Millionärsteuer? (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Warum kassieren Sie nicht bei denjenigen, die extrem viel haben? Die Zahl steigt; wir bewegen uns auf die 900 000 zu. Eine bescheidende Millionärsteuer bei einem Freibetrag von 1 Million Euro würde wirklich niemanden in Armut stürzen. (Otto Fricke [FDP]: Eine Vermögensteuer?) Warum denken Sie nicht über die Erbschaftsteuer nach? Das ist eine Reform, die wirklich nur die privaten Geldvermögen, nur das Immobilienvermögen betrifft. Auch das würde Milliarden in die Haushalte spülen. (Otto Fricke [FDP]: Sie wissen aber schon, wo das Geld hingeht, oder?) - Bitte? (Otto Fricke [FDP]: Wer bekommt das Geld denn?) - Das bekommen die Länder. (Otto Fricke [FDP]: Aha!) - Ich habe von der Haushaltslage des Bundes, der Länder und der Kommunen gesprochen. Sagen Sie etwa, dass es den Ländern gut geht, Herr Fricke? Selbst in den Ländern, in denen Sie regieren, ist das nicht der Fall. Warum denken Sie in dieser Situation nicht über Einnahmeerhöhungen über den Spitzensteuersatz nach? Was ist denn so absurd, ihn angesichts dieser Krise wieder in Richtung 50 Prozent anzuheben? (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Plus Soli!) Warum kommt man nicht darauf? Auch Menschen in Ihrer Partei sagen, man sollte ihn wieder anheben. Sie müssen in dieser Situation über Einnahmeerhöhungen nachdenken; denn Sparen bei den Ärmsten ist der falsche Weg. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eine wirkliche Wende hin zu Gerechtigkeit steht auf der Agenda. Wir haben heute früh über 20 Jahre deutsche Einheit diskutiert. Haben Sie den Mut, in dieser schwierigen Situation Entscheidungen zu treffen, die in Konsequenz eingreifen! Nehmen Sie die Vorschläge der Opposition ernst, damit Deutschland gerechter wird! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Wir treffen Entscheidungen für Arbeit, und das ist besser!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, am Anfang zu sagen, dass es mir als Baden-Württemberger schwerfällt, nach den Vorfällen, die sich gerade in Stuttgart abspielen, heute Abend hier in einer ruhigen Parlamentsdebatte zu sitzen. Dort ist nämlich, ausgehend von den Verantwortlichen, eine unverantwortbare Brutalität eskaliert. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wer eskaliert denn?) Inzwischen sind tausend Bürgerinnen und Bürger mit Augenverletzungen - durch Reizgas verursacht, das von der Polizei eingesetzt wurde - in den Krankenhäusern. Dort wurde eine Prügelattacke gegen 14-jährige Schülerinnen und Schüler für ein milliardenschweres Großprojekt durchgezogen, das Sie durchsetzen. (Zuruf des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]) - Ich finde, eine Fraktion, die sich christlich nennt, sollte sich solche Zwischenrufe wirklich schenken, Herr Michelbach. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es ist eine Schande, dass in diesem Parlament ein Polizeieinsatz dieser Brutalität auch noch per Zwischenruf legitimiert wird. Ich schäme mich wirklich dafür, dass in diesem Land Vorgänge, wie wir sie heute in Stuttgart erlebt haben, möglich sind. Das muss ich an dieser Stelle wirklich deutlich sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Es gibt immer eine Ursache und eine Wirkung!) Was wir in Stuttgart erleben, hat nur mittelbar etwas mit dem Bundeshaushalt zu tun, über den wir hier auch diskutieren. Was haben wir in den letzten zwei Wochen, also zwischen der ersten Lesung des Bundeshaushalts und der heutigen ersten Lesung des Entwurfs des Haushaltsbegleitgesetzes 2011, erlebt? Der Gesetzentwurf hat sich verändert. Vor zwei Wochen waren noch Elemente enthalten, durch die in geringem Maße auch Unternehmen an den notwendigen Konsolidierungen im Bundeshaushalt beteiligt würden. Was war inzwischen? - Die Kanzlerin war beim BDI, dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Sie hat dort nicht die Rede gehalten, die sie einmal angekündigt hat und bei der es um die offensive ökologische Neuausrichtung auch bei der Besteuerung gehen sollte. Sie hat dort auch nicht darüber gesprochen, was sie hier versprochen hat, dass nämlich die Ausnahmen bei der Ökosteuer wenigstens im kleinen Maße bereinigt werden, indem Mitnahmeeffekte ausgeschlossen werden. Das war die Ansage, mit der die Kanzlerin hier in die Diskussion über den Bundeshaushalt hereinmarschiert ist. Der Abbau dieser Mitnahmeeffekte hat nicht mal einen Auftritt beim BDI überlebt. Hieran sieht man wieder, wie Schwarz-Gelb am Gängelband der Lobbyisten hängt (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) und dass Sie es nicht einmal schaffen, diese Mitnahmeeffekte, die ökologisch auch noch doppelt falsch sind, tatsächlich abzuschaffen. Was in den letzten zwei Wochen hier passiert ist, ist auch ordnungspolitisch ein Armutszeugnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] - Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht, Herr Kollege!) Das bedeutet 1 Milliarde Euro mehr für den BDI, 1 Milliarde Euro gegen die ökologische Modernisierung in diesem Land. Auf der anderen Seite des Konsolidierungspaketes passiert nichts. Dort sind weiter 2 Milliarden Euro weniger für die Rentenversicherung für Arbeitslose vorgesehen. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: 2 Milliarden Euro mehr für die GKV!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Bonde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber immer. Otto Fricke (FDP): Erstens. Herr Kollege Bonde, auch wenn ich Ihre Aufregung emotional nachvollziehen kann, möchte ich, damit das hier nicht so stehen bleibt, schon noch feststellen: Es ist für jeden in diesem Parlament ein unangenehmes Gefühl, wenn jemand im Rahmen einer Demonstration verletzt wird. Ich glaube, Unterstellungen, dass das der einen oder anderen Seite egal ist, passen nicht. Ich gehe aber auch davon aus, dass Sie das nicht so gemeint haben. Zweitens. Sie behaupten hier jetzt, dass die Stromsteuer und die möglichen Änderungen im Rahmen der Verfassung unter gleichzeitiger Deckung, wie es die Bundeskanzlerin gesagt hat, angeblich nicht in dem Gesetzentwurf stehen. Das klang so heraus. Könnten Sie wenigstens kurz bestätigen, dass das nicht der Fall ist, sondern dass das weiterhin hier in dem Gesetzentwurf steht, den wir heute hier beraten, dass das Teil der Beratungsgrundlage ist und dass da nichts herausgenommen worden ist? Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kollege Fricke, Sie haben recht: Es handelt sich um eine Ankündigung, diesen Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren, zu verändern, eine Ankündigung, die genau im Dissens zu dem steht, worüber wir hier vor zwei Wochen gemeinsam diskutiert haben, als es um massive Steuervergünstigungen im Bereich der Energie- und Stromsteuer ging, und zwar insbesondere für besonders energieintensive Betriebe; wir reden hier über eine Größenordnung von 5,5 Milliarden Euro. Die Bundesregierung hatte angekündigt, genau an dieser Stelle Mitnahmeeffekte auszuschließen. Dabei ging es auch um den Missbrauch von Energie-Contracting. (Otto Fricke [FDP]: Sehr richtig!) Dabei haben sich Unternehmen, die erkennbar nicht im internationalen Wettbewerb stehen, durch Umgehungstatbestände, fragwürdige Rechtskonstruktionen und Ähnliches Subventionen erschlichen, die noch nie für sie gedacht waren. Schon diese Ankündigung der Kanzlerin halte ich nicht für wirklich weitgehend, da wir über jährlich 48 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen im Bundeshaushalt reden, während es gleichzeitig eine Klima- und Haushaltskrise gibt. Wenn die Bundeskanzlerin jetzt aber auch noch diesen minimalen Schritt, den ich richtig gefunden hätte, infrage stellt, sie also selbst diesen Trippelschritt in Richtung Ökologiesierung nach einem Pfiff aus dem Lobbyistenclub schon wieder zurücknimmt, um einmal wieder Applaus beim BDI zu bekommen, dann, mit Verlaub, muss ich das als Opposition geißeln. Also, das ist doch genau das, was ich gerade kritisiert habe. Das ist umweltpolitisches, das ist haushaltspolitisches und ordnungspolitisches Versagen. Sie wissen das auch, sonst hätten Sie die Frage ja nicht gestellt, Kollege Fricke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Joachim Poß [SPD]: Er wollte es noch einmal hören!) Zum Subventionsabbau: Das bisschen, was Sie da angekündigt haben, soll ja hier schon kassiert werden. Die Süddeutsche Zeitung hat es heute im Kommentar sehr schön auf den Punkt gebracht: "Das war's mit dem Subventionsabbau", schreibt sie. Ich finde, den denkwürdigen Satz zum Schluss sollten Sie sich ins Stammbuch schreiben. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: In einem CDU-Wahlprogramm jedenfalls sollte der beliebte Begriff "Subventionsabbau" nie wieder auftauchen. Das ist die adäquate Zusammenfassung der Vorgänge in den letzten zwei Wochen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie zementieren die ökologische Schieflage. Die ökologische Verschuldung wird dadurch größer, dass Sie hier selbst die kleinsten Teile einer sinnvollen Strategie im Subventionsabbau zurückziehen. Beim Luftverkehr passiert das Gleiche. Diese Branche wird jährlich mit rund 11,5 Milliarden Euro subventioniert: circa 7,2 Milliarden Euro durch Energiesteuerbefreiung des Kerosins, circa 4,2 Milliarden Euro durch die Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge. - Das sind alles keine Zahlen von mir, sondern Zahlen vom Umweltbundesamt. (Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP]) Jetzt haben Sie sich endlich dazu durchgerungen, Kollege Fricke, sich in Form der "Flugticketabgabe" oder - seien wir mal ehrlich und nennen es so - der Besteuerung von Flugtickets hier mal so ein bisschen heranzurobben. Dies ist zwar nur ein Bruchteil der falschen Subventionen, aber Sie haben sich wenigstens mal herangewagt. Ich als Grüner bin dafür und sage: Machen Sie das! Nur, der entscheidende Punkt ist: Selbst an der Stelle sind Sie nicht in der Lage, es wirklich durchzuhalten. Sie haben keinen Plan zur Ökologisierung des Verkehrs mit klaren Lenkungseffekten. Stattdessen machen Sie wieder einen Wirrwarr an Einzelausnahmen, Sonderbegünstigungen und Ähnlichem. Auch da wieder belegt das, was Sie als Haushaltsbegleitgesetz auf den Tisch gelegt haben, Ihr völliges ordnungspolitisches Versagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die soziale Verschuldung steigt. In den letzten Wochen haben wir nun weiß Gott genug Gründe dafür auf den Tisch gepackt, weshalb wir meinen, dass Sie hinsichtlich der Rentenbeiträge für Bezieher von Arbeitslosengeld II auf einem völlig falschen Gleis sind. Davor gibt es bundesweit Warnungen von Ihren kommunalen Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern, von der Rentenversicherung und von Betroffenen. Nur, interessanterweise bewegt sich da bei dieser Koalition nichts. Millionen Betroffene, Tausende betroffene Kommunen sind nichts wert. Ich frage mich dann schon: Jeder Pfiff des Lobbyisten bringt Bewegung in diese Koalition, und dort, wo es um echte Betroffenheit geht, dort, wo es um die Zukunft der Rentenversicherung geht, dort, wo es um die kommunale Handlungsfähigkeit, um die Zukunft bei den Kommunalfinanzen geht, da bewegt sich diese Koalition nicht. Man hat schon langsam den Eindruck, Sie sind wirklich in sozialpolitischen Autismus verfallen, sehr geehrte Damen und Herren von CDU und FDP. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Schieflage beim Elterngeld wurde bereits benannt. Auch da ist die Logik klar: Wer viel verdient, wird nicht belastet, wer durchschnittlich verdient, wird ein wenig belastet, und bei den Schwachen nimmt man alles. Das ist die Logik, die sich quer durch dieses Haushaltsbegleitgesetz zieht. Ich weiß nicht, was Sie damit begleiten, aber eine sinnvolle Haushaltskonsolidierung ist es sicherlich nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]) Denn wenn Sie die wirklich ernsthaft machen wollen - und die müssen wir ja gemeinsam machen -, dann müssen Sie die Breite der Gesellschaft auf diesem Konsolidierungsweg mitnehmen. Sie brauchen eine faire, gemeinsame Strategie, um diesen Konsolidierungsprozess hinzubekommen. Das tun Sie nicht, und dieses Haushaltsbegleitgesetz macht es noch weniger, als es die Debatte vor zwei Wochen schon vermuten ließ. Insofern, mit Verlaub, ich glaube, auch an der Stelle bräuchte diese Koalition wirklich einen Neustart. Das Gesetz taugt nichts, es bringt die notwendige Konsolidierung nicht, und es verschärft die ökologische und soziale Verschuldung in diesem Land. Das war mal wieder nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise hat eine historisch hohe Staatsverschuldung und einen makroökonomischen Wohlstandsverlust allein in Deutschland innerhalb von zwei Jahren in Höhe von 170 Milliarden Euro zur Folge gehabt. Aber: Die teuren Rettungsschirme waren notwendig, und das antizyklische Vorgehen war aus heutiger Sicht richtig. (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Das zeigen die erfolgreiche Krisenbewältigung und die Konjunkturerholung. Das Wachstum hat für neue Arbeitsplätze und Mehreinnahmen der Kommunen und des Bundes gesorgt. Das hohe Haushaltsdefizit war also zunächst unvermeidlich, um mit zielgerichteten Wachstumsimpulsen den Weg aus der Krise zu ebnen. Nun, da es wirtschaftlich wieder spürbar bergauf geht, müssen wir natürlich umsteuern, müssen wir zügig mit dem Abbau der nicht dauerhaft akzeptablen Schuldenquote beginnen. Wir leiten heute die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte mit diesem Haushaltsbegleitgesetz konsequent ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Ausgabenreduzierungen, die unausweichlich sind, sind ausgewogen, maßvoll und vor allem auch konjunkturschonend und geben damit den Menschen in unserem Land neue Chancen. Darauf kommt es an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sichern damit auch mit Blick auf die nachfolgenden Generationen die Zukunftsfähigkeit unseres Staates. Das ist eine Herkulesaufgabe, der wir uns verantwortungsbewusst stellen müssen. Wir haben Grund zur Zuversicht, dass wir die Konsolidierung in der Zukunft schaffen. Wir nehmen hier zur Kenntnis, dass Sie von der Opposition jede Einsparung und jeden Vorschlag zur Konsolidierung ablehnen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) Sie machen Politik nach dem Prinzip: Freibier für alle, Transferleistungen für alle. Sie sagen aber nicht, woher die Mittel dafür kommen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Michael Leutert [DIE LINKE]: Doch, haben wir gesagt! Reichensteuer! Erbschaftsteuer!) Nur draufsatteln, neue Forderungen stellen und neue Versprechungen machen, das ist keine verantwortungsvolle Politik. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hotelsteuer!) Sie müssen doch sehen, dass wir nicht alleine in dieser Situation sind. Sie schlagen sich in die Büsche. Alle anderen Länder in der EU und in der Welt, die großen Industriestaaten haben Sparpakete auf den Weg gebracht. Sie von der Opposition stehen mit Ihrer Ausgaben- und Schuldenpolitik völlig alleine in dieser Welt. Alle müssen konsolidieren und werden zum Erhalt der Währungssicherheit und der Sicherheit der Weltwirtschaft diesen Weg beschreiten müssen. Wir stehen von allen großen Industriestaaten Gott sei Dank immer noch am besten da. Mit einem Staatsdefizit von 3,3 Prozent in diesem Jahr liegt die Bundesrepublik Deutschland von den 27 Staaten der Europäischen Union unter den ersten fünf. Im Vergleich mit den Industriestaaten stehen wir ganz vorne. Wir sind Wachstumslokomotive - das ist unser Anspruch - und nicht Schlusslicht, das wir wären, wenn wir Ihre Vorschläge befolgen würden. Sie beklagen unter anderem den Rettungsschirm für die Banken. Sie müssen aber einmal anerkennen: Das haben wir doch nicht für uns getan, sondern das haben wir zur Rettung der Sparkonten und zur Sicherung der Arbeitsplätze getan. Das ist die Situation. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie werfen uns vor, dass wir im Sozialbereich kürzen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Was wahr ist! Kahlschlag!) Wir verlangen von den Menschen keine Opfer, sondern wir sichern ihre Sozialversicherungssysteme. So wird ein Schuh daraus. Das ist das Prinzip. (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie plündern die Rentenkasse!) Im Bereich des Sozialetats müssen Opfer gebracht werden, weil dieser einen Anteil von 54 Prozent am Bundeshaushalt hat. Man kommt angesichts dieser Zahlen um eine ausgewogene und vernünftige Einsparung gar nicht umhin. (Bettina Hagedorn [SPD]: Die ist weder vernünftig noch ausgewogen!) Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Maßnahmen ergreifen. Ich komme zum Schluss. Wir nehmen sicherlich einige Änderungen im Steuerbereich in Angriff; aber wir planen keine Einkommensteuererhöhungen, wie Sie sie vorschlagen. Ertragsteuererhöhungen werden von uns nicht durchgeführt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie machen eine Mehrwertsteuererhöhung!) Das ist der richtige Ansatz, um auch in der Zukunft Wachstum zu erzielen. Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was Sie fordern, und dem, was wir tun. Sie fordern Steuererhöhungen, unter anderem über eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Dafür würden die Bezieher der mittleren Einkommen die Zeche zahlen. Wir wollen, dass mehr Menschen arbeiten und dass Arbeit sich lohnt. Leistung darf nicht dadurch bestraft werden, dass der Staat den Ertrag der Arbeit übermäßig besteuert. Mit unserer Politik werden wir Wachstum erzielen. Arbeitswillige werden so immer wieder einen Arbeitsplatz und eine neue Chance in Deutschland erhalten. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lobbyismus lohnt sich immer bei der Koalition! - Alexander Bonde [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Lobbyistenleistung wird bei Ihnen belohnt!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Michelbach, Sie haben in Ihrer Analyse, wie es dazu kam, dass wir jetzt in Deutschland eine gesamtstaatliche Haushaltskonsolidierung vornehmen können, vollkommen recht. Wir können miteinander feststellen, wie Deutschland im Jahr 2008 dastand. Im Jahr 2008 unter der Ägide von Finanzminister Peer Steinbrück gab es, gesamtstaatlich gesprochen, ausgeglichene Haushalte in Deutschland. Herr Kampeter, unter der Ägide des Vorgängers von Herrn Schäuble hätten wir ohne Finanzkrise im Jahre 2010/2011 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt. Ich will das an dieser Stelle einmal sagen. Es geht darum, klarzustellen, was uns eingebrockt hat, dass der Staat Konjunkturprogramme auflegen musste und Einnahmeausfälle hatte: Es ist einzig und allein die Finanzkrise. (Beifall bei der SPD) Wir kommen deshalb nicht umhin, zu sagen, Herr Kollege Fricke: Es ist ein Armutszeugnis, dass Sie den Sektor, der am Entstehen dieser Krise beteiligt war, bei der Bemühung um Haushaltskonsolidierung vollständig außer Acht lassen. Ich wiederhole: Sie lassen ihn vollständig außer Acht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Otto Fricke [FDP]: Tun wir ja nicht! Stimmt doch nicht!) Nicht eine Maßnahme in diesem Haushaltsbegleitgesetz bezieht diejenigen mit ein, die diese Krise verursacht haben. Im Gegenteil: Sie halten sich schadlos an denjenigen, die zum Entstehen dieser Krise nichts beigetragen haben: Sie sparen bei Rentnern, Sie sparen bei Alleinerziehenden, Sie sparen bei Langzeitarbeitslosen. Dass das Menschen in diesem Land als ungerecht empfinden, das können Sie doch nicht leugnen. (Otto Fricke [FDP]: Wo sparen wir denn bei Rentnern?) Herr Fricke, ich habe Ihrer Rede und der von Herrn Kampeter aufmerksam zugehört. Das Lieblingswort - fast ein Gummiwort im parlamentarischen Betrieb; das muss man leider sagen - ist der Begriff der Nachhaltigkeit. (Abg. Otto Fricke [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Herr Fricke, wenn Sie sich ein wenig später melden, beantworte ich Ihre Zwischenfrage gerne. Einen kleinen Moment noch! - Nachhaltigkeit ist, wie ich schon sagte, zu einem Gummiwort geworden. Alles ist nachhaltig geworden. In der Werbung gibt es schon nachhaltigen Joghurt. Fragen wir einmal, was der Begriff "nachhaltig" meint. Dieses Wort kommt aus der Forstwirtschaft, und es bedeutet: Man sollte nicht mehr aus dem Wald ausschlagen, als nachwachsen kann. (Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!) Gerade deshalb stellt sich die Frage, warum Sie in diesem Haushaltsbegleitgesetz genau da die Axt ansetzen, wo es um Investitionen der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft geht. Beispiele lassen sich nennen. Wenn wir den Weg der Haushaltskonsolidierung beschreiten wollen, Herr Kollege Kampeter, dann werden wir uns um Ausgabendisziplin kümmern müssen - gar keine Frage -, dann werden wir uns um die Einnahmebasis der öffentlichen Hand kümmern müssen - keine Frage -; aber wir werden das Ganze nicht ohne ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum schaffen. Wenn wir uns die Ökonomie in diesem Land anschauen, dann erkennen wir, dass wir Probleme haben, was die Investitionsquoten der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft betrifft. (Bettina Hagedorn [SPD]: Richtig!) All das, was wir in der Vergangenheit getan haben, um in diesem Bereich zu mehr Investitionen zu kommen, beschneiden Sie in diesem Gesetzentwurf. (Beifall bei der SPD) Ein Stichwort ist "Städtebau". Sie streichen bei der energetischen Gebäudesanierung, obwohl Sie sie für Ihr Klimapaket brauchen. Das Achtfache dessen, was die öffentliche Hand dort einsetzt, wird in der privaten Wirtschaft für Investitionen mobilisiert. Sie streichen beim Marktanreizprogramm, und Sie verzichten vollständig auf das, was Sie noch im Koalitionsvertrag vollmundig angekündigt haben, nämlich auf die steuerliche Forschungsförderung, mit der wir durch Innovationen tatsächlich auf einen nachhaltigen Wachstumspfad kommen können. Sie sparen an Zukunft, und Sie sparen ungerecht. Das ist unser Vorwurf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt Alternativen. Herr Kollege Fricke, Sie stellen sich hierhin und erklären Sozialdemokraten, die mit Peer Steinbrück und anderen den Weg zur Haushaltskonsolidierung in diesem Land geebnet haben, dass sie die Staatsfinanzen nicht in Ordnung bringen wollen. Was für ein Popanz! Es war doch diese schwarz-gelbe Bundesregierung, die kurz nach der Bundestagswahl 2009 erst einmal nichts Besseres zu tun hatte, als Klientelgeschenke, etwa die Hotelsteuer, an die eigene Klientel, zum Beispiel an die reichen Erben und die großen Konzerne, auszureichen. (Otto Fricke [FDP]: Kindergeld!) Nichts anderes haben Sie an dieser Stelle gemacht. Wenn Sie das als falsch erkannt haben - Herr Fricke, ich weiß, in Ihrem Herzen finden Sie diese Hotelnummer doch genauso peinlich wie der Rest der deutschen Öffentlichkeit -, dann hätten Sie bei diesen Sparanstrengungen den Mut haben müssen, diese Geschenke wieder einzusammeln, bevor Sie sich an den Schwächsten vergreifen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie denn jetzt die angekündigte Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Hubertus Heil (Peine) (SPD): Gerne. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Also, bitte schön. Otto Fricke (FDP): Herr Kollege Heil, erstens wollen Sie, dass wir das Gesetz zurücknehmen. Dann sollten Sie aber auch so ehrlich sein und der Öffentlichkeit sagen, dass Sie den Leuten mit der Zurücknahme des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes auch die Kindergelderhöhung wegnehmen wollen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) Wenn Sie das wollen, ist das in Ordnung. So weit zur Feststellung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Unruhe bei der SPD - Joachim Poß [SPD]: Er hat gesagt, die Hotelsteuer! Das ist peinlich!) - Er hat gesagt, das Gesetz solle zurückgenommen werden. Damit müssen Sie leben. Er hat es gesagt. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Nein! Otto Fricke (FDP): Zweitens. Herr Kollege Heil, Sie haben gerade gesagt, dass wir mit dem Haushaltsbegleitgesetz den Rentnern etwas wegnehmen würden. Ich frage Sie in aller Ernsthaftigkeit: Bleiben Sie bei der Aussage, dass wir mit dem Haushaltsbegleitgesetz den heutigen Rentnern Geld wegnehmen? Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Kollege Fricke, ich bin Ihnen für beide Fragen sehr dankbar. Wenn Sie das im Protokoll nachlesen sollten, werden Sie feststellen, dass ich mich auf die Teile Ihres sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetzes bezogen habe, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das hat gut gewirkt!) die Ihre Klientel bessergestellt haben. (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Zum Beispiel Eltern mit Kindern! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das stärkt die Binnennachfrage!) - Die Binnenkaufkraft wird nicht durch die Hoteliergeschenke gestärkt, die Sie gemacht haben. Das ist doch Quatsch mit Soße. Genau darauf habe ich mich bezogen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Fricke, Sie haben ein ohnehin sehr undurchsichtiges Ausnahmesystem bei der Mehrwertsteuer noch undurchsichtiger gemacht, das wir übrigens im Jahr 2002 gegen Ihren Widerstand versucht haben zu reformieren. (Otto Fricke [FDP]: Sie meinen die von Ihnen eingeführten Skilifte!) Ich sage noch einmal: Wir haben im Jahr 2002, als Hans Eichel Finanzminister war, Vorschläge gemacht, um diese undurchsichtigen und widersinnigen Dinge, die wir im Mehrwertsteuerrecht haben, zu beseitigen. Daraufhin haben Sie das Land mit populistischen Kampagnen überzogen. Jetzt haben Sie diesen Zustand noch verschlimmert und Ihre Klientel bessergestellt. Ihr Herr Burgbacher im Bundeswirtschaftsministerium hat sich an dieser Stelle als Hotellobbyist betätigt. Das kostet die öffentliche Hand über 1 Milliarde Euro. Ich habe nichts anderes gesagt als: Wenn Sie sparen müssen - und der Staat muss sparen -, dann fangen Sie doch bei denen an, denen Sie es hinten reingesteckt haben, um es norddeutsch zu sagen, bevor Sie sich an den Schwächsten vergreifen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich halte meine Aussage aufrecht, dass die Art und Weise, wie Sie Zuschüsse für die Rentenversicherung kürzen, langfristig dazu führen wird - - (Otto Fricke [FDP]: Stimmt nicht!) - Ich sage Ihnen, Sie kürzen Zuschüsse an die Rentenkasse im Bereich des Arbeitslosengeldes. Am Ende des Tages wird das dazu führen, dass vermehrt Menschen in der Grundsicherung landen. (Otto Fricke [FDP]: Aber kein heutiger Rentner!) - Natürlich. Das trifft Menschen, die trotz Arbeitslosigkeit höhere Rentenversicherungsansprüche hätten, die Sie in die Grundsicherung jagen. Am Ende des Tages kippen Sie den Kommunen das Ganze vor die Tür. Das ist der Verschiebebahnhof auf der langen Strecke, und das ist auch Teil Ihres Pakets. Das werden Sie sich sagen lassen müssen. Das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nachhaltigkeit ist die Verbindung von wirtschaftlicher Vernunft, sozialem Fortschritt und ökologischen Notwendigkeiten. Wenn man sich dieses Paket anschaut, dann stellt man fest, dass es nicht im Sinne wirtschaftlicher Vernunft eines selbsttragenden langfristigen Aufschwungs ist, wenn Sie Investitionen in wichtigen Bereichen der Zukunft kürzen. Wenn man bei der energetischen Gebäudesanierung oder beim Marktanreizprogramm kürzt, wird das ökologische und ökonomische Folgen haben. Was Sie machen, ist nicht sozial gerecht. Lassen Sie sich das sagen. Herr Michelbach, an dieser Stelle zitiere ich jemanden aus Ihren Reihen, und zwar Herrn Lauk. Das ist der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats. Dieser hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, eine Volkspartei wie CDU und CSU würde sich im Hinblick auf die Akzeptanz von Konsolidierungspolitik keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn man den Spitzensteuersatz anheben würde. Wie gesagt, Herr Lauk ist einer von Ihnen und unverdächtig, irgendein böser Sozialist zu sein. Das werden Sie bestätigen. Ich finde, dieser Mann hat vollkommen recht. Wir schlagen Ihnen vor, das gemeinsam miteinander hinzubekommen. Ich bin der Meinung, dass der Spitzensteuersatz ruhig erst bei einem höheren Jahreseinkommen als 53 000 Euro greifen kann. Ein Lediger, der 53 000 Euro verdient, ist in diesem Land ein Gutverdiener, aber kein reicher Mensch. Ich fände es aber im Sinne der Hygiene in unserem Land richtig, bevor man bei den Ärmsten der Armen kürzt, zunächst die Solidarität derjenigen in Anspruch zu nehmen, die gerne bereit sind, ihre patriotische Pflicht zu erfüllen und einen Beitrag zu einem gesunden Gemeinwesen zu leisten. Deshalb ist es nicht unanständig, sondern ein Gebot der Vernunft und der Fairness, dafür zu sorgen, dass auch Spitzenverdiener in diesem Land einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Kein Spitzenverdiener in diesem Land ist von den Maßnahmen betroffen, die Sie beschlossen haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kein Spitzenverdiener leistet an dieser Stelle einen Beitrag. Herr Michelbach, was ist eigentlich Ihr Beitrag und mein persönlicher Beitrag zur Haushaltskonsolidierung? Diesen erkenne ich an dieser Stelle gar nicht. Sie kürzen das Elterngeld von Langzeitarbeitslosen und Alleinerziehenden, lassen es aber den Millionärsgattinnen. Auch das ist ein Beispiel von Schieflage. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön, Kollege Michelbach. Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Kollege Heil, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass die oberen 50 Prozent der Steuerzahler in Deutschland 95 Prozent des Aufkommens der Einkommensteuer leisten? (Zurufe von der LINKEN: Einkommensteuer!) Warum wollen Sie die Leute, die durch einen höheren Spitzensteuersatz einen steileren Tarif bekommen würden und durch die Progression stärker belastet würden, noch zusätzlich über diese 95 Prozent hinaus zur Kasse bitten? Ist es nicht notwendig, dass die Leistung, die diese Leute für das Gemeinwohl und für die Sozialtransferleistungen erbringen, auch honoriert wird? Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Michelbach, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diese Frage. Damit kann ich an dieser Stelle einiges aufklären. Ich habe vorhin gesagt: Wir sind nicht dafür, die Progressionskurve steiler zu machen. Wir können auch darüber reden, dass der Spitzensteuersatz nicht schon bei einem Einkommen in Höhe von 53 000 Euro greift; dann sollte er aber auch ein Stück höher sein. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir damit nicht dafür sorgen, dass die Progressionskurve für die mittleren Steuerzahler steiler wird. In Ihrer Darstellung lassen Sie aber ein, zwei Dinge außer Betracht. Wenn Sie davon reden, dass die oberen 50 Prozent der Steuerzahler 95 Prozent der Steuerlasten tragen, unterschlagen Sie damit zugleich den Beitrag derjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Sozialversicherungsleistungen und Abgaben für den Sozialstaat entrichten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir den Blick nun auf das gesamte Steuer- und Abgabensystem richten, dann ergibt sich folgende Situation: Die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen leisten den wesentlichen Beitrag zur Finanzierung dieses Gemeinwesens, Spitzenverdiener einen zu geringen. (Beifall des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In Zeiten der Haushaltskonsolidierung müssen die Lasten fair verteilt werden. Ja, es ist nicht so, dass man in solchen Zeiten nur Populäres fordern und durchsetzen kann. Wir haben unsere Erfahrungen damit gemacht. Es ist aber eine Frage von Fairness, auch diejenigen, die nicht überproportional belastet würden, wenn sie einen angemessenen Beitrag leisten müssten, stärker in die Verantwortung zu nehmen. Ich will Ihnen sagen, warum ich das auch ökonomisch für richtig halte, Herr Kollege Michelbach. Wir können in diesem Land eine erfreuliche Entwicklung verzeichnen, weil wir einen exportgetriebenen Aufschwung haben. Wir haben in der Großen Koalition gemeinsam dafür gesorgt, dass Deutschland besser durch diese Finanzkrise gekommen ist, als es zu erwarten gewesen wäre. Jetzt wächst die Wirtschaft wieder. Das ist im Wesentlichen der Tatsache geschuldet, dass wir stark im Export sind, dass wir, wenn Sie so wollen, starke Auswärtsspiele haben. Aber wir haben Probleme beim Heimspiel. Die Binnennachfrage ist zwar durch Kurzarbeit und viele andere Maßnahmen, die dafür gesorgt haben, dass Menschen nicht in Arbeitslosigkeit abgerutscht sind, recht stabil geblieben, aber sie liegt chronisch zu niedrig. Die Investitionen der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft sind zu niedrig. Wir müssen also etwas für die Binnennachfrage in diesem Land tun. Das betrifft Kaufkraft, öffentliche und private Investitionen. An dieser Stelle ist es sinnvoller, eine Perspektive für die Entlastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu schaffen als für die von Spitzenverdienern. (Bettina Hagedorn [SPD]: Richtig!) Es ist ganz klar, Herr Michelbach, wen Sie an dieser Stelle im Blick haben: (Joachim Poß [SPD]: Sich selbst!) Sie glauben nicht, dass Normalverdiener Leistungsträger dieses Landes sind. Ihr Begriff von Leistungsträgern fängt wahrscheinlich erst bei Menschen an, die 80 000 oder 100 000 Euro verdienen. Das ist nicht die Mehrheit der Menschen in diesem Lande. Die Mehrheit der Menschen in diesem Lande verdient ein ganzes Stück weniger, ist aber durch Steuern und Abgaben stärker belastet als diejenigen, bei denen aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze die Belastung abgeriegelt wird und die derzeit keinen höheren Spitzensteuersatz zu zahlen haben. Das ist der Zusammenhang. Deshalb noch einmal, Herr Michelbach: Wir können auflisten, wen Sie durch Ihre Maßnahmen belasten. Wir können aber auch auflisten, wen Sie nicht belasten. (Zuruf des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]) Das weiß die deutsche Öffentlichkeit ganz genau, Herr Michelbach. Das ist möglicherweise auch ein Grund dafür, dass das Vertrauen in eine Volkspartei in Bayern, die das "S" im Namen führt, nämlich CSU, und die früher stark war, schwindet; die Menschen spüren nämlich, dass sie nicht mehr Politik für die Mehrheit macht, sondern Politik für wenige zulasten der Mehrheit - ob in der Gesundheitspolitik, in der Energiepolitik, bei den Hotelsteuern oder anderswo. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist pure Demagogie, was Sie da betreiben! Das ist schäbig!) Sie machen Politik gegen das Gemeinwohl. Das schadet dem Ansehen aller demokratischen Parteien, leider nicht nur den schwarz-gelben Koalitionsparteien. Wir aber werden Alternativen auf den Tisch legen. (Otto Fricke [FDP]: Das sehen wir an NRW!) Konsolidierung geht gerechter, und Konsolidierung geht intelligenter, als es Schwarz-Gelb derzeit macht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Claudia Winterstein (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Redner der Opposition haben in dieser Debatte zum Haushaltsbegleitgesetz und in den Debatten zum Haushalt 2011 ein völlig düsteres Bild gezeichnet. Es war von sozialem Kahlschlag, von Unausgewogenheit die Rede. (Bettina Hagedorn [SPD]: Zu Recht!) Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, lieber Herr Schneider, diese Vorwürfe sind haltlos, ja unseriös. Gemessen am Anteil der Sozialausgaben am Haushalt kann von sozialem Kahlschlag überhaupt keine Rede sein. Auch Herr Heil sollte dies zur Kenntnis nehmen. Die öffentliche Verschuldung in Deutschland beträgt unvorstellbare 1,7 Billionen Euro. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das Geldvermögen beträgt 4 Billionen!) Das heißt, jeder Bürger, vom Baby bis zum Greis, steht mit über 20 000 Euro in der Kreide. Wenn wir so weitermachen, haben wir keinen Handlungsspielraum für die Zukunft, und das ist unfair gegenüber der jungen Generation. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Allein der Bund zahlt in diesem Jahr über 36 Milliarden Euro an Zinsen. Das ist Geld, das wir an anderer Stelle wesentlich besser gebrauchen könnten. (Miriam Gruß [FDP]: Genau!) Deswegen hat sich auch die christlich-liberale Koalition das vielleicht unpopuläre, aber notwendige Ziel gesetzt, diese massive Verschuldung endlich abzubauen. (Zuruf von der SPD: Aber doch nicht mit der höchsten Nettoneuverschuldung der Nachkriegszeit!) Das Sparpaket macht deutlich, dass jeder seinen Beitrag zur Sanierung der Finanzen zu leisten hat, der Staat, die Wirtschaft und der Bürger. So sparen wir im staatlichen Bereich etwa bei der Verwaltung, bei den Subventionen oder bei den Verteidigungsausgaben. Über die Kernbrennstoffsteuer, die Streichung von Steuervergünstigungen und die Luftverkehrsabgabe beteiligen wir natürlich auch die Wirtschaft an den Sparmaßnahmen, und auch der Sozialbereich muss einen angemessenen Beitrag leisten. Uns deswegen sozialen Kahlschlag vorzuwerfen, ist falsch; denn auch 2011 fließen weiterhin 158,8 Milliarden Euro, nämlich 51,7 Prozent des gesamten Bundeshaushalts, also mehr als die Hälfte aller Ausgaben des Staates, in den sozialen Bereich. Wichtig ist uns, dass mehr Menschen unabhängig von sozialen Leistungen leben können. Der bislang gezahlte Zuschlag beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes I zum Bezug des Arbeitslosengeldes II hat hierbei falsche Anreize gesetzt. Dewegen wird er auch gestrichen. (Abg. Bettina Hagedorn [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der SPD-Fraktion? Dr. Claudia Winterstein (FDP): Nein, ich möchte gern fortfahren. (Zuruf von der SPD: Ach, wie bedauerlich!) Wir gehen die notwendigen Kürzungen maßvoll und zielgenau an. Das ist schon gesagt worden. Dessen können Sie sicher sein, Herr Schneider. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Dass das Ihr Ziel ist, wissen wir!) Ich möchte dazu ein weiteres Beispiel herausgreifen: Für Bezieher des Arbeitslosengeldes II werden künftig keine Rentenbeiträge mehr gezahlt. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Schlimm genug!) Auch das ist schon gesagt worden. Dem einzelnen Arbeitslosen schadet diese Maßnahme allerdings kaum. Er verliert einen zusätzlichen Rentenanspruch von gerade einmal 2 Euro, Herr Heil. Der Bund spart dadurch aber jährlich 1,8 Milliarden Euro ein. Das ist eine stattliche Summe, mit der man viel Gutes tun kann. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zulasten der Kommunen! - Bettina Hagedorn [SPD]: Er spart nicht, er verschiebt es in die Zukunft! Dadurch müssen in naher Zukunft die Rentenbeiträge erhöht werden, aber das ist Ihnen ja wurscht!) Diese Beispiele zeigen auf: Wir steigern die Effizienz des Sozialstaates und stellen ihn auf eine solide finanzielle Grundlage. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aber die Rentenversicherung plündern Sie! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Sicherung unserer Sozialsysteme ist genauso wichtig wie die Schaffung von Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätzen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Bei dieser Koalition nicht!) Diesem Ziel werden wir gerecht, weil wir im Haushalt 2011 und auch in den Folgejahren viel Geld in Zukunftsbereiche wie Forschung, Bildung und erneuerbare Energien investieren. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In die Atomenergie!) Wir müssen im Haushalt die richtigen Prioritäten setzen (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist wohl wahr!) und wollen deshalb natürlich auch die Investitionen steigern. Daher wird in den Bereichen Forschung und Bildung auch keine Kürzung vorgenommen, sondern es werden 12 Milliarden Euro draufgesattelt. Auch im Verkehrsbereich investieren wir mehr als vor der Krise. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. (Lachen der Abg. Bettina Hagedorn [SPD]) Unser Sparkurs ist richtig, damit unser Staat auch in Zukunft die Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft unterstützen kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nur ein finanziell solider Staat ist ein starker Staat. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, schüren hingegen aus durchsichtigen Gründen die Angst der Menschen und betreiben Panikmache gegen die Politik der Regierung. An konstruktiven Vorschlägen fehlt es bei Ihnen völlig. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen! Dr. Claudia Winterstein (FDP): Sie machen das nach dem Motto: Freiheit von Verantwortung. Das scheint eher Ihre Devise zu sein. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn meiner Rede möchte ich ganz kurz auf das eingehen, was wir von unserem Kollegen Bonde zu Stuttgart 21 und den Demos gehört haben. Jeder von uns in diesem Hause bedauert es, wenn bei einer Demonstration Menschen verletzt werden. Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, zu dem wir alle stehen. Die freie Meinungsäußerung ist ein Kennzeichen unserer freien Gesellschaft. Lieber Kollege Bonde, an dieser Stelle muss ich aber auch eines sagen: In der Art und Weise, wie Sie das gegen Stuttgart 21 instrumentalisieren, ist es nicht in Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Ich habe mich bei den Polizeibehörden kundig gemacht. Tatsache ist: Es handelt sich um eine Schülerdemo. Diese Schülerdemo war für die Lautenschlagerstraße genehmigt. Von den Stuttgart-21-Gegnern wurde diese Demonstration in den Bereich des Schlossgartens umgelenkt; dort sollten die laufenden Bauarbeiten gestört werden. Wenn es dann im Rahmen dieser nicht genehmigten Demo zu Verletzungen kommt, dann muss ich den Gegnern von Stuttgart 21 den Vorwurf machen, dass sie so etwas billigend in Kauf nehmen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Schülerdemo!) Dies halte ich für nicht in Ordnung. Wenn die Ordnungskräfte des Staates die öffentliche Ordnung herstellen (Bettina Hagedorn [SPD]: Gegen 14-Jährige!) und es dabei Verletzungen gibt, dann ist es nicht in Ordnung, dies einseitig denjenigen in die Schuhe zu schieben, die dafür sorgen, dass dieses Projekt gebaut wird. Das muss ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Barthle, gestatten Sie gleich zwei Zwischenfragen? Ich vermute, sie sind zum selben Thema. Norbert Barthle (CDU/CSU): Ja, gerne, da können wir gerne noch ein Disput führen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Bonde, und danach der Kollege von der Linksfraktion. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Barthle, ich habe heute Nachmittag einen Anruf einer ehemaligen Nachbarin bekommen, deren 14-jährige Tochter auf dieser Demonstration war. Halten Sie es für einen verhältnismäßigen Polizeieinsatz, wenn ein 14-jähriges Mädchen bei einer friedlichen Demonstration von Knüppeln der Polizei getroffen wird? Herr Kollege Barthle, es gibt Meldungen der Nachrichtenagentur DAPD, in denen von 1 000 Menschen gesprochen wird, die durch Einsatz von Reizgas verletzt worden sind und in Stuttgarter Kliniken behandelt werden; entsprechende Bilder veröffentlicht dpa dazu. Halten Sie dies für einen verhältnismäßigen Einsatz, und wären Sie bereit, den Versuch, diese Bewegung zu kriminalisieren und auch noch jemandem in die Schuhe zu schieben, ein für alle Mal zu beenden? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Barthle, lassen Sie noch eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Lutze zum selben Sachverhalt zu? Norbert Barthle (CDU/CSU): Aber gerne. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr. Thomas Lutze (DIE LINKE): Herr Kollege Barthle, vorhin hat der Kollege Koschorrek aus Ihrer Fraktion schon einmal zu diesem Thema interveniert. Als er über die Schülerdemo und den Polizeieinsatz sprach, redete er nicht von Schülern, sondern von militanten Autonomen. Haben Sie diese Sprachregelung Ihres Fraktionskollegen zur Kenntnis genommen? Norbert Barthle (CDU/CSU): Herr Kollege Bonde, Herr Kollege Lutze, ich kann einzelne Vorkommnisse dieser Demo nicht kommentieren. Das will ich auch nicht tun, weil ich die Zusammenhänge nicht kenne. Ich wiederhole aber: Wenn 14-jährige Schüler, wie ich von Ihnen höre, von einer geneh-migten Demonstrationsroute auf eine nicht genehmigte umgelenkt werden, dann halte ich dies für nicht in Ordnung; denn bei diesen Jugendlichen, die den Unterschied wahrscheinlich nicht so genau kennen und nicht wissen, welche Konsequenzen daraus erwachsen, nimmt man billigend in Kauf, dass genau solche Ergebnisse eintreten. Das geht so nicht. Demonstrationen sind in Ordnung, wenn sie genehmigt sind. Dann ist alles okay, dann hat kein Mensch etwas dagegen. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch Christ! Was ist das eigentlich für ein Zynismus? - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dann tritt auch keine Polizeibehörde dagegen auf. Aber wenn es sich um Ereignisse auf einer nicht genehmigten Demonstrationsstrecke handelt, dann ist das etwas anderes. Bei dem, was sich dort ereignet hat, besteht möglicherweise - ich weiß es nicht - kein großer Unterschied zu dem, was sich am 1. Mai in Kreuzberg ereignet. Um auch auf die zweite Frage einzugehen: Ich kenne die Äußerung des Kollegen Koschorrek nicht. Aber in diesem unseren Rechtsstaat muss alles rechtmäßig zugehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Barthle, es gibt noch aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Norbert Barthle (CDU/CSU): Schön. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Montag, bitte. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Frau Präsidentin. - Ich habe jetzt Ihre Einlassungen zu dieser Demonstration in Stuttgart mit Interesse verfolgt. Dabei wundere ich mich über eines; ich würde Sie herzlich bitten, es zu erklären: Sie sprechen dauernd von "genehmigten Demonstrationen". Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass Demonstrationen in Deutschland nicht genehmigt werden? Wir leben nicht in einem Obrigkeitsstaat. Demonstrationen sind frei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Man muss sie anmelden!) Norbert Barthle (CDU/CSU): Auch Sie wissen, dass Demonstrationen bei den Ordnungsämtern angemeldet werden müssen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist etwas völlig anderes!) - Im normalen Sprachgebrauch ist das mit einer Genehmigung gleichbedeutend. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! - Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Er ist kein Jurist!) - Ich habe es so gemeint; ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt kommen wir zu unserem eigentlichen Thema: dem Haushaltsbegleitgesetz. Ich will auf die Diskussion eingehen, die wir jetzt wieder erlebt haben, ausgehend von allen Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses, allen voran Herr Heil mit seiner unsäglichen Rede. (Bettina Hagedorn [SPD]: Was? Das war ein Angebot, gemeinsam den Spitzensteuersatz zu erhöhen!) Dabei wird immer wieder hervorgehoben, die Sparbeschlüsse seien unsozial und wir müssten an die Verursacher der Krise herangehen. Herr Heil, es dürfte auch zu Ihnen durchgedrungen sein, dass diese Krise ihre Ursache in den Börsen von New York und Chicago gefunden hat. Sie reden nie über die Auswirkungen. Ich glaube, man sollte einen Moment darüber nachdenken, wer denn von dieser Finanzkrise und der damit einhergehenden größten Wirtschaftskrise unserer Geschichte betroffen war. Betroffen waren nicht diejenigen, die Sie permanent anführen. Diejenigen, die von sozialen Transferleistungen leben, waren von dieser Krise überhaupt nicht betroffen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die sind jetzt von Ihnen betroffen!) Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir die Rentenbezüge gekürzt hätten. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass wir die Hartz-IV-Sätze gekürzt hätten. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir irgendjemanden, der von sozialen Transferleistungen lebt, in die Situation gebracht hätten, von dieser Wirtschaftskrise betroffen zu sein. (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber wenn die Zusatzbeiträge in der Krankenversicherung steigen, betrifft das genau die! Weniger Netto vom Brutto!) Betroffen waren aber diejenigen, die Unternehmen haben, die Handwerksbetriebe haben, die Umsatzeinbrüche von 70, 80 oder 90 Prozent hinnehmen mussten. Ich kann Ihnen in meinem Wahlkreis kleine Betriebe mit 20 Beschäftigten zeigen - Automobilzulieferer -, die plötzlich nur noch Arbeit für zwei hatten, alle anderen mussten sie in die Kurzarbeit schicken. (Bettina Hagedorn [SPD]: Für die hat die Große Koalition ja auch viel gemacht!) Wir haben dafür gesorgt, dass die Kurzarbeitsregelung möglich wurde, (Bettina Hagedorn [SPD]: Wir haben dafür gesorgt!) sodass weitestgehend niemand entlassen werden musste. Wir haben dafür gesorgt, dass ein Großteil unserer Bevölkerung von dieser Wirtschaftskrise so wenig wie möglich betroffen war. Wenn wir jetzt aber daran gehen, uns der Auswirkungen dessen, was wir beschlossen haben - Konjunkturprogramme, Abwrackprämie, Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren, was nichts anderes als eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme bedeutet -, Stück für Stück, Zug um Zug anzunehmen, müssen wir die gesamte Gesellschaft daran beteiligen; das geht nicht anders. Genau dies tun wir, und zwar in einem ausgewogenen Verhältnis. (Beifall bei der CDU/CSU - Bettina Hagedorn [SPD]: Wenn Sie das doch täten!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil? Norbert Barthle (CDU/CSU): Gerne. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Kollege Barthle, nehmen Sie an dieser Stelle bitte auch zur Kenntnis, dass durch die von uns gemeinsam eingeführte, richtige Regelung der Kurzarbeit - Olaf Scholz hat sie als Arbeitsminister vorgeschlagen - auf der einen Seite richtigerweise Jobs gerettet wurden, weil Unternehmer die Regelung Gott sei Dank in Anspruch genommen haben, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber auf der anderen Seite natürlich einen Beitrag geleistet haben, weil sie dadurch weniger Geld in der Tasche hatten. Das ist schon ein Beitrag der Menschen mit unteren und mittleren Einkommen. Würden Sie mir zustimmen, dass die Frage, welchen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung Spitzenverdiener zu leisten haben, von Ihnen noch nicht geklärt wurde? (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie einmal vom Personenunternehmer!) Wo wir gerade dabei sind, hätte ich noch eine Frage. Ich war auf dem BDI-Kongress, bei dem die Kanzlerin gesagt hat: Das mit der Ökosteuer für die energieintensiven Unternehmen würde schon nicht so schlimm werden; sie habe es zwar als Kanzlerin beschlossen, aber als Abgeordnete würde sie das wieder ändern. Ich bin darüber gar nicht so unglücklich; ich möchte nur wissen: Was machen Sie stattdessen? (Otto Fricke [FDP]: Das hat sie nicht gesagt! Sie hat nicht gesagt: ändern!) - Nicht ändern? Sie lassen es also so, wie es ist? Können Sie das aufklären? Dazu besteht hier Gelegenheit. (Otto Fricke [FDP]: Sagen Sie mal, Sie wissen doch, wie Gesetzgebung funktioniert!) Norbert Barthle (CDU/CSU): Herr Heil, ich bin froh, dass Sie mich gefragt haben. Ich antworte Ihnen gerne. - Ich komme zu den Aussagen der Kanzlerin beim BDI-Kongress. Es ist unbestritten, dass das Stromsteuergesetz Bestandteil unseres Haushaltsbegleitgesetzes ist. Es ist unbestritten, dass wir uns alle Bestandteile dieses Haushaltsbegleitgesetzes im parlamentarischen Beratungsverfahren genau anschauen werden, unter anderem auch das Stromsteuergesetz. (Otto Fricke [FDP]: Dafür sind wir ja da! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wollen Sie die Tabaksteuer erhöhen?) Ich will nicht ausschließen, dass wir an dieser Stelle noch Korrekturen vornehmen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Tabaksteuer erhöhen?) Ich will nicht ausschließen, dass wir ausgerechnet beim Stromsteuergesetz Korrekturen vornehmen. Aber es ist noch lange nicht entschieden, ob wir dafür eine andere Steuer in den Blick nehmen oder sonst etwas machen. (Beifall des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]) Tatsache ist, dass wir die Beträge, die im Haushaltsbegleitgesetz stehen, innerhalb unseres Sparpaketes auch erreichen. Herr Heil, insofern müssen Sie ganz einfach warten, bis die parlamentarischen Beratungen zu Ende sind. Wenden Sie sich an Ihre Kollegen im Haushaltsausschuss. Die können Ihnen immer berichten, wie der aktuelle Stand ist. Spätestens nach der Bereinigungssitzung wissen Sie es. So lange müssen Sie sich gedulden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Möchten Sie meine andere Frage auch noch beantworten? Ich gebe Ihnen die Gelegenheit!) An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen: Das Paket, das wir vorlegen, ist ausgewogen, (Bettina Hagedorn [SPD]: Und wenn Sie es noch hundertmal sagen, das wird nicht richtig!) weil wir ein Drittel im Unternehmensbereich, ein Drittel in unserem eigenen Bereich und nur ein Drittel im sozialen Bereich festmachen. Es wurde schon zum Ausdruck gebracht, dass der soziale Bereich innerhalb unseres Bundeshaushaltes 54 Prozent der Ausgaben ausmacht. Wer den Haushalt konsolidieren will - und dies anders, als es in früheren Jahren geschah, und anders, Herr Heil, als es in NRW geschieht -, kommt nicht darum herum, den gesamten Haushalt in den Blick zu nehmen. Dazu muss ich Ihnen schon einmal sagen, dass ich Ihnen raten würde, Ihre Hetzreden in Nordrhein-Westfalen zu halten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Frau Präsidentin, ich verbitte mir das Wort "Hetzreden"!) Denn dort hat man ganz offensichtlich alle Vernunft über Bord geworfen; dort hat man ganz offensichtlich die Schuldenregel überhaupt nicht zur Kenntnis genommen; dort hat man ganz offensichtlich alles über Bord geworfen, was zu einer Konsolidierung des Haushaltes beiträgt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber ich halte keine Hetzreden!) - Verehrter Herr Kollege, das ist keine Aufgabe, die wir hier in diesem Hause alleine stemmen können. Wenn es darum geht, den Bundeshaushalt, den gesamtstaatlichen Haushalt, zu konsolidieren und langfristig auf gesunde Beine zu stellen, dann brauchen wir die Zusammenarbeit mit den Ländern und die Bereitschaft der Länder, an diesem Ziel, das für uns und für die nachkommenden Generationen so bedeutsam ist, ein Stück weit mitzuwirken. Aber hierzu beobachte ich leider keinerlei Bereitschaft. Aus diesem Grund sage ich nochmals: Wir haben mit diesem Gesetzentwurf ein Konzept vorgelegt, das den Weg in die kommenden Jahre hinein vorzeichnet - nicht nur für das Haushaltsjahr 2011, sondern weit darüber hinaus. Wenn ich dann noch den Zusammenhang zum Energiekonzept herstelle, das in diesen Tagen hier schon beraten wurde und morgen noch intensiv beraten werden wird, dann wird wirklich ein Konzept in die kommenden Jahrzehnte hinein erkennbar. Das unterscheidet uns von Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition. Sie verharren im Hier und Jetzt. Sie beklagen das Jetzt, Sie beklagen das Heute. Wir eröffnen Perspektiven, wir bereiten einen Weg in die kommenden Jahrzehnte hinein. Das unterscheidet uns massiv von dem, was wir von Ihnen zu hören bekommen. Mit diesem Gesetz, das eigentlich nicht Haushaltsbegleitgesetz, sondern Zukunftsstabilisierungsgesetz heißen müsste - zumindest unter Rot-Grün hätte es so geheißen -, schaffen wir stabile Voraussetzungen für die Zukunft dieses Landes und für die Bürgerinnen und Bürger. Und darum geht es letztlich. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich auch noch an den Familienausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind Sie mit den Überweisungen so einverstanden, und die Überweisungen sind so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ELENA aussetzen und Datenübermittlung strikt begrenzen - Drucksachen 17/658, 17/1553 - Berichterstattung: Abgeordneter Kai Wegner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Claudia Bögel für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) Claudia Bögel (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 1. Januar dieses Jahres sind die Arbeitgeber verpflichtet, die Entgeltdaten ihrer Beschäftigten an eine zentrale Speicherstelle zu übermitteln. Dieser Vorgang mit dem schönen Namen ELENA wurde durch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und den Grünen, ins Leben gerufen. Am 16. August 2002 wurde dieses Vorgehen durch Sie beschlossen, seit Januar 2010 per Gesetz angewandt, und nun soll es Ihrem Wunsch nach wieder ausgesetzt werden. (Jens Ackermann [FDP]: Hört! Hört!) Sie sehen mich verwundert. Am 16. August 2002 legte die von der damaligen Bundesregierung eingesetzte sogenannte Hartz-IV-Kommission ihren Bericht zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesagentur für Arbeit vor. Unter anderem sah dieser Bericht die Entwicklung einer Versicherungskarte als Signatur- und Schlüsselkarte vor. Diese sollte für den Abruf von diversen Bescheinigungen zur Verfügung stehen. Das war die Idee. Am 21. August 2002 stimmte die damalige Bundesregierung, an der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen beteiligt waren, zu. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, so war das!) Die Einführung der sogenannten Jobcard war damit beschlossen. Ich fasse noch einmal diesen kleinen Exkurs in die Vergangenheit zusammen: ELENA war ein rot-grünes Projekt, ein Ausfluss der Hartz-IV-Reform, in der letzten Legislaturperiode verabschiedet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun zurück in die Gegenwart. Ihr vorliegender Antrag fordert nun die Aussetzung dieses Verfahrens. Uns Liberalen ist die Kritik an dem Projekt hinsichtlich der Kosten und des übermittelten Datensatzumfangs bewusst. Der Nationale Normenkontrollrat hat auf Bitten der beteiligten Ressorts ein Gutachten zu dem Verfahren erstellt. Es wurde am 13. September 2010 vorgelegt. Das Ergebnis ist bisher nicht zufriedenstellend. Eine Verbesserung im Kosten-Nutzen-Verhältnis für alle Beteiligten wie Bürger, Unternehmen und Verwaltung muss angestrebt werden. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aussetzen!) Das ist richtig. Natürlich darf die Belastung der öffentlichen Haushalte nicht ins Unermessliche steigen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig!) Besonders ernst nehme ich vor allem auch die Kritik des Mittelstandes. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen stimmen Sie unserem Antrag zu!) Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass dieser tatsächlich eine Erleichterung und eine Entbürokratisierung durch das Verfahren erfährt. Der Mittelstand darf nicht durch immer mehr bürokratische Hürden gehemmt werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb: aussetzen!) Zum Beispiel kann man die Effizienz des ELENA-Verfahrens in wesentlichen Punkten erhöhen. In puncto Datenschutz möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die vorliegenden Bedenken zuerst von meiner Fraktion geäußert wurden. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. September 2010 gibt mir recht, wenn ich dazu rate, das Kind jetzt nicht mit dem Bade auszuschütten; (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!) denn hier wurde ein Eilantrag von fünf Beschwerdeführern auf eine einstweilige Anordnung zur Aussetzung des ELENA-Gesetzes abgelehnt. (Beifall bei der FDP - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Eilbedürftigkeit!) Eines ist klar: Das von Ihnen in der Vergangenheit als deutsches Vorzeigeprojekt zum Bürokratieabbau dargestellte ELENA-Verfahren haben wir mit großen Mängeln übernehmen müssen. Die Inhalte der Datenübermittlung wurden durch Sie im Leistungsgesetz verankert. Jetzt so zu tun, als ob man nicht beteiligt gewesen sei, ist doch schon fast bigott. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lamentieren und Forderungen nach schlichter Abschaffung helfen hier nicht weiter. ELENA kann einen Beitrag zur Entbürokratisierung leisten. Das ist richtig. Wir werden ELENA prüfen, korrigieren und hübsch schlank auf den Laufsteg schicken. Ihren Antrag lehnen wir ab. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die hübsche, schlanke ELENA! Das Bild gefällt mir!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Kollegin Doris Barnett hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. Doris Barnett (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen ist eigentlich längst überholt. Das wissen Sie, und es ist schade, dass Sie ihn nicht zurücknehmen. Der Antrag ist wahrscheinlich dem Hype geschuldet, den die Datensammelwut, die im Zusammenhang mit der Telefonüberwachung zu beobachten war, verursacht hat. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts dachte man: ELENA sammelt ja auch. Was liegt da näher, als es gleich mitzukassieren. Dabei ist ELENA die Fortsetzung eines Datensammelverfahrens der Datenerfassungs- und -übermittlungsverordnung aus dem Jahr 1998/99, an dem Sie von der jetzigen Regierung sogar beteiligt waren. Es wurde nur fortgesetzt, weil man auf die Daten, die man für die Krankenversicherung, für die Rentenversicherung und die Finanzverwaltung braucht, aufbaute. Man hat ELENA genommen; denn man braucht ein paar Daten mehr, um Arbeitsbescheinigungen oder auch Nachweise für das Wohngeld oder für das Kindergeld zu erstellen. Auch der Vorwurf der FDP, dass von diesem Verfahren vor allem die kleinen Unternehmen betroffen sind, zieht nicht; denn schon seit dem 1. Januar 2006 müssen, wie Sie, Frau Bögel, eben zu Recht gesagt haben, alle Betriebe die Daten ihrer Mitarbeiter melden, auch die kleinen Unternehmen, zum Beispiel die Gaststätten, die nur einen Mitarbeiter auf 400-Euro-Basis beschäftigen. Jetzt wird im Zusammenhang mit ELENA verlangt, dass zusätzlich ein paar spezielle Daten gemeldet werden, aber nicht an die Krankenversicherung, sondern an eine separate Stelle, bei der die Daten getrennt zu erfassen sind. Bei den Krankenversicherungen ist es bisher übrigens nicht zu Verstößen gegen das Datenschutzgesetz gekommen. Millionen und Abermillionen Daten werden dort seit Jahren gesammelt. Trotzdem kam es noch nie zu einem Verstoß gegen das Datenschutzgesetz oder einem sonstigen relevanten Vorfall im IT-Sicherheitsnetz. Wenn der Datenschutzstandard und der IT-Sicherheitsstandard sehr hoch ist, warum glauben trotzdem ausgerechnet die Grünen, dass im Zusammenhang mit ELENA jetzt plötzlich ein Problem auftritt? Wo soll das Problem denn herkommen? Glauben Sie, dass man bei ELENA andere, weniger gute Sicherheitsstandards einsetzen wird? ELENA darf nicht einfach auf den bestehenden Datenspeicher bei der Krankenversicherung zugreifen, sondern braucht - das habe ich schon gesagt - einen getrennten Datenspeicher, die zentrale Speicherstelle, die jetzt aufgebaut wird. ELENA basiert auf den Datensätzen für die Rentenversicherung, braucht aber ein paar zusätzliche Daten. Sie von den Grünen sagen, dass dort ein Übermaß an Daten vorliegt und dieses begrenzt werden solle. Ich weiß bis heute nicht, wo Sie das Übermaß sehen und was begrenzt werden soll. Anfang des Jahres haben Sie gesagt, dass Daten zu Streikzeiten und Parteizugehörigkeit gesammelt würden. Solche Aussagen schwirren da durch die Luft. Angeblich würde auch die Gewerkschaftszugehörigkeit notiert. Wenn Sie sich das genau anschauen, werden Sie feststellen, dass das alles Unsinn ist. Die Streikdaten sind raus. Es wird nicht notiert, ob jemand gestreikt hat. Das wissen Sie auch. Notiert wird die Zeit, in der kein Geld fließt. Der Grund dafür kann natürlich in der Tat ein Arbeitskampf sein. Das kann aber genauso gut ein unbezahlter Urlaub sein. Die Arbeitsverwaltung muss solche Daten aber wissen, wenn sie auf Basis dieses Datensatzes später zum Beispiel das Arbeitslosengeld berechnen soll. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Antrag nicht gelesen!) Diese Daten muss sie auch heute schon kennen. Nebenbei bemerkt, damit wir uns recht verstehen: Nach wie vor sind zusammen mit dem Datensatz, der an die gesetzliche Krankenkasse zu übermitteln ist, Arbeitskampfzeiten von mehr als einem Monat zu melden. Diese Vorgabe ist bisher nicht entfernt worden. Das steht da noch. Bei ELENA hingegen hat man das bereinigt. Dort wird das nur als Zeit notiert, in der kein Geld fließt. Das ist der große Unterschied, wenn Sie so wollen. Das hat man im Dezember berichtigt, noch bevor Sie Ihren Antrag gestellt haben. Deswegen bin ich ein Stück weit entsetzt. Sie machen die Leute draußen verrückt. Die wundern sich, was da für ein Bohei betrieben wird, fragen sich, was alles an Daten gesammelt wird, obwohl das hinten und vorne nicht stimmt. Es wird auch nichts ohne Wissen der Beschäftigten an ELENA, die zentrale Speicherstelle, gemeldet. Im Gegenteil: Auf den Gehaltsbescheinigungen wird jetzt darauf hingewiesen, dass diese Daten weitergemeldet werden. Das müssten Sie eigentlich schon bemerkt haben. Die Datenbank, die zentrale Speicherstelle, wird jetzt erst einmal aufgebaut. Sie braucht natürlich ziemlich viele Daten, da man vor allem auf Daten zurückgreifen muss, die sich auf einen längeren Zeitraum beziehen. Schon heute ist es so: Für die Berechnung des Arbeitslosengeldes benötigt man Daten, die sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken. Genau diese Daten werden an die zentrale Speicherstelle übermittelt. Es wird dort nicht mehr gesammelt als das, was bisher schon beim Arbeitgeber bzw., wenn es ein kleinerer Arbeitgeber ist, bei dessen Steuerberater gesammelt wird. Deswegen kann ich immer noch nicht nachvollziehen, wo Sie hier die große Gefahr sehen. Mich verblüfft, dass Sie gar keine Bedenken haben, dass der Arbeitgeber jede Menge Daten sammelt - auf welche Art auch immer, elektronisch, in Papierform oder sonst wie - oder auch der Steuerberater, zu dem der Arbeitnehmer ja gar kein Verhältnis hat und zu dem er auch nicht gehen kann, um zu gucken, was für Daten er von ihm sammelt und speichert. Im Gegensatz dazu kann man sehr wohl bei der zentralen Speicherstelle mit der Chipkarte die eigenen Daten abrufen. Es gibt bei ELENA eine extrem hohe Sicherheit, weil eine getrennte Speicherung und eine anonymisierte Verschlüsselung erfolgen, das Vier-Augen-Prinzip eingehalten wird und eine revisionssichere Protokollierung von Zugriff und Löschung vorgenommen wird. Alles das, was uns das Bundesverfassungsgericht im Urteil über die Telefonüberwachung ins Stammbuch geschrieben hat, wird bei ELENA beachtet. Mehr noch: ELENA ist, wenn Sie so wollen, fast die Blaupause dafür, wie man zukünftig arbeitet. In ELENA wird auch alles - so wie es die Gesetze vorsehen - wieder gelöscht. Zum Beispiel werden die Daten, die man braucht, um eine Bescheinigung für Wohngeld auszustellen, nach einem Jahr gelöscht. Die Daten, die man braucht, um Arbeitslosengeld zu beantragen, werden gelöscht, wenn sie vier Jahre alt sind. Sie brauchen da also keine Bedenken zu haben. Deswegen kann ich Sie nur nochmals auffordern: Überlegen Sie, ob Sie uns allen hier, aber besonders den Menschen draußen wirklich einen Gefallen tun, wenn Sie so tun, als hätten wir hier ein Ungeheuer losgelassen; denn das Gegenteil ist der Fall. Seit 1. Januar dieses Jahres sind über 250 Millionen Datensätze im Rahmen von ELENA verarbeitet worden. Das entspricht ungefähr 70 Prozent der Sollmenge. Die meisten kleinen Betriebe machen mit. Nur die großen machen seltsamerweise Probleme. Da es ein vernünftiges Verfahren ist und es hilft, Bürokratie einzusparen, kann ich Sie nur nochmals auffordern: Überlegen Sie sich, ob die Forderungen Ihres Antrages nicht längst erfüllt sind, Ihr Antrag also überholt ist und Sie ihn deswegen zurücknehmen sollten. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man zu so später Stunde über ELENA spricht, hat man sicherlich eine andere Vorstellung, als sich um trockenen Datentransfer kümmern zu müssen. Das primäre Ziel von ELENA - das haben wir heute schon mehrfach gehört - ist ja, Wirtschaft, Bürger und letztlich auch die Verwaltung von bürokratischen und finanziellen Belastungen zu befreien. Es geht darum, Papier einzusparen, das heißt, eine papierlose Verwaltung einzuführen. Am 1. Januar dieses Jahres wurde das Projekt gestartet. Die Grünen fanden das wahrscheinlich sehr aufregend; denn sie haben bereits am 9. Februar, also nicht einmal sechs Wochen nach Einführung des Projektes, einen Antrag darauf gestellt, das Projekt auszusetzen. Meine Damen und Herren, warum brauchen wir eigentlich ELENA? Man muss sich die Zahlen noch einmal vergegenwärtigen. Nach Schätzungen werden im Jahr ungefähr 60 Millionen papierene Bescheinigungen ausgestellt. Das ist eine gewaltige Zahl. Angesichts dieses Wusts an Papieren geht es darum, erstens die Erstellung und zweitens auch die Ausstellung der Bescheinigungen deutlich zu vereinfachen. Zwischen der elektronischen Personalverwaltung, die heute in der Wirtschaft eigentlich gang und gäbe ist, und der elektronischen Sachbearbeitung bei den Behörden klafft einfach eine Lücke; da wird noch Papier beschrieben. Neben der grundsätzlichen Zustimmung zum ELENA-Projekt seitens der großen Wirtschaftsverbände - DIHK, ZDH, ZKA und BDA - und größtenteils auch der Wirtschaft selbst ist das ELENA-Verfahren seit Inkrafttreten in der Öffentlichkeit auch kritisiert worden, und das am Anfang sicherlich auch zu Recht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der DGB, hat sich über Dinge aufgeregt, die der damalige Arbeitsminister Scholz in das ELENA-Verfahren eingebracht hat und die niemand wirklich wollte. Auch vom Bund der Steuerzahler und von der Bundessteuerberaterkammer gab es immer wieder Hinweise zu dem Verfahren. Die Hauptkritikpunkte waren erstens die Verfassungsmäßigkeit, zweitens die mangelnde Verbreitung der sogenannten Signaturkarten, drittens die nicht ausreichende Verfügbarkeit entsprechender Lesegeräte, viertens der Umfang des zu übermittelnden Datensatzes und schließlich fünftens die zusätzliche Belastung für Kleinst- und Kleinunternehmen. Zur Verfassungsmäßigkeit kann man sagen: Die Stellungnahmen des Bundesjustizministeriums, des Bundeswirtschaftsministeriums und des Bundesinnenministeriums besagen ganz klar, dass das Programm ELENA den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Zu den Signaturkarten. Die sogenannte qualifizierte elektronische Signatur ist ein Verfahren, welches technisch beherrschbar und allen bereits bekannt ist. Man setzt es schließlich im Bankenverkehr bereits teilweise ein. Es hat aber in Deutschland bisher zu wenig Verbreitung gefunden. Die Nachfrage ist gering, weil der Bedarf ganz einfach fehlt. Durch das Projekt ELENA würde der Bedarf einer elektronischen Signaturkarte notwendig. Zu den Kartenlesegeräten. Sie sind nicht in dem erforderlichen Umfang vorhanden. Es gibt mittlerweile aber standardisierte einfache Kartenlesegeräte. Wenn es in Deutschland endlich den elektronischen Personalausweis gäbe, dann würden solche Lesegeräte ausreichen, um den Nutzer bzw. den Antragsteller klar zu identifizieren. Zum Umfang der zu erhebenden Daten. Man kann natürlich darüber streiten, ob Streiktage oder ähnliche Dinge in die Datensätze aufgenommen werden sollen. Man muss fairerweise aber sagen: Schon im März dieses Jahres wurde der Datensatz auf die wichtigen Punkte reduziert. Zur Belastung der Kleinst- und Kleinunternehmen. Hierüber kann man sich sicherlich streiten. Ich werde dazu auch noch etwas sagen. Vorweg: Ein Verfahren, das neu eingeführt wird, macht natürlich immer erst einmal Arbeit. Die Unternehmer beschweren sich, dass der Staat immer mehr die Erledigung von Abrechnungen oder Berichterstattung von den Betrieben einfordert. Dieser Aufwand muss natürlich von den Unternehmen getragen werden. Das ist bei der Einführung solcher Projekte einfach so. Wichtig ist nur, dass die Einführung gut vorbereitet wird. Das war wahrscheinlich in diesem Fall nicht unbedingt gegeben. Der Normenkontrollrat hat noch einmal deutlich gemacht, dass es wichtig ist, nicht nur die gegenwärtigen fünf Bescheinigungen in das System einzubeziehen. Es ist wichtig, weitere Bescheinigungen aufzunehmen. Der Normenkontrollrat spricht von Einsparungen an Bürokratiekosten in Höhe von 85 Millionen Euro. Laut Normenkontrollrat kann die Wirtschaft mit jeder zusätzlich einbezogenen Bescheinigung insgesamt 5 Millionen Euro an Bürokratiekosten einsparen. So weit zur Theorie. Jetzt zur Praxis. Ich habe bei uns in Sachsen eine Telefonumfrage durchgeführt. In den letzten zwei Tagen habe ich Unternehmen verschiedener Größen angerufen und gefragt: Wie läuft es bei euch mit ELENA? Beschwert euch das? Was ist damit? Hier ist das Ergebnis: Zwei Unternehmen wussten gar nichts davon. Sie haben gesagt, dass sie ihre gesamte Lohnabrechnung ausgelagert haben. Das machen andere Unternehmen. Pro Kopf wird dann eine bestimmte Summe entrichtet. Diese Unternehmen haben es daher bisher gar nicht gespürt. Von einem Unternehmen mit knapp 800 Mitarbeitern wurde gesagt: Die ganze Sache hat uns große Mühe gemacht, weil schon die Implementierung der EDV aufwendig ist. - Wir wissen auch, dass die ersten Versionen der Software nicht so gut waren und nicht so gut funktioniert haben. Hinzu kommt, dass die Datensätze auch erst einmal eingegeben werden müssen. Als ich bei der Kammer und bei einem Wohnungsunternehmen angerufen habe, sagte man mir: Ja, es gab Aufwendungen. - Die Kosten der Implementierung der Software betrugen 10 000 bis 15 000 Euro. Aber mittlerweile ist das Verfahren in Gang gekommen. Zum Antrag der Grünen kann man nur sagen: Er ist völliger Quark, weil er sehr veraltet ist. Er stammt vom März dieses Jahres. Die Welt hat sich mittlerweile weitergedreht. Wir sagen ganz klar: Kein Aussetzen von ELENA. Das fordern auch die Unternehmer. Sie fragen uns: Was soll denn das? Wenn ihr ELENA jetzt aussetzt, bleiben wir auf allem sitzen; das Verfahren läuft nicht weiter, und der ganze Aufwand war umsonst. Wir brauchen Planungssicherheit und Verlässlichkeit politischer Entscheidungen. Die Softwareprobleme müssen zügig beseitigt werden; das ist ganz wichtig, um die Akzeptanz zu erhöhen. Außerdem müssen wir die Datensätze daraufhin durchforsten, ob alle derzeit vorhandenen Daten tatsächlich notwendig sind. Ich fasse zusammen: Die wichtigsten Punkte im Antrag der Grünen sind schon lange erledigt. Insofern kann ich Ihnen nur empfehlen, Ihren Antrag zurückzuziehen. Ansonsten müssten wir ihn leider ablehnen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Für das "leider" danken wir Ihnen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Jan Korte. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da heute recht viele Innenpolitiker anwesend sind, will ich folgende Bemerkung machen: Das, was heute in Stuttgart abgelaufen ist, ist dermaßen unglaublich, dass wir als Linksfraktion soeben für morgen früh eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt haben. Es ist notwendig, dass diesem Antrag alle Fraktionen zustimmen. (Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Was hat das mit ELENA zu tun?) Ich hoffe, dass Sie das tun werden. Nach Agenturmeldungen war übrigens auch die Bundespolizei in die Geschehnisse verwickelt. (Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Hat das etwas mit ELENA zu tun, Frau Präsidentin?) Wenn man sich die entsprechenden Bilder ansieht, muss man sagen: Da es sich bei Stuttgart 21 um ein Bundesprojekt handelt, ist es in der Tat dringend notwendig, dass wir uns morgen damit befassen, was heute in Stuttgart abgelaufen ist. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema ELENA. Wir haben vor einigen Monaten über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns den Auftrag gegeben, in uns zu gehen und uns eine andere Lösung zu überlegen, weil man es so wie bisher nicht machen kann. Heute diskutieren wir über ELENA, was nichts anderes ist als eine gigantische Vorratsspeicherung sensibelster Sozialdaten. Das ist im Kern das Problem, um das es geht. Deswegen ist der Antrag der Grünen mitnichten veraltet, sondern er ist aktueller denn je, insbesondere im Hinblick auf Hartz IV. (Beifall bei der LINKEN) Das Hauptproblem ist, dass sensibelste Daten zentral gespeichert werden. Das ist unverhältnismäßig und stellt eine große Gefahr für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dar. Zuerst wird gesagt: Die Daten werden nur zum Zwecke der Leistungsberechnung gespeichert. - Diese Argumentation kennen wir. Später heißt es dann: Wenn wir die Daten schon haben, können wir sie auch für die Strafverfolgung, für die Steuerfahndung etc. etc. zur Verfügung stellen. - So fängt es immer an. Das Kernproblem ist: Wenn diese Daten zentral gespeichert sind, werden Begehrlichkeiten geweckt, werden Persönlichkeitsprofile entwickelt. Das darf nicht sein, nicht bei solch sensiblen Daten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum zweiten Punkt, den ich ansprechen will. Über das Kernproblem der ganzen Debatte haben wir bisher noch zu wenig diskutiert. Es geht um die Frage: Warum brauchen wir, wenn es um die Berechnung von Leistungen geht, die den Bürgerinnen und Bürgern zustehen, eigentlich diese immense Zahl hochsensibler Daten? Warum müssen wir all diese Daten erheben? Hartz IV ist nicht nur Armut per Gesetz, sondern auch Demütigung per Gesetz, weil die Betroffenen all diese Daten offenlegen müssen. Wir brauchen eine Reduzierung der Sozialdaten und keine zentrale Speicherung. (Beifall bei der LINKEN) Interessant ist auch, was für ein Kuddelmuddel bei der FDP herrscht. Herr Brüderle sagt auf einmal: ELENA ist zu teuer und bringt zu viel Bürokratie mit sich, und man sollte es vielleicht aussetzen. (Claudia Bögel [FDP]: Das ist doch gar nicht wahr!) Außerdem habe ich gehört, dass Frau Merkel, (Claudia Bögel [FDP]: Frau Merkel ist nicht in der FDP!) die sich nach fünf Jahren endlich entschieden hat, jetzt entscheiden zu wollen, gesagt hat: Vielleicht braucht man ein Moratorium für ELENA. Weil die Wirtschaft Ärger macht und weil die Datenschützer Ärger machen, sollte man darüber einmal nachdenken. Wenn sie tatsächlich eine Entscheidung treffen wollte, dann müsste sie entscheiden, dass ihre Fraktion dem Antrag der Grünen zustimmt. Der Antrag ist nämlich richtig. Außerdem wäre das eine wirkliche Entscheidung. Ich würde sogar sagen: Man muss darüber hinausgehen. Wir brauchen nicht nur ein Moratorium für ELENA, sondern wir brauchen auch ein Moratorium für sämtliche datenschutzrelevanten elektronischen Großprojekte, die noch auf Eis liegen oder in Arbeit sind. Es ist Zeit dafür. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Kernfrage lautet: Wofür brauchen wir diese Daten eigentlich? Der Antrag der Grünen ist, wie gesagt, richtig. Er wurde gerade noch rechtzeitig vorgelegt. Wir sollten ELENA jetzt stoppen. Es wäre auch aus wirtschaftlichen Erwägungen - ich dachte immer, dies sei ein Hauptthema der FDP; ein anderes haben Sie ja nicht mehr -, und zwar gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, von enormem Vorteil, wenn wir das gesamte Projekt aussetzen würden, und zwar sowohl aus Datenschutz- als auch aus Wirtschaftlichkeitserwägungen. Deswegen sollten wir ELENA ohne Wenn und Aber stoppen und in Zukunft - wir sind gerade in den Haushaltsberatungen - keine Gelder für einen Quatsch versenken, den kein Mensch braucht, der in die Grundrechte eingreift und der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung all das, was uns aufgetragen wurde, schlicht nicht beachtet. Deswegen stimmt die Linke dem Antrag selbstverständlich zu. Schönen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eine fröhliche Debatte - wenn ich das einmal so sagen darf -, wenn ich den Kolleginnen und Kollegen von SPD, CDU/CSU und FDP sagen kann: Es lohnt sich, den Antrag einmal zu lesen, anschließend, da die Debatte zum ersten Mal im März erfolgt ist, einmal zu gucken, was über das Jahr hinweg eigentlich passiert ist, und dann, wenn die Debatte noch einmal ansteht, die Rede tatsächlich neu zu schreiben. Das hilft. Sonst erzählt man nämlich das, was man schon vor Monaten erzählt hat und was inzwischen längst überholt und falsch ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es geht um ELENA. ELENA ist das größte Datensammelprojekt, das es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat und das ursprünglich durchaus ehrbaren Zielen dienen sollte, nämlich der Entbürokratisierung und dem Schutz von Interessen. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Sie haben es doch in Gang gesetzt!) - Genau, weil es ehrbaren Zielen dienen sollte. - Aber gute Ideen kann man auch schlecht machen. Das haben Sie in der Großen Koalition - bedauerlicherweise ist von der SPD kaum jemand mehr da - leider schlecht gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ELENA ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Trotz aller Bedenken ist die entsprechende gesetzliche Grundlage am 1. Januar in Kraft getreten. Seither hat die Kritik stark zugenommen. Wir müssen ELENA aus Gründen des Datenschutzes, der Mittelstandsentlastung und aufgrund der enormen Kosten für die Verwaltung sofort aussetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Als wir hier den Antrag meiner Fraktion aus dem Februar, also vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, zum ersten Mal debattiert haben, gab es wie heute Befürworter aus den Fraktionen der CDU/ CSU, der FDP und der SPD. Sie haben wie heute das Datensammeln, Speichern und Verwalten via ELENA vehement gelobt. Es war zu hören: ELENA ist ein Signal für Innovationen und erfüllt höchste Sicherheitsstandards. - Aber inzwischen gab es die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung. Seither sind bis zu diesem Tage eigentlich nur Kritiker von ELENA unterwegs gewesen, übrigens auch aus Ihren Fraktionen. Jetzt ist leider auch Frau Piltz nicht mehr da. Sie gehört auch dazu. (Jan Korte [DIE LINKE]: Doch, sie ist da!) - Ich habe Sie übersehen. Verzeihung! Ich nenne sie Ihnen einmal: den Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar, den ehemaligen Bundesinnenminister Baum, die Kolleginnen und Kollegen der Koalition Piltz, Ahrendt und Philipp, die Bundesjustizministerin, den Bundeswirtschaftsminister und selbst die Bundeskanzlerin - sie alle haben sich öffentlich sehr kritisch zu ELENA geäußert und ein Moratorium gefordert. Genau dieses Moratorium beantragen und fordern wir seit Februar. Es liegt Ihnen heute zur Abstimmung vor. Stellvertretend für alle Kritiker möchte ich hier den Kollegen Hans-Peter Uhl zitieren, der im April erklärt hat - er ist leider nicht hier -, bei ELENA handele es sich um eine Art der Vorratsdatenspeicherung, die weit über die nicht minder umkämpfte verdachtsunabhängige Protokollierung von Telekommunikationsdaten hinausgehe. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat er auch mal einen lichten Moment gehabt! - Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Selbst der Uhl!) - Da hat der Kollege Uhl einen lichten Moment gehabt. - Er ergänzt noch, es liege ihm am Herzen, auf einen "Wertungswiderspruch" hinzuweisen. So habe das Bundesverfassungsgericht das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationssektor gekippt, obwohl es dort "um vergleichsweise harmlose Daten" gehe. Demgegenüber würden bei ELENA "deutlich sensiblere" Informationen etwa über Einkommen, Fehlzeiten oder Kündigungen gesammelt, und dies zum Zweck des Bürokratieabbaus, der ein minderes Rechtsziel darstelle. - Das sind wahre Worte, gelassen ausgesprochen vom Kollegen Uhl. Da dürfen Sie ruhig klatschen, er ist nämlich ein Fraktionskollege. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir dieses Mal! - Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erste Mal! - Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann sich ja nicht wehren!) In der Tat stellt sich die Frage - um auf die Äußerungen der Kollegin Barnett einzugehen, die auch nicht mehr da ist -, ob eine anlasslose, zentrale und massenhafte Speicherung von sensibelsten Daten zum Zweck des Bürokratieabbaus legitim sein kann, wenn das Verfassungsgericht eine solche Datensammlung selbst für höchste Rechtsgüter wie den Schutz von Leib und Leben für verfassungswidrig erklärt hat. Zum Bürokratieabbau, dem Sie hier Lobgesänge widmen, kommt es eben nicht. Nach einem Gutachten des Nationalen Normenkontrollrates sind bei der Umsetzung von ELENA für die öffentliche Hand bis zu achtmal höhere Kosten als geplant zu erwarten. Auch für kleine und mittlere Betriebe gibt es erhebliche Mehrkosten, die so nicht eingeplant waren. Hinzu kommt noch, dass ELENA gegen fundamentale Datenschutzgesetze verstößt. Bezüglich der übermittelten Daten, die alle seit dem 1. Januar 2010 an die Zentrale Sammelstelle gesandt werden, gibt es bis 2012 keinen Auskunftsanspruch. Bis 2012 können Sie also nicht erfahren, was Ihr Arbeitgeber dahin übermittelt. Das ist ein klarer Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gerne. - Ich komme zum Schluss. Manchmal soll es Regierungsfraktionen ja schwerfallen, aus Gründen der Fraktions- oder Regierungsdisziplin sinnhaften Anträgen der Opposition nicht zustimmen zu können. Darum geht es heute aber nicht. Heute geht es darum, dass Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als zuzustimmen, wollen Sie nicht sich selbst, Ihre Ministerinnen und Minister und Ihre Kanzlerin im Bereich des Datenschutzes der totalen Lächerlichkeit preisgeben. Wir werden das Abstimmungsverhalten genau verfolgen. Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE] - Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Wollen Sie eine namentliche Abstimmung?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel: "ELENA aussetzen und Datenübermittlung strikt begrenzen". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1553, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/658 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Piltz nicht!) Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht - Drucksache 17/2637 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Max Stadler für die Bundesregierung das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Folgender Fall hat sich tatsächlich zugetragen: Das Opfer einer schweren Straftat, nämlich einer Entführung, hat einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt. Daraufhin sind die Telefone dieses Anwalts - sowohl die in der Kanzlei als auch das Mobiltelefon - durch gerichtlichen Beschluss überwacht worden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Erst das Bundesverfassungsgericht hat diese Überwachungsmaßnahme aufgehoben. Immerhin wurde den Karlsruher Richtern durch diesen unglaublichen Vorgang die Gelegenheit geboten, in dem Beschluss vom 30. April 2007 - ich zitiere - "die herausgehobene Bedeutung einer nicht-kontrollierten Berufsausübung eines Rechtsanwalts zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant" hervorzuheben. Meine Damen und Herren, über diese Bedeutung des Schutzes des Vertrauensverhältnisses zwischen Mandant und Anwalt sind wir uns alle hier im Hohen Haus sicher einig. Es war ja auch mit § 160 a Abs. 1 StPO der Versuch unternommen worden, dieses Vertrauensverhältnis vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Aber die bisherige Regelung ist nach unserer Auffassung unzureichend. Das korrigieren wir jetzt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unternehmen wir einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Bürgerrechte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sorgen dafür, dass in Zukunft wieder alle Rechtsanwälte und nicht alleine die Strafverteidiger gleichermaßen vor heimlichen Ermittlungsmaßnahmen des Staates geschützt werden. Damit stärken wir das Vertrauensverhältnis zwischen Mandanten und Anwälten, und wir stärken zugleich das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den freiheitlichen Rechtsstaat. (Beifall bei der FDP) Die Koalition setzt damit ein wichtiges Vorhaben aus ihrem Regierungsprogramm um. Für mich ist das praktizierte Bürgerrechtspolitik. Wir erfüllen damit das Versprechen, das ungestörte Vertrauensverhältnis zwischen Anwälten und Mandanten als das Fundament jeder anwaltlichen Tätigkeit besonders anzuerkennen. Was war unzureichend am bisherigen § 160 a StPO? Er erstreckte diesen Schutz nur auf das Verhältnis von Mandanten zu Strafverteidigern. Es ist aber nicht einzusehen, dass dieser Schutz nicht gleichermaßen für das Vertrauensverhältnis der Bürger zu einem Anwalt gelten soll, den sie beispielsweise mit der Wahrnehmung zivilrechtlicher Aufgaben oder in sozialrechtlichen Fällen oder verwaltungsrechtlichen Fällen oder womit auch immer betrauen. Deshalb werden in Zukunft nach unserem Gesetzentwurf alle Rechtsanwälte den gleichen absoluten Schutz in § 160 a Abs. 1 StPO bekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sofern also nicht gegen Anwälte wegen eines Tatverdachts selbst ermittelt wird, dürfen Angehörige der Anwaltschaft und der anderen genannten Berufsgruppen nicht zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden, wenn dadurch Informationen erlangt würden, die von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht umfasst sind. Eine Telefonüberwachung, wie ich sie in dem Eingangsbeispiel geschildert habe, oder eine längerfristige Observation - um nur zwei Beispiele zu nennen - sind in Zukunft in diesen Fällen nicht mehr zulässig. Die bisherige Regelung, die wir vorgefunden haben, war auch völlig praxisfremd. Denn es ist in der Praxis keine Seltenheit, dass andere Rechtsgebiete immer wieder mit strafrechtlichen Fragen in einem Zusammenhang stehen. So kann eine Beratung, die ein Anwalt in einer zivilrechtlichen oder einer steuerrechtlichen Angelegenheit durchführt, durchaus ergeben, dass auch eine Strafverteidigung nötig wird. Aus diesem Grund hat die bisherige Regelung auch aus Praktikabilitätserwägungen zu Recht die Kritik der Anwaltschaft gefunden. Dass diese Kritik heutzutage weitverbreitet ist, zeigte übrigens jüngst eine Entschließung des Bundesrats. Der Bundesrat hat nämlich zu § 20 u des BKA-Gesetzes, des Gesetzes über das Bundeskriminalamt, festgestellt, dass auch dort dieselbe nicht nachvollziehbare Unterscheidung wie in der bisherigen Vorschrift des § 160 a StPO enthalten sei, und hat uns aufgefordert, diese Unterscheidung auch dort zu beseitigen. Meine Damen und Herren, wir sind bereit, diesen Vorschlag des Bundesrats zu prüfen, genauso wie wir auch prüfen wollen, ob nicht weitere Berufsgeheimnisträger, die bislang nur einen relativen Schutz genießen, in § 160 a StPO besser geschützt werden sollen, zum Beispiel Steuerberater, Notare oder Ärzte. Ich freue mich, dass es mit dem heutigen Gesetzentwurf möglich ist, eine Vereinbarung, die CDU/CSU und FDP im Koalitionsvertrag getroffen haben, umzusetzen. Dies ist ein Projekt zum besseren Schutz der Bürgerrechte. Ich hoffe darauf, dass wir dafür die breite Unterstützung des Hauses finden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Peter Danckert. (Beifall der Abg. Petra Ernstberger [SPD]) Dr. Peter Danckert (SPD): Nicht zu viel Beifall. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Man muss der FDP gratulieren. Sie haben sich in dem Koalitionsvertrag in dieser jetzt hier zu behandelnden Materie durchgesetzt und ein Versprechen eingelöst, mit dem Sie in der Anwaltschaft kräftig geworben haben. Ich sage das ohne jeden Neid. Ich erinnere mich nur - Herrn Kauder wird es genauso gehen - an die Anhörungen im September 2007 zum Telekommunikationsgesetz und an die Beratungen im Parlament im November 2007, die dann zu dem § 160 a StPO geführt haben. Ich weiß nicht, ob der Kollege Sensburg auf das eingehen wird, was seine Fraktion veranlasst hat, auf die Vorschläge der FDP einzugehen. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Gern!) Wenn wir uns die Entwicklung in dieser Zeit ansehen, dann stellen wir fest, dass es damals eine heiße Debatte über die Frage gab, wie weit der Geheimnisschutz gehen soll und welche Personen betroffen sein sollen. Ursprünglich war der § 53 a der StPO einschlägig, der durch einen Änderungsantrag in den § 160 a übergegangen ist. Das war richtig, weil das der eigentliche Ort war, um die gesetzlichen Regelungen zu treffen. Herr Kauder und ich - das gilt auch für unsere Fraktionen - waren uns einig, wenn ich mich recht entsinne, dass der Schutz, wie wir ihn in § 160 a Abs. 1 festgelegt hatten, ausreichend sein würde. Als überzeugter Anwalt, der jetzt über 40 Jahre auf dem Buckel hat, muss ich sagen, dass es an dieser Stelle problematisch ist, zwischen Strafverteidigern einerseits und Rechtsanwälten andererseits zu unterscheiden. Herr Stadler hat schon ein Beispiel gegeben. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass in der Praxis ein Gespräch mit einem normalen Rechtsanwalt, der Zivilsachen für einen Mandanten bearbeitet, unversehens in ein Gespräch über einen strafrechtlichen Vorwurf münden kann. Dann wird die Sache sehr problematisch, weil der Zivilanwalt nicht der Strafverteidiger ist und durchaus Probleme entstehen könnten, die wir nur dadurch lösen können - das ist auch die Auffassung meiner Fraktion -, dass wir eine Gleichstellung vornehmen und nicht zwischen Strafverteidiger einerseits und Rechtsanwalt andererseits unterscheiden. Insofern trage ich als Anwalt aus Überzeugung, aber nach intensiver Beratung auch meine Fraktion, diese Regelung mit. Ich glaube, wir tun damit nicht nur der Rechtsanwaltschaft insgesamt einen Gefallen, sondern wir nivellieren einen Unterschied, der in der Praxis sehr problematisch war. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass an dieser Stelle - wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln - auch der Grundsatz der effektiven Strafverfolgung, der sich ebenfalls aus der Verfassung ableiten lässt, unter Umständen berührt sein kann. Das waren damals auch unsere Überlegungen. Wir werden das sehr aufmerksam verfolgen. Ich will die mir zustehende Redezeit nicht weiter ausnutzen, weil ich glaube, dass das Haus in dieser Thematik wahrscheinlich einheitlich votieren wird. Auch die Beratungen in den Ausschüssen werden daran nichts ändern. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und lasse mir für das nächste Mal drei Minuten gutschreiben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird nicht gehen, Herr Kollege!) Vielen Dank. (Beifall bei der SPD - Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das mit dem Gutschreiben merke ich mir!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: So einfach ist das dann doch wieder nicht. Das Wort hat nun der Kollege Dr. Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das mit dem Gutschreiben hätte mich mit meinen zwölf Minuten Redezeit auch interessiert, aber ich habe gelernt, dass das nicht so einfach ist. Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf um die Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten in der Strafprozessordnung und damit um die Erweiterung des Schutzes in einem besonderen Bereich der Berufsgeheimnisträger. Es handelt sich zwar um einen nicht sehr groß gefassten Bereich, wie ich gleich aufzeigen werde, aber um einen Bereich, dessen Ergänzung sinnvoll ist. Es geht darum, den Unterschied zwischen Verteidiger und Rechtsanwalt in § 160 a der StPO abzuschaffen. In der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem § 160 a StPO den Unterschied dahin gehend ausgestaltet, dass wir ein absolutes Erhebungs- und Verwertungsverbot unter anderem für den Bereich der Strafverteidiger und ein relatives Verbot von Maßnahmen gegenüber Rechtsanwälten geregelt haben. Für Letztere greift § 160 a Abs. 2 StPO und damit ein Erhebungs- und Verwertungsverbot nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall. Es besteht also bereits jetzt ein Schutz für alle Berufsgeheimnisträger, nur eben in abgestufter Weise. Auf der einen Seite besteht er für Geistliche, wenn sie in der Seelsorge tätig sind, für Verteidiger und Abgeordnete; da gilt insoweit das absolute Erhebungs- und Verwertungsverbot. Auf der anderen Seite gilt für alle anderen Berufsgeheimnisträger der wirksame, aber relative Schutz. Es handelt sich folglich um einen abgestuften Schutz der Vertrauensverhältnisse im anwaltlichen Bereich. Es ist wohl schwerlich zu übersehen, dass man bei Strafverteidigern, die in der Beratung mit dem Mandanten strafrechtsrelevante Sachverhalte besprechen, eine andere Interessenlage hat als bei einem Rechtsanwalt, der zum Beispiel auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit seinem Mandanten diskutiert. Ich glaube, es ist klar zu erkennen, dass das der Grund der Differenzierung gewesen ist. Das ist auch nachvollziehbar. Der Übergang vom Anwalts- zum Verteidigermandat ist in der Praxis aber oft fließend. Darum wollen wir eine Gleichstellung. Klarheit und auch Sicherheit schaffen wir insoweit für die Rechtsanwälte. Aber das ist nicht nur für die Rechtsanwälte wichtig, sondern auch für die Mandanten, die den feinen Unterschied des Übergangs vom Rechtsanwaltsmandat zum Strafverteidigermandat nicht erkennen können. Durch den Wegfall dieser Unterscheidung schaffen wir Klarheit sowohl für die Anwaltschaft als auch für die Mandanten, die sich dann keine Sorge machen müssen, ob sie sich im Bereich der strafrechtlichen Beratung oder im Bereich von anderen Beratungstätigkeiten bewegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist es, was Staatssekretär Stadler gesagt hat: Aus der Anwaltschaft wird über die Verunsicherung von Mandanten berichtet. Da schaffen wir jetzt Klarheit. Anwälte sind als unabhängige Organe der Rechtspflege unverzichtbar für einen funktionierenden Rechtsstaat. Die unbehelligte Arbeit der Anwälte und ihr Schutz vor Ermittlungsmaßnahmen sind daher ein hohes Gut. Ganz konkret ist es für das Mandantenverhältnis von großer Bedeutung, dass eine ungestörte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant stattfinden kann. Die Besorgnis, ein Anwalt könne im Rahmen seiner Mandatsausübung abgehört werden, würde diesem Vertrauensverhältnis Schaden zufügen, und deswegen ändern wir auch § 160 a StPO. Gerade mit Blick auf die Debatten aus dem Jahre 2007 - der Kollege Danckert hat es gerade angesprochen - halte ich es für wichtig, § 160 a StPO einmal in den Gesamtkontext der Schutznormen einzuordnen und zu zeigen, wo die einzelnen Schutzbereiche in diesem Themengebiet liegen. Bei der Beschlagnahme von Schriftstücken gilt bereits jetzt § 97 StPO für alle Anwälte und damit im Bereich ihres Mandantenverhältnisses. Auch der Bereich der akustischen Wohnraumüberwachung, also das Abhören und Aufzeichnen im Wohnraum ohne Wissen des Betroffenen, ist für Anwälte bereits jetzt geregelt, nämlich in § 100 c Abs. 6 StPO. Damit haben wir auch hier einen Schutz für alle Rechtsanwälte. Mit der Erweiterung von § 160 a StPO soll nun der Schutz vor allen anderen Ermittlungsmaßnahmen gegen Rechtsanwälte ausgedehnt werden. Das ist richtig. Wir haben gerade gehört, welche Bereiche das umfassen kann. Insbesondere sind es die Telekommunikationsüberwachungen, also die sogenannten TKÜ, auch die längerfristige Observation, die Staatssekretär Stadler gerade dargestellt hat; das findet in der Praxis aber eher weniger statt. Es sind in der Regel die TKÜ, also die Telekommunikationsüberwachungen, die hier relevant sind. Konkret handelt es sich dabei um das Abhören von Telefongesprächen, das Mitlesen von E-Mails oder das Mitlesen von sogenannten Kurzmitteilungen wie SMS oder Telefax, wobei die Anzahl der Telefaxe in der Praxis im Verhältnis Mandat zu Rechtsanwalt wohl etwas kleiner wird. Bisher hat es für diese Varianten nach dem aktuell gültigen § 160 a StPO nur sehr selten Maßnahmen zulasten von Rechtsanwälten gegeben. Die Zahl, die uns aus der Anwaltschaft genannt wird, liegt im laufenden Jahr bei unter zehn Fällen von Telekommunikationsüberwachung zulasten von Rechtsanwälten. Man kann daher feststellen, dass wir mit der bisherigen Regelung im Großen und Ganzen gut gefahren sind und gute Erfahrungen gemacht haben und dass die Rechte von Berufsgeheimnisträgern nicht zu kurz kamen. Eine große Zahl von Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von Telekommunikationsüberwachungen zulasten von Rechtsanwälten gab es und gibt es in Deutschland nicht. Trotzdem ist jeder Fall, der stattgefunden hat, problematisch, und jeden Fall müssen wir genau ins Auge nehmen. Das zeigt die Berichterstattung über den vorhin geschilderten Fall Gnjidic aus dem Jahr 2006. Ich glaube, man kann den Namen nennen; denn er ist inzwischen durch die Presse gegangen. Außerdem ist Rechtsanwalt Manfred Gnjidic auf Veranstaltungen präsent. Damals ging es um Ermittlungsmaßnahmen bezüglich der Entführung des Islamisten el-Masri. Konkret ging es um eine Telefonanschlussüberwachung zulasten des Rechtsanwalts, weil man der Überzeugung war, durch diese Telefonüberwachung könnte man herausfinden, wer die Entführer sind. Das ist zu Recht als verfassungswidrig eingeordnet worden. Auch diese Überlegungen sind in die vorliegende Gesetzesnovelle eingeflossen. Das zeigt, dass sich unsere Rechtspolitik nicht an populistischen Überlegungen, sondern an der Praxis misst. Wir schauen, was in der Praxis notwendig ist. Dann passen wir die Gesetzeslage dementsprechend an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist deshalb auch konsequent und folgerichtig, dass wir mit den Erkenntnissen, die wir aus der Rechtsanwendung gewonnen haben, § 160 a anpassen, eine Stufe weitergehen und den Schutz auch auf Rechtsanwälte ausdehnen. Die Fallzahlen aus der Praxis zeigen aber zugleich, dass verfassungsrechtlich keine Gleichstellung mit weiteren Berufsgruppen, zum Beispiel mit Steuerberatern oder Buchprüfern, zu treffen ist. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht der Kollege Kauder anders!) Ich sehe hier keine Anwendungsfälle, die den absoluten Schutz erfordern. Schauen wir einmal, wie wenig Anwendungsfälle wir im Bereich der Rechtsanwälte haben, dann frage ich mich im Umkehrschluss: Wie viele Anwendungsfälle sollen es dann im Bereich der Buchprüfer und Steuerberater sein? Stellen Sie sich einmal vor, in einer gemeinsamen Sozietät würde ein Mandant nicht den beratenden Rechtsanwalt, sondern den Buchprüfer oder den Steuerberater der Sozietät anrufen. Das ist praxisfern. Lassen Sie uns doch beobachten, ob es tatsächlich Fälle in der Praxis gibt und weitere Berufsgruppen in den Schutz genommen werden müssen. (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: So ist es!) Wenn wir feststellen, dass es Anwendungsfälle gibt, dann können wir eine Nachregelung des § 160 a vornehmen. Wenn es aber keine Fälle gibt, dann gilt das verfassungsrechtliche Gebot, den Schutz nicht weiter auszudehnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade der Fall Gnjidic/el-Masri zeigt beispielhaft das Spannungsverhältnis zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und dem Schutz von Berufsgeheimnisträgern auf. Zum einen muss deutlich gemacht werden, dass § 160 a in der alten wie in der geplanten neuen Fassung schon seinem Wortlaut nach nicht auf selbst beschuldigte Zeugnisverweigerungsberechtigte angewendet werden kann. In den Fällen also, bei denen Berufsgeheimnisträger selber als schwarze Schafe in Ermittlungsmaßnahmen involviert sind, bietet § 160 a natürlich keinen Schutz, und das ist meines Erachtens auch selbstverständlich. Die neue Regelung trägt aber auch dem Rechnung, dass es ein Spannungsverhältnis bei der Abwägung zwischen den berechtigten Interessen der Berufsgeheimnisträger und den notwendigen Strafverfolgungsinteressen gibt. Bei dieser Abwägung sagt uns das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich Folgendes - ich zitiere -: Angesichts des rechtsstaatlichen Postulats der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege bedarf die Einräumung von Aussageverweigerungsbefugnissen aus beruflichen Gründen stets einer besonderen Legitimation, um vor der Verfassung Bestand zu haben. Wir brauchen also die besondere Legitimation und können nicht ohne Grund Berufsgruppen hinzunehmen. Ich glaube, das sind zwei Seiten derselben Medaille, die wir in einem Abwägungsprozess berücksichtigen müssen. Gerade die Einzelfälle, die wir in der Praxis in den vergangenen Jahren erlebt haben, bringen uns dazu, § 160 a neu zu regeln. Lassen Sie uns doch einmal schauen, ob eine Ausdehnung auf weitere Berufsgruppen überhaupt praxisrelevant ist. Wenn ja, dann kann man auch darüber diskutieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn ich mir die Debatte um den Haushalt des Justizministeriums vom 16. September 2010 vor Augen halte, in der uns die Fraktion Die Linke vorgeworfen hat, wir seien Sicherheitsfanatiker, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das hat Sie getroffen, oder?) dann kann ich nur sagen, dass sie ein Problem mit dem Rechtsstaat hat. Diese Abwägung findet bei Ihnen nämlich nicht statt. Sie sehen die eine Seite. Sie sehen aber nicht das Strafverfolgungsinteresse des Staates. Mir scheint manchmal, Sie haben ein Problem mit dem Strafverfolgungsinteresse des Staates. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der LINKEN) - Ich kann Ihnen gleich gerne auch noch etwas zur Bundespolizei sagen. Wir haben schon im Zusammenhang mit § 20 u BKAG darüber diskutiert, ob wir Rechte der Berufsgeheimnisträger einschränken. An dieser Stelle bringe ich ein Zitat von Ihnen: Bereits im Vorfeld von Berichterstattungen wird versucht, den Journalisten einen Maulkorb zu verpassen. - So der Wortlaut einer Pressemeldung von Ihnen. Das ist Populismus, und das wird diesen Sachverhalten nicht gerecht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch eine Sache zum Thema Stuttgart 21. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das wollen wir doch nicht auch noch hier diskutieren! "Vertrauensverhältnis zu Rechtsanwälten" heißt die Überschrift!) Man muss schon beide Seiten der Medaille sehen und auch berücksichtigen, dass viele Demonstranten gut vorbereitet waren und Aggressionen von den Demonstranten ausgegangen sind. Außerdem sind Steine geworfen worden. Das war das, was man gerade im Ticker lesen konnte und was man auch auf Bildern im Internet sehen konnte. Meine Damen und Herren, ich glaube, der vorliegende Gesetzentwurf schafft Klarheit im Verhältnis von Anwälten und Strafverteidigern - das ist uns wichtig gewesen -, (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist der einzige Punkt, auf den es ankommt!) er trägt aber auch dem verfassungsrechtlichen Gebot des abgestuften Schutzes der einzelnen Berufsgeheimnisträger Rechnung, und es gelingt, das Strafverfolgungsinteresse des Staates hinreichend zu berücksichtigen. Es handelt sich also um einen ausgewogenen Gesetzentwurf. Ich würde mich daher freuen, wenn auch Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen könnten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Sensburg, ehrlich gesagt, finde ich es nicht angemessen, um mich jetzt zurückzuhalten, demonstrierende Schülerinnen und Schüler mit Leuten gleichzusetzen, die, wie Sie unterstellen, gewalttätige Aktionen auf Demonstrationen durchführen. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ich habe nicht von Schülern geredet!) Das ist keine vernünftige Einstellung zur Zivilcourage. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht geht in die richtige Richtung, greift aber zu kurz. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass die bisherigen Differenzierungen zwischen Strafverteidigerinnen und -verteidigern und sonstigen Rechtsanwälten, wie sie bislang in § 160 a vorgesehen war, aufgehoben wird. Die Mandantin bzw. der Mandat kann nunmehr alle Informationen, die zu einer effektiven Rechtsvertretung notwendig sind, offenbaren. Die Linke ist aber der Auffassung, dass auch Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Journalistinnen und Journalisten, aber auch Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer und Steuerberaterinnen und -berater dem gleichen absoluten Schutz unterliegen müssen wie Strafverteidigerinnen und -verteidiger, Abgeordnete und Geistliche und nunmehr auch Rechtsanwälte. Der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen, dass ein Vorschlag des Bundesrates vorliegt, der geprüft werden soll. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Nach den Ausführungen von Herrn Sensburg sehe ich noch nicht, dass Sie sich durchsetzen können - aber trotzdem viel Erfolg. Auch auf die Berufsgruppen, die ich eben genannt habe, ist das Erhebungs- und Verwertungsverbot hinsichtlich aller Ermittlungsmaßnahmen auszuweiten. Insbesondere psychologische Therapeutinnen und Therapeuten sowie Ärztinnen und Ärzte können ihre Tätigkeit nur dann richtig wahrnehmen, wenn sie ihren Patientinnen und Patienten die Gewähr geben können, dass das, was ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut oder bekannt gegeben worden ist, nicht gerichtlich abrufbar bzw. verwertbar ist. Menschen, die medizinische und therapeutische Hilfe und Sachkunde in Anspruch nehmen wollen oder auch müssen, setzen ein großes Vertrauen in die Personen, denen sie sich offenbaren, denen sie ihr Intimstes verraten. Hier muss die Regierung schnellstens nachbessern. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass das, was einem Geistlichen in seiner Funktion als Seelsorger anvertraut wird, den absoluten Schutz des § 160 a Abs. 1 genießt. Mir ist aber nicht plausibel, warum dies für Therapeutinnen und Therapeuten sowie Ärztinnen und Ärzte in ihrem Verhältnis zu Patientinnen und Patienten nicht gelten soll. Warum sollen Menschen, die sich einem Geistlichen anvertrauen, weniger Angst davor haben müssen, dass das Gesagte öffentlich wird, als die, die sich einer Therapeutin oder einem Therapeuten offenbaren? (Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig!) Die Vorschrift, um die es hier geht, nämlich § 160 a, ist folgendermaßen konstruiert: In Abs. 1 werden diejenigen Berufsgruppen genannt, die absoluten Schutz vor Ermittlungsmaßnahmen genießen, in Abs. 2 die Berufsgruppen, die zumindest einen relativen Schutz haben sollen. Wie soll das aber in die Praxis umgesetzt werden? Wie soll denn die Feststellung getroffen werden, ob eine Information kernbereichsrelevant ist oder nicht? Dazu müssen die Beratungsinhalte doch erst einmal offenbart werden. Danach müsste geprüft werden, ob diese Inhalte nun kernbereichsrelevant sind oder nicht. Diese Feststellung ist aber an keinerlei objektive Maßstäbe gebunden. In einem Rechtsstaat muss aber für alle Beteiligten klar sein, welche Informationen geschützt sind und welche nicht. Deshalb ist eine derart unbestimmte Abwägungsklausel wie in § 160 a Abs. 2 rechtsstaatlich bedenklich. Lassen Sie mich aber an dieser Stelle und zum Schluss noch anmerken, dass diese Kritik nicht neu ist. Was wir hier kritisieren, ist die Folge - das wurde bereits gesagt - des hier beschlossenen Telekommunikationsüberwachungsgesetzes. Die Linke hat damals mit immer noch tragenden guten Gründen das Telekommunikationsüberwachungsgesetz abgelehnt. Der Abbau von Bürgerrechten und rechtsstaatlichen Grundstandards ist mit uns nicht zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb möchte ich mit einer Bitte schließen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, schauen Sie sich bitte noch einmal Ihren Antrag 16/11170 aus der letzten Legislaturperiode an und bringen Sie ihn bitte erneut ein. Wir stimmen dann zu. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Jerzy Montag. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Koalition ist richtig und notwendig. Wir stimmen ihm zu. Aber der Gesetzentwurf greift viel zu kurz, und dazu will ich etwas sagen. Jawohl, der Staat hat die Verpflichtung, Straftaten zu ermitteln und Straftäter zu verfolgen. Das Gesetz, § 163 der Strafprozessordnung, sagt, wie das zu geschehen hat: indem Ermittlungen geführt werden. Ich zitiere aus dem Gesetz: "Ermittlungen jeder Art". Die Frage stellt sich: Wirklich jeder Art? Natürlich nicht jeder Art, obwohl es so im Gesetz steht. Es ist verboten, zu ermitteln, indem man selbst Straftaten begeht. Es ist verboten, zu ermitteln, indem man verbotene Vernehmungsmethoden benutzt. Es ist verboten, zu foltern. Es wird aber auch ermittelt, indem man Zeugen über ihr Wissen befragt. Dazu gibt es ebenfalls Ausnahmen, und zwar in § 53 StPO. Bestimmte Berufsgeheimnisträger, nicht nur die Rechtsanwälte, sondern auch die Ärzte, die Psychiater und die Psychologen dürfen die Aussage als Zeuge verweigern, weil sie Schweigepflichten haben. Dieses Recht gilt absolut und für alle Berufsgruppen gleich. Die Strafrechtspflege wird dadurch natürlich rechtsstaatlich begrenzt, weil man die Aussagen dieser Zeugen nicht bekommen kann; denn sie müssen nicht aussagen. Jetzt kann man das Wissen dieser Zeugen auch auf eine andere Weise ermitteln, als sie zu fragen. Man kann hinter ihnen her spionieren, man kann ihre Telefone überwachen, man kann alle geheimen Ermittlungsmethoden anwenden, die die Strafprozessordnung vorsieht. Das dient dazu, herauszufinden, welches Wissen sie haben, ein Wissen, zu dem sie, würde man sie befragen, die Aussage zu Recht verweigern könnten. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Bei einem Zeugen?) - Als Zeugen, selbstverständlich, nach § 53 StPO. Soweit ihr Aussageverweigerungsrecht greift, ist das so. Jetzt ist es unlogisch und schon immer falsch gewesen, dass es bei diesen Ersatzmaßnahmen zur Erlangung von Erkenntnissen von Zeugen einen abgestuften Schutz gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man einen Arzt als Zeugen fragt, dann darf er sagen: Ich sage nichts. - Aber wenn man sein Telefon abhört, um herauszubekommen, was er sagen könnte, wenn man ihn fragen würde, dann sagen Sie, dieses Abhören sei nicht absolut verboten, sondern nur relativ. Das ist unlogisch. Das war schon immer unlogisch. Deswegen ist es völlig klar: So weit, wie der Schutz nach § 53 StPO für die Aussagen von Zeugen geht, muss natürlich nach § 160 a auch der Schutz bei Ersatzmaßnahmen zur Erlangung dieses Wissens von diesen Zeugen gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jens Petermann [DIE LINKE] - Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Aber nicht zwingend!) Die Bundesregierung weiß das; denn sie schreibt in der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf, dass die bisherige Differenzierung unbefriedigend sei. Ich zitiere wortwörtlich: "unbefriedigend". Sie möchte gerne ein befriedigendes Ergebnis erreichen. Dazu schreibt sie in ihrer Begründung, sie mache erst eine vorsichtige Ausweitung. - Sie ist nicht vorsichtig, sie ist ängstlich und unsystematisch und insofern zu kritisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Ärzte, Psychiater und Journalisten sind empört über diese Ungleichbehandlung, und sie bleiben so lange empört, bis man sie, wie ich es ausgeführt habe, in diesen Rechten gleichsetzt. Lieber Kollege Stadler, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen einen Fall geschildert. Diesen Fall könnte man für einen Arzt, für einen Journalisten, für einen Psychiater und für einen Psychologen genauso konstruieren. Genau das ist das Problem. Wir werden so lange bohren, bis Sie uns zu diesem Gesetz auch die anderen Gesetze vorlegen werden, die Sie so vorsichtig zwischen den Zeilen angekündigt haben. Da bleiben wir miteinander im Gespräch. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Barthel, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Arbeitsbedingungen im Briefmarkt - Sozialklausel nach § 6 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3 Postgesetz und Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Branche Briefdienstleistungen auf Grund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes - Drucksachen 17/1615, 17/2883 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns bereits vor der Sommerpause mit der Großen Anfrage der SPD zu den Arbeitsbedingungen im Briefmarkt befasst. Heute beraten wir die Antwort der Bundesregierung. Nach Auswertung der Antwort kann ich für meine Fraktion Folgendes feststellen: Der Briefmarkt ist auf einem guten Weg; die Entwicklung ist positiv. Ich glaube, dass die Sozialklausel im Postgesetz faktisch überholt ist. Das Bild, das Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, vom Briefmarkt zeichnen - Stichworte: Sozialdumping, massenhafter Lohnwucher -, entspricht zum Glück nicht der Realität. So gibt es bis heute keinen einzigen Fall, in dem eine Lizenz wegen erheblicher Unterschreitung der wesentlichen Arbeitsbedingungen untersagt oder widerrufen werden musste. Das entnehme ich der Antwort auf Ihre Frage 12. Es gibt sogar Bereiche, in denen die Arbeitsbedingungen bei den Wettbewerbern besser als bei der Deutschen Post AG sind. So beträgt beispielsweise die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitarbeitskräfte bei der Deutschen Post 39,2 Stunden; bei den Wettbewerbern sind es durchschnittlich nur 38,9 Stunden. Man kann sagen, dass auch die Lohnentwicklung positiv ist. Während sich bei der Deutschen Post die Löhne zwischen 2007 und 2009 nach unten entwickelt haben, sind sie bei den Wettbewerbern gestiegen. (Klaus Barthel [SPD]: Wegen des Mindestlohns!) Wichtig ist auch: Wer eine Lizenz haben will, muss zuverlässig sein, muss ein sauberes polizeiliches Führungszeugnis vorweisen und steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Finanzämter vorlegen können. Es ist fast so etwas wie eine Ironie der Geschichte, dass an diesen Voraussetzungen ausgerechnet ein früherer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post scheitern würde, würde er heute einen Antrag auf Lizenzerteilung stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sollten endlich aufhören, ein Zerrbild vom Briefmarkt zu zeichnen. Freuen Sie sich lieber mit uns über rund 850 am Markt aktiv tätige und vorwiegend kleine und mittlere Unternehmen sowie über die 31 400 Beschäftigungsverhältnisse, die hier entstanden sind. Man muss sagen, es könnten noch viel mehr sein, wären private Anbieter nicht durch Mindestlohnvorschriften und die Umsatzsteuerbefreiung für den Hauptkonkurrenten in die Insolvenz getrieben worden. Zu Zeiten des Mindestlohns sind zwischen 2007 und 2009 17 000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Dies entnehme ich jedenfalls der Antwort auf Ihre Frage 2. Wenn wir jetzt vergleichen, kann man feststellen: Tendenziell problematische Beschäftigungsverhältnisse gibt es auch bei der Deutschen Post. Von den rund 12 000 Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen, die Ende 2008 im Briefmarkt tätig waren, entfielen rund 10 000 auf die Deutsche Post AG. Dazu kommen noch die Billigtöchter der Deutschen Post, die Stundenlöhne zahlen, die weit unter Tarifvertrag liegen, (Klaus Barthel [SPD]: Erst haben Sie gesagt, alles sei gut, jetzt ist es doch anders! Ist jetzt alles gut oder nicht?) und dies, Herr Barthle, auch noch mit gewerkschaftlicher Unterstützung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich glaube, man muss jetzt einfach den Blick nach vorne richten. Eines muss man bei einer realistischen Betrachtung sehr deutlich sagen: Einen Postmindestlohn 2.0 wird es nicht geben. Wir haben uns mit unserem Koalitionspartner verständigt; das wissen Sie sicherlich, weil Sie unseren Koalitionsvertrag diesbezüglich studiert haben. Nachdem der Postdienstleistungsbereich noch zu Zeiten der Großen Koalition in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen worden ist, würde bei einem zweiten Anlauf das in der Koalition vereinbarte Verfahren mit den entsprechenden Vorgaben für Mindestlöhne gelten. Das Verfahren hat sich in anderen Bereichen bereits bewährt. Kollege Barthel, daran sehen Sie, dass wir das ganz undogmatisch sehen. Ein neuer Branchenmindestlohn bedarf nach unserer Vereinbarung des einstimmigen Beschlusses durch den Tarifausschuss zudem einer einvernehmlichen Regelung im Bundeskabinett. Das hat dazu geführt, dass in der Abfallwirtschaft, der Gebäudereinigung und im Dachdeckergewerbe Mindestlohnverordnungen erlassen worden sind. In anderen Bereichen, etwa beim Wach- und Sicherheitsgewerbe und bei den Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen, ist dies mangels ausreichender Mehrheit im Tarifausschuss nicht geschehen. Ich glaube, man kann feststellen, dass ein neuer Anlauf beim Postmindestlohn am absehbaren Veto der Arbeitgeber im Tarifausschuss scheitern würde. (Klaus Barthel [SPD]: Am Veto der FDP auch, oder?) Ich muss für meine Fraktion sagen: Wir können mit diesem Ergebnis sehr gut leben. (Beifall bei der FDP) Wir wollen - das ist weiterhin unser Ziel - die politischen Voraussetzungen für einen vollständigen, sich selbst tragenden und chancengleichen Wettbewerb herstellen und den Marktzutritt von Wettbewerbern ermöglichen. Der Marktanteil der Wettbewerber der Deutschen Post liegt bisher bei lediglich 10 Prozent. Da ist noch viel Luft; es gibt noch viele Chancen auf neue Arbeitsplätze bei neu entstehenden Unternehmen. Ich glaube, die Verbraucher werden insgesamt von mehr Wettbewerb profitieren, sowohl durch tendenziell niedrige Preise als auch durch ein vielfältigeres, stärker kundenorientiertes Angebot an Postdienstleistungen. Wer es nicht glaubt, sollte sich einfach einmal anschauen, was im Bereich der Telekommunikation zwischenzeitlich alles entstanden ist. Man kann als Fazit feststellen: Die Bundesregierung hat recht; es gibt keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Wie gesagt: Einen Postmindestlohn 2.0 wird es auch nicht geben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. Klaus Barthel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere aus dem Postgesetz: Die Lizenz ist zu versagen, wenn ... Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller die wesentlichen Arbeitsbedingungen, die im lizenzierten Bereich üblich sind, nicht unerheblich unterschreitet. Weiter heißt es: Eine Lizenz kann durch die Regulierungsbehörde ... widerrufen werden, wenn der Lizenznehmer seinen Verpflichtungen nach diesem Gesetz ... nicht nachkommt. Herr Kolb, ich zitiere keine Gesetzentwürfe oder Anträge aus der linken Ecke dieses Hauses, für die wir angesichts von Schwarz-Gelb eh keine Mehrheit hätten. Das ist seit 13 Jahren geltendes Recht für den Wettbewerb im Briefsektor, einer Branche mit mindestens 200 000 Beschäftigten. Die gesetzliche Regelung ist das Ergebnis eines Kompromisses, den die SPD-Bundesratsmehrheit seinerzeit nach langen Auseinandersetzungen mit der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung durchgesetzt hat als Bedingung für die schrittweise Liberalisierung des Postmarkts. Damals haben Sie - Herr Kolb, ich glaube, auch Sie waren dabei - (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Sicherheit!) die zitierten Klauseln gegen Sozial- und Lohndumping und für Sozialstandards als verbindliches Regulierungsziel angenommen. Heute stellen wir fest - wir haben es gerade gehört -: Die schwarz-gelbe Bundesregierung des Jahres 2010 kündigt den damaligen Konsens faktisch auf. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, so würde ich das nicht nennen!) Anders kann man die Antwort auf unsere Große Anfrage nämlich nicht verstehen. Sie haben vier Monate gebraucht, um uns mitzuteilen, dass Sie in bester Tradition Ihrer einjährigen Regierungszeit nichts tun wollen, um dem Recht zur Geltung zu verhelfen. Die Bundesregierung duldet bewusst und gezielt Behördenversagen. Die Bundesregierung lässt unter anderem zu, dass sich eine Bundesoberbehörde weigert, "branchenübliche Arbeitsbedingungen", wie es im Gesetz heißt, als Maßstab für die Lizenzerteilung überhaupt festzustellen, damit sich Lizenznehmer daran orientieren können. Sie lässt es zu, dass eine Bundesoberbehörde es in Zukunft wieder ablehnt, Vollerhebungen wie 2007 und 2009 zu den Arbeitsbedingungen überhaupt festzustellen, dass sich diese Behörde weigert, gegen massenhafte und gravierende Unterschreitung dieser Arbeitsbedingungen vorzugehen, und dass bis heute eigentlich niemand so genau weiß, wie viele Menschen bei all den Subunternehmen, bei den Erfüllungsgehilfen, von denen Sie hier gerade geredet haben, überhaupt arbeiten und wie es denen eigentlich geht, obwohl Gerichtsurteile ganz klar sagen, dass auch die zu erfassen sind. Die Kanzlerin - das finde ich in unserem Rechtsstaat spannend - hat neulich in anderem Zusammenhang erklärt, Sie werde keine rechtsfreien Räume zulassen. Im Briefsektor wäre es ganz einfach, aufzuräumen: Ein Gesetz ist da; eine zuständige Behörde ist da; die Datenbasis dafür könnte da sein. Doch das Ergebnis - insofern müssen wir einfach einmal genauer hinschauen - dieses rechtsfreien Raumes ist, dass der Briefsektor immer mehr zum Niedriglohnsektor übelster Art verkommt. Der Durchschnittslohn bei den Wettbewerbern der Deutschen Post AG liegt 2009 sogar nach den nicht überprüfbaren Angaben der Wettbewerber selbst um mehr als ein Drittel unter dem der Deutschen Post AG. 2007 waren es noch rund 40 Prozent, und jetzt, als die Regelungen über den Postmindestlohn ausgelaufen ist, geht die Tendenz wieder weiter nach unten. Die als Durchschnitt der Wettbewerber ermittelten Löhne verschleiern außerdem die Realität mehr, als dass sie sie abbilden, weil einige Wettbewerber tatsächlich höhere Löhne bezahlen und auch Führungskräfte mitgerechnet werden. In zwei Bundesländern haben wir sogar Durchschnittslöhne von unter 6 Euro, und ein global agierender Postkonzern aus den Niederlanden brüstet sich in aller Öffentlichkeit damit, seinen Zustellern zwischen 6,75 Euro und 7,60 Euro zu zahlen. Bei öffentlichen Ausschreibungen von Behörden wie Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit, Landesministerien oder der Justiz bekommen die Billiganbieter den Zuschlag für die Zustellung von Behördenpost, weil der preisgünstigste Bewerber genommen wird. Die Zusteller, die dort arbeiten, kommen dann wieder zu ebendiesen Behörden - zum Staat -, um die Aufstockung ihrer Dumpinglöhne zu beantragen. Absurder geht es doch gar nicht, meine Damen und Herren. Den Vergabestellen sind scheinbar die Hände gebunden, weil die Anbieter darauf verweisen können, dass sie eine Lizenz haben, scheinbar die Lizenz zum Lohn- und Sozialdumping. Jeder halbwegs seriöse Unternehmer in diesem Wettbewerb ist der Dumme, weil alle Wettbewerber in den Sog dieses Lohndumpings kommen. Das führt jetzt dazu, dass die Deutsche Post AG wieder einmal der Gewerkschaft Verdi damit droht, weitere Zustellbezirke outzusourcen, wenn es beim Lohn keine weiteren Zugeständnisse nach unten gibt. Die Spirale dreht sich also weiter. Diese Fakten sind amtlich bekannt. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort, es lägen der Bundesnetzagentur - Herr Kolb - "zu keiner Zeit Erkenntnisse vor, die hier ein postrechtliches Eingreifen gerechtfertigt hätten", obwohl die Fakten so sind, wie ich sie beschrieben habe. Das ist der Wettbewerb, von dem Union und FDP träumen. Die Bundesregierung will die sozialen Standards im Gesetz stehen lassen. Herr Kolb hat gesagt, er wolle sie eigentlich nicht drinstehen lassen. Ich bin gespannt, was insofern von anderer Seite kommt. Vor ein paar Tagen wurde eine Studie von Input Consulting veröffentlicht. In ihr kann man lesen, dass es durchaus Wege gegeben hat, die Lohnsenkungsspirale zu durchbrechen. Diese Studie sollte sich die Koalition, insbesondere die Union, einmal durchlesen. In der Großen Koalition haben wir nämlich mit Müntefering, mit den Postarbeitgebern und mit Verdi den Mindestlohn durchgesetzt. Das hat dazu geführt, dass die Stundenlöhne tatsächlich gestiegen sind, nämlich im Westen um 8,8 Prozent und im Osten um 11,8 Prozent. Die Studie zeigt auch auf, dass die Behauptung, der Mindestlohn hätte Arbeitsplätze vernichtet - das haben wir heute wiederholt gehört -, unhaltbar ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da ist die Statistik aber deutlich!) Der Mindestlohn für die Briefbranche und sein Erfolg widerlegt aber auch die Behauptung vonseiten der Linken, wir als SPD würden heute etwas beklagen, wogegen wir selber nichts getan haben. (Beifall bei der SPD) Jetzt stehen wir vor der Situation, dass der Postmindestlohn aus formalen Gründen aufgehoben ist und die Gewerkschaften heute keinen Arbeitgeber, keinen neuen Verband mehr finden, um einen neuen Antrag zu stellen. Der Mindestlohn ist weg, und die Löhne sinken wieder. Das ist die Bilanz, die wir nach 15 Jahren Postreform ziehen müssen. Der Wettbewerb funktioniert nach wie vor nicht. Der Markt schrumpft unaufhaltsam. Die Dienstleistungsqualität verschlechtert sich an vielen Stellen. Arbeitsplätze und Einkommen verschwinden. Das ist genau das Gegenteil all der Verheißungen, die wir seit 20 Jahren hören. Damit ist der Postsektor zum traurigen Symbol einer gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 20 Jahre geworden, nämlich des ökonomisch und politisch erzwungenen Abstiegs der gesellschaftlichen Mitte. Der Postbote, der Paketfahrer, der Schalterbeamte - das waren bis in die 90er-Jahre anerkannte gesellschaftliche - man muss fast sagen - Institutionen. Ein Zusteller bekam 1997 im Schnitt 28 Mark Stundenlohn und eine anständige Altersversorgung. Das wären heute gut 14 Euro in der Stunde. Aber selbst der Zusteller bei der Post AG erleidet heute trotz enorm gestiegener Arbeitsbelastung einen Realeinkommensverlust. Von einem Renteneintritt mit 65 kann er angesichts eines Wirbelsäulenschadens nur träumen; die neuen Beschäftigten in der Briefbranche können das ganz vergessen. Hier sinkt ein ganzer Berufsstand in den unteren Einkommensbereich ab und verliert mindestens die Hälfte seines Einkommens. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Klaus Barthel (SPD): Sofort. - Ohne Mindestlohn - das belegen die Zahlen der Bundesnetzagentur, die zum Teil in der Antwort vorkommen - bekommt der durchschnittliche Zusteller bei den Wettbewerbern heute einen Stundenlohn, der ihn selbst bei Vollzeit zum Aufstocker degradiert, von den Minijobbern und den anderen ganz zu schweigen. Das ist eines der Beispiele dafür, wie neoliberale Politik Leistungsträger zu Leistungsempfängern macht. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Ansehens und des Selbstwertgefühls. Es ist eine Frage des Vertrauens in die Politik, in den Rechtsstaat und seine Institutionen. Sie sollten noch einmal genauer darüber nachdenken, ob Sie dieser Entwicklung weiter zuschauen wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Barthel, ich weiß nicht, wer Ihnen die Rede aufgeschrieben hat; der Redenschreiber scheint mir nicht besonders sachkundig gewesen zu sein. (Beifall des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU]) Es ist festzuhalten, dass der Wettbewerb im Gegensatz zu dem, was Sie ausgeführt haben, funktioniert; denn wenn der Wettbewerb nicht funktionieren würde, dann gäbe es nicht 857 Lizenznehmer, nur einer davon ist die Deutsche Post. Herr Barthel, Sie haben die Zahl von 12 000 Erfüllungsgehilfen genannt. Sie müssen aber dazu sagen, dass von den 12 000 Erfüllungsgehilfen allein die Post 10 000 Erfüllungsgehilfen beschäftigt. (Klaus Barthel [SPD]: Ist das gut oder schlecht?) Man muss sich fragen, Herr Barthel, was mit den 10 000 Erfüllungsgehilfen ist, die die Post beschäftigt. (Klaus Barthel [SPD]: Das fragen wir ja Sie!) Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Wenn man sich mit dem Thema Bezahlung auf dem Briefmarkt befasst, dann muss man die gesamte Wettbewerbssituation betrachten. Schrumpfender Markt als Folge des Wettbewerbs, es ist gruselig, was Sie da erzählen. Der schrumpfende Markt ist nur deswegen entstanden, weil die Zahl der Postsendungen enorm zurückgeht, weil es - vielleicht ist es bei Ihnen noch nicht angekommen - elektronische Wege gibt. Es gibt heute ganz andere Möglichkeiten, in Kommunikation zu treten. Ich weiß nicht, wann Sie den letzten Brief geschrieben haben. Wenn ich allein überlege, wie viele Briefe ich als Jugendlicher an meine Freundinnen geschrieben habe. Heute rufe ich meine Frau an; ich habe bloß noch eine. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jeder muss sich einfach einmal klarmachen, dass die Summe der Postdienstleistungen stark zurückgegangen ist. Wenn die Bevölkerungszahl sinkt, dann geht auch die Zahl der Dienstleistungen auf dem Briefmarkt zurück. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das jetzt für eine Aussage?) Es ist doch völliger Unsinn, diesen Zusammenhang herzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben den Mindestlohn bei der Post gelobt. Das war das größte Eigentor, das die Post je geschossen hat. Das wissen Sie ganz genau, Herr Barthel. Das, was Sie hier erzählt haben, ist einfach falsch. Die Deutsche Post AG kann den Mindestlohn, den sie selbst ausgehandelt hat, nicht mehr bezahlen. (Klaus Barthel [SPD]: Wieso nicht?) Deshalb hat sie eine Tochterfirma gegründet, die First Mail. (Klaus Barthel [SPD]: Da bezahlt sie ihn aber!) Die Post schiebt ihre Mitarbeiter, denen sie den alten Mindestlohn nicht mehr zahlen kann, zur First Mail, um sie zu den Bedingungen der Wettbewerber zu bezahlen. (Klaus Barthel [SPD]: Nein, da werden 9,80 Euro gezahlt!) Das sind die Folgen des Mindestlohns. Das ist ganz eindeutig. Sie wissen ganz genau, dass die Post trotzdem mit ihrem Geld nicht auskommt und wir im Zusammenhang mit dem Postgesetz über verschiedene Dinge reden müssen. Dadurch, dass der Mindestlohn, der von der Deutschen Post eingeführt wurde, durch das Verwaltungsgericht - nicht durch die Politik - zum Glück aufgehoben worden ist, wurden die Voraussetzungen für einen Wettbewerb geschaffen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie machen die Menschen arm!) - Es geht jetzt nicht um die Menschen. Es ging um den Fakt, dass Herr Barthel gesagt hat, der Mindestlohn war ein Erfolg. Er war genau das Gegenteil davon. Wenn Sie mit den Postleuten reden, werden Sie merken, dass sie das ganz genau wissen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Lämmel, darf ich Sie unterbrechen? - Der Herr Kollege Barthel würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Ja, natürlich. - Bitte schön, Herr Barthel. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte. Klaus Barthel (SPD): Herr Lämmel, woher nehmen Sie eigentlich Ihre Kenntnis, dass bei der First Mail, dem Tochterunternehmen der Deutschen Post, der Mindestlohn nicht gezahlt wird? Die Fragen, die sich, selbst wenn er nicht gezahlt würde, daran anschließen: Warum finden Sie es eigentlich gut, dass inzwischen auch bei der Post AG Bedingungen wie bei den ganzen Dumpingwettbewerbern herrschen? Warum finden Sie es gut, dass sich die Spirale weiter nach unten dreht, weil der Mindestlohn weg ist? Ich verstehe Ihre Logik nicht ganz. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Barthel, ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich das gut finde. Ich habe lediglich den Fakt erwähnt, dass die Deutsche Post ihren Leuten den Mindestlohn nicht mehr zahlen kann, und sie deswegen eine Tochterfirma gegründet hat, um diese Löhne nicht länger zahlen zu müssen. Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich das gut finde. Zum Zweiten kann ich sagen: Die Behauptung, dass die Wettbewerber ausschließlich Dumpinglöhne zahlen, wurde von Ihnen in den Raum gestellt. Löhne bilden sich am Markt. Das wissen Sie ganz genau. Da die Wettbewerber für ihre Dienstleistung keinen höheren Erlös erzielen können, weil sie bei ihrem Vorhaben, ein neues Geschäft aufzubauen, einem Monopolisten gegenüberstehen, kann das Lohnniveau bei ihnen - Sie können eins und eins zusammenrechnen - nicht so hoch sein wie bei der Post, die aus einem staatlichen Unternehmen, quasi aus dem Beamtenapparat heraus entstanden ist. Sie haben die Tarifverträge angesprochen. Herr Barthel, uns wäre es hundertmal lieber, wenn es im Bereich der Briefpost einen Tarifvertrag gäbe. Für den Abschluss eines Tarifvertrages ist es aber notwendig - das ist eine Grundvoraussetzung; das wissen Sie genau -, dass die Mehrheit der Branche erfasst ist. Die Gewerkschaften müssen sich einmal mit den Arbeitgebern zusammensetzen und darüber sprechen, wie man zu einem Tarifvertrag kommt. In einem Tarifvertrag kann man natürlich - auch das wissen Sie genau - Lohnuntergrenzen formulieren, ohne einen Mindestlohn festzulegen. (Klaus Barthel [SPD]: Gibt es einen Arbeitgeberverband?) - Warten Sie doch einmal! - Wenn die Gewerkschaften aber solche Löhne aushandeln wie Verdi in Sachsen für verschiedene Handwerksberufe, dann ist das der eigentliche Skandal. Der Skandal ist nicht, dass zu wenig bezahlt wird, sondern, dass das tariflich vereinbart wurde. - Das dazu. (Klaus Barthel [SPD]: Welchen Arbeitgeberverband gibt es denn für die Briefbranche?) Zur Rolle der Bundesnetzagentur. Herr Barthel, Sie wissen ganz genau, dass die Bundesnetzagentur den Wettbewerb überwachen soll und keine Sozialagentur ist. (Klaus Barthel [SPD]: Ja, aber sie ist auch an das Gesetz gebunden!) Das heißt, sie überprüft das. Mit keinem einzigen Wort beschreibt sie die Arbeitsbedingungen von heute. (Klaus Barthel [SPD]: Ja, eben!) Die von der Deutschen Post definierten Arbeitsbedingungen entsprechen nicht den durchschnittlichen Arbeitsbedingungen im Bereich des Briefverkehrs. Genau das ist das Problem, Herr Barthel. Wenn es einen Tarifvertrag gäbe, dann hätte man durchschnittliche Arbeitsbedingungen. Dann hätte man die Möglichkeit, bei starken Abweichungen die Sozialklausel greifen zu lassen. Aber die Deutsche Post hat es vorgezogen, einen Haustarifvertrag abzuschließen. Sie hat ihn sozusagen als allgemein definiert. Sie hat ihn zum Mindestlohn angemeldet und hat gedacht, das Problem damit lösen zu können. Sie wissen ganz genau, dass das ein Weg gewesen ist, der völlig in die Irre geführt hat, und dass dadurch insgesamt mehr Schaden entstanden ist, als es an Nutzen gebracht hat. Zusammenfassend ist festzustellen: Die Große Anfrage hat noch einmal ein paar wichtige Zahlen deutlich gemacht. Sie hat aber auch deutlich gemacht, dass für uns, für den Gesetzgeber im Moment kein Handlungsbedarf besteht. (Klaus Barthel [SPD]: Nein, Umsetzungsbedarf!) Denn jetzt ist die Branche ganz einfach aufgefordert, sich zu finden, sich zu organisieren und in Tarifvertragsverhandlungen einzutreten. (Klaus Barthel [SPD]: Wenn es aber keinen Arbeitgeberverband gibt?) - Dann muss ein Arbeitgeberverband gegründet werden. Es ist doch auch in anderen Branchen nicht unüblich, dass man einen Arbeitgeberverband gründet. (Klaus Barthel (SPD): Wer? Die Gewerkschaft macht sich dann einen, oder?) Herr Barthel, zusammenfassend kann man sagen: Sagen Sie Ihrem Redenschreiber noch einmal Bescheid, er soll wenigstens die Sachverhalte richtig darstellen, bevor Sie hier ans Pult treten. Ich denke, wir werden auch in anderem Rahmen über das Thema weiter sprechen müssen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege Michael Schlecht. (Beifall bei der LINKEN) Michael Schlecht (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich noch einmal kurz auf das eingehen, was hier an abenteuerlichen, weltfremden Formulierungen geliefert worden ist. Die Postbranche ist ein Beispiel dafür, wohin es führt, wenn auf Teufel komm raus privatisiert und dereguliert wird. Es gibt menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und einen immer größer werdenden Druck auf die Löhne, so wie wir in den letzten 10, 15 oder 20 Jahren in vielen anderen Bereichen eine massive Politik gegen die Beschäftigten, gegen das Volk vorgefunden haben. Heute ist im Übrigen ein Tag, an dem diese Politik eine neue Etappe eingeleitet hat; denn seit heute wird Politik gegen das Volk nicht nur durch Gesetze gemacht, sondern seit heute wird Politik gegen das Volk durch den Einsatz von Bundespolizei gemacht, die Bürgerinnen und Bürger niedergeknüppelt, so wie heute in Stuttgart. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) - Seien Sie ruhig, ich bin jetzt dran! - In Stuttgart sind heute von Ihrer Bundespolizei bis zur Stunde über 300 Leute niedergeknüppelt und krankenhausreif geschlagen worden, sie sind verletzt worden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schauen Sie einmal auf die Tagesordnung!) Es ist eine vollkommen neue Qualität, dass hier in autoritärer Weise vonseiten der Politik, von Ihren Parteifreunden in einer hochaggressiven Weise gegen die Stuttgarter Bevölkerung vorgegangen wird. Sie werden aber über kurz oder lang noch zur Rechenschaft gezogen; das sage ich Ihnen. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Können wir hier über alles reden?) In der Post gibt es mittlerweile die Situation, dass Briefträgerinnen und Briefträger immer größere Mengen zustellen müssen, und zwar nicht nur bei den Privaten, sondern auch bei der Post AG. In Hamburg müssen die Briefträger - ich habe gestern noch mit Kollegen telefoniert, die dort tätig sind - mittlerweile am Samstag zusätzlich zu der normalen Post fünf bis acht Zentner austragen. Viele Kolleginnen und Kollegen dort gehen mittlerweile auf dem Zahnfleisch. Ab 50 sind die meisten ziemlich fertig. Wenn sie von der Rente mit 67 hören, so ist das für sie mehr als blanker Zynismus. Richtiger Druck entstand erst nach der Privatisierung und auch mit der Agenda 2010. Selbst bei der Post AG gibt es mittlerweile nur noch befristete Arbeitsverhältnisse. Mit der stückchenweisen Zulassung der Privaten wurde der Druck auf die Löhne immer größer. Es gibt Postbereiche, in denen nur noch Stundenlöhne von 4,50 Euro gezahlt werden, weil es mittlerweile ein hochgradiges System von Subunternehmertum gibt, bei dem am Ende dann ein Solounternehmer mit seinem Privat-Pkw die Post ausfahren bzw. die Briefkästen leeren kann. Diese Entwicklung hatte ihren Ausgangspunkt Mitte der 90er-Jahre, als privatisiert wurde. Damals ist die SPD umgefallen. Sie hat sich sozusagen gegen die Gewerkschaften gestellt und hat die Privatisierung mitgetragen. Ausgangspunkt war darüber hinaus noch die Agenda 2010, die viele deregulierende Maßnahmen mit sich brachte, unter denen die Beschäftigten bei der Post noch heute leiden. Die Antwort auf diese Entwicklung ist vollkommen klar: All das muss zurückgedreht werden. Die Post muss wieder in öffentliche Trägerschaft. Es muss dafür gesorgt werden, dass bei der Post anständige Löhne gezahlt werden. Herr Kollege Barthel hat eben ein paar Beispiele von vor 20 Jahren gebracht. Das wäre das Bild, zu dem wir wieder zurückkehren müssten. Die ersten wichtigen Stufen müssen aber sein, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt und vor allen Dingen - die jetzige Koalition wehrt sich dagegen - zumindest für die Beschäftigten ein Branchenmindestlohn eingeführt wird, damit die menschenunwürdigen Verhältnisse, die dort zu verzeichnen sind, ein Ende haben. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Schlecht, ich darf Sie bitten, dass Sie sich bei künftigen Reden einer Ausdrucksweise bedienen, die auch dem Parlament entspricht. Das Wort "verrecken", dass Sie gerade gebraucht haben, gehört meines Erachtens nicht unbedingt dazu. (Zurufe von der LINKEN: Wer hat das gesagt? Das Wort "verrecken" ist überhaupt nicht gefallen! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vor allem zum Thema sprechen!) - So ist es mir gesagt worden. Das Wort hat nun die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es, dass die SPD die unfairen Arbeitsbedingungen auf dem Briefmarkt hier im Deutschen Bundestag zum Thema macht. Die SPD stellt in ihrer Anfrage die richtigen Fragen. Die Antworten zeigen auch, welche Probleme die Liberalisierung hinterlassen hat. Herr Kolb, Sie malen wieder einmal ein wunderschönes Bild. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kolb kann gar nicht malen!) Ich habe aber auch nichts anderes von Ihnen erwartet. Die Realität zeigt jedenfalls, dass die Liberalisierung des Briefmarktes zu erheblichen sozialen Verwerfungen geführt hat. Noch deutlicher wird dies, wenn man die vom Kollegen Barthel als Beiratsmitglied in der Bundesnetzagentur gestellten Fragen und die Antworten in Bezug auf die durchschnittlichen Stundenlöhne liest. Bei der Deutschen Post AG bewegt sich die Spreizung der Stundenlöhne für Zusteller, Sortierer und Fahrer zwischen 9,80 und 13 Euro. Bei den Wettbewerbern liegen die oberen Stundenlöhne zwar auch bei 13 Euro. Die unteren hingegen liegen bei 6 Euro. Das zeigt, dass die Löhne durch die Wettbewerber beträchtlich nach unten ausfransen. Ich frage die Regierungsfraktionen: Können Menschen von einem Stundenlohn von weniger als 6 Euro leben? Natürlich nicht. (Otto Fricke [FDP]: Sagen Sie das mal einem BAföG-Bezieher!) Diese Menschen müssen hart arbeiten, und zwar auch zu nicht immer angenehmen Arbeitszeiten. Dennoch müssen sie Arbeitslosengeld II beantragen. Warum tun Sie nichts dagegen? Warum handeln Sie nicht? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben doch die Möglichkeit, aufzustocken, eingeführt, Frau Müller-Gemmeke! Die Aufstockung ist doch Ihre Erfindung gewesen!) Sie sagen doch immer: Leistung muss sich lohnen. Wir können und wollen diesen Zustand nicht einfach ignorieren, zumal der Wettlauf um die niedrigsten Löhne nicht nur auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. Letztlich müssen alle Steuer- und Beitragszahler für aufstockende Transferleistungen und klamme Sozialversicherungskassen zahlen. Wir brauchen also baldmöglichst einen neuen Postmindestlohn, von dem die Menschen auch leben können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich weiß, dazu muss der Postmindestlohn beantragt werden; Herr Kollege Barthel hat die momentane Situation soeben ausgeführt. Ich weiß aber auch, dass für solch einen Antrag zurzeit ein ungebrochener Optimismus notwendig ist. Denn Wirtschaftsminister Brüderle und die FDP lassen keine Gelegenheit aus, die Mindestlöhne zu blockieren. In diesem Zusammenhang habe ich es mir angetan, den FDP-Antrag aus dem Jahr 2008 zu lesen, auf den die Große Anfrage Bezug nimmt. Ich muss es wirklich als grausig bezeichnen, was ich dort lesen musste: nichts anderes als "Wettbewerb". (Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Was ist an Wettbewerb schlecht?) Wenn es nach Ihnen von der FDP ginge, würden Sie alle Mindestanforderungen an Arbeitsbedingungen abschaffen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn es nach Ihnen ginge, würde es heute noch graue Telefone und lange Wartezeiten geben!) Die FDP interessiert sich schlichtweg nicht für die Menschen in den unteren Lohngruppen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Beim Lesen konnte ich mir bildhaft vorstellen, wie es hinter den Kulissen der Regierung teilweise zugeht, wenn es um dieses Thema geht. Ich muss ehrlich sagen: Beim Lesen hatte ich für einen kurzen Moment Mitleid mit der CDU/CSU-Fraktion, aber natürlich nur bei diesem Thema. Ich bleibe dabei: Wir brauchen unbedingt einen Postmindestlohn. Die Antworten auf die Große Anfrage zeigen weiteren Korrekturbedarf. Es reicht nicht aus, dass wir nur die Arbeitsbedingungen bei den Postdienstleistern, die einer Anzeige- und Lizenzpflicht unterliegen, in den Blick nehmen. Auch der Wildwuchs bei den Arbeitsbedingungen und Löhnen der Subunternehmer und Erfüllungsgehilfen muss abgestellt werden. Hierzu gibt es noch nicht einmal belastbare Daten. Ich finde, das ist ein Skandal. Wieder einmal appelliere ich an die Regierungsfraktionen: Tun Sie etwas, damit nicht auch der Briefmarkt komplett zum Niedriglohnbereich wird! Kümmern Sie sich endlich auch um die Menschen in den unteren Lohngruppen! Denn sie arbeiten hart und haben diese Wertschätzung verdient. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es stimmt, der Briefmarkt schrumpft. Aber er schrumpft nicht etwa deshalb, weil der Kollege Lämmel weniger Liebesbriefe als früher verschickt (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er soll sich eine Freundin suchen! Dann kann er wieder mehr schreiben!) - er hat sich ja selber in dieser Weise eingelassen - oder weil wir jetzt so etwas wie Wettbewerb haben, sondern er schrumpft aus technologischen Gründen, wie schon dargestellt wurde. Es ist natürlich schwierig, in einem schrumpfenden Markt einen Wechsel vom staatlichen Monopol hin zu Wettbewerb zu vollziehen. Insofern, Herr Kollege Barthel, räume ich ein: Es ist wichtig, dass wir Parlamentarier die Frage im Blick haben: Was passiert im sozialen Bereich, was passiert mit den Mitarbeitern? Das möchte ich in aller Deutlichkeit unterstreichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unter diesem Gesichtspunkt muss man sich überlegen: Welche Voraussetzungen haben wir der Regulierungsbehörde an die Hand gegeben? Ich weise darauf hin, dass in § 6 Abs. 3 Nr. 3 des Postgesetzes, der im Übrigen in Einklang mit der dritten EU-Postdiensterichtlinie steht, geregelt ist, dass die Regulierungsbehörde keine Lizenz an Briefdienstleister erteilen darf oder Anbietern diese Lizenz entziehen muss, wenn diese die wesentlichen Arbeitsbedingungen, die im lizenzierten Bereich üblich sind, erheblich unterschreiten. Wir als Gesetzgeber haben also die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Behörde handeln kann. Ihrer Großen Anfrage entnehmen wir, dass die Behörde bis dato an einem Punkt angelangt ist, an dem sie gesagt hat: Hier sind die Voraussetzungen offenkundig nicht erfüllt. - Natürlich will ich keinem deutschen Beamten Untätigkeit unterstellen, einer so renommierten Behörde wie der Regulierungsbehörde auch nicht. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Darf ich Sie unterbrechen, Herr Kollege Nüßlein? - Der Herr Barthel möchte eine Zwischenfrage stellen. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bitte schön. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte. Klaus Barthel (SPD): Herr Kollege Nüßlein, Sie haben sich dem Kern des Problems gerade schon sehr genähert. Deswegen möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Die üblichen Arbeitsbedingungen sind seit mittlerweile 13 Jahren im Gesetz geregelt. Wie kann eine Bundesregierung dabei zuschauen, dass dann, wenn es keinen Mindestlohn gibt, die üblichen Arbeitsbedingungen nicht einmal festgestellt werden, damit man Lizenznehmer, die gar nicht wissen, woran sie sich zu orientieren haben, darauf hinweisen kann, welche Arbeitsbedingungen sie einzuhalten haben? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich habe Ihrer Großen Anfrage entnommen, dass die Behörde keinen Anhaltspunkt gesehen hat, an dieser Stelle einzugreifen. Ich wäre jetzt auf einen Punkt zu sprechen gekommen, der vielleicht auch für Sie ein bisschen versöhnlich ist. Wir müssen uns aus meiner Sicht noch einmal mit der Rolle der Regulierungsbehörde beschäftigen. Ich habe nämlich ein Problem damit - das gebe ich ganz offen zu -, dass sich diese Behörde aufgrund ihrer Unabhängigkeit mittlerweile in eine Richtung entwickelt, dass sie fast nicht mehr steuerbar ist. Dies könnte dazu führen, dass wir Vorhaben, deren Umsetzung wir politisch anmahnen, letztlich vielleicht aufgrund von eigener Machtlosigkeit nicht mehr umsetzen können, weil die Behörde unabhängig handeln kann. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In weiten Teilen sind wir uns politisch einig, dass wir eine investitionsorientierte Regulierung brauchen, zum Beispiel bei den Netzen. Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, das auch dieser Behörde klarzumachen. Vielleicht können wir einmal gemeinsam über die Frage diskutieren: Sind die Regelungen zur Unabhängigkeit dieser Behörde, die uns teilweise auch von europäischer Ebene oktroyiert werden, wirklich von Vorteil, oder sollte man das Primat der Politik nicht ein bisschen deutlicher hervorheben? Dann könnte man nämlich im Verwaltungswege ein bisschen deutlicher klarstellen, wo letztendlich die Kriterien sind, nach denen sie entscheidet. Ich habe immerhin aufgenommen, dass die Behörde bisher sagt, aus ihrer Sicht gebe es keine erheblichen Abweichungen, was die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich angeht. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Erlauben Sie dem Kollegen Barthel noch eine zweite Zwischenfrage? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Es ist jetzt 20 Uhr. Die Kollegen freuen sich alle auf den Feierabend. Aber wenn Sie sich bei den Kollegen weiter unbeliebt machen wollen, dann bitte ich auch in Ihrem Namen schon einmal um Entschuldigung. Bitte schön. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Barthel. Klaus Barthel (SPD): Das kommt auf Ihre Antwort an, die Ja oder Nein lauten kann. Würden Sie mir zustimmen, dass es sich dann, wenn der branchenübliche Lohn, der nach den uns vorliegenden Daten bei etwa 11,50 Euro liegt, um mehr als 50 Prozent unterschritten ist - wie selbst im Durchschnitt einiger Bundesländer und wie bei vielen Unternehmen -, um eine erhebliche Verletzung der branchenüblichen Arbeitsbedingungen handelt, die von der Bundesnetzagentur eigentlich sofort beanstandet und mit den Konsequenzen des Lizenzentzuges geahndet werden muss? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Aus meiner Sicht würde ich Ihnen zustimmen. Ich bin aber noch nicht Chef der zuständigen Behörde. (Klaus Barthel [SPD]: Aber Mitglied der Regierungskoalition!) - Sie haben mich gefragt, und ich würde Ihnen an dieser Stelle durchaus zustimmen. Ich bin der Auffassung, dass wir uns mit diesem Thema noch sehr präzise auseinandersetzen müssen; denn ich kann mir vorstellen, dass insbesondere diejenigen, die der Deutschen Post schon länger angehören, ein gewisses Problem mit dem haben, was sich letztendlich entwickelt. Ich sage auch dazu: Auf das allein kann es nicht ankommen. Dass sich in diesem Bereich so etwas wie ein Niedriglohnthema entwickelt, ein Thema, bei dem Qualifikation und Entlohnung in einem gewissen Verhältnis zueinander stehen, ist nicht immer nur zu beanstanden. Vielmehr muss man auch berücksichtigen, dass es eine ganze Menge an Arbeitnehmern gibt, die aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit in bestimmte Arbeitsverhältnisse müssen, in denen sie adäquat entlohnt werden können. Das darf aber nicht zu Lohndumping führen. Wir wollen einen ordentlichen Wettbewerb über Qualität und Innovation und keinen Wettbewerb, der dazu führt, dass sich letztendlich die Löhne nur nach unten entwickeln. (Beifall des Abg. Klaus Barthel [SPD]) Ich unterstreiche ganz deutlich: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass wir in einer Situation des schrumpfenden Wettbewerbs sind. Wenn man sich anschaut, dass hier etwa 10 Prozent Marktanteil bei der Konkurrenz liegen und rund 31 000 Arbeitsplätze bei dieser Konkurrenz entstanden sind, dann muss man feststellen, dass wir am Anfang einer solchen Entwicklung sind. Wir müssen aufpassen - das zum Thema Mindestlohn -, dass wir über solche Ideen am Schluss nicht an einen Punkt kommen, wo nur Hürden aufgebaut werden, sodass sich der Wettbewerb nicht weiterentwickeln kann. Es ist wohl unstrittig, dass die Intention der Deutschen Post AG bei der letzten Thematik genau in diese Richtung gegangen ist, nämlich den Versuch zu unternehmen, eine Hürde aufzubauen, um Dritte nicht mehr zuzulassen. Das hat uns natürlich geärgert, weil wir schon erwarten, dass die Deutsche Post an diesem Thema entsprechend mitwirkt. Das, meine ich, kann man zu diesem schwierigen Thema sagen. Ich bin der Ansicht, dass wir das Thema im Auge behalten müssen. Ich kann zwar momentan nicht erkennen, wo der Gesetzgeber gefragt ist. Aber ich trete gerne mit Ihnen in einen Dialog darüber ein, ob die Regulierungsbehörde an dieser Stelle richtig gearbeitet hat. Ich führe auch gerne den Dialog darüber, ob man das mit der Unabhängigkeit der Behörde so belassen kann oder ob das Primat der Politik nicht entsprechend höher gehängt werden muss und man hier eine entsprechende Möglichkeit der Einflussnahme hat. Das würde ich mir wünschen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Barthel [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Kraftfahrsachverständigengesetzes - Drucksachen 17/3022, 17/3035 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gero Storjohann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hauptbotschaft des vorliegenden Gesetzentwurfs lautet: Das begleitete Fahren mit 17 wird zum 1. Januar 2011 in Dauerrecht überführt; denn dieser Modellversuch war erfolgreich, und der Führerschein mit 17 bekommt jetzt seinen festen Platz im deutschen Führerscheinwesen. Was gibt es Schöneres? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich freue mich außerordentlich über den vorliegenden Gesetzentwurf, auch weil ich ganz persönlich seit 2004 für das Fahren mit 17 eintrete. Meine Fraktion weiß das leidgeprüft. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion war immer überzeugt von der Richtigkeit dieser Maßnahme. Ich glaube, wir alle kennen das aus eigener Erfahrung, wenn es auch schon etwas her ist: Mit 18 Jahren ist die Freude über den neuen Führerschein grenzenlos. An Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten mangelt es nicht. Leider mangelt es aber an Fahrerfahrung. Es war eine christlich-liberale Koalition in Niedersachsen, die 2004 auf dieses Missverhältnis von zu viel Fahrbegeisterung und zu wenig Fahrerfahrung reagierte. Der dortige Verkehrsminister Walter Hirche setzte das begleitete Fahren mit 17 einfach einmal durch. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut!) Dort konnte die Führerscheinprüfung fortan bereits mit 17 Jahren abgelegt werden, und das Fahren war bis zur Volljährigkeit nur in Begleitung einer erwachsenen Person erlaubt. Es gab natürlich Reaktionen auf diesen christlich-liberalen Vorstoß, und die waren heftig. Rot-Grün war außer sich. 2005 lehnte die rot-grüne Mehrheit hier im Bundestag einen Antrag der CDU/CSU zum begleiteten Fahren mit 17 ab. Wir forderten damals bundeseinheitliche Regelungen für einen Modellversuch. Andere Bundesländer folgten dann glücklicherweise. Auch sie wollten das begleitete Fahren mit 17 erproben. Ich möchte hier noch besonders den schleswig-holsteinischen Verkehrsminister Dietrich Austermann nennen, der das bei uns eingeführt hat. Große Verkehrsverbände, allen voran der ADAC, kritisierten uns in der Anfangsphase. Die 17-Jährigen seien zu jung und zu unerfahren, um einen Pkw zu fahren. Der Hauptkritikpunkt war aber die Gefahr von signifikantem Missbrauch. Als Beispiel diente der betrunkene Vater, der von dem jungen Fahrer nachts gegen 23 Uhr aus der Kneipe abgeholt wird, und dieser Betrunkene stellte den begleitenden Fahrer dar. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist für beide eine Alkoholfahrt!) Das alles galt es zu widerlegen. Die reale Entwicklung hatte mit dieser anfänglichen Kritik überhaupt nichts zu tun. Vielmehr bewahrheitete sich erneut: Wer Neues probiert und innovative Konzepte entwickelt, der stößt - geradezu im Reflex - auf Widerstände. Doch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das begleitete Fahren ist die Erfolgsgeschichte der Verkehrssicherheitspolitik der letzten Jahre. Diese jungen Fahrer sammeln durchschnittlich acht Monate lang Fahrerfahrung in Begleitung. Sie legen im Durchschnitt über 2 400 Kilometer zurück und nehmen somit als Autofahrer aktiv am Verkehrsgeschehen teil. Aufgrund dieser beeindruckenden Zahlen sind dann auch die Kritiker verstummt. Deshalb bekommen wir heute sicherlich auch eine große Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies gilt insbesondere für die Zielgruppe der 18- bis 24-Jährigen, in der die Zahl der Verkehrstoten um 10 Prozent zurückgegangen ist. Durch diese Zahlen wird belegt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Verkehrssicherheitspolitik in Deutschland ist auch im Vergleich zu der in anderen Ländern in Europa erfolgreich. Maßnahmen wie das Alkoholverbot für Fahranfänger, die Verkehrserziehung in den Schulen und auch das begleitete Fahren mit 17 sind Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit. Diesen Weg zur Erhöhung der Verkehrssicherheit sollten wir weiter gemeinsam beschreiten. Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch gelingt. Der Gesetzentwurf beinhaltet noch eine weitere Regelung. Die 3. EG-Führerscheinrichtlinie schreibt vor, dass alle Führerscheindokumente zukünftig nur noch 15 Jahre Gültigkeit besitzen. Alle bisher ausgestellten Führerscheine sind bis zum Jahre 2033 zu befristen. Das ist für einige wenige hier im Haus recht bitter, aber ich finde, das Ganze ist zeitgemäß. Diese Vorgaben setzen wir mit dem Gesetzentwurf um. Lassen Sie mich noch auf einen Änderungsantrag des Bundesrates eingehen. Der Bundesrat fordert in seiner Mehrheit die Möglichkeit, besondere Stellplätze im öffentlichen Verkehrsraum ausdrücklich für Elektrofahrzeuge einzurichten. Dabei verkennt der Bundesrat aber, dass die Straßenverkehrs-Ordnung es bereits heute zulässt, besondere Parkplätze für verschiedene Fahrzeugarten einzurichten. Dies können beispielsweise auch Elektrofahrzeuge sein. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: In Schleswig-Holstein noch nicht!) Das heißt, es ist längst möglich, entsprechende Tatbestände zu schaffen, um Ladestationen für Elektrofahrzeuge herzurichten. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dann gehen Sie damit mal zu Jost de Jager!) Deshalb lehnen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vorschlag des Bundesrates ab. Unser Ziel ist es, die Ausschussberatungen zügig zum Abschluss zu bringen und das Modellprojekt "Begleitetes Fahren mit 17" zum 1. Januar 2011 in den Regelbetrieb zu überführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kirsten Lühmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir beraten hier heute einen Gesetzentwurf, der das umsetzt, was Pädagogen eigentlich schon lange fordern, nämlich die langsame, stufenweise und begleitete Übernahme von Verantwortung - in unserem Fall beim Pkw-Fahren. Für Jugendliche steht der Erwerb einer Fahrerlaubnis auf der Wunschliste immer ganz oben - das ist klar -, bedeutet er doch mehr Selbstständigkeit. Aber wir wissen auch - Sie haben es eben angesprochen, Herr Storjohann -, es ist immer noch so: Keine Altersgruppe hat ein so hohes Risiko, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden, wie junge Fahranfangende. Das Risiko ist immer noch dreimal höher als in jeder anderen Altersgruppe. Ich finde, damit dürfen wir uns nicht abfinden. Dieser Modellversuch "Begleitetes Fahren mit 17" bestätigt die Forderung der Unfallforschung, dass man vor dem ersten selbstständigen Fahren die Möglichkeit haben muss, Fahrerfahrung zu sammeln. Dass die Bundesregierung das jetzt in Dauerrecht überführt, finden wir richtig und wichtig. Junge Menschen, die an diesem Modellversuch teilgenommen haben, verursachen in der Anfangsphase, wenn sie dann selbstständig fahren, 22 Prozent weniger Unfälle als die Jugendlichen in der Vergleichsgruppe, und sie begehen auch 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße. Aber, liebe Kollegen und Kolleginnen, damit sollten wir uns nicht zufriedengeben; denn in zwei wesentlichen Punkten geht dieser Gesetzentwurf nicht weit genug. Es geht um die Gruppe der Jugendlichen, die an diesem begleiteten Fahren nicht teilnehmen wollen oder die es nicht können, weil sie keine Person haben, die sie begleitet. Die zweite Gruppe, die ich anspreche, sind die jungen Menschen, die auffällig werden. Was machen wir mit denen? Ich möchte, dass diese dazu verpflichtet werden, an speziellen Fahrsicherheitstrainings teilzunehmen. Dazu gehört auch, dass sie Fahrübungen machen, die ihnen zeigen, welche Risiken das Fahren zum Beispiel bei starkem Regen oder bei Schnee mit sich bringt. Wenn Sie sagen: "Wir haben doch schon Nachschulungen von Heranwachsenden, die eine Fahrerlaubnis auf Probe haben", dann sage ich Ihnen: Das sind reine Placebos; sie sind weder dazu geeignet, eine dauerhafte Bewusstseinsveränderung hervorzurufen, noch eignen sie sich dazu, dass diese jungen Menschen, die auffällig geworden sind, bessere Fahrpraxis bekommen. Namhafte Experten unterstützen uns in dieser Forderung nach einem verpflichtenden Mehrphasenmodell, und wir sollten uns diesen Forderungen nicht verschließen. Es gibt in dem angesprochenen Gesetzentwurf auch minimale Änderungen, die das Thema Anforderungen an Fahrprüfer und Fahrprüferinnen beinhalten. Ich denke, wir sollten uns diesem Thema weiterhin widmen; denn in einer Veranstaltung des ADAC, die dieser kürzlich zu dem Thema junge Fahranfangende durchgeführt hat, wurde festgestellt, dass die Fahrlehrenden in Deutschland zwar über hervorragende theoretische Kenntnisse verfügen, aber dass bei der Beantwortung der Frage: "Wie bringe ich dieses Wissen an den Mann oder an die Frau bzw. wie erreiche ich mein jugendliches Gegenüber?", noch erhebliche Defizite bestehen. Ich denke, diesem Thema müssen wir uns stellen, wenn wir die Verkehrssicherheitsarbeit ernst nehmen. Durch zahlreiche Maßnahmen des letzten Jahres haben wir dafür gesorgt, dass unsere Straßen sicherer werden, nicht zuletzt durch das von der rot-grünen Bundesregierung 2001 eingeführte Programm für mehr Sicher-heit im Straßenverkehr, das dazu geführt hat, dass in Zusammenarbeit mit der Deutschen Verkehrswacht und dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat in den letzten Jahren hervorragende Arbeit geleistet wurde. Noch nie sind auf Deutschlands Straßen so wenig Menschen getötet worden. Diese positive Entwicklung haben wir auch dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat und der Deutschen Verkehrswacht zu verdanken. So gut und so wichtig der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum begleiteten Fahren mit 17 für mehr Sicherheit im Straßenverkehr auch ist, so unverständlich ist unter Berücksichtigung des von mir eben Genannten der Beschluss des Bundeskabinetts, im Haushalt 2011 die Mittel für Verkehrssicherheitsarbeit von 10 Millio-nen Euro auf 5 Millionen Euro jährlich zu kürzen. Wir haben gestern im Verkehrsausschuss die Auskunft von Staatssekretär Scheuer erhalten, dass sich die Bundesregierung aufgrund des massiven Protestes gegen diese Pläne bewegen will. Ich halte das für sehr wichtig, insbesondere wenn wir uns überlegen, dass die Europäische Union gerade ein europäisches Verkehrssicherheitsprogramm auflegen will und dass auch die Bundesregierung angekündigt hat, dass sie das nationale Verkehrssicherheitsprogramm überarbeiten will. Ich sage Ihnen ehrlich: Es kommen mir natürlich Zweifel an der Ernsthaftigkeit Ihrer Initiative zur Verkehrssicherheit auf, sollte es bei diesen geplanten Kürzungen bleiben. Denn was würden sie bedeuten? Sie würden bedeuten, dass weniger Schülerlotsen arbeiten könnten, dass Fahrsicherheitstrainings für junge Fahranfangende und Verkehrserziehung in Kitas und Schulen nicht mehr in ausreichendem Maße stattfinden könnten. Die hervorragende Arbeit vieler Ehrenamtlicher würde so zunichte gemacht. Ich meine, das ist Sparen an der falschen Stelle. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheuer? Kirsten Lühmann (SPD): Ich bringe den Gedanken eben zu Ende. Ich bitte Sie nur, dass Sie den Haushaltsentwurf einen Entwurf sein lassen und dass Sie die Mittel für die Verkehrssicherheitsarbeit auf dem bisherigen Niveau belassen, und zwar nicht nur für das Jahr 2011, sondern auch in der mittelfristigen Finanzplanung. (Otto Fricke [FDP]: Wo kommt das Geld her?) Ich habe gehört, dass es Pläne dazu gibt. Ich bitte Sie alle, diese Pläne zu unterstützen und zu verwirklichen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön, Herr Kollege. Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Hochgeschätzte Frau Kollegin Lühmann, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass die Ansätze schon wieder auf dem alten Niveau sind, und sich bei Ihrem Haushaltsberichterstatter, dem geschätzten Kollegen Kahrs, informieren, dass diese Maßnahme bereits im Rahmen des Haushaltsberichterstattergesprächs erfolgt ist? Kirsten Lühmann (SPD): Ja, das nehme ich zur Kenntnis, insbesondere die Tatsache, dass Sie das im Berichterstattergespräch besprochen haben. Herr Kahrs konnte mir aber noch nicht sagen, ob das auch in der Mittelfristplanung weitergeführt wurde oder ob es sich nur um eine Maßnahme für 2011 handelt. Wenn Sie mir jetzt sagen, dass das auch für die folgenden Haushaltsjahre gilt, sind wir beruhigt und freuen uns auf die weitere Arbeit. Ein anderer Bereich des Gesetzentwurfs - das ist schon angesprochen worden - betrifft die EG-Führerscheinrichtlinie. Es geht darum, dass die Führerscheine - nicht die Fahrerlaubnisse - nach 15 Jahren ähnlich wie der Personalausweis und der Reisepass neu beantragt werden müssen. Der Vorteil ist: Das Dokument ist auf dem neuesten Stand. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung berichten, dass einige Fotos aus Führerscheinen, die mir bei Kontrollen vorgelegt wurden, wenig mit der Person zu tun hatten, die mir gegenüberstand. (Heiterkeit) Wir mussten dann den Personalausweis zur Identifizierung heranziehen. Das wird zukünftig nicht mehr der Fall sein. Darüber freue ich mich. Ich freue mich auch darüber, dass die Bundesregierung von der Möglichkeit, die die Richtlinie zugelassen hat, keinen Gebrauch macht, nämlich bei dieser Neuausstellung auch die körperliche und geistige Tauglichkeit zu überprüfen. Nichtsdestotrotz möchten wir, dass das auf freiwilliger Basis geschieht, indem wir Anreize geben. Wir sind schon der Meinung, dass es im Interesse der betroffenen Autofahrenden ist, regelmäßig ihre Gesundheit überprüfen zu lassen. Wir könnten uns vorstellen, das über Versicherungsrabatte zu realisieren, und wollen erst einmal die freiwillige Lösung probieren. Herr Storjohann, Sie haben zwei weitere Punkte nicht angesprochen. Das eine ist die Verbesserung im Datenschutz des KBA. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich war bis jetzt der Meinung, dass im KBA genauso wie in den meisten anderen Behörden schon seit Jahren Protokolldatenspeicherungen normal sind. Ich musste jetzt feststellen, dass das nicht so ist. Ich freue mich, dass wir diese Lücke jetzt endlich schließen. Wir haben eine weitere Rechtsumsetzung zu vollziehen; es geht um die Zulassung von Gutachtern zur MPU. Ich denke, das wird im Fachausschuss unstrittig sein. Zum Schluss komme ich kurz auf die von Ihnen angesprochene Initiative des Bundesrates zurück. Ich halte es für sehr sinnvoll, dass wir durch solche Regelungen die Attraktivität von Elektromobilität steigern und notwendige Infrastrukturen aufbauen. Sie haben recht: Ob es unbedingt eine Änderung des Gesetzes sein muss oder ob man das mit anderen Kennzeichnungsregelungen genauso gut zustande bringt, darüber wie auch über einige andere Punkte, die ich hier angesprochen habe, sollten wir im Ausschuss noch einmal eingehend beraten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Oliver Luksic (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes. Dabei geht es zum einen um die bereits vor der Sommerpause debattierten Übertragungen des Modellversuchs "BF 17", "Begleitetes Fahren ab 17", in Dauerrecht. Zum anderen geht es um eine wichtige Änderung, die im Rahmen der Umsetzung der 3. EG-Führerscheinrichtlinie notwendig geworden ist. Hierbei geht es um die Befristung von Führerscheinen und um Neuerungen beim Datenschutz in der Zuständigkeit des KBA, des Kraftfahrt-Bundesamtes. Lassen Sie mich beim letzten Punkt beginnen - es wurde eben zu Recht angesprochen -: Die Bundesregierung strebt mit diesem Gesetzentwurf Verbesserungen beim Datenschutz an. Auf Anregung des Datenschutzbeauftragten werden die Zugriffe, beispielsweise von Behörden, auf das Zentrale Fahrerlaubnisregister zukünftig protokolliert, und diese Protokolldaten werden gespeichert. Das erhöht gerade bei diesen für Bürger wichtigen Daten die Rechtssicherheit und die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Das ist insbesondere aus Sicht der Datenschutzpartei FDP eine begrüßenswerte Maßnahme. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit in diesen Gesetzentwurf aufgenommen ist ein Thema, das die Gemüter in der Sommerpause teilweise bewegt hat: die anstehende Befristung der Führerscheine auf 15 Jahre. Notwendig geworden ist sie durch die Umsetzung der 3. EG-Führerscheinrichtlinie, da von der Befristung an sich nicht mehr abgewichen werden darf. Die Bundesregierung ist bemüht, den Aufwand für die Bürger so gering wie möglich zu halten, da der maximale Spielraum von 15 Jahren, den diese Richtlinie vorsieht, ausgereizt wird. Ich darf darauf hinweisen, dass es auch für andere amtliche Dokumente wie den Personalausweis üblich ist, dass sie nicht ewig gelten. Ich glaube, gerade im Zuge einer europaweiten Verbesserung der Sicherheitsstandards ist es sinnvoll, Führerscheine auf dem neuesten Stand der Technik zu halten, gerade weil wir immer mehr Fälschungen haben. Es ist aber auch wichtig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen - das geistert nämlich immer wieder durch die Gazetten -, dass es beim Führerscheinumtausch eben nicht zu einer Diskriminierung älterer Mitbürger kommen soll. Mobilität muss und soll auch im Alter möglich sein, gerade in Zeiten des demografischen Wandels. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich zum Thema "Begleitetes Fahren ab 17" kommen. In der Tat, die Evaluation des Modellversuchs war hervorragend. Die Bereitschaft der Jugendlichen zur Teilnahme war gut. Da gibt es durchaus noch Verbesserungsbedarf. Die Ergebnisse haben gezeigt: 22 Prozent weniger Unfälle, 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße. Das sind dauerhaft positive Effekte. Das begleitete Fahren ab 17 führt also nachweislich zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit durch die frühe und betreute Heranführung von Fahranfängern an den Verkehr. Ich freue mich, dass auch der Bundesrat der dauerhaften Implementierung von "BF 17" zugestimmt hat und sich die Fraktionen hier im Haus über die Grenzen hinweg bei diesem Thema einig sind. Nichtsdestotrotz meine ich, dass die Verkehrssicherheit bei diesem Punkt nicht stoppen sollte. Das gilt gerade für den Bereich der Fahranfängerausbildung und -betreuung. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, ob der Erwerb des Führerscheins das Ende der Fahrausbildung, wie es im Moment der Fall ist, oder vielmehr ein Zwischenschritt im Erlernen der sicheren Fahrweise und der Beherrschung neuer Technik sein sollte. Was die Verbesserung der Fahrausbildung angeht, gibt es in der Tat andere Modelle im Ausland, die wir uns anschauen sollten. In Österreich beispielsweise gibt es eine zweite Stufe der Fahrausbildung. Dies ist ein Modell, das Feedback-Fahrten mit einem Fahrlehrer im eigenen Wagen sowie Fahrsicherheitstrainings vorsieht. Das hat zu einer deutlichen Verringerung der Unfallzahlen geführt. Unter der Prämisse, dass der Führerscheinerwerb dadurch nicht deutlich teurer wird - wir wollen schließlich alle, dass Individualmobilität erschwinglich bleibt und dass es keinen sozialen Ausschluss gibt -, sollten wir uns dieses Modell anschauen. Ich glaube, wir können von anderen lernen, wie wir die Verkehrssicherheit noch weiter verbessern können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sind gerade bei den Haushaltsberatungen. Frau Kollegin Lühmann hat vorhin den Etattitel für die Verkehrssicherheit angesprochen. Selbstverständlich müssen alle Ressorts ihren Beitrag zum richtigen und notwendigen Sparpaket leisten, auch der Einzelplan 12. Anfangs gab es Überlegungen, die Mittel des Etattitels für Maßnahmen zur Verkehrserziehung zu halbieren. Ich freue mich - Kollege Scheuer hat das vorhin zu Recht bestätigt -, dass es in Zusammenarbeit der Fachpolitiker mit den Haushaltspolitikern und der Hausspitze gelungen ist, zu verhindern, dass es zur Halbierung der Mittel dieses Etattitels kommt. Das ist ein erfreulicher Erfolg für die Verkehrssicherheitspolitik dieser Koalition. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend sagen: Wir freuen uns auf weitere konstruktive Debatten, damit wir den hohen Standard, den wir in Deutschland bei der Verkehrssicherheit haben, weiter verbessern. Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit herzlich bedanken. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke. Thomas Lutze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch als Verkehrspolitiker fällt es mir vor dem Hintergrund dessen, was heute in Stuttgart passiert ist, sehr schwer, zur Tagesordnung überzugehen. Ich denke, da sind Sachen passiert, da sollte auch dieses Hohe Haus sich den Luxus gönnen, an der Aufklärung und an der Aufarbeitung mitzuarbeiten, und für die morgige Tagesordnung die entsprechenden Konsequenzen ziehen. (Beifall bei der LINKEN) Als es heute Morgen am Beginn der Tagesordnung um die deutsche Einheit ging, ist ein wichtiger Ruf zitiert worden: Keine Gewalt! - Ich glaube, was heute in Stuttgart passiert ist, wird dem nicht gerecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum eigentlichen Tagesordnungspunkt. Es dürfte über Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit darüber bestehen, dass der Modellversuch "Begleitetes Fahren ab 17" erfolgreich gewesen ist und noch erfolgreich ist. Die Evaluierung belegt diesen Erfolg eindrucksvoll. Die Verringerung der Zahl der Unfälle um 22 Prozent und die Verringerung der Zahl der Verkehrsverstöße um 20 Prozent sollten an dieser Stelle als Beispiele ausreichen. Dieser empirisch belegte Gewinn an Verkehrssicherheit macht die Überleitung des Modellversuchs in dauerhaftes Recht zu einem Gebot der Vernunft. Auch die Akzeptanz in der Zielgruppe der Führerscheininteressentinnen und -interessenten unter 19 Jahren spricht dafür. Mit knapp 300 000 Menschen in 2009 hat mehr als die Hälfte der genannten Gruppe die Möglichkeit des begleiteten Fahrens ab 17 genutzt. Für einen Modellversuch sind das sehr gute Zahlen. In der dauerhaften Praxis sollten wir allerdings eine noch höhere Teilnahmequote erreichen. Viele Fahranfängerinnen und Fahranfänger haben nämlich Schwierigkeiten, eine Begleitperson zu finden. Ich freue mich auf kreative Ideen der Bundesregierung und des Verkehrsministers, um das begleitete Fahren ab 17 für erwachsene Begleitpersonen attraktiver zu machen. Das begleitete Fahren ab 17 kann bei aller Zustimmung zum Gesetzentwurf aber nur ein Baustein einer umfassenden Mobilitätserziehung sein. Auch gerade den Führerscheinneulingen sollten Alternativen zum Auto ans Herz gelegt werden. Jede Fahrt, die mit Bus oder Bahn erledigt wird, ist im statistischen Mittel bis zu vierzigmal sicherer als eine Autofahrt. Ein Discobus etwa, der eine Heimreise auch nachts unabhängig vom kostenintensiven Taxi oder vom eigenen Pkw ermöglicht, reduziert von vornherein die Wahrscheinlichkeit einer Risikofahrt, die eventuell übermüdet oder sogar unter Alkoholeinfluss angetreten wird. Allerdings braucht es hier erst einmal entsprechende Angebote. Wenig Verständnis habe ich da zum Beispiel für Aussagen der Ministerin Aigner. Sie wird in der Presse mit der Aussage zitiert, das begleitete Fahren bringe Jugendlichen auf dem Land mehr Unabhängigkeit. So unstrittig der Lerneffekt beim begleiteten Fahren sein dürfte, so klar muss doch ebenso sein, dass sich das Mehr an unabhängiger Mobilität sehr in Grenzen halten wird. Welcher Elternteil wird mit seinem Sohn oder seiner Tochter zur Disco fahren und dort fünf Stunden warten? Das Gleiche gilt für Fahrten zur Schule, zum Ausbildungsplatz oder ins Schwimmbad. Das begleitete Fahren soll einen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten; das ist richtig. Es darf aber nicht als Argument für das Streichen oder den Nichtausbau von Nahverkehrsleistungen herhalten. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Genau auf diese Leistungen der Gesellschaft sind gerade junge Menschen angewiesen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie attraktiv es für eine finanziell gebeutelte Kommune ist, mit jedem Jahrgang, der seinen Führerschein ein Jahr früher macht, beispielsweise bei den Schulbussen zu sparen. Auch vor diesem Hintergrund sind die Pläne der Regierung zur Reduzierung des Einstiegsalters beim Mopedführerschein kritisch zu sehen. Der vorliegende Gesetzentwurf findet dennoch unsere Zustimmung. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über zwei sehr unterschiedliche Bereiche: auf der einen Seite über ein Thema der Verkehrssicherheit und auf der anderen Seite über ein Thema aus dem Bereich Elektromobilität. Zur Verkehrssicherheit gibt es hier als Positives zu vermelden, dass wir uns einig sind. Begleitetes Fahren mit 17 ist ein Erfolgsprojekt. Wir sind uns alle darin einig, dass hierfür eine entsprechende Regelung gefunden werden sollte. Noch schöner würde ich es finden, wenn wir uns bei dem ganz entscheidenden Thema Verkehrssicherheit insgesamt einiger wären. Obwohl wir in der Vergangenheit sehr große Erfolge hatten - die Zahl der Verkehrstoten ist massiv zurückgegangen, genauso wie die der Schwerverletzten; aber da schaut es noch lange nicht so gut aus -, darf man nicht vergessen, dass die Zahlen noch immer sehr hoch sind. Deshalb wünsche ich mir, dass wir uns auch in weiteren Fragen der Verkehrssicherheit einig sind. Nach dem Berichterstattergespräch ist der Haushaltsansatz zum Glück gehalten worden. Wir hoffen sehr, dass es auch am Ende der Haushaltsberatungen noch so ist. Es gibt aber eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen, die ganz entscheidend für die Verkehrssicherheit sind. Hier hört die Einigkeit in diesem Haus leider auf. Denken wir bloß einmal an Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen! Bei der Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen ist es mit der Einigkeit schnell vorbei. Da heißt es plötzlich, das sei eine ideologische Frage. Dabei zeigen alle Untersuchungen, dass überhöhte Geschwindigkeit die Hauptunfallursache ist. Wir wissen auch, dass die Erlaubnis, in bestimmten Straßenabschnitten so schnell zu fahren, wie man will, dazu führt, dass man sich in anderen Straßenabschnitten weniger an Tempobegrenzungen hält. Ich wünsche mir mehr Einigkeit bei dem wichtigen Thema Verkehrssicherheit. Nun zu Ihren Ausführungen, lieber Kollege Luksic. Sie haben im Zusammenhang mit dem Führerschein gesagt, dass es nicht dazu kommen darf, dass Autobesitz und individuelle Mobilität zu einer sozialen Frage werden. Hier stellt sich zunächst einmal die Frage nach der Klientel. Für die Menschen, die ich kenne, ist das längst eine soziale Frage. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Oliver Luksic [FDP]: Sie wollen den Benzinpreis noch weiter erhöhen! Das ist noch unsozialer!) Es gibt sehr viele Menschen, die sich schon derzeit kein Auto leisten können. 50 Prozent der Bevölkerung können nicht täglich über ein Auto verfügen. (Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie wirklich 100 Prozent?) Diese Menschen brauchen eine vernünftige Alternative. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Hier kommt es darauf an, dass der ÖPNV ausgebaut wird, dass vernünftige Bahnpolitik betrieben wird, dass entsprechende Nahverkehrsangebote bestehen und dass Städte so gestaltet werden, dass die Leute nicht zur Benutzung eines Autos geradezu gezwungen werden. Nun zu einem weiteren Punkt, zur Elektromobilität. Es gibt tolle Elektromobilitätsgipfel. Dabei weiß man ganz genau: Um einer neuen Technik zum Durchbruch zu verhelfen, kommt es darauf an, sinnvolle gesetzliche Regelungen und Standards einzuführen. Was passiert hier? Hier passiert nichts. Elektromobilitätsgipfel vor Kameras abhalten, aber die entsprechenden gesetzlichen Regelungen nicht durchsetzen und sich dann vielleicht auch noch selber Klimakanzlerin nennen - das ist beschämend. Noch nicht einmal so kleine Maßnahmen gelingen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen eine vernünftige Bahnpolitik. Ich habe mir vor kurzem in mehreren Videos angeschaut, was in Stuttgart passiert. Wir sind der Verkehrsausschuss. (Zuruf von der FDP: Nein, das Plenum! Bitte zum Thema kommen!) Letztlich wird hier im Namen des zu 100 Prozent in unserem Besitz befindlichen Unternehmens mit extremer Brutalität geräumt. Ich habe so etwas bei Wackersdorf und in anderen Auseinandersetzungen erlebt. Ich finde, wir sollten im Verkehrsausschuss dringend darüber reden, ob es sinnvoll ist, ein Verkehrsprojekt mit einer solchen Brutalität durchzusetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Zu blockieren!) Wie gesagt, es handelt sich um ein zu 100 Prozent in Bundesbesitz befindliches Unternehmen. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Volkmar Vogel das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Tagesordnung sieht, kann man sich zunächst nicht richtig vorstellen, worüber wir hier reden. Einem Außenstehenden kommt es sehr bürokratisch vor. Teilweise sind es bürokratische Regelungen, die wir hier treffen müssen, gerade wenn es um den Datenschutz beim KBA oder den Führerschein geht. Beim Führerschein setzen wir eine EU-Richtlinie um. Diese Eins-zu-eins-Umsetzung überfordert die Führerscheinbesitzer nicht. Ich habe mit 15 Jahren meinen Mopedführerschein gemacht. Als ich im vergangenen Jahr 50 wurde, musste ich meinen Führerschein verlängern lassen - mittlerweile kann ich auch Lkw fahren - und war sehr erstaunt, wie mein alter Führerschein aussah und wer ihn damals abgestempelt hatte. Wir müssen jedenfalls darauf achten - auch in der Diskussion im Ausschuss -, dass zum einen die Kosten für jene, die ihn umtauschen müssen, in vertretbarem Rahmen bleiben und dass zum anderen der zeitliche Aufwand, der damit verbunden ist, nicht so ausufert, dass man das im Alltag nicht mehr schnell nebenbei erledigen kann. Als ich mit 15 meinen Mopedführerschein machte, gehörte ich natürlich zu der Risikogruppe der jungen Leute. Ein wesentlicher Punkt des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Kraftfahrsachverständigengesetzes ist - meine Vorredner haben das bereits angesprochen - das begleitete Fahren ab 17. In allen Modellregionen, in denen es praktiziert wird, hat es dazu geführt, dass die Fahranfänger eine hohe Fahrkompetenz nachweisen können. Das hat auch die Bundesanstalt für Straßenwesen in ihrem Fortschrittsbericht festgestellt. Fast 25 Prozent weniger Unfälle und eine fast 30 Prozent geringere Beteiligung junger Leute an Unfällen - das ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Neben dem vorrangigen Ziel dieser Maßnahme, Personenschäden und damit unendliches menschliches Leid zu verhindern, ist zu erwähnen, dass es aufgrund der besseren Fahrpraxis und der Betreuung durch einen Begleiter vielfach auch nicht zu Sachschäden kommt. Für mich ist ganz wichtig, dass das begleitete Fahren mit 17 seine Praxistauglichkeit bewiesen hat und dass es einfach handhabbar ist. Jeder weiß inzwischen, dass der Begleiter mindestens 30 Jahre alt sein muss, dass er nicht mehr als drei Punkte in Flensburg haben darf, dass er mindestens fünf Jahre ununterbrochen im Besitz der Fahrerlaubnis sein muss, dass er selbstverständlich die Promillegrenze einhalten und seinen Führerschein mitführen muss. Wir bringen den jungen Leuten mit der Möglichkeit des begleiteten Fahrens ab 17 sehr großes Vertrauen entgegen. Allerdings kann und muss missbrauchtes oder enttäuschtes Vertrauen natürlich auch geahndet werden. Die jungen Fahrer erhalten - genauso wie alle anderen - ihre Fahrerlaubnis zunächst nur auf Probe, und damit gelten auch die bestehenden verkehrsrechtlichen Regelungen der Probezeit. Die Kernpunkte der Gesetzesänderung, die wir in den Ausschüssen behandeln und dann hoffentlich auch zügig beschließen werden, sind, den jungen Leuten die Teilhabe an der Mobilität zu ermöglichen, gleichzeitig die allgemeine Verkehrssicherheit zu verbessern und Sachschäden zu reduzieren. Überdies ist dieses Vorhaben - ich habe es bereits ausgeführt - leicht umzusetzen. Seit 2005 hatten die Bundesländer die Möglichkeit, sich an dem Pilotprojekt "Begleitetes Fahren ab 17" zu beteiligen. Mein eigenes Bundesland Thüringen hat dies ebenfalls getan; auch hier gibt es hervorragende Ergebnisse, die eine bundeseinheitliche Regelung als sinnvoll erscheinen lassen. Mit dem Gesetz, das maßgeblich auf einen Antrag unserer christlich-liberalen Koalition zurückzuführen ist, wird das begleitete Fahren ab 17 in dauerhaftes Recht überführt. Das begleitete Fahren ist damit auch eine sinnvolle Ergänzung der professionellen Fahrschulausbildung. Meine sehr geehrten Kollegen, liebe Eltern und Gäste, ganz nebenbei gesagt: Die jungen Leute lernen hier, dass es durchaus sinnvoll sein kann, wohlgemeinte Ratschläge der älteren Generation, die auf dem Beifahrersitz sitzt, anzunehmen und ihnen zu folgen. Zurück zu den Fakten. Begleitetes Fahren führt zu weniger Verkehrsverstößen und zu weniger Unfällen mit schlimmen Folgen. Daher bitte ich Sie, in den Ausschüssen über diese Gesetzesänderung zügig zu debattieren, sodass die jungen Leute, vor allen Dingen diejenigen, die bei allen Möglichkeiten, die die öffentlichen Verkehrsträger bieten, etwa im ländlichen Raum auf individuelle Mobilität angewiesen sind - ich komme selber aus dem ländlichen Raum -, in der Schule, im Beruf, im Ehrenamt und natürlich in der Freizeit mobil sein und damit schnellstmöglich zum Zuge kommen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf den Drucksachen 17/3022 und 17/3035 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für Haltungseinrichtungen für Nutztiere - Tierschutz-TÜV zügig einführen - Drucksachen 17/2143, 17/2912 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Heinz Paula Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Süßmair Friedrich Ostendorff b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bessere Haltung für Kaninchen zu Erwerbszwecken - Konkrete Haltungsbedingungen in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufnehmen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, Alexander Süßmair, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union tiergerechter regeln - Mindestanforderungen unverzüglich auf den Weg bringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die gewerbliche Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern - Drucksachen 17/2017, 17/1601, 17/2006, 17/2962 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Heinz Paula Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Süßmair Friedrich Ostendorff Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen Dieter Stier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dieter Stier (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Juni des vergangenen Jahres hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der damaligen Großen Koalition das Zweite Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes beschlossen. Mit dieser Neuregelung wurde die Voraussetzung geschaffen, dass künftig nur noch serienmäßig hergestellte Stalleinrichtungen verwendet werden dürfen, wenn sie vorher auf Tiergerechtheit geprüft worden sind. Damit hat das Parlament grünes Licht für die Einführung eines obligatorischen Prüf- und Zulassungsverfahrens gegeben. Ab dem Jahr 2012 soll es demnach nur noch geprüfte Haltungssysteme für Legehennen geben. Für bereits bestehende Stalleinrichtungen gilt Bestandsschutz. Zu dieser Entscheidung für den sogenannten Tierschutz-TÜV steht auch die jetzige CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dabei stelle ich an dieser Stelle jedoch klar, dass es sich bei diesem irreführenden Begriff nicht, wie vielleicht von einigen angenommen wird - wir haben gerade über Verkehrsfragen gesprochen -, um die regelmäßige Überprüfung von Stallungen ähnlich der Fahrzeugüberprüfung handelt. Vielmehr werden Haltungseinrichtungen für Legehennen vor dem Inverkehrbringen einer staatlichen Prüfung unterzogen. Auch Stalleinrichtungen aus Drittländern müssen die Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, die für heimische Produkte gelten. Weiterhin gibt es positive Erfahrungen mit zertifizierten Haltungssystemen in Schweden und in der Schweiz. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie fordern in Ihrem Antrag, dass endlich Durchführungsverordnungen erlassen werden, mit denen die Prüf- und Zulassungsanforderungen für alle serienmäßig hergestellten Haltungseinrichtungen festgelegt werden können. Es gibt dabei jedoch nach meinem Kenntnisstand ein großes Hindernis - ein Ei, welches Sie sich selbst ins Nest gelegt haben -: Das Bundesland Rheinland-Pfalz hat bekanntlich beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage zur Legehennenhaltung eingereicht. Darin fordert Ministerpräsident Kurt Beck, SPD, ein Verbot der sogenannten Kleingruppenhaltung. Bisher ist aber nicht einmal ein Verhandlungstermin für dieses anhängige Verfahren in Aussicht bzw. durch das Gericht anberaumt. Bevor hierzu nicht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, kann die Hennenhaltungsverordnung nicht umgesetzt werden. Ich zweifle deshalb daran, dass das Datum 2012 einzuhalten ist. Das Verhalten von Herrn Ministerpräsidenten Beck in dieser Sache ist - ich möchte das sehr vorsichtig formulieren - nicht gerade zielführend. Durch diese Intervention wird die geplante Einführung der geprüften Haltungssysteme für Legehennen weiter verzögert. Damit haben Sie weder der deutschen Landwirtschaft noch dem Tierschutz und erst recht nicht dem Verbraucher einen Gefallen getan, sondern Rechtsunsicherheit statt Planungssicherheit geschaffen. Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel, weshalb ich glaube, dass das Bundesland Rheinland-Pfalz versucht, in Sachen Tierschutz der Retter der deutschen Landwirtschaft zu sein. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Tierschutz ist keine Glaubensfrage!) - Frau Wolff, lassen Sie mich bitte ausreden. - In der Bundesratssitzung am vergangenen Freitag stand ein Antrag von Rheinland-Pfalz mit der Forderung nach einem Verbot des Schenkelbrandes als Kennzeichnungsmethode bei Pferden auf der Tagesordnung, (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Richtig!) ein Antrag, welcher für mich nicht nur populistisch, sondern auch wirtschaftsschädlich für die deutsche Pferdezucht ist. Deutschland ist weltweit die größte und erfolgreichste Nation im Pferdesport und in der Pferdezucht. Die 300 000 Arbeitsplätze in dieser Branche mit einen Gesamtumsatz von über 5 Milliarden Euro werden, glaube ich, durch solche Anträge in Gefahr gebracht. Ich bin selber Pferdezüchter; ich kenne mich da aus. Liebe Frau Wolff, nach meiner eigenen Erfahrung - ich habe Fohlen dabei festgehalten - verursacht die vorgeschriebene Injektion des sogenannten Chips beim Fohlen deutlich mehr Aufregung als das Setzen des Schenkelbrands. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Priesmeier von der SPD? Dieter Stier (CDU/CSU): Sehr gerne. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Herr Kollege Stier, können Sie vielleicht bestätigen, dass der Einstich mit einer Kanüle nicht so viele Schmerzen hervorruft wie das Verbrennen der Haut? Das, was nach dem Schenkelbrand zurückbleibt, ist eine gebrannte Narbe; sie wird mit einem heißen Eisen gebrannt. Insofern halte ich diese Methode wegen der dabei auftretenden Schmerzen für grob tierschutzwidrig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es gibt Alternativen; es gibt andere Methoden. Das, was Sie vertreten, ist bar jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Dieter Stier (CDU/CSU): Lieber Kollege Priesmeier, Sie möchten sicherlich eine ehrliche Antwort. Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass ich sehr oft bei solchen Vorgängen dabei war. Ich kann aber nicht bestätigen, dass der Schenkelbrand für das Fohlen deutlich schmerzhafter ist. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie sind an der Stelle ein Lobbyist!) - Liebe Frau Wolff, ich antworte erst einmal Ihrem Kollegen Priesmeier. - Es gibt Gutachten, die das Gegenteil beweisen sollen. Heute ist aber nicht die Zeit für eine Debatte darüber; wir sollten an anderer Stelle darüber diskutieren. Ich habe jedenfalls aus eigener Erfahrung wahrgenommen, dass es nicht schmerzhafter ist. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie einen Selbstversuch gemacht?) Ich bin bei diesem Thema wirklich Fachmann; wir können darüber gern noch diskutieren. Ich setze zum Wohle von Rheinland-Pfalz große Hoffnung darauf, dass man dort in absehbarer Zeit unter Julia Klöckner wieder an mehr Sachlichkeit orientiert ist, nicht an polemischer Effekthascherei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir laufen in der Debatte über Tierschutz - auch die heute vorliegenden Anträge untermauern das - immer wieder Gefahr, den Tierschutz zu vermenschlichen und ihn bestimmten Ideologien zu unterwerfen. Wenn Menschen sich jedoch am ganzen Körper mit Tattoos verunstalten und Ringe durch die Nase ziehen (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und wir hinterher oftmals Folgekosten im solidarisch finanzierten Gesundheitswesen zu tragen haben, dann interessiert uns das hier zumeist wenig. Das macht mich mittlerweile sehr betroffen. (Zuruf von der SPD: Halten Sie eine Büttenrede?) Ich weise an dieser Stelle erneut darauf hin, dass wir die Frage, was art- und tiergerecht ist, nicht ideologisch beantworten sollten, sondern dass wir die Antwort darauf den Experten der Landwirtschaft und auch der Wissenschaft ganz unaufgeregt überlassen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eine grundsätzliche Anmerkung zum Spannungsfeld zwischen Tierschutz und Wirtschaftlichkeit machen. Bei allen tierschutzrechtlichen Fragen, die durchaus berechtigt sind und die von der christlich-liberalen Koalition auch sehr ernst genommen werden, müssen wir jedoch Kompromisse zwischen Tierschützern und Tierhaltern und damit auch der Wirtschaft erreichen. Das ist für beide Seiten nicht immer leicht zu ertragen. Wir könnten natürlich - darin gebe ich Ihnen recht - die Legehennenhaltung in Ställen generell verbieten und durch artgerechte Freilandhaltung ersetzen. Aber diese Eier würde in Deutschland niemand mehr kaufen, weil sie einfach zu teuer sind. Zum Teil ist das auch schon der Fall. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Der Markt spricht eine andere Sprache!) Was noch viel schlimmer ist: Die nicht tiergerechte Hühnerhaltung würde ins Ausland verlagert und sich dort auf Dauer etablieren. Ich glaube, dass wir damit dem Tierschutz insgesamt einen Bärendienst erweisen würden. Zudem würden in Deutschland Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gleichzeitig dürfen wir die Unternehmen nicht durch zusätzliche Bürokratie überfordern und in ihrer wirtschaftlichen Freiheit einschränken. Bevor wir neue Gesetze und Verordnungen erlassen, sollten wir prüfen, ob die bestehenden Anforderungen das nicht schon hergeben. Die Veterinärämter vor Ort haben heute schon die Möglichkeit, bei Verstößen einzugreifen. Zumindest ich will nicht, dass der Landwirt mehr am Schreibtisch sitzt, als sich seinen Tieren zu widmen oder auf dem Traktor zu sitzen. Wir sollten uns als Agrarpolitiker immer kritisch fragen, wie viel Regelungswut wir uns im Tierschutz auf dem Rücken der landwirtschaftlichen Betriebe noch leisten können. Mein Fazit lautet: Für uns hat der Tierschutz - und das haben wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart - eine zentrale Bedeutung; das wird auch so bleiben. Die deutschen Tierhalter haben in den vergangenen Jahren mit sehr viel Engagement und wirtschaftlichem Aufwand den Tierschutz in den Ställen weiterentwickelt und verbessert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss aber auch anerkennen, dass bei der Nutztierhaltung der Verkauf der Produkte vom internationalen Wettbewerb geprägt ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Dieter Stier (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Trotzdem leisten wir uns mit den bestehenden Regelungen in Deutschland, in der EU und weltweit schon jetzt die besten Bedingungen für den Tierschutz auf allerhöchstem Niveau. Damit haben wir eine Vorreiterrolle. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege! Dieter Stier (CDU/CSU): Jawohl, Herr Präsident. - Über diese Vorreiterrolle sind wir froh und lehnen aus diesem Grund noch weitergehende Regelungen ab. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Heinz Paula für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Heinz Paula (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Kollege Stier, (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollege Ochse!) ich habe den Eindruck, dass Sie an der Realität, an den Tatsachen schlicht und ergreifend vorbeischrammen. Bei mir ist es so - und bei Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, mit Sicherheit auch -, dass tagtäglich Briefe und E-Mails eintreffen, die auf Missstände hinweisen und bestimmte Sachverhalte zu Recht kritisieren: Fehler bei der Tierhaltung, Fehler beim Tiertransport, die Situation in Schlachthöfen. Kurz und gut: Diese Bürgerinnen und Bürger halten genauso wie ich den Umgang mit Tieren in unserem Land für oft nicht hinnehmbar. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diese Bürgerinnen und Bürger haben vollkommen recht. Ich bedanke mich sehr herzlich bei ihnen für ihr Engagement, genauso wie bei allen anderen, die sich mit großem Nachdruck für die Belange unserer Tiere einsetzen. Ein Dankeschön auch an alle Medien, die immer wieder die Lampe in diesen Bereich hineinhalten und versuchen, Missstände zu thematisieren. Wer die entsprechenden Berichte gesehen hat - Kollege Stier, ich stelle Ihnen gerne einmal eine Auswahl zur Verfügung -, dem bleibt nichts anderes übrig, als zu handeln; denn die gezeigten Tiere erleiden teilweise unvorstellbare Qualen. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, wie Sie versuchen, groß auszuführen. Das sind reale Schmerzen, Herr Kollege. Man sollte höllisch Obacht geben, keine faulen Kompromisse zu schließen. Es gibt nur ein Ja zum Tierschutz. Für mich steht schlicht und ergreifend das Wohl des Tieres über allem. Sie kennen unser Tierschutzgesetz. Ich rate Ihnen dringend, einen Blick in das Grundgesetz zu werfen. Nach Art. 20 a GG hat der Staat die Tiere zu schützen. Davon sind sie meilenweit entfernt. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wer hat das denn eingeführt? Hallo?) Meine Fraktion hat im Gegensatz dazu gehandelt. Wir haben einen Antrag auf Einführung eines obligatorischen Prüf- und Zulassungsverfahrens für Tierhaltungssysteme eingebracht. Wir wollen, dass sich etwas ändert. Deswegen haben wir - jetzt wird es spannend, Herr Kollege Stier; zu diesem Zeitpunkt waren Sie noch nicht im Bundestag - zur Zeit der Großen Koalition das Tierschutzgesetz geändert; sie haben zu Recht darauf hingewiesen. Auf dieser Rechtsgrundlage muss allerdings endlich eine entsprechende Verordnung erlassen werden. In diesem Bereich hapert es bei Ihnen ganz gewaltig. Dem Kollegen Beck die Verzögerung in die Schuhe zu schieben (Otto Fricke [FDP]: Wem denn sonst?) - Entschuldigung, ich habe bisher viele schwache Argumente gehört -, schlägt wirklich alles, Herr Kollege. (Beifall bei der SPD) Wir fordern die Bundesregierung in aller Deutlichkeit auf, endlich zu handeln. Kollege Staatssekretär Müller, bringen Sie endlich eine entsprechende Verordnung auf den Weg! Dann können wir das große Elend der Tiere beenden. Wir fordern einen TÜV für Stallungen und entsprechende Vorschriften für die Transportwege. Darüber hinaus fordern wir einen Tierschutz-TÜV für Schlachthöfe. Als die Tagesthemen vor kurzem die Situation in den Schlachthöfen darstellten, wurde deutlich, dass die Betäubung aufgrund mangelhafter Arbeit oft nicht ausreichend ist. Jährlich - man stelle sich das vor - gerät über eine halbe Million Tiere ohne wirksame Betäubung in die Brühkessel. Das ist schlicht und ergreifend unerhört! (Beifall bei der SPD) Da gibt es auch keine Kompromisse, Herr Kollege Stier. Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie Ihr Papier! Sie haben das wunderbare Papier "Die CDU fühlt sich dem Staatsziel Tierschutz verpflichtet" erstellt. Dort heißt es völlig zu Recht: "Der Tierschutz-TÜV kommt." Die spannende Frage lautet allerdings: Wann kommt er? Ich kann Ihnen nur dringend raten, das aufzugreifen, was bereits vorliegt, zum Beispiel die Beschlussfassung des Bundesrates vom 7. April 2006, das Eckpunktepapier einer hochkarätigen Fachkommission zur Einführung eines obligatorischen Prüf- und Zulassungsverfahrens vom 12. Dezember 2007 oder unseren Antrag. Kollege Staatssekretär, handeln Sie! Dann sind Sie unser Mann. Das wäre hervorragend. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Er hat noch mehr Fehler!) - Stimmt, er muss noch etwas mehr tun, aber es wäre ein wesentlicher Pluspunkt für den Kollegen Müller. Lassen Sie mich kurz auf die Haltung von Kaninchen eingehen. Herr Stier ist darauf interessanterweise nicht eingegangen. Das spricht für sich. Meine Fraktion stellt einen Antrag, die Linke stellt einen Antrag, und die Kollegen der Grünen stellen einen Antrag. (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Deshalb sind sie nicht besser!) Nun stellt sich die spannende Frage: Wo ist Ihre Initiative, Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP? Wo bleibt die Initiative der Bundesregierung? Was ist bisher geschehen? Nichts! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dabei wissen wir alle ganz genau, dass die Haltungsbedingungen für Kaninchen teilweise katastrophal sind. Drahtgitterböden führen zu massiven Wunden. Für unsere Zuhörer nenne ich ein kurzes Beispiel. Können Sie sich allen Ernstes vorstellen, dass ein Kaninchen in einem Käfig, der kleiner als ein halbes DIN-A-4-Blatt ist, zu vegetieren - von "leben" kann man nicht sprechen - hat? Das ist leider teilweise Tatsache. Das muss schnellstens beendet werden. Das ist ein klarer Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Leider gibt es auch auf EU-Ebene bisher keine Regelung. Deswegen verlangen wir in unserem Antrag, dass auf dieser Ebene ebenfalls entsprechende Initiativen gefördert werden. Wir verlangen klipp und klar, Kaninchen in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufzunehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) In einem Punkt sind wir uns einig - auch mit den Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/CSU -: Wir brauchen weitere Forschungstätigkeit in diesem Bereich. Das ist absolut richtig. Aber es kann nicht angehen, dass Sie mit Hinweis auf die Notwendigkeit weiterer Forschungsergebnisse Ihre Hände in den Schoß legen. Immer nur abwarten - das darf nicht hingenommen werden. Ich appelliere eindringlich an Sie: Handeln Sie! Unsere Tiere brauchen dringend Hilfe. Sonst - diesen Vorwurf müssen Sie sich schon anhören - kommt der Tierschutz in unserem Land immer weiter unter die Räder. Sie, verehrte Damen und Herren von der CDU/CSU und von der FDP, sitzen momentan - ich hoffe, dass ich sagen darf: noch - im Bremserhäuschen. Ich hoffe, das gehört bald der Vergangenheit an. Sie tragen ganz entscheidend mit die Verantwortung für das, was im Tierschutzbereich passiert, und vor allem für das, was momentan leider noch nicht passiert. Dabei gibt es doch sehr positive Beispiele. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erinnern sich an die letzte Ausschusssitzung. Es hat doch wirklich Mut gemacht, wie der Kollege Goldmann bezüglich der Haltung von Tieren in Zirkussen versucht hat, eine Lösung zu finden. Ich darf mich bei unserem Ausschussvorsitzenden dafür sehr herzlich bedanken. Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/CSU, das ist ein Ansatzpunkt. Am besten folgen Sie diesem Beispiel beim Tierschutz-TÜV und bei der Haltung von Kaninchen. Dann kommen wir im Interesse unserer Tiere ein großes Stück voran. Handeln Sie! Ich bedanke mich sehr herzlich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hans-Michael Goldmann (FDP): Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist überhaupt keine Frage, dass Tierschutz nicht nur für die Arbeit im Ausschuss, sondern für unsere Gesellschaft insgesamt ein Schlüsselthema ist, (Heinz Paula [SPD]: Richtig!) und das nicht nur, weil der Tierschutz im Grundgesetz verankert ist. Nebenbei bemerkt: Das war eine hervorragende Leistung des Parlaments, zu der die Liberalen einen Anstoß gegeben haben. (Beifall bei der FDP) Wir sagen ganz klar: Tiere sind keine Sache. Das hat der damalige Bundesjustizminister Engelhard, auch ein Liberaler, auf den Weg gebracht. Im Koalitionsvertrag und in unserer Ausschussarbeit ist das, wie ich schon sagte, ein zentrales Thema. Egal wer Ausschussvorsitzender oder Ausschussvorsitzende war, sind wir immer gut damit gefahren, die Themen gemeinsam anzugehen. Deswegen haben wir ein Handelsverbot für Robbenerzeugnisse erreicht. Wir haben ein Importverbot für Katzen- und Hundefelle erreicht. Wir haben nicht alles, aber doch ein bisschen beim Walschutz erreicht, bei den Wildvögeln und auch bei den Tierversuchen. Jetzt wollen wir etwas bei der Mast und der Zucht von Kaninchen erreichen, aber sicherlich auch bei den Wildtieren in den Zirkussen. Aber, Kollege Paula, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr dafür, dass man ein solches Thema auch mit Emotionalität angeht. Ich glaube, jeder, der zu Hause ein Tier hat, der Kinder hat, die Tiere haben, begegnet den Herausforderungen des Tierschutzes mit dem Herzen. Wir brauchen aber auch die Basis kluger, substanzieller Fachlichkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Heinz Paula [SPD]: Die haben wir!) Das Kindchenschema reicht nicht. Das Tier ist kein Mensch. Wir müssen klar sagen: Wir haben das Nutzungsrecht für Tiere, aber es ist gekoppelt an die Tierschutzverpflichtung. Das ist ganz eindeutig. Wir müssen uns über Begrifflichkeiten inhaltlich klar werden. Wir müssen zum Beispiel wissen: Was ist ein eigentlich ein Wildtier? Was ist eigentlich ein Haustier? Wenn wir das aufarbeiten, dann brauchen wir als Erstes Tierschutzbildung. Bei den Haltern ist sie sehr stark ausgeprägt. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Auch bei den Landwirten ist sie in großem Maße vorhanden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Bei den Tierärzten gibt es an der einen oder anderen Stelle sicherlich noch Verbesserungsbedarf. Es geht darum, dass wir das Wissen, das wir haben, einsetzen, um die Bedingungen für die Haltung und Nutzung der Tiere so auszugestalten, dass der Tierschutzgedanke und die Tierschutzverpflichtung zum Tragen kommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht um Verantwortlichkeit. Wir haben nie etwas vom Tierschutz-TÜV gehalten. Ich halte aber zum Beispiel etwas davon, dass man als Halter von Schweinen die Schweinehaltungshygieneverordnung einhält, weil man davon überzeugt ist, dass sie gut ist. Ich halte etwas davon, dass man im QS-System besondere Anstrengungen unternimmt, um bei der Haltung den Bedürfnissen der Tiere gerecht zu werden. Lieber Herr Kollege Paula, Sie versuchen, für die Mastkaninchen holterdiepolter etwas auf den Weg zu bringen. Das ist der falsche Ansatz. Wir haben ein Forschungsprojekt auf den Weg gebracht. Dieses müssen wir auswerten. Wir müssen uns abstimmen und Leitlinien entwickeln. Wir können nicht einfach sagen: Wir nehmen die Kaninchen in die Nutztierhaltungsverordnung auf. - Wir müssen erst einmal wissen, was wir aufnehmen wollen. Dafür brauchen wir wissenschaftliche, fachliche Grundlagen. Das Gleiche gilt für das Halten von Wildtieren in Zirkussen. Es gab meiner Meinung nach eine sehr erfreuliche Entwicklung im Ausschuss, die darin besteht, dass wir die Musik nicht von PETA bestimmen lassen, sondern uns gemeinsam darum bemühen, Lösungen zu finden. Aber auch da müssen wir uns fragen - das sage ich jetzt vielleicht ein bisschen amüsiert -: Wie wild ist eigentlich das Tier, das da im Zirkus lebt? Wie wild waren die Nilpferde, die wir gestern Abend auf einer Veranstaltung im Zoo in Berlin kennengelernt haben? Was machen wir mit dem Zirkustier, das nur den Zirkus kennengelernt hat? Die Tiere sind häufig gar nicht in Freiheit geboren, sondern sie sind in Zirkussen zur Welt gekommen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bundestag!) Was machen wir mit den auffälligen Tieren? Lassen Sie uns uns gemeinsam darum kümmern! Es ist ein großes Problem, wenn in einem kleinen Zirkus Tiere auffällig werden; denn fast nirgendwo sind bei denjenigen, die die Kosten zu übernehmen haben, Haushaltsmittel vorhanden. Das sind im Allgemeinen diejenigen, die die Kontrollen durchführen, nämlich die Kommunen. Da sind überhaupt keine Mittel vorhanden, um den Gedanken des Tierschutzes wirklich so zum Tragen zu bringen, dass es zu einer guten Lösung kommt. Deswegen bin ich froh darüber, dass Kollege Priesmeier und der gesamte Ausschuss gestern meinem Vorschlag gefolgt sind, (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peter Bleser mussten wir noch ein bisschen bearbeiten!) das Thema zu vertagen, es abzuarbeiten und hundertprozentig konsequent zu einer guten Lösung für die Wildtiere in Zirkussen zu kommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Heinz Paula [SPD]: Und zu einer zügigen Lösung!) - Ja, wir können auch gerne zu einer zügigen Lösung kommen. Aber wir müssen mit den Botschaften, die da vermittelt werden, auch ein bisschen vorsichtig sein. Ein großer deutscher Zirkus ist verurteilt worden, weil er an einem Tag kein frisches Blattwerk für Elefanten zur Verfügung hatte. Ich finde, da gehen die Dinge dann auch ein bisschen zu weit. Was das Beispiel Österreich angeht, so ist es richtig, dass in Österreich keine Zirkusse mit Wildtieren mehr auftreten können. Aber es ist paradox, dass österreichische Zirkusse mit Wildtieren in Deutschland auftreten können. Deswegen brauchen wir in diesem Bereich eindeutig europäische Lösungen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]) Ich sage ganz klar: Tierschutz, ja bitte, aber bitte fachlich begründet und nicht so, dass irgendwelche Botschaften in den Raum gestellt werden, die im Grunde genommen dem wahren Tierschutzgedanken nicht Rechnung tragen. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit bei diesen Themen im Ausschuss. Ich bin ziemlich sicher, dass wir zu guten Ergebnissen kommen werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. August 2002 wurde der Tierschutz in Art. 20 a des Grundgesetzes verankert, der entsprechend ergänzt wurde. Damit hat der Tierschutz Verfassungsrang; das ist hier schon gesagt worden. Trotzdem stehen uns heute wieder nur 30 Minuten zu später Stunde zur Verfügung, um über zwei wichtige tierschutzpolitische Entscheidungen zu diskutieren. Sicher, wir haben schon im Ausschuss über Anträge diskutiert. Dennoch wäre es dringend notwendig und aus meiner Sicht auch richtig, hier im Plenum einmal etwas ausführlicher zu diskutieren, und zwar auch zu publikumsfreundlichen Zeiten. (Otto Fricke [FDP]: Da müssen Sie einmal mit Ihrem Geschäftsführer reden!) Über den Tierschutz-TÜV diskutieren wir unter Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern ja schon eine ganze Weile. Natürlich hat die Linke nicht die Illusion, dass wir damit alle Probleme in der Nutztierhaltung lösen können. Aber wir leben in einem Land, in dem obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für technische und bauliche Anlagen allgegenwärtig sind. (Heinz Paula [SPD]: Richtig!) Wenn Probleme auftreten, sind wir froh, wenn wir darauf verweisen können, dass wir genau diese Vorschriften eingehalten haben. Deshalb stelle ich mir oder auch der CDU/CSU und der FDP schon die Frage, warum das ausgerechnet bei Stallanlagen für Nutztiere nicht so sein soll. Das ist doch nicht nachvollziehbar. Klar ist auch, dass jede Tierhaltung, wenn Tiere in Menschenobhut gehalten werden, ein Kompromiss ist. Auf der einen Seite der Waagschale liegt das, was objektiv tier- oder artgerecht wäre; darauf hat Kollege Goldmann schon hingewiesen. Auf der anderen Seite ist das, was von der Gesellschaft unter ethischen Aspekten akzeptiert wird. Hinzu kommt aber schon ein wirtschaftlicher Druck. Der ist in Zeiten eines hochspekulativen Agrarmarktes, der nur billige Produkte fordert, schon stark gewachsen. Damit werden natürlich die wirtschaftlichen Spielräume für die Betriebe kleiner, sowohl für soziale und ökologische Leistungen als auch für den Tierschutz. Es ist natürlich schlichtweg teurer, wenn man Hühner im Auslauf hält und nicht in einen Käfig sperrt. Der Tierschutz-TÜV kann aus unserer Sicht dazu beitragen, dass tierschutzgerechte Lösungen gefunden und vorangebracht werden. Deshalb werden wir als Linke dem Antrag der SPD zustimmen. Ich denke, das ist überfällig. (Heinz Paula [SPD]: Sehr schön! Sich ein Beispiel nehmen da drüben!) Kommen wir zu den Kaninchen. Die Haltungsbedingungen für Kaninchen sind besonders problematisch; darüber sind wir uns hoffentlich wirklich einig. Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Schutz von Kaninchen nicht in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung verankert ist. Die Linke hat daher im Frühjahr 2010 die Diskussion, die in der Öffentlichkeit läuft, durch ihren Antrag ins Parlament zurückgeholt. Dieser konzentriert sich auf den Regelungsbedarf und umfasst sechs wichtige Punkte: Erstens. Aufnahme der Kaninchen in die Tierschutz- Nutztierhaltungsverordnung. Das hat die SPD auch gefordert. Zweitens. EU-weite Mindestforderungen. Es ist nicht einzusehen, dass das bei uns anders geregelt wird als in anderen EU-Ländern. Drittens. EU-weite Haltungs- und Herkunftskennzeichnung für importiertes Kaninchenfleisch. Es ist nicht nachvollziehbar, dass hier andere Bedingungen gelten als für andere importierte Fleischsorten. Viertens. Datenerfassung in Bezug auf Haltung und Verbrauch. Auch darüber wissen wir viel zu wenig. Fünftens. Förderung artgerechter Tierhaltung. Auch an dieser Stelle muss man die Betriebe unterstützen. Sechstens. Forschungsprojekte zur besseren Kaninchenhaltung. In der Tat gibt es in diesem Bereich Wissensdefizite, die wir beheben müssen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das heißt aber nicht, dass man nicht handeln kann. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, warum man einen solchen Antrag ablehnen kann. Wir sehen die Probleme aber nicht nur in der gewerblichen Kaninchenhaltung. Wir sehen sie durchaus auch in der Heimtierhaltung. Die Grünen fordern nun in ihrem Antrag, auch dies zu regeln. Das bedeutet für mich aber eine kaninchenrechtliche Kontrolle in Kinderzimmern. Das hört sich für mich dann doch eher nach Orwell als nach Tierschutz an. Deswegen sagen wir als Linke: Ja, wir möchten auch für die Kaninchen in der Hobbyhaltung mehr tun. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Alle Kaninchen sind gleich!) Das sollten wir aber eher über eine Sensibilisierung und Überzeugung von Kindern und Eltern erreichen. Diese haben nämlich keinen ökonomischen Zwang und können durchaus in einem breiteren Spektrum entscheiden. (Beifall bei der LINKEN) Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: Eine Zivilisation kann man danach beurteilen, wie sie ihre Tiere behandelt. - Wir befinden uns aus meiner Sicht also gegenwärtig in einem sehr unvollkommen zivilisierten Status der Tierhaltung. Es wäre aus meiner Sicht und aus Sicht der Linken ein großer Schritt, wenn Sie sich überwinden könnten, den vernünftigen Anträgen, die hier vorliegen, endlich zuzustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Manfred Grund [CDU/CSU]: Mal sehen, über welche Tierarten er spricht!) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Glückliche Kühe, (Manfred Grund [CDU/CSU]: Aha!) Hühner auf grünen Weiden, Schweine im Stroh, malerische Fachwerkbauernhöfe - immer noch haben Verbraucherinnen und Verbraucher dieses Bild vor Augen, wenn sie an der Fleischtheke zum Kotelett greifen. Keine Werbung ohne diese Bilder! (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Emotionalität!) Leider sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Außer bei NEULAND und der Biolandwirtschaft hat die Realität in den Ställen wenig mit der Schönmalerei auf den Verpackungen zu tun. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Dann kommen Sie sich mal meine Kühe angucken!) Es besteht dringender Handlungsbedarf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Deshalb wollen auch wir Grüne den Tierschutz-TÜV für Stalleinrichtungen, für Betäubungsgeräte und für Heimtierunterkünfte. Aber damit der Tierschutz-TÜV ernsthaft Wirkung zeigt, müssen die Zertifizierungskriterien höher sein als die gesetzlichen Standards. Unabhängige Prüfverfahren mit unabhängigen Prüfern aus Tierschutzorganisationen sind unerlässlich. Das sehen die Koalitionsfraktionen bisher leider anders. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Tierschutz-TÜV ist ein wichtiger Schritt. Wir müssen uns aber über die Grenzen einer solchen Maßnahme immer im Klaren sein. Wesentliche Fragen bleiben unbeantwortet. Was ist mit dem Grundbedürfnis der Tiere nach Auslauf, nach Stroh und Kontakt zur Außenwelt? Was ist mit der artgerechten Behandlung des Tieres durch den Tierhalter? Ich möchte vor allem wissen: Welche Form der Tierhaltung wollen wir uns als zivilisierte Gesellschaft in Zukunft leisten? Staatssekretär Müller, wollen wir denn wirklich Anlagen mit vielen Zehntausenden Schweinen oder einer halben Million Hühnern oder Hähnchen, Anlagen, in denen planmäßig Schweineschwänze und Geflügelschnäbel kupiert werden, damit die Tiere wegen des Platzmangels nicht zu Kannibalen werden, Anlagen, in denen die Tiere in qualvoller Enge vor sich hin darben, Anlagen wie die im niedersächsischen Holthusen II, in denen bei Störfällen Zehntausende von Tieren einen qualvollen Brandtod sterben? (Zuruf von der CDU/CSU: Was für Horrorszenarien!) Der bundesweite, ständig wachsende Protest der Bürgerinitiativen gegen die Massentierhaltung zeigt, dass immer mehr Menschen diese unwürdigen Haltungsbedingungen ablehnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, nicht die Tiere müssen sich den Haltungssystemen anpassen, wie wir es heute praktizieren, sondern die Haltungssysteme den Bedürfnissen der Tiere. Das ist das Gebot der Zukunft. (Heinz Paula [SPD]: Ja!) Orientierung für eine artgerechte Tierhaltung bietet das NEULAND-Leitbild. Dieses Leitbild legt klare Kriterien für die Haltung und die Fütterung von Nutztieren fest. Gerade in Richtung der Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen mit dem "C" im Namen sage ich - Sie sind ja in Ihrem schwarz-gelben Herbst gerade auf der Suche nach Ihrem Wertekern -: Auch Nutztiere sind Mitgeschöpfe, (Peter Bleser [CDU/CSU]: Ja, sicher!) für die wir alle Verantwortung tragen. Das steht in der Bibel, aber auch im Grundgesetz. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Oh! Wie interessant!) - Ja, das sollten Sie nachlesen. Die Menschen sind bereit, für Produkte mit Tierschutzlabel tiefer in die Tasche zu greifen; das belegt auch die aktuelle Studie des BMELV. Das ist ein klarer Handlungsauftrag für die Politik. Wir müssen die Tierhaltung endlich so verbessern, wie es unsere Mitbürger erwarten, Herr Staatssekretär, statt die Welt mit billigem, oft nicht artgerecht erzeugtem Fleisch zu beglücken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Peter Bleser [CDU/CSU]: Er hat 20 Jahre Entwicklungserfahrung, Herr Kollege!) Dieser Maßstab muss für jedes uns anvertraute Tier gelten, egal ob es Tiere in der Landwirtschaft, Heimtiere oder nicht frei lebende Wildtiere im Zirkus oder im Zoo sind. Das Leitbild des Mitgeschöpfs Tier prägt auch unseren Antrag, mit dem wir die Haltungsbedingungen für Zucht- und Mastkaninchen deutlich verbessern wollen. Frau Aigner hat uns vor wenigen Monaten versprochen, im Herbst 2010 die Vorstellungen des Ministeriums vorzulegen. Wir warten darauf leider bis heute. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Ja, genau! Wo sind sie denn? - Heinz Paula [SPD]: Aber das Jahr hat sie nicht gesagt!) - Doch. Sie hat von diesem Jahr gesprochen. - Sie alle haben jetzt die Gelegenheit, unseren Antrag zu unterstützen. Wir sind ja gerne behilflich. (Heiterkeit des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Wir begrüßen die Bereitschaft der anderen Fraktionen, bei der Haltung von Wildtieren im Zirkus eine Lösung im Konsens zu finden; der Ausschussvorsitzende, Herr Goldmann, hat dankenswerterweise schon darauf hingewiesen. Ihm ist ausdrücklich dafür zu danken, dass auch er versucht hat, in dieser Frage einen Konsens zu erzielen. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Ja! Der Zirkus bleibt!) Doch auch hier gilt: Wir werden keinem Kompromiss zustimmen, der der Verantwortung gegenüber dem Mitgeschöpf Tier nicht gerecht wird, Herr Bleser. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Hans-Michael Goldmann [FDP]: Attacke, wie immer!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegin Carola Stauche für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Carola Stauche (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meinen Ausführungen beginne, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass die christlich-liberale Koalition den Tierschutz für besonders wichtig hält. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Dann macht doch auch mal etwas!) Wir als Koalition aus CDU, CSU und FDP setzen uns für den Tierschutz und gute Bedingungen für Tiere ein. (Heinz Paula [SPD]: Wir wollen Taten sehen!) Wir nehmen dieses Thema sehr ernst und werden uns auch weiterhin für eine Verbesserung der Tierhaltung einsetzen, wie es die Union bereits in früheren Jahren getan hat. CDU und CSU sind Vorreiter beim Tierschutz. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ohne uns wäre der Tierschutz nicht ins Grundgesetz gekommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das heute geltende Tierschutzrecht wurde in der Regierungszeit der Union konzipiert und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb sind wir auch bereit, sinnvolle Veränderungen im Tierschutzrecht mitzutragen. Den heute zur Abstimmung stehenden Anträgen werden die Abgeordneten von CDU und CSU jedoch nicht zustimmen. Alle von den Oppositionsfraktionen gestellten Anträge hätten nur wenige Verbesserungen der Bedingungen für die Tiere zur Folge, würden aber zu einem enormen Ausbau der Bürokratie führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Genau! Reine Augenwischerei!) Nehmen wir die Anträge zur Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen, die sich durchaus ähnlich sind! Darin fordern Sie unter anderem eine Erfassung des Kaninchenbestands. Ich frage mich: Wie soll das vonstattengehen? (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ganz einfach: Ohren zählen und durch zwei teilen!) Wollen wir bei Kaninchen Chips oder Ohrmarken verwenden? Als wir das in Thüringen bei Ziegen machen wollten, hatten wir Riesenprobleme. In großen Betrieben wird es sicherlich weniger Probleme geben. So geht aus der Fleischuntersuchungsstatistik des Jahres 2009 hervor, dass im letzten Jahr an etwa einer Viertelmillion Kaninchen inländischer Herkunft Schlachttieruntersuchungen durchgeführt wurden. Daraus kann man eventuell Rückschlüsse auf den Umfang des Tierbestandes ziehen. Aber was machen wir mit den unzähligen Hobbyhaltern - Sie haben es vorhin angesprochen -, die sich privat ein paar Kaninchen halten? Die Tiere werden selbst verzehrt oder zum Teil innerhalb des Freundes- und Bekanntenkreises verkauft. Streng genommen ist das eigentlich schon gewerbliche Haltung. Wer soll über das Land fahren und die Kaninchen zählen, die Kreisveterinäre, während sie noch überprüfen, ob das Tier artgerecht gehalten wird? (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, natürlich sind die Kreisveterinäre zuständig! Wer sonst? Dafür gibt es Kreisveterinäre!) Ich glaube nicht, dass das funktioniert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die bereits geltenden Regelungen des Tierschutzgesetzes und der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung sind sicherlich an der einen oder anderen Stelle verbesserungswürdig. Aus diesem Grund initiierte und förderte das BMELV das Projekt "Untersuchungen zur Gruppengröße und zum Flächenbedarf in der Mastkaninchenhaltung". Die daraus gewonnenen Erkenntnisse und weiteres wissenschaftliches Material werden gerade mit Stellungnahmen von Verbänden im Ministerium zur Vorbereitung eines weitreichenden Verordnungsentwurfs genutzt. Hier haben wir die Lösung; Sie haben sie vorhin von uns gefordert. (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) Es ist mir wichtig, hier auf den Umstand hinzuweisen, dass die Kaninchenproduktion für Deutschland hauptsächlich im Ausland stattfindet (Heinz Paula [SPD]: Deswegen EU-Regelung!) und deshalb eine europäische Regelung den Tierschutz verbessern würde. Aber das ist schwierig; das wissen Sie. Gerade die Gespräche mit den Haupterzeugerländern wie Frankreich, Spanien und Italien gestalten sich sehr schwierig. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Alles EU! - Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Man muss mal anfangen! Einer muss vorangehen!) Lassen Sie mich an dieser Stelle die Frage stellen, warum gerade Deutschland immer wieder ohne Not die Situation der heimischen Tierschützer und Tierbauern verschlechtern soll? Warum soll Deutschland immer vorpreschen und ohne Not eine neue Tierschutzverordnung einführen, über die auf europäischer Ebene nicht einmal nachgedacht wird? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte auch noch ein paar Worte zum Tierschutz-TÜV verlieren, obwohl Kollege Stier dazu schon viel Wichtiges und auch Richtiges angebracht hat. Ob man bei der Nutzung des Namens Probleme mit dem technischen TÜV bekommt, kann ich hier nicht einschätzen. Lassen Sie uns doch erst einmal das Normenkontrollverfahren abwarten, das durch die rheinland-pfälzische Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist. (Heinz Paula [SPD]: Es wird nicht besser, wenn man es ständig wiederholt!) Die Union hat, wie auch das BMELV, immer die Auffassung vertreten, dass ein Prüfungs- und Zulassungsverfahren für Stalleinrichtungen als Erstes im Legehennenbereich von Vorteil ist. Natürlich befürworten wir das Ziel, dass Landwirte und Tierhalter nicht nur technisch sichere, sondern auch im Sinne des Tierschutzes geprüfte Einrichtungen erhalten, wenn sie ihre Ställe modernisieren oder neue Ställe bauen. Auch wenn wir das Thema der Wildtierhaltung im Zirkus aufgrund der Rücknahme des Antrags der Grünen nicht mehr auf der Tagesordnung haben, möchte ich noch ganz kurz ein paar Worte dazu sagen. Lassen Sie uns doch erst einmal die Erfahrungen mit dem Zirkuszentralregister evaluieren. Dann sehen wir, was dabei herauskommt. Darüber, was als Wildtier angesehen werden kann und was nicht, können wir uns bereits in dieser Zeit Gedanken machen. Denn diese Frage zu beantworten, würde mir persönlich heute sehr schwer fallen. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist klar definiert, was Wildtiere sind!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich mit Deutlichkeit darauf hinweisen: Der Tierschutz in Deutschland ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ordentlich geregelt. In Deutschland gelten gute und strenge Vorschriften. Dass es zu Verstößen kommt, kann man natürlich nicht immer verhindern. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die dürfen nicht die Regel sein!) Aber Tierquälerei, teilweise mit krimineller Energie, durch mehr Bürokratie zu bekämpfen, halte ich persönlich für wenig hilfreich. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollegin Stauche, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und alle guten Wünsche für Ihre Arbeit in diesem Hause! (Beifall) Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für Haltungseinrichtungen für Nutztiere - Tierschutz-TÜV zügig einführen". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2912, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2143 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/2962. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2017 mit dem Titel "Bessere Haltung für Kaninchen zu Erwerbszwecken - Konkrete Haltungsbedingungen in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufnehmen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1601 mit dem Titel "Die Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union tiergerechter regeln - Mindestanforderungen unverzüglich auf den Weg bringen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2006 mit dem Titel: "Die gewerbliche Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf: Vereinbarte Debatte Bilanz und Zukunftsperspektiven der wissenschaftlichen Politikberatung "Technikfolgenabschätzung" Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Thomas Feist für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist besser, alle Zeit in Gottesfurcht zu leben, als daß man sich abquält in Furcht mit den zukünftigen Dingen. So hat es Luther einst formuliert. (Beifall des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel) In Zeiten, in denen dieses Gottvertrauen in die Kirche und die Religion im Allgemeinen verloren gegangen ist, muss jemand anderes kommen, der dafür garantiert, und das ist die Wissenschaft. (René Röspel [SPD]: Die Wissenschaft ersetzt Gottvertrauen?) Nun hatten wir ein Zeitalter der Technikgläubigkeit und danach eine ganz lange Periode der Technikskepsis. Furcht entsteht immer nur dort, wo die Erkenntnis fehlt. Insofern versucht man mit der Technikfolgenabschätzung - das kann man durchaus etwas missverstehen - von Anfang an vor allen Dingen auch, die Chancen unserer Technologien zu erkennen. Unser verehrter Kollege Heinz Riesenhuber hat im Jahr 1989 dazu gesagt (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist er eigentlich?) - ja, wo ist er? Er ist immer bei uns -: Technikfolgenabschätzung wird keine Verhinderung von Technik bedeuten, durch sie wird Technik erst ermöglicht. - Genau diesem Leitspruch hat sich das Büro für Technikfolgenabschätzung, das ich im Folgenden kurz "TAB" nennen möchte, gewidmet. 1973 begannen die Diskussionen darüber, wie eine Technikfolgenabschätzung zur Unterstützung des Parlaments aussehen könnte. (Willi Brase [SPD]: Sehr gut!) Nur 16 Jahre später traf der Bundestag im Jahr 1989 die Entscheidung, die Technikfolgenabschätzung zu institutionalisieren. Nach nun 20 Jahren Technikfolgenabschätzung ist es auch einmal an der Zeit, Danke zu sagen. Danke dem TAB und seinen Mitarbeitern, danke auch für die weise Entscheidung des Parlamentes, genau diese Institution einzurichten, und auch danke für den Umstand, dass das Büro für Technikfolgenabschätzung seit 20 Jahren gute Qualität zum gleichen Preis bietet. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Institutionalisierung wissenschaftlicher Politikberatung hat für mich vor allem folgenden Mehrwert: Der kontinuierliche Dialog zwischen Politik und Wissenschaft wird gefördert. Das Büro ist keiner von beiden Seiten verpflichtet, sondern muss beide Interessen ausgleichen. - Dieser Dialog verläuft nicht immer reibungslos, aber - ich denke, so kann ich für uns alle sprechen - immer erkenntnisfördernd für beide Seiten. Eine wissenschaftliche Einrichtung, die vom Parlament beauftragt wird und dann unabhängig eine wissenschaftliche Expertise erstellt, ist etwas Besonderes und reagiert in besonderer Weise auf die Informationsbedürfnisse des Parlaments. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das, was wir vor allen Dingen in der Zukunft besonders berücksichtigen müssen, ist der ethische Aspekt des technologischen Fortschritts. Auch dazu hat Heinz Riesenhuber, unser großer Mann der Wissenschaft, einmal gesagt: Weil uns mit den neuen Techniken auch neue Chancen erwachsen, weil mit neuen Chancen neue Freiheit entsteht, muss aus dieser Freiheit neue Verantwortung wachsen, wenn wir gestalten wollen, was wir gestalten können. - Das kann man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Aus meiner Sicht hat er das sehr gut zusammengefasst. Ich möchte jetzt noch einen persönlichen Aspekt einbringen. Wir hatten hier ja gestern die Festveranstaltung "20 Jahre wissenschaftliche Politikberatung - Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag", und da brachte mich meine Kollegin Dr. Sitte von der Linkspartei darauf, dass ja nun zwei Jubiläen quasi neben- oder übereinander liegen, nämlich zum einen 20 Jahre Technikfolgenabschätzung und zum anderen 20 Jahre deutsche Einheit. Für jemanden, der in Leipzig aufgewachsen ist - für die, die nicht genau wissen, wo Leipzig liegt, sage ich: Es liegt so zwischen Bitterfeld, Leuna und Espenhain, also zwischen den größten Dreckschleudern, die wir im Osten hatten -, ist es besonders wichtig, dass vor 20 Jahren die Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag verankert wurde. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nebenbei gesagt, ich bin als Leipziger auch ein wenig stolz darauf, dass wir durch unsere friedliche Revolution einen großen Beitrag zur deutschen Einheit, deren Jubiläum wir in wenigen Tagen begehen können, geleistet haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Angesichts dessen erkenne ich umso mehr den Wert kontinuierlicher wissenschaftlicher Beratung des Parlaments. Dies will ich Ihnen einmal verdeutlichen. Versetzen Sie sich doch einmal 20 Jahre zurück in den Osten Deutschlands. Da hätten wir eventuell unter anderem so etwas hören können: Liebe Genossinnen und Genossen, (Heiterkeit) ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der aus dem Westen kommt, kopieren müssen? Auch wenn sich der Klassenfeind von nun an mit Technikfolgenabschätzung beschäftigt, kann ich nur sagen: Unsere Betriebe brauchen so etwas nicht. Denn sozialistische Technik hat keine schädlichen Folgen. Sie dient allein dem Wohl des werktätigen Volkes. (Heiterkeit) Ich bin froh, dass uns dieses Szenario erspart geblieben ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da ich in einem Land aufgewachsen bin, das weder auf seine Ressourcen geachtet hat noch auf die Umwelt oder seine Bevölkerung, ist es mir umso wichtiger, dass wir uns im Parlament anhand des Instruments der Technikfolgenabschätzung verantwortlich mit diesen Fragen beschäftigen, und ich bin dankbar, dass mit der deutschen Einheit die erzielten Ergebnisse auch dem gesamten deutschen Volk zugute kommen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion Kollege René Röspel. (Beifall bei der SPD) René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bildungs- und Forschungspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion haben am Sonntag einen sehr spannenden Vortrag von Professor Gigerenzer zum Thema "Risikokompetenz - Der informierte Umgang mit einer modernen technologischen Welt" gehört. Eine der Aussagen war - fast selbstverständlich -: Vertrauen - nicht immer Gottvertrauen, Herr Kollege Feist - ist Zement einer Gesellschaft, und Politik leidet in den letzten Jahren eher unter Vertrauensverlust. Als Gegenrezept empfahl uns Professor Gigerenzer, mehr Transparenz, mehr Öffentlichkeit und vonseiten der Politik auch mehr Glaubwürdigkeit an den Tag zu legen. (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) Diese Gedanken im Kopf, habe ich mir heute Morgen im Eingangsbereich, in dem all die Gesetzentwürfe ausliegen, die in einer Sitzungswoche behandelt werden, fast wahllos einen geschnappt, weil diese Gesetzentwürfe unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung eigentlich immer gleich aufgebaut sind. Ich habe mal den "Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes" genommen. Unter "A. Zielsetzung" wird immer erklärt, worum es geht. Hier geht es um die Laufzeitverlängerung bei 17 Atomkraftwerken um 12 Jahre. Auf der zweiten Seite steht immer "B. Lösung". Hier steht, wie die Zielsetzung des Gesetzes erreicht werden soll. Jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinaus will. Unter C findet sich immer der Abschnitt "Alternativen". Jetzt raten Sie mal, was da in neun von zehn Gesetzentwürfen immer steht, übrigens unabhängig von der jeweiligen Regierung. (Zurufe von der CDU/CSU: Keine! Keine!) - Keine. - Jetzt frage ich uns ernsthaft: Glauben wir das eigentlich selbst, oder glauben wir, dass die Leute draußen glauben, dass es niemals eine Alternative zu den Gesetzentwürfen gäbe, die wir alle hier machen? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich bin davon eher nicht überzeugt. Wenn es um Glaubwürdigkeit geht, sollten wir entweder den Punkt C demnächst mit Alternativen ausfüllen - denn die gibt es immer; jedem Handeln steht ein Unterlassen gegenüber und umgekehrt, und beides hat natürlich Folgen - oder diesen Punkt einfachen streichen. Das wäre vielleicht genauso glaubwürdig. Ebenso sollten wir als Politiker häufiger sagen, dass wir nicht die allumfassenden Lösungen anbieten können, dass wir immer wieder fragen, welcher Weg eigentlich der richtige ist, und dass wir auf der Suche sind, wenn wir ein Gesetz machen. Gigerenzer sagte auch, dass wir in einer Zeit rasanter Technologieentwicklung leben und dass das Verständnis der Menschen von Technologie immer weniger mit diesen neuen Technologien Schritt halten kann. Und: Risiken sind immer vorhanden. Wir müssen nur lernen - und das frühzeitig -, mit Risiken vernünftig umzugehen und sie abzuwägen. Ich bin überzeugt: Wer Risiken verschweigt, wird gerade nicht Vertrauen erzeugen, sondern Misstrauen und Vorurteile hervorrufen. Albert Einstein hat zu Recht gesagt, dass es viel einfacher ist, einen Atomkern zu zertrümmern als ein Vorurteil. Das sollten wir uns manchmal in Erinnerung rufen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Richtig ist deswegen: Wir müssen Risiken benennen, transparent machen und wirkliche Alternativen - also Punkt C - suchen, und dazu braucht das Parlament eine gute Beratung. Ich bin sehr froh, dass vor mehr als 20 Jahren vorausschauende Kollegen wie Jürgen Rüttgers aus der CDU/CSU-Fraktion, Edelgard Bulmahn und Wolf-Michael Catenhusen und seitdem die als Motor fungierende, aber jetzt leider abwesende Ulla Burchardt diesen Prozess verfolgt und das Büro für Technikfolgenabschätzung ins Leben gerufen haben. Damit hat nämlich der Bundestag eine unabhängige, frei von äußeren Einflüssen handelnde und Vorschläge machende politische und wissenschaftliche Politikberatung bekommen, die im Auftrag des Bundestages handelt. Das war ein Glücksgriff und eine Glanztat. Danke an die vielen Kolleginnen und Kollegen, die das vor 30 Jahren angestoßen und seit dieser Zeit kontinuierlich verfolgt haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dabei wird eines deutlich: Wissenschaft ist nicht politikfrei. Spätestens seit der Göttinger Erklärung vor über einem halben Jahrhundert wissen wir das. Politik ist auch nicht unwissenschaftlich und darf nicht unwissenschaftlich sein. Zentral dabei scheint mir, dass die wissenschaftliche Politikberatung an das Parlament angekoppelt ist. Es gibt eine Berichterstattergruppe im Ausschuss für Technikfolgenabschätzung, die einstimmig im Konsens entscheidet. Auch das findet man nicht immer im Bundestag. 144 Berichte ganz unterschiedlicher Art sind in den letzten 20 Jahren vom Büro für Technikfolgenabschätzung vorgelegt worden. Es waren Berichte zur Bio- und Gentechnologie, zur Kommunikationstechnologie, zu den Auswirkungen und Folgen von Mobilfunk, zur Innovationspolitik, zu ganz vielen unterschiedlichen Fragen zur Nahrungsmittelqualität. Diese Berichte haben nicht nur dem Parlament als Beratungsgrundlage gedient, sondern sie haben sehr häufig auch öffentliche Resonanz hervorgerufen und dienen auch heute noch als gute wissenschaftliche Grundlage für viele Beratungen und Diskussionen. Aufgabe solcher Berichte ist es, zu Themen, über die wir manchmal noch gar nicht viel wissen, den Stand der Wissenschaft und der Forschung, Perspektiven, mögliche Entwicklungen und - sofern das möglich ist - Handlungsoptionen, also unterschiedliche Wege aufzuzeigen, die wir als politisch Entscheidende gehen können. Damit sind wir wieder bei Punkt "C. Alternativen". Uns werden also auch Alternativen aufgezeigt. Das TAB ist sozusagen ein Radar für neue technologische Entwicklungen, die stattfinden, und zeigt uns mitunter Untiefen, die vor uns liegen. Die Politik ist der Kapitän, der entscheiden und den Kurs festlegen muss. Das geht auch nicht anders. Aber die Informationen des Radars zu berücksichtigen, mag für das Schiff sicherlich nicht falsch sein. Ich will einige Beispiele nennen. Der Bericht "Stand und Perspektiven der Nanotechnologie" aus dem Jahr 2003 war nicht nur eine gute wissenschaftliche Grundlage zu dem sich entwickelnden Bereich der Nanotechnologie, sondern er hat auch eine große öffentliche Resonanz erfahren und fast erstmals in der Geschichte die Politik in die Lage versetzt, einigermaßen auf der Höhe der technischen Entwicklung zu sein und frühzeitig über Risiken und Chancen zu reden, aber auch Regulationsmechanismen einzubauen und eine öffentliche Diskussion in Gang zu bringen. Wir als Parlament haben das immer begleiten können. So kann man Transparenz auf einem neuen technologischen Gebiet herstellen und Misstrauen verhindern: indem man frühzeitig und verständlich darüber redet. Der zweite Bericht, der bald vorgelegt wird, ist der über Fortpflanzungsmedizin. Er wird uns sicher eine wichtige, in manchen Fällen auch überraschende und interessante Grundlage für eine ethische Debatte, die auf uns zukommen wird, bieten können: über die Frage, ob Präimplantationsdiagnostik zulässig sein soll oder nicht. Auch da lohnt sich ein Blick in den Bericht zum Thema Fortpflanzungsmedizin, der den Berichterstattern jetzt vorliegt und der in einigen Wochen sicherlich veröffentlicht werden wird. Ein weiteres, zukunftsgerichtetes Beispiel ist der von der Berichterstattergruppe in Auftrag gegebene Bericht zu Geo-Engineering - ein fürchterliches Wort. Wir erwarten in einem Bereich, der sehr neu ist, Antworten auf die Frage, welche Auswirkungen auf Klima und Welt kann es haben, wenn die Menschen großflächig Eisenoxid in die Weltmeere kippen, Algen damit düngen und so hoffen, dass Kohlendioxid gebunden wird, oder Sulfat in die Stratosphäre schießen, in der Hoffnung, dass großflächig Sonnenstrahlen reflektiert werden und die Erderwärmung nicht zunimmt. All das sind offene Fragen, die wir nicht beantworten können. Das TAB wird uns - dessen bin ich sicher - eine gute Stütze und wissenschaftliche Hilfe sein. Mein Fazit: 20 Jahre TAB - zumindest ich bin klüger geworden; ich gebe zu, dass das gesellschaftlich nicht wirklich relevant ist. Wichtig ist, dass das TAB, also das Büro für Technikfolgenabschätzung, uns wirklich in die Lage versetzt, Entscheidungen so zu treffen, dass auch künftige Generationen genügend Freiraum und Spielraum haben, eigene Wege zu gehen, eigene Entscheidungen zu treffen, vielleicht auch eigene Fehler zu machen. Das ist ein wichtiger Wert. Deshalb gilt der Dank der SPD-Fraktion wie sicherlich aller anderen Fraktionen ausdrücklich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des TAB und allen beteiligten Gutachtern. Wir werden sie weiterhin unterstützen, auch in Haushaltsfragen; denn die Mittel sind knapp. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat jetzt Sylvia Canel für die FDP-Fraktion. Sylvia Canel (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschlands Ruf in der Welt eilen nicht immer nur große Erfindungen voraus, sondern man kennt auch das Wort von der "German Angst". Aber: "Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen." Wissenszuwachs und die Reduzierung von Vorurteilen mindern Angst; denn nur so können wir Vorgänge und Sachverhalte verstehen, angemessen bewerten und Handlungen ableiten. Ziehen wir heute Bilanz der 20-jährigen Arbeit des TAB, dann zeigt sich: Die von mir eingangs zitierten Worte der Physikerin Marie Curie sind richtungsweisend. Wissenschaftliche Entwicklungen und deren politische Begleitung durch das Parlament, zum Beispiel durch Forschungsförderungsprogramme, durch Technologieprogramme, durch Bildungsprogramme, verlangen immer mehr nach einer fundierten und belastbaren Wissensbasis. Eine permanente und fest verankerte Technikfolgenabschätzung in Form des TAB ist Ausdruck einer lebendigen Politikberatung des Parlaments auf wissenschaftlicher Basis. Eine zu frühe Festlegung auf Positionen in dieser Auseinandersetzung dient keiner ergebnisoffenen Diskussion. Ausgewogene, unabhängige und zuverlässige Informationen zu wissenschaftlichen, technischen und ethischen Fragen sind die Voraussetzung, um das Wissen und die Entscheidungsfindung zu unterstützen. Zuerst muss die entsprechende Expertise zur Verfügung stehen. Erst dann kann auf einer wissenschaftlichen Basis politisch diskutiert und können Entscheidungen verantwortlich getroffen werden. Wir können uns beraten lassen; aber die Verantwortung tragen die Mitglieder des Parlaments schon selber. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gerade der empfundene Mangel an ausgewogenen Informationen und Beratung auf dem Feld von Wissenschaft und Technologie war es, der zur Einrichtung des TAB führte. Ohne wissenschaftliche Expertise ist es schwer möglich, die Chancen technischer Innovationen zu erkennen und dabei gleichzeitig die ökonomischen, ökologischen und sozialen Fragen und Risiken objektiv zu betrachten. Ohne wissenschaftliche Expertise kann keine fundierte politische Diskussion darüber stattfinden, wie Innovationen am besten gefördert und unterstützt werden. Durch Technikfolgenabschätzung wird der zentrale Auftrag des Parlaments, die Diskussion und Erörterung politischer Felder, maßgeblich unterstützt. Komplexe Sachverhalte zu analysieren und eine transparente und verständliche Vermittlung der Arbeitsergebnisse zu liefern, zeichnet die Tätigkeit des TAB aus. Durch die Arbeit des TAB wird ein Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und das Spektrum der gesamten gesellschaftlichen Meinungsbilder nutzbar gemacht. An dieser Stelle hervorzuheben, ist der inhaltliche Reichtum der TAB-Berichte, vor allem deren wissenschaftliche Qualität und ausgewogene Darstellung, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich und immer weiter verbessert wurde. Die Potenziale einer Technikfolgenabschätzung wurden nicht von Anfang an von allen Abgeordneten gesehen. Anfänglich herrschte Skepsis. Den Berichterstattern ist es zu verdanken, dass sie durch ihren Einfluss in den Fraktionen Schritt für Schritt zur allgemeinen Akzeptanz des TAB auf allen Ebenen beigetragen haben. Das Ergebnis: Heute müssen die TAB-Berichterstatter die unzähligen Vorschläge für Untersuchungen aus den Reihen der Abgeordneten, aus den Fraktionen und aus den Ausschüssen sichten, bündeln und letztlich entscheiden, welche Untersuchungsaufträge überhaupt durchgeführt werden. Allein im ersten Quartal 2010 sind 67 Projektanträge eingereicht worden. Die Auswahl ist nicht immer einfach; denn die Gruppe der Berichterstatter muss im Konsens entscheiden. Das Ergebnis der Berichte ist überzeugend. Die vom Bundestag angenommenen und veröffentlichten TAB-Berichte stoßen auf eine breite Resonanz in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Erfreulicherweise können wir heute feststellen, dass die Technikfolgenabschätzung in der Mitte des Parlaments angekommen ist und die anfänglichen Bedenken sich nicht bewahrheitet haben. Über die Jahre haben sich neue inhaltliche Akzente ergeben, und es kam zu einer wichtigen Fokussierung auf die Themen, die in einer modernen Industriegesellschaft relevant sind. Exemplarisch möchte ich - ergänzend zu Ihrem Beitrag - die CO2-Abscheidung und -Lagerung nennen, die im Jahr 2008 debattiert und untersucht wurde. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie es durch eine zeitgerechte Bearbeitung gelingen kann, Technikfolgenabschätzung frühzeitig mit dem öffentlichen Diskurs und den Beratungserfordernissen im Gesetzgebungsverfahren zu verknüpfen. Die Ergebnisse der TAB-Berichte befördern die politische Auseinandersetzung. Sie wurden und werden inner- und außerparlamentarisch bewertet, debattiert und genutzt und fließen somit unmittelbar in politisches Handeln ein. Um beim Beispiel CO2 zu bleiben: Den Diskussionsprozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist, werden wir weiter begleiten. Da alle Resultate dem Bundestag und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, geht die Rezeption über den Bundestag hinaus. Verbände, NGOs, Bildungseinrichtungen sowie Landes- und Bundesministerien profitieren ebenfalls vom TAB. Unser Anliegen ist es, die parlamentarische Technikfolgenabschätzung in Zukunft verstärkt als ein öffentliches Diskussionsforum zu gestalten. Mit dieser aktiven Rolle des Bundestags bei der Bearbeitung hochrelevanter Zukunftsfragen werden wir seiner Funktion als Öffentlichkeitsorgan gerecht. Das Parlament ist und bleibt Initiator und Moderator der gesellschaftlichen Debatten zu den Brennpunkten wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Das TAB hat sich als ein sehr wirkungsvolles Instrument der wissenschaftlichen Politikberatung erwiesen. Darüber hinaus finden sich weitere gute Instrumente auch in den Serviceeinrichtungen der Wissenschaftsgemeinschaften und -gesellschaften. Eine wissenschaftliche Politikberatung dieser Art und Weise ist weiterhin unerlässlich. Ich danke Herrn Professor Dr. Grunwald als Leiter des TAB, seinem Vorgänger, Herrn Professor Dr. Paschen, Herrn Dr. Petermann, Herrn Zoche sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des TAB für ihre über die Jahre geleistete exzellente Arbeit und freue mich, diese in den kommenden Jahren weiter nutzen zu dürfen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die nächste Rednerin, Kollegin Petra Sitte von der Linksfraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.2 Deswegen erteile ich jetzt Kollegen Hans-Josef Fell von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Feist, Sie haben das richtig dargestellt: In der DDR gab es in der Tat große Defizite bei der Technikfolgenabschätzung. Wir sollten uns aber nicht täuschen. Die gleiche Situation gab es auch im Westen. Wie viele Menschen haben darunter gelitten, dass ohne Technikfolgenabschätzung Holzschutzmittel auf sie losgelassen wurden, die große Probleme hervorgerufen und Krankheiten verursacht haben! Wie viele Menschen haben sich darüber geärgert, dass es Chemiefabriken gibt, die ungeklärte Abwässer in die Flüsse gelassen und Abgase in die Luft geblasen haben! Wie viele Menschen haben sich darüber geärgert, dass Atomkraftwerke gebaut wurden, wobei wir bis heute noch nicht einmal wissen, wohin wir mit dem Atommüll sollen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Hier hat man in den 50er-Jahren Chancen vertan. Man hätte damals schon Technikfolgenabschätzung betreiben sollen. Es hat in der Tat auch viel zu lange gedauert, bis der Deutsche Bundestag ein entsprechendes Büro eingerichtet hat. Viele sind ungeduldig geworden und haben deshalb eine grüne Partei gegründet. Sie ist ein Ausfluss genau dessen, dass in unserer Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße Technikfolgenabschätzung betrieben wurde. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ist die Strafe nicht zu groß?) Diese Partei glich ein Stück weit dieses Defizit aus. Meine Damen und Herren, jetzt haben wir das Büro für Technikfolgenabschätzung im Deutschen Bundestag. Es hat, wie die Vorredner schon gesagt haben, hervorragende Arbeit geleistet. Deswegen sollten wir es auch gut pflegen. Aber nicht nur das: Wir müssen auch weiter investieren. Aus Kapazitätsmangel kann das Büro für Technikfolgenabschätzung viele Berichtswünsche aus dem Parlament aktuell gar nicht mehr erfüllen. Wir sehen daran, dass hier große Nachfrage besteht. Deswegen fordern wir von Ihnen, in diesen Haushaltsberatungen endlich die Mittel für das Büro für Technikfolgenabschätzung aufzustocken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dies ist notwendig, nachdem es in den letzten 20 Jahren keine Aufstockung gegeben hat. Diese Investition wird sich lohnen. Ein berühmtes Beispiel ist das Raumschiff "Sänger II". Nachdem vom TAB dargestellt wurde, dass das nicht sinnvoll ist, wurde vermieden, dass die Politik Milliardenbeträge für dieses Projekt in die Hand nimmt. Es geht aber nicht nur darum, rückblickend zu fragen, ob die Technikfolgenabschätzungsberatung wirklich sinnvoll war. Wir müssen schauen, ob die Beratungen zu aktuellen Projekten sinnvoll sind, und entsprechende Ergebnisse auch in der Politik ernst nehmen. Es geht nicht nur um ökologische Fragen - natürlich geht es auch um ökologische Fragen -, es geht auch um soziale Akzeptanz, um Verbraucher- und Datenschutz, um gesundheitliche Auswirkungen oder Gender- und Friedenspolitik. Alles muss bei der Technikfolgenabschätzung mit in den Fokus genommen werden, wenn sie sinnvoll sein soll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir brauchen generell eine unabhängige Begleitforschung als festen Bestandteil jeder Forschung, bei der es um technische und gesellschaftliche Fragen geht. Deshalb sollten insgesamt 5 Prozent der Forschungsgelder für Technikfolgenabschätzung ausgegeben werden. Wir müssen uns in der Politik aber auch immer wieder fragen, ob wir genügend Rücksicht auf die Technikfolgenabschätzung nehmen. Im Jahre 2002 hat das Büro für Technikfolgenabschätzung einen Bericht über Kernfusion abgegeben und damit uns im Bundestag den Auftrag gegeben, endlich einmal innezuhalten und eine Neubewertung der Kernfusion vorzunehmen. Nichts davon wurde umgesetzt. Heute gibt es nun das Finanzdesaster auf EU-Ebene. Man weiß nicht mehr, wie die Finanzierung für ITER gelingen soll. Auch hier mangelte es an entsprechenden Entscheidungen der Politik im Zuge von Technikfolgenabschätzung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es geht aber nicht nur darum, in unserer Gesellschaft die Folgen, die problematisch sein können, zu beachten. Es geht auch darum, die Ergebnisse der Technikfolgenabschätzung als Chancen zu begreifen. Diese Chancenorientierung muss in den Mittelpunkt gestellt werden, und auf dieser Basis müssen Konsequenzen gezogen werden. So hat das TAB vor wenigen Jahren einen tollen Bericht über geothermische Stromerzeugung erstellt: Hier gibt es riesige Potenziale, die man nutzen könnte, um die Grundlast bei der Stromerzeugung sicherzustellen und somit Atom- und Kohlekraftwerke zu ersetzen. Nur, wie sieht die Politik von Union und FDP aus? Im aktuellen Energiekonzept finden wir nichts davon. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Und vorher?) In den nächsten 50 Jahren soll die geothermische Stromerzeugung ein Nischendasein fristen. Das ist ein Beispiel für fehlende Akzeptanz von Technikfolgenabschätzung. Hier sollten wir die sich bietenden Chancen ergreifen und energischer umsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das TAB bietet eine Fülle wertvoller Politikberatung; das wissen wir. Wir sollten aber in allen Fraktionen mehr noch als bisher die Empfehlungen des TAB in den politischen Entscheidungen auch wirklich berücksichtigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Axel Knoerig das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Axel Knoerig (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Leben wird immer komplexer. Wir leben heute in einer Welt, in welcher der Einzelne kaum mehr alle Lebensbereiche im Blick haben kann. Unverändert hält der Trend zur weiteren Spezialisierung an. Wir wissen von immer weniger immer mehr. Gleichzeitig lässt die zunehmende Informationsflut oft die Berücksichtigung vieler wichtiger Details nicht mehr zu. Umso bedeutsamer ist die Vermittlung inhaltlicher Einzelheiten durch Wissenschaftler an Politiker. Heute ist es für politische Entscheidungsträger unerlässlich, zuverlässige Informationen über die Wirkungen von Gesetzen, Entwicklungen und Innovationen auf unsere Gesellschaft zu erhalten. 20 Jahre Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - ich nenne es in meiner Rede auch kurz "TAB" - sind daher ein Grund, an dieser Stelle einmal laut und deutlich Danke zu sagen und diese Institution entsprechend zu würdigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Dank der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt insbesondere dem Leiter des TAB, Herrn Professor Dr. Armin Grunwald, und seinem Team für deren Leistung. Politikberatung durch unabhängige Wissenschaftler ist wenig öffentlichkeitswirksam und für den Bürger im politischen Alltag kaum wahrnehmbar. Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für diesen wichtigen wissenschaftlichen Dienst brechen, der oft in aller Stille geschieht und doch für uns alle von großem Nutzen ist. Die über 150 Publikationen, Gutachten und Empfehlungen zeigen sehr deutlich den Charakter dieser "Denkwerkstatt", deren Aufgabe es ist, den wissenschaftlichen Fortschritt zu analysieren. Dabei steht der rasante technische Wandel, der die Geschwindigkeit der Veränderung unserer Lebensverhältnisse beträchtlich erhöht hat, im Mittelpunkt der Analysen. Die Untersuchungen und Berichte zur Technikfolgenabschätzung machen diesen Wandel für uns transparent und erleichtern so sachbezogene und abgewogene Entscheidungen. So machen sie uns immer wieder aufmerksam auf die Ursachen und Folgen, auf die Richtung und die Geschwindigkeit von Technik- und Wissenschaftsentwicklungen. Die zahlreichen TAB-Analysen wie zum Beispiel die Studie "Netzöffentlichkeit und digitale Demokratie", die im Jahr 2006 erschienen ist, oder auch das laufende Projekt "Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informationsgesellschaft" waren für meine Berichterstattung zum Arbeitnehmerdatenschutz in der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU sehr hilfreich. Eine heftige Diskussion zu einem weiteren Themenkomplex erlebe ich zurzeit in meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg in Niedersachen. Hierbei geht es um die Veränderung der Kulturlandschaften im ländlichen Raum durch die Anpflanzung von Mais für Biogasanlagen. Ein aktueller TAB-Bericht dazu ist 2010 abgeschlossen worden und trägt den Titel "Chancen und Herausforderungen neuer Energiepflanzen". Dabei geht es unter anderem um Energiepflanzen und die damit verbundenen ökologischen und ökonomischen Herausforderungen sowie um Flächenkonkurrenz und Förderinstrumente. Auch dies ist wieder eine gelungene Unterstützung für uns Parlamentarier und hilft tagtäglich bei unserer Arbeit. Die Qualität der Arbeit des TAB wird außerhalb des Parlaments vor allem in der akademischen Fachwelt geschätzt. Der Wirkungskreis geht über Parlament und Wissenschaft noch hinaus. Wirtschaft, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen der Bildungsarbeit nutzen die Analysen des TAB. Diese Nachfrage zeigt, dass wissenschaftliche Beratung der Politik hinsichtlich der Technikfolgenabschätzung mehr für die Allgemeinheit leistet, als man weithin annimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Insofern ist der wissenschaftliche und gesellschaftliche Wert der TAB-Analysen beträchtlich. Nach 20 Jahren Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag steht fest: Das Konzept der wissenschaftlichen Beratung des Parlaments ist erfolgreich und erhöht unsere Entscheidungskompetenz. Das, meine Damen und Herren, ist eine gute Bilanz, die zum 20-jährigen Gründungstag zum Feiern einlädt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik - Drucksachen 17/2434, 17/3084 - Berichterstattung: Abgeordnete Petra Müller (Aachen) Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Als Erstem gebe ich dem Kollegen Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Gero Storjohann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke fordert mit ihrem Antrag eine amtliche Statistik der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland. Es ist richtig, dass die Bundesregierung keine eigenen Erhebungen zur Entwicklung der Obdach- und Wohnungslosigkeit durchführt. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum nur?) Auch in den Bundesländern existieren keine flächendeckenden Daten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass uns keine Zahlen vorlägen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe veröffentlicht jährlich Schätzzahlen. Demnach ist seit 1998 die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2008 ging man von 227 000 Menschen aus, die in Deutschland wohnungslos sind. Das waren 6 Prozent weniger als ein Jahr zuvor. 20 000 Menschen davon lebten ohne jegliche Unterkunft auf der Straße. Das sind immer noch 20 000 zu viel; aber es sind auch 1 000 weniger als noch im Jahre 2007. Die CDU/CSU-Fraktion tut alles, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland zu bekämpfen. In den letzten Jahren wurde viel erreicht. Eine weitere Statistik löst die Probleme der Wohnungs- und Obdachlosen natürlich nicht. Aber die Frage ist, ob eine Statistik vielleicht eine Hilfe ist, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu vermeiden oder zu verhindern. Wir als Union meinen, dass die Statistik eine Scheinlösung eines realen Problems wäre; denn Obdachlose brauchen konkrete Hilfen. Diese Unterstützung bietet unser Sozialstaat längst an. Das SGB II garantiert jedem erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen die finanziellen Mittel für eine angemessen ausgestattete Wohnung. Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden im Notfall getragen. In Deutschland muss niemand obdachlos sein. Auch Mietschulden übernimmt im Notfall der Staat. In Deutschland wird niemand zur Obdachlosigkeit gezwungen. Es ist der Sozialstaat, der den wohnungs- und obdachlosen Menschen in Deutschland hilft. Art. 1 unserer Verfassung legt fest: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir sind uns wohl alle einig, dass es zu einem menschenwürdigen Leben gehört, ein Dach über dem Kopf zu haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb halten wir entsprechende finanzielle Mittel im Sozialhaushalt bereit, und deshalb unterstützen wir beispielsweise Wohnheime, die ein Ausweg aus der Obdachlosigkeit sein können. Wir versuchen durch konkrete Sozialpolitik, Menschen in Notlagen zu helfen oder Notlagen erst gar nicht entstehen zu lassen. Aber eine Statistik ohne Aussagekraft bietet natürlich auch keinen Hinweis auf Problemlösungen. Die CDU/ CSU-Fraktion hält den Antrag der Linken deshalb nicht für zielführend. Darüber hinaus würde eine solche Erhebung unter praktischen Mängeln leiden. Das ist auch den Antragstellern bekannt. Schließlich debattieren wir dieses Thema nicht zum ersten Mal. So hat das Statistische Bundesamt Ende der 90er-Jahre eine Machbarkeitsstudie durchgeführt. Das Ergebnis: Wir können nur diejenigen verlässlich zählen, die in Einrichtungen für Obdachlose eingeliefert wurden. Wir können nur die Personen zählen, die bereits in Kontakt mit Ordnungsbehörden getreten sind. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass Nichtsesshafte kaum statistisch zu erfassen sind - wenn ja, dann wo? -; man kann das also praktisch nicht umsetzen. Würden wir also eine Studie in Auftrag geben, wäre das Ergebnis nicht so aussagekräftig, wie es den Anschein erweckt. Außerdem würde eine entsprechende Statistik erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vorliegen. Der Wohnungsmarkt bzw. die Bedürfnisse der Wohnungslosen entwickeln sich aber dynamisch. Eine Statistik würde nie die aktuelle Lage realistisch und ausreichend abbilden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die CDU/CSU steht für gute Sozialpolitik. Wir helfen den Wohnungs- und Obdachlosen, indem wir versuchen, sie in ihrer Notlage aufzufangen. Dazu gehören finanzielle Hilfen sowie karitative Einrichtungen. Wir werden aber keine Statistik auf den Weg bringen, deren Aussagekraft nicht über die einer Schätzung hinausgehen würde. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linken ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Sören Bartol spricht für die Fraktion der SPD. (Beifall bei der SPD) Sören Bartol (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerade in Großstädten wie Berlin sehen wir immer wieder Menschen, die augenscheinlich kein Zuhause haben: Leute, die nach Kleingeld fragen, eine Straßenzeitung verkaufen, in Notquartieren übernachten oder gar ohne jedes Obdach sind. Das ist der für uns alle sichtbare Teil des Problems der Wohnungslosigkeit. Er ist zwar sichtbar, aber statistisch nicht leicht zu erfassen; darauf komme ich noch zu sprechen. Wohnungslosigkeit betrifft noch viel mehr Menschen, die aber im Alltag unsichtbar bleiben. Dabei handelt es sich um solche, die bei Freunden oder Verwandten übernachten, in selbstbezahlten Billigpensionen wohnen oder in Unterkünften verschiedenster Träger untergebracht sind. Etwas weiter gedacht, muss man in diesem Zusammenhang auch die Menschen betrachten, die konkret vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind, weil zum Beispiel ihr Vermieter oder ihre Vermieterin versucht, sie herauszuklagen. Es müssen auch die Menschen Beachtung finden, die unter unzumutbaren Umständen leben: in viel zu kleinen Wohnungen mit viel zu vielen Personen oder aber zu Mieten, die ihre finanziellen Verhältnisse bei weitem übersteigen. Diese Menschen haben keine angemessene Wohnung, finden aber offensichtlich keine bessere, die für sie infrage kommt. Es gibt viele verschiedene Gründe, eine Wohnung zu verlieren bzw. keine angemessene Bleibe zu finden. Das reicht von finanziellen Ursachen bis hin zum grundsätzlichen Unvermögen, sich um sich selbst zu kümmern, sei es aufgrund von Krankheit, Sucht oder traumatischen Ereignissen wie Arbeitsplatzverlust, Trennung oder Tod von Angehörigen. Mit dieser Aufzählung habe ich versucht, die Vielschichtigkeit des Themas Wohnungslosigkeit zu verdeutlichen. In Deutschland gab es 2008 ungefähr 230 000 Wohnungslose und circa 100 000 von Wohnungslosigkeit Bedrohte, zusammen also, wie es heißt, etwa 330 000 Wohnungsnotfälle. Dies sind Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe; denn eine offizielle Statistik gibt es in der Tat nicht. Das hat die Linksfraktion gut erkannt. Auch die SPD-Bundestagsfraktion hat das erkannt, und zwar schon 1993. Damals hat die SPD im Bauausschuss eine bundesweite Statistik über Wohnungslosigkeit gefordert. Dieses Anliegen wurde vom Ausschuss sogar in einen gemeinsamen Antrag übernommen, der auch im Plenum verabschiedet wurde. Daraufhin hat die Bundesregierung beim Statistischen Bundesamt eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Diese lag im Jahr 1998 vor. Daraufhin hat sich der Bauausschuss erneut mit der Thematik befasst. Letztlich wurden die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie einem Praxistest durch das nordrhein-westfälische Landesamt für Statistik unterzogen. Das geschah bis 2002. Es hat sich gezeigt, dass es viele methodische Schwierigkeiten gibt, wenn man versucht, möglichst alle Wohnungsnotfälle statistisch zu erfassen. Um nur ein Problem zu erwähnen, das ich schon zu Beginn ansprach: Die Erfassung von auf der Straße lebenden Wohnungslosen, die vielleicht nicht einmal Hilfe in Anspruch nehmen, ist wohl nicht sauber möglich. Das hat auch die Machbarkeitsstudie des Statistischen Bundesamtes gezeigt. Deshalb wurde diese Gruppe bei einer NRW-Folgestudie von 2002 von vornherein von der Betrachtung ausgenommen. Das ist problematisch; denn die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass jeder zehnte Wohnungslose ohne jegliche Unterkunft ist; Angaben aus Berlin sind noch viel höher. Wir sprechen also über eine signifikante Gruppe, deren ganz spezielle und signifikante Probleme wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, wenn es einmal eine bundesweite Statistik geben sollte, in der sie dann möglicherweise gar nicht auftauchen. Gefordert wird eine Bundesstatistik über Wohnungslosigkeit. Zuständig für soziale Wohnraumförderung sind seit der Föderalismusreform allerdings die Länder. Mindestens ebenso wichtig, um Wohnungslosigkeit zu verhindern oder zu beenden, sind konkrete Hilfs- und Beratungsangebote für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Diese Angebote zur Verfügung zu stellen, ist wiederum hauptsächlich eine Aufgabe der Kommunen. Bleibt also die Frage, ob eine Bundesstatistik für die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit wirklich hilfreich ist, wenn die eigentliche Zuständigkeit bei Ländern, Städten und Gemeinden liegt. Vielleicht ist eine regionale Sozialberichterstattung ja eine viel bessere Grundlage, zumal Bundesländer und Kommunen ganz unterschiedliche Systematiken haben, die erst einmal in einen einheitlichen methodischen Rahmen gebracht werden müssten. Es gibt zu viele Menschen ohne Wohnung und zu viele Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind; das steht außer Frage. Daran ändert auch die wirklich gute Entwicklung der letzten zehn Jahre nichts. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht davon aus, dass sich dieser langjährig positive Trend gerade wieder umkehrt, das Problem also wieder drängender wird. Es ist daher durchaus nachvollziehbar, eine Statistik zu fordern. Ich habe trotz aller eben aufgezählten Schwierigkeiten auch große Sympathien dafür. Gerade deshalb - das muss ich an dieser Stelle deutlich sagen - finde ich es so ärgerlich, dass sich die Linksfraktion bei diesem Thema jetzt so halsstarrig verhält. Denn sie beerdigt diesen Antrag - das muss man so deutlich sagen - heute ohne Not. Es wäre erheblich glaubwürdiger gewesen, wenn Sie unserem Vorschlag gefolgt wären und die Beratung Ihres Antrags einfach verschoben hätten. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Selbst die CDU/CSU-Fraktion ist Ihnen entgegengekommen und hat im Ausschuss Gesprächsbereitschaft signalisiert. Aber Sie peitschen diesen Antrag heute lieber durchs Parlament, ohne auf die Chancen zu achten, die Sie damit in meinen Augen völlig zerstören! Es besteht noch Beratungs- und Informationsbedarf, bevor ich mich und bevor sich meine Fraktion eindeutig für eine Bundesstatistik aussprechen kann. Das geht auch anderen Kollegen im Ausschuss so. Hat sich die Datenlage seit der letzten Machbarkeitsstudie geändert? Gibt es vielleicht neue methodische oder technische Möglichkeiten? Welche aktuellen Erkenntnisse haben eigentlich Soziologie und Sozialarbeit? All diesen Fragen konnten wir jetzt nicht mehr nachgehen, da Sie einer Vertagung leider nicht zugestimmt haben. In meinen Augen haben Sie der Sache einen echten Bärendienst erwiesen. Ich hoffe, dass wir trotzdem bald erneut über das Thema Wohnungslosigkeit sprechen können - dann aber in der angemessenen Gründlichkeit und ohne künstlichen Termindruck. Eines muss ich noch sagen, um nicht nur der Linkspartei etwas mit auf den Weg zu geben. Erlauben Sie mir deshalb abschließend noch ein Wort zur Bundesregierung. Schwarz-Gelb hat nämlich vor, den Schutz von Mietern zu senken. So sollen die Kündigungsfristen für Vermieter und Mieter "einheitlich" sein; das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag von 2009. Das bedeutet die Gleichberechtigung von ungleichen Partnern. Gerade diejenigen Mieter, die nicht gut aufgestellt sind - sei es finanziell oder von ihrer Fähigkeit her, sich um sich selbst zu kümmern -, brauchen Schutz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Unser aktuelles Mietrecht hat sich bewährt; es hat zu einem insgesamt sehr ausgeglichenen Wohnungsmarkt geführt. Ich finde, daran sollten wir nicht rütteln - im Interesse von Menschen, die sonst Gefahr laufen, wohnungslos zu werden, aber auch im Interesse von anderen Mietern, die einfach in Ruhe leben möchten, also ohne die ständige Bedrohung, in einem Vierteljahr umziehen zu müssen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Erst einmal noch einen schönen Abend hier im Plenum! Nicht dass jetzt alle gehen! Ich gebe das Wort der Kollegin Petra Müller für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Petra Müller (Aachen) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für Sie und für mich gehört es zu den Selbstverständlichkeiten, ein Dach über dem Kopf zu haben - ein Dach, das uns nicht nur vor Regen und Wetter schützt, sondern das auch Geborgenheit, Rückzugsmöglichkeit und Privatheit bedeutet. Es gibt jedoch genügend Menschen in diesem Land, die über keine Wohnung verfügen. Sie können nicht so nach Hause gehen wie wir alle. Sie können auch nicht die Tür hinter sich schließen, sondern führen meist Tag für Tag einen anonymen Überlebenskampf. Die Linke fordert jetzt eine Bundesstatistik. "Wohnungslosigkeit stellt einen erheblichen, nicht hinnehmbaren Makel in einer wohlhabenden, auf sozialen Ausgleich bedachten Gesellschaft dar", so heißt es in ihrem Antrag. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben recht, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Sie haben auch recht, dass dieser Makel beseitigt gehört. Jeder Bürger, jede Bürgerin ohne eine Wohnung, ohne ein Zuhause, ist eine oder einer zu viel. Selbst wenn die Wohnungslosigkeit im vergangenen Jahrzehnt - Kollege Bartol hat es ausgeführt - gesunken ist, so ist die gesellschaftliche Aufgabe doch bestehen geblieben. So weit zur Einigkeit auf allen Seiten. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, machen es sich aber zu einfach. Erst kürzlich, am Tag der Wohnungslosen, am 23. September - ich war übrigens nicht eingeladen, Frau Kollegin Bluhm -, verteilte Kollegin Lötzsch in Berlin mit der Gießkanne Steuergelder für jedermann. (Iris Gleicke [SPD]: Wie hat sie das denn gemacht?) Ob Energiewirtschaft, ob Herr Sarrazin, unsere Soldatinnen und Soldaten im UN-Einsatz, ob der Außenminister persönlich, indem er ein paar Infobroschüren weniger drucken lässt - alle sollen zahlen, der Sozialstaat wird es schon richten. Wohltätigkeit kann aber nicht so einfach sein, jedenfalls nicht, wenn man Regierungsverantwortung trägt. Das Problem ist viel komplexer und viel ernster. Wir Liberale sagen: Der Sozialstaat soll niemanden alleine lassen, der in Not geraten ist. Es ist unsere ethische Pflicht und moralische Verantwortung, Notanker zu sein für alle, die sich selbst nicht mehr helfen können. Ja, wir tun das mit dem gesamten Spektrum des sozialstaatlichen Leistungspakets, mit konkreter öffentlicher Fürsorge. Nein, wir tun das nicht mit einer Statistik. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) - Danke schön. Nein, ich glaube nicht, dass ein Zahlenwerk hilft, mehr Menschen Obdach zu geben. Im Gegenteil: Die Machbarkeitsstudie und der Praxistest in NRW - der Kollege hat es eben ausgeführt - haben gezeigt, dass erstens nur eine Teilerfassung von Wohnungslosen möglich ist und zweitens der bürokratische Aufwand und die Kosten dafür absolut zu hoch sind. Wir dürfen das Problem nicht bürokratisch behandeln, sondern wir müssen es an der Wurzel packen. Ja, der Weg aus der Wohnungslosigkeit geht über Chancengerechtigkeit, die Chance, selbst wieder auf eigenen Füßen zu stehen und in den Arbeitsmarkt zu kommen. Ja, der Weg aus der Wohnungslosigkeit geht über einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und nicht über massive Kürzungen beim sozialen Wohnungsbau, wie es die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW plant. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Unglaublich! - Daniela Raab [CDU/CSU]: Hört! Hört!) - Ja, ja! Drittens. Der Weg aus der Wohnungslosigkeit geht über staatliche Unterstützung, Stichwort: Wohngeld. So konkret kann Politik sein, dann hilft sie. Um die Wohnungslosigkeit in Deutschland weiter zu minimieren, müssen wir, die christlich-liberale Koalition, die Menschen befähigen, ihr Leben selbst zu gestalten und aus eigener Kraft Chancen zu nutzen. Der vorliegende Antrag hilft nicht. Deshalb sagen wir Nein zu diesem Antrag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heidrun Bluhm hat nun das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wissen Sie eigentlich, wie viele Bleistifte und Zahnbürsten ein Bürger unserer Republik pro Jahr im Durchschnitt verbraucht? Wissen Sie, wie viele Eier er isst? Wissen Sie, wie oft er Lotto spielt oder wie oft er seine Hemden wechselt? Das wissen Sie nicht? Das macht nichts. Sie können es im Statistischen Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes nachlesen. Sie wissen auch nicht - Sie können es auch nicht in Erfahrung bringen -, wie viele wohnungslose Menschen wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, wie viele Männer, Frauen und Kinder von Wohnungslosigkeit betroffen sind, wie viele davon in Ihrem Wahlkreis leben. Darüber gibt es keine Zahlen, nirgendwo. Wir verlassen uns auf die Zahlen, die die BAG Wohnungslosenhilfe schätzt. Damit gehen wir um. Ich finde die Debatte, die vor allem meine Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition geführt haben, scheinheilig; denn sie wollen gar nicht wissen, sie wollen sich nicht vor Augen führen lassen, wie groß die Zahlen tatsächlich sind. Sie führen Schwierigkeiten an und weisen darauf hin, wie schwer das alles ist. Natürlich ist das schwierig. Natürlich sind die Umstände nicht leicht. Aber Sie versuchen es ja nicht einmal. Ein Punkt, der Ihre Scheinheiligkeit zeigt: Frau Müller, ich bin auf dem Alexanderplatz gewesen, Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen auch. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ich bin da auch manchmal!) Sie sagen, Sie waren nicht eingeladen. Das kann ich nicht beurteilen. Von allen anwesenden Kolleginnen und Kollegen, auch von denen aus Ihrer Fraktion, ist der Wunsch der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, zu einer bundeseinheitlichen Statistik zu kommen, begrüßt worden. Zweite Scheinheiligkeit: Auf Antrag aller Fraktionen hat es in den 90er-Jahren eine Machbarkeitsstudie gegeben, weil Sie alle der Auffassung waren, dass Sie diese Statistik brauchen. Dann haben Sie festgestellt, dass diese Statistik schwer zu erstellen ist. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!) Dann lassen Sie es eben, und damit ist das Problem vom Tisch. Das ist die dritte Scheinheiligkeit. Weil es keine Zahlen gibt, fehlt der Beweis dafür, dass es das Problem gibt. Wohnungslosigkeit gibt es also nicht. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das habe ich nicht gesagt! Ich habe Ihnen sogar recht gegeben!) - Ich habe Sie nicht persönlich gemeint, Frau Müller. Hier ist eben gesagt worden, dass Menschen freiwillig unter der Brücke schlafen. Es ist gesagt worden, dass es genügend Wohnraum gibt. Jeder kann die Hilfe in Anspruch nehmen, ist hier gesagt worden. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Sie sollten meine Rede nachlesen!) Schließlich stellen wir fest, dass zu dieser Frage im Koalitionsvertrag nichts, aber auch gar nichts steht. Selbst im Wohngeld- und Mietenbericht der Bundesregierung steht nichts dazu. Wir blenden auch dieses Problem aus und überlassen es denjenigen, die davon betroffen sind. Ich denke, ich muss meine Redezeit nicht unnötig verlängern. Unser Antrag ist klar. Er ist weder populistisch noch ideologisch. Er ist auch nicht links; auch das will ich hier deutlich sagen. Er ist einfach notwendig. Lassen Sie es uns einfach tun. Lassen Sie uns beschließen, die Daten für die Statistik zu erheben. Danach werden wir weiter an den Inhalten arbeiten müssen. Ich kann Ihnen versprechen - Herr Bartol, auch Ihnen -: Wir werden nicht aufgeben, auch wenn der Antrag heute nicht angenommen wird. Wir werden in Kürze einen weiteren Antrag einbringen und Sie dann beim Wort nehmen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Daniela Wagner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir widmen uns zu ziemlich später Stunde (Otto Fricke [FDP]: Das geht doch noch!) einem Teil unserer Gesellschaft, der oft vergessen, mithin als lästig empfunden wird: den Obdachlosen. Man begegnet ihnen bisweilen an den einschlägigen Stellen, hier in Berlin an der U-Bahn. Wenn wir vorbeigehen, wissen wir, dass wir nicht jedem dieser Menschen helfen können. Wir können auch nicht verhindern, dass sie die Anonymität der Straßen in den Großstädten suchen. Aber wir können natürlich versuchen, die Ursache für Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal welcher Fraktion man angehört, dürfte eines klar sein: Ein Leben ohne festen Wohnsitz, ohne den Schutz einer Wohnung und einer Haustür, die man abends zumachen kann, wünschen wir alle niemandem. Das Problem der Wohnungslosigkeit beginnt allerdings bereits vor dem Verlust der festen Unterkunft. Die Bundesarbeitsgemeinschaft hat zu Recht darauf hingewiesen, dass drei Gruppen unterschieden werden müssen: Wohnungslose, von Wohnungslosigkeit Bedrohte und Menschen, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben. Deswegen müssen Hilfsangebote jedweder Art zielgruppen- und geschlechtsspezifisch ausgerichtet werden. Genau dafür brauchen die Praktikerinnen und Praktiker vor Ort ausdifferenzierte Kenntnisse, die über eine Bundesstatistik zentral gewonnen werden könnten. Bei aller Einsicht hinsichtlich der operativen Probleme, die das bereitet, sind wir der Auffassung, dass man dem Antrag der Fraktion der Linken zustimmen kann und die Beschlussempfehlung des Ausschusses ablehnen muss. Aber machen wir den zweiten Schritt nicht vor dem ersten. Wir müssen verhindern, dass Menschen wohnungslos werden, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Das betrifft vor allem die Menschen in den Großstädten und den Ballungsräumen mit ihrer relativen Anonymität. Dort leben häufig Menschen in prekären sozialen Lebenslagen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen: Wegen der derzeit angekündigten mieterfeindlichen Politik der Bundesregierung ist davon auszugehen, dass die in der Tat zurückgegangene Zahl der Wohnungslosen in den kommenden Jahren wieder deutlich ansteigen wird. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr! - Manfred Grund [CDU/CSU]: Dummes Zeug ist das!) Wir wissen natürlich, dass die Wohnungslosigkeit durchaus mit der Situation auf dem Wohnungsmarkt und mit den Mietpreisen korreliert. Es kommt noch etwas hinzu: Wenn Sie zum Beispiel die Kosten der Unterkunft pauschalieren, wird auch das natürlich in erhöhtem Maße Wohnungslosigkeit produzieren. Meine Damen und Herren, gerade wir als Grüne wissen natürlich - das findet auch unsere Zustimmung -, dass der Wohnungsmarkt umfassend energetisch saniert werden muss. (Otto Fricke [FDP]: Aber wer bezahlt das?) Aber - es ist ganz wichtig, das hier festzustellen - wir dürfen und können das nicht vorwiegend auf dem Rücken der Mieterinnen und Mietern abladen, wie Sie es anscheinend vorhaben. (Otto Fricke [FDP]: Sondern?) Man hat ja in diesen Tagen gelesen, was Sie vorhaben. (Otto Fricke [FDP]: Sondern?) Sie haben vor, die Modernisierungsumlage stark zu steigern, sodass ein wesentlich größerer Anteil der Modernisierungskosten auf die Miete umgelegt werden kann. Das wird zu eklatanten Mietsteigerungen führen. (Otto Fricke [FDP]: Aber Sie sagen doch immer, durch Sanierung wird es besser!) Schon jetzt ist es so, dass eine umfassende energetische Sanierung Mietsteigerungen von bis zu 200, 300 oder 400 Euro zur Folge haben kann. Sie werden sehen, dass sich das natürlich auch beim Thema Obdachlosigkeit auswirken wird. (Otto Fricke [FDP]: Also keine Sanierung?) Deswegen sagen wir: Wir wollen uns hier nicht aus der Verantwortung stehlen. Der Antrag der Linken ist durchaus mitzutragen. Wir wollen eine Datengrundlage haben, die es ermöglicht, tatsächlich wirksame Handlungsansätze zu entwickeln. Deswegen werden wir dem Antrag zustimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen guten Nachhauseweg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: So weit sind wir noch nicht. Es bleiben alle hier. - Daniela Raab hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Daniela Raab (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit ist nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein Zustand, in dem immer noch - das bestreitet hier sicherlich keiner - viel zu viele Menschen leben. Es stimmt natürlich, dass es keine bundeseinheitliche Datenerfassung gibt. Ich möchte hier nicht allzu viel von dem wiederholen, was meine Kolleginnen und Kollegen richtigerweise schon ausgeführt haben. Ich glaube schon, dass der Vorschlag vom Grundsatz her richtig ist. Aber ich sehe noch nicht, wie wir ihn praktikabel umsetzen können. Deswegen möchte ich gleich zu Anfang sagen: Mir wäre es sehr recht gewesen, wenn Sie selber Ihren eigenen Antrag so ernst genommen hätten, dass Sie ihn einer Debatte zugeführt hätten, und zwar nicht nur einer Zehn-Minuten-Debatte im Ausschuss und heute einer zu relativ später Stunde, und wenn Sie das Angebot angenommen hätten und über die Brücke gegangen wären, die wir Ihnen gestern im Ausschuss gerne gebaut hätten, indem wir sagen: Wir setzen uns einmal zusammen, schauen uns das Thema an und versuchen zu ergründen, ob wir das bundesweit tatsächlich so erfassen können, dass es denen hilft, denen es helfen soll, nämlich den Obdachlosen, oder ob es wieder nur denjenigen hilft, die eine Statistik aufstellen, die dann wiederum keinen interessiert, weil man mit ihr nichts anfangen kann, weil sie nicht aussagekräftig ist. Das ist der Grund, weshalb wir uns hier sperren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Um auch das gleich vorwegzunehmen: Ich muss aus Ihrem Verhalten, über die von uns angebotene Brücke nicht zu gehen, schließen, es ginge Ihnen darum, hier einmal ein Ballyhoo zu diesem Thema zu machen und dann zu sagen: Hier sitzen ein paar ganz Böse, die sich mit dem Thema nicht auseinandersetzen wollen und uns dann überstimmen. - Ich muss ganz einfach sagen, da haben Sie ganz offensichtlich ein sehr sensibles, sehr ernstes und sehr wichtiges Thema einfach nur der Parteitaktik geopfert. Das kann ich so nicht gut finden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben natürlich auch schon gehört, wie vielfältig die Gründe dafür sein können, ohne Wohnung, ohne Obdach zu leben. Ich möchte sie hier nicht wiederholen. Es sind vielfach menschliche Schicksale, die wir alle Gott sei Dank nicht teilen müssen und hoffentlich nie teilen werden. Ich glaube - da stimme ich meinem Kollegen Storjohann, aber ganz ausdrücklich auch Ihnen, Herr Bartol, zu -, wichtig ist schon, was wir vor Ort machen und was wir den Menschen vor Ort anbieten; denn - ich sage es noch einmal - mit einer Statistik, in der vielleicht nur die Hälfte derer erfasst ist, die betroffen sind, helfen wir den Betroffenen nicht. Wir helfen ihnen eigentlich nur mit konkreten Angeboten. Natürlich sind die Länder hierfür zuständig. So ist es nun einmal. Es hat aber auch schon vonseiten des Bundes Initiativen gegeben. Der Bund hat diese Zielgruppe zum Beispiel in das Wohnraumförderungsgesetz aufgenommen und schon im Vorfeld in den Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern festgelegt, dass der Versorgungsauftrag des sozialen Wohnungsbaus die Wohnungslosen einschließt und sie zu den vordringlich zu behandelnden Gruppen zählt. Das zumindest kann der Bund mit den Ländern vereinbaren. Das hat er auch gemacht. Ich nehme einmal mein Bundesland Bayern als Beispiel und frage: Was wird dort für die Wohnungslosen getan? Jeder Kollege kann auf diese Frage hin zahlreiche praktische und konkrete Hilfsangebote aufzählen. Es gibt bei uns die Konferenz der Wohnungslosenhilfe. Das ist ein Gremium, in dem sich ambulante Dienste und stationäre Einrichtungen zusammengeschlossen haben, um gemeinsam die Belange wohnungsloser Menschen zu behandeln. (Abg. Heidrun Bluhm [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Nein. Bitte keine Zwischenfragen mehr. Sie hatten gestern ausführlich Zeit. Sie hatten vorher auch Redezeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage Ihnen auch, Frau Bluhm: Wenn Sie sich ernsthaft mit uns hätten unterhalten wollen, dann hätten Sie gestern unser Angebot dazu angenommen. Dann müssten Sie jetzt auch keine Zwischenfrage stellen. So einfach ist das. (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Genau das wollte ich Sie gerade fragen!) Des Weiteren gibt es in Bayern den Fachausschuss Wohnungslosenhilfe. Das ist die Wohnungslosenhilfe der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege. Es sind also alle dabei, die mit wohnungslosen Menschen zu tun haben. Sie wissen, wo sie sich aufhalten, und vielleicht auch, wie sie ihnen helfen können. Darüber hätten wir uns wunderbar austauschen können. Aber nicht nur das: Wir hätten auch darüber reden können, wie konkret die Angebote in den anderen Bundesländern tatsächlich sind, und was wir von der Bundesseite noch tun können. Dann wären wir vielleicht zu einem Ergebnis bei der Frage gekommen: Brauchen wir die Statistik, oder brauchen wir sie nicht? Ich weiß es nicht. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ihr Koalitionspartner hat gesagt: Die Statistik brauchen wir!) - Ich rede jetzt nicht für meinen Koalitionspartner, sondern, wie gestern im Ausschuss auch, für meine Fraktion. Da sind wir uns einig. Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist nur parteipolitisches Geplärr. Das ist einzig und allein eine Debatte, um uns vorzuführen. Das ist Ihnen aber Gott sei Dank nicht gelungen. Wir setzen uns nämlich inhaltlich mit dem Thema auseinander; das haben Sie leider nicht so getan. Nur: Das wird nicht reichen, und das lasse ich mir hier nicht gefallen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer ernst gemeinte Angebote abschlägt, darf sich im Nachhinein nicht wundern, wenn er keine Mehrheiten findet. Vielleicht machen Sie es beim nächsten Mal anders. Wir wollen uns diesem Thema gerne weiterhin nähern. Ich glaube, die Angebote waren deutlich und vielfältig. Damit darf ich diese Debatte abschließen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel "Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3084, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2434 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition angenommen. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke gestimmt. Tagesordnungspunkt 15: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken - Drucksache 17/2478 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben haben die Kolleginnen und Kollegen Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Heinz Paula, Jens Ackermann, Kornelia Möller, Markus Tressel und der Parlamentarische Staatssekretär Ernst Burgbacher.3 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2478 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen - Drucksache 17/2488 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolleginnen und Kollegen Steffen Bilger, Ulrich Lange, Ute Kumpf, Sibylle Laurischk, Sabine Leidig und Kerstin Andreae.4 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer - Drucksache 17/2583 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Ute Granold, Christoph Strässer, Jens Petermann, Ingrid Hönlinger und der Parlamentarische Staatssekretär Max Stadler.5 Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/2583 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie - Drucksache 17/3023 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Peter Aumer, Martin Gerster, Frank Schäffler, Dr. Axel Troost und Dr. Konstantin von Notz. Peter Aumer (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 in nationales Recht um. Der damalige Binnenmarkt-Kommissar Charlie McCreevy bewerte die Richtlinie im Januar 2010 folgendermaßen: "Diese Richtlinie wird nicht nur das Zahlungssystem in der EU verbessern, sondern ebenfalls den Weg für konkrete Vorteile der Verbraucher aus der Integration der Finanzmärkte ebnen." Die Zweite E-Geld-Richtlinie über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von E-Geld-In-stituten wird fristgerecht bis zum 30. April 2011 in deutsches Recht umgesetzt. Von den Änderungen betroffen sind das Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz, das Geldwäschegesetz, das Handelsgesetzbuch und das Unterlassungsklagengesetz. Die aufsichtsrechtlichen Vorschriften der Zweiten E-Geld-Richtlinie sehen für die neue Institutskategorie der E-Geld-Institute ein spezifisches Erlaubnisverfahren und besondere Regelungen für die laufende Aufsicht vor. Diese werden in das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz aufgenommen, und im Gegenzug dazu werden E-Geld-Institute aus dem Kreditwesengesetz herausgelöst. Im Zuge der Umsetzung werden weitere Änderungen in den genannten Aufsichtsgesetzen vorgenommen, die Defizite bei den geldwäscherechtlichen Normen beseitigen sollen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wirksamer vor einem Missbrauch durch Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu schützen. Die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie in den Vertragsstaaten der EU bringt wesentliche Vorteile für unseren Wirtschaftsraum: Erstens. Sie schafft einen modernen und rechtlich kohärenten Zahlungsverkehrsraum für die Ausgabe von elektronischem Geld im Europäischen Binnenmarkt. Auf diese Weise wird der Weg für neue innovative und sichere E-Geld-Dienstleistungen geebnet. Zweitens. Sie fördert faire Wettbewerbsbedingungen und setzt gleiche Marktzugangskriterien für alle Zahlungsdiensteanbieter einschließlich der E-Geld-Institute. Drittens. Sie initiiert einen echten und wirkungsvollen Wettbewerb. Viertens. Sie schafft einen einheitlichen aufsichtsrechtlichen Rahmen. Wie sehen die Änderungen konkret aus? Nach der Zweiten E-Geld-Richtlinie ist die Kreditinstitutseigenschaft nun nicht mehr zwingende Voraussetzung für das Betreiben des E-Geld-Geschäfts. Mit der Durchsetzung des Erlaubnisvorbehaltes, der Zulassung und der laufenden Aufsicht über die E-Geld-Institute wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) beauftragt werden. Durch die Modifizierung der bestehenden Regelungen soll bewirkt werden, dass in Deutschland die Nachfrage an E-Geld-Lizenzen erhöht wird und sich auch deutsche E-Geld-Institute auf dem europäischen Markt etablieren können. Entscheidend ist hier auch, dass diese nun ein erweitertes Tätigkeitsfeld haben sollen und zusätzliche Dienstleistungen anbieten dürfen. Zukünftig sollen Internetzahlungen verstärkt auch mit E-Geld möglich werden. In dieses Marktsegment sind bereits ausländische Anbieter wie PayPal vorgestoßen. Die Gesetzesänderung soll nun auch inländischen Unternehmen diesen Markt eröffnen. Zudem soll die "Geldkarten"-Funktion, über welche viele inländische EC-Karten-Besitzer die Möglichkeit besitzen, ihre Karte an SB-Terminals mit E-Geld aufzuladen, erweitert werden. Damit soll die Handhabung benutzerfreundlicher gestaltet und auch der Einsatz von E-Geld vielseitiger und attraktiver gemacht werden. Überdies beseitigt die Richtlinie Defizite im deutschen Rechtssystem, die die Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) im Deutschland-Bericht vom 18. Februar bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung feststellte. Gerade in Deutschland ist die Umsetzung der Richtlinie und die Beseitigung der angesprochenen Defizite besonders wichtig. Im europäischen Vergleich ist das Angebot qualitativ hochwertiger Finanzdienstleistungen bei uns besonders hoch. Hinzu kommen die zentrale geografische Lage Deutschlands, die engen wirtschaftlichen Beziehungen und die internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft, die eine lückenlose, genaue und effiziente Implementierung der internationalen Vorgaben gerade in Deutschland besonders wichtig machen. Deutschland ist als Gründungsmitglied der FATF seit ihrer Bildung 1989 aktiv an der Erarbeitung und Weiterentwicklung der international anerkannten Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich immer zur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen bekannt. Der vorliegende Gesetzentwurf muss begrüßt werden. Martin Gerster (SPD): Es ist fast schon eine ökonomische Binsenweisheit, dass unsere Wirtschaft in erheblichem Maße auf Vertrauen basiert. Die jüngste Finanzkrise hat uns deutlich vor Augen geführt, wie sensibel die ökonomischen Seismografen auf Signale der Unsicherheit reagieren. Große Bankhäuser, ja ganze Staaten geraten ins Wanken, wenn das Vertrauen in ihre Kreditwürdigkeit schwindet. Und ohne den Glauben an die Stabilität seiner Kaufkraft ist unser Geld letztendlich nicht viel mehr als bedrucktes Papier. Gerade im Umgang mit Geld und den Instituten, die es verwalten, ist es deshalb unerlässlich, Vertrauen zu schaffen und die Verbraucher vor Schaden zu schützen. So auch im Falle von E-Geld, also digitalem Bargeld, das auf elektronischen Geräten, Chipkarten oder Servern gespeichert ist. Wir starten heute mit der Beratung des Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie und diskutieren somit über die Zukunft des E-Geldes in Deutschland. Die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende EU-Richtlinie zielt darauf ab, einen klaren, harmonisierten Aufsichts- und Rechtsrahmen für die Ausgabe von elektronischem Geld in der EU zu schaffen. Bislang führt die E-Geld-Branche in Deutschland eher ein Nischendasein, und das Geschäft mit E-Geld wurde weitestgehend von den herkömmlichen Kreditinstituten übernommen, was nicht zuletzt an den strengen Reglementierungen gelegen haben dürfte, die den entsprechenden Unternehmen durch das Kreditwesengesetz bislang vorgegeben waren. Insofern ist nichts dagegen einzuwenden, hier analog zu den Zahlungsinstituten für mehr Wettbewerb und Rechtssicherheit zu sorgen, solange der Kunde und die Stabilität der Finanzmärkte geschützt werden. Den von der Bundesregierung gewählten Weg, die E-Geld-Institute zu diesem Zwecke aus dem Kreditwesengesetz, KWG, herauszunehmen und sie in die Regelungen des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes zu integrieren, halte ich im Prinzip für richtig. In der Tat sind sich die Institutsformen des Zahlungsinstituts und des E-Geld-Instituts ähnlich genug, um sie in einen gemeinsamen Regelungsrahmen zusammenzuführen, der den europarechtlichen Vorgaben entspricht. Diesen Rahmen haben wir im vergangenen Jahr unter Peer Steinbrück in der Großen Koalition geschaffen. Ich finde es angemessen, diesen Kurs weiter zu verfolgen, der eine kluge Balance zwischen einem Mindestmaß an Wettbewerb und einem Maximum in Sachen Verbraucherschutz anstrebte. Allerdings befürchte ich, dass sich unter Schwarz-Gelb die Vorzeichen umkehren könnten. Wie dem auch sei: Im Ansatz positiv ist der Versuch zu werten, mit dem vorgelegten Gesetzentwurf auch bestehende Defizite anzugehen, die in Deutschland bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorfinanzierung bestehen. So beinhaltet der Gesetzentwurf auch die Zielsetzung, die deutliche Kritik aufzugreifen, welche die Financial Action Task Force, FATF, in ihrem Deutschlandbericht vom Februar 2010 formuliert hat. Seit 1989 widmet sich dieses OECD-Gremium dem Kampf gegen Geldwäsche und die Finanzierung des internationalen Terrors. 49 Kriterien umfasst der Kriterienkatalog, anhand derer die Antigeldwäschepolitik der Bundesrepublik durch die Organisation bewertet wurde. Von diesen erfüllte Deutschland zum Untersuchungszeitpunkt 29 - zumindest weitgehend. 15-mal wurde die lediglich teilweise Umsetzung der Empfehlungen moniert, fünfmal diagnostizierten die FATF-Prüfer, die zentralen Umsetzungskriterien seien mehrheitlich nicht erfüllt. Um ein Haar wäre Deutschland auf der schwarzen Liste der FATF gelandet, wie das "Handelsblatt" seinerzeit berichtete. Ein deutliches Zeichen für vielfachen und dringlichen Handlungsbedarf. Tatsächlich nimmt der Gesetzentwurf an mehreren Punkten Bezug auf die Empfehlungen der FATF und versucht, aufsichtsrechtliche Lücken bei der Behandlung von Kreditinstituten und Finanzdienstleistern sowie im Bereich der Versicherungsunternehmen zu schließen. So weit, so gut. Interessant wird es jedoch, wenn man einen genauen Blick darauf wirft, welche der 49 geprüften Kriterien mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angegangen werden. Denn schnell wird deutlich: Ein nicht unwesentlicher Teil der Regelungen, in denen der Gesetzentwurf die FATF-Kritik aufgreift, betrifft Empfehlungen, die seitens der Prüfer ohnehin als eher weniger problematisch eingeschätzt werden. Zentrale Punkte der FATF-Kritik bleiben hingegen völlig unberührt. So moniert die Organisation die strafrechtliche Behandlung von Insiderhandel und Marktmanipulationen, die in Deutschland nicht als Vortaten zur Geldwäsche angesehen werden. Auch wird kritisiert, dass bei der Verfolgung von Geldwäsche und Terrorfinanzierung beispielsweise Kasinobetrieben, dem Handel mit Edelsteinen und Edelmetallen oder der Immobilienmaklerbranche nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, und das, obwohl diese Berufsfelder - ebenso wie bestimmte geschützte Berufsgruppen - besonders interessant für die entsprechenden Kriminalitätsformen sein dürften. So richtig die Ansätze des hier zur Beratung anstehenden Gesetzentwurfes im Prinzip auch sein mögen: Es kann keinesfalls die Rede davon sein, dass damit die substanziellen Kritikpunkte der FATF aus der Welt wären. Im Gegenteil: Auf diesem Feld bleibt noch viel zu tun. Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung ihren in der Begründung des Gesetzentwurfes nachdrücklich dokumentierten Willen auch in der weiteren gesetzgeberischen Praxis zeigen wird. Seitens der FATF steht die nächste Bewertung Deutschlands 2012 an. Wir werden sehr genau im Auge behalten, welche Schritte die Bundesregierung bis dahin ergreifen wird, um die nach wie vor bestehenden Schwächen im Kampf gegen Geldwäsche und die Finanzierung des internationalen Terrors aufzuarbeiten. Frank Schäffler (FDP): Die Europäische Union hat in den letzten Monaten viele Schlagzeilen gemacht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird mal wieder eine konkrete Maßnahme im Interesse der Unions-Bürger umgesetzt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schafft einen Rechtsrahmen für die Beaufsichtigung von Unternehmen, die elektronisches Geld ausgeben. Elektronisches Geld, das auf einem Datenträger (etwa einer Geldkarte), auf einem Server oder einem Zahlungskonto gespeichert ist, kann im Austausch gegen gesetzliche Zahlungsmittel vom Kunden für Zahlungsvorgänge verwendet werden. Die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie ist ein weiterer Baustein auf dem Weg zu einem modernen Zahlungsverkehrsraum im Binnenmarkt. Ziel ist es, den Wettbewerb auch in diesem Bereich des Binnenmarkts zu intensivieren. Vor gut einem Jahr haben wir im Bundestag vergleichbare Regelungen für die sogenannten Zahlungsinstitute geschaffen. Nun bauen wir die Kategorie der E-Geld-Institute in das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz ein. Da nach der Richtlinie nicht mehr vorausgesetzt wird, dass ein E-Geld-Institut auch Kreditinstitut im Sinne des Kreditwesengesetzes, KWG, ist, sind die entsprechenden Vorschriften des KWG aufzuheben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt die Richtlinie eins zu eins um. Wir werden im Laufe der Gesetzesberatungen prüfen, wo wir im Detail vielleicht noch präzisere Formulierungen wählen können, um Unklarheiten oder auch unnötige Bürokratie zu vermeiden. Gerade auf die Vermeidung von unnötigen Bürokratiekosten legen wir als christlich-liberale Koalition ein besonderes Augenmerk. Der vorliegende Entwurf verursacht geschätzte Bürokratiekosten in Höhe von rund 37 000 Euro. Diese sind jedoch hauptsächlich auf solche Vorschriften der Richtlinie zurückzuführen, bei denen wir keinen Umsetzungsspielraum haben. Darüber hinaus werden wir mit diesem Gesetzentwurf Empfehlungen der Financial Action Task Force on Money Laundering umsetzen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wirksamer vor Missbrauch durch Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu schützen. Hier erfolgt insbesondere eine aufsichtsrechtliche Präzisierung von Sorgfalts- und Organisationspflichten. Auch in diesem Bereich werden wir im Gesetzgebungsverfahren prüfen, ob es bei einzelnen Vorschriften noch Klarstellungsbedarf gibt. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Bislang befindet sich der Markt für elektronisches Geld - chip- und kartengestütztes, aber auch Netzgeld (Cybergeld) - im Dornröschenschlaf. Das soll sich mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie nun ändern. Hierdurch sollen gleiche Wettbewerbs- und Marktzugangsbedingungen für alle Zahlungsdienstanbieter, einschließlich der E-Geld-Institute, geschaffen werden. Allerdings birgt der neue rechtliche Rahmen erhebliche Risiken für Verbraucherinnen und Verbraucher. Zum anderen bleibt einiges im Argen, gerade was das Aufsichtsrecht in Zusammenhang mit der Bekämpfung von Geldwäsche betrifft. Durch den Gesetzesentwurf wird der Komplex E-Geld, bislang im Kreditwesengesetz, KWG, geregelt, nun in das weitaus laxere Regularium des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz überführt, ZAG. Bereits das im Juni 2009 geschaffene ZAG wurde von unserer Fraktion abgelehnt, da hierdurch dubiose Kreditkartengeschäfte erleichtert werden. Mit der nun erfolgten Ausweitung des ZAG auf den Bereich des E-Geldes wird ein weiterer Bereich des Retail-Bankings, das heißt des End- bzw. Einzelkundengeschäfts, einem geringeren Regulierungs- und Beaufsichtigungsniveau unterworfen, als es unter dem KWG der Fall wäre. Aus Verbrauchersicht stört, dass der Rücktausch von E-Geld in hartes Geld nicht jederzeit gebührenfrei möglich ist. Was hingegen ein angemessenes Entgelt ist, weiß kaum jemand. Das Entgelt muss lediglich "in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlich entstandenen Kosten des E-Geld-Emittenten stehen", heißt es in den entsprechenden Passagen des § 23 des ZAG lapidar. Weiterer Risikofaktor ist die Herabsetzung des Anfangskapitals von derzeit 1 Million Euro auf 350 000 Euro. Welche Betrügereien möglich sein werden, wenn nur 350 000 Euro und 2 Prozent unterlegt sein müssen, kann man zwar heute noch nicht sagen. Doch würde man sich gerade auch als Instrument eines vorausschauenden Monitoring einen Erfahrungsbericht nach zwei Jahren gewünscht haben. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wird darüber hinaus zu prüfen sein, ob die bekannten Mängel bei der Geldwäschebekämpfung mit diesem Gesetzesentwurf tatsächlich hinreichend abgestellt werden. So wurden von der Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, im Deutschland-Bericht vom 18. Februar 2010 diesbezüglich Defizite im deutschen Rechtssystem identifiziert, die zum Teil auch das Aufsichtsrecht betreffen. Insbesondere die landeseigenen Spielbanken stehen im Verdacht, eigenen monetären Interessen zu unterliegen und den Meldepflichten nicht nachzukommen. Die Bundesregierung tut folglich gut daran, hierzu Sachverständige der FATF sowie des BKA anzuhören und den Entwurf samt Integration in das ZAG-Regelwerk entsprechend zu überdenken. Die Fraktion Die Linke wird dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach Ansicht der Kommission gibt es bislang keinen funktionierenden Binnenmarkt bei Dienstleistungen im Zusammenhang mit E-Geld in Europa. Aus diesem Grund hat die Kommission beschlossen, die diesbezügliche Richtlinie aus dem Jahr 2000 aufzuheben und diese durch eine neue, zweite Richtlinie zu ersetzen. Mit ihrer Hilfe sollen bestehende Marktzutrittsbeschränkungen beseitigt, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Zahlungsdienstleister erreicht und ein einheitlicher aufsichtsrechtlicher Rahmen für E-Geld-Institute geschaffen werden. Der uns heute zur Beratung vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nach eigenen Aussagen eine 1:1-Umsetzung der Vorgaben der europäischen Ebene, die meine Fraktion grundsätzlich begrüßt. Dennoch haben wir gewisse Bedenken, die ich ihnen im Folgenden darstellen will. Bezüglich der Schaffung eines einheitlichen und vor allem effizienten aufsichtsrechtlichen Rahmens für E-Geld-Institute ist meine Fraktion, gerade vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung selbst davon ausgeht, dass es im Zuge der gewährten Erleichterungen bei der Neugründung von E-Geld-Instituten auch tatsächlich zu etlichen Neugründungen kommen wird, wodurch der Arbeitsaufwand für die Kontrollbehörden in Zukunft massiv steigen wird, skeptisch. Ein solcher effizienter aufsichtsrechtlicher Rahmen für E-Geld-Institute muss jedoch im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher angesichts der heutigen, aber gerade auch der zukünftigen Bedeutung von E-Geld-Instituten unbedingt konsequent durchgesetzt werden. Aus den datenschutzrechtlichen Mankos derzeit bestehender Zahlsysteme, die oftmals höchst problematische AGBs aufweisen, in denen unter anderem die Weitergabe von persönlichen Informationen an dritte Stellen vorbehalten wird, sollten wir lernen. Gleichzeitig bietet die erleichterte Gründung europäischer E-Geld-Institute die Chance, den derzeit zu beobachtenden Zustand, dass Anbieter von E-Geld-Instituten oftmals in den USA ansässig sind und nur allzu gerne auf die dortigen, laschen Datenschutzbestimmungen verweisen, die US-Behörden weitreichende Zugriffsbefugnisse auf gespeicherte Datenbestände genehmigen, abzumildern und europäische, sich hoffentlich dann höheren Datenschutzstandards verpflichtet fühlende Institute bei ihrem Aufbau zu unterstützen. Insbesondere im hochsensiblen Bereich des elektronischen Zahlungsverkehrs muss zukünftig sichergestellt sein, dass datenschutzrechtlich höchsten Anforderungen Genüge getan wird. Das Vorhaben der Bundesregierung, angesichts der heutigen, aber gerade auch der zukünftigen Bedeutung von E-Geld-Instituten und den ihnen eigenen spezifischen Anforderungen hier einen eigenen Institutstypus zu schaffen, ist daher richtig. Mindestens genauso wichtig ist jedoch die Aufsicht über die Institute. Nicht ganz zu Unrecht geht die Bundesregierung in dem nun von ihr vorgelegtem Gesetzentwurf davon aus, dass es für die Aufsichtsbehörde bereits auf kurze Sicht zu einer Mehrbelastung komme, vor allem was den Anwendungsbereich des neuen Gesetzes für Unternehmen, von denen zu vermuten sei, dass sie die Grenze der sachlichen Bereichsausnahmen auszureizen suchen oder gar mit dem Gedanken spielen, diese zu überschreiten, angehe. Meine Fraktion hofft, die Bundesregierung war sich hier bewusst, welcher Arbeitsaufwand hier zukünftig auf die Kontrollbehörde zukommt. Zwar ist es richtig, einheitliche Regelungen für die Gründung von E-Geld-Instituten zu definieren. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass es durch eine allzu willfährige Ausgestaltung des Aufsichtsregimes zu für die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht hinnehmbaren Risiken kommt und dem mit dem Geschäftsmodell E-Geld verbundenen, spezifischen Risiken, vor allem im Bereich des Datenschutzes und des Schutzes des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, nicht in adäquater Art und Weise Rechnung getragen wird. Die neuen, in vielerlei Hinsicht erleichterten Bestimmungen für die Gründung von E-Kreditinstituten und eine damit einhergehende anzunehmende Neugründungswelle, die zweifellos für die europäischen Binnenwirtschaft von Nutzen sein könnte, dürfen auf keinen Fall dazu führen, dass es durch eine zu hohe Arbeitsbelastung für die Aufsichtsbehörden zu einer qualitativen Absenkung der aufsichtsrechtlichen Kontrollen kommt. Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt ansprechen: Das in der nun vorgelegten Richtlinie der EU erwähnte "E-Geld" tritt heute vor allem in zwei Formen auf. Erstens als ein auf einer Bankkarte mithilfe eines Chips gespeicherter Betrag zur Begleichung von Kleinbeträgen. Diese Funktion findet sich heute auf praktisch jeder Geldkarte, zweitens im Verkehr über die eben bereits beschriebenen E-Geld-Institute. Laut Richtliniendefinition ist es deren Aufgabe als Zahlungsdienstleister geldwerte Einheiten gegen Vorauszahlung bereitzustellen, welche dann später wiederum für Zahlungen verwendet werden können, weil sie von Dritten akzeptiert werden. Statt einer direkten Überweisung von einem Kunden zu einem Händler geschieht die Transaktion also zwischen "Plattform-Händlern". Da dies für Kunden zweifellos viele Vorteile bietet, zum Beispiel den, dass ein grenzüberschreitender Handel erleichtert wird, ist diese Form der Bezahlung bereits heute weit verbreitet. Im Grunde genommen handelt es sich hier um nichts anderes als um ein auf Vertrauen basierendes Gutscheinsystem für die digitale Welt. Die Zusicherung des Vertrauens wiederum - sowohl das zwischen den einzelnen Plattformen untereinander, als auch das zwischen Verbraucher und Plattform - wird durch Verträge zugesichert. Ein solcher Vertragsabschluss kann, muss aber nicht rechtlich unausweichlich sein. Während wir bei der Bezahlung mit Geld, aber eben auch mit E-Geld in der realen Welt durchaus anonym bezahlen können, ist dies bislang beim Bezahlen im Netz nicht möglich. Warum eigentlich nicht? Meines Erachtens nach müssen wir auch verstärkt darüber nachdenken, wie wir im Netz überall dort, wo es nicht zwingend erforderlich ist, den jeweiligen Vertragspartner zu identifizieren, Angebote schaffen, um zukünftig auch ein anonymisiertes Bezahlen im Netz zu ermöglichen. Im Übrigen fordert uns die derzeit bestehende Gesetzeslage ausdrücklich auf, beispielsweise durch eine Rechtspflicht zur Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung bei der Ausgestaltung von Verfahren wie sie im § 3 a des Bundesdatenschutzgesetzes vorgesehen ist. Es ist daher nur folgerichtig, auch im Bereich des E-Geldes im Sinne einer erhöhten Datensparsamkeit und der Ermöglichung des Selbstdatenschutzes durch die Verbraucherinnen und Verbraucher gezielt Techniken der Anonymisierung zu fördern. So würde es uns eventuell auch gelingen, den im ersten Teil meiner Rede zur Sprache gebrachten Aufwand für die Kontrollbehörden zu senken. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3023 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie wieder einverstanden. Dann ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 19: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren - Drucksachen 17/1049, 17/3085, 17/3108 - Berichterstattung: Abgeordnete Frank Heinrich Ullrich Meßmer Pascal Kober Katrin Werner Ingrid Hönlinger Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Frank Heinrich, Ullrich Meßmer, Pascal Kober, Stefan Liebich und Volker Beck.6 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung bzw. seinem Bericht auf Drucksachen 17/3085 und 17/3108, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1049 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben die SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 20: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011 (BBVAnpG 2010/2011) - Drucksachen 17/1878, 17/2066 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) - Drucksache 17/3086 - Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein) Michael Hartmann (Wackernheim) Dr. Stefan Ruppert Frank Tempel Dr. Konstantin von Notz - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/3087 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Herrmann Dr. Peter Danckert Florian Toncar Steffen Bockhahn Stephan Kühn Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Armin Schuster, Michael Hartmann, Dr. Stefan Ruppert, Frank Tempel und Dr. Konstantin von Notz.7 Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3086, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/1878 und 17/2066 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung und Schlussabstimmung beim gleichen Stimmverhältnis wie vorher angenommen. Tagesordnungspunkt 21: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EU-Freihandelsabkommen mit Indien stoppen - Verhandlungsmandat in demokratischem Prozess neu festlegen - Drucksache 17/2420 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Hier haben ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben: Erich G. Fritz, Rolf Hempelmann, Dr. Martin Lindner, Annette Groth und Uwe Kekeritz. Erich G. Fritz (CDU/CSU): Partnerschaften der Europäischen Union mit wichtigen Akteuren in der Welt bilden ein nützliches Instrument für die Verfolgung der politischen Ziele der Union und europäischer Interessen. Dabei ist der Erfolg immer dann am größten, wenn die Zusammenarbeit keine Einbahnstraße ist, sondern in beiderseitigem Interesse gehandelt und verhandelt wird. Die strategische Partnerschaft EU-Indien, die im Jahr 2004 begründet wurde, wird dem mehr als gerecht - auch wenn die Fraktion Die Linke uns mit ihrem Antrag etwas anderes weismachen will. Gerade der politische Dialog zwischen der Europäischen Union und Indien ist durch unterschiedliche Foren der Zusammenarbeit wie beispielsweise die jährlich stattfindenden EU-Indien-Gipfel dichter und konkreter geworden. Die EU wird in Indien zunehmend als einheitlicher Akteur wahrgenommen, und auch in die seit Juni 2007 laufenden Verhandlungen über das EU-Indien-Freihandelsabkommen ist mehr Bewegung gekommen. Die Fraktion Die Linke stellt es in ihrem Antrag so dar, als würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU zustande kommen und dass Indien kein eigenes Interesse an einem bilateralen Abkommen hätte. Dem ist nicht so. Sie können, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, den Indern nicht vorschreiben, mit wem sie zu verhandeln haben. Indien ist Manns genug, um seine Interessen selbst zu vertreten. Indien hat dafür alle Voraussetzungen, politische Verfahren, qualifizierte Vertreter, eine hinreichende parlamentarische Kontrolle, gerade was Handelsfragen angeht, und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, verbunden mit einer hohen Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung, die bei uns häufig noch nicht richtig wahrgenommen wird. Die Vorstellung, Indien müsse bei bilateralen Verhandlungen von politischen Parteien in Deutschland geschützt werden und insofern mit kleinen Volkswirtschaften der am wenigsten entwickelten Art gleichgesetzt werden, zeugt von völliger Unkenntnis der Kapazitäten und Fähigkeiten Indiens. Die indischen Vertreter haben auf dem letzten Gipfeltreffen im November 2009 deutlich gemacht, dass auch sie einen Abschluss der Verhandlungen des Freihandelsabkommens bis Ende dieses Jahres anstreben. Ob sich dieses ambitionierte Ziel in die Tat umsetzen lässt, ist zum derzeitigen Zeitpunkt unklar; schließlich haben beide Seiten sehr unterschiedliche und deutlich artikulierte Interessen. Fest steht aber, dass kommende Verhandlungsrunden wie ein Gespräch am 4. Oktober auf der Ebene der Generaldirektion und der am 1. Dezember stattfindende EU-Indien-Gipfel von den Führungsebenen beider Akteure dazu genutzt werden, den Verhandlungen einen nachdrücklichen Schub zu einem baldigen und erfolgreichen Abschluss zu geben. Bislang sind bereits gute Fortschritte im Wettbewerb erzielt worden. Wichtige Schlüsselthemen für die anstehenden Beratungen werden die Bereiche Investitionen, technische Handelshemmnisse und Ursprungsregeln sein. Es ist auch in deutschem Interesse, dass in dem Abkommen ein strikter Schutz von Urheberrechten und Patenten (Schutz des geistigen Eigentums) und Transparenz beim öffentlichen Auftragswesen geregelt sind. Über den Fortgang der Verhandlungen, den darin geäußerten Forderungen sowie über die Ergebnisse wird die Kommission die Mitgliedstaaten im handelspolitischen Ausschuss fortlaufend unterrichten, so wie sie dies bereits in der Vergangenheit immer getan hat. Darum braucht man sich in der Linksfraktion nun wirklich nicht zu sorgen. Die neuen Zuständigkeiten des Europäischen Parlamentes in der Gemeinsamen Europäischen Handelspolitik sollten von der Linken im Übrigen auch zur Kenntnis genommen werden. Sie ermöglichen eine breite Behandlung aller Fragen in der Öffentlichkeit, wie das bisher bei Handelsabkommen auf europäischer Ebene nicht der Fall gewesen ist. Ich bezeichne das als demokratischen Fortschritt. Dass dabei nicht alle Forderungen, die das Europäische Parlament an zukünftige Abkommen stellt, zum Beispiel was Standards angeht, von der indischen Seite sofort als ihren Interessen dienlich angesehen wird, ist weder überraschend noch ein wirkliches Hindernis für einen Abschluss. Es ist ein großer Schritt in der europäisch-indischen Zusammenarbeit, dass heute über Fragen gesprochen und diskutiert wird, die noch vor wenigen Jahren von Anfang an hätten ausgeschlossen werden müssen. Auch die Argumentation der Linksfraktion, Indien hätte kein Interesse an einem Freihandelsabkommen, weil Indiens staatlich regulierte Volkswirtschaft sich weniger krisenanfällig zeigte, ist nicht nachvollziehbar. Es ist richtig, dass kaum ein Land die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 so glimpflich überstanden hat wie Indien. Dennoch war es aber doch stärker von der Krise betroffen als ursprünglich erwartet. Das Wirtschaftswachstum ging auf 6 bis 7 Prozent zurück, aber es brach glücklicherweise nicht ein. Grund dafür waren sicherlich auch die von der Regierung beschlossenen drei Konjunkturprogramme, die ein Volumen von 28 Milliarden Euro umfassten. Außerdem ist Indien noch immer ein Land, das wenige Industriegüter ausführt und das deshalb weniger betroffen war. Für dieses Jahr erwartet Indien bereits wieder einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes und Prognosen für 2009/ 2010, die inzwischen auf 7,4 Prozent angehoben wurden, bestätigen die Rückkehr der Wirtschaftsaktivität. Die Krisenresistenz erklärt sich nicht hauptsächlich aus der vom Staat stärker regulierten Volkswirtschaft Indiens, sondern vielmehr aus Indiens geringer Abhängigkeit vom Außenhandel. Die neue Stärke der indischen Wirtschaft wird nicht nur von internationalen Beobachtern, sondern auch von indischen Wissenschaftlern und wirtschaftlichen und politischen Akteuren sogar gerade der Öffnungspolitik seit 1991 und nicht den noch immer sehr bürokratisch in die Wirtschaft eingreifenden staatlichen Strukturen zugeschrieben. Die Wachstumsdynamik speist sich vordergründig aus der Binnennachfrage. In Indien, wo rund 1,1 Milliarden Menschen leben, wächst eine gut ausgebildete Mittelschicht heran, die die Konsumgüternachfrage positiv anregt. In einer Studie zählt die asiatische Entwicklungsbank, ADB, 260 Millionen Inder zur Mittelschicht, für die ein Mobiltelefon, ein Fernseher und immer öfter auch ein Auto, denken Sie beispielsweise an das zuerst belächelte billige Auto "Nano", das jetzt in Serie vom Band rollt und durch Tata Motors zu einem ernsthaften Konkurrenten geworden ist, zum Lebensstandard gehören. Ein rasanter Anstieg der privaten Konsumausgaben ist die Folge. Dass Indien die ländliche Entwicklung in besonderer Weise berücksichtigen wird und besondere Interessen bei den Dienstleistungen, insbesondere beim Dienstleistungsexport durch die Freiheit des Personenverkehrs etwa von wettbewerbsfähigen IT-Fachleuten und Ingenieursdienstleistungen hat, ist doch sehr verständlich. Ich bin einmal gespannt, wie die Linke sich diesen Forderungen gegenüber verhalten wird. Die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns auf drastische Weise gezeigt, wie sehr unser Wohlergehen und unsere Sicherheit von externen Entwicklungen abhängig ist. Dank unserer unionsgeführten Politik ist Deutschland gut aus der Krise gekommen. Und das auch, weil wir erkannt haben, dass es in unserem internationalen Umfeld neue Akteure gibt, die ihre eigenen Weltanschauungen und Interessen haben und verstehen, dass Zusammenarbeit lohnend ist. Auch Indien hat dies Anfang der 90er-Jahre erkannt, als es grundlegende Wirtschaftsreformen einleitete. Mit seiner Öffnung der Wirtschaft von einem nahezu sozialistischen Wirtschaftssystem hin zu einer weltoffenen und wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft ist Indien bereits ein gutes Stück vorangekommen. Es gilt, den Einfluss des Staates auf den Wirtschaftsprozess weiter zu reduzieren, damit sich die indische Wirtschaft weiter so dynamisch entwickelt und neben den schon erreichten Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung und Kindersterblichkeit auch der kleine Mann mehr vom Wirtschaftsboom profitieren kann. Der EU und der Bundesrepublik Deutschland eröffnet dieser Strukturwandel große Chancen. Der bilaterale Handel hat in den vergangen Jahren erheblich zugenommen. Mit einem Handelsvolumen von 77 Milliarden Euro in 2008 zählt Indien zu einem der wichtigsten Handelspartner der EU-27. Aus indischer Sicht ist die EU inzwischen der größte Handelspartner, noch vor China und den USA. Deutschland alleine liegt auf Platz sechs. Deutsche Waren genießen auf dem Subkontinent einen guten Ruf, und der Markt dafür wächst rasant. Laut "Handelsblatt" betrug das Exportvolumen im Jahr 2009 rund 8 Milliarden Euro. Vor allem kann die deutsche Industrie ihre Stärken in Indien ausspielen. Unter den deutschen Exporten nach Indien dominierten Investitionsgüter wie Maschinen, auf die knapp ein Drittel entfielen, Elektrotechnik sowie Mess- und Regeltechnik. Aber nicht nur als Handelspartner, auch als Ziel für Direktinvestitionen gewinnt Indien an Attraktivität für deutsche Unternehmen. Waren können hier verhältnismäßig günstig produziert werden und aufgrund Indiens guter Lage in andere Länder Asiens sowie nach Afrika verkauft werden. Indien zeichnet sich durch ein hohes unternehmerisches Know-how sowie ein überdurchschnittliches Innovationspotenzial aus. Das alles macht das Land zu einer guten Exportbasis; dennoch müssen sich deutsche Investoren auf einen schwierigen Start einstellen. Gründe dafür sehen wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der noch bestehenden hohen Regulierungsdichte, der zum Teil ineffizienten öffentlichen Verwaltung und in dem komplizierten Arbeits- und Steuerrecht. Dies spiegelt sich auch im Doing-Business-Index der Weltbank wieder, in dem Indien hinter Tansania und Malawi einen schlechten 133. Platz belegt. Wenn die Wirtschaft weiter Stück für Stück liberalisiert wird, dürfte sich dieser Befund aber schnell bessern. Gleichzeitig zeigen alle Gespräch mit indischen Politikern und Wirtschaftsvertretern, dass Indien auch ein großes Interesse an Energieeffizienz, alternativer Energieerzeugung, Verbesserung der Infrastruktur, am Ausbau des Bildungswesens und anderer Felder aussichtsreicher Zusammenarbeit hat und sich auch auf diesen Feldern durch das Freihandelsabkommen gegenseitige Vorteile verspricht. Durch eine solide Wirtschaft und einen festen inneren Zusammenhalt wird die Fähigkeit der Europäischen Union und der Bundesrepublik gestärkt, ihren Einfluss in der Welt geltend zu machen. Wir in der Union bekennen uns dabei zu einem wirksamen Multilateralismus. Geben wir Indien als einem der Hauptakteure in der Doha-Runde die Möglichkeit, sein Blockadeimage, das es in den WTO-Verhandlungen zutage gelegt hat, abzuschütteln und wenigstens mit einem für beide Seiten ausgewogenen Freihandelsabkommen zum Deal Maker statt Deal Breaker zu werden. Jedenfalls hat der Deutsche Bundestag keinen Anlass, sich in diesen Verhandlungen zur Zensurstelle für indische Interessen aufzuschwingen und diesem großen Land Vorschriften machen zu wollen. Der Antrag der Fraktion Die Linke "EU-Freihandelsabkommen mit Indien stoppen" ist aus den dargelegten Gründen abzulehnen. Rolf Hempelmann (SPD): Ich denke, die meisten von Ihnen stimmen mit mir darin überein, dass die Ausweitung eines fairen multilateralen Freihandels der Europäischen Union mit verschiedenen Partnern nicht nur eine Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in den jeweiligen Ländern ist, sondern gleichzeitig dazu beiträgt, auch den Wohlstand in Europa und Deutschland zu wahren und zu mehren. Ergänzend hierzu können auch einzelne Freihandelsabkommen eine sinnvolle Ergänzung sein. Selbstverständlich muss auch aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion in Verhandlungen über Freihandelsabkommen, wie sie derzeit zwischen der Europäischen Union und Indien stattfinden, neben ökonomischen auch politischen, sozialen und menschenrechtlichen Aspekten Rechnung getragen werden. Dennoch werden wir dem heute zu diskutierenden Antrag der Linksfraktion in der vorliegenden Form aus verschiedenen Gründen nicht zustimmen. Zum einen, weil Sie die wichtige Frage der Ausgestaltung eines Freihandelsabkommens dazu nutzen, wieder einmal grundsätzliche Systemkritik hinsichtlich der europäischen Marktwirtschaft zu üben. Doch darüber können wir gern an anderer Stelle diskutieren. Hier und heute geht es konkret darum, wie die Europäische Union den Handel mit Indien intensivieren kann, ohne die im Land vorhandenen ökonomischen und sozialen Infrastrukturen zu beeinträchtigen. In dieser Frage haben die Mitglieder dieses Hohen Hauses schon wichtige Aktivitäten entfaltet, aufgrund derer der Antrag vom Lauf der Zeit überholt wurde und auch aus diesem Grund von uns nicht unterstützt wird. Denn bereits im Frühjahr dieses Jahres haben sich sowohl der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als auch der Unterausschuss Gesundheit in Entwicklungsländern des Deutschen Bundestages mit den Folgen eines Freihandelsabkommens für die indische Generikaproduktion und den Zugang zu Medikamenten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommens befasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren fraktionsübergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordneten klare Forderungen zur Ausgestaltung des europäisch-indischen Freihandelsabkommens formulierten, die noch im Frühsommer an die Kanzlerin, die mit dem Thema befassten Bundesminister, den Präsidenten der Europäischen Kommission Jose Manuel Barroso, sowie den europäischen Generaldirektor für Handel, Ignacio Garcia Bercero, versandt wurden. Hierbei wurde von den Abgeordneten insbesondere die Notwendigkeit betont, dass Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhandelten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziellen Medikamenten nicht einschränken. Darüber hinaus wurde die EU aufgefordert, koordiniert gegen gefälschte Arzneimittel vorzugehen und Initiativen und Innovationen zu unterstützen, die sich vor allem auf bisher vernachlässigte Krankheiten richten. Vor dem Hintergrund dieser Forderungen sprachen sich die Ausschüsse gegenüber Bundesregierung und Europäischer Kommission dafür aus, dass die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im Freihandelsabkommen dem Standard von TRIPS entsprechen sollen. Zudem sei darauf zu achten, dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen nicht über den TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden. Erfreulicherweise wurde von Kommissionspräsident Barroso und Handelsdirektor Bercero in Schreiben vom August mitgeteilt, dass die Europäische Union sich die genannten Forderungen der Ausschüsse, die ja auch so im Antrag der Linksfraktion auftauchen, zu eigen gemacht hat. Beide betonen, dass eine Verlängerung der Patentlaufzeit durch ergänzende Schutzzertifikate in den Verhandlungen mit Indien nicht mehr diskutiert werden. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für viele Patienten in Entwicklungsländern lebenswichtigen Generikaproduktion in Indien. Zudem wird von europäischer Seite aus unmissverständlich betont, dass die für das Abkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des geistigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPS-Standard hinaus verstärkt werden. Ich habe gezeigt, dass sich die Fachpolitiker aller Fraktionen bereits seit längerem mit den Forderungen des heute diskutierten Antrags befasst und wichtige Aktivitäten entwickelt haben - mit Erfolg im Sinne der betroffenen Menschen in Indien. Auch zukünftig werden wir darauf achten, dass Freihandelabkommen eben nicht irgendeiner neoliberalen Ideologie nachlaufen, sondern zum Nutzen aller Menschen auf beiden Seiten dienen. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Der Abschluss des Freihandelsabkommens EU - Indien ist eine gute Nachricht. Die Wirtschaftsbeziehungen der EU zu Indien haben in den letzten Jahren deutlich an Dynamik und Intensität gewonnen, zumal sich Deutschland als Indiens wichtigster Handelspartner innerhalb der EU darstellt. Beide Seiten sind sich einig, dass ein Handels- und Investitionsabkommen mit einer breiten Basis im gemeinsamen Interesse liegt. Indien schickt sich an, eine Führungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischen dem "boomenden" Fernen Osten und dem an Energiequellen reichen Nahen Osten und Zentralasien zu übernehmen. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichen und politischen Potenziale von Indien für uns zu nutzen. Wir dürfen den Markt nicht dem schon starken wirtschaftlichen Einfluss Amerikas oder Chinas überlassen. Unsere Außenwirtschaftspolitik ist freiheitlich, orientiert an Marktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur Selbsthilfe. Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und auf den Multilateralismus - anstelle nationaler Alleingänge, wie von den Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märkte muss konsequent fortgeführt werden. Denn durch die weiteren wirtschaftlichen Fortschritte in Indien, die das Abkommen mit sich bringen wird, wird auch der politische Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nach außen ist eine Öffnung der Märkte für eine höhere Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU muss andere Staaten wie Indien von den Vorteilen freier Märkte überzeugen. Daran kann auch der Appell der Fraktion Die Linke, Importzölle auf indische Landwirtschaftsprodukte zu erheben und weiterhin auf Exportzölle in anderen Bereichen zu bestehen, nichts ändern. Die protektionistischen Forderungen nach der Einführung von Exportzöllen und Verhinderung von transparenten Strukturen zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen in Indien zeigt nur die Antiquiertheit der linken Anschauungen. Dies zeigt sich auch bei der Forderung nach einem Verzicht auf einen effektiven Patentschutz nach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die europäischen Grenzen wirksamer Patentschutz garantiert, dass die mit einem Patent einhergehende Offenlegung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. Das Ablehnen der längeren Patentlaufzeiten durch die Fraktion Die Linke und der Verzicht auf Datenexklusivität würde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzuweisen. Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung der Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und ärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mit Schwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grundlage gestellt werden muss. Statt klassischer Entwicklungszusammenarbeit mit den Schwellenländern brauchen wir eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaats- und Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik, Wissenschaft und Forschung. In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernetzung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nach Aufrechterhalten von Exportzöllen lächerlich. Nationale Alleingänge gegen gemeinsame europäische Interessen wird es mit der Koalition nicht geben. Die Kritik der Fraktion Die Linke an dem Freihandelsabkommen EU-Indien zeichnet sich durch das Schüren von Ängsten und dem Wunsch nach Abschottung vom Weltmarkt aus. Sie lässt die, nicht nur wirtschaftlich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherung von EU und Indien außer Acht. Deshalb lehnen wir diesen Antrag der Linken ab. Annette Groth (DIE LINKE): "Wir können die Kommission als unser Sprachrohr benutzen", so zitierte die "taz" Anfang des Monats ein Mitglied der Lobbygruppe "European Business Group". Das Zitat bezieht sich auf die Verhandlungen der EU mit Indien über das Freihandelsabkommen und stammt aus einem Bericht der Nichtregierungsorganisationen Corporate Europe Observatory und India FDI Watch. In dem Bericht wird aufgezeigt, wie eng sich die EU-Kommission in ihren Verhandlungen mit den Lobbyisten europäischer Konzerne abspricht. Es ist nicht wirklich neu, dass die Kommission und das Bundeswirtschaftsministerium mit den Konzernlobbys an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, lukrative Märkte in den Schwellenländern zu knacken. Die Leidtragenden sind immer diejenigen, deren Lobby nicht so mächtig ist, deren Lebens- und Arbeitsverhältnisse aber von den Ergebnissen der Verhandlungen am unmittelbarsten betroffen sind. Ich würde Ihnen die Lektüre des Berichts "Trade Invaders - How big business is driving the EU-India free trade negotiations" sehr ans Herz legen. Die darin nachgewiesenen Verflechtungen zwischen Kommission und Konzernlobbys werfen ein sehr bezeichnendes Licht auf die Freihandelspolitik der EU und dieser Bundesregierung. Ich bin mir sicher, dass Sie sich anschließend unserer Forderung nach Aussetzung der Verhandlungen und nach einer Neuformulierung des politischen Auftrags an die Kommission anschließen werden. Was steht auf dem Spiel? Für die deutschen und europäischen Konzerne: ein riesiger aufstrebender Markt. Europäische Banken und Versicherungen, Supermarktketten, Agrar- und Industriekonzerne drängen mit aller Macht darauf, dass der indische Markt komplett ge-öffnet wird. Die Verhandlungsagenda der Kommission deckt sich eins zu eins mit den Interessen dieser Konzerne. Indien hat in der europäischen Marktöffnungsstrategie "Global Europe" eine herausgehobene Stellung. Der indische Finanzmarkt ist bislang relativ stark reguliert. Ich sehe darin übrigens einen wesentlichen Grund dafür, dass Indien so glimpflich aus der Weltwirtschaftskrise herausgekommen ist. Der Wirtschaftsminister brachte jetzt für seine Klientel eine gute Nachricht von der Indienreise mit: Indien sei endlich doch bereit, seinen Finanzmarkt weiter zu liberalisieren. Eine gute Nachricht für die deutschen Banken und Versicherungen. Eine schlechte Nachricht für alle, die auf stabile, allen zugängliche Finanzdienstleistungen angewiesen sind. Der öffentliche Beschaffungsmarkt in Indien ist ebenfalls noch stark reguliert - bis jetzt noch ein wichtiges entwicklungspolitisches Instrument der öffentlichen Hand, zugleich jedoch ein gewaltiger Markt, an dem die europäischen Konzerne interessiert sind. Im Gleichklang fordern deshalb BDI, EU-Kommission und Wirtschaftsministerium, genau an diesem Punkt in den Verhandlungen nicht nachzugeben. Was steht für die Menschen in Indien auf dem Spiel? Kleine und mittlere Unternehmen in Indien, die öffentliche Aufträge wahrnehmen, müssten sich auf den Verdrängungswettbewerb europäischer Versorgungskonzerne gefasst machen. Kleine Kreditnehmer hätten noch weniger Zugang zu Bankdienstleistungen. Für Kranke, nicht nur in Indien, sondern in vielen Ländern des Südens, könnte sich der Zugang zu preiswerten Medikamenten erheblich erschweren, weil die Generikaproduktion verteuert und verlangsamt wird, wenn sich die Pharmaindustrie mit ihrer Forderung nach Datenexklusivität und Patentlaufzeitverlängerung durchsetzt. Kleinbauern fürchten die Konkurrenz des europäischen Agrarbusiness. Unverantwortlich wäre die von der EU geforderte Öffnung des Marktes für Milchprodukte, an dem in Indien 90 Millionen Arbeitsplätze hängen. Alle diese Menschen finden in den Verhandlungen kaum Gehör. Konzernlobbyisten dagegen sind informiert, nehmen Einfluss auf die Verhandlungsführung der Kommission und die Agenda der Verhandlungen. Übrigens winkt in Indien auch ein riesiger Rüstungsmarkt: Als Wirtschaftsminister Brüderle kürzlich mit 80 Unternehmern Indien besuchte, war die Rüstungsindustrie in der Delegation stark vertreten, wie man lesen konnte. Indien vergibt riesige Rüstungsaufträge - EADS, ThyssenKrupp und Krauss-Maffei hoffen auf den Zuschlag. Ich kann nur hoffen, dass es hier zu keinen Geschäftsabschlüssen kommt. Indien ist umgeben von Krisenregionen - von Afghanistan über Pakistan bis Sri Lanka - und hat einen Gewaltkonflikt im eigenen Land, in Kaschmir. Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen in Europa und Indien und gemeinsam mit indischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern fordert Die Linke, dass die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen gestoppt werden. Bevor weiter verhandelt werden kann, müssen die Entwürfe und gegenseitigen Forderungen offengelegt und die Organisationen der Betroffenen gehört werden. Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien wird in Indien zu mehr Armut führen und die soziale Ungleichheit noch vergrößern, aber auch in Europa soziale Standards in Gefahr bringen. Die EU muss von ihrer unverantwortlichen Freihandelspolitik abrücken. Wir brauchen ein neues Verhandlungsmandat für die Kommission, in dessen Zentrum nicht die Interessen der Konzerne, sondern die Ermöglichung einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung in Indien und Europa steht. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das geplante EU-Indien-Freihandelsabkommen ist das fragwürdige Resultat der aggressiven Handelspolitik der EU im Rahmen der Global-Europe-Strategie. Erstmals wurden auf dem EU-Indien-Gipfel im Jahre 2006 die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen initiiert. Jetzt stehen die Verhandlungen kurz vor Abschluss, und es ist mal wieder zu befürchten, dass das Abkommen eine nachhaltige, soziale und ökologische Entwicklungspolitik konterkariert. Die Bundesregierung unterstützt die EU mit aller Macht und drängt auf Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung, ungeachtet der noch nicht überstandenen Wirtschafts- und Finanzkrise. Im ideologischen Blindflug berücksichtigt das Abkommen überwiegend die Interessen der europäischen Export- und Dienstleistungsunternehmen; soziale und ökologische Aspekte sowie Menschenrechtskriterien finden sich zwar auf dem Papier wieder, an konkrete Umsetzungsmöglichkeiten wurde vermutlich nicht gedacht. Europa will seiner Entwicklungsverpflichtung offensichtlich nicht nachkommen. Beispielhaft hierfür ist das erst in diesem Jahr unterzeichnete Handelsabkommen mit Peru/Kolumbien. Die immensen Quoten für hochsubventioniertes Milchpulver aus Europa bedrohen jetzt den Milchmarkt und damit die Existenzen vieler Kleinbauern. Mit verantwortungsvoller Handelspolitik hat das nichts zu tun. Der Green New Deal fordert die Neuausrichtung unseres Wirtschaftens auf lokaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene. In diesem Rahmen gilt es auch eine ökologische und soziale Handelspolitik zu gestalten. Die Antwort auf die drei globalen Krisen - Hungerkrise, Finanz- und Wirtschaftskrise und Klimakrise - liegt auch in einer fairen und nachhaltigen Ausgestaltung von bi- und multilateralen Handelsabkommen. Gerade noch hat die Welt eine magere und traurige Zwischenbilanz zu den Millenniumsentwicklungszielen und den Kampf gegen Armut gezogen. Aber nicht nur die vielen leeren Versprechungen der Bundesregierung verhindern das Erreichen der Ziele, sondern auch die fehlende Politikkohärenz. Handels- und Entwicklungspolitik müssen in Einklang gebracht werden. Meine besondere Sorge bezüglich des EU-Indien-Freihandelsabkommen gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrechten und damit dem Zugang zu preiswerten generischen Medikamenten. Die Forderung der EU, über den Standard des TRIPS hinauszugehen, ist unverantwortlich. Indien ist weltweit einer der größten Generikahersteller. Die Herstellung und Versorgung der ärmsten Länder mit Generika ist von herausragender Bedeutung. Würde die Produktion der Generika eingeschränkt - und darauf hatten die EU-Verhandlungsstrategen abgezielt - käme dies einem Todesurteil von Tausenden von Menschen in den ärmsten Ländern gleich. Der gewährte Spielraum für Entwicklungsländer, wie beispielsweise die Möglichkeit, Zwangslizenzen zu nutzen, darf nicht durch besondere Schutzklauseln zur Datenexklusivität ausgehebelt werden. Ich möchte ausdrücklich auf den interfraktionellen Beschluss des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hinweisen, der auf Initiative des Unterausschusses Gesundheit in Entwicklungsländern die Bundesregierung und die Europäische Kommission aufgefordert hat, sich dafür einzusetzen, dass die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im EU-Indien-Freihandelsabkommen dem Standard von TRIPS entsprechen und Patentlaufzeiten nicht über 20 Jahre hinaus anzuheben. Ich teile die Ansicht der Linken, bezüglich eines entwicklungsförderlichen Verhandlungsmandats das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Versorgung nicht mit überzogenem Patentschutz zu konterkarieren. Auch teile ich den Wunsch, das Abkommen - so denn es sich um ein gemischtes Abkommen handelt - hier im Bundestag zur Abstimmung zu bringen. Zunächst gilt es allerdings zu klären, ob es sich tatsächlich um ein gemischtes Abkommen handelt und damit nicht in der alleinigen Kompetenz der EU liegt. Sollte es in der alleinigen Kompetenz der EU liegen, muss sichergestellt werden, dass das Abkommen effizient und effektiv die Stärkung der Menschenrechte gewährleistet. Die Bundesregierung ist aufgefordert, die rechtlich bindenden Bestimmungen zu beachten und im Falle eines "Gemischten Abkommens" das Freihandelsabkommen dem Bundestag zur Entscheidung vorzulegen. Zu kritisieren bleibt, dass die bisher erzielten Vereinbarungen nicht rechtzeitig und vollständig den zuständigen Ausschüssen vorgelegt wurden. Bis zur Klärung der offenen Fragen enthalten wir uns der Zustimmung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2420 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 22: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Drucksache 17/2251 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Drucksache 17/2252 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/2253 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/2254 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung des Zusatzabkommens vom 5. November 2002 - Drucksache 17/2255 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/2571 - Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Zu Protokoll genommen haben wir die Reden von Manfred Kolbe, Lothar Binding, Dr. Birgit Reinemund, Dr. Barbara Höll und Dr. Gerhard Schick.8 Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/ 2251 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich gleich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2252 anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist angenommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie der vorherige. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2253 anzunehmen. Wer zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Niemand hat dagegengestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke haben sich enthalten. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, auch diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2254 anzunehmen. Wer möchte zustimmen und erhebt sich deswegen? - Wer möchte dagegen stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Dagegen hat niemand gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Änderungsprotokoll zum Abkommen mit dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung des Zusatzabkommens. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2255 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung durch die Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen hat niemand gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen - Drucksache 17/3060 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern - Drucksache 17/3041 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Federführung strittig Wir haben zu Protokoll genommen die Reden von Dr. Patrick Sensburg, Peter Bleser, Marianne Schieder, Dr. Erik Schweickert, Caren Lay und Nicole Maisch. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 4. August 2009 ist das von der damaligen Großen Koalition verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen in Kraft getreten. Nötig geworden war diese Gesetzesänderung, weil ein hoher Anstieg an unerwünschter Telefonwerbung, insbesondere im Bereich der Wett- und Lotteriedienstleistungen, bei Zeitungen und Zeitschriften sowie bei Dienstleistungen im Telekommunikationssektor zu verzeichnen war. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sahen sich immer stärker durch Werbeanrufe unseriöser Anbieter belästigt. Dies hat zu einem hohen Eingang an telefonischen und schriftlichen Beschwerden bei den Verbraucherzentralen geführt. Telefonanrufe zu Werbezwecken, die ohne vorhergehende Einwilligung der Verbraucherinnen und Verbraucher erfolgten, sind bereits seit 2004 gesetzlich verboten. In der Praxis musste man jedoch feststellen, dass die Durchsetzung des bereits geltenden Rechts nicht in der gewünschten Form zu gewährleisten war. Das Ziel unseriöser Anbieter ist es ja grade, die Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihren Anrufen zu überrumpeln und ihnen einen Vertrag aufzuschwatzen. Oft wird sogar ein Vertragsabschluss vorgetäuscht, in dem eine "Auftragsbestätigung" nach dem Telefonat per Post zugesendet wird. Dem Verbraucher wird hier ein oft teures Geschäft regelrecht "untergeschoben". Die unlauteren Geschäftspraktiken der unseriösen Anbieter waren also bekannt. Angesichts der geschilderten Problematik sah sich die damalige Regierungskoalition daher veranlasst, eine gesetzliche Regelung zu treffen, die einen hohen Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Abzocke am Telefon durch windige Anbieter gewährleistet. Dieses Ziel wurde durch entsprechende Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch, BGB, im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, sowie durch Änderungen im Telekommunikationsgesetz, TKG, und der BGB-Informationspflichten-Verordnung, BGB-InfoV, weitestgehend erreicht. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben seit Inkrafttreten des Gesetzes im August 2009 die Möglichkeit, von jedem per Telefon oder im Internet in den aufgeführten Bereichen abgeschlossenen Vertrag innerhalb von 14 Tagen ohne Angabe von Gründen zurückzutreten. Darüber hinaus können die Verbraucherinnen und Verbraucher noch bis zur vollständigen Vertragserfüllung durch beide Vertragsparteien vom abgeschlossenen Vertrag zurücktreten, wenn sie vorher nicht ordnungsgemäß über ihr Widerrufsrecht aufgeklärt worden sind. Diese Regelung wurde extra für Fernabsatzverträge eingeführt und gilt nicht für Dienstleistungen, die auf Wunsch oder ausdrückliche Zustimmung der Verbraucherin oder des Verbrauchers vorzeitig geleistet werden. Folge aus dieser Regelung ist, dass Unternehmen auf eigene Rechnung leisten, solange der Vertrag noch nicht von beiden Seiten vollständig erfüllt ist. Unternehmen, die den Verbraucherinnen und Verbrauchern Geschäftsabschlüsse "unterschieben", müssen also damit rechnen, dass sie auf den Kosten für bereits erbrachte Leistungen sitzenbleiben. Diese Lösung wurde von der damaligen Regierung als ausreichende Sanktion für Unternehmen gesehen, die sich unlauterer Geschäftsmethoden bedienen. Bis zur Gesetzesänderung 2009 war es auch noch möglich, ein bestehendes Dauerschuldverhältnis durch Eingehen eines ersetzenden Dauerschuldverhältnisses zu kündigen. Es konnte also passieren, dass man als Verbraucher oder Verbraucherin einen neuen Telefonvertrag unbewusst abschließt, der den bestehenden Vertrag auflöst und dann am Ende auch noch teurer wird. Dies ist nicht mehr möglich. Ein Vertragsabschluss, der ein Dauerschuldverhältnis ersetzt, muss seit August 2009 in Schriftform bestätigt werden. Auch hier wurde also eine große Verbesserung des Verbraucherschutzes erzielt. Wir haben also schon viel erreicht, und ich würde mir wünschen, dass die Opposition dies einmal anerkennt. Seit August 2009 ist zudem das Durchführen unerlaubter Telefonwerbung ein Bußgeldtatbestand, der mit bis zu 50 000 Euro geahndet werden kann. Gleichzeitig wurde das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) konkreter gefasst, in dem explizit gefordert wird, dass der Verbraucher oder die Verbraucherin vorher in den Werbeanruf einwilligen muss und eine Einwilligung nicht mehr aus dem Verhalten des Angerufenen gefolgert werden kann. Ein Bußgeld von bis zu 10 000 Euro kann fällig werden, wenn die Unternehmen ihre Rufnummer bei Werbeanrufen unterdrücken und somit für den Verbraucher nicht erkenntlich ist, wer ihn oder sie anruft. Auch hier wurde also eine deutliche Verbesserung der Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher erzielt, und gleichzeitig besteht die Möglichkeit, Missbrauch mit schmerzhaften Bußgeldern zu bestrafen. Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes hat die CDU/CSU-Fraktion die Bunderegierung gebeten, den Erfolg spätestens nach drei Jahren zu evaluieren - ein Zeitraum, der angesichts der Ergebnisse der am 14. Juli 2010 veröffentlichten Erhebung der Verbraucherzentrale recht lang ist, und ich würde mir wünschen, wir bekämen schneller weitere Zahlen. Die Verbraucherzentrale hat im Zeitraum vom 1. März 2010 bis 30. Juni 2010 Verbraucherbeschwerden gesammelt und analysiert. Insgesamt wurden 40 753 Beschwerden registriert, davon 12 444 Online-Beschwerden und 28 310 persönliche, telefonische und schriftliche Beschwerden. 66,2 Prozent der Beschwerden gehörten zu dem Themenbereich Gewinnspiele und Lotterie. In 22,1 Prozent der Fälle war die Rufnummer unterdrückt. An den Ergebnissen der Verbraucherzentrale wird deutlich, dass trotz der bisher guten Gesetzgebung immer noch nicht der gewünschte Erfolg eingetreten ist. Noch immer werden die Verbraucherinnen und Verbraucher von unerwünschten Telefonanrufen belästigt und oft genug auch abgezockt. Die Ergebnisse der Verbraucherzentrale sind alarmierend, und ich danke der Verbraucherzentrale für die Arbeit ganz nachdrücklich. Aber allein auf Grundlage der aus der Studie resultierenden Lösungsvorschläge eine Reform des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen durchzuführen, halte ich für voreilig. Die rot-grüne NRW-Landesregierung hat im Bundesrat jetzt den Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Verbraucherschutzes bei unerlaubter Telefonwerbung eingebracht. Ich halte diesen Entwurf für vorschnell und populistisch. Sie wissen doch, dass wir gerade eine Evaluierung durchführen. Und dann lese ich im Antrag der Grünen, dass eine Taskforce einzurichten sei - ich zitiere -, "die zusammen mit den Staatsanwaltschaften auf die konsequente Verfolgung von Straftatbeständen im Zusammenhang mit Rufnummermissbrauch und unlauterer Telefonwerbung hinwirkt." So weit, so gut, aber jetzt kommt die Begründung: Bisher gab es nur elf Ordnungswidrigkeitsverfahren mit Bußgeldbescheiden, und weil das zu wenig ist, bilden wir eine Taskforce. Was ist das denn bitte schön für eine Argumentation? Das zeigt doch nur, wie unausgegoren Ihr Konzept ist. Sie berufen sich zwar auf alarmierende Zahlen der Bundesnetzagentur; aber diese geben doch nur die Zahl der Beschwerden wieder und nicht die Zahl der Ordnungswidrigkeiten. Sie handeln hier nach dem Motto: Wenn man einmal nicht weiterweiß, bilden wir einen Arbeitskreis. - Das ist unseriös. Vor der Feststellung der legislativen Handlungsnotwendigkeit hat erst einmal eine umfassende Analyse der Sachlage zu erfolgen. Wenn wir also das Gesetz überarbeiten wollen und den gewünschten Erfolg erzielen wollen, brauchen wir zusätzlich zu den Zahlen der Verbraucherzentrale und der Bundesnetzagentur eine fundierte Evaluation der Erfolge, aber auch der noch bestehenden Probleme. Darum wird das Bundesministerium der Justiz im Laufe des Jahres eine aussagekräftige Evaluation erstellen. Diese soll bis zum Jahresende vorliegen, und die Zahlen der Verbraucherzentrale weisen ja schon jetzt darauf hin, dass aller Voraussicht nach weiterer Handlungsbedarf besteht. Warum arbeiten Sie nicht mit uns zusammen, sondern versteifen sich auf Stimmungsmache? Anhand der gewonnen Erkenntnisse werden wir dann eine angemessene Überarbeitung des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung erarbeiten und dem Parlament vorlegen. Sollte das Ergebnis der Evaluation ähnlich ausfallen wie die Studie der Verbraucherzentrale, werden wir natürlich auch die Bestätigungslösung in Betracht ziehen. Nur wenn wir wie beschrieben vorgehen und die Evaluation des BMJ abwarten, ist gewährleistet, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher zuverlässig und nachhaltig vor Telefonabzocke und vor Belästigung durch automatische Anwählcomputer geschützt werden. Eine vorschnelle Reform wäre purer Aktionismus und nicht zielführend. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken ist daher abzulehnen. Auf Grundlage der Zahlen, die wir demnächst erwarten, werden wir so schnell wie möglich seriös entscheiden. Peter Bleser (CDU/CSU): Dreist, nervig und teuer - mit diesen Worten lässt sich das Verbreiten von Telefon-Spam umschreiben. Jeder kennt das Phänomen, und fast jeder ist genervt davon: Anrufe beim Mittagessen oder am Abend von einem Callcentermitarbeiter, der besonders vorteilhafte Telefontarife, gewinnträchtige Lotterielose oder günstige Abonnements anzubieten hat, sind allzu oft Alltag in deutschen Haushalten. Auch teure Mehrwertdienste-Rufnummern, automatische Anwählcomputer oder dubiose Premium-SMS auf dem Handy häufen sich. Die Abzockmethoden auf dem Telekommunikationsmarkt machen deutlich: Die Rechte des Verbrauchers im Bereich Telekommunikation sind immer noch nicht ausreichend geschützt. Allzu oft tummeln sich hier eine Menge von Trickbetrügern und Kriminellen. Die Telefonrechnung wird immer häufiger zum Inkassoinstrument für Anbieter von Mehrwertdiensten. Das werden wir stoppen! Für die Unions-Verbraucherpolitiker steht fest: Wir brauchen ein sauberes Telefon. Trotz einiger Erfolge in der vergangenen Legislaturperiode: Die bestehenden Gesetze reichen nicht aus, um Verbraucher auf Augenhöhe mit Unternehmen und Anbietern zu bringen. Mit der Verschärfung des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung haben wir zwar Ende der vergangenen Legislaturperiode erste Erleichterungen für die Verbraucher erreicht: Durch ein deutlich höheres Bußgeld, dem Verbot der Rufnummernunterdrückung und der Erweiterung des Widerrufsrechts auf Lotterie-, Abo- und Gewinnspiele werden unlautere Anrufe seitdem strenger geahndet. Auch ein Anbieterwechsel oder eine Änderung eines Vertrages ist nur noch mit einer schriftlichen Bestätigung bzw. einer Widerrufsmöglichkeit des Kunden erlaubt. Dennoch ist die Plage immer noch Realität: Die Versuche von dubiosen Unternehmen, Verbrauchern Verträge unterzuschieben, oftmals ältere Menschen mit Inkassodrohungen einzuschüchtern oder mit angeblichen Gewinnversprechen zu locken, sind nicht schönzureden. Wir als Unions-Verbraucherpolitiker sehen uns deshalb in unserer Position aus der vergangenen Legislatur bestätigt: Unlautere Telefonwerbung wird sich für das werbende Unternehmen nur dann nicht lohnen, wenn die Folgeverträge bei fehlender schriftlicher Bestätigung durch den Verbraucher von vornherein unwirksam sind. Eine schriftliche Bestätigung bei erstmaliger Aufnahme von Geschäftsbeziehungen ist und bleibt die verbraucherfreundlichste Lösung. Nur so können wir den wirtschaftlichen Anreiz für "schwarze Schafe" stoppen, um so die Zahl ungebetener Anrufe zu reduzieren. Unerbetene Werbeanrufe sind für jeden belästigend und schädigen das Image der Unternehmen, die sich an Recht und Gesetz halten. Gerne hätten wir diese Maßnahmen schon im vergangenen Jahr umgesetzt; dies war aber leider bei unserem damaligen Koalitionspartner nicht durchsetzbar. Vor allem die damalige SPD-Bundesjustizministerin Zypries verweigerte diese verbraucherfreundliche Lösung. Um den Kompromiss nicht zu gefährden, haben wir dem Gesetz in seiner jetzigen Fassung zugestimmt. Auch Umfragen durch den Verbraucherzentrale Bundesverband sowie die Bundesnetzagentur bestätigen unsere Bedenken. Bundesweit haben sich vom März bis Juni 2010 insgesamt 40 754 Verbraucher an der durchgeführten Umfrage der Verbraucherzentralen beteiligt. 66 Prozent der Angerufenen beschwerten sich über unerwünschte Werbung für Gewinnspiele und Lotteriedienstleistungen. Jeder sechste Anruf kam laut Umfrage von einem Energieversorger, Telefon- und Internetdienstleister, einem Zeitschriftenvertrieb oder einem Dienstleister für Bank- und Finanzprodukte, und rund 20 Prozent der Angerufenen sollten eine kostenpflichtige Rufnummer zurückrufen. Betroffen waren in zwei Dritteln der Fälle Senioren im Alter von über 65 Jahren. Das ist Abzocke und Belästigung der Verbraucher, die wir nicht länger hinnehmen werden! Die christlich-liberale Koalition hat deshalb im Sommer eine Evaluierung des Gesetzes eingeleitet; erste Ergebnisse liegen im Winter vor. Wir brauchen wissenschaftlich fundierte und valide Zahlen, um flächendeckend zu prüfen, wo es im Einzelnen Nachbesserungsbedarf gibt. Gründlichkeit geht bei uns - anders als bei der Opposition - vor Schnelligkeit. Fakt ist aber auch: Wir haben vor Ort oftmals ein Vollzugsdefizit. Wir brauchen mehr und spezielleres Personal in den Ländern. Zentrale Ermittlungsstelle der Staatsanwaltschaften zur effektiveren Bekämpfung könnte hier effektiv und schnell eingreifen und "schwarze Schafe" zur Rechenschaft ziehen. Übrigens: Auch die Länder könnten so ihren Worten von der Verbraucherschutzministerkonferenz endlich Taten folgen lassen und unseriösen Callcenterbetreibern das Handwerk legen. Denn die Androhung immer schärferer gesetzlicher Regelungen ist wenig wert, wenn man den Vollzug vor Ort nicht sicherstellen kann. Sie sehen, wir haben das Problem erkannt und werden es zeitnah mit unserem Koalitionspartner beheben. Wir gehen aber noch weiter, indem wir nicht nur unerlaubte Telefonwerbung bekämpfen, sondern den Verbrauchern mehr Rechte im ganzen Telekommunikationsbereich einräumen. Der Referentenentwurf zum Telekommunikationsgesetz liegt nun vor und enthält eine Fülle von Regelungen im Sinne des Verbrauchers. Nur einige Beispiele: Kosten für Warteschleifen von Servicehotlines werden bald der Vergangenheit angehören. Der Kunde wird künftig erst von dem Moment zahlen, in dem er tatsächlich eine Gegenleistung erhält. Preisansagepflichten werden für alle Servicenummern gelten, nicht nur für 0900er-Nummern oder andere bestimmte Gassen. Der Wechsel des Telefon- oder Internetanbieters muss künftig innerhalb von 24 Stunden vollzogen werden. Mobilfunkkunden werden ihre Rufnummer unabhängig von der konkreten Vertragslaufzeit zu einem neuen Anbieter mitnehmen können. Die bestehenden Widerrufsrechte für das Festnetz werden auf den Mobilfunkbereich ausgeweitet. Damit erhalten Kunden bei der Nutzung per Handy eine Widerspruchsmöglichkeit gegen einzelne Rechnungsposten. Telefon- und Internetfirmen müssen künftig ein Vertragsmodell mit einer Höchstlaufzeit von unter einem Jahr anbieten. Kurzum: Die Union hält, was sie verspricht: Mehr Rechte, mehr Kompetenzen und mehr Schutz im Telekommunikationsdschungel - ein Punktsieg für den Verbraucher. Der Weg hin zu einem "sauberen" Telefon ist damit frei. Eines muss uns aber auch bewusst sein: Solange der Verbraucher nicht juristisch alle Möglichkeiten erhält, sich gegen Übervorteilung zu wehren, werden wir immer weiter mit Abzocke und Telefon-Spam zu kämpfen haben. Wirkliche Hilfe erreichen wir nur durch die Beweislastumkehr zugunsten des Kunden. Wer eine Leistung erbringt, muss auch belegen, dass diese erfüllt wurde. Damit fällt der wirtschaftliche Anreiz für dubiose Unternehmen weg. Nur so können wir sicherstellen, dass der Verbraucher auch bei kleineren Beträgen, wo sich der Rechtsschutz schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit für den einzelnen Verbraucher nicht realisieren lässt, wieder auf Augenhöhe mit den Anbietern am Markt gebracht wird. Deshalb plädiere ich dafür, Rechnungsposten von Drittanbietern in der Rechnung gesondert auszuweisen und die Beweislast für die tatsächlich erbrachte Leistung bei dem Drittanbieter einzufordern. Die Beweislastumkehr ist und bleibt das schärfste Schwert, um im Telekommunikationssektor die Abzockmethoden einzudämmen. Das sind viele Ziele, die wir in den kommenden Monaten Schritt für Schritt gemeinsam mit unserem Koalitionspartner beraten und umsetzen werden. Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Im letzten Jahr, am 26. März 2009, hat der Deutsche Bundestag nach langen und intensiven Diskussionen das Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen beschlossen - im Übrigen mit den Stimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Am 30. Juli 2009 trat das Gesetz in Kraft. Mit diesem Gesetz wurden die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher erheblich gestärkt, denen über unerlaubte Telefonwerbung unerwünschte Verträge untergeschoben worden sind. Ihnen steht nun ein zweiwöchiges Widerrufsrecht zu, ein Rechtsmittel, das den Bürgerinnen und Bürgern aus dem Bereich der Haustürgeschäfte mittlerweile vertraut ist. Für den Fall, dass der Vertag telefonisch zustande gekommen ist, wurde für die Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten sowie die Erbringung von Wett- und Lotteriedienstleistungen das Fernabsatzgesetz zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher geändert. Zudem wurde im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb die Werbung mit einem Telefonanruf bei nichtvorhandener vorheriger ausdrücklicher Einwilligung explizit als unzumutbare Belästigung definiert und mit hohem Bußgeld belegt. Außerdem wurde im Telekommunikationsgesetz für die Telefonwerbung die Rufnummernunterdrückung untersagt. Im Zuge der dazu geführten Diskussionen haben wir uns auch schon ausführlich mit der in den vorliegenden Anträgen jetzt wieder geforderten Bestätigungslösung - also der Notwendigkeit einer schriftlichen Bestätigung des Verbrauchers bzw. der Verbraucherin für das Inkrafttreten des telefonisch zustande gekommenen Vertrags - auseinandergesetzt. Dieser Weg wurde nicht zuletzt aus rechtsdogmatischen Gründen im Gesetzgebungsverfahren verworfen. Bei Anwendung der Bestätigungslösung wären telefonisch geschlossene Verträge bis zu ihrer schriftlichen Bestätigung durch den Verbraucher bzw. die Verbraucherin schwebend unwirksam. Wie kann es dann aber sein, dass ein Vertrag, der durch arglistige Täuschung oder Drohung zustande gekommen ist, nach § 123 BGB lediglich anfechtbar und damit vorerst wirksam ist? Unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten, wie ich meine, ist das schwer nachvollziehbar. Aktuell hat sich auch die Verbraucherschutzministerkonferenz der Länder am 16. und 17. September 2010 in Potsdam mit dem Thema unerlaubter Telefonwerbung beschäftigt. Ich bin ausgesprochen erfreut, dass sich ausgerechnet das bayerische Verbraucherschutzministerium äußerst differenziert zur Sachlage geäußert hat. So werden neben der Bestätigungslösung noch andere Rechtsinstrumente in Erwägung gezogen. Angedacht wird zum Beispiel, bei untergeschobenen Verträgen über entgeltliche Glücks- und Gewinnspiele den Vollzug der entsprechenden ordnungsrechtlichen Vorschriften des Glücksspielstaatsvertrags oder des Gewerberechts (§ 33 d GewO) zu stärken. Außerdem wird zu Recht davor gewarnt, dass sich zahlreiche Verbraucherinnen und Verbraucher von Zahlungsaufforderungen und Mahnschreiben einschüchtern lassen, mit denen dann die schnelle schriftliche Einwilligung erzwungen werden soll, unabhängig davon, ob überhaupt eine Vertragserklärung abgegeben wurde oder ob diese mangels nachträglicher Bestätigung in Textform unwirksam ist. Auch ich kann mir hier gut vorstellen, dass sich dieselben Jugendlichen und Senioren, denen ein Vertrag per Telefon untergeschoben wurde, durch weitere Anrufe mit dem Ziel der schriftlichen Bestätigung des Vertrags, dem sie dann aber nicht mehr entkommen können, genötigt fühlen oder durch zahlreiche Mahnschreiben verunsichert werden. In diesem Zusammenhang halte ich es ebenso wie die Bayerische Staatsregierung für überlegenswert, nach Wegen zu suchen, wie Inkassounternehmen und mit Inkassotätigkeiten beauftragte Rechtsanwälte stärker zur Prüfung der bei ihnen geltend gemachten Forderungen verpflichtet werden können. Zusätzlich könnte das Gesetz besser umgesetzt werden, wenn in den Ländern Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Verfügung stünden, damit wesentlich mehr Fälle zur Anklage gebracht, sich der Abschreckungseffekt erhöhen und das mögliche Bußgeld auch verhängt würden. Somit könnte eine effizientere Strafverfolgung gewährleistet werden. Darum appelliere ich an die Länder, es nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen zu belassen, sondern solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu bilden. Ganz bewusst wurde auf Drängen der SPD im Gesetzgebungsverfahren dessen Evaluierung verlangt, um die Wirksamkeit genau zu untersuchen und eventuelle Schwächen aufzudecken. Der Zeitraum dafür wurde auf bis zu drei Jahre festgelegt, wovon erst eines vergangen ist. Auch wenn eine erste Zwischenbilanz der Verbraucherzentralen auf ein weiterhin hohes Niveau an Beschwerden hinweist, rate ich dennoch einen kühlen Kopf zu bewahren und die Evaluierung durch die Bundesregierung abzuwarten. Erfreulicherweise wird diese vorgezogen und bereits durch das Justizministerium vorbereitet. Dadurch werden wir hoffentlich bis Ende des Jahres genauere Erkenntnisse erlangen, in welchen Bereichen nachgebessert werden muss. Nicht umsonst haben die Ausschüsse des Bundesrates das ganze Thema vorerst vertagt, bis die Ergebnisse der Evaluierung vorliegen. In diesem Sinne kann ich mich nur der Protokollerklärung Bayerns und Schleswig-Holsteins zum Beschluss der Verbraucherministerkonferenz anschließen: Die Bestätigungslösung ist eine denkbare Lösung zur Bekämpfung der unlauteren Telefonwerbung. Dies lässt sich jedoch erst nach Vorliegen der Evaluationsergebnisse abschließend beurteilen. Wir werden die Anträge eingehend in den Ausschüssen beraten. Gleichwohl möchte ich schon jetzt einen Punkt aus dem Antrag der Fraktion Die Linke aufgreifen und feststellen, dass die Agentur für Arbeit Arbeitsuchende von sich aus nicht in unseriöse Beschäftigungsverhältnisse vermittelt. Dr. Erik Schweickert (FDP): Wir alle kennen diese nervigen, unerwünschten und eigentlich auch unerlaubten Werbeanrufe. Vielleicht hatten Sie auch schon - wie ich - das zweifelhafte Vergnügen, mit der Computerstimme von Carmen Götz zu telefonieren. Die verheißungsvolle Botschaft lautete, ich sei nur noch einen Anruf vom Gewinn eines niegelnagelneuen BMW entfernt. Der Haken daran: eine teure 0900er-Rückrufnummer, hinter der eine Firma in England steckte. Natürlich habe ich nicht zurückgerufen. Wer aber diese Nummer unbedarft zurückgerufen hat, bekam keinen BMW, sondern lediglich eine teure Telefonrechnung serviert. Bei Carmen Götz handelte es sich nämlich um nichts anderes als eine Telefonabzocke. Und so wie Carmen Götz treiben viele Abzocker in der Telefonwelt ihr Unwesen und nutzen ahnungslose Verbraucher aus, um auf deren Kosten kräftig Kasse zu machen. Nicht nur Gewinnversprechen wie der geschilderte Fall gehören dazu. Auch scheinbar seriöse Firmen nutzen das Telefon, um Verbrauchern Zeitschriftenverträge, Handyverträge, neue Stromtarife oder Gewinnspielteilnahmen unterzujubeln. Eigentlich sollte diese Form der unerlaubten Telefonwerbung längst vorbei sein. Aber leider hat die Große Koalition es versäumt, dieser Abzockemasche einen wirksamen Riegel vorzuschieben, als Schwarz-Rot vor gut einem Jahr ein entsprechendes Gesetz gegen unerlaubte Telefonwerbung beschloss. Das Gesetz erweist sich aber als zahnloser Tiger. Allein in diesem Jahr sind bei der Bundesnetzagentur 34 000 Beschwerden von Verbrauchern eingegangen, die mit unerwünschter Telefonwerbung belästigt wurden, obwohl sie dazu gar nicht eingewilligt hatten. Das Gesetz erweist sich also als lückenhaft und daher wirkungslos. Daher ziehen wir auch die Evaluierung des Gesetzes, welche eigentlich erst nach zwei Jahren vorgesehen war, auf dieses Jahr vor. Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Denn die Große Koalition mit den kleinen Ergebnissen hat vor allem eines versäumt: dem Druck der Werbelobby zu widerstehen. Warum hat denn Frau Zypries als Bundesjustizministerin dafür gesorgt, dass es bei Vertragsabschlüssen am Telefon keine schriftliche Bestätigung des Vertrags durch den Verbraucher geben muss? Weil die Werbeklientel stärker war und lauter gerufen hat, als es der Verbraucher vermag. Darum wurde ein Gesetz geschaffen, das für den Verbraucher keinen Fortschritt gebracht hat. Der Dumme sozialdemokratischer Politik ist meistens der Verbraucher; das zeigt sich hier wieder ganz deutlich. Ob Maßnahmen gegen Telefonwerbung, kostenfreie Telefonwarteschleifen oder Bestätigungsbuttons bei Internetverträgen - all das sind positive Entwicklungen, die wir Liberale nach Jahren des verbraucherpolitischen Stillstandes nun umsetzen. Nach der erfolgten Evaluierung werden wir als christlich-liberale Koalition auf Basis der dann vorliegenden Ergebnisse handeln und der Abzocke einen wirksamen Riegel vorschieben. Denn unsere Klientel ist nicht die Werbewirtschaft, sondern sind die Verbraucher. Sollte die vorgezogene Evaluierung durch das Bundesministerium der Justiz die von der Verbraucherzentrale und der Bundesnetzagentur aufgezeigte Faktenlage bestätigen, wollen wir das Gesetz anpassen und eine schriftliche Bestätigung durch Unterschrift des Kunden einfordern für solche telefonischen Vertragsschlüsse, bei denen der Verbraucher angerufen worden ist. Dann kann der Verbraucher die Details eines Vertrags erst noch einmal in Ruhe durchlesen und läuft weniger Gefahr, ungewollt einen Vertrag abzuschließen oder durch fehlende Informationen oder falsche Versprechen am Telefon einen ungewollten Vertrag abzuschließen. Erst mit der Unterschrift des Verbrauchers wird dann ein am Telefon geschlossener Vertrag auch rechtsverbindlich. Damit wird der Verbraucher effizienter geschützt. Wir wollen aber nicht bei jedem Vertragsabschluss am Telefon eine schriftliche Bestätigung des Vertragsschlusses vorschreiben. Dies wäre für den Verbraucher wenig effizient. Wenn ein Verbraucher selbst bei einem Vertragspartner anruft und einen Vertrag abschließt, soll weiterhin der alleinige Vertragsschluss ohne nachträgliche schriftliche Bestätigung am Telefon erfolgen können. Alles andere würde nur unnötige Bürokratie schaffen und schnelle, auch für den Verbraucher häufig einfache und gewünschte Vertragsschlüsse unterbinden. Der Bestellung des Handys für die Ehefrau kurz vor Weihnachten bleibt also weiterhin möglich, wie auch die anderen Abschlüsse per Telefon, die man bei seinen langjährigen Lieferanten- bzw. Vertragspartnern tätigt. Wir schwingen aber nicht nur die Gesetzeskeule, sondern setzen zudem auf eine wirksamere Strafverfolgung und mehr Transparenz bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die Bundesnetzagentur unternimmt bereits heute viel, um dem Problem der unerlaubten Telefonwerbung habhaft zu werden. Betrügerisch eingesetzte Rufnummern werden schnell abgeschaltet, sodass die Abzocker nicht weiter ihr Unwesen treiben können. Auch werden in solchen Fällen Rechnungslegungs- und Inkassoverbote verhängt, sodass betrogene Verbraucher vor finanziellem Schaden bewahrt werden. Zudem kann die Bundesnetzagentur einen Antrag auf Zuteilung einer Rufnummer ablehnen, wenn der Antragsteller in der Vergangenheit bereits wegen Verstößen gegen das Telekommunikationsgesetz aufgefallen ist. Nur reichen diese Möglichkeiten bislang nicht aus. In meinem Gespräch mit dem Präsidenten der Bundesnetzagentur wurde deutlich, dass die Handlungsmöglichkeiten der Bundesnetzagentur durch die Grenzen ihrer Zuständigkeit eingeschränkt sind. Da die Bundesnetzagentur eine missbräuchliche Nutzung von Rufnummern nicht bereits im Vorfeld erahnen kann, kommt der Strafverfolgung eine wichtige Bedeutung bei der Eindämmung der unerlaubten Telefonwerbung zu. Hier mangelt es aber oft an der ausreichenden Problemwahrnehmung durch die Ermittlungsbehörden. Bislang arbeiten die Strafverfolgungsbehörden weitgehend unkoordiniert und ohne ausreichendes Wissen über die Spezialmaterie, wodurch das Problem der unerlaubten Telefonwerbung oft als Einzelfall abgetan und nicht mit ausreichendem Nachdruck verfolgt wird. Was wir daher anstreben, ist die Etablierung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft, die solchen Fällen gesammelt nachgeht, der Bundesnetzagentur ein zentraler Ansprechpartner ist und daher intensiver als bisher die Strafverfolgung in die Hand nimmt. Wir sollten aber auch noch weitere Maßnahmen ergreifen, um eine effektivere Rechtsdurchsetzung zu ermöglichen. Dazu gehört: Wir sollten die Hürden bei der Einwilligung zu Werbeanrufen erhöhen. Nicht selten verstecken Anbieter solche Einwilligungserklärungen im Wirrwarr ellenlanger und unverständlicher allgemeiner Geschäftsbedingungen und sind für die Verbraucher daher nur schwer zu durchschauen. Letztlich wird auch die juristische Auseinandersetzung dadurch erschwert. Solche pauschalen Erklärungen sind aus meiner Sicht nicht ausreichend. Eine gesonderte Zustimmung durch ein Extrafeld wäre eine sinnvolle Lösung, um dem Verbraucher eine bewusste Entscheidung für oder gegen Telefonwerbung zu ermöglichen. Zudem bin ich dafür, dass solche Einwilligungen nicht unbegrenzt gelten, sondern nach einer bestimmten Frist auch wieder verfallen und neu eingeholt werden müssen. Wenn wir die Hürden bei der Einwilligung dergestalt erhöhen, wird es auch für die Bundesnetzagentur und die Verbraucher einfacher, vor Gericht Bußgelder durchzusetzen. Und wenn es finanziell schmerzhaft wird, werden sich die Abzocker genauer überlegen, ob sie ihre Geschäftsmodelle, die auf unerlaubter Telefonwerbung beruhen, so weiterführen. Caren Lay (DIE LINKE): Seit August 2009 soll das Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung die Belästigung durch unerwünschte Werbeanrufe verhindern. Es soll Verbraucherinnen und Verbraucher vor dem Unterschieben von Verträgen am Telefon schützen. Das Gesetz hat sich jedoch als völlig unzureichend erwiesen. Innerhalb von nur vier Monaten gingen 40 000 Beschwerden bei den Verbraucherzentralen ein. Einige Verbraucherzentralen haben sogar die Erfahrung gemacht, dass die Verbraucherbeschwerden nach der Gesetzesänderung noch zugenommen haben. Dabei stammen über 4 000 Verbraucherbeschwerden aus Sachsen. Hauptsächlich betroffen sind Menschen über 65 Jahre. Die Erfahrungen zeigen: Es geht nicht nur um "schwarze Schafe" unter den Unternehmen. Vielmehr ist unlautere Telefonwerbung ein Massenproblem. Ein Klassiker ist nach wie vor das telefonische Unterschieben von Zeitschriftenabonnements. Oft haben Verbraucherinnen und Verbraucher lediglich der Zusendung von Informationsmaterial zugestimmt. Daraufhin erhielten sie prompt Vertragsbestätigungen. Um unlautere Telefonwerbung wirksam zu verhindern, braucht es deutlich weiterreichende Maßnahmen als bisher. Es kann nicht sein, dass Menschen trotz eines Verbotes Werbeanrufe erhalten und sich hinterher mühsam gegen untergeschobene Verträge wehren müssen. Daher hat die Linke einen eigenen Antrag mit Lösungsvorschlägen eingebracht. Darin fordern wir unter anderem, dass telefonisch vereinbarte Verträge erst durch die schriftliche Bestätigung des Kunden wirksam werden. Eine solche Bestätigungslösung ist ein zentraler Baustein, um unerlaubte Telefonwerbung einzudämmen. Deshalb hat die Linke bereits bei der Verabschiedung des bisherigen Gesetzes im März 2009 einen entsprechenden Änderungsantrag vorgelegt, Bundestagsdrucksache 16/12426. Leider hatten die Koalition aus CDU/CSU und SPD sowie die FDP den Antrag abgelehnt. Außerdem ist gesetzlich klarzustellen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher nicht blindlings über die allgemeinen Geschäftsbedingungen in Telefonwerbung einwilligen. Viele Firmen behaupten mit Verweis auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, dass eine Einverständniserklärung zu Werbeanrufen vorläge. Die Linke fordert stattdessen, ein Opt-in-Verfahren einzuführen: Dabei müssen Verbraucherinnen und Verbraucher aktiv in die Nutzung ihrer Daten für Werbezwecke einwilligen oder eben nicht. Weiter setzt die Linke sich für präventive Maßnahmen ein. Bisher reagiert die Bundesnetzagentur als zuständige Regulierungsbehörde zumeist erst, wenn Menschen schon geschädigt wurden. Das bestätigt auch die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, Bundestagsdrucksache 17/2694. Deshalb fordert die Linke, dass die Bundesnetzagentur vor der Vergabe von Rufnummern die Geschäftsmodelle der Unternehmen prüft. Schließlich müssen Geldbußen gegen Gesetzesverstöße hoch genug sein, um Wirkung zu sein. Denn angesichts hoher Gewinnmöglichkeiten für die Unternehmen verpuffen vergleichsweise geringe Bußgelder. Die Linke fordert eine Erhöhung auf 250 000 Euro. Verbotene Telefonwerbung darf sich nicht länger lohnen. Die Bußgelder und unlauteren Gewinne müssen nach dem Verursacherprinzip den Verbraucherverbänden zufließen. Insbesondere ist zu gewährleisten, dass Arbeitsagenturen und Grundsicherungsträger Erwerbslose nicht in unseriöse Callcenter vermitteln, die illegale Telefonwerbung betreiben. Hierzu müsste die Bundesagentur für Arbeit vor Einstellen eines Stellenangebotes über die Bundesnetzagentur prüfen, ob die Firma negativ bekannt ist. Das ist ohne nennenswerten Aufwand möglich. Skandalös ist hingegen, Menschen zur Aufnahme illegaler Tätigkeiten zu zwingen. Ebenfalls unzumutbar ist, den Nachweis der Illegalität eines Unternehmens auf die Erwerbslosen abzuwälzen. Die Linke begrüßt ausdrücklich die Entscheidung der Verbraucherschutzministerkonferenz vom 15./16. September 2010. Die Forderungen der Verbraucherschutzministerkonferenz decken sich im Wesentlichen mit unseren. Die Bundesregierung muss endlich aktiv werden! Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gegen das Verbot von Telefonwerbung wird nach wie vor massenhaft verstoßen, trotz Ihres Gesetzes aus dem Jahr 2009 zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen. Dabei hatten meine Fraktion, der Bundesrat, die Verbraucherverbände und Experten in der Anhörung im Rechtsausschuss den Gesetzentwurf schon damals als unzureichend im Kampf gegen die unerlaubte Telefonwerbung kritisiert. Das hat Sie aber nicht gehindert, das mangelhafte Gesetz trotzdem auf den Weg zu bringen. Dass das Gesetz definitiv als gescheitert angesehen werden kann, belegen die aktuellen Zahlen der Beschwerdefälle von Verbrauchern, die weiterhin durch unerlaubte Telefonwerbung belästigt werden: In den ersten neun Monaten seit Inkrafttreten des Gesetzes meldete die Bundesnetzagentur über 57 000 schriftliche Beschwerden. Die Verbraucherzentralen erhielten während ihrer viermonatigen Erhebung von März bis Juni 2010 insgesamt 40 753 Beschwerden über unerwünschte Telefonwerbung. Hinter diesen Zahlen stehen unzählige Kunden, denen Verträge untergeschoben werden, und noch mehr Menschen, deren Privatsphäre durch permanente Anrufe verletzt wird. Auch Firmen klagen, dass die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter durch unerwünschte Werbeanrufe verschwendet wird. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen forderte daraufhin in einem Brief an die Justizministerin, das Gesetz kurzfristig nachzubessern. Wichtigste Forderung der Verbraucherschützer war und ist die schriftliche Bestätigung von Verträgen, die durch Cold Calling angebahnt werden. Außerdem fordern sie die Stärkung der Strafverfolgungsbehörden durch die Schaffung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und eine Verschärfung der Gewerbeordnung bei wiederholten schweren Verstößen gegen das Gesetz. Die Erhebung der Verbraucherzentralen und die Zahlen der Bundesnetzagentur zeigen deutlich, dass dringend gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Auf die vorgezogene Evaluierung des Gesetzes zu warten, wäre verlorene Zeit. Denn die Fakten aus der täglichen Lebenswelt der Verbraucher sprechen für sich. Verlieren Sie deshalb nicht noch mehr Zeit und Geld, sondern gehen Sie jetzt zügig und effektiv gegen diese unseriösen Geschäftsmodelle vor. In unserem grünen Antrag fordern wir erneut die schriftliche Bestätigung für Verträge, die aufgrund von unerlaubter Telefonwerbung angebahnt werden. Damit wird es ungleich schwieriger, Kunden Verträge unterzuschieben, und das unseriöse Geschäftsmodell unerlaubter Telefonwerbung verliert an Attraktivität. Außerdem fordern wir eine verpflichtende Registrierung für Gewinnspielanbieter. In der Beratungspraxis der Verbraucherzentralen spielen vorgetäuschte Gewinne eine große Rolle; wir wollen mit einer Registrierung eine zusätzliche Hürde für solche unseriösen Geschäftsmodelle einbauen. Die konsequente Verfolgung von Straftatbeständen bei unerlaubter Telefonwerbung ist ein weiterer wichtiger Baustein im Kampf gegen solche betrügerischen Geschäftsmodelle. Wir wollen, dass der Bund eine Taskforce zu diesem Thema einrichtet, die den Ländern mit Know-how und Koordinierung zur Seite steht. Die Verbraucherminister der Länder haben Ihnen bei der letzten Verbraucherministerkonferenz am 17. September ebenfalls diesen Handlungsauftrag erteilt. Auch sie fordern die Einführung der schriftlichen Bestätigung sowie schärfere Sanktionen gegen Verstöße und die Erleichterung des Widerrufs. Ich bin der Meinung, wir dürfen es den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht länger zumuten, dass sie weiterhin massenhaft durch unerlaubte Telefonanrufe belästigt und abgezockt werden. Deshalb fordere ich Sie auf, sofort zu handeln und das Gesetz entsprechend unserer Forderungen zu verschärfen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3060 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, Bündnis 90/Die Grünen beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Zunächst lasse ich über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Vorschlag abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die übrigen Fraktionen haben dagegengestimmt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit angenommen. CDU/CSU, FDP und SPD haben dafür gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke dagegen. Tagesordnungspunkt 23 b. Der Antrag der Fraktion Die Linke zu unlauterer Telefonwerbung auf Drucksache 17/3041 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen wiederum Federführung beim Rechtsausschuss, die Fraktion Die Linke beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Antrag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der restlichen Fraktionen. Wir kommen zum Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim Rechtsausschuss. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen. CDU/CSU, SPD und FDP waren dafür, die übrigen Fraktionen waren dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sozialkassen vor Beitragsverlusten bewahren - Drucksache 17/3042 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden von Dr. Matthias Zimmer, Paul Lehrieder, Katja Mast, Johannes Vogel, Klaus Ernst und Beate Müller-Gemmeke zu Protokoll genommen. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Das Bundesarbeitsgericht hat Anfang Juli den Anhörungstermin zur Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen auf den 14. Dezember 2010 festgesetzt. Es ist aber offen, ob es bereits an diesem Tag zu einer Entscheidung kommt und bis wann diese dann schriftlich begründet und den Beteiligten zugestellt wird. Dass die CGZP tarifunfähig ist und die mit ihr abgeschlossenen Tarifverträge von Anfang an unwirksam sind, steht erst fest, wenn das Bundesarbeitsgericht diese Feststellung trifft. Erst aus einer solchen letztinstanzlichen Entscheidung kann dann auch abgeleitet werden, dass wegen des Fehlens eines wirksamen Tarifvertrags rückwirkend der gesetzliche Lohnanspruch "equal pay" greift und dieser gesetzliche Lohnanspruch auch die maßgebliche Beitragsbemessungsgrundlage für die Entrichtung der Beiträge hätte darstellen müssen. Vor einer abschließenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Frage, ob die mit der CGZP geschlossenen Tarifverträge als von Anfang an unwirksam anzusehen sind, dürfen die Prüfdienste der Rentenversicherungsträger keine darauf basierenden Beitragsbescheide erlassen. Die Rentenversicherungsträger handeln deshalb rechtmäßig, wenn sie - im Übrigen in Absprache mit den Spitzenorganisationen der Sozialversicherung - derzeit keine die Verjährung hemmenden Beitragsforderungen erheben und zunächst die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abwarten. Auch ist das Bundessozialgericht in einem Urteil im Jahr 1996 zu dem Schluss gekommen, dass Beitragsansprüche der Sozialversicherungsträger für den Fall, dass über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses oder über den Entgeltanspruch zwischen dem Beschäftigten und dem Arbeitgeber ein arbeitsgerichtlicher Rechtsstreit geführt wird, grundsätzlich erst mit rechtskräftiger Beendigung dieses Rechtsstreits fällig werden, weil erst dann die für die versicherungsrechtliche Beurteilung erforderlichen Tatsachen feststehen. Das bedeutet, dass im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung eines Arbeitgebers zur Nachzahlung des Differenzlohnes der Beitrag neu fällig wird und die Verjährungsfrist erneut anläuft. Zudem sind wir der Auffassung, dass unabhängig davon, ob Betroffene ihre Ansprüche gegenüber den Arbeitgebern geltend machen oder nicht, die Sozialversicherungsbeiträge abzuführen sind. Ich möchte in der Diskussion aber noch ein paar Worte zur Zeitarbeit selbst sagen, die im Antrag der Linken klar zu kurz kommen. Das Instrument der Zeitarbeit sollte den Unternehmen Möglichkeiten zur flexiblen personellen Ausgestaltung ihrer Produktionsspitzen geben. Das ist die Grundidee der Arbeitnehmerüberlassung, die uns im globalen Wettbewerb Vorteile verschafft, da Betriebe so kurzfristig ihre erhöhte Arbeitskräftenachfrage befrieden können. Allerdings darf Leiharbeit nicht missbraucht werden, um Tarifverträge zu unterlaufen oder sich wirtschaftliche Vorteile aufgrund menschlicher Notlagen zu verschaffen. Die Erfahrungen, die ich in Gesprächen mit Betriebsräten und Mitarbeitern in Unternehmen sammeln konnte, bestätigen, dass Abweichungen von der Entlohnung zur Stammbelegschaft in der Praxis nicht unbedingt die Ausnahme darstellen. Das Problem sind aber dabei oftmals nicht die entleihenden Betriebe. Sie haben in der Regel ein Interesse daran, auch den Zeitarbeitnehmern einen fairen Lohn zu zahlen. Problematisch sind die Zeitarbeitsunternehmen, die ihren Angestellten nur einen Bruchteil des Lohnes weitergeben, den der entleihende Betrieb gezahlt hat. Menschen müssen aber für ihre Arbeit fair entlohnt werden. Der Mensch darf auf dem Arbeitsmarkt nicht schutzlos dem Spiel von Angebot und Nachfrage ausgesetzt werden, denn er ist wichtiger als der Markt. Schließlich dient ein anständiger Lohn der Motivation und Anerkennung der menschlichen Arbeitskraft. Einem Wettbewerb um die billigsten Arbeitskräfte und Missbrauchstendenzen in der Zeitarbeit müssen wir deshalb entschieden entgegentreten. Die christlich-liberale Koalition wird daher - vor allem im Zuge der weiteren Ausdehnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai 2011 - alles daran setzen, dem missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit entgegenzutreten. Hierfür werden wir noch in den nächsten Wochen einen Gesetzentwurf zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vorlegen. Mit diesem werden wir unter anderem sicherstellen, dass auch zuvor arbeitslose Leiharbeiter vom Grundsatz der Gleichstellung beim Nettoarbeitsentgelt nicht länger ausgenommen werden dürfen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Mit ihrem Antrag zur infrage stehenden Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften sprechen die Kollegen von den Linken einen diffizilen Sachverhalt an. Entscheidet das Bundesarbeitsgericht im Dezember gegen die Christlichen Gewerkschaften, wären unter Umständen hohe Nachzahlungen an die Sozialkassen fällig. Auch meine Fraktion sieht die Problematik, die sich aus diesem möglichen Ausgang ergibt. Eine Lösung verlangt allerdings viel Fingerspitzengefühl. Es ist sicherlich ehrenwert, dass Sie, liebe Kollegen von den Linken, den Sozialversicherungsträgern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 22. März 2010 nahelegen, jede sich bietende Möglichkeit zu nutzen, um die eigene Finanzausstattung zu verbessern. Dennoch bleibt zunächst festzuhalten: Das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht ist noch nicht abgeschlossen. Auch wenn ich die Ungeduld der Linksfraktion in gewisser Weise nachvollziehen kann: Wir sollten das Verfahren erst einmal als ergebnisoffen betrachten und den Ausgang abwarten. Schließlich wird das Urteil noch für Anfang/Mitte Dezember dieses Jahres erwartet - und damit rechtzeitig vor Jahresende, das für die Verfristung von Ansprüchen maßgeblich ist. Erst wenn das Urteil des Bundesarbeitsgerichts bekannt ist, wird die Bundesregierung möglichen Handlungsbedarf prüfen und darüber mit den Sozialversicherungsträgern sprechen. Wie Sie sicherlich wissen, haben sich sowohl die Bundesregierung als auch die Sozialversicherungsträger bei Zweifeln an der Tariffähigkeit von Vereinigungen neutral zu verhalten. Das verlangt der Respekt vor der Tarifautonomie und im Sinne der Gewaltenteilung auch der Respekt vor der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die Sozialversicherungsträger haben sich darüber verständigt, erst nach der abschließenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts tätig zu werden. Seit das Landesarbeitsgericht Berlin den Christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen im Dezember 2009 die Tariffähigkeit abgesprochen hat, stehen die möglichen Konsequenzen aus einem möglicherweise gleich lautenden Urteil des BAG ja schon im Raum. Die Träger der Rentenversicherung klären deshalb bereits jetzt Arbeitgeber, bei denen anlässlich der turnusmäßigen Betriebsprüfung erkannt wird, dass sie möglicherweise von dem Urteil betroffen sein könnten, darüber auf, dass im Fall einer anfänglichen Unwirksamkeit der mit der CGZP geschlossenen Tarifverträge und daraus resultierender höherer Zahlungsansprüche der Arbeitnehmer auch beitragsrechtliche Konsequenzen eintreten können. Sollten die Christlichen Gewerkschaften den Prozess vor dem Bundesarbeitsgericht verlieren, sind für die Arbeitgeber bzw. Verleiher Nachforderungen in Milliardenhöhe nicht auszuschließen, wie die Kollegen von den Linken in der Begründung ihrer Anfrage richtig erwähnen. Bis aber das Bundesarbeitsgericht entschieden hat, ist nicht zu beanstanden, wenn Arbeitgeber, die die mit der CGZP geschlossenen Tarifverträge anwenden, als Bemessungsgrundlage für die Abführung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge den dort vereinbarten Arbeitslohn zugrunde legen. In ihrer Kleinen Anfrage haben die Kollegen von den Linken auch die Frage nach dem Ziel der Beitragsprüfung durch die Rentenversicherungsträger aufgeworfen, keine Beitragseinnahmen verloren zu geben. Auch sehen sie die Gefahr, dass die Rentenversicherungsträger aufgrund einer etwaigen Verjährung der Beitragsansprüche mit der Frage des Schadenersatzes konfrontiert sein könnten. Wie schon gesagt und wie auch von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der Linken ausgeführt, dürfen die Prüfdienste der Rentenversicherungsträger keine Beitragsbescheide erlassen, bevor das BAG zur Frage der Tariffähigkeit der Christlichen Gewerkschaften abschließend entschieden hat. Die Rentenversicherungsträger handeln deshalb rechtmäßig, wenn sie derzeit keine die Verjährung hemmenden Beitragsforderungen erheben und zunächst die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abwarten. Ein auf den Eintritt der Verjährung gestützter Schadenersatzanspruch der übrigen Zweige der Sozialversicherung gegen die Rentenversicherungsträger scheidet deswegen mangels pflichtwidrigen Verhaltens von vornherein aus. Sie sehen: Es ist in dieser heiklen Problematik unbedingt notwendig, die Entscheidung des zuständigen Gerichts abzuwarten und erst dann zu handeln. Katja Mast (SPD): Unsere soziale Marktwirtschaft braucht gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen. Denn soziale Sicherheit - also Sicherheit vor Arbeitslosigkeit, vor Altersarmut, vor Erwerbsunfähigkeit, vor Berufsunfällen und vielem mehr - hängt davon ab, wie viele Beiträge jeder von uns in die Sozialkassen einzahlen kann. Damit erwirbt jeder, zumindest in der Renten- und Arbeitslosenversicherung, individuelle Ansprüche unterschiedlicher Höhe. Gleichzeitig ist es so, dass gerade in der Kranken- und Pflegeversicherung über die Höhe der Sozialabgaben Solidarität in unsere Gesellschaft organisiert wird. Wer also niedrige Löhne in Deutschland duldet, legt die Axt an unseren Sozialstaat an. Deshalb ist für mich klar - und übrigens auch für die gesamte SPD-Bundestagsfraktion: Wir brauchen eine Politik, die existenzsichernde Löhne garantiert. Das Instrument hierfür ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Doch Sie, Frau von der Leyen, sind mit Ihrer christlich-liberalen Koalition nicht bereit, für die kleinen Leute Politik zu machen. Sie verweigern sich einer echten Lohnuntergrenze und akzeptieren damit, dass Menschen trotz Arbeit arm sind. Das wurde gerade diese Woche noch einmal deutlich, wo Sie bei jedem Interview zum Thema Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger die kleinen Leute gegeneinander ausgespielt haben. Sie argumentieren nämlich so, dass Sie sagen: Ich kann das Arbeitslosengeld II nur um 5 Euro erhöhen, weil sonst der Lohnabstand zum Verkäufer und der Friseurin nicht mehr stimmt. Das ist doch paradox. Als Arbeits- und Sozialministerin können Sie auch dem Verkäufer und der Friseurin helfen. Stoppen Sie die Lohnspirale nach unten und sorgen Sie für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Ihre Politik des Spaltens der kleinen Leute, also das Gegeneinanderausspielen von Geringverdienern und Arbeitslosen, ist einer Sozialministerin nicht würdig. Sie haben die Instrumente in der Hand, beiden zu helfen. So viel zum Allgemeinen. Doch hier geht es jetzt um einen konkreten Antrag zum Thema "Beitragssicherheit in den Sozialkassen", weil zum Ende des Jahres sonst eine Verjährung für Rückforderungen ansteht; wohl gemerkt Geld - geschätzt sind es über eine halbe Milliarde Euro -, das für unsere soziale Sicherheit fehlt. Hier wird sich zeigen, ob Sie, Frau von der Leyen, zusammen mit Ihrer schwarz-gelben Koalition tatsächlich die soziale Marktwirtschaft ernst nehmen. Sie müssten nur vor Ablauf des Jahres vorsorglich Betriebe prüfen, damit die Verjährungsfrist nicht verstreicht. Das ist wirklich nicht zu viel verlangt für voraussichtlich über eine halbe Milliarde Euro. Handeln Sie! Worum geht es konkret? - Die sogenannte Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen, CGZP, ist wieder einmal in die Schlagzeilen geraten. Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Deutschen Bundestag über die Rolle der CGZP sprechen. Voraussichtlich im Dezember wird das Bundesarbeitsgericht abschließend über die Tariffähigkeit der CGZP entscheiden. Stellt das Bundesarbeitsgericht fest, dass diese sogenannte Gewerkschaft tarifunfähig ist, dürften sämtliche abgeschlossene Tarifverträge von Anfang an unwirksam sein. Die gute Konsequenz für die Beschäftigten daraus wäre, dass den Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern dann der gleiche Lohn zustünde, den Festangestellte erhalten, und zwar voraussichtlich rückwirkend. Dass ist richtig und folgt dem von der SPD verfolgten Ansatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit", den wir auch in unserem Antrag "Fairness in der Leiharbeit" klar formuliert haben und am Freitag im Plenum beraten werden. Übrigens, die Gewerkschaften, gerade die IG Metall, stehen an unserer Seite, denn sie wollen den Sozialstaat erhalten. Wenn die Arbeitnehmer rückwirkend mehr Lohn bekämen, zahlen sie natürlich auch rückwirkend mehr Sozialabgaben - das wären also geschätzt über eine halbe Milliarde Euro, um die es geht, Geld, das sonst insbesondere der Rentenversicherung fehlen würde. Im Kern geht also darum, dass der im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz formulierte Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" hier von Ihnen, Frau von der Leyen, vorsorglich in einem Sonderfall durchgesetzt werden kann, indem Sie Ihre nachgeordneten Behörden zum vorsorglichen Handeln bringen. Ich verstehe überhaupt nicht, wo hier das Problem liegt. Jede schwäbische Hausfrau würde hier handeln. Und Kanzlerin Merkel hat doch gerade diese schwäbischen Hausfrauen zum Vorbild ihrer Politik erklärt. Aber der heute zu beratende Antrag bildet nur einen Einzelfall ab. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht, dass wir in der Leiharbeit ganz allgemein zum Grundsatz "Gleiches Geld für gleiche Arbeit" zurückkommen. Das ist eine Kernfrage für mehr soziale Gerechtigkeit. Mich treibt um, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Arbeitslosengeld II bekommen. Das ist ein Kombilohn zur Förderung von Lohndumping. Das ist kein sozialdemokratisches Verständnis von Fairness auf dem Arbeitsmarkt und erst recht nicht von sozialer Marktwirtschaft. Wer arbeitet, soll sich davon ernähren können. Das geht mit 5 Euro pro Stunde nicht. Wir brauchen den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das gilt heute in der Debatte, und das gilt auch Freitag in der Debatte. Deutschland ist in ganz Europa Schlusslicht in Sachen Mindestlohn. Einzig Zypern und Deutschland haben keine Lohnuntergrenze in der Europäischen Union. Auch hier könnten wir von Großbritannien, Frankreich, Schweden und all den anderen Ländern in Europa lernen. Frau von der Leyen, Sie können handeln. Sie können Solidarität organisieren. Sie können den Menschen mehr netto vom Brutto geben, indem Sie dafür sorgen, dass sie genug verdienen. Hören Sie auf, rhetorisch die kleinen Leute gegeneinander auszuspielen. Fangen Sie endlich an, Sozialministerin zu werden. Führen Sie eine Lohnuntergrenze ein - am besten einen flächendeckenden Mindestlohn. Dann müssten wir uns nicht mehr über Tarifverträge mit Löhnen unter 5 Euro streiten. Sie haben die Instrumente in der Hand. Und vergessen Sie nicht - gleiches Geld für gleiche Arbeit. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Zuallererst möchte ich feststellen, dass es keineswegs verwundert, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund abwartet, bis der Rechtsweg vollends ausgeschöpft ist; so verhält es sich nun einmal in einem Rechtsstaat. Sie fordern in Ihrem Antrag, Beitragsforderungen aus Entgelten, die auf den Tarifverträgen der Christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen, also der CGZP, beruhen, in ihrer Höhe konkret festsetzen zu lassen und so möglicherweise rückwirkend fällig werdende Beitragseinnahmen vor der gesetzlichen Verjährung zu schützen. Schwerlich werden wir uns hier ohne jede weitere Begründung Spekulationen hingeben können. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass es erhebliche Zweifel an der Tariffähigkeit der CGZP gebe. Dies ist insofern richtig, als dass die Verträge nach einer Klage von Verdi in zwei Gerichtsinstanzen für ungültig erklärt wurden. Die CGZP selbst wurde hier für tarifunfähig erklärt. Es ist ja richtig: Zuerst hat das Arbeitsgericht Berlin die Tariffähigkeit der CGZP bestritten, dann hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg diese Entscheidung bestätigt. Aber noch einmal: Solange der Rechtsweg nicht ausgeschöpft, ist die Frage nach der Tariffähigkeit nicht abschließend beantwortet und so lange ist die CGZP auch noch als tariffähig anzusehen. So sieht es offenbar die Deutsche Rentenversicherung, und so sehe ich das auch. Warten wir also auf die endgültige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die ja voraussichtlich im Dezember 2010 fallen wird, und dann sehen wir weiter. Ich möchte es hier ganz deutlich sagen: Sozialkassen bewahrt man nicht durch Ihre Rezepte vor Beitragsverlusten, sondern indem man wirksam die Arbeitslosigkeit bekämpft und unsere Sozialversicherungssysteme zukunftssicher macht. Die christlich-liberale Koalition hat in dieser Hinsicht schon viel bewegt, und die Arbeitslosenzahlen vom heutigen Donnerstag bestärken uns in unserem Tun. Auf ihrer monatlichen Pressekonferenz hat die Bundesagentur für Arbeit heute die Zahlen für den zurückliegenden Monat September veröffentlicht. Die Arbeitslosenzahl ist im September um weitere 157 000 auf 3 031 000 zurückgegangen. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies einen Rückgang um 315 000. Es ist ferner wichtig, eine generationengerechte Rentenpolitik zu betreiben, um die Sozialversicherungssysteme auch für kommende Generationen zu sichern. Gerade im Hinblick darauf, dass heutzutage erfreulicherweise weit mehr ältere Menschen im Arbeitsmarkt verbleiben, weil ihr Wissen und ihre Erfahrung gerade in Zeiten des Fachkräftemangels gefragt sind, ist es unerlässlich, die Diskussion um einen flexiblen Renteneintritt zu führen. Die gesetzliche Rente muss zudem in Zukunft stärker durch private und betriebliche Altersvorsorge ergänzt werden; denn die individuelle Altersvorsorge wird künftig Grundlage der Lebensstandardsicherung sein. Hierzu müssen die freiwillige Altersvorsorge umfassend und unbürokratischer gefördert werden als bisher und eine Abschaffung der Hinzuverdienstgrenzen bei gleichzeitigem Rentenbezug erfolgen. Ebenso wichtig ist jedoch - ich kann das diese Tage gar nicht oft genug sagen - eine Verbesserung der Zuverdienstmechanismen im ALG-II-Bereich. Eine Erhöhung der Zuverdienstgrenzen soll Hilfe dabei sein, sich Schritt für Schritt aus dem Transferbereich emporzuarbeiten, um dann bestenfalls keine Bezüge mehr zu benötigen. Derzeit fehlt vielen hier der Anreiz, und das ist kein Wunder; denn wenn nach den ersten 100 Euro je weiterem Euro nur noch 20 Cent beim ALG-Beziehenden verbleiben, dann ist dies schlicht ungerecht und unfair. Wir stehen in der Verantwortung, dies zu korrigieren. Schließlich schafft eine Verbeitragung dieser Zuverdienste zusätzliche Einnahmen für die Sozialversicherung. Auf diese Weise wird ein Anreiz dafür geschaffen, auf Wunsch länger im Erwerbsleben zu verbleiben, und die Sozialkassen würden wirklich und nachhaltig entlastet. Klaus Ernst (DIE LINKE): Bereits 2003 hat die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen - CGZP - den ersten bundesweiten Flächentarifvertrag für Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen. Schuld daran haben SPD und Grüne: Sie haben der Zeit- und Leiharbeit Tür und Tor geöffnet. Und sie sind dafür verantwortlich, dass Pseudogewerkschaften Gefälligkeitstarifverträge abschließen dürfen. Dabei machten sie sich eine Ausnahmeregelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, zunutze: Der Grundsatz "equal pay" kann ausgehebelt werden, wenn ein für Leiharbeitnehmer gültiger Tarifvertrag vorliegt. Diese Ausnahmeregelung lässt den Gleichbehandlungsgrundsatz im AÜG ins Leere laufen. Die Folgen für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigten sind fatal; denn mithilfe dieses Schlupflochs vereinbarten die sogenannten Christlichen Gewerkschaften Dumpinglöhne in der Leiharbeitsbranche. Die CGZP hatte solche Scheintarifverträge abgeschlossen und damit sittenwidrige Löhne von weniger als 5 Euro durchgesetzt. Selbst bei nicht religiös eingestellten Leiharbeitern bleibt bei diesen unchristlichen Löhnen nur noch die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod. Ich möchte daran erinnern, dass es das Land Berlin zusammen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi war, die gegen die CGZP gerichtlich vorgegangen sind. Am 7. Dezember letzten Jahres hat das Landesarbeitsgericht Berlin entschieden, dass die CGZP als Dachverband weiterhin nicht tariffähig ist. Damit wurde festgestellt, dass die CGZP keine Zeitarbeitstarifverträge abschließen darf und bereits abgeschlossene Tarifverträge unwirksam sind. Inhaltlich begründet wird die Entscheidung damit, dass es an der Tarifzuständigkeit zum Abschluss dieser Vereinbarungen fehle. Damit bestätigte das Landesarbeitsgericht die gleichlautende Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. April 2009. Weil das LAG Rechtsbeschwerde zugelassen hat, ist mit einem endgültigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts erst am 14. Dezember zu rechnen. Egal wie der Fall vor dem Bundesarbeitsgericht ausgeht, er hätte weitreichende Folgen: Gewinnt die CGZP, erhält eine systematische Praxis des Lohndumpings grünes Licht. Verliert die CGZP, sind ihre Tarifverträge rückwirkend unwirksam, und es greift der Equal-Pay- Grundsatz. Somit können alle Leiharbeitnehmer, die unter CGZP-Verträgen gearbeitet haben, die Differenz der Lohnsummen gegenüber den Stammbelegschaften nachfordern. Gleichzeitig müssten die Entleihbetriebe die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge abführen. Die Beitragsnachforderungen aus den Jahren 2004 und 2005 sind bereits unwiederbringlich verloren, weil diese einer vierjährigen Verjährungsfrist unterliegen. Bisher sehen sich aber weder die Sozialversicherungsträger noch die Bundesregierung in der Lage, wenigsten die Sozialversicherungsbeiträge vor Gericht feststellen zu lassen. Damit verzichtet allein die Rentenversicherung auf die größte Beitragseinnahme seit Jahren. Argumentiert wird, dass sich die Sozialversicherungsträger solange bis das letztinstanzliche Urteil vorliegt, neutral zu verhalten hätten. In das gleiche Horn stößt die Bundesregierung. Tatsächlich könnte die Deutsche Rentenversicherung Bund als zuständige Institution schon jetzt Änderungsbescheide erlassen. Eine kleine Anfrage unserer Fraktion "Konsequenzen aus einer vorläufigen Tarifunfähigkeit der Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften Zeitarbeit und Personalserviceagenturen", Bundestagsdrucksache 17/1121, hat zudem ergeben, dass mindestens 122 Firmen und Verbänden, die namentlich bekannt sind, Tarifverträge mit der umstrittenen CGZP abgeschlossen haben. Die könnten sich die Prüfer der Rentenversicherung ganz unkompliziert zuerst vornehmen. Angesichts des schmalen Zeitkorridors muss die Rentenversicherung jetzt handeln, wenn sie weitere Verluste aufgrund der Verjährungsregelung vermeiden will. Aber das glatte Gegenteil ist der Fall: Da werden Hunderttausende von Beschäftigten in der Leiharbeit aufgrund von Gefälligkeitstarifverträgen mit pseudochristlichen Gewerkschaften um ihre Ansprüche gebracht und die Bundesregierung sowie die Sozialversicherungsträger haben nichts anders zu tun, als die Hände in die Hosentaschen zustecken. Dies ist umso skandalöser weil nach Schätzungen des Münsteraner Arbeitsrechtlers Professor Dr. Schüren allein die Deutsche Rentenversicherung Bund angesichts von jährlich rund 200 000 betroffenen Leiharbeitnehmern auf Beitragseinnahmen von mindestens 1,8 Milliarden Euro verzichtet. Wer glaubt er könne Jahr für Jahr auf 600 Millionen Euro verzichten, hat entweder nicht erkannt, was die Uhr geschlagen hat, oder handelt absichtlich grob fahrlässig und schützt diejenigen, die absichtlich und willentlich Scheintarifverträge abschließen, die offenkundig gesetzeswidrig sind. Gleichzeitig muss dem Leiharbeitsmissbrauch endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Der Gesetzentwurf, den Frau von der Leyen vorgelegt hat, ist aber vollkommen unzureichend. Ich hab den Eindruck, dass auch hier die Lobby der Zeitarbeitsunternehmen kräftig mitgemischt hat. Für die Masse der Leiharbeitsbeschäftigten gilt weiterhin, dass sie Arbeitnehmer zweiter Klasse bleiben: Dumpinglöhne und die Spaltung der Belegschaften werden weitergehen. Wir fordern deshalb "equal pay" als grundsätzliches Prinzip für jeden Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten. Im Interesse der von illegalen Dumpinglöhnen Betroffenen und im Interesse der Solidargemeinschaft dürfen die Sozialversicherungsträger solche Kostensenkungsstrategien, wie zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständische Personaldienstleister und CGZP nicht auf sich beruhen lassen. Handeln Sie deshalb jetzt! Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) ist bekannt dafür, Gefälligkeitstarifverträge mit Arbeitgebern abzuschließen, durch die Beschäftigte niedrige Löhne hinnehmen müssen. Das ist uns schon seit langem ein Dorn im Auge. Deswegen begrüße ich auch, dass der CGZP in zwei Instanzen die Tariffähigkeit aberkannt wurde. Im Dezember wird das Bundesarbeitsgericht voraussichtlich endgültig darüber urteilen. Ich hoffe, dass die Urteile der Vorinstanzen bestätigt werden und der CGZP endgültig die Tariffähigkeit aberkannt wird. Damit wäre endlich Schluss mit Billigtarifverträgen, unter denen die Beschäftigten zu leiden haben. Jetzt stellt sich die Frage, welche Folgen eine Aberkennung der Tariffähigkeit der CGZP durch das Bundesarbeitsgericht hat. Einerseits könnten diese Pseudogewerkschaften in Zukunft keine Tarifverträge mehr abschließen. Andererseits erhielten die Beschäftigten, die bisher die Leidtragenden dieser Tarife waren, erhebliche Rückzahlungen, sofern sie gerichtlich ihre Löhne anfechten. Sie hätten aber auch erhebliche Sozialversicherungsansprüche. Letztere müssten aber nicht von den Beschäftigten selbst eingeklagt werden. Die Deutsche Rentenversicherung könnte selbst tätig werden und Beiträge nacherheben, ohne dass die Beschäftigten vor Gericht gehen müssen. Entscheidend ist dabei insbesondere für die Beschäftigten, für wie viele Jahre die Sozialversicherungsbeiträge nachträglich erhoben werden können und ebenso, ob die Deutsche Rentenversicherung in der Lage ist, eine Verjährung der Ansprüche aufzuhalten. Ich bin - wie die Fraktion Die Linke - der Auffassung, dass die Deutsche Rentenversicherung diese Verjährung stoppen kann. Deswegen begrüße und unterstütze ich den Antrag der Fraktion Die Linke. Die Deutsche Rentenversicherung Bund muss schnellstmöglich handeln und vorsorglich Beitragsforderungen aus Entgelten basierend auf Tarifverträgen mit der CGZP durch Betriebsprüfungen feststellen, um rückwirkend fällige Beitragseinnahmen vor der Verjährung zu schützen. Die Bundesregierung muss endlich tätig werden und die Deutsche Rentenversicherung Bund zum Handeln auffordern. Meines Erachtens hat die Deutsche Rentenversicherung Bund die Pflicht, tätig zu werden und die Versichertengemeinschaft vor Beitragseinbußen zu schützen. Auch die circa 200 000 betroffenen Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer könnten so vor erheblichen Nachteilen geschützt werden. Bleibt die Deutsche Rentenversicherung Bund weiter untätig, müssten sie Einbußen bei ihren Rentenversicherungsansprüchen hinnehmen. Und das wäre ein Skandal. Wir können es nicht akzeptieren, dass sich die Bundesregierung hinter den Gerichten versteckt und abwartet, bis das Bundesarbeitsgericht den CGZP die Tariffähigkeit aberkennt - zumal zwei Instanzen schon eindeutige Urteile gesprochen haben. Bundesministerin von der Leyen muss endlich dafür sorgen, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund ihrer Pflicht gerecht wird. Sie hat die Rechtsaufsicht über die Deutsche Rentenversicherung und kann handeln, sofern der politische Wille vorhanden ist. Die Ministerin muss im Sinne der Beitragszahlenden handeln, und ebenso haben die Beschäftigten das Recht, von der Bunderegierung vor der Verjährung ihrer schwer verdienten Sozialversicherungsansprüche geschützt zu werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3042 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales wird vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung, was sehr schade ist. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Oktober 2010, 9 Uhr, ein. Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22.45 Uhr) Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beckmeyer, Uwe SPD 30.09.2010 Bellmann, Veronika CDU/CSU 30.09.2010 Binder, Karin DIE LINKE 30.09.2010 Daub, Helga FDP 30.09.2010 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 30.09.2010 Dr. Högl, Eva SPD 30.09.2010 Kolbe, Manfred CDU/CSU 30.09.2010 Kopp, Gudrun FDP 30.09.2010 Marks, Caren SPD 30.09.2010 Meierhofer, Horst FDP 30.09.2010 Meinhardt, Patrick FDP 30.09.2010 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 30.09.2010 Dr. Murmann, Philipp CDU/CSU 30.09.2010 Dr. Neumann (Lausitz), Martin FDP 30.09.2010 Oswald, Eduard CDU/CSU 30.09.2010 Dr. Paul, Michael CDU/CSU 30.09.2010 Pronold, Florian SPD 30.09.2010 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 30.09.2010 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 30.09.2010 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 30.09.2010 Schreiner, Ottmar SPD 30.09.2010 Schuster, Marina FDP 30.09.2010 Dr. Steinmeier, Frank-Walter SPD 30.09.2010 Süßmair, Alexander DIE LINKE 30.09.2010 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 30.09.2010 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Agnes Alpers, Jan van Aken, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Christine Buchholz, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Sevim Daðdelen, Werner Dreibus, Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Nicole Gohlke, Diana Golze, Annette Groth, Dr. Gregor Gysi, Heike Hänsel, Dr. Rosemarie Hein, Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Harald Koch, Jan Korte, Caren Lay, Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Ulrich Maurer, Dorothée Menzner, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau, Jens Petermann, Richard Pitterle, Ingrid Remmers, Michael Schlecht, Dr. Herbert Schui, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg und Katrin Werner (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Sammelübersicht 137 zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 31 i) Wir lehnen die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) - Sammelübersicht 137 zu Petitionen - auf Drucksache 17/2959 ab, weil damit fast 80 000 Jugendlichen bzw. Unterstützerinnen und Unterstützern der öffentlichen Petition für ein Grundrecht auf Ausbildung (Pet. 1-16-06-10000-026255, in der zitierten Drucksache Beschlussempfehlung 3, lfd. Nr. 15) eine öffentliche Beratung ihres Anliegens verwehrt wird. Dieses Verfahren können wir nicht mittragen. Wir werden im Gegenteil die Jugendlichen, Schülerinnen- und Schülervertretungen und Gewerkschaften weiter nach Kräften darin unterstützen, dass endlich alle Jugendlichen eine gute und umfassende Berufsausbildung bekommen. Es ist die Aufgabe der Politik, dies zu gewährleisten, statt den jungen Menschen ein öffentliches Forum für ihr berechtigtes Anliegen zu verwehren. Nach wie vor bleiben jedes Jahr Zehntausende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz. Die Zahl der Ausbildungsplätze ist in diesem Jahr nur ganz leicht um gut 2 Prozent gestiegen. Damit gibt es immer noch 4,5 Prozent weniger Ausbildungsplätze als vor zwei Jahren. Die Krise macht dem Ausbildungsmarkt offenbar weiter zu schaffen. Von den 534 605 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz konnten die Arbeitsagenturen nur 222 128 in eine Ausbildung vermitteln - das ist eine Quote von gerade einmal 42 Prozent. Trotzdem zählt die Bundesagentur nur 18 Prozent der Bewerber als unversorgt, der Rest - immerhin 215 116 Jugendliche - ist aus der Statistik verschwunden, meist weil die Jugendlichen in Warteschleifen abgeschoben wurden oder ihre Suche aufgegeben haben. Ein Großteil der Jugendlichen meldet sich schon gar nicht mehr bei den Arbeitsagenturen, weil sie sich davon keine Chancen auf eine Ausbildung versprechen. Auch sie tauchen in der offiziellen Statistik nicht auf. Die Zahlen zeigen deutlich: Die Zukunftsperspektiven der Jugendlichen werden seit vielen Jahren mit Füßen getreten. Es wäre das Mindeste gewesen, die Initiatorinnen und Initiatoren der vorliegenden Petition zu einer öffentlichen Anhörung in den Bundestag einzuladen, um ihr Anliegen ernst zu nehmen und zu beraten. Der sang- und klanglose Abschluss der Petition in der vorliegenden Sammelliste wird den Zehntausenden Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern mit ihrem Anliegen in keiner Weise gerecht. Aus diesen Gründen lehnen wir die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) zur Sammelübersicht 137 zu Petitionen - Bundestagsdrucksache 17/2959 - ab. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur vereinbarten Debatte: Bilanz und Zukunftsperspektiven der wissenschaftlichen Politikberatung "Technikfolgenabschätzung" (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Dass das Büro für Technikfolgeabschätzung ausgerechnet 1990 gegründet wurde, war für mich zum einen überraschend, zum anderen aber auch folgerichtig. Überraschend, weil es ja nun wirklich Zeiten waren, in denen sich politische Ereignisse gegenseitig in die Hacken traten. Sich unter diesem Druck, Zeit für die Umsetzung eines Projektes wie der Gründung des TAB zu nehmen, ringt mir Respekt ab. Mithin, diese Bemerkung sei mir gestattet, stand der Einigungsprozess bis heute im Zeichen von Folgeabschätzung. Umstritten blieb, wie sich der wirtschaftliche Strukturwandel in den Neuländern vollziehen sollte. Das Besondere an diesem Transformationsprozess besteht darin, dass er sich eingebettet in einen zunehmend globalen Strukturwandel der klassischen Industriegesellschaft vollzog. Von Wissens- und Informationsgesellschaft zu sprechen, ist in der Politik modern geworden. Und mit Blick auf diesen grundlegenden Strukturwandel war die Gründung des TAB notwendig und folgerichtig. Es musste offensiv und prospektiv reflektiert werden, dass alle Lebensbereiche, dass unsere Lebensweise in größerer Komplexität von Wissenschafts- und Technologieentwicklung - insbesondere den Informations- und Kommunikationstechnologien - geprägt werden. Systematisch musste neues wissenschaftliches und technologisches Wissen analysiert werden. Im Spiegel des Bestehenden waren und sind Anwendungsoptionen abzuschätzen. Aus Sicht der Linken sind der gesellschaftliche und kulturelle Kontext, sind demokratische, digitale, ökonomische, ökologische, soziale, demografische und ethische Perspektiven zu bedenken. Hier zeigen sich selbstverständlich Konflikte in der Bewertung, erst recht in politischen Entscheidungen. So liegen für Die Linke in Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit existenzielle Schutzinteressen von Gesellschaft und Natur. Sie sprengen das Korsett von Verwertungs- und Wettbewerbslogik. Insofern stoßen nicht selten die spannenden Empfehlungen aus den Studien des TAB an Grenzen, die politische Machtverhältnisse setzen. Dennoch bieten sie wichtige Anregungen, Argumente und Fakten für parlamentarische Entscheidungen, für Kontrolle und kritische Auseinandersetzung mit Vorhaben der jeweils Regierenden und für öffentliche Diskurse. Das TAB hat dazu beigetragen, Wissenschaft und Politik in neuer Qualität näher zusammenzubringen, wobei weder Politik verwissenschaftlicht noch Wissenschaft politisiert werden sollten. Immerhin unterscheiden sich Blickwinkel, Deutungen, Interessen, Erwartungen und Verantwortung. Dennoch durchzieht die Ver-führung, sich gegenseitig zu instrumentalisieren, viele Prozesse der Auseinandersetzung. Aber glücklicherweise kann im Zweifelsfalle immer mal wieder auf das Grundgesetz verwiesen werden. Und schließlich lässt sich auch selbstbewusst festhalten: Das TAB hat - gewollt oder ungewollt - geholfen, die Forschungs- und Technologiepolitik der Regierungen einer sachgerechten, inhaltlichen Kritik zu unterziehen. Besser noch wäre, könnten sich Parlament und interessierte Öffentlichkeit an der Debatte über die Ausrichtung beteiligen. Aber da arbeiten wir dran! Die Verdienste des TAB können hier nur fragmentarisch aufgezeigt werden. Aber sie sind hinreichend, dieses Podium zu nutzen, um für eine bessere Ausstattung des TAB zu werben. Das wäre tätiger und bester Dank des Parlaments. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken (Tagesordnungspunkt 15) Marlene Mortler (CDU/CSU): "Nirgendwo schmeckt Idylle besser", hieß es vergangenen Sonntag in einem gelungenen Artikel der Berliner Morgenpost. Der Artikel hat meine Aufmerksamkeit geweckt, weil er mit diesen Worten meine fränkische Heimat wunderbar beschreibt und weil er beispielhaft zeigt, worin die Stärken des Deutschlandtourismus liegen: in der besonderen Authentizität, der besonderen Vielfalt der einzelnen Regionen. Deshalb sind auch Sie, so wie ich, stolz auf Ihre, unsere Heimat. Heimat! Gerade die Menschen vor Ort sorgen dafür, dass unser Reiseland so attraktiv ist. Ob Nord- und Ostsee, Harz, Eifel, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz, Erzgebirge, Schwarzwald, Teutoburger Wald, Bayerischer Wald, Rhön, Allgäu oder Fränkisches Seenland, um nur einige zu nennen - die Kulturlandschaft dieser Regionen ist das Ergebnis von Landbewirtschaftung über Jahrhunderte hinweg. Vitale ländliche Räume sind keine idealisierten Bilderbuchlandschaften. Vitale ländliche Räume brauchen eine wirtschaftliche Basis. Früher haben Menschen nur dann dort leben können, wenn sie eine wirtschaftliche Basis hatten; wenn nicht, mussten sie weiterziehen. Mein Dorf, meine Heimat ist so ein Anker. Am kommenden Sonntag findet in meinem 250-Einwohner-Dorf der Tag der Regionen statt. Wir erwarten Tausende Besucher bzw. Tagesgäste. Der Themenschwerpunkt in diesem Jahr lautet "KulturLandschaft" - wie passend! Dehnberg bietet hierfür die idealen Voraussetzungen. Unser Dehnberger Hoftheater ist eine bekannte kulturelle Institution im Landkreis mit hohem Niveau. Dehnberg selber liegt eingebettet in eine schöne Kulturlandschaft. Hier können wir die beiden Themen authentisch miteinander verbinden. Und landschaftliche und kulturelle Vielfalt sind Werte, die unsere Lebensqualität mitbestimmen, die wir pflegen und bewahren müssen. Deshalb ist die regionale Wertschöpfung in Deutschland so wichtig. Der Tourismus steht dafür. Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, denn er bietet Arbeitsplätze vor Ort. Es sind Arbeitsplätze, die nicht exportierbar sind. Als arbeitsintensive Branche sichert er bundesweit immerhin 2,8 Millionen Arbeits- und 115 000 Ausbildungsplätze, quer durch unser Land dank der touristischen Vielfalt in Stadt und Land. Und noch ein Grund zur Freude: Das Reiseland Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Die jüngsten Gästezahlen sind geradezu sensationell. Wir sprechen vom besten Halbjahresergebnis aller Zeiten. Die Gästeübernachtungen aus dem In- und Ausland stiegen insgesamt um 3 Prozent (Inlandsgäste: plus 2 Prozent, Auslandsgäste: plus 9 Prozent). Diesen Schwung müssen wir weiter nutzen. Das heißt, wir wollen Deutschland und seine Kulturlandschaften als Reiseland noch intensiver bewerben. Nicht nur in den großen Städten, gerade in den ländlichen Gebieten ist das Geschäft mit der Reiselust ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es ist oft Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit unverzichtbaren Impulsen für den lokalen Arbeitsmarkt. Nachgelagerte Bereiche wie der Einzelhandel, die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft, die Genussmittelindustrie, das Transportgewerbe, der Kulturbereich profitieren davon erheblich. Bei all diesen wirtschaftlichen Betrachtungen darf eines nicht aus dem Blick geraten: Elementare Grundlage für den Tourismus im ländlichen Raum ist eine intakte Natur und eine attraktive Kulturlandschaft. Damit können wir bei den Reisenden aus dem In- und Ausland punkten. Denn Umweltprobleme in den weltweiten Urlaubsregionen werden von den Reisenden zunehmend wahrgenommen. Sie beeinflussen die Reiseplanung so sehr, dass inzwischen jeder zweite Urlauber sagt: Das Wetter spielt nicht mehr die entscheidende Rolle; schöne Landschaften, eine unberührte Natur und eine saubere Umwelt stehen für mich hoch im Kurs. Im globalen Dorf wird Nachhaltigkeit (überall) als "die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen" verstanden. Zeitschriften wie Landlust, Schönes Land, mein liebes Land und andere gehen weg wie warme Semmeln. Der Trend zum Unverfälschten, zum Natürlichen ist eindeutig. Ich zitiere aus der Welt: Nachhaltiges Reisen wird zum neuen Trend. Lange galt das Motto: schneller, höher, weiter. Doch die Tourismusbranche muss umdenken, denn die Wünsche der Urlauber haben sich gewandelt. Das Meer lindert Schmerzen. Wellenrauschen wirkt sich positiv auf Angst und Stress aus. Ist das Wasser türkis, senkt das den Blutdruck. Gebirge, Wüsten und dramatische Regionen lösen ein Feuerwerk an Glückshormonen aus. Die stärkste mentale Wirkung aber üben Landschaften mit lockerer Vegetation, geschwungenen Wegen, sanften Hügeln und eingesprenkelten Gewässern aus. In allen Fällen sind körperliche Reaktionen messbar gesundheitsfördernd, das belegt die junge Disziplin der Landschaftspsychologie. Ein Beispiel: Hopfen und Bier, das gehört zusammen. Ich denke hier an die Hopfengärten rund um Spalt, die so typisch und landschaftsbildprägend sind. Aber auch an die einzigartige Spalter Brauerei, die einzige Brauerei Deutschlands, die von seinem Bürgermeister "regiert" wird. Mit unserem Antrag wollen wir einen Beitrag leisten, dieses Potenzial noch stärker zu nutzen. Unser Ziel ist klar: Nicht nur die großen Städte, auch die ländlichen Räume (strukturschwachen Räume) sollen sich durch zusätzliche wirtschaftliche Impulse weiter entwickeln. Der Weg: die bessere Verknüpfung von Tourismus und Landschaftspflege einerseits und noch mehr Verständnis für Tourismus und Landbewirtschaftung andererseits. Landschaftspflege ist ein wichtiges Segment. Aber von der Landschaftspflege allein können Bauern und Verbraucher nicht leben. Landbewirtschaftung heißt also zum einen, die Landschaft in ihrer Vielfalt zu erhalten; zum anderen heißt es aber auch, die Kulturlandschaft zu nutzen, zu gestalten und zu pflegen, um von ihren Erträgen zu leben. Die Land- und Forstwirtschaft braucht wiederum uns als Verbraucher. Das heißt, wir haben es in der Hand, dass wir heimische Produkte noch mehr schätzen und gezielt einkaufen. Tourismus und Landwirtschaft brauchen sich gegenseitig. Der Tourismus stärkt die Wirtschaft. Er trägt auch dazu bei, dass sich Landbewirtschaftung weiter lohnt. Für den Einheimischen ist es Heimat auf dem Teller und für den Gast Urlaub zum Mitnehmen. Der Blick fürs Ganze zeigt doch auch, dass - das wird mir immer wieder in intensiven Gesprächen bewusst - eine gepflegte Landschaft mit einem verlässlichen Rechtsrahmen eine Errungenschaft ist, um die wir weltweit beneidet werden. Darum machen wir Deutsche am liebsten Urlaub im eigenen Land. Das ist ein Trend, der in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Aber auch ausländische Gäste schätzen diese Tatsache. Um die attraktive Vielfalt unserer Kulturlandschaften zu sichern, sollen daher nach unserem Willen, nach dem Willen der Unionsfraktion, das nationale Naturerbe, Naturschutzprojekte des Bundes, die nationalen Natur- und Kulturlandschaften sowie das Bundesprogramm "Biologische Vielfalt" vor allem über freiwillige Kooperationen weiter unterstützt werden. Zudem sollen naturtouristische Angebote im Rahmen von Modellvorhaben entwickelt und erprobt werden. Die Achtung des Eigentums und der vorrangige Weg der freiwilligen Kooperation sind bisher wesentliche Garanten des Erfolgs. Ökologie, Ökonomie und Soziales sind im Miteinander zu betrachten. Festlegungen über die gute fachliche Praxis hinaus, wie wir sie in der Landwirtschaft kennen und befolgen, sind deshalb finanziell auszugleichen. Bei den anstehenden Diskussionen über die Weiterentwicklung der EU-Politik nach 2013 setzen wir uns für eine Fortführung der starken ersten Säule und eine finanziell gut ausgestattete zweite Säule in der gemeinsamen EU-Agrarpolitik ein. Agrarumweltprogramme und Vertragsnaturschutz sowie die Ausgleichszulage sind wichtige Instrumente zur Stärkung des Tourismus in ländlichen Gebieten. Dafür kämpfen wir! Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Tourismuskonzeption für den ländlichen Raum angekündigt. Ich führe dazu vielfältige Expertengespräche, um das Ganze auf den Weg zu bringen. Denn: Nirgendwo schmeckt Idylle besser. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Der ehemalige Europaabgeordnete und Südtiroler Bergsteiger Reinhold Messner hat vor Jahren dazu aufgefordert, der Globalisierung das Regionale entgegenzusetzen. Meines Erachtens hatte Reinhold Messner schon damals recht. Regionalität bildet das Gegengewicht zur Globalität. Die Regionen als Kultur- und Lebensräume gewinnen an Bedeutung. Mit der Unsicherheit des Menschen über die Auswirkungen der Globalisierung wächst das Bedürfnis nach kultureller Verankerung und Vergewisserung der eigenen Identität. Urlaub im eigenen Land, im ländlichen Raum mit Angeboten für Wellness und Erholung ist ein aktueller Trend mit wirtschaftlichem Potenzial. Diese Beobachtung kann ich auch aus meiner Praxis als Vorsitzender des Tourismusverbandes Sächsische Schweiz bestätigen. Das Segment Landtourismus ist ein wachsender Markt, der Landwirten zusätzliche Einnahmemöglichkeiten bietet und jungen Menschen eine Zukunft in der eigenen Heimat ermöglicht. Diese Entwicklung ist auf der einen Seite zu begrüßen, da die regionale Wirtschaft und die Einwohner davon profitieren. Gerade nahe gelegene Urlaubsregionen wie Nord- und Ostsee, Harz, Eifel, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz, Erzgebirge, Schwarzwald, Teutoburger Wald, Bayerischer Wald, Rhön und Allgäu gewinnen dadurch an Bedeutung. Auf der anderen Seite offenbaren sich uns dort aber auch Probleme: Viele dieser attraktiven Landschaften und flächendeckenden Landbewirtschaftungen durch Landwirte sind gefährdet. Besonders betroffen sind die Mittelgebirge mit ihren mageren und schwer zu bewirtschaftenden Böden. Hier setzt der heutige Antrag an. Es handelt sich aus meiner Sicht um einen Dreiklang. Denn wir fordern, dass Tourismus, Landschaftspflege und Landwirtschaft künftig enger zusammenarbeiten sollen. Nach unserer Ansicht können Tourismus, Landwirtschaft und Landschaftspflege in den Regionen, in denen eine wirtschaftlich tragfähige Landbewirtschaftung zunehmend schwieriger wird, gemeinsam gegensteuern: Der Tourismus stärkt die Wirtschaft der Region und trägt so dazu bei, dass sich Landbewirtschaftung weiter lohnt. Im Gegenzug sichert Landschaftspflege nachhaltige Nutzungen und schafft so eine besondere Grundlage für erfolgreichen Tourismus. Dieses Wechselspiel gilt es zu stärken. An dieser Stelle möchte ich unserem Kollegen Josef Goppel danken, der als Vorsitzender des Deutschen Landschaftspflegeverbandes uns als Tourismuspolitiker der Union für dieses Problem sensibilisiert hat und Mitinitiator des Antrages ist. Gerne haben wir seine Ideen aufgenommen und in den vorliegenden Antrag einfließen lassen. Persönlich freue ich mich außerordentlich, dass das Thema Landschaftspflege und Tourismus zum ersten Mal im Deutschen Bundestag debattiert wird. Diese Thematik darf gerade hinsichtlich ihrer querschnittsübergreifenden Bedeutung künftig nicht unterschlagen und von der Agenda gestrichen werden. Schon Carl von Carlowitz, ein sächsischer Oberbergmann, erkannte als Erster im 18. Jahrhundert die Wichtigkeit von einem nachhaltigem Umgang mit der Natur- und Kulturlandschaft und schrieb: "Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen/wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe/ weiln es eine unentberliche Sache ist/ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag." Diesem Gedanken folgend möchte ich noch einmal betonen, dass eine nachhaltige Tourismusentwicklung ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen vereint. Nur so kann aus meiner Sicht eine stärkere Nutzung regionaler Produkte im Tourismus sehr gut mit Naturschutz einhergehen und gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen. Darüber hinaus trägt der Tourismus erheblich zum Lebensstandard und zum Lebensgefühl der Bevölkerung bei und ist ein wichtiger Teil der Identifikation einer Region, der Heimatverbundenheit sowie der Pflege von Brauchtum und Traditionen. Kurze Transportwege, regionale Wirtschaftskreisläufe sowie mehr Wertschöpfung und Arbeitsplätze vor Ort sind Ergebnisse einer Synergie von Tourismus, Landwirtschaft und Landschaftspflege und dienen dem Klimaschutz. Es lohnt sich deshalb, die Zusammenarbeit von Naturschutz, Landwirtschaft und Tourismus weiter auszubauen. Aus meinem eigenen Wahlkreis ist mir beispielsweise das gelungene Naturschutzgroßprojekt "Bergwiesen" bekannt. Projektträger ist mein eigener Wahlkreis "Sächsische Schweiz - Osterzgebirge". Ziel ist es dort, die einzigartigen Wiesenlandschaften mit ihrer schützenswerten naturräumlichen Ausstattung und bemerkenswerten Flora und Fauna zu erhalten und ihre Attraktivität sowohl für Einheimische als auch für Gäste zu erhöhen. Neben dem ästhetischen Erfolg ist eine deutlich gewachsene Besucherzahl aus weiten Teilen Deutschlands und Tagesbesuchern aus der näheren Umgebung zu konstatieren. All das wäre selbstverständlich ohne das großartige Engagement der Landwirte und der vielen ehrenamtlich Tätigen vor Ort nicht möglich. Diesen gilt insbesondere mein Dank. Aber wir müssen an dieser Stelle auch ganz klar sagen: Die Landwirte brauchen in Zukunft ein verlässliches Finanzierungskonzept, um ihr langfristiges Überleben zu sichern. Landschaftspflege muss sich für Landwirte auch lohnen, und die bürokratischen Hemmnisse bei der Mittelbewilligung und beim Mittelabfluss müssen abgebaut werden. Auch im Interesse einer nachhaltigen Tourismus-entwicklung muss hier künftig eine größere Unterstützung erfolgen. Die vielfältigen Kulturlandschaften sind ein wichtiger Beitrag zur touristischen Attraktivität unseres Landes. Sie sind das Ergebnis der seit Jahrhunderten durchgeführten Landbewirtschaftung. Durch die einsetzende Gefährdung gilt es meines Erachtens, die Zusammenarbeit und die Vernetzung zwischen Tourismus und Landschaftspflege im ländlichen Raum zu intensivieren. Nur durch diese Zusammenarbeit kann die attraktive Vielfalt unserer Kulturlandschaft gesichert werden. Das nationale Naturerbe, die Naturschutzgroßprojekte des Bundes, die nationalen Natur- und Kulturlandschaften sowie das Bundesprogramm "Biologische Vielfalt" müssen weiter unterstützt werden. Meines Erachtens bietet die engere Verknüpfung von Tourismus, Landschaftspflege und Landwirtschaft eine Vielzahl von ökonomischen und ökologischen Chancen. Das, was sie auf jeden Fall bietet, ist eine Besinnung auf die eigene Heimat, den Erhalt ihrer Natur und eine Chance zur Stärkung des Gemeinsinns. Dafür lohnt es sich, zusammen einzutreten. Heinz Paula (SPD): Deutschland bietet eine große Vielfalt an Natur und Landschaft: Küsten, Seen, Flüsse, Wattlandschaften, sandige Heiden oder Mittel- und Hochgebirge. Das Potenzial in ländlichen Regionen mit ihrem unverwechselbaren kulturellen Erbe, ihren vielseitigen Landschaften und ihrer Naturnähe erkennen zunehmend mehr Urlauberinnen und Urlauber. Naturnahe Landschaften haben eine enorme touristische Anziehungskraft. Touristinnen und Touristen aus Deutschland und der gesamten Welt erholen sich an den Seen, wandern in den Bergen, erkunden die Naturschutzgebiete und besuchen die vielen Sehenswürdigkeiten. Für 40 Prozent gehören Urlaub und Naturerleben zusammen - Tendenz steigend. Ländliche Regionen mit ihrer Naturnähe und Tourismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Insbesondere für strukturschwache ländliche Regionen ist die nachhaltige touristische Nutzung der Naturlandschaften ein bedeutender ökonomischer Faktor. Er ist eine tragende Säule für ihre Wirtschaftskraft. Mit rund 2,8 Millionen Beschäftigten und über 100 000 Ausbildungsplätzen ist die Tourismusbranche einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutschland. Die Anzahl der Gästeübernachtungen in Deutschland beträgt 2008 laut DRV 370 Millionen. Die Reiseausgaben der Deutschen beliefen sich im Inland auf über 66 Milliarden Euro (Statistik DZT). Zugleich stärkt der Tourismus auch die Verbundenheit mit der Heimat und trägt dazu bei, dass dem Erhalt von Natur und Landschaft ein hoher Wert beigemessen wird. Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig ist der Landtourismus auf eine vielseitige, intakte Natur und Umwelt angewiesen. Zersiedelte und verbaute Landschaften locken die wenigsten. Ein "gesundes Klima" ist vielen Menschen dabei besonders wichtig. Daher gilt: Ein naturnaher Landtourismus bietet großes Potenzial, stellt uns aber gleichzeitig vor große Herausforderungen. Ziel bei allen Überlegungen hinsichtlich naturtouristischer Angebote muss daher sein, die Vielfalt unserer Natur zu schützen. Ökologische Aspekte und der Grundsatz der Nachhaltigkeit müssen hier als Gradmesser im Wettbewerb herausgestellt werden. Ein Tourismuskonzept für ländliche Regionen muss in Einklang stehen mit dem Natur- und Umweltschutz sowie einer nachhaltigen Landwirtschaft und muss zugleich auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie den demografischen Wandel einbeziehen. Ihr Antrag "Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken" ist - mit Verlaub - das Papier nicht wert, auf dem er steht. Alle wesentlichen Punkte zur Stärkung ländlicher Regionen bleiben für uns Sozialdemokraten im Forderungsteil unberücksichtigt. Lassen Sie mich dies an ein paar Punkten verdeutlichen: Kein Wort über eine ressortübergreifende Politik, die sich an den Problemen der ländlichen Regionen orientiert und eine integrierte ländliche Entwicklung unterstützt. Kein Wort zur Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe "Agrarstruktur und Küstenschutz" sowie der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" als zentrale Förderinstrumente länd-licher Regionen. Kein Wort zu der Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements als tragende Säule des gemeinschaftlichen Zusammenlebens im ländlichen Raum. Fehlanzeige auch in der Frage von barrierefreien Angeboten insbesondere beim Naturerleben. Fehlanzeige ebenso bei der Frage einer passgenauen Aus- und Fortbildung für Touristiker, bei der Kenntnisse über die nationalen Naturlandschaften und Ziele eines nachhaltigen Tourismus verbindlich aufgenommen werden. Mit unseren beiden Anträgen - "Nationale Naturlandschaften - Chancen für Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwicklung" aus dem Jahr 2006 und "Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume" aus dem Jahr 2007, die wir gemeinsam noch mit den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU in der Regierungskoalition beschlossen haben, waren wir schon viel, viel weiter. All die genannten Punkte finden Sie in den Anträgen wieder. Ich empfehle Ihnen: Holen Sie sich diese aus der Schublade! Es lohnt sich. Auffallend ist, dass Sie den Begründungsteil Ihres Antrages in weiten Teilen aus der Resolution des Deutschen Verbandes für Landschaftspflege von 2008 abgeschrieben haben. Auffallend ist allerdings auch, dass Sie die Handlungsbedarfe und Forderungen der Resolution nicht übernommen haben, wie beispielsweise - ich zitiere - "dass der Tourismus nicht auf umweltbelastende und landschaftszerstörende Großprojekte setzt", "dass sich der Tourismus an den Kosten beteiligt, die zum Erhalt der Kulturlandschaft erforderlich sind". Dazu gehört auch die Forderung nach "einer Reform des kommunalen Finanzausgleichs". Auffallend ist ferner, dass Sie in Ihrem Forderungsteil ländliche Räume erneut wieder nur einseitig - als Wirkungsfeld agrarischer Prozesse - verstehen. Einen ressortübergreifenden Politikansatz, der sich an den Menschen vor Ort orientiert und eine integrierte ländliche Entwicklung unterstützt, sucht man vergebens. Auffallend ist ebenso, dass Sie in der Diskussion über die Weiterentwicklung der EU-Politik nach 2013 - ich zitiere - "für die Fortführung einer starken ersten Säule und für eine finanziell gut ausgestattete zweite Säule der gemeinsamen EU-Agrarpolitik eintreten". Eine Strategie hinsichtlich der weiteren Ausrichtung der EU-Agrarpolitik wird allerdings nicht erkennbar. Für Sie gilt: weiter so wie bisher. Hier sind die EU und wir Sozialdemokraten schon weiter. Wir wollen die Direktzahlungen stärker konditionieren, das heißt zum Beispiel Basisprämie, der Rest der Direktzahlungen als an Leistung, zum Beispiel Umweltschutz, gekoppelte Prämie. Sie präsentieren sich als Anwalt des ländlichen Raumes und machen sich für eine zweite Säule stark. Gleichzeitig setzen Sie genau dort den Rotstift an, wo Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft und der ländlichen Räume gefördert werden. Sie kürzen die Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutz" um 100 Millionen Euro und ebenso die Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" um 10 Millionen Euro als zentrale Förderinstrumente ländlicher Räume. Das ist der Gipfel der Dreistigkeit. Oder soll ich es so verstehen, dass Sie Ihren kapitalen Fehler korrigieren wollen? Ich meine unsere ländlichen Regionen haben mehr Sorgfalt verdient. Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP auf: Wachen Sie auf! Machen Sie endlich Schluss mit solch halbherzigen und scheinheiligen Initiativen! Fazit: Ihr Antrag für eine Stärkung der ländlichen Regionen ist völlig unzureichend, ja überflüssig. Wir lehnen Ihren Antrag deshalb ab. Wir fordern Sie vielmehr auf, unsere fundierten CDU/SPD/CSU - Anträge "Nationale Naturlandschaften - Chancen für Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwicklung" aus dem Jahr 2006 und "Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume" aus dem Jahr 2007 konsequent umzusetzen. So dienen wir der Entwicklung ländlicher Räume und stützen die Belange des Tourismus. Jens Ackermann (FDP): Der ländliche Raum verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Wer die Schaffung gleicher Lebensbedingungen in allen Teilen Deutschlands als Auftrag ernst nimmt, weiß das. Doch wie können wir den ländlichen Raum stärken? Die Landwirtschaft allein schafft dies sicher nicht, der demografische Wandel schreitet munter voran. Immer mehr junge Menschen wandern in Ballungsräume ab. Solange dort die wirtschaftliche Entwicklung so viel positiver ist als auf dem Land, wird sich dieser Trend noch fortsetzen. Eine Antwort bietet der Tourismus. Die Schaffung vieler - auch hochqualifizierter - Beschäftigungsverhältnisse in dieser Zukunftsbranche kann hier einen Umschwung einläuten. Doch damit nicht genug: Die Verknüpfung von Tourismus und Landschaftspflege, die wir bereits im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP beschlossen haben, bringt auch einen Mehrwert jenseits des Tourismus: Sie erhält bzw. belebt Landschaften wieder, ist aktiv gelebter Umweltschutz und führt zu einem Strukturwandel, der nicht "Heimat" zerstört, sondern durch ihre Bewahrung Neues ermöglicht. Wir müssen auf nachhaltige Tourismusprojekte setzen, damit die Qualität der Destinationen erhalten bleibt oder oft noch besser ausgebaut wird. Dieses enorme Potenzial spiegelt sich in den Gästezahlen wider: Tourismus in Deutschland ist ein Boommarkt. Die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass die Ankünfte in Deutschland im Jahr 2009 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 9 Prozent gestiegen sind. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen. Die Einwohner vor Ort haben in einer landschaftlich reizvollen Gegend eine höhere Lebensqualität. Es kann eine Angebotsvielfalt entstehen, vom Müritz-Nationalpark in Mecklenburg-Vorpommern über die Magdeburger Börde und Regensburg bis zu den Bayerischen Alpen. Davon profitieren Kommunen und die regionale Wirtschaft gleichermaßen. Ich darf Sie bitten, uns bei dieser wirklich wichtigen Strukturmaßnahme zu unterstützen. Kornelia Möller (DIE LINKE): Ihr heutiger Antrag erinnert stark an Ihren Antrag zum Kulturtourismus, den wir im Februar beraten hatten. Thematisch haben die beiden Anträge zwar nicht viel miteinander zu tun, sie gleichen sich allerdings in ihrer Substanzlosigkeit. Wieder ein Schaufensterantrag, genau wie beim letzten Mal. Von Ihnen, Frau Mortler, und Ihnen, Herr Meierhofer, gerade als bayerische Abgeordnete hätte ich aber mehr erwartet. Sie könnten besser wissen, wie man Landtourismus effektiv gestaltet. Schließlich steht unser schönes Bayern im Bundesvergleich mit circa 60 Millionen Übernachtungen jährlich in den Landkreisen weit vorne. Machen Sie sich doch vor dem Schreiben eines Antrags persönlich vor Ort kundig, zum Beispiel bei einem Aktivurlaub auf Kulturlandschaftspfaden, wie Tourismus und Landschaftspflege zusammengebracht werden können. Finden Sie vorher heraus, welche konkreten Schritte für die Beteiligten vor Ort nötig sind, um eine Optimierung im Sinne einer wirklichen Verknüpfung von Tourismus und Landschaftspflege zu erreichen. Stichwort: LEADER und sein Nutzen für Landwirt und Eigentümer. Ihr Antrag, Frau Mortler und Herr Meierhofer, ignoriert die aktuelle Entwicklung in der Landwirtschaft, die hin zu einer Industrialisierung geht, was für Natur und Umwelt und damit auch für den naturorientierten Tourismus fatale Auswirkungen hat. Den in Ihrem Antrag angesprochenen Direktzahlungen als erster Säule in der europäischen Agrarpolitik müssen ökologische und soziale Verpflichtungen der Zahlungsempfänger an die Seite gestellt werden, sonst fördern Sie lediglich den negativen Strukturwandel wie zum Beispiel das Höfesterben. Sie tragen mit Ihrem Antrag nichts bei zum Erhalt der biologischen Vielfalt, zum Klimaschutz oder zur nachhaltigen Entwicklung in ländlichen Räumen. In diesem Sinne ist Ihr Antrag sogar kontraproduktiv. Zudem blenden Sie wesentliche Entwicklungen der letzten Jahre aus, wie zum Beispiel die zunehmende Flächenkonkurrenz in den Kultur- und Naturräumen zwischen Landwirtschaft und regenerativer Energie (Photovoltaik, Windenergie, Maisanbau für Biogas usw.) oder die Flächenbelastung durch unnötigen weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Eine sinnvolle Herangehensweise an die Verknüpfung von Tourismus und Landschaftspflege ist es, ein Tourismuskonzept für den ländlichen Raum zu entwickeln, das den Herausforderungen für den Landtourismus gewachsen ist. Es ist zwar schön, dass im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP vorgesehen ist, eine Tourismuskonzeption für den ländlichen Raum zu erstellen. Wenn dieses zeitlich so weit nach hinten rückt, dass nicht einmal die antragstellenden Damen und Herrn Koalitionäre darauf warten können, ist es fraglich, welchen Wert es hat. Ein sinnvolles Tourismuskonzept muss die verschiedenen Entwicklungen im ländlichen Raum unter einen Hut bringen, wie zum Beispiel eine meist defizitäre Infrastruktur, den Strukturwandel in der Landwirtschaft, den demografischen Wandel und eine sich verändernde Tourismusnachfrage. In Ihrem Forderungsteil gehen Sie nicht einmal auf einen dieser Aspekte ein. Sie stellen fest, dass Menschen öfter reisen und kürzere Zeit am Urlaubsort verbleiben, doch ziehen Sie daraus keine Konsequenzen. Diese veränderte Urlaubskonzeption führt zu einem erhöhten Verkehrsaufkommen und zur stärkeren Umweltbelastung, wenn wir nicht gleichzeitig ökologische und umweltverträgliche - und nachhaltige - Verkehrswege durch Bahn und ÖPNV gewährleisten und dem Rückzug der Bahn "aus der Fläche" entgegenwirken. Ein Beispiel für ein weitreichendes und erfolgreiches Verkehrskonzept ist das Gästeservice Umwelt-Ticket, GUTi, im Bayerischen Wald. Es beinhaltet für Gäste der an diesem Konzept beteiligten Gemeinden eine kostenlose Beförderung im gesamten Bayerwald-Ticket-Tarifgebiet. Dadurch können verschiedene Ausflugsziele im Bayerischen Wald umweltschonend erreicht werden. Sie sprechen auch von nachhaltiger Tourismusentwicklung - und das ist gut so. Peinlich wird es dann allerdings, wenn wir daraufhin konkrete Ideen suchen. Alles, was Sie in Ihrem Feststellungsteil zu bieten haben, ist die Nutzung von regionalen Produkten im Tourismus. Aber entschuldigen Sie bitte, es gehört doch allgemein zum "bewussten" Konsum, beim Einkauf auf die regionale Herkunft der Produkte zu achten. Es entsteht ja fast der Eindruck, dass Sie nur im Bereich Tourismus Wert auf einen verantwortungsvollen Konsum legen und Ihnen sonst nichts einfällt. Wie ich eingangs erwähnte, liegt Bayern bei den Übernachtungen, gemessen an Beherbergungsstätten mit 9 und mehr Betten, mit 60 Millionen Übernachtungen im Jahr 2009 in den bayerischen Landkreisen bundesweit auf dem ersten Platz. Und Landtourismus ist eine der am stärksten wachsenden Urlaubsformen. Leider gibt es keine bundesweit belastbaren Zahlen oder amtlichen Statistiken zur Bedeutung und Entwicklung des Tourismus im ländlichen Raum. Die alle zwei Jahre stattfindenden Untersuchungen auf Basis der Reiseanalyse des Instituts für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa GmbH reichen nicht aus. Man bekommt den Eindruck, als interessiere sich die Bundesregierung nicht für diesen wichtigen regionalen Wirtschaftszweig. Ist Ihr Feststellungsteil schon schwammig, toppt der Forderungsteil das noch. Da belassen Sie es bei freiwilligen Kooperationen mit Grundeigentümern und Bauern, um die Sicherung artenreicher und attraktiver Landschaften zu unterstützen, was ja schon mal ein Anfang ist. Bindende Zusagen an die Grundeigentümer und Landwirte fehlen ebenso wie eine finanzielle Unterstützung für Landwirte, damit sie die Aufgabe, die sich ihnen stellt, auch erfüllen können. Wenn Sie vor allem Behörden und Verbände stärken möchten, können Sie dies so beantragen. Jedoch ist dieser Antrag für Bodeneigentümer und Landnutzer ungeeignet. Ein ernst gemeinter Antrag im Sinne der Verbindung von Tourismus und Landschaftspflege muss sehr viel umfassender ansetzen und Verbindlichkeiten schaffen. Zu nennen wären da beispielsweise die Erweiterung der Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz, GAK, unter Berücksichtigung der Barrierefreiheit als wichtiges Element des Qualitätstourismus im ländlichen Raum, ein Innovationsprogramm für Angebote im ländlichen Raum, das durch konkrete Förderprogramme für nachhaltigen Tourismus flankiert wird, und der Ausbau des Breitbandanschlusses. Bei Ihnen fehlt es jedoch an konkreten konzeptionellen Überlegungen, die über schwammig gehaltene "Freiwilligkeiten" hinausgehen und denen bindende Maßnahmen folgen. Zudem muss die Bundesregierung in all ihren Anstrengungen die Schaffung von barrierefreiem Landtourismus im Auge haben und gewährleisten. Man kann noch nicht einmal sagen, Sie seien als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Mit diesem Antrag bleiben Sie gleich als Bettvorleger liegen. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bedeutung der ländlichen Räume wird oft unterschätzt. Um die Bedeutung der ländlichen Bereiche unseres Landes zu ermessen, muss man sich zunächst mal einige grundlegende Dinge vor Augen führen: Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung leben in ländlich geprägten Regionen. In diesen Regionen existieren mehr als 23 Millionen Arbeitsplätze, und hier werden 57 Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands erbracht. Sie sind aber nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsstandort, sondern aufgrund ihrer reichhaltigen Naturausstattung Lebensräume für Fauna und Flora und vor allem Rückzugs- und Erholungsraum für den Menschen. Im ländlichen Raum liegen also zentrale ökologische, aber auch ökonomische Zukunftsperspektiven, die in Angriff genommen werden müssen. Gleichwohl müssen Antworten auf soziale Herausforderungen wie den demografischen Wandel gefunden werden. Tourismuspolitisch können wir auch die steigende Beliebtheit der Inlandsreisen und hier vor allem des Kurzurlaubs erkennen. Das ist eine große Chance, den vielen ländlichen Regionen eine neue wirtschaftliche Perspektive zu geben. Gleichzeitig ermöglicht ein nachhaltiger Tourismus den Erhalt unserer Kulturlandschaften. Er leistet darüber hinaus einen Beitrag etwa zum Erhalt der Biodiversität. Damit die im Einleitungsteil erwähnte Situationsanalyse aber auch ihre gewünschte nachhaltige - also ökologische, ökonomische und soziale - Wirkung für den ländlichen Raum entfaltet, ist eine Vielzahl von Parametern zu beachten. Diese bleiben in dem Antrag unerwähnt. Und genau da treffen wir das Manko des Antrags: Die Forderungen passen nur teilweise zu ihrer Analyse. Es fehlt an Verbindlichkeit und damit letztlich an Stimmigkeit. Da hätte ich mir mehr Mut gewünscht. Dennoch: Ich freue mich sehr, dass wir heute über die künftige Gestaltung dieser Regionen diskutieren. Und ich gebe auch unumwunden zu: Die zunehmend grüne Handschrift in Ihrem Antrag gefällt mir außerordentlich. Ich möchte Ihnen die Knackpunkte an einigen Beispielen verdeutlichen: Sie fordern die Bundesregierung auf, die Sicherung artenreicher und attraktiver Landschaften über verstärkte, freiwillige Kooperationen mit den Grundeigentümern und Bauern vor Ort stärker zu unterstützen. Das begrüße ich ausdrücklich. Wenn Sie das jedoch ernsthaft wollen, dann müssen Sie auch die finanziellen Rahmenbedingungen schaffen. In den bisher stattgefundenen Haushaltsberatungen zum kommenden Bundeshaushalt hat sich das nicht niedergeschlagen. Schauen Sie sich doch die bäuerlichen Strukturen an! Hier muss dringend umgesteuert werden. Sie haben die Möglichkeit, hier wirklich etwas im Interesse unserer ländlichen Räume zu tun. Lippenbekenntnisse helfen vor Ort nicht weiter. Stattdessen fordern Sie ein "Weiter so" in der Agrarförderstruktur. Eine "starke" erste Säule und eine "finanziell gut ausgestattete" zweite Säule in der gemeinsamen EU-Agrarpolitik hilft nur den industriellen Agrargroßbetrieben. Ich sage Ihnen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Statt weiterhin auf einen hohen Anteil an Direktzahlungen zu pochen, sollte die Koalition, wenn es ihr wirklich ernst um die regionale Wirtschaftsentwicklung und den Naturschutz ist, die zweite Säule stärken. Wir Grüne wollen, dass es nach 2013 eine Kehrtwende im jetzigen Fördersystem gibt. Heute bekommt die industrielle Landwirtschaft die meisten Subventionen. Die damit verbundenen Kosten durch Wasserverschmutzung, Verlust an biologischer Vielfalt und alle weiteren Nebeneffekte müssen von der Gesellschaft als Ganzes getragen werden. Im Interesse vieler kleinerer landwirtschaftlicher Betriebe, insbesondere in besonders benachteiligten Gebieten mit Hanglage usw., unserer Kulturlandschaften und damit auch der touristischen Entwicklung muss es ein Umdenken geben. Ein Ausgleich über die gute fachliche Praxis hinaus ist seit langem eine grüne Forderung. Dafür müssen jedoch auch in den entsprechenden Ausschüssen die Kriterien der guten fachlichen Praxis im Hinblick auf Biodiversität, Naturschutz und Erhalt der Kulturlandschaft überarbeitet und nicht stets ausgebremst werden. Denn ich betone das auch gerne noch einmal: Keine Branche lebt so sehr von intakten Naturräumen wie der Tourismus. Auch hier stellt sich allerdings die Frage: Woher nehmen Sie die finanziellen Mittel? In den Haushaltsplänen ist das nicht abgebildet. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Strukturieren Sie die erste Säule der GAP um. Dafür müssten Sie allerdings dem "Charme" und der Durchsetzungsfähigkeit des Herrn Sonnleitner widerstehen. Ich frage mich bei Ihrer Forderung unter Punkt zwei: Was tut denn die Bundesregierung aktiv, um die Vernetzung von Grundeigentümern, Bauern, Naturschützern und Kommunen zu unterstützen? Auch hier gilt: Ihre Forderung ist grundsätzlich zu begrüßen, eine weitere Konkretisierung aber zwingend erforderlich. Grundsätzlich muss man sich ganz intensiv einigen zentralen Fragen widmen, wenn man die ländlichen Räume ökologisch, ökonomisch und sozial weiterentwickeln möchte: Was können wir auf Bundesebene konkret tun? Man wird dabei schnell auf die zentralen Bereiche Verkehr, Regionalförderung und Steuern kommen. Wird hier künftig in die gewünschte Richtung gearbeitet, sprich: eine ökologische und soziale Lenkungsfunktion in den Förderstrategien beachtet? Ein anderer Bereich ist die vertikale Kooperation. Wo können wir konkret finanziell fördern, um die interkommunale Zusammenarbeit auszubauen? Wird hier die Rolle der Bund-Länder-Koordinierungstreffen ausreichend genutzt? Das BMELV hat festgehalten, dass nur ein Drittel derjenigen, die Urlaub auf dem Land machen wollen, es auch tatsächlich tun. Wie kann es also gelingen, dass die Zahl auch tatsächlich erhöht wird? Sie alle wissen: Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, was die Inlandsvermarktung angeht. Und noch etwas ganz Entscheidendes: Was tut die Bundesregierung eigentlich, um die Entwicklung und ihre tourismuspolitischen Instrumente zu evaluieren? Ich schlage Ihnen vor, dass wir das, was wir gemeinsam als wünschenswert erachten, gemeinsam konkretisieren. Es gibt ein gemeinsames Ziel, nämlich die Koppelung der Landschaftspflege mit der touristischen Entwicklung in unseren ländlichen Regionen. Dieses Ziel erreicht man nicht mit Lippenbekenntnissen, sondern mit greifbaren Maßnahmen. Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Erstens. Tourismus ist auf deutlichem Wachstumskurs: Bei Gästen aus dem Ausland wurden die krisenbedingten Rückgänge des vergangenen Jahres mehr als wettgemacht mit 11,4 Prozent mehr Auslandsgästen und 10 Prozent mehr Übernachtungen per Juli 2010 zum Vorjahr. Der Inlandstourismus blieb bereits im vergangenen Jahr stabil und wuchs in den ersten 7 Monaten dieses Jahres um 1,9 Prozent auf 180,2 Millionen Übernachtungen. Die Branche hat die Krise sehr schnell überwunden und stellt erneut ihre Robustheit unter Beweis. Unsere Stärken zahlen sich aus: die Vielfalt des touristischen Angebotes, die verbesserte Qualität des touristischen Angebotes (auch Servicequalität), das gute Preis-Leistungs-Verhältnis. Zweitens. Die Bundesregierung setzt klare Prioritäten - auch für den Tourismus. Tourismus ist erstmals prominenter Bestandteil des Koalitionsvertrages. Wir wissen, dass der Tourismus eine der wesentlichen wirtschaftlichen Chancen für die ländlichen Räume ist. Wir werden deshalb ein Tourismuskonzept für die ländlichen Räume vorlegen, das praxisorientiert ist, den Querschnittscharakter der Tourismuspolitik wie auch die unterschiedlichen Ebenen der Zuständigkeit berücksichtigt. Auf Ressortebene laufen die ersten Abstimmungen und Koordinationen dazu, denn auf das gute Zusammenwirken aller Beteiligten wird es ankommen. Drittens. Tourismus lebt von intelligenter Vernetzung. Dies ist immer wieder eine große Herausforderung, auch für mich als Tourismusbeauftragter. Für die ländlichen Räume und den vorliegenden Antrag heißt das, über die Fachverbände und die kommunalen Spitzenverbände auch die regionale und kommunale Ebene einzubeziehen. Die Interessen von Tourismus, Landwirtschaft und Naturschutz müssen vor Ort unter einen Hut gebracht werden. Viertens. Artenreiche Landschaften sorgen für die hohe Attraktivität des Reiselandes Deutschland. Der Reiz der Kulturlandschaft liegt in ihrer Vielfalt und unterschiedlichen Nutzungsarten, vor allem auch durch die Land- und Forstwirtschaft. Der ländliche Tourismus ist die gemeinsame Schnittstelle. Es gibt eine Vielzahl touristischer Angebote, die die Erhaltung der Natur mit ihrer touristischen Nutzung vereinbaren. Die Bundesregierung fördert die verstärkte Entwicklung eines naturverträglichen Tourismus. Das "Erlebnis Grünes Band" erschließt die ehemaligen Grenzsicherungsanlagen entlang des Eisernen Vorhangs. Naturschutz und Tourismus arbeiten hier intensiv zusammen. Außerdem fördert die Bundesregierung zahlreiche Projekte zum Trend "Aktivurlaub in der Natur". Dazu gehören ein ressortübergreifendes Projekt mit fünf Bundesländern zur Förderung des Fahrradtourismus und eine Studie zum "Zukunftsmarkt Wandern". Damit sollen Tourismusanbieter unter anderem in den Mittelgebirgsregionen Know-how an die Hand bekommen, wie sie den neuen Trend zum Wandern für sich erschließen können. Fünftens. Die Bundesregierung stellt die Weichen und das nötige Know-how. Sie wird auch zukünftig Leistungen der Land- und Forstwirtschaft für die Sicherung einer attraktiven Kulturlandschaft und für flächendeckende Landbewirtschaftung über die GAK fördern. Sie setzt sich in der EU im Rahmen der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik nach 2013 mit Nachdruck für die Fortführung der einschlägigen Maßnahmen der ländlichen Entwicklung zur Stärkung des Tourismus in ländlichen Gebieten ein. Die Chancen sind gut, den starken Trend zum Naturerlebnis in der Freizeit und im Urlaub erfolgreich im Interesse der ländlichen Regionen zu nutzen und gleichzeitig einen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen (Tagesordnungspunkt 16) Steffen Bilger (CDU/CSU): Die Rheintalbahn ist zweifelsfrei eines der großen deutschen Bundes-Bauprojekte des Verkehrsträgers Schiene. Der Engpass im Rheintal muss beseitigt werden, um den wachsenden Verkehrsströmen auf ökologisch und ökonomisch sinnvolle Weise auf Gleisen gewachsen zu sein. Dabei geht es uns in der Union nicht nur um die notwendige Schienenerweiterung. Besonders der anwohnerfreundliche Ausbau steht bei uns im Mittelpunkt. Die Belastung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger muss so gering wie möglich gehalten werden. Deshalb ist der Antrag der Grünen von der Idee her zu begrüßen. In der Tat handelt es sich bei der Lärmbelastungsreduktion eben um ein berechtigtes Anliegen. Leider bewahrheitet sich hier - wie so oft - der Spruch: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Die Grünen wollen in ihrem Antrag, dass der Deutsche Bundestag die Planfeststellungsbehörde anweist, den Prognosehorizont des Jahres 2025 anstatt den des Jahres 2015 zu nehmen. Hiermit wollen sie eine Verbesserung beim Lärmschutz für die Anwohner erreichen. Wir von der Union wollen auch, dass die Anwohner besser vor Lärm geschützt werden. Nur, was würde passieren, wenn der Bund der Planfeststellungsbehörde diese Anweisung gibt? Es würde ein Fehler beim Verfahren eintreten. Die Planfeststellungsbehörde muss ihre Entscheidungen nämlich eigenständig treffen. Es entstünde ein Abwägungsfehler. Das Resultat wäre: Durch eine angenommene Weisung wäre das Planfeststellungsverfahren rechtlich anfechtbar. Und genau hier wäre dann das Problem. Wie jeder weiß, gibt es immer und überall mindestens einen, der sich ungerecht behandelt fühlen und vor Gericht ziehen würde. Die Folge wäre genau das Gegenteil von dem, was die Grünen und wir alle wollen: einen effektiven Lärmschutz für die Anwohner der Rheintalbahn-Strecke. Deshalb lehnen wir den Antrag ab. Wie gesagt: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Wie wird es aber gut gemacht? Bestimmt nicht so, wie es die Grünen in der letzten Zeit uns an vielen Stellen vormachen: mit Schaufensterpolitik nach dem Motto: Hauptsache der Deutsche Bundestag ist beschäftigt, und man kann anschließend oder auch schon vorab in der Presse verkünden, was man wieder für Großtaten auf der Bundespolitikbühne vollbracht hat. Außerdem sieht dieser Antrag für mich nicht nach ehrlichem Engagement aus. Diese Drucksache riecht doch förmlich danach, dass die Hoffnungen der Menschen vor Ort für Meinungsmache missbraucht werden, um andere Ziele zu erreichen. Das nenne ich nicht verantwortungsvolle Politik, sondern durchsichtigen Vorlandtagswahlkampf. Wer ist denn vor Ort? Wer besucht die Bürgerinnen und Bürger, spricht mit ihnen, hört sich ihre Sorgen und Nöte an, denkt kreativ über andere und neue Wege nach, wie geholfen werden kann? Und jetzt sind wir auf der Suche nach "gut gemeint und gut gemacht" bei der Antwort angekommen: Jetzt keine sinnlosen Anträge stellen, sondern konkret vor Ort überlegen, wie alles Notwendige möglich gemacht werden kann, um für mehr Lärmschutz zu sorgen, eben zusammen mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen und im Dialog gemeinsam mit allen Beteiligten mehr zu erreichen. Genau das machen wir von der Union. Wir haben dafür gesorgt, dass die zuständigen Staatssekretäre nach Baden kamen, ebenso wie der Bahnchef. Der Vorsitzende des Vorstands der DB AG kommt jetzt sogar zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen an die Rheintalbahn-Trasse. Das alles geschieht nicht um der positiven Pressemeldungen im Anschluss. Hierbei wird konstruktiv kommuniziert und nicht destruktiv beantragt. Ich selbst war ebenfalls schon mehrfach mit CDU-Kollegen vor Ort und habe mich informiert. Gemeinsam zwischen Bund, Bahn, Land Baden-Württemberg und der Raumschaft sind wir im Dialog dazu bereits vorangekommen. Wir sprechen dabei nicht nur, sondern handeln auch. Es wird auch neue Lärmschutzmaßnahmen geben. Daran beteiligt sich das Land Baden-Württemberg freiwillig finanziell. So sieht ein ehrlicher Einsatz für die Anwohner aus. Apropos Anwohner: Das sind wirklich ehrbare und konstruktiv-kritische Bürgerinitiativen. Hier setzen sich keine Berufsdemonstranten nach ausgefeilten Plänen von angekarrten Agenturen ein, wie wir das aus anderen Fällen kennen. Nein, das sind ehrliche Bürgerinnen und Bürger, die tatsächlich betroffen sind und die für sich und ihre Nachbarn etwas erreichen wollen. So etwas begrüßen wir. Wir sind jetzt dank unserem Einsatz mit den Beteiligten in einer konstruktiven Phase. Das gibt Anlass zur Hoffnung. Mein erwähntes Beispiel ist ja auch erst der Anfang. Wir sind optimistisch, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen werden. Diesen Realismus müssen wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern vermitteln. Ein "Alles-wird-gut"-Pflaster in Form eines Federstrichs des Bundestages bringt hier nichts. Ulrich Lange (CDU/CSU): In ihrem Antrag "Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen" setzen sich Bünd-nis 90/Die Grünen für einen Ausbau der Rheintalbahn ein. Damit rennen sie bei uns offene Türen ein. Wir wissen, dass die Güterverkehrsleistung in den nächsten Jahren stark ansteigen wird. Die Koalition setzt sich unter der Führung von Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer dafür ein, dass so viel Güter wie möglich auf die Schiene verlagert werden, um auf der einen Seite die Straße zu entlasten, aber auch um den CO2-Ausstoß zu verringern. Unter dieser Prämisse unterstützen wir den geplanten Ausbau der Rheintalbahn. Die Aus- und Neubaustrecke Karlsruhe-Basel ist eines der wichtigsten Verkehrsinfrastrukturprojekte des Bundes. Die 182 Kilometer lange Strecke gehört zu den am stärksten befahrenen Magistralen im Netz der Bahn. Mit der Fertigstellung der neuen Eisenbahn-Alpen-Transversale in der Schweiz wird die Strecke zum wichtigsten nördlichen Zulauf dieses Korridors, der über Mailand bis nach Genua führt. Die Fertigstellung der Aus- und Neubaumaßnahme ist für 2020 geplant. Die Investitionen belaufen sich auf 5,7 Milliarden Euro. Die Grünen, die eigentlich ja den Ausbau wollen, behindern dieses Bahnprojekt jetzt mit der Begründung, dass der Planungshorizont des Bundesverkehrswegeplanes bis 2015 als Basis genommen werde. Aber liebe Abgeordneten von den Grünen, Sie wissen doch ganz genau, dass dies nicht der Fall ist. Sie wissen, dass das Land Baden-Württemberg in Abstimmung mit dem Bund und der Deutschen Bahn AG eine Nachfragepro-gnose für den Schienengüterverkehr und den Schienenpersonenverkehr auf der Oberrheinstrecke mit dem Bezugsjahr 2025 in Auftrag gegeben hat, die seit Februar 2008 vorliegt. Wenn man die Prognosen für 2015 und 2025 miteinander vergleicht, gibt es aber keine gravierenden Unterschiede, sodass die bisherigen Planungen auch nicht wesentlich verändert werden mussten. Eine neue Prognose für den Horizont 2025 ist derzeit in der Erarbeitung und wird zum Herbst dieses Jahres vorliegen. Auch diese kommende Prognose wird, wenn sie vorliegt, in die weiteren Planungen einbezogen. Weiterhin fordern die Grünen, eine Lärmminderung des Schienenverkehrs bei diesem wichtigen Projekt. Was meinen die Grünen genau? Nun, dem Antrag ist es nicht zu entnehmen. Wollen Sie für dieses eine Projekt den bisher gültigen Schienenbonus infrage stellen? Wohl kaum, da dies eine nicht zu rechtfertigende Sonderbehandlung eines einzigen Schienenprojektes wäre. Zum Schutz der Anwohner sind beidseitig der neuen Gleise Schallschutzwände mit einer Gesamtlänge von mehr als zehn Kilometern vorgesehen. In Haltingen können nach Auflage der Behörde Schallschutzwände mit einer Höhe von bis zu fünf Metern zum Schutz der Anlieger vorgesehen werden. Auch in Weil am Rhein, Friedlingen und Otterbach sollen Wände in Höhen zwischen eineinhalb und fünf Metern errichtet werden. Auf 20 Kilometern kommt ein besonders überwachtes Gleis (BüG) zum Einsatz. Hier wird die Geräuschemission durch eine regelmäßige besondere Behandlung der Schienenoberfläche reduziert. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG Dr. Rüdiger Grube hat kürzlich angeboten, dass angesichts der großen Bedeutung der Güterbahnstrecke am Oberrhein die Deutsche Bahn AG zu einer Selbstverpflichtung bereit ist, auf dieser Strecke nur noch Güterzüge mit durchgehend lärmgeminderten Waggons fahren zu lassen. Allerdings müssten dann alle anderen Unternehmen, die diese Strecke nutzen, die gleiche Verpflichtung eingehen. Ich finde, das ist das bedeutsamste und wirksamste Angebot zur Lärmminderung, das wir auch politisch unterstützen sollten. Insbesondere die Grünen vor Ort, wie zum Beispiel in Offenburg und Freiburg, agieren gegen den Ausbau, fordern die Aussetzung des Schienenbonus für diese Strecke. Dies geht so nicht. Die Grünen blockieren den Ausbau dieses von ihnen selbst als so wichtig bezeichneten Schienenprojektes, obwohl sie wissen, dass es für die Rheintalbahn einen Projektbeirat, bestehend aus Mitgliedern des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Region, gibt, der gemeinsam mit der Bahn die jeweiligen Streckenabschnitte diskutiert. Vorstandsvorsitzender Dr. Grube wird sich Ende Oktober mit den örtlichen Abgeordneten sowie Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern treffen. Im Gegensatz zu der Zeit, in der Rot und Grün die Verantwortung trugen, findet jetzt ein breit angelegter Dialog statt, von dem ich deutliche Verbesserungen für die laufenden Planungen erwarte. Die Bahn zeigt sich in den Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort kompromissbereit, kommt den Forderungen so weit wie möglich entgegen. Er wird alle problematischen Streckenabschnitte persönlich in Augenschein nehmen. Auch die zuständigen Staatssekretäre aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung haben sich bereits vor Ort kundig gemacht und den Dialog mit den Betroffenen geführt. Deshalb fordere ich die Grünen auf: Verlassen Sie Ihre populistische Plattform und unterstützen Sie mit uns den Ausbau dieser so stark befahrenen Magistrale! Haben Sie Rückgrat und beweisen Sie, dass Sie vor Ort zu dem stehen, was Sie in Berlin mit großen Worten fordern. Ute Kumpf (SPD): Worum geht es heute bei diesem Tagesordnungspunkt? Mit dem Vertrag von Lugano im Jahr 1996 hat sich die Bundesregierung verpflichtet, die Rheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel als Zulaufstrecke zu den NEAT-Tunneln (NEAT - Neue Eisenbahn-Alpentransversale) Gotthard und Lötschberg viergleisig auszubauen. Dies steht im Einklang mit der EU-Verkehrspolitik, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Der Neu- und Ausbau der Rheintalbahn ist für das Land Baden-Württemberg und seine Bürgerinnen und Bürger von Bedeutung. Nur mit dem viergleisigen Ausbau kann der Verkehrskollaps entlang der Rheinschiene verhindert, durch erhöhte Kapazitäten auf der Schiene eine Verkehrsverlagerung "vom Laster auf den Zug" erreicht werden. Dies führt zu einer Entlastung der Straßen in Deutschland, der Schweiz und Italien und somit zu weniger Staus und Abgasen. Die Verkehrsverlagerung bedeutet für die Anwohner der Rheintalbahn laut Bundesverkehrswegeplan 2003 aber bis zu 580 Züge pro Tag, darunter 280 Güterzüge. Bis zu 155 davon werden nachts verkehren. Sollte zudem der Oberrhein-Bypass verwirklicht werden, müsste die Bevölkerung mit einem Güterzug alle drei Minuten rund um die Uhr leben. Südbaden wird vom zusätzlichen Bahnverkehr nicht in Form von Reiseverbindungen profitieren, wohl aber eine große Belastung in Form durchrollender Güterzüge ertragen müssen. Viele Menschen entlang der Strecke müssen deswegen mit massiver Lärmbelästigung rechnen, wenn die jetzigen Planungen Bestand haben. "Güter auf die Schiene" ist das Kredo einer menschenverträglichen, umweltfreundlichen und zukunftsfähigen Verkehrspolitik. Der Neubau zweier zusätzlicher Gleise für den Güterverkehr am Oberrhein ist die Verpflichtung, den Transitgüterverkehr vollständig auf die neuen Gleise zu verlagern. Der Ausbau der Rheintalbahn ist für den gesamten Südwesten unumgänglich, ein Projekt, das die Menschen in der Region mittragen und konstruktiv begleiten. Gerade deshalb müssen sie bei diesem Großprojekt miteinbezogen, ihre berechtigten Sorgen und Verbesserungswünsche dürfen nicht weiter ignoriert werden. DB AG und Eisenbahn-Bundesamt sind gefordert, die Interessen der Menschen in die Planung miteinzubeziehen. Beschlüsse können nicht am grünen Tisch gefällt werden. Was und wie geplant wird durch die politischen Entscheidungsträger, die DB AG und das Eisenbahn-Bundesamt, stößt auf enormen und berechtigten Widerstand bei der Bevölkerung, den Kommunen und Bürgerinitiativen. Die Menschen in der Region befürchten einen Verlust an Lebensqualität und sehen ihre Gesundheit gefährdet. Die Umwelt wird beeinträchtigt, wertvolles Ackerland wird unwiederbringlich vernichtet, Immobilien verlieren an Wert, die Wirtschaftskraft wird geschwächt. Ortschaften und Städte ersticken im Lärm, jede vernünftige Kommunal- und Stadtentwicklung wird zunichtegemacht. Gegen die Bevölkerung ist dieses Vorhaben nur mit großen Zeitverzögerungen und gesellschaftlichen Konflikten zu verwirklichen. Absolute Priorität müssen Maßnahmen zur Lärmminderung und Lärmvermeidung sowie die Prüfung von alternativen Trassen haben. Denn: Der Leidensdruck ist groß. Wir, die SPD, unterstützen die alternative Trassenführung "Baden 21", ein Projekt, das Kommunen und die Bürgerinitiativen der Interessengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hochrhein, IG BOHR, erstellt haben, eine Alternativplanung, die über 90 Kilometer von Offenburg bis südlich von Buggingen im Markgräflerland reicht und durch eine weitgehende Akzeptanz der Menschen am Oberrhein gekennzeichnet ist. Die entwickelten Vorschläge machen Sinn: ein Güterzugtunnel durch Offenburg, eine autobahnparallele Trasse von Offenburg bis Riegel, die Lärm meidet und Ackerland schont, Mittel- und Teiltieflagen mit lokal verstärkten Lärmschutzmaßnahmen von Riegel bis Mengen, teilgedeckelte Tieflage von Mengen bis südlich Buggingen. Die Alternativplanung kostet mehr Geld, wohl wahr. Aber auf dieser Strecke, ein besonders attraktiver Teil der Europäischen Schlagader Rotterdam-Genua, werden hohe Gewinne der DB AG prognostiziert. Der Konflikt ist, dass die Bahn nach derzeitigen existierenden gesetzlichen Mindestanforderungen bauen will. Zunächst ihr gutes Recht, aber alle Auseinandersetzungen und Infrastrukturprojekte in den letzten Jahren müssen doch nachdenklich machen. Planungsprozesse und Projekte von einer langen Realisierungszeit müssen mit und nicht gegen die Bevölkerung geplant werden. Widerstand und Blockaden kosten Zeit und Geld und spalten die Gesellschaft, was bei anderen Großprojekte sichtbar ist. Unter Bundesverkehrsminister Tiefensee wurde deshalb der Projektbeirat Rheintalbahn einberufen. Er soll den Planungsprozess begleiten, alternative Lösungen vorschlagen und Verbesserungen, zum Beispiel beim Lärmschutz, einfließen lassen. Mitglieder sind Vertreter des Bundesverkehrsministeriums, des Eisenbahn-Bundesamts, der DB AG, des Landes, Kommunen und Bürgerinitiativen. Dieser Beirat muss ernst genommen werden und darf nicht zur Spielwiese verkommen. Das Ergebnis der Projektbeiratssitzung im Juli machte den Menschen in der Region Hoffnung, dass ihre Sorgen ernst genommen werden. Nun stehen das Land und die Bundesregierung im Wort und müssen ihre Versprechungen einlösen, sonst war alles heiße Luft für die baden-württembergische Landtagswahl. Die Bundesregierung hat Untersuchungen zur autobahnparallelen Trasse zugesagt, um diese besser mit der Antragstrasse der Bahn vergleichen zu können. Ebenso wurde die Bahn aufgefordert, einen Plan für einen Tunnel für Offenburg vorzulegen. Bahnchef Grube hat Anfang September in Bad Krotzingen bei einem Treffen mit Bürgerinitiativen und Politikern der betroffenen Regionen angekündigt, dass die Bahn sofort damit beginnen wolle, eine Tunnelvariante bei Offenburg zu untersuchen. Zudem will er die Planungsabschnitte bereisen und mit den Bürgern und den Initiativen vor Ort sprechen. Zum Antrag der Grünen. Der Ausbau der Rheintalbahn hat zur Folge, dass weit über 100 000 Güterzüge pro Jahr auf der Trasse fahren. Ein derartiger Ausbau wird nur akzeptiert, wenn Lärm aktiv angegangen wird. Lärmvermeidung ist sinnvoller als Millionen in Lärmschutz zu investieren. Deshalb heißt es, dem Lärm an die Wurzel zu gehen: Leisere Schienen und verbesserte Bremsen an Güterzügen können zu effektiven und schnellen Erfolgen führen. Deckelungen, Tunnellösungen, Tieflagen und Schallschutzwände sind weitere Bausteine zur Lärmvermeidung. Damit das umgesetzt wird, brauchen wir ein lärmabhängiges Trassenpreissystem. Ein anderes Instrument ist der Schienenbonus. Beim Schienenbonus handelt es sich um eine gesetzliche Regelung, nach der für Bahnlärm geringere Höchstgrenzwerte gelten. Während bei Schienenlärm die Vorbeifahrpegel von Güterzügen meist sehr hoch sind im Vergleich zu den Pegeln in den Lärmpausen, ist der Unterschied zwischen den Vorbeifahrpegeln im Straßenverkehr und den Pegeln in den Lärmpausen sehr gering. Lärm aber bleibt Lärm, egal ob durch Bahn oder durch Pkw verursacht. Daher muss der Schienenbonus fallen. Längst ist er zum Schienenmalus geworden. Neue Untersuchungen bestätigen den Schienenbonus nicht. Der Schienenbonus darf deshalb nicht Grundlage von aktuellen und zukünftigen Bahnplanungen sein. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag die Abschaffung des Schienenbonus festgeschrieben. Dieses muss nun umgesetzt werden. Es darf nicht bei leeren Versprechungen bleiben. Was den Antrag der Grünen angeht, liegt der inhaltlich richtig. Nur, und das sollten die Grünen eigentlich wissen, kann die Bundesregierung nicht die DB ProjektBau GmbH anweisen, laufende Planfeststellungsverfahren im Sinne des Antrages durchzuführen. Das geht allein juristisch nicht. Gemeinsame Anstrengungen für einen menschen- und umweltverträglichen Ausbau der Rheintalbahn sind unumgänglich. Notwendig ist ein gemeinsamer, konkreter Einsatz für das Projekt "Baden 21". Nur wenn Bahn, Bund und Land die über den gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststandard hinausgehenden Notwendigkeiten zu finanzieren bereit sind, wird es zur Realisierung von "Baden 21" kommen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Rheintalstrecke zum Pilotprojekt für die Abschaffung des Schienenbonus zu machen. Sibylle Laurischk (FDP): Mit dem vorliegendem Antrag wird erneut der Versuch unternommen, die Ausbauplanung der Rheintalbahn zu revidieren, was ich grundsätzlich auch für notwendig halte. Wir wissen um die Problemstellung; es handelt sich um ein Jahrhundertbauwerk und wahrscheinlich um mehr als das. Mit dem Ausbau dieser Güterverkehrstrasse sind aber auch begründete Ängste der Menschen in der gesamten Region Südbaden verbunden, was nicht verwundert; denn das viergleisige Trassenteilstück Offenburg-Basel ist Teil einer Hauptverkehrsader Europas, die Rotterdam mit Genua, die Nordsee mit dem Mittelmeer verbinden soll. Es handelt sich also keineswegs um ein nur in Südbaden relevantes Problem, sondern es ist eine Problemlage von europäischer Bedeutung. Deshalb ist es auch ernst zu nehmen, dass mit einer solchen Güterzugtrasse eine unzumutbare Lärmbelästigung für die Menschen in den vom Bau betroffenen Städten und Gemeinden verbunden ist. Es wird aber auch eine wertvolle Kulturlandschaft am Oberrhein mit dieser Trassenführung in ihrem Wert deutlich gemindert. Deshalb fordern die Bürgerinitiativen, die entlang der geplanten Trasse engagiert und sachkundig die Planung kritisieren, eine für Menschen und Umwelt verträgliche Lösung. Dies wurde auch bei einem kürzlichen Informationsbesuch des Vorsitzenden der Deutschen Bahn, Herrn Grube, in Bad Krotzingen deutlich, der den Bürgermeistern der betroffenen Städte und Gemeinden, den Landräten aus dem Ortenaukreis und den Landkreisen Emmendingen, Breisgau-Hochschwarzwald und Lörrach, insbesondere aber auch den Vertretern der Bürgerinitiativen zusagte, dass er in einer zweitägigen Bereisung die Problemlagen vor Ort kennenlernen möchte. Weiter hat er zur Klärung der Möglichkeiten eines Tunnelbaus unter Offenburg Probebohrungen zugesagt. Ergebnis solcher Aktivitäten kann nach meinem Dafürhalten nur sein, dass eine Überarbeitung der Planung als notwendig erkannt wird, da die derzeitige Planung in Anbetracht der absehbaren Mehrbelastung nicht mehr den Erfordernissen für die kommenden Jahrzehnte entspricht. Planung und Bau einer nicht leistungsfähigen Trasse kann jedenfalls nicht im Interesse der Deutschen Bahn sein und schon gar nicht des Steuerzahlers. Herr Grube erkennt dies, wenn er davon spricht, dass mit Eröffnung des Gotthard-Tunnels eine Sogwirkung hinsichtlich des Benutzerandrangs auf dieser Gütertrasse entstehen wird, was eine deutlich höhere Belastung als noch vor Jahren geplant bedeutet. Wir anerkennen - nach dem ökologisch und ökonomisch richtigen Grundsatz: Personen und Güter von der Straße auf die Schiene - ausdrücklich die Notwendigkeit der Optimierung der Strecke Karlsruhe-Basel als Teil der europäischen Nord-Süd-Magistrale und damit auch die Notwendigkeit des dritten und vierten Gleises zwischen Offenburg und Weil. Wir wollen die Verträge mit der Schweiz erfüllen. Deshalb sind jetzt rasche Entscheidungen vonnöten. Die Menschen in Südbaden erwarten zu Recht, dass ihren Bedürfnissen nach Lärmschutz und nach einer landschaftsverträglichen Verkehrsplanung Rechnung getragen wird. Eine Beeinträchtigung der Anwohner durch Lärm, Flächenverbrauch und gegebenenfalls auch Eingriffe in das Eigentumsrecht werden unvermeidbar sein. Die Akzeptanz dieser Eingriffe kann jedoch in entscheidender Weise erhöht werden, wenn auf die Bedürfnisse des Umwelt- und Lärmschutzes mit integrierten Lösungsansätzen bei der Verkehrswegeplanung und insbesondere der Trassenführung geantwortet wird. Mit der Untertunnelung statt Durchfahrung Offenburgs und der Entlastung südlich gelegener Städte und Gemeinden wie Lahr, Herbolzheim und Kenzingen durch eine autobahnparallele Neubautrasse, der Trassenabsenkung westlich Freiburgs bis zum Nordportal des Mengener Tunnels sowie der teilgedeckelten Tieflage ab Südportal des Mengener Tunnels bis südlich von Buggingen würde eine echte Verbesserung der Planung erreicht. Eine solche Trasse wäre leistungsfähiger als ein durch diverse Ortsdurchfahrten belasteter Bahnbetrieb. Da es sich bei der geplanten Gütertrasse um reinen Fernverkehr handelt, ist eine Anbindung im lokalen Bereich nicht notwendig. Die FDP-Fraktion hat sich mit Anträgen in der 15. und 16. Legislaturperiode immer wieder für eine Überplanung der vorgesehenen Ausbaustrecke ausgesprochen. Die jüngsten Einlassungen des Vorstandvorsitzenden der Deutschen Bahn lassen hoffen, dass das entsprechende Engagement von Bürgerschaft und Kommunalpolitik vor Ort und der Landesregierung in Baden-Württemberg nun auch bei der Deutschen Bahn ein Umdenken bewirken, sodass sie nicht mehr der von der Grünen geforderten Anweisung bedarf. Die Bahn kann hier unter Beweis stellen, dass sie in der Lage ist, vorausschauend zu planen und zu handeln. Dies wird die Beratungen in den Ausschüssen in den nächsten Monaten begleiten. Den Menschen in Südbaden, aber nicht zuletzt auch der Transportwirtschaft ist eine zukunftsorientierte Planung, die sich von überholten Planungsansätzen löst, seitens der Deutschen Bahn zu wünschen. Sabine Leidig (DIE LINKE): Nach den Planungen der Deutschen Bahn AG wird zwischen Offenburg und Weil am Rhein mit der neuen Schienentrasse, 3. und 4. Gleis der Rheintalbahn, die mit am stärksten belastete Gütertransitstrecke Europas entstehen. Der mit dem hohen Güterzugaufkommen sich abzeichnende Engpass im Raum Basel soll durch eine Umfahrung Basels am Hochrhein entlang, Hochrhein-Bypass, umgangen werden. Beim viergleisigen Ausbau der Rheintalbahn handelt es sich um ein Jahrhundertprojekt, das die Regionen an Ober- und Hochrhein für Generationen prägen und nachhaltige Auswirkungen auf die hier lebenden Menschen haben wird. Wir wissen, dass der Ausbau der Schiene für den Güterverkehr nicht nur unumgänglich, sondern auch wünschenswert ist. Wir wissen längst, dass EU und Schweiz auf dem Ausbau mit abnehmender Geduld bestehen - und das zu Recht. Aber: Die Bahnpläne stoßen auf den massiven Protest der südbadischen Bevölkerung, der sich zunehmend großräumiger und heftiger formiert. Die Bürgerinitiativen kämpfen gegen die unzureichende Qualität der Baumaßnahme im Hinblick auf Lärm-, Landschafts- und Flächenschutz sowie gegen den Hochrhein-Bypass. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen baut die DB AG mit einem Minimum an Kosten und bürdet die daraus entstehenden Folgekosten den betroffenen Gemeinden und ihren Bürgern auf. Auf den eigenen Güterverkehrstrassen sollen - so sehen es die europäischen Pläne und die Planungen der DB AG vor - rund 500 Güterzüge täglich verkehren. Und das bedeutet einen Dreiminutentakt, rund um die Uhr. Es ist zu erwarten, dass die Rheintalstrecke den Großteil dieser Zugbewegungen aufnehmen wird. Dies ist von deutscher Seite politisch gewollt, um die Einnahmenseite der DB AG auf ihrem Weg zur Börsenfähigkeit zu verbessern. Allein auf der Strecke Offenburg-Weil dürfte die DB Netz AG bei Vollauslastung Trassengelder in der Größenordnung von 100 Millionen Euro pro Jahr erlösen. Es ist nicht akzeptabel, dass zugunsten höherer Gewinne aus dem Güterverkehrsgeschäft an Umweltmaßnahmen, an Löhnen und fairen Arbeitsbedingungen oder eben an Lärmschutzmaßnahmen gespart wird. Gemeinsam mit der Interessengemeinschaft Bahnprotest Ober- und Hochrhein, IG BOHR, verlangen wir, dass die Billiglösung der Bahn ersetzt wird durch eine wert- und nachhaltige, ökologisch sinnvolle Umsetzung des Projektes - konkrete Vorschläge liegen längst auf dem Tisch. Die Bundesregierung muss die DB AG auf einen Kurs zwingen, der Akzeptanz findet in der Bevölkerung in Südbaden. Die Bewohner und Bewohnerinnen im Rheintal dürfen nicht die Leidtragenden sein, wenn noch mehr Güterzüge mit transnationalen Transporten durch ihre Region rollen. Deshalb ist der bestmögliche Lärmschutz das Mindeste, was die Bahn leisten muss. Den Antrag der Grünen, der dies fordert, unterstützen wir. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich spreche heute Abend zu Ihnen zum Thema Rheintalbahn als wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion. Nicht, weil mein Wahlkreis Freiburg mitten auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Basel liegt und auch nicht, weil Schienenverkehrsthemen gerade bei Grünen hoch im Kurs stehen, sondern weil Güter-, Fern- und Regionalzugverkehre im Rheintal ein Wirtschaftsfaktor sind, der weder an den prognostizierten Zugzahlen, noch an der Bevölkerung vorbei geplant werden darf! Im Rheingraben zwischen Karlsruhe und Basel bündeln sich die Verkehrsstränge auf Autobahnen und Schienenwegen, weshalb wegen des zu erwartenden Anstiegs des Verkehrsaufkommens bereits in den 1990er-Jahren die Planung zum Ausbau der Rheintalbahn und der Bundesautobahn 5 begannen. Seit Februar 2008 liegt eine Nachfrageprognose für den Schienengüterverkehr und den Schienenpersonenverkehr auf der Oberrheinstrecke mit dem Bezugsjahr 2025 vor, die vom Land Baden-Württemberg in Abstimmung mit dem Bund und der Deutschen Bahn AG in Auftrag gegeben wurde. Die Planung durch die DB findet momentan jedoch noch unter Berücksichtigung der Zugzahlen von 2015 statt, weil das Eisenbahnbundesamt dies im Auftrag des Bundestages im Bundesverkehrswegeplan so vorgegeben hat. Deshalb wurde im Februar 2010 der Abschnitt Weil-Haltingen, kurz vor Basel, auf der Basis des Prognosehorizonts 2015 planfestgestellt. Das Regierungspräsidium Freiburg äußerte zwar Unverständnis darüber, doch die Arbeiten haben nun unter diesen Vorgaben begonnen. Was passiert, wenn der Lärmschutz aufgrund von falschen, veralteten Zugzahlen geplant wird? Der Mittelungspegel als Grundlage der Planung wird bereits jetzt von Gemeinden und Bürgerinitiativen abgelehnt. Höhere Zugzahlen verändern jedoch in manchen Orten nicht nur den notwendigen Schallschutz, sondern auch das Betriebskonzept auf der Strecke. Was passiert mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland, wenn die Güter oder der Fern- und Regionalzugverkehr ihre Kapazitäten nicht effizient ausnutzen? Wenn die Strecke in ihrer Kapazität und Lärmauswirkung bereits in der Planung an der Realität vorbei geht, wird die Rheintalbahn die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, ja halb Europas nicht effizient befördern. Der Güterzugverkehr verdoppelt in Deutschland die Güterverkehrsleistung bis zum Jahr 2050 gegenüber 2005. Der Transitverkehr durch Deutschland soll sich sogar mehr als verdreifachen. 2025 wird nach heutiger Prognose das 3. und 4. Gleis der Rheintalbahn zwischen Offenburg und Basel nicht fertiggestellt sein. Doch die Züge werden trotzdem durchs Rheintal donnern! Deshalb ist es überparteilicher Konsens zwischen Offenburg und Basel: Wir brauchen den Rheintalbahn-Ausbau und müssen ihn bestmöglich gestalten. Bei der Rheintalbahn spielt man gerne wahlweise der DB AG, dem EBA oder dem Bundestag den Schwarzen Peter zu. Dies mag im Einzelfall sogar richtig sein, doch den Bürgern ist das reichlich egal. Sie wollen wissen, woran sie sind. Zumindest ein Teil des Unmuts der Bevölkerung speist sich aus der Undurchsichtigkeit der Entscheidungen. Bahnchef Grube hat bei seinem Besuch vorgemacht, dass er zumindest durch bessere Öffentlichkeitsarbeit zum Erfolg der Rheintalbahn beitragen möchte. Dieser Antrag von Bündnis 90/Die Grünen über den wir heute sprechen, sollte eigentlich interfraktionell gestellt werden, doch unsere Bemühungen liefen ins Leere. Das wundert mich dann doch sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen Weiß und Schuster, Dobrinsky-Weiß und Laurischk es bisher nicht geschafft haben, bei ihren Kollegen für die angemessene Wahrnehmung der Probleme bei diesem Projekt der DB zu sorgen. Insbesondere Sie, Herr Schuster, fordere ich hiermit auf, dafür zu stimmen, dass mit den Zugzahlen für 2025 geplant wird; in ihrem Wahlkreis wird jetzt schon gebaut. Lassen Sie uns hier und heute als Deutscher Bundestag die Weichen stellen, dass die Rheintalbahn ein Erfolgsprojekt wird - akzeptiert von der Bevölkerung und geplant mit bestmöglichen Vorgaben. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer (Tagesordnungspunkt 17) Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf des Bundesrates zur Einrichtung eines elektronisch geführten Testamentsregister bei der Bundesnotarkammer. Damit soll das Benachrichtigungswesen in Nachlasssachen entscheidend verbessert werden. Nach Ansicht der Länder ist die heutige Benachrichtigungspraxis veraltet, langsam und fehleranfällig. So nutzen bisher weder die Nachlassgerichte noch die Standesämter die Vorteile moderner Kommunikations- und Speichermedien. Heute werden alle erbfolgerelevanten Urkunden - insbesondere Testamente oder Erbverträge - dezentral bei circa 5 200 Stellen über Karteikarten verwaltet. Dabei sind bundesweit geschätzt 15 Millionen Karteikarten registriert. Komplizierte Meldewege, veraltete Verwahrdaten und Kapazitätsgrenzen führen zu nicht unerheblichen Verzögerungen und unnötig hohen Verwaltungskosten. Im Erbfall nehmen vor allem die Nachlassgerichte zahlreiche Aufgaben wahr. Das betrifft insbesondere die Ausstellung der Erbscheine, also jener Urkunden, die für den Rechtsverkehr feststellen, wer Erbe ist und welchen Verfügungsbeschränkungen dieser gegebenenfalls unterliegt. Bei einer Vielzahl von Rechtsgeschäften wird ein entsprechender Nachweis verlangt. Für die Erben hat der Erbschein damit große praktische Bedeutung. Für die Ausstellung des Erbscheins muss das Nachlassgericht zuverlässig und zeitnah erfahren, ob und welche Verfügungen des Erblassers von Todes wegen vorhanden sind. Andernfalls ist die Richtigkeit des Erbscheins nicht gewährleistet. Damit die Erben und Erbteile zügig bestimmt und der Erbschein erteilt werden kann, sind die Nachlassgerichte also darauf angewiesen, dass sie zuverlässig und möglichst kurzfristig nach einem Erbfall von etwaigen Testamenten und Erbverträgen erfahren. Das ist aber heute nicht hinreichend gewährleistet, wie ein Blick in die Praxis zeigt: Bislang müssen die für die Verwahrung zuständigen Amtsgerichte und Notare an die Standesämter des Geburtsortes herantreten und diese Stellen über die Verwahrung der erbrelevanten Urkunden informieren. Das geschieht durch die Übersendung von Karteikarten, die dann bei den Geburtsstandesämtern als Testamentsverzeichnisse gesammelt und in Karteikästen aufbewahrt werden. Sobald ein Sterbefall eintritt, benachrichtigt das Standesamt des Sterbeortes das Standesamt des Geburtsortes. Dort wird dann von Hand geprüft, ob der Verstorbene im Testamentsverzeichnis vermerkt ist. Danach wird das Amtsgericht oder der Notar, der das Testament oder den Erbvertrag verwahrt, durch einen Brief über den Sterbefall informiert. Diese Stelle sendet schließlich die Urkunde an das zuständige Nachlassgericht und informiert dieses über den Sterbefall. Man kann sich vorstellen, dass dieses System nicht nur umständlich, zeitaufwändig und für den betroffenen Bürger schwer zu durchblicken, sondern auch fehleranfällig ist. So kann beispielsweise schon eine Änderung der Adresse des Notars dazu führen, dass die Meldung hängenbleibt. Es dürfte insofern unstreitig sein, dass es dringend einer Modernisierung des Benachrichtigungswesens bedarf. Der Gesetzentwurf des Bundesrates schafft nun die gesetzlichen Voraussetzungen, damit künftig bei der Bundesnotarkammer ein elektronisch geführtes zentrales Testamentsregister eingerichtet werden kann. Die Einrichtung und dauerhafte Führung des Registers soll der Bundesnotarkammer - mithin einer Körperschaft des öffentlichen Rechts - als Pflichtaufgabe zugewiesen werden. Die Bundesnotarkammer soll dann die Aufgaben einer Registerbehörde im Wege der mittelbaren Staatsverwaltung unter Rechtsaufsicht des Bundesjustizministeriums übernehmen. Künftig sollen, so der Vorschlag des Bundesrates, alle vorhandenen Daten in das Zentrale Testamentsregister überführt werden. In diesem Register wären demnach Daten über den Verwahrungsort von Testamenten und Erbverträgen, die sich in amtlicher Verwahrung befinden, erfasst. Nach den Plänen der Länder wären die Standesämter verpflichtet, der Bundesnotarkammer als Registerbehörde jeden Sterbefall mitzuteilen. Diese wiederum kann dann prüfen, ob im Zentralen Testamentsregister Verwahrangaben vorliegen, und danach im Wege der automatisierten elektronischen Datenübertragung das Nachlassgericht und die verwahrenden Stellen über den Sterbefall sowie etwaige Verwahrangaben benachrichtigen. Damit wäre gewährleistet, dass das Nachlassgericht zeitnah und verlässlich von den Informationen Kenntnis erlangt, die es zur Testamentseröffnung und der Ausstellung eines Erbscheins benötigt. Das wäre ein großer Fortschritt und eine erhebliche Verbesserung, nicht zuletzt für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Insgesamt würde das Benachrichtigungswesen infolge der zentralen elektronischen Registrierung effektiver, weniger fehleranfällig und transparenter. Darüber hinaus verspricht die Umstellung erheblich weniger Verwaltungsaufwand. Schließlich würde die zentrale Registrierung die Möglichkeit eröffnen, dass sich die Bundesrepublik an den Bestrebungen verschiedener europäischer Staaten zur Vernetzung der nationalen Testamentskarteien beteiligt. Wir sind der Auffassung, dass es gute und stichhaltige Gründe gibt, das Register zentral bei der Bundesnotarkammer einzurichten: In jahrelanger Arbeit hat die Bundesnotarkammer ein grundsätzlich überzeugendes Konzept erarbeitet, das neben der Zielsetzung eines effektiven Benachrichtigungswesens auch die Einhaltung des Datenschutzes und der Datensicherheit gewährleistet. Der Bundesrat geht zu Recht davon aus, dass die Bundesnotarkammer über ausreichend Erfahrung und die erforderlichen Ressourcen verfügt, um ihr Konzept technisch und organisatorisch zu realisieren. Neben der sachlichen Nähe zum Testamentswesen zeigen insbesondere auch die äußerst positiven Erfahrungen bei der Einrichtung und dem Betrieb des Zentralen Vorsorgeregisters, dass die Bundesnotarkammer eine solche Herausforderung meistern kann. Wir sind daher zuversichtlich, dass ein solches Register sehr gut bei der Bundesnotarkammer aufgehoben ist. Die Kosten der Einrichtung sollen nach einer vom Bundesrat eingeholten Machbarkeitsstudie bei voraussichtlich einmalig 12,6 Millionen Euro liegen. Die Bundesnotarkammer hat sich bereiterklärt, diesen Betrag vorzufinanzieren. Die laufenden Kosten des Registers werden mit jährlich 2,8 Millionen Euro veranschlagt. Beides, also die Rückführung der Vorfinanzierung wie auch die Finanzierung der laufenden Kosten des Registrierbetriebes, sollen durch eine einmalige Registrierungsgebühr in Höhe von 15 Euro gedeckt sein - ein nach unserer Ansicht fairer und den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern zumutbarer Betrag. Von der Bundesregierung wird das Gesetzgebungsvorhaben ausdrücklich begrüßt. Lediglich bei einzelnen Punkten gibt es aus ihrer Sicht Nachbesserungs- bzw. Klärungsbedarf. So ist die Bundesregierung beispielsweise der Auffassung, dass eine Benachrichtigung des für das Erbscheinsverfahren zuständigen Nachlassgerichts nicht notwendig und im Übrigen ohne Prüfung der örtlichen Zuständigkeit auch gar nicht möglich sei. Bei einer automatischen Benachrichtigung bestehe zudem die Gefahr, so die Sorge der Bundesregierung, dass bei den Nachlassgerichten eine Vielzahl von Negativmeldungen eingehen. Vorzugswürdig sei daher, dass im Erbscheinverfahren das Nachlassgericht seinerseits im Wege des Amtsermittlungsgrundsatzes beim Zentralen Testamentsregister eine Auskunft einholt. Bereits im Koalitionsvertrag haben wir die Einrichtung eines Zentralen Testamentsregisters vereinbart. Insofern handelt es sich bei dem vorliegenden Gesetzentwurf auch um unser Vorhaben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt daher wie die Bundesregierung ausdrücklich die Initiative des Bundesrates. Es handelt sich zweifellos um ein gutes und ausgereiftes Konzept, das im Interesse der betroffenen Bürgerinnen und Bürger zeitnah realisiert werden sollte. Klärungs- bzw. Änderungsbedarf gibt es allenfalls noch im Detail. Die Bundesregierung hat hier einige Punkte in ihrer Stellungnahme genannt. Wir werden diese Fragen in den Ausschussberatungen zügig und konstruktiv prüfen und diskutieren. Christoph Strässer (SPD): Der Tod gehört zum Leben dazu. Viele Bürgerinnen und Bürger setzen sich frühzeitig mit dem Sterben auseinander und verfassen ihren letzten Willen privat- und handschriftlich zu Hause oder hinterlegen diesen rechtzeitig bei einem Notar oder einem Amtsgericht. Über 15 Millionen Testamente und Erbverträge werden zurzeit von den öffentlichen Urkundenstellen in der gesamten Bundesrepublik verwahrt. Und genau dieselbe Anzahl an Karteikarten - nämlich 15 Millionen - befindet sich zusätzlich beim zuständigen Amtsgericht Schöneberg, der Hauptkartei für Testamente, oder bei dem Standesamt der Geburtsstadt des Erblassers, um Auskunft über den Verwahrungsort der jeweiligen Urkunde zu geben. Das bisherige Registerwesen ist also dezentral-zersplittert, papiergebunden, nicht auf dem neusten Stand der Technik, kurzum: nicht mehr zeitgemäß. Stirbt ein Erblasser, setzt dies einen schwerfälligen Benachrichtigungsprozess in Gang. Das Standesamt des Sterbeorts informiert das Standesamt des Geburtsorts und das Amtsgericht Schöneberg über den Sterbefall. Diese schauen dann in ihrer Kartei nach, ob der Verstorbene im Verzeichnis vermerkt ist und wo eine erbfolgerelevante Urkunde hinterlegt wurde. Diese Information wird an die Verwahrungsstelle weitergeleitet, die wiederum dem zuständigen Nachlassgericht die Dokumente zukommen lässt. Erst mit dieser letzten Handlung wird das Nachlassgericht über den Sterbefall und das Vorliegen eines Testaments oder Erbvertrags in Kenntnis gesetzt und kann dem Erben einen Erbschein ausstellen. Welche Nachteile bringt ein solcher Prozess mit sich? Zunächst drängt sich der zeitliche Aspekt auf. Die Bearbeitung eines Sterbefalls kann sich bei der Karteistelle unter Umständen über ein ganzes Jahr hinziehen. Grund für diesen langen Zeitraum ist die Tatsache, dass die Angaben auf den Karteikarten im Laufe der Zeit mangels stetiger Aktualisierung ihre Richtigkeit verlieren können, zum Beispiel wenn Notare ihren Amtssitz wechseln oder aus ihrem Amt ausscheiden. Folge ist, dass Angaben auf der einmal erstellten Karteikarte nicht mehr auf den neusten Stand gebracht werden. Die Recherche des neuen Verwahrungsorts der Urkunden kostet die Karteistelle Zeit, was automatisch auch mit höheren Personalkosten verbunden ist. Dazu kommt die für den Bürger als auch für die zuständigen Stellen fehlende Transparenz dieses Benachrichtigungssystems. Im Zeitalter der neuen Medien sollte für eine schnellere und sicherere Bearbeitung in Nachlasssachen auf das Austauschen von Informationen durch elektronischen Schriftwechsel gesetzt werden. Die beteiligten Stellen informieren einander immer noch per Post. Geht ein Brief auf dem Postweg verloren, kann dies zumindest in der ersten Zeit von keiner der beteiligten Stellen entdeckt und zurückverfolgt werden. Das Verfahren stockt. Aufgrund der fehlenden Transparenz - die man aber durch den Einsatz neuer Medien erreichen könnte - entstehen dem Erben Nachteile, die die Ausstellung eines korrekten Erbscheins durch das zuständige Nachlassgericht unter Umständen gefährden könnten. Mit dem vorliegenden Bundesratsentwurf soll durch die Schaffung eines elektronischen zentralen Testamentsregisters das Benachrichtigungswesen in Nachlasssachen modernisiert werden und damit sowohl den Gerichten und Notaren als auch den Bürgerinnen und Bürgern Zeit und Geld sparen. Ein solches zentrales Testamentsregister könnte die Zettelwirtschaft in den über 5 200 öffentlichen Stellen beenden, Synergien schaffen, Bearbeitungszeiten verkürzen und somit die Arbeit der öffentlichen Stellen zugunsten der Erben erleichtern. Das elektronische Register könnte, wenn es an den Start geht, alle neu mitgeteilten Testamente registrieren. Für die notwendige Registrierung der Altbestände werden bis zu fünf Jahre veranschlagt. Zwei Systeme parallel laufen zu lassen, wäre sicherlich nicht sinnvoll und würde den gewünschten Transparenzgewinn um viele Jahre oder Jahrzehnte verzögern. Ferner könnte die Konzentration aller relevanten Daten über den Aufenthaltsort von Urkunden weitere positive Nebeneffekte mit sich bringen. Notare, Gerichte und Behörden könnten ohne größeren Aufwand die bei ihnen verwahrten Dokumente melden und gegebenenfalls auch aktualisieren. Für jede dieser Aufgaben wäre ein und dieselbe Stelle zuständig. Außerdem wäre es einem Notar durch diese Informationssammlung möglich, im Namen seines Mandanten nach bereits existierenden Verfügungen von Todes wegen zu suchen, über die der Mandant keine oder nur noch ungenaue Angaben machen kann. Gegen diese Art der Bündelung von sehr persönlichen Informationen könnten allerdings datenschutzrechtliche Bedenken sprechen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass ein in Deutschland so sensibles Thema wie die Datenspeicherung einer genauen Regelung über Art und Umfang der Speicherung bedarf. Deshalb soll das Register auch nicht die Urkunden oder deren Inhalt, sondern nur Angaben enthalten, von wem das Testament oder der Erbvertrag stammt und wo diese hinterlegt sind. Gleichwohl sollten im Ausschuss noch einmal die datenschutzrechtlichen Fragen diskutiert werden. Wo soll das elektronische Register entstehen? Man hat sich für die Bundesnotarkammer entschieden. Das Land Berlin hat angekündigt, sich von der Hauptkartei in Schöneberg trennen zu wollen. Registerbehörden in den Ländern hätten die Idee einer zentralen Stelle entwertet. Die Bundesnotarkammer verfügt derweil bereits über elektronische Datenbanken zur Verwaltung von Namen und Adressen von Notaren und Amtsgerichten. Die Bundesnotarkammer verfügt auch über Erfahrungen mit der Handhabung ähnlicher Register wie dem zentralen Vorsorgeregister. Es sprechen also durchaus einige Gründe für die Übertragung der Verantwortung auf die Bundesnotarkammer. Mit der Einführung eines neuen elektronischen Registers gehen auch entsprechende Kosten für die technischen Geräte sowie die Arbeitszeit für den Registeraufbau durch Fachpersonal einher. Dazu werden einmalig Kosten von 12,6 Millionen Euro sowie jährlich anfallende Kosten für die Pflege des Systems in Höhe von 2,8 Millionen Euro veranschlagt. Diese Kosten will die Bundesnotarkammer übernehmen. Die Rückfinanzierung soll über eine Registergebühr von 15 Euro pro Eintrag und Gebühren für Auskünfte laufen. Dass eine öffentlich-rechtliche Körperschaft wie die Bundesnotarkammer, die bereits für die Verwaltung des zentralen Vorsorgeregisters zuständig ist, mehrere Millionen in ein weiteres Register investieren möchte, wirft die Frage auf, was sich die Kammer von der Vorfinanzierung erhofft und wie sich die Gebühren zukünftig entwickeln. Die Gebühren variieren in Europa deutlich - angefangen von drei Euro in Tschechien, 9 Euro in den Niederlanden, über 17 Euro in Belgien oder zum Beispiel 41 Euro in Slowenien. Die für Deutschland veranschlagten Gebühren bewegen sich danach zunächst im Rahmen. Ich möchte dennoch in den Ausschussberatungen einen Einblick in die Kostenkalkulation und die mögliche Kostenentwicklung für die Bürger erhalten. Die Idee eines zentralen elektronischen Testamentsregisters berücksichtigt auch die europäische Entwicklung, speziell in unseren Nachbarländern. Seit 2007 strebt die Europäische Kommission bereits eine Vereinheitlichung des Benachrichtigungssystems in Nachlasssachen an, um das Leben der EU-Bürger zu erleichtern. Menschen werden mobiler. Sie fahren in Urlaub, pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz oder wandern sogar ganz aus. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zieht es die Deutschen überwiegend in das europäische Ausland. Viele EU-Bürger zieht es nach Deutschland. Insgesamt 19 europäische Länder, darunter Frankreich, Großbritannien, Belgien, die Niederlande oder Österreich, haben bereits ein zentrales Testamentsregister. Würde sich Deutschland ebenfalls für ein solches Register entscheiden, wäre aus europäischer Sicht ein großer Schritt Richtung Vereinheitlichung in Nachlasssachen unternommen. Endlich würde ein grenzüberschreitendes Auskunftswesen möglich gemacht. Einen Diskussionspunkt stellt die neue Regelung des § 78 b Abs. 3 BNotO dar. Darin wird ausschließlich die Registrierfähigkeit von öffentlich beurkundeten und in amtliche Verwahrung genommenen erbfolgerelevanten Dokumenten bejaht. Privatschriftliche Urkunden werden von der BNotO nicht erfasst. Folge ist, dass Erblasser, die ihr Testament in den eigenen vier Wänden verwahren, es aber trotzdem im zentralen Testamentsregister eintragen lassen möchten, dies gesetzlich nicht dürfen. So erlaubt aber zum Beispiel die Verordnung über das zentrale Vorsorgeregister auch die Registrierung von Vorsorgevollmachten, die nicht von einem Notar beurkundet wurden. Innerhalb der Behandlung des Rechtsausschusses sollte die Frage geklärt werden, ob nicht auch privat aufbewahrte Testamente im Register registriert werden können, auch wenn der Verwahrungsort wechseln kann. In den Bundesratsausschusssitzungen hat der Gesetzentwurf große Zustimmung erfahren. Er wurde ohne Gegenstimme sowohl von den A- als auch den B-Ländern angenommen. Die Einführung eines zentralen Testamentsregisters ist grundsätzlich positiv zu bewerten - für die Länder, den Bund, aber auch für die Bürger. Ich hoffe, dass wir die noch offenen und beratungsbedürftigen Fragen in den Ausschusssitzungen gemeinsam zielführend erörtern und ein modernes Testamentsregister auf den Weg bringen können. Jens Petermann (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates kommen erneut Mehrkosten auf die Bürgerinnen und Bürger zu. In der ohnehin chronisch unterbesetzten Justiz sollen Stellen eingespart werden, ohne dass eine Kompensation geplant wird. Worum geht es also? Die Landesregierungen wollen ein elektronisch geführtes Zentrales Testamentsregister bei der Bundesnotarkammer einrichten. Dies ist zunächst begrüßenswert. Zum einen kann ich mir die Bundesnotarkammer als geeignete Stelle dafür vorstellen, da sie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist und in dieser Sache der Aufsicht des Bundesministeriums für Justiz untersteht. Auch wenn die Benachrichtigung der Nachlassgerichte über den Tod eines Erblassers und der Verwahrungsort erbfolgerelevanter Urkunden funktionell Aufgabe der Justiz ist, scheint wenigstens die Gefahr des allseits beliebten Outsourcings in die private Hand gebannt zu sein. Zum anderen ist es gut, dass die Benachrichtigung in Nachlasssachen endlich technisch zeitgemäß erfolgen soll und der zeitaufwändige postalische Mitteilungsweg von den verschiedenen zuständigen Stellen aufgegeben wird. Die Registrierung von erbrechtlichen Urkunden bei circa 5 200 Geburtsstandesämtern (bei im Inland registrierter Geburt) auf Karteikarten nach dem Zettelkastenprinzip ist nun wirklich vorsintflutlich. Die komplizierten Meldewege, erheblichen Verzögerungen und die Kapazitätsgrenzen der Hauptkartei beim Amtsgericht Schöneberg (mit Auslandsbezug) zwingen auch zu diesem Schritt. Allerdings scheint dieser Plan nicht ausgereift und unzureichend durchdacht. Durch die Einrichtung des Zentralen Testamentsregisters entstehen voraussichtlich Kosten in Höhe von 12,6 Millionen Euro, wobei die laufenden Kosten mit jährlich 2,8 Millionen Euro veranschlagt werden. Die Bundesnotarkammer hat sich bereit erklärt, die Kosten vorzufinanzieren. Eigentlich haben die Länder die Kosten dafür zu übernehmen. Die von der Bundesnotarkammer vorfinanzierten Kosten und auch die laufenden Kosten holt sie sich von den Nutzerinnen und Nutzern zurück und wird wohl in absehbarerer Zeit daraus Profit ziehen können. Die ins Auge gefasste "moderate" Registrierungsgebühr von 15 Euro soll mit einem Einsparpotenzial im Bereich der Justiz- und Innenverwaltung gerechtfertigt werden. Kurz gesagt: Die Bürgerinnen und Bürger finanzieren die Streichung von Stellen in der Verwaltung und damit die Sparmaßnahmen der Länder. Dabei gibt es so viele Bereiche in der Justiz, wo dringend Personal gebraucht wird. Mir fallen da spontan die überlasteten Sozialgerichte ein, deren Verfahrenspensum jenseits von Gut und Böse liegt und denen neben Richterinnen und Richtern auch Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger sowie Geschäftsstellenangestellte fehlen. Abgesehen von dem Preis, der für diese Art von Zentralem Testamentsregister gezahlt werden muss, ist das vorgesehene Verfahren durchaus sinnvoll. Der direkte elektronische Zugriff der Nachlassgerichte auf die gespeicherten Daten bringt einen enormen Zeitgewinn bei der Suche, ob überhaupt und wo ein Testament amtlich verwahrt wird. Das Risiko eines Verlustes von Verwahrungsnachrichten auf dem Postweg bestünde damit nicht mehr, jedoch ist auch eine vollelektronische Datenbank nicht vor Fehlern sicher. Es besteht die Gefahr, dass Daten bei der Übersendung und Speicherung durch technisches oder menschliches Versagen verloren gehen. Als noch größere Gefahr sehe ich aber, dass kriminelle Hacker das Zentrale Testamentsregister entern und damit an amtlich verwahrte Informationen gelangen können. Bei einer dezentralen Karteikartenregistratur bestand jedenfalls diese Gefahr nicht. Damit bin ich beim Thema Datenschutz. Die Regelung in § 8 des Gesetzes zur Überführung der Testamentsverzeichnisse und der Hauptkartei des für ausländische Testamente zuständigen Amtsgerichts Schöneberg in das Zentrale Testamentsregister der Bundesnotarkammer sieht wohl einen Datenschutz vor, ist aber nicht konsistent. Durch die Speicherung besonders schutzwürdiger Daten sind die Anforderungen an den Datenschutz bereichsspezifisch besonders hoch anzusetzen. Jedoch wird in diesem Gesetzentwurf die Datensicherheit nicht einmal dem Umfang des Bundesdatenschutzgesetzes gerecht. Deshalb würde ich mein Testament nicht in amtliche Verwahrung geben. Gestatten Sie mir noch einen letzten Hinweis: Ich befürchte, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene Überleitung der Altdaten weder reibungslos noch zeitnah vonstattengehen wird. Deshalb fordern wir eine Übergangsregelung für die Zeit, in der die Standesämter, das Amtsgericht Schöneberg sowie das neue Zentrale Testamentsregister gleichzeitig arbeiten werden, damit der Bürger weiß, wer für seine Angelegenheit zuständig ist. Ich hoffe, dass es der Bundesregierung gelingt, die Kritikpunkte auszuräumen und uns die Zustimmung zum Gesetzentwurf damit zu erleichtern. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir befassen uns heute mit dem Antrag des Bundesrates zur Einführung eines zentralen Testamentsregisters und eines zentralen Vorsorgeregisters. Der vorliegende Gesetzentwurf befasst sich neben der Zusammenführung von Urkunden zu Erbfällen auch mit Bereichen der Vorsorgevollmacht und Betreuungsvollmacht. Grundsätzlich befürworten wir die Einführung von zentralen Registern. Denn durch sie können - bei richtiger Umsetzung - Verfahren vereinfacht und vor allem beschleunigt werden. Zentrale Register können zu einer Reduzierung von bürokratischen Abläufen führen. Der Gesetzentwurf beantwortet allerdings nicht hinreichend die Frage, wie ein zentrales Testamentsregister und Vorsorgeregister sicher und sinnvoll instrumentalisiert werden kann. Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht vor, die Materie durch Rechtsverordnung zu regeln. Neben der Zusammenführung von Urkunden zu Erbfällen werden auch Bereiche der Vorsorgevollmacht und Betreuungsvollmacht erfasst. In den zentralen Registern sollen somit Daten aus verschiedenen Lebensbereichen und von unterschiedlichen Stellen zusammengeführt werden. Dadurch entsteht eine zentrale Datenbank. Entscheidende Punkte, wie der Umfang der anzumeldenden Dokumente, die Aufsichtspflicht über den Bestand, Sicherheitsstandards usw. bergen erhebliche datenschutzrechtliche Risiken, insbesondere im Hinblick auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung. Für Vorhaben dieser Größenordnung sieht unsere Verfassung den Vorbehalt des Gesetzes vor. Das Parlament darf es sich nicht nehmen lassen, diese Materie durch ein Gesetz zu regeln. Auch auf weitere Aspekte aus dem Gesetzentwurf möchte ich eingehen. Wir sind der Ansicht, dass auch für ein sicheres Testamentsregister der Datenschutz an oberster Stelle stehen muss. Wir können nicht 12,6 Millionen Euro für eine solche Maßnahme aufwenden und dabei den Datenschutz nur unzureichend berücksichtigen. Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht vor, die Speicherung und Aufnahme der Daten lediglich im Sinne des § 8 Bundesdatenschutzgesetz zu gewährleisten. Die maßgeblichen Vorschriften für Anforderungen an die technischen und organisatorischen Maßnahmen werden durch § 9 Bundesdatenschutzgesetz sichergestellt. Diese Schutzmaßnahmen greift der Gesetzesentwurf nicht auf. Die Speicherung und Aufnahme der Daten wäre demnach lückenhaft. Hinzu kommt, dass der Gesetzentwurf sich bei der Erhebung und Verwendung der Daten nicht auf das notwendige Maß beschränkt. Diese einschränkende Regelung fehlt vollkommen. Der Datenschutz wird somit nicht vollumfänglich gewährleistet. Ein weiterer Aspekt betrifft den Übermittlungs- und Überführungsvorgang. Wie kann sichergestellt werden, dass die Daten auch übertragen werden, wenn die Technik versagt? Der Gesetzentwurf sieht neben den elektronischen Regelungen keine Ausnahmen vor. Auch im Zeitalter der scheinbar perfekten Technik sollten wir immer auch noch eine andere Art der Datenübertragung sicherstellen. Wir müssen dafür sorgen, dass Informationen auch mit anderen Mitteln von A nach B gelangen können. Wo kann ich während der Überführung in das neue Register in den nächsten drei Jahren Auskunft verlangen? Der Gesetzentwurf enthält Regelungen zur Überführung der Altakten. Allerdings ist nicht geregelt, wann die Überführung beendet sein soll. Der Gesetzestext bietet keine hinreichende Gewähr dafür, dass es zu einem Nebeneinander zwischen altem und neuem System kommt. Wir regen an, dass eine Fristenregelung zur Überführung der Altdaten eingeführt wird. Dies kann erheblichen Verzögerungen vorbeugen. Um ein sinnvolles Testamentsregister zu schaffen, sollte klar geregelt werden, wann die Registerbehörde Mitteilungen zu machen hat. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Registerbehörde im Todesfalle eine Mitteilung an das Nachlassgericht tätigt. Diese Regelung ist nicht praktikabel, da das Gericht in der Regel erst tätig wird, wenn ein Erbscheinverfahren eingeleitet wird. Dann ist eine Auskunftserteilung von Amts wegen möglich. Eine vorherige Zusendung würde ohne Bearbeitung bei Gericht liegen und keinem Verfahren zugeordnet werden können. Diese Vorschrift würde somit nur unnötigen Arbeitsaufwand verursachen. Ich möchte gerne noch einen anderen wichtigen Aspekt ansprechen: das Auskunftsrecht der Erblasser. Für das Register ist lediglich vorgesehen, dass Gerichten und Notaren auf Ersuchen Auskunft aus dem Register erteilt wird. Das genügt unserer Ansicht nach nicht. Den Erblassern sollte ein eigenes Auskunftsrecht zustehen. Schließlich werden dort ihre Testamente registriert. Als letzten Punkt komme ich auf die Kosten zu sprechen. In der Begründung führt der Bundesrat aus, dass das Vorhaben Kosten in Höhe von 12,6 Millionen Euro verursachen wird. Die Kosten des laufenden Registerbetriebs werden mit jährlich 2,8 Millionen Euro veranschlagt. Durch die Registergebühr in Höhe von 15 Euro sollen diese Kosten bezahlt werden können. Konkretere Angaben über die Einkommensseite werden nicht gemacht. Bei Vorhaben von solchem Ausmaß ist aber eine genaue Kalkulation vonnöten. Abschließend ist zu sagen, dass der Ansatz des Bundesrates zu begrüßen ist. Jedoch ist das Vorhaben insgesamt nicht ausreichend durchdacht. Insbesondere das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht ausreichend abgesichert. Der Datenschutz ist lückenhaft. Meine Fraktion lehnt diesen Antrag deshalb ab. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Im Koalitionsvertrag haben wir uns auf die Modernisierung des Mitteilungswesens in Nachlasssachen durch die Einrichtung eines Zentralen Testamentsregister bei der Bundesnotarkammer verständigt. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates ist man ein gutes Stück auf diesem Weg vorangekommen. Das für die Eröffnung von Testamenten derzeit bestehende Benachrichtigungssystem zwischen Notaren, Gerichten und Standesämtern ist nicht mehr zeitgemäß und störanfällig. In diesem sensiblen Bereich - der für jeden einzelnen Bürger von Bedeutung sein kann - ist das elektronische Zeitalter noch nicht angekommen. Dies soll und muss sich nun ändern. Durch ein zentrales, elektronisches System wird zukünftig jeder, der ein Testament errichtet und es amtlich verwahren lassen hat, die elektronisch gestützte Gewissheit erhalten, dass dies im Erbfall auch eröffnet wird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird ein antiquiertes System reformiert und werden zugleich neue Möglichkeiten eines modernen Informationsaustausches auch auf europäischer Ebene eröffnet. Doch wo Chancen sind, gibt es auch Risiken. Besonders bei einer zentralen elektronischen Registrierung müssen die Datenschutzrechte gesichert sein. Darauf lege ich in der gegenwärtigen Debatte über den Schutz von Persönlichkeitsrechten in den elektronischen Medien besonderen Wert. Der Gesetzentwurf sollte daher vom Bundesrat in Teilbereichen nochmals geprüft werden. Das Zentrale Testamentsregister ist ein inhaltlich und technisch anspruchsvolles Projekt, dem sich vor allem die Bundesnotarkammer gestellt hat. Dabei kommen ihr die Erfahrungen aus dem Aufbau und dem Betrieb des Vorsorgeregisters zugute. Eine Herausforderung besonderer Art wird beim Testamentsregister allerdings die Überführung der Alt-Verwahrdaten sein. Ein zentrales Register kann nur erfolgreich funktionieren, wenn auch die bereits millionenfach vorhandenen Karteikarten in das neue elektronische System überführt werden. In diesem Zusammenhang werden Details der Finanzierung des Projekts durch Gebühren noch genauer zu prüfen sein - auch wenn ich die Registergebühr in Höhe von 15 Euro für durchaus moderat halte. Trotz dieser noch nicht abschließend beantworteten Einzelfragen sind wir sehr zuversichtlich, dass der Gesetzentwurf eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen und für die erfolgreiche Umsetzung des Projekts ist. Im Ergebnis wird das neue Testamentsregister die Rechtssicherheit in der Testierfreiheit jedes einzelnen Bürgers stärken und zugleich Verwaltungswege effizienter und damit moderner gestalten. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren (Tagesordnungspunkt 19) Frank Heinrich (CDU/CSU): Menschenrechtsthemen stehen in dieser Legislaturperiode hoch im Kurs. Die Häufigkeit der Plenardebatten spricht hier eine deutliche Sprache. Und das ist gut so. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und der FDP hat bereits im Koalitionsvertrag den Menschenrechten einen besonderen Stellenwert in ihrer Arbeit eingeräumt. Als Querschnittsthema durchzieht es alle Politikfelder: die Innen- wie die Außenpolitik, die Wirtschafts- wie die Sozialpolitik. Der Mensch, das mündige Subjekt, das Individuum in Freiheit und Verantwortung, ist das Thema und der Mittelpunkt christlich-liberaler Politik. Hier und heute debattieren wir über das Individualbeschwerdeverfahren zu den sogenannten WSK-Rechten, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Wir debattieren damit in medias res, mitten hinein ins Herzen des Themas. Direkter kann man nicht über Menschenrechte sprechen. Darum begrüße ich die heutige Debatte, auch wenn meine Fraktion und ich dem Antrag der SPD-Fraktion in dieser Form nicht zustimmen können. Nun zur Sache: Man stelle sich vor, dass man einmal ein Menschenrecht herausgreift, ein Einziges, um es als das zentralste, das wichtigste, das unmittelbarste zu deklarieren. Natürlich geht das nur hypothetisch, denn schließlich ist ja gerade das unser höchstes Gut: dass Menschenrechte eben nicht teilbar sind, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat - jeder Mensch; auch der Mensch, der anders aussieht als die anderen, auch der Mensch, der anders fühlt und anders liebt als die anderen, der Mensch, der anders denkt oder anders glaubt als die anderen. Denn nicht die Norm definiert die Würde des Menschen, sondern eben gerade seine Individualität. Wir alle besitzen die gleichen Rechte, weil wir unteilbare Einzelne sind, als Menschen, als Geschöpfe, als Ebenbilder Gottes. Aber nehmen wir einmal an, man könnte es: ein Menschenrecht herausgreifen und extrapolieren. Welches müsste das sein? Die Antwort lässt an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig. Das vornehmste Menschenrecht kann nur das Appell-, das Klage-, das Beschwerderecht des Individuums sein. Wie sonst kann ein Mensch seine unveräußerlichen Rechte wahren, wenn er sie nicht einklagen kann? Wie sonst kann ein Mensch sich gegen jede Form von staatlicher Willkür zur Wehr setzen? Nur wer eine unabhängige und übergeordnete Instanz besitzt, an die er sich wenden kann und die ihm sein Recht verschafft, wird in die Lage versetzt, sein Menschenrecht auch wirklich als ein einklagbares Recht wahrzunehmen. Eben deshalb hat die Bundesregierung auch federführend und, wie sie in ihrem Antrag richtigerweise formuliert, "aktiv und konstruktiv" daran mitgewirkt, das Dokument zu erarbeiten, welches die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 2008 angenommen hat und über dessen Ratifizierung wir heute sprechen: das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren. Durch dieses Protokoll wird ermöglicht, dass Einzelpersonen oder Gruppen - auch im Namen anderer - Beschwerden einlegen können, wenn sie die im UN-Sozialpakt festgeschriebenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verletzt sehen und den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. Dadurch werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die seit der Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte 1993 gemeinsam mit den bürgerlichen und politischen Menschenrechten als unteilbar miteinander verknüpft gelten, in ihrer Bedeutung gestärkt. Dies ist ein weiterer und notwendiger Schritt, die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu stärken. Daher kann ich dem Anliegen der Kollegen von der SPD-Fraktion, eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls zügig zu ermöglichen, nur zustimmen. Wie Sie in Ihrem Antrag weiterhin richtig feststellen, hat "Deutschland bereits Individualbeschwerdemechanismen zum UN-Zivilpakt, zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, zur UN-Anti-Folter-Konvention und zur UN-Behinderten-Konvention anerkannt". Das ist richtig und unterstreicht den Stellenwert, den Menschenrechte in Deutschland haben. Dennoch müssen wir feststellen, dass Deutschland noch nicht zu den Unterzeichnern des Zusatzprotokolls gehört. Momentan haben 31 Staaten das Zusatzprotokoll ratifiziert, darunter auch zehn europäische Staaten. Deutschland gehört noch nicht dazu. Nun stellt sich mir die Frage: Wenn die Bundesregierung nun wirklich keinen Anlass gibt, am Stellenwert menschenrechtlicher Themen zu zweifeln, wenn man eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls unterstützt und gerade wenn man die Unteilbarkeit der Menschenrechte durch eine Aufwertung der WSK-Rechte gestärkt sieht: Warum ist dies der Fall? Warum zeichnet die Bundesregierung, die ja federführend an der Erstellung mitgewirkt hat, das Protokoll nicht schneller? Es muss ja Gründe geben. Die Antwort ist mehrschichtig, aber eigentlich nicht sonderlich kompliziert: Wie im Antrag richtig dargestellt, überprüft das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, in dessen Verantwortung der Ratifizierungsprozess liegt, die juristischen Folgen, die sich aus der Unterzeichnung ergeben. Eine solche umfassende Prüfung muss der Zeichnung notwendigerweise vorausgehen. Würde dieser komplexe und umfangreiche Prozess abgekürzt, könnte das in der Konsequenz negative Folgen haben, die der Absicht des Zusatzprotokolls gerade entgegengesetzt sind. Diese negativen Folgen eines voreiligen Beschlusses können sich in zwei Richtungen entwickeln: Erstens ist eine Klageflut möglich. Auch wenn die Kollegen von der SPD in ihrem Antrag auf die geringen Fallzahlen von Beschwerden bei den von Deutschland anerkannten Individualbeschwerdemechanismen zum UN-Zivilpakt, zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, zur UN-Anti-Folter-Konvention und zur UN-Behinderten-Konvention verweisen, lassen sich daraus keine gesicherten Rückschlüsse auf die WSK-Rechte ziehen. Sollte es tatsächlich zu einer Flut von Klagen kommen, würde dies die Dauer der einzelnen Verfahren erheblich verzögern, was den wirklichen Opfern gerade nicht gerecht werden würde, da auch ihre Anliegen nicht in der gebotenen Dringlichkeit bearbeitet werden könnten. Es gilt hier nichts anderes als an anderen Stellen des politischen Alltages auch - ich gestatte mir nur den Hinweis auf die Entstehung von Hartz IV -: Was mit heißer Nadel gestrickt ist, wird langfristig mehr Zeit und Geld kosten als eine gründlich erarbeitete Lösung. Übrigens ist die Aussage der Antragssteller irreführend, dass durch die Ratifizierung keine neuen Verpflichtungen über jene hinaus entstehen, zu denen sich Deutschland als Vertragsstaat des Sozialpakts sowieso verpflichtet hat. Wäre dies der Fall, so wäre eine umfassende juristische Prüfung nicht notwendig. Da haben Sie recht. Allerdings wäre dann auch ein Zusatzprotokoll an sich obsolet, und das können Sie doch eigentlich nicht meinen. Zweitens. Menschen, deren Rechte verletzt werden, müssen für ihre Beschwerde Rechtssicherheit haben. Solange die Rechtslage nicht klar und eindeutig nachvollziehbar und gesichert ist, könnte das dazu führen, dass auch inhaltlich berechtigte Klagen formal juristisch abgewiesen werden müssten. Das schwächt in der Folge die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Menschen, statt sie im Sinne des Zusatzprotokolls zu stärken. Eine weitere negative Konsequenz bestünde darin, dass die "Täter" quasi reingewaschen werden könnten. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Vor einigen Jahren habe ich den Fall eines Mannes miterlebt, der in Ausübung eines therapeutischen Berufes sexuell übergriffig geworden ist. Das Opfer wollte, nachdem es sich einer Vertrauensperson offenbart hatte, Anzeige erstatten. Sie ging zum Anwalt, um sich Rat zu holen. Der Anwalt riet ihr zunächst von einer Anzeige ab. Es gab keine Zeugen des Geschehens. Die Beweislage war zu wenig eindeutig, als dass es zu einer Verurteilung gereicht hätte. Im Umkehrschluss wäre also ein Freispruch für den Täter erfolgt - für die betroffene Person eine weitere Demütigung. Unsichere Rechtslagen verstärken das Unrecht. Das kann nicht im Sinne des Zusatzprotokolls sein. Darum prüft das BMAS die Ratifizierung ausführlich. Und das ist zu begrüßen. Eine Zeichnung des Zusatzprotokolls durch die Bundesrepublik Deutschland sollte erfolgen, das ist unstrittig. Dies soll so schnell wie möglich geschehen, und es soll so gründlich wie nötig geschehen. Ein Letztes: Die Antragsteller fordern die Bundesregierung auf, zur Klärung der juristischen Bedenken Professor Dr. Eibe Riedel zurate zu ziehen. Ohne an der fachlichen Qualifikation von Professor Dr. Eibe Riedel irgendeinen Zweifel zu hegen, ist es nicht notwendig, ihn hinzuzuziehen. Es würde sich lediglich um einen weiteren Gutachter handeln. Die juristischen Gutachter der Bundesregierung sind fachlich völlig ausreichend. Gerade im Sinne einer zügigen Ratifizierung ist es sinnvoll, es bei den bestehenden Gutachten zu belassen. Weitere Gutachter würden den Prozess nur unnötig verlängern. Daher folgt die CDU/CSU-Fraktion dem Antrag in seiner Intention, lehnt ihn aber in der vorliegenden Form ab. Ullrich Meßmer (SPD): "Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist. Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Untergang der Gesellschaft bedeuten." Dieses Zitat von Albert Einstein gilt mit seiner Aufforderung und mit seinem Ansporn bis heute und wird auch in Zukunft gelten. Ein halbes Jahr ist seit der ersten Lesung des Antrags "Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt ratifizieren" vergangen, genug Zeit, um Bedenken zu klären und die Abstimmung unter den Ministerien abzuschließen, genug Zeit, um den Weg für eine endgültige Ratifizierung frei zu machen. Das gilt für rechtliche wie politische Bedenken, zumal mit Prof. Eibe Riedel als deutschem Vertreter im WSK-Ausschuss ein Experte gerade für rechtliche Fragen zur Verfügung steht. Es erstaunt schon, dass die gerade von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Ratifizierung bis heute nicht erfolgt ist. Außenpolitisch läuft Deutschland Gefahr, die positive internationale Rolle, die es bei der Entstehung des Zusatzprotokolls eingenommen hat, zu gefährden. Ein negatives Signal für andere Länder. Deutschland hat bereits fünf Individualbeschwerdeverfahren zugelassen, ohne dass sich die befürchtete Beschwerdeflut über Deutschland ergossen hätte. Es wurden gerade einmal 22 Beschwerden aufgrund der bestehenden Verfahren eingereicht. Anerkannt wurde gerade einmal eine Rechtsverletzung aufgrund einer Individualbeschwerde, ich wiederhole: eine! Jede Individualbeschwerde setzt die Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges voraus, konkret in Deutschland den Gang bis vor das Bundesverfassungsgericht. Ich möchte daran erinnern, dass es um Sozialstandards geht. Hier verfügt Deutschland über eines der am besten ausgestatteten Sozialsysteme weltweit. Schon von daher dürften Individualbeschwerden keine Aussicht auf Erfolg haben. Aus der Ratifizierung des Zusatzprotokolls ergeben sich keinerlei neue Verpflichtungen über jene hinaus, zu denen sich Deutschland als Vertragsstaat des UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat. Weitgehend herrscht ja Einigkeit, trotzdem noch einmal ein Blick auf die am häufigsten angeführten Bedenken: So seien die WSK-Rechte zu abstrakt und daher nicht justiziabel. Dahinter steckt offenbar die kaum nachvollziehbare Befürchtung, dass internationale Kontrollinstanzen falsche oder problematische Schlussfolgerungen bei einem Abgleich mit dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht ziehen könnten. Dazu gibt es, wie bereits angeführt, keinen Anlass, es sei denn, man beabsichtigt eine grundlegende Veränderung unseres Sozialstaates. Zum anderen wird befürchtet, dass Verbände diesen Mechanismus missbrauchen, um eigene politische Ziele zu verfolgen und zu befördern. Abgesehen davon, dass die bisherigen Erfahrungen dagegen sprechen, ist bei einer Verletzung von WSK-Rechten immer ein Individuum betroffen. Eine Menschenrechtsverletzung ist per Definition immer individuell, auch wenn eine größere Gruppe insgesamt betroffen ist oder ein Interessenverband für mehrere Betroffene spricht. Dieser Einwand ist logisch also schlicht falsch. Natürlich gibt es Konfliktfelder, die für unser politisches Handeln Herausforderungen darstellen. So ist zum Beispiel das Diskriminierungsverbot in den WSK-Rechten weiter gefasst als die bestehenden deutschen Bestimmungen, da auch "... sonstige Anschauungen, soziale Herkunft, Vermögen, Geburt und sonstiger Status ..." genannt werden. Sanktionen bei Ablehnung einer zumutbaren Arbeit könnten eventuell dem WSK-Recht auf "frei gewählte und angenommene Arbeit" widersprechen. Dies gilt für den Einsatz von Gefangenen in der Privatwirtschaft ebenso. Das bestehende, auch in Teilen unserer Gesellschaft umstrittene Streikverbot für Beamte könnte dem Recht auf gewerkschaftliche Tätigkeit widersprechen. Die Einführung von Studiengebühren in einigen Bundesländern ist mit dem WSK-Recht auf Bildung wohl auch nicht vereinbar. Diese konkreten Punkte treffen eher den Kern der Bedenken, die es aber offenbar nicht nur bei uns gibt. Ein Zitat des UN-Ausschusses für die WSK-Rechte belegt, dass offenbar in mehreren freiheitlich-demokratischen Staaten sich die Konkretisierung der WSK-Rechte in staatliches Handeln und nationale Gesetzgebung schwierig gestaltet: "Die erschreckende Realität ... ist, dass Staaten und die internationale Gemeinschaft als Ganzes noch immer viel zu häufig Verstöße gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte dulden - Verstöße, die, würden sie bürgerliche und politische Rechte verletzen, Entsetzen und Empörung provozieren und zu konzertierten Forderungen nach sofortiger Wiedergutmachung führen würden." Natürlich bleibt es eine Herausforderung, die WSK-Rechte in nationales Recht umzumünzen, aber kein unlösbares Problem und erst recht kein Vorwand, um ein Individualbeschwerdeverfahren abzulehnen. Gegenteil: Das individuelle Beschwerdeverfahren nach Ausschöpfung der nationalen Rechtswege schafft für die betroffenen Menschen zusätzliche Sicherheit. Für die Klärung offener Fragen und Abstimmungsprozesse gab es genügend Zeit und Gelegenheit. Wenn sich Deutschland nicht dem Vorwurf einer gezielten Verzögerungstaktik aussetzen will, müssen den - ausdrücklich auch von meiner Fraktion unterstützten - politischen Ankündigen der Bundesregierung auch Taten folgen. Die Ratifizierung des Zusatzprotokolls bringt mehr Vorteile und Klärung mit sich als Nachteile, vor allem weil dadurch die WSK-Rechte konkret werden, da sie Ansprüche einzelner Menschen aufzeigen. Staatenberichte zum UN-Sozialpakt können das mit ihren "Abschließenden Bemerkungen" und ihren "Allgemeinen Bemerkungen" nicht leisten. In ihnen verschwinden die Menschen hinter Zahlenreihen und Statistiken, in ihnen wird das konkrete Einzelschicksal nur selten greifbar. Mit einem Individualbeschwerdeverfahren aber wird konkretes Recht in einem konkreten Fall für ein konkretes Opfer geschaffen. Erst durch das Individualbeschwerdeverfahren werden die WSK-Rechte auch für Nichtexperten nachvollziehbar und verständlich. Möglichen Opfern wird so geholfen, ihre Situation richtig einzuschätzen und sich Hilfe zu holen. Sie werden damit zu aktiven Trägern ihre Rechte. Sie lernen, diese einzufordern und notfalls durch sämtliche Instanzen hindurch einzuklagen. Damit erfüllen erst die Individualbeschwerdemechanismen den Grundsatz aller Rechtsstaatlichkeit. Zwar haben die UN-Fachausschüsse als die letzte Instanz keine Rechtsetzungsgewalt und können auch keine verbindlichen Urteile aussprechen, die politische Wirkkraft der Empfehlungen und Rügen an den jeweiligen Staat sind aber keinesfalls zu unterschätzen. Und weiter: Erst wenn der Zugang zu entsprechenden individuellen Beschwerdemechanismen sichergestellt ist, erfüllt sich der allgemein anerkannte Grundsatz der Unteilbarkeit und der Interpendenz aller Menschenrechte. Damit wird der UN-Sozialpakt, werden die sogenannten WSK-Rechte den bürgerlichen und politischen Rechten gleichgesetzt. Für die noch verbliebenen Zweifler lasse ich daher noch einmal Charles de Gaulle zu Wort kommen: "Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen, als beständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird." Für die weniger Konservativen zitiere ich auch gerne unseren früheren Außenminister, Dr. Klaus Kinkel: "Eine Gesellschaft, die die Menschenrechte nicht respektiert, blockiert sich selbst." In diesem Sinne erwarten wir eine zügige Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt durch die Bundesregierung noch vor Ablauf dieses Jahres. Pascal Kober (FDP): Mit dem Zusatz- bzw. Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdefahren wurde ein Kommunikationsverfahren als Rechtsmittel beschlossen. Der Ausschuss der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist damit nicht mehr nur für das Berichtsprüfungsverfahren, sondern auch für internationale Beschwerdeverfahren und Untersuchungsverfahren vor Ort zuständig. Bisher gab es als Mittel der Überprüfung der Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte innerhalb der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur die Staatenberichte, in denen Rechenschaft über die Menschenrechtssituation abgelegt und Verbesserungsmaßnahmen vorgeschlagen werden mussten. Für die Ratifikation des Zusatzprotokolls spricht unter anderem, dass Einzelpersonen durch das Individualbeschwerdeverfahren oder Gruppen vor einem internationalen Gremium Beschwerde gegen ihren Staat einlegen können. Voraussetzung für die Einklagbarkeit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist dabei die Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges. Negative Folgen der Ratifikation des Zusatzprotokolls könnte der erhöhte Arbeitsaufwand für das jeweilige Kontrollorgan sein, was schnelle und effektive Entscheidungswege erschwert. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung sehen Sie im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Funktionsfähigkeit aufgrund der explosionsartigen Zunahme der Streitfälle in den letzten Jahren praktisch gelähmt war. Trotzdem wird in Fachkreisen das Verfahren der Individualbeschwerde trotz der mangelnden Rechtsbindung als ein wichtiges Instrument beim internationalen Menschenrechtsschutz betrachtet. Worum geht es im UN-Sozialpakt eigentlich? Um die Wahrung elementarer menschlicher Rechte, nämlich Ernährung, Gesundheit und Bildung. Der Schutz dieser Rechte ist ein wichtiges Anliegen der wertegeleiteten Außenpolitik dieser christlich-liberalen Koalition. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, weltweit für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von Menschen einzutreten, für ihren Schutz zu sorgen und ihre Umsetzung zu befördern. Die Möglichkeit eines Individualbeschwerdeverfahrens ist sicherlich ein richtungsweisendes Signal und die Ratifikation ein weiterer Meilenstein in der internationalen Menschenrechtsarbeit. Aber das Resultat eines solchen Rechtsbehelfs ist lediglich ein Kommunikationsverfahren, aus dem "views" - also Empfehlungen beziehungsweise nicht rechtsverbindliche Zielformulierungen - hervorgehen. Das ist ein gutes Stichwort. Unsere Zielformulierungen stehen nämlich in unserem Koalitionsvertrag. Wir wollen, dass die Globalisierung eine Chance für alle Menschen wird: Alle Menschen sollen ohne Not, selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben können. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, auf der bilateralen Ebene den Anteil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu stärken. Im Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung, der für die nächsten zwei Jahre Maßstab ist, stehen ebenfalls klar formulierte Ziele. Unter anderem unterstützt diese Bundesregierung die Bemühungen universaler menschenrechtlicher Standards für angemessenes Wohnen und für das Recht auf Nahrung. Sie befürwortet die Erarbeitung von "Freiwilligen Leitlinien zur verantwortungsvollen Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten und anderen natürlichen Ressourcen" sowie den Dialog über die Umsetzung von menschenrechtlicher Verantwortung von Unternehmen. Ganz besonders wichtig finde ich die Förderung der Menschenrechtsbildung, aber auch der Entwicklung von lokalen Bildungsbündnissen zur individuellen Förderung benachteiligter Kinder in Deutschland. Bundesminister Niebel hat aus unserem Koalitionsvertrag sechs Schwerpunkte für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit abgeleitet, die ganz klar nach menschenrechtlichen Gesichtspunkten ausgerichtet sind und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte betreffen: Dazu gehören die nachhaltige Bekämpfung der Armut, die Förderung des Engagements von Zivilgesellschaften und auch, das wirtschaftliche Engagement mit dem Ziel von Nachhaltigkeit verstärkt zu nutzen. Ein Schlüsselsektor in der christlich-liberalen Entwicklungspolitik ist die Gesundheit, wozu auch der Kampf gegen AIDS gehört. Wir finden, unsere Bilanz nach einem Jahr Menschenrechtspolitik kann sich sehen lassen. Wir haben uns erfolgreich für das Menschenrecht auf den Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen eingesetzt, wir haben mit Erfolg in Kampala bei der Überprüfungskonferenz daran gearbeitet, Strafbarkeitslücken im Römischen Statut zu schließen und damit die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes gestärkt. Ein weiterer Fortschritt ist, dass in bestimmten Ländern finanzielle Zuwendungen für Entwicklungszusammenarbeit an menschenrechtspolitische Bedingungen geknüpft sind. Mit ausführlichen Anträgen zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele und Bildungsarbeit in Entwicklungsländern haben wir ebenfalls Grundlagen für den Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte gelegt. Natürlich kommt es auf die Effizienz und Gestaltungskraft der Instrumente zur technischen Durchführung von Projekten der Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit an. Dabei komme ich nicht umhin, die Strukturreform bei den Durchführungsorganisationen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu erwähnen. Ineffiziente Doppelstrukturen werden abgebaut und damit die Effizienz der Wirksamkeit der eingesetzten Mittel erhöht. Hinsichtlich der Umsetzung von Zielformulierungen kann sich die Jahresbilanz der christlich-liberalen Menschenrechtspolitik sehen lassen. Sie zeigt, wie wichtig uns das Thema ist, und dass wir das Ergebnis der Ressortabstimmung zur Ratifikation des Zusatzprotokolls gelassen abwarten können. Daher lehnen wir Ihren Antrag ab. Stefan Liebich (DIE LINKE): Wenn es die UNO nicht gäbe, dann müsste sie erfunden werden. Die Vereinten Nationen sind ein unverzichtbarer Akteur in den internationalen Beziehungen. Zunächst lag der Schwerpunkt der Arbeit vor allem bei den Fragen der Sicherheit der Staaten untereinander. Über die Jahrzehnte erweiterte sich das Themenfeld der Organisation und ihrer Unterorganisationen auch auf andere Bereiche wie Kultur, Umwelt und Soziales. Das war auch richtig; denn Frieden und Sicherheit sind vor allem dann nachhaltig, wenn es den Menschen gut geht. Dazu braucht man Rechte, und - das ist hier der springende Punkt - diese Rechte müssen einklagbar sein. Wir begrüßen daher sehr, dass die UNO einen Weg entwickelt hat, ihren Sozialpakt durch eine solche Form der individuellen Beschwerdemöglichkeit zu ergänzen und damit auch zu stärken. Die im Sozialpakt entwickelten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte haben damit eine größere Chance, auch real wirksam zu werden. Wir wissen alle, dass das ein langer Prozess ist und dass es auch den Mut der Zivilgesellschaft braucht, aber der Weg dazu ist geöffnet. Es war in diesen Tagen schon von positiven Erfahrungen zu lesen. Amnesty International berichtete davon, dass in einem Fall in Südafrika durch juristische Bezugnahme auf den Sozialpakt der diskriminierungsfreie Zugang zu HIV/Aids-Medikamenten erreicht wurde. In einem anderen Fall mussten per Gerichtsentscheid 100 Notunterkünfte für wohnungslose Menschen in Indien geschaffen werden. Das ist im täglichen Kampf gegen Armut ein riesiger Fortschritt. Dass jeder seine sozialen Rechte auch vor Gericht durchsetzen kann, wäre ein wichtiger Meilenstein für sozialen Fortschritt. Dies würde zeigen, dass die Vereinten Nationen mit ihren institutionellen und rechtlichen Regelwerken auch soziale Entwicklungen voranbringen können. Die Linke begrüßt das sehr, auch mit Blick auf die insgesamt eher ernüchternde Zwischenbilanz der Millenniumsziele, wo die massive Verringerung der Armut ein ganz zentrales Element ist. Das Zusatzprotokoll wurde zwar von 35 Staaten gezeichnet, aber es fehlen zumindest sieben Staaten bei der Ratifizierung, damit es in Kraft treten kann. Deutschland sollte dem EU-Partner Spanien, aber auch der Mongolei und Ekuador nicht nachstehen. Deshalb fordere ich einen zügigen Prozess bis hin zur Ratifizierung. Vor diesem Hintergrund begrüße ich auch die Zielrichtung des Antrages der SPD-Fraktion, der zu Recht darauf verweist, dass die bürgerlichen und politischen Rechte mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gleichgesetzt und letztere durch die Beschwerdeverfahren auch in gleicher Weise gestärkt werden. Die Forderung nach zügiger Zeichnung und Ratifizierung ist zu unterstützen. In unserer Fraktion wurden allerdings auch Fragen hinsichtlich des realen Engagements der Antragsteller in früheren Zeiten gestellt. Ist es nicht so, dass zu Zeiten einer SPD-Regierungsverantwortung das Ziel eines 0,7-Prozent-BIP-Anteils für Entwicklungszusammenarbeit nicht entscheidend vorangebracht wurde und damit wesentliche Mittel auch zur Verwirklichung von sozialen Rechten in Entwicklungsländern fehlen? Und ist es nicht so, dass mit Blick auf die soziale Sicherheit die SPD-Politik im eigenen Lande ganz andere Ergebnisse gebracht hat? Es gibt zum Beispiel in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn, dafür aber Zuwachs bei der Armut, insbesondere auch bei Kindern, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mit Blick auf diese Fragen wird die Linksfraktion dem Antrag nicht zustimmen. Wir werden aber auch nicht dagegenstimmen, weil wir das Kernanliegen, die Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls, auch wünschen, weil wir die Lernfähigkeit und den Positionswandel der SPD und ihr Engagement in dieser Frage würdigen. Es bleibt wichtig, den Weg der Verrechtlichung auch über die internationalen Regelwerke zu gehen, um die UN und ihre sozialen Anliegen zu stärken und um im eigenen Lande Druck für entsprechende Politiksubstanz im Auswärtigen wie in der Innenpolitik zu entwickeln. Es geht um Räume für die bessere Durchsetzung individueller sozialer und kultureller Anliegen und damit um Bürgerrechte, um Menschenrechte und um das Soziale an sich. Dafür sollten wir gemeinsam kämpfen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bündnis 90/Die Grünen unterstützt seit langem die im Antrag enthaltene Forderung an die Bundesregierung, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt zu zeichnen und zu ratifizieren. "Eile mit Weile" waren die Worte von CDU/CSU und FDP in der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte, als wir über den Antrag berieten. Man solle doch zunächst die Ressortabstimmungen abwarten, denn übereiltes Handeln könne zu Komplikationen führen. Mit Verlaub, aber das ist zynisch. Knapp zwei Jahre sind nun vergangen, seitdem die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren angenommen hat. Seitdem läuft die Abstimmung zwischen den Ressorts der Bundesregierung, ob man nun zeichnen und ratifizieren solle - zunächst unter Schwarz-Rot, jetzt unter Schwarz-Gelb. Knapp zwei Jahre sind vergangen, ohne dass die Bundesrepublik Deutschland einem der Kernverträge im Bereich der WSK-Rechte zugestimmt hätte. Gezeichnet haben das Zusatzprotokoll bislang 35 Staaten - zuletzt etwa Kasachstan oder die Demokratische Republik Kongo. Ist es vertretbar, dass wir dahinter zurückstehen? Ich denke, nicht. Dieses Gewarte und Geprüfe entspricht nicht der menschenrechtlichen Führungsrolle, die die Bundesrepublik für sich selbst beansprucht. Denn lassen Sie uns doch nur auf die Genese des Zusatzprotokolls zurückblicken: Die Bundesregierung hat bei der Erarbeitung des Protokolls eine aktive und konstruktive Rolle gespielt. Und zu Recht lobte sich dafür die Bundesregierung selber, als sie im Juli 2008 in den 8. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik schrieb, dass Deutschland sich für ein menschenrechtsfreundliches, juristisch sauber gestaltetes und praktisch handhabbares Individualbeschwerdeverfahren eingesetzt habe. Wer aber ein Individualbeschwerdeverfahren zum Sozialpakt vorantreibt, es dann aber Ländern wie Kongo oder Kasachstan - also Staaten, in denen die WSK-Rechte mit Sicherheit häufiger verletzt werden als bei uns - überlässt, dieses zu unterzeichnen, der fördert nicht die eigene Glaubwürdigkeit. Wir sind es doch, die fremden Staaten stets ins Gewissen reden, die Menschenrechte seien unteilbar. Niemand bestreitet, dass es im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beispielsweise in der Volksrepublik China in den letzten Jahren Verbesserungen gegeben hat. Aber stets fordern wir dann, dass dies nicht zulasten der bürgerlichen und politischen Rechte geschehen darf. Denn die Menschenrechte seien unteilbar. Und was ist mit uns? Die Individualbeschwerdemechanismen zum Zivilpakt und zu mehreren anderen Übereinkommen, die die bürgerlichen und politischen Rechte betreffen, hat die Bundesrepublik längst anerkannt. Warum dann nicht auf für die WSK-Rechte? Die einen behaupten immer noch, es könne womöglich zu einer Beschwerdeflut kommen. Diese Sorge ist unbegründet. Zunächst einmal müssen der innerdeutsche und auch der europäische Rechtsweg erschöpft sein. Erst dann wäre eine Beschwerde zulässig. Wegen aller anderen Individualbeschwerdemechanismen wurden bislang 22 Beschwerden gegen Deutschland eingereicht. Wer da ernsthaft Angst vor einer Beschwerdeflut wegen einer zusätzlichen Beschwerdemöglichkeit hat, der hat auch Angst vorm bösen Wolf. Andere, wie etwa Herr Klimke von der Union, sehen die "Gesamtinteressen des deutschen Staates" gefährdet. Vielleicht ist es das schlechte Gewissen, das an ihnen nagt. Pauschalierte Hartz-IV-Sätze für Kinder oder unsoziale Studiengebühren - möglicherweise könnte hiergegen irgendwann einmal eine Individualbeschwerde erhoben werden. Eventuell ist es ja das, was die Bundesregie-rung zögern lässt. Wer aber angesichts sozialrechtlicher Fehler den von den Fehlern Betroffenen auch noch eine übergeordnete Beschwerdeinstanz versagen möchte, dem ist der politische Kompass vollends abhanden gekommen - sowohl im Sozialen als auch bei der Rechtsstaatlichkeit. Deutschland hat in den letzten Jahren die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte stark gefördert, etwa das Recht auf Wasser, das Recht auf Nahrung oder das Recht auf eine angemessene Unterbringung. Häufig wird uns dabei aber vorgehalten, die WSK-Rechte seien zu abstrakt, zu unbestimmt und nicht praktikabel. Gerade diesen Kritikern sollten wir entgegnen, dass es ein Individualbeschwerdeverfahren gebe. Denn Einzelfälle machen Probleme anschaulich, holen sie aus dem Abstrakten ins Konkrete. Wie lange also möchten Sie noch prüfen? Bis der letzte Hartz-IV-Satz geändert und die letzten schwarz-gelben Studiengebühren abgewählt worden sind? So schön dies wäre - lassen Sie uns nicht so lange warten und unterzeichnen und ratifizieren Sie endlich das Zusatzprotokoll! Wir stimmen dem Antrag der SPD zu und bitten Sie, dies ebenfalls zu tun. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011 (BBVAnpG 2010/2011) (Tagesordnungspunkt 20) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Das Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2010/2011 im Interesse der Beamten, aber auch der Gesellschaft auszugestalten, war eine schwere Aufgabe. Unser Ziel ist es, den Staat gleichzeitig handlungsfähig, aber auch effizient zu gestalten. Effizienz heißt für die heutige Gesellschaft richtigerweise mehr denn je, Ausgaben zu reduzieren und Neuverschuldung möglichst zu vermeiden. Juristisch gesehen ist es eine nicht einfache Güterabwägung, ganz praktisch ein Drahtseilakt: Einerseits gilt es, unseren Beamten die Wertschätzung und das Vertrauen entgegenzubringen, das sie wahrlich verdient haben. Sie managen tagtäglich erfolgreich diesen Staat. Und das ist im internationalen Vergleich ein nicht zu unterschätzender Standortfaktor für unser Land. Deshalb hat der Bund - bei allen Einsparungen der letzten Jahre - die Tarifergebnisse des öffentlichen Dienstes regelmäßig zeitnah auf die Beamtinnen und Beamte wie auch die Pensionäre übertragen. Genau das werden wir mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz auch für die Jahre 2010 und 2011 wieder vornehmen. Das heißt, wir werden die Dienstbezüge um 1,2 Prozent zum 1. Januar 2010, weitere 0,6 Prozent zum 1. Januar 2011 und nochmals 0,3 Prozent zum 1. August 2011 anheben. Für die Versorgungsempfänger haben wir das Tarifergebnis ebenfalls weitgehend übertragen. Lediglich die Einmalzahlung von 240 Euro haben wir als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung verwandt; angesichts der Nullrunden bei den Rentenempfängern in den Jahren 2010 und 2011 ist das ein faires Ergebnis. Für mich sind diese Erhöhungen im Kontext zur aktuellen Haushaltssituation ein echter Erfolg. Andererseits ist es in der Regierungskoalition völlig unstreitig, dass auch der Staat selbst seinen Solidarbeitrag zur Haushaltskonsolidierung beizusteuern hat. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns eine erfolgreiche Bekämpfung einer in dieser Dimension nicht vorhersehbaren Weltwirtschaftskrise. Die Kasse in Ordnung zu bringen, das Land weiterhin erfolgreich aus der Krise zu führen und am Ende die Schuldenbremse einzuhalten, betrachten wir als unsere erste Pflicht. Deshalb haben wir uns entschlossen, dass der für Januar 2011 vorgesehene Einbau eines Teils der Sonderzahlung, sogenanntes Weihnachtsgeld, in das Grundgehalt - anders als im Dienstrechtsneuordnungsgesetz vorgesehen - nicht wirksam werden soll. Auf diese Weise tragen die Bezügeempfänger des Bundes mit jährlich etwa 500 Millionen Euro zur Haushaltskonsolidierung bei. Herr Professor Dr. Pechstein stellte als Sachverständiger in der Anhörung fest, dass der Vertrauensschutz bei dieser weiteren Aussetzung der Sonderzahlung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Aber ohne drum herumzureden: Der Koalition und gerade mir ist sehr bewusst, dass wir die im Hinblick auf das Wiederaufleben der Sonderzahlung im Jahr 2005 gegebene Zusage an die Beamten nicht einhalten und gefühltes Vertrauen strapazieren. Aber es war am Ende ein Abwägungsprozess, in dem wir uns an dieser Stelle für die Finanzverantwortung des Staates entscheiden mussten. Ich stehe zu dieser Entscheidung, fühle mich für sie verantwortlich und habe sie mir nicht leicht gemacht. Von daher hatten und haben die inszenierten Entrüstungen der Opposition in den vergangenen Monaten natürlich keinen Beitrag zu unserer schwierigen Entscheidungsfindung geliefert. Im Gegenteil: Sie haben sie allenfalls verzögert. Regierungspolitik beginnt immer mit dem Betrachten der Wirklichkeit; wohl deshalb hat der SPD-Wirtschaftsfachmann Rainer Wend im November 2005 die Kürzung der Sonderzahlungen seinerzeit als angemessen bezeichnet. Ich zitiere: "Im Privatsektor haben viele Arbeitnehmer Einbußen beim Weihnachtsgeld hinnehmen müssen, zum Teil bis auf Null", sagte Wend. Angesichts der "extrem hohen Pensionslasten" müsse gehandelt werden. An dieser Stelle möchte ich noch ergänzen, dass es auch in nicht CDU-geführten Bundesländern wie zum Beispiel Berlin, Brandenburg und Bremen einige Beamtengruppen gibt, die bei der Frage der Sonderzahlungen schlechter gestellt werden als die Bundesbeamten nach diesem Gesetz. Auch die in der Anhörung kritisierte einseitige Benachteiligung der Beamten gegenüber den Tarifbeschäftigten bei der weiteren Aussetzung der Sonderzahlung ist zu oberflächlich gedacht. Beleuchtet man alle Beschäftigungsbedingungen beider Gruppen im Detail, so wird kein Tarifbeschäftigter des Bundes eine Bevorteilung gegenüber den Beamten feststellen können und schon gar nicht empfinden. Deutschland hat in Europa in einer schwierigen Lage wieder einmal die "Lokomotivfunktion" übernommen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: weil wir in der Vergangenheit viele teils unbequeme, aber notwendige Reformen vollzogen haben. Hier hat sich der öffentliche Dienst nie ausgenommen, auch wenn dies in der Öffentlichkeit selten genug so dargestellt wird. Ich erinnere an die Erhöhung der Arbeitszeit um 6,4 Prozent, das heißt in der Regel gibt es die 41-Stunden-Woche, den Wegfall des Urlaubsgeldes seit 2004, die Kürzung der jährlichen Sonderzahlung von 60 Prozent auf 30 Prozent und den Verzicht auf Inflationsausgleich bei Lohn und Gehalt seit 1998. Warum zähle ich das auf? Ich mache zunehmend die Erfahrung, dass immer mehr Arbeitnehmer und Unternehmer der Privatwirtschaft sowie des öffentlichen Dienstes, Gewerkschaften und Berufsverbände, aber besonders unsere Beamten jenseits finanzieller Erwägungen auch stolz darauf sind, durch verantwortungsvolle und moderate Tarifpolitik mit dazu beigetragen zu haben, dass Deutschland diese Krise so überragend meistert. Genau so bewahren wir die Bundesrepublik vor Konsequenzen, wie sie einige unserer europäischen Partner erlebt haben oder noch erleben werden. Daher habe ich mich mit aller Kraft dafür stark gemacht, dass der ausstehende Teil der Sonderzahlung nicht endgültig gestrichen, sondern bis zum 31. Dezember 2014 weiter ausgesetzt wird. Das ist für mich ganz und gar kein Placebo, sondern vielmehr ein Signal. Wir müssen in den kommenden Jahren die im Bundeshaushalt zweifellos vorhandenen finanziellen Einsparpotenziale zielgerichteter identifizieren und nutzen. Das erfordert mehr strukturelle und weniger punktuelle Modernisierungsanstrengungen im öffentlichen Dienst. Ziel muss es sein, Einsparvolumina, wie die jetzt beschlossenen 500 Millionen Euro jährlich, künftig innerbehördlich auf verlässliche Weise zu erwirtschaften. In den kommenden Jahren werden sich privatwirtschaftliche Unternehmen in direkter Konkurrenz zum Staat, besonders im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften, um den Nachwuchs bewerben. Deshalb dürfen wir uns nicht durch dauerhafte Einschnitte im Personalbereich ein Attraktivitätsproblem verschaffen. Die weitere befristete Aussetzung soll daher den Einstieg ermöglichen, ab 2015 die Sonderzahlung wieder auf ein Niveau zu führen, das uns im Wettbewerb am Markt bestehen lässt. Die von einigen Sachverständigen innerhalb der öffentlichen Anhörung, aber auch von Verbandsvertretern vorgeschlagenen Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität im öffentlichen Dienst sind aus systematischen Gründen nicht Bestandteil dieses Gesetzgebungsverfahrens. Gleichwohl sichere ich Ihnen hinsichtlich dieser Vorschläge weitere Gesprächsbereitschaft zu. Sie haben mit Ihren Darlegungen dafür gesorgt, dass sich diese parlamentarische Tür in der Regierungskoalition wieder ein Stück weiter geöffnet hat. Lassen Sie mich zum Schluss noch anmerken: Im 20. Jahr der Einheit dürfen wir auf die Situation der Beamten stolz sein: Sie sind eine der ersten und eine der wenigen Berufsgruppen in Deutschland, bei denen wir seit fünf Jahren, also seit der letzten Besoldungsanpassung, die Angleichung der Gehälter von Ost und West erfolgreich vollzogen und mit diesem Gesetz weiterhin manifestiert haben. Hoffen wir auf die Vorbildwirkung für weitere Tarifverträge und eine bessere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz übertragen wir das Tarifergebnis auf die Dienst- und Versorgungsbezüge. Wir stellen also die Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger besser. Daher kann man diesem Gesetz nur zustimmen. Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Wer schnellen und leichten Applaus sucht, der schimpft gerne auf faule und überbezahlte Beamte. Mit der Realität hat dies jedoch nichts zu tun. Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten und die vielen anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes leisten einen wertvollen, sachkompetenten und engagierten Einsatz für unser Land, unter Umständen sogar unter Einsatz des eigenen Lebens. Ohne gute Beamtinnen und Beamte wäre unser Land nicht so sicher, hätten wir die Finanzmarktkrise nicht bewältigt und könnten weder Gesetze vorbereiten noch durchführen. Wir sollten ihnen also lieber danken für ihre Arbeit, anstatt sie ständig zum Sündenbock zu degradieren. Es ist daher grundsätzlich gut, dass auch sie vom Tarifergebnis im öffentlichen Dienst des Bundes profitieren. In drei Schritten erfahren sie eine Erhöhung ihrer Bezüge. Sie haben in der Vergangenheit ihren Beitrag zur Konsolidierung der Staatsfinanzen getragen. Wenn wir in Zeiten schärfer werdender Konkurrenz um Arbeitskräfte gegenüber der gewerblichen Wirtschaft mit den Tarifstrukturen des öffentlichen Dienstes konkurrenzfähig bleiben wollen, dann können wir nicht alleine auf die durchaus auch bei jungen Menschen vorhandene Bereitschaft zum Dienst für unseren Staat hoffen. Wir müssen sie auch anständig und angemessen dafür bezahlen. Deshalb wird sich nach all dem, was wir dem Beamtenbereich auch in sozialdemokratischer Regierungszeit bereits zumuten mussten, die jetzige Planung fatal auswirken. Denn hier wird massiv und sehenden Auges Vertrauen gebrochen. In der großen Koalition hatten wir befristet bis zum Ende dieses Jahres die Sonderzahlungen - das sogenannte Weihnachtsgeld also - von 60 auf 30 Prozent gekürzt, ein schwerer Brocken für alle Betroffenen, den sie aber schulterten in der Gewissheit, dass dies nun wieder anders wird. Das wird es auch, aber eben nur für die Tarifbeschäftigten. Die Schere zwischen Beamtinnen und Beamten und den übrigen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes geht damit also noch weiter auseinander. Logisch lässt sich dies nicht begründen, wohl aber damit, dass die verbeamteten Beschäftigten leichte Opfer sind. Das ist kein gutes Signal. Wir können uns bei all den betroffenen Beschäftigten nicht ständig mit warmen Worten bedanken für ihre Arbeit und sie dann so schäbig behandeln. Obwohl es nur für den Bund gilt, hat dies auch eine Signalwirkung auf die Länder. Bayern kommt bereits aus der Deckung. Alle Gutachter - auch die von Schwarz-Gelb benannten - haben in der Anhörung am Montag das Agieren der Koalition scharf kritisiert. Nirgendwo wurde auch nur Verständnis geäußert; dennoch geht die Koalition ignorant über jeden Expertenrat hinweg. Das wird sich rächen. Denn jede bemühte Erklärung greift nicht. Wenn von Union und FDP das Einsparargument als Begründung genannt wird, dann halten wir dem entgegen: Die 500 Millionen Euro aus einem Gesamthaushaltsvolumen von über 300 Milliarden Euro, von denen hier die Rede ist, hätten sie mal besser bei all ihren Steuergeschenken eingespart. Der Schaden, den sie bei den Beamtinnen und Beamten auslösen, ist ungleich höher. Die FDP mag doch stattdessen lieber einmal ihr sogenanntes liberales Sparbuch hervorkramen. Dort war ja noch die Rede davon, weniger Staatssekretäre zu halten und sogar ein Ministerium ganz einzusparen. Das Gegenteil ist ja bekanntlich geschehen. Sie sollten sich daher doppelt und dreifach für diesen massiven Vertrauensbruch schämen. Erklären können sie ihn jedenfalls niemandem und nirgendwo. Nun versucht sich ja die Koalition zu retten mit dem Hinweis, man werde in 2015 - dann aber ganz bestimmt - das Weihnachtsgeld wieder in alter Höhe zahlen. Mal ganz abgesehen davon, dass dies ein Versprechen für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl wäre: Wer soll Ihnen das eigentlich noch glauben, nachdem Sie jetzt so agieren, wie Sie agieren? Schlimm ist nicht nur, was Sie da beschließen wollen, sondern auch wie das alles geschieht. Da wurden mündliche Änderungsanträge im Ausschuss gestellt, die dann doch wieder zurückgezogen wurden; der Bundesinnenminister - also der Verfassungsminister - schreibt seinen Beschäftigten, dass alles so beschlossen und verkündet sei, während der Bundestag noch nicht einmal mit den Beratungen begonnen hatte. Das spricht Bände. Wie wollen Sie da noch Loyalität von Beamten erwarten? Der Gutachter der Union hat während der Anhörung sehr richtig festgestellt, dass es nicht nur eine Treue der Beamtinnen und Beamten gegenüber dem Dienstherren gebe, sondern genauso eine Treue des Dienstherren gegenüber seinen Beamtinnen und Beamten. Das ist eine Frage von Verfassungsqualität. "Schnoddrig" - ich zitiere erneut Ihren Gutachter Professor Pechstein - wurde obendrein die Wiedereinführung der Versorgungsrücklage ins Gesetz gepackt. Deren Erforderlichkeit wurde entgegen der gesetzlichen Pflicht dazu nicht geprüft. Schlechtes Handwerk also auch das. Ebenso fehlt jegliche Begründung und Erklärung dafür, warum die Versorgungsempfänger die Einmalzahlung in Höhe von 240 Euro nicht erhalten sollen. So viel sind Ihnen also die Ehemaligen in Wirklichkeit wert. Reden auf Weihnachtsfeiern sollten Sie von der Koalition und Sie, Herr Innenminister, lieber nicht mehr halten. Lassen Sie mich abschließend noch einen weiteren Aspekt ansprechen: Mit 10 000 Beamtinnen und Beamten weniger wollen Sie auskommen. Sie sparen also nicht nur bei den im Dienst Befindlichen. Sie wollen deren Zahl gravierend weiter reduzieren. Ich warne vor diesem Schritt. Stress und Arbeitsverdichtung haben überall zugenommen. Laut einer Studie über die Bundespolizei liegt dort die Burn-Out-Quote dramatisch über 30 Prozent. Wer also im öffentlichen Dienst immer mehr reduziert, der nimmt in Kauf, dass die jetzt noch hohe Qualität staatlichen Handelns sinkt, und hofft auf Selbstausbeutung. Ist das verantwortungsvoll? Oder wollen Sie sogar, dass mehr und mehr von Externen innerhalb und außerhalb der Ministerien Gesetze vorbereitet werden? Dann wären wir endgültig in der Lobbyistenrepublik angekommen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Der Gesetzentwurf und der von den Koalitionsfraktionen dazu eingereichte Änderungsantrag hat für viel Aufregung unter den Betroffenen gesorgt. Dies liegt nicht nur an der Tatsache, dass in dem Änderungsantrag die Wiedereinführung des gekürzten Weihnachtsgeldes auf Ende 2014 verschoben wird. Auch der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens hat zu Irritationen geführt. Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte zum Ablauf des Gesetzgebungsprozesses sagen: Ja, es war ein langes Verfahren, und der nachträglich eingebrachte Änderungsantrag hat auch unter den Mitgliedern des Bundestages selbst für Unruhe gesorgt. Umso zufriedener bin ich nun, dass wir den Gesetzentwurf mit dem Änderungsantrag in zweiter und dritter Lesung heute abschließen können. Der Gesetzentwurf übernimmt die Kernpunkte des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst, der am 27. Februar 2010 vereinbart worden ist. Dieser Einigung sind zähe Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften vorausgegangen. Mit dem vorliegenden Bundesbesoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 2010/2011 erfolgt nun das, was allgemein als "guter Brauch" gilt: Die Ergebnisse des Tarifabkommens werden zeit- und inhaltsgleich auf die rund 36 000 Beamten des Bundes übertragen. Dies bedeutet im Ergebnis, dass sich die Dienst- und Versorgungsbezüge rückwirkend ab dem 1. Januar 2010 um 1,2 Prozent erhöhen werden. Ab dem 1. Januar 2011 ist analog zu den Tarifbeschäftigten eine Erhöhung um 0,6 Prozent und ab dem 1. August dann um nochmals 0,3 Prozent vorgesehen. Auch die Einmalzahlung wurde auf die Beamten übertragen: Empfänger von Dienstbezügen erhalten im Januar 2011 240 Euro, Anwärter bekommen 50 Euro. Diese Übertragung der Tarifregelungen des öffentlichen Dienstes auf die Beamten ist notwendig, um eine Benachteiligung der Beamten zu verhindern. Besonders vonseiten der Gewerkschaften wurde kritisiert, dass die Einmalzahlungen nicht wie eigentlich üblich auf die Versorgungsempfänger übertragen werden. Diese Nichtübertragung muss jedoch unter dem Gesichtspunkt einer parallelen Entwicklung von Renten und Pensionen gesehen werden. Da wir im Rentenbereich nur geringe Erhöhungen erwarten, muss auch die Steigerung der Pensionen angemessen erfolgen. Lassen Sie mich nun zu dem Punkt kommen, der unter den betroffenen Beamten für die größten Verstimmungen gesorgt hat: der Verschiebung der Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes. Mit dem Dienstrechts-neuordnungsgesetz wurde das Weihnachtsgeld in das Grundgehalt integriert. Ab Januar 2011 sollten diese von 2006 an für fünf Jahre halbierten Sonderzahlungen wieder ausgezahlt werden. Diese Zusage müssen wir mit dem vorliegenden Änderungsantrag zurücknehmen. Dieser Schritt ist uns nicht leicht gefallen, weil auch wir ungerne gegebene Zusagen nicht einhalten. Aber das Sparpaket der Bundesregierung hat uns konkrete Einsparsummen vorgegeben. Zu diesen Sparbemühungen müssen alle einen Beitrag leisten, auch die Beamten. Eine Ausnahme der Beamten hätte in der öffentlichen Wahrnehmung das unzutreffende Bild des überversorgten Staatsdieners gestärkt. Ich habe mich auch vehement gegen Sonderregelungen beim Weihnachtsgeld für bestimmte Besoldungs- oder Berufsgruppen ausgesprochen: Sonderregelungen führen zu einer Nivellierung der Besoldungsgruppen und stellen ein systemwidriges Vorgehen dar. Mit den Maßnahmen des Änderungsantrages können Mehrausgaben von rund 500 Millionen Euro jährlich vermieden werden. Und auch wenn sich die Wirtschaft gerade erholt und die Konjunktur anzieht, darf die öffentliche Hand nicht vorschnell wieder mehr Geld ausgeben. Im Finanzplan des Bundes sind für dieses Jahr 80 Milliarden Euro Nettoneuverschuldung vorgesehen. Die im Grundgesetz vorgeschriebene Schuldenbremse, die eine Begrenzung der Nettokreditaufnahme von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab 2016 vorsieht, kann nur durch intensive Sparbemühungen eingehalten werden. Eine konjunkturelle Komponente ist übrigens bei der Schuldenbremse bereits integriert. In konjunkturell schlechteren Zeiten ist zwar eine höhere Neuverschuldung erlaubt, in konjunkturell besseren und guten Zeiten wird aber eine stärkere Rückführung der Neuverschuldung durch verschärfte Sparanstrengungen oder Mehreinnahmen verlangt. In der Anhörung des Innenausschusses am letzten Montag ist eines deutlich geworden: Die Verschiebung des Weihnachtsgeldes wurde als Vertrauensbruch bewertet. Ja, wir mussten die 2005 gegebene Zusage zurücknehmen, aber leider sind gerade finanz- und wirtschaftspolitische Entwicklungen, die einen großen Einfluss auf den Haushalt haben, nicht immer über einen so langen Zeitraum vorhersehbar. Die Schuldenbremse beispielsweise ist erst 2009 im Grundgesetz festgeschrieben worden. Umso mehr danke ich allen Beamten, die in Gesprächen ein gewisses Verständnis für unsere Entscheidung geäußert haben. Der Vorwurf, dass durch diese Kürzungsmaßnahmen die Attraktivität des öffentlichen Dienstes beseitigt wird, ist nicht haltbar. Wegen des gekürzten Weihnachtsgeldes wird sich niemand für oder gegen den Eintritt in ein Beamtenverhältnis entscheiden. Um die Attraktivität zu erhöhen, sollten lieber andere inhaltliche Dinge angegangen werden. Für mich stehen hierbei Fragen wie die der Portabilität, das heißt der Möglichkeit der Mitnahme von Versorgungsansprüchen bei einem Wechsel vom Beamtenverhältnis in die Wirtschaft, an erster Stelle. Deshalb rate ich Ihnen, die Aufregungen der vergangenen Monate durch Zustimmung zum Gesetzentwurf und zu dem Änderungsantrag jetzt zu beenden. Frank Tempel (DIE LINKE): Zunächst haben Sie mich vor der Sommerpause erst einmal überrascht. Nur wenige Wochen nach der Tarifeinigung im öffentlichen Dienst lag uns der Gesetzentwurf zum Versorgungs- und Besoldungsanpassungsgesetz 2010/2011 vor, und der ebenso schnellen Übertragung auf den Beamtenbereich sollte dann wohl nichts mehr im Wege stehen. Aber sehr schnell haben Sie das Bild, das man von dieser Regierungskoalition haben muss, wieder in gewohnte Formen gesetzt. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Übertragung des Tarifergebnisses im öffentlichen Dienst auf die Beamtinnen und Beamten wird durch die Linke grundsätzlich begrüßt. Die lineare Anpassung erfolgt inhaltsgleich und auch, das wollen wir positiv bemerken, zeitgleich. Wie im Tarifabschluss vorgesehen, wird es erneut eine Altersteilzeit geben. Das war notwendig und wird von der Linken unterstützt. Drei Schwächen des Gesetzentwurfes möchte ich jedoch herausgreifen. Versorgungsempfängerinnen und -empfänger sollen, so der Wille der Bundesregierung, von der Einmalzahlung ausgeschlossen bleiben. Die Begründung hierfür, dass sie somit einen weiteren Beitrag zur Stabilisierung der Versorgungskosten leisten sollen, geht wohl an einer logischen Argumentation weit vorbei. Stabilisierung kann nur bei einem langfristigen Effekt hervorgerufen werden. Also noch einmal zum Zuhören: Einmalzahlung - Langfristigkeit? Sie werden mir recht geben müssen, da passt irgendetwas nicht zusammen. Des Weiteren sieht die Linke die Wiedereinführung der Versorgungsrücklage ab 1. August 2011 skeptisch. Die Erhöhung von Versorgung und Besoldung im Vergleich zum Tarifabschluss wird 0,2 Prozent niedriger ausfallen. Warum diese Wiedereinführung kommen soll, ohne dass die dafür vorgesehene Überprüfung im Zusammenhang mit einem tragfähigen Versorgungskonzept erfolgt ist, haben sie nicht beantwortet. Befürchten sie, dass diese Überprüfung anders ausfällt, als sie das wünschen? Drittens, Sie führen zwar eine Altersteilzeitregelung ein, haben diese aber weder attraktiv noch für jeden nutzbar ausgestaltet. Zum Beispiel kommt ein Beamter bei Inanspruchnahme dieses Modells nun nur noch auf 70 Prozent des Nettogehaltes im Vergleich zu einem Vollzeitbeschäftigten. Das waren vorher noch 83 Prozent. Zusammengefasst: Dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätte die Linke zustimmen können, eine Zustimmung mit Bauchschmerzen, denn die bereits enthaltenen Kürzungen sind weder sozial gerecht noch sachlich nachvollziehbar. Nun zu ihrem Änderungsantrag. Die in ihm enthaltene Forderung nach einer Fortführung der Kürzung der Sonderzahlung in der Beamtenbesoldung, also des ehemaligen Weihnachts- und Urlaubsgelds, lehnen wir entschieden ab. Es handelt es sich hierbei nicht nur um eine finanzielle Angelegenheit, wie sie spätestens bei der Anhörung zur Bundesbesoldung am Montag mitbekommen haben sollten. Beamte stehen nach Art. 33 des Grundgesetzes zum Dienstherrn in einem "besonderen Dienst und Treueverhältnis", einer Beziehung, die auf Vertrauen beruhen sollte. Ein Vertrauen, das Sie meine Damen und Herren von CDU, CSU und FDP, für jährlich 500 Millionen Euro verkaufen. Dank der Opposition gab es eine Expertenanhörung im Innenausschuss, bei der Fachleute noch einmal Argumente von allen Seiten zum Gesetzentwurf und den eingebrachten Änderungsvorschlägen liefern sollten, eine Expertenrunde, zu der jede Fraktion Vertreter benannt hat. Man hätte also erwartet, zumindest Ansätze von Argumenten auch für die Regierungsabsichten zu erhalten. Aber Argumente für eine Wiedereinführung der Versorgungsrücklage ohne die notwendige vorherige Überprüfung waren nicht zu hören. Argumente für die Nachhaltigkeit der Herausnahme der Versorgungsempfänger aus den Einmalzahlungen waren nicht zu hören. Argumente, die einen Vertrauensbruch gegenüber den Beamten rechtfertigen, waren nicht zu hören. Selbst Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, konnten keinen Experten benennen, der das leisten kann. Unsere Fraktion wird trotz aller Grausamkeiten nicht gegen den Gesetzentwurf stimmen, sondern sich enthalten. Wir wollen, dass die Übertragung des Tarifergebnisses im öffentlichen Dienst vollzogen werden kann. Dem jetzigen sozialen Amoklauf der Regierung würden bei einer Ablehnung und Neuregelung des Gesetzes die letzten positiven Maßnahmen zum Opfer fallen. Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsfraktionen, besuchen Sie weiter die Delegiertenkonferenzen und Podiumsdiskussionen der Beamtinnen und Beamten! Sprechen Sie weiter von Wertschätzung und hervorragenden Ergebnissen! Wundern Sie sich aber nicht, wenn genau diese Beamtinnen und Beamten sich dabei die Taschen zuhalten. Erstens greifen Sie in diese Taschen - zu oft und zu tief. Zweitens hauen Sie denen die Taschen im sprichwörtlichen Sinne oft genug voll! Wer soll Ihnen noch etwas glauben, und was soll man Ihnen noch glauben? Etwa, dass die erneute Kürzung der Sonderzahlung nun tatsächlich 2015 ausläuft? Ich denke, Sie glauben selbst nicht mehr daran, auch unter dem Gesichtspunkt, dass es 2015 keine schwarz-gelben Regierung mehr geben wird. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamtinnen und Beamten im Bund, sowie Soldatinnen und Soldaten in Anlehnung an den Tarifabschluss für die Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes war eigentlich beschlossene Sache. Das hatte der Bundesinnenminister den betroffenen Beamten nicht nur versprochen, sondern das ist gute Übung und ist auch rechtlich weitgehend so verankert. Die Bundesregierung ist dabei, dieses Versprechen nicht zu halten, und zwar unter bemerkenswerten, wenig schmeichelhaften Umständen. Grund dafür ist der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen, mit der das Wiederaufleben der vollständigen Weihnachtsgeldzahlung nach einer fünfjährigen Aussetzung erneut bis 2015 gestoppt werden soll, sowie die Ausnahme der Versorgungsempfängerinnen und -empfänger von der Einmalzahlung für 2011. Dazu - vermutlich unter Betonung der Verwerflichkeit dieses Verhaltens - werden heute eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen noch mehr sagen. Deswegen von mir dazu nur so viel: Es ist richtig, dass wir es hier mit einem offenkundigen politischen Wortbruch von Schwarz-Gelb zu tun haben, und es ist völlig zutreffend, wenn in diesem Zusammenhang von einem ernst zu nehmenden Vertrauensschaden der Bundesregierung bei den betroffenen Bundesbeamten und -beamtinnen gesprochen wird. Und dieser Vertrauensschaden darf auch nicht auf die leichte Schulter genommen werden; denn er wirkt sich im Beschäftigungsverhältnis oft ganz unmittelbar auf die Arbeitsmotivation und damit nicht unerheblich auch auf die Gesamtsituation der Bundesverwaltung aus, einer Bundesverwaltung, die unstreitig mit immer weniger Personal immer mehr Aufgaben bewältigen muss. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mit bloßem Sparen um des Sparens willen, ohne das erforderliche Augenmaß, ist niemandem geholfen. Damit man mich nicht falsch versteht: Verfassungswidriges Verhalten wird man Ihnen nicht vorwerfen können, und ich verwehre mich in der Sache auch nicht grundsätzlich dagegen, dass man über Modifizierungen oder auch Kürzungen bei der Beamtenbesoldung und -versorgung nachdenkt. Kopfschütteln aber verdient, dass Sie sich nicht einmal gezwungen sehen, den Wortbruch, das heißt die weitere, hälftige Aussetzung der Sonderzahlung, näher als mit der dürren und nichtssagenden Erklärung, eben "Geld sparen zu müssen", zu begründen. Ein wenig Nachdenken sollte Sie jedoch dazu führen, dass, wenn man an dieser Stelle den Haushalt entlasten will, behutsam und sozial verträglich vorgegangen werden muss. Darum plädiere ich im Hinblick auf die Sonderzahlung für einen degressiven Ansatz, der die Bediensteten der unteren und mittleren Besoldungsgruppen die weitere Aussetzung deutlich weniger spüren lässt und den höheren noch ein Plus, wenn auch ein sehr geringes, bringen würde. In einer solchen Verfahrensweise wurde ich bei der Anhörung am Montag im Grundsatz vom Sachverständigen Bäumer bestätigt, gewiss immer unter der Voraussetzung, dass das Sparen an dieser Stelle hinreichend und schlüssig begründet wird. Meine Ausführungen gelten im Übrigen analog für die Nichtberücksichtigung der Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger bei der Einmalzahlung 2011. Gleichwohl, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist es vernünftig, die Kritik insbesondere dann nicht zu überziehen, wenn man selbst, wie Sie als Mitglied in der schwarz-roten Vorgängerregierung, inhaltlich genau dieses Vorgehen politisch mitgetragen hat, nämlich das fortgesetzte planlose Ad-hoc-Herumsparen bei den Beamtinnen und Beamten nach aktueller Kassenlage. Niemand bestreitet, dass die massive Finanzkrise den Bundeshaushalt zusätzlich belastet. Angesichts eines Finanzierungsdefizits von 33 Milliarden Euro aber stellt sich die Frage, ob ausgerechnet ein schon geschnürtes Paket geöffnet werden musste, mit dem bereits dargelegten Flurschaden für die zunehmend knappe Ressource Vertrauen sowie angesichts einer Einsparsumme von 500 Millionen Euro, die im Hinblick auf die Gesamtdefizitsumme bedauerlicherweise lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt. Dabei weist der vorgelegte Entwurf des Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes zumindest einen Gesichtspunkt auf, den wir unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten durchaus begrüßen und der zumindest dem Ansatz nach ein Konzept erkennen lässt: Die Wiederaufnahme der Versorgungsrücklage stellt immerhin einen, wenn auch allein nicht ausreichenden Beitrag zu einer nachhaltigen, der demografischen Herausforderung der kommenden Jahre gerecht werdenden und damit generationengerechten Neustrukturierung zumindest der Versorgungsbezüge dar. Wie aber kann die Altersversorgung auch für zukünftige Generationen gesichert werden? Das ist eine der zentralen, wenn nicht die alles entscheidende Frage, der wir uns auch und gerade mit Blick auf die Beamtenversorgung stellen müssen. Auf Bundesebene sieht es hier dank der vor nunmehr gut zwölf Jahren getroffenen Grundentscheidung, eine Versorgungsrücklage zu bilden, vergleichsweise gut aus, auch wenn hier womöglich, worauf der Sachverständige Bäumer hingewiesen hat, aufgrund zu positiver Zahlen in den Versorgungsberichten der Bundesregierung falsch kalkuliert wurde. In vielen Bundesländern sieht es dagegen düster aus. Beispiele: Schleswig-Holstein: Kosten für Versorgung 2010 circa 900 Millionen Euro, 2020 circa 1,3 Milliarden Euro; Thüringen: 2009 circa 50 Millionen Euro, Verdopplung bis 2013. Wissenschaftlichen Prognosen nach zu urteilen, wird die Zahl der Versorgungsempfängerinnen und -empfänger in den Ländern und Gemeinden im Jahre 2020 auf über 1 Million wachsen, Tendenz für die folgenden Jahrzehnte weiter steigend. Angesichts der Größenordnung dieser politischen Herausforderung drängt sich der Widerspruch zur kleinmütigen Werkelei an den Beamtenbezügen und Beamtenpensionen, wie sie auch heute mit dem Beamtenbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz von dieser Regierung dokumentiert wird, geradezu auf. Es kann dem Bund nicht egal sein, wenn sich die Schere zwischen den Beamtenversorgungen der Länder und des Bundes weiter öffnet und die sich abzeichnenden Finanzierungslücken bedrohliche Ausmaße annehmen. Ähnliches gilt für die zukunftsgerechte Strukturierung der Dienstbezüge. Gerade weil wir auch hier alle in der Pflicht sind, angemessene dienstrechtliche Konzepte vorzulegen, sei es auf Bundes- oder Landesebene, ist es unerlässlich, ernsthaft und auch ergebnisoffen darüber zu diskutieren, wie die Zukunft des öffentlichen Dienstes insgesamt aussehen soll. Dabei stellt sich die Frage: Wie kann die gegenwärtig hohe Qualität bei der Aufgabenerfüllung aufrechterhalten, wie können die Attraktivität der Tätigkeiten als auch die Motivation sowohl für die Anwärterinnen und Anwärter als auch für die gegenwärtige Beamtenschaft gesteigert werden - auch und gerade angesichts eines verschärften Wettbewerbes um qualifizierte Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt? Es stellt sich aber vor allem auch die Frage: Wie kann die Vergütung einer Tätigkeit im Dienste der Öffentlichkeit, für den Staat, auf lange Sicht generationengerecht finanziert werden? Zahlreiche Beiträge zur Reformdebatte liegen auf dem Tisch; zusätzlich müssen neue Ansätze diskutiert werden. Meine Damen und Herren der Koalition, die gegenwärtige Konzeptionslosigkeit der Regierung erscheint angesichts der geschilderten Herausforderungen besorgniserregend. Auch aus diesem Grunde, nicht nur weil ihre Anpassungen - außer dem gebotenen politischen Anstand gegenüber den Tarifpartnern und der Beachtung der sozialen Komponente - auch den notwendigen politischen Weitwinkel vermissen lassen, stimmen wir Ihrem Gesetzentwurf in der vorgelegten Fassung nicht zu. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Entwurf eines Gesetzes zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung des Zusatzabkommens vom 5. November 2002 (Tagesordnungspunkt 22) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Dem Deutschen Bundestag liegen heute fünf Gesetzesentwürfe zur Ratifikation von überarbeiteten Doppelbesteuerungsabkommen bzw. zu einem Änderungsprotokoll vor. Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Damit kann die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verbessert und können Investitionshemmnisse aufgrund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden. Mit den Ländern Syrien, Bulgarien, Malaysia, Großbritannien und Belgien wird nach dem heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch besser die Doppelbesteuerung nach OECD-Standard vermieden. Gleichzeitig ist mit besagten Ländern ein verbesserter Austausch in Steuersachen vereinbart, sodass wir mit der heutigen Ratifizierung dieser Abkommen Steuerhinterziehung noch wirksamer und effektiver bekämpfen können. Zunächst möchte ich aber auf die einzelnen Doppelbesteuerungsabkommen jeweils eingehen: Zunächst Syrien. Durch das erstmalige Vorliegen eines Doppelbesteuerungsabkommens mit der Arabischen Republik Syrien werden steuerliche Hindernisse zur Förderung und Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen mit unserem Land abgebaut. Durch die eindeutige Zuweisung der Besteuerungsrechte für alle Einkünfte im jeweiligen Wohnsitzstaat und die vorgesehene Begrenzung der Quellensteuersätze bei Dividenden, Zinserträgen und Lizenzen können die Ziele von Doppelbesteuerungsabkommen erreicht werden. Zukünftig werden Sozialversicherungsrenten im sogenannten Kassenstaat versteuert. Das heißt, ein in Syrien lebender deutscher Rentner muss seine Steuererklärung in Deutschland abgeben, da die Auszahlung aus der "deutschen Kasse" erfolgt. Durch die Einführung eines Informationsaustausches in Steuersachen nach 2005er-OECD-Standard können die zuständigen Steuerbehörden jetzt vom jeweiligen Vertragsstaat Informationen zu Steuerschuldnern erhalten. Dabei kann es sich um Auskünfte zu allen Steuerarten, auch wenn sie nicht im DBA erläutert sind, handeln. Malaysia. Durch das vorliegende Abkommen wird der Vertrag von 1977 aktualisiert und an bestehende Realitäten angepasst werden. Folgende Veränderungen sind hier hervorzuheben: einheitliche Quellensteuersätze bei Zinsen und Lizenzen; Einführung der Besteuerung von Sozialversicherungsrenten im Quellen- bzw. Kassenstaat; Wegfall der Anrechnungsmöglichkeit von fiktiven, aber nicht gezahlten malaysischen Steuern; Einführung einer Umschwenkklausel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode zugunsten Deutschlands; Ausschluss von Abkommensvorteilen für Personen, die in der Freizone Labuan Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen; Einführung eines verbesserten Informationsaustausches in Steuersachen nach 2005er-OECD-Standard. Der Informationsaustausch betrifft auch die Freizone Labuan. Es geht auch um die Schließung von Steuerschlupflöchern. Bulgarien. Das bisherige Abkommen von 1978 wird durch die heutige Ratifikation abgelöst. Das DBA wird somit an die bestehenden Realitäten angepasst. Strukturell und inhaltlich orientiert sich das Abkommen weitgehend am OECD-Musterabkommen von 2005. Hierdurch kann eine Vereinheitlichung der Regeln in Doppelbesteuerungsverfahren mehr und mehr erreicht werden. Folgende besondere Regelungen sind hervorzuheben: gespaltener Steuersatz für Dividenden; Zinseinkünfte können auch im Quellenstaat im Allgemeinen mit bis zu 5 Prozent versteuert werden; Quellensteuersatz bei Lizenzen bei weiterhin 5 Prozent; Sozialversicherungsrenten werden künftig im Kassenstaat besteuert, damit wird die deutsche DBA-Politik der letzten Jahre fortgeführt; generell gilt im Abkommen die Freistellungsmethode. Es besteht aber die Möglichkeit, auf die Anrechnungsmethode umzuschwenken, um doppelte Besteuerung besser zu vermeiden. Und schließlich: Der Informationsaustausch erstreckt sich sowohl auf Bankenauskünfte als auch auf Sachverhalte zur Bekämpfung von Geldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinanzierung. Großbritannien. Dieses am 30. März 2010 in London unterzeichnete Abkommen löst das bisherige vom 26. November 1964 ab. Der an die modernen und gegenwärtigen Verhältnisse angepasste Vertrag entspricht dabei dem aktuellen OECD-Musterabkommen. Dadurch kommt es, wie bereits auch bei anderen Abkommen, zur weiteren Vereinheitlichung der Regeln auf dem Gebiet der Doppelbesteuerungsabkommen. Aufgrund des Investitions- und Handelsvolumens war eine Überarbeitung des alten DBAs dringend geboten. Deutschland ist für das Vereinigte Königreich der wichtigste Handelspartner, und für unser Land ist Großbritannien nach Frankreich, den USA und den Niederlanden der viertgrößte Wirtschaftspartner. Folgende Änderungen möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben: Der bisherige einheitliche Quellensteuersatz auf Dividenden in Höhe von 15 Prozent wird durch einen gespaltenen Steuersatz abgelöst. Für Zinsen und Lizenzen hat weiterhin der Ansässigkeitsstaat das Besteuerungsrecht. Renten und Ruhegehälter - außer Pensionen - werden im Wohnsitzstaat versteuert, wohingegen Sozialversicherungsrenten im Kassenstaat versteuert werden müssen. Zur Förderung des wissenschaftlichen Austausches wurden neue Sonderregelungen für Gastprofessoren, Lehrer und Studenten getroffen. Bei der Besteuerungsmethode haben sich beide Regierungen - je nach Besteuerungssachverhalt - auf die Anwendung der Freistellungs- wie auch der Anrechnungsmethode verständigt. Die Freistellungsmethode wurde dabei noch durch eine Aktivitätsklausel und einen Progressionsvorbehalt ergänzt. Sollte es zwischen den Steuerbehörden innerhalb von zwei Jahren im Einzelfall keine Einigung bei der Frage nach der Methodik geben, so ist eine Schiedsstelle anzurufen. Belgien. Das vorliegende Änderungsprotokoll zum Doppelbesteuerungsabkommen von 1967 zwischen der Bundesrepublik und dem Königreich Belgien sieht einen verbesserten Austausch zwischen beiden Staaten in Steuersachen vor. Damit können steuerlich relevante Sachverhalte besser durch die Finanzbehörden aufgeklärt werden, deren Befugnisse im Allgemeinen auf das Inland beschränkt sind. Zurzeit besteht folgende Situation: Sollte sich der Steuerschuldner oder eine dritte Person, die zur Sachverhaltsklärung beitragen kann bzw. muss, im Ausland aufhalten, so ist diese für inländische Finanzbehörden in der Regel nicht greifbar. Durch den vereinbarten Informationsaustausch gewähren sich beide Staaten Unterstützung bei der Aufklärung von Besteuerungssachverhalten. Somit können Steuerschuldner bzw. Dritte direkter zur Sachverhaltsklärung herangezogen werden. Durch das vorliegende Änderungsprotokoll kann grenzüberschreitende Steuerhinterziehung noch effektiver bekämpft und können sogenannte Steuerschlupflöcher geschlossen werden. Die heute vorliegenden Abkommen sind ein Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und zur Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbewerbs allgemein. Sie dienen weiterhin der Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den jeweiligen Vertragspartnern. Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die Verhandlungsvertreter der Bundesrepublik sehr gute Ergebnisse und Regelungen im Sinne unserer Steuer- und Wirtschaftspolitik ausgehandelt haben. Trotz alledem müssen wir in diesem Hause darüber diskutieren, wie zukünftig Doppelbesteuerungsabkommen ausgestaltet werden sollen. Die Diskussion in dieser Woche im Finanzausschuss hat dabei gezeigt, dass die Methodik - Anrechnungs- oder Freistellungsmethode - von Land zu Land unterschiedliche Auswirkungen auf die Steuereinnahmen und/oder auf die wirtschaftliche Situation unserer Unternehmen haben kann. Hier gilt es künftig, zwischen den globalen Entwicklungsmöglichkeiten unserer Unternehmen, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und der Verbesserung der Einnahmesituation des Fiskus abzuwägen. Heute aber haben wir zunächst über die fünf vorliegenden ausgehandelten Abkommen bzw. ein Änderungsprotokoll abzustimmen. Die Unionsfraktion begrüßt die vorliegenden Gesetzesentwürfe und wird ihnen aus den von mir erläuterten Gründen zustimmen. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir behandeln heute fünf Doppelbesteuerungsabkommen mit Belgien, Bulgarien, Malaysia, Syrien und dem Vereinigten Königreich und Nordirland, UK. Die völkerrechtlichen Abkommen und die entsprechenden Vertragsgesetze ersetzen bestehende Doppelbesteuerungsabkommen, DBA, die teils schon mehrere Jahrzehnte Gültigkeit haben und den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den Vertragsstaaten nicht mehr entsprachen. Der Vertrag mit Belgien stammte aus dem Jahr 1967, der mit Bulgarien aus dem Jahr 1987, der mit Malaysia aus dem Jahr 1977 und der mit dem Vereinigten Königreich aus dem Jahr 1964. Mit Syrien wird erstmals ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen beschlossen; die übrigen sind das Ergebnis von Verhandlungen zur Revision dieser bestehenden Verträge. Eine wichtige Weiterentwicklung spiegelt sich schon im Titel der Umsetzungsgesetze, mit denen die Vertragsinhalte der internationalen Abkommen in unsere Rechtsordnung übertragen werden. Früher haben wir meist "nur" von Doppelbesteuerungsabkommen gesprochen, die Besteuerungsrechte zwischen Vertragsstaaten aufgeteilt haben. Heute geht es um mehr, denn die Abkommen dienen auch explizit der "Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung" auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (und Vermögen). Das markiert eine qualitative Weiterentwicklung in der deutschen Abkommenspolitik und verdeutlicht die neuen Schwerpunkte in der Ausrichtung unserer internationalen Steuerpolitik. Ich danke dem Bundesfinanzministerium an dieser Stelle, dass es bei den teils jahrelangen Verhandlungen die Gelegenheit genutzt hat, um die Abkommen in Nachverhandlungen an der aktualisierten Version des OECD-Musterabkommens aus dem Jahr 2005 auszurichten und damit die verbesserten Standards zum steuerlichen Informationsaustausch und zur Amts- und Rechtshilfe zwischen den Steuerverwaltungen umzusetzen. Die Abkommen mit Belgien, Bulgarien, Malaysia, Syrien sowie UK beruhen im Wesentlichen auf dem gültigen Musterabkommen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, aus dem Jahr 2005, OECD-MA 2005. Die OECD hat im Kampf gegen Steuerhinterziehung, Steueroasen und schädlichen Steuerwettbewerb internationale Standards zu Transparenz und Auskunftsaustausch entwickelt. Diese Standards besagen im Kern, dass für die Besteuerung relevante Informationen zugänglich sein müssen - etwa Bankinformationen, Informationen über Eigentumsverhältnisse an Gesellschaften oder Begünstigte von Stiftungen. Dies gilt unabhängig davon, ob strafrechtliche Ermittlungen bereits eingeleitet sind oder ob es um "Aufdeckung und Ermittlung noch nicht identifizierter Steuerfälle" (Art. 26 OECD-MA) geht. Die Finanzbehörden sollen also - wie bei inländischen Ermittlungen - auf alle "voraussichtlich erheblichen" Daten zugreifen können, die sie zur Aufklärung grenzüberschreitender Sachverhalte benötigen. Außerdem müssen diese Informationen auf Ersuchen ausländischen Steuerbehörden zur Verfügung gestellt werden. Wichtig ist dabei, dass es sich um konkrete Ermittlungen zur Aufklärung eines steuerlichen Sachverhalts handelt; das heißt anlasslose Auskunftsersuchen "ins Blaue hinein" sind unzulässig. Deutsche Finanzbeamte können ihre Kolleginnen und Kollegen in den anderen Vertragsstaaten also künftig auf dem Weg der Amts- und Rechtshilfe um Informationen bitten, die zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung voraussichtlich erforderlich sind. Wenn die begründete Vermutung besteht, dass ein deutscher Steuerpflichtiger Kapitaleinkünfte aus dem Ausland erzielt und diese nicht oder nicht ordnungsgemäß versteuert, soll das Finanzamt diesen Sachverhalt mit Unterstützung von den Steuerverwaltungen der anderen Vertragsstaaten aufklären können. Mit Blick auf die bisherigen Regelungen zum Informationsaustausch mit Belgien, Bulgarien und Großbritannien und die Zusammenarbeit in Steuersachen räumen diese Verhandlungsergebnisse der deutschen Steuerverwaltung gegenüber diesen Staaten die gleichen Rechte wie gegenüber allen anderen EU-Mitgliedstaaten ein. Der mit Bulgarien vereinbarte vollumfängliche Informationsaustausch in Steuersachen umfasst nicht nur Bankauskünfte über grenzüberschreitende Einkünfte und Vermögen und die Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuern, sondern verbessert auch unsere Aufklärungsmöglichkeiten in der Terrorismusbekämpfung und im Kampf gegen Geldwäsche und Korruption. Der Informationsaustausch gemäß OECD-Standard umfasst alle drei Formen des Informationsaustausches (Art. 26 OECD-MA): den Informationsaustausch auf Ersuchen einer Steuerbehörde, den spontanen Informationsaustausch, das heißt das anlassbezogene "Zurverfügungstellen" steuerlicher Informationen durch eine Behörde und den automatischen Informationsaustausch, auf den ich später nochmals zu sprechen komme. Die Doppelbesteuerungsabkommen, die wir heute im Bundestag besprechen, verbessern nicht nur unsere Möglichkeiten im Kampf gegen Steuerhinterziehung, sondern bieten auch wichtige Ansatzpunkte für die ordnungsgemäße Durchführung des Besteuerungsverfahrens - ein wichtiger Punkt; denn es widerspricht unserer Auffassung von Steuergerechtigkeit, dass eine Privatperson oder ein Unternehmen mit Einkünften aus dem Ausland nur deshalb steuerlich bessergestellt ist als jemand mit "nur" inländischen Einkünften, weil die Finanzämter nicht auf Daten aus dem Ausland zugreifen können. Diese Fehlentwicklung wird mit den vorliegenden Abkommen im Austausch mit den anderen Vertragsstaaten behoben. Dieser Aspekt ist mir wichtig, weil es in der Regel nicht der "normale" Arbeitnehmer, Rentner oder Handwerker ist, der sein Privatvermögen auf den internationalen Kapitalmärkten, in Stiftungen und auf Treuhandkonten anlegt und Zins- oder Dividendeneinkünfte aus Malaysia bezieht. Es ist für die gleichmäßige und gerechte Besteuerung und die Legitimität unseres Steuersystems wichtig, dass es keinen Unterschied macht, woher jemand seine Einkünfte bezieht. Die neuen bzw. überarbeiteten Abkommen ermöglichen der deutschen Steuerverwaltung - wie in Art. 26 des OECD-Musterabkommens 2005 vorgesehen - den Zugang zu "Informationen, die zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Verwaltung bzw. Vollstreckung des innerstaatlichen Rechts betreffend Steuern jeder Art und Bezeichnung ... voraussichtlich erheblich sind ..." (Art. 26 Abs. 1). Der Vertragsstaat darf die Erteilung von Informationen nicht aus dem Grund ablehnen, dass er kein innerstaatliches Interesse an diesen Informationen hat und sie für seine eigenen steuerlichen Zwecke nicht benötigt (Art. 26 Abs. 4). Die Erteilung von Informationen darf auch nicht deshalb abgelehnt werden, weil sich die Informationen bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder befinden (Art. 26 Abs. 5). Zu den wichtigsten Regelungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung gehören folgende Bestimmungen: Erstens. Bei der Überarbeitung der bestehenden Abkommen wurde eine Reduzierung der Quellensteuersätze auf Dividenden aus zwischengesellschaftlichen Beteiligungen von 15 Prozent auf 5 Prozent vereinbart (Art. 11 Abs. 2). Im Ergebnis ergibt sich daraus eine geringere Anrechnung der im anderen Vertragsstaat erhobenen Steuer auf die deutsche Steuer und Mehreinnahmen für den deutschen Staat. Das Abkommen mit Malaysia verhindert insbesondere auch, dass malaysische Steuern, die nur "auf dem Papier" bestehen, aber von den Steuerpflichtigen nicht bezahlt werden, in Deutschland angerechnet werden können. Diese sogenannte fiktive Quellensteueranrechnung ist ab 2011 nicht mehr möglich (Art. 23 Abs. 1 Buchstabe f). Mit der Absenkung des Quellensteuersatzes auf Dividenden im Abkommen mit Bulgarien und dem Verzicht auf Quellensteuer bei Vergütungen für Ausrüstungsleasing ab 2015 sollen Investitionsanreize gesetzt werden. Daraus ergeben sich auch eine geringere Anrechnung der bulgarischen auf die deutsche Steuer - außer bei Konstellationen, die unter die Mutter-Tochter-Richtlinie fallen. Das DBA mit Großbritannien sieht ebenfalls eine Reduzierung der Quellensteuersätze bei Dividenden von 15 Prozent auf 5 Prozent bei zwischengesellschaftlichen Beteiligungen vor. Grundsätzlich bleibt es bei der Freistellungsmethode mit Aktivitätsklausel und Progressionsvorbehalt bei tatsächlicher Besteuerung in UK; dies gilt insbesondere bei Gewinnen aus britischen Betriebsstätten und Ausschüttungen britischer Gesellschaften bei Schachtelbeteiligungen. Aktivitätsklausel meint, dass eine Freistellung nur gewährt wird, wenn die Betriebsstätte in Großbritannien eine aktive wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, nicht aber bei nur passiver Präsenz, beispielsweise in Form einer vermögensverwaltenden Tätigkeit. In diesem Fall gilt die Anrechnungsmethode. Zweitens. Die Abkommen enthalten zudem auch eine sogenannte Umschwenkklausel (Subject-to-Tax-Klausel): Sie ermöglicht es Deutschland, von der im Regelfall vorgesehenen Freistellungs- zur Anrechnungsmethode umzuschalten, wenn keine Besteuerung im anderen Vertragsstaat erfolgt und eine niedrige Besteuerung oder die doppelte Nichtbesteuerung die Folge sind. Dies hat folgenden Hintergrund. Doppelbelastungen für Unternehmen und Bürger lassen sich nach folgendem Grundmuster vermeiden: Das Doppelbesteuerungsabkommen weist dem Quellenstaat beschränkte Besteuerungsrechte zu. Der Quellenstaat ist der Staat, aus dem einem Steuerpflichtigen Kapitaleinkünfte zufließen oder aus dem er Einnahmen aus sonstigem Vermögen erzielt, in dem er aber nicht seinen Wohnsitz hat; zu diesen Einkünften zählen beispielsweise Zinsen aus einem Guthaben bei einer Bank in Belgien, Dividenden, die man aus Anteilen an einem Unternehmen mit Sitz in Großbritannien hält, oder Einnahmen aus Vermietung oder Verpachtung von Grundbesitz in Bulgarien. Der Wohnsitzstaat rechnet diese Quellenbesteuerung dem deutschen Steuerpflichtigen auf seine Steuer an (die sogenannte Anrechnungsmethode) oder stellt die Einkünfte von seiner Besteuerung frei (die sogenannte Freistellungsmethode). Ein Beispiel kann den Mechanismus zur Vermeidung einer doppelten Besteuerung verdeutlichen, die den Steuerpflichtigen unangemessen belasten würde. Angenommen, eine Muttergesellschaft in Deutschland hält mehr als 10 Prozent der Anteile an einer Tochtergesellschaft in Syrien. In diesem Fall wird der Gewinn der Tochter zunächst in Syrien der dort üblichen Körperschaftsteuer unterworfen. Auf die anschließend an die deutsche Mutter ausgeschüttete Dividende kann Syrien eine 5-prozentige Kapitalertragsteuer erheben. Deutschland vermeidet eine Doppelbesteuerung dadurch, dass es diese Dividenden freistellt. Nach diesem Grundmuster werden auch grenzüberschreitende Unternehmensgewinne zwischen Deutschland und Syrien behandelt. Syrien darf danach Gewinne eines deutschen Unternehmens nur besteuern, wenn das Unternehmen eine Betriebsstätte im Land hat und die Gewinne der Betriebsstätte zuzurechnen sind. Die Gesamtheit der deutschen Doppelbesteuerungsabkommen ist durch einen Methodenmix aus Freistellung und Anrechnung gekennzeichnet. Grundsätzlich gilt die Freistellungsmethode, um eine doppelte Besteuerung von Einkünften zu vermeiden; dazu gehören beispielsweise Einkünfte, die ein deutsches Unternehmen aus einer Betriebsstätte in Malaysia bezieht, oder Einkünfte aus Dividendenausschüttungen einer syrischen Gesellschaft, an der ein deutscher Steuerpflichtiger zu mindestens 10 Prozent beteiligt ist. Diese Einkünfte werden in Deutschland in der Regel nicht besteuert, das heißt freigestellt. Die Anrechnungsmethode gilt unter anderem bei Dividendeneinkünften aus Streubesitz, Zinsen, Lizenzgebühren, Gewinnen aus dem Verkauf von Unternehmensanteilen mit überwiegendem Grundbesitz im anderen Vertragsstaat. Bedauerlicherweise lähmt derzeit ein Streit innerhalb der Bundesregierung die wichtigen Verhandlungen mit Singapur über ein neues Doppelbesteuerungsabkommen. Das CDU-Finanzministerium konnte sich bislang leider nicht durchsetzen und das Anrechnungsverfahren im Abkommen verankern, um die deutschen Besteuerungsrechte zu wahren und Steuerhinterziehung zu unterbinden. Wirtschaftsminister Brüderle von der FDP hingegen plädiert für die Freistellungsmethode und möchte auf die deutsche Besteuerung von Unternehmensgewinnen aus Singapur verzichten - obwohl er genau weiß, dass die in Singapur gezahlten Steuern - angesichts sehr niedriger Sätze und zahlreicher Ausnahmeregelungen - äußerst gering sind. Keine Besteuerung in Deutschland, keine oder nur sehr geringe Besteuerung in Singapur - eine Steilvorlage für Steuergestaltung oder, in Brüderles Sinne: eine Art "legalisierte Steuerhinterziehung". Angesichts der stark wachsenden Bedeutung Singapurs als internationales Finanzzentrum und unserer bisherigen Erfolge im Kampf gegen internationale Steuerhinterziehung, Steueroasen und Offshore-Finanzzentren wäre es eine bedenkliche Entwicklung, wenn sich die neoliberale Steuersenkungsideologie in unserer internationalen Abkommenspolitik durchsetzen würde und mit Unterstützung der FDP eine neue Steueroase entstünde. Aber dass die FDP an ihre Klientel denkt und gerne einen neuen "sicheren Hafen" für das bislang in Liechtenstein, der Schweiz, auf karibischen oder britischen Kanalinseln versteckte Geld anlegen möchte, kann spätestens seit den Steuergeschenken für Hoteliers im sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz eigentlich nicht mehr überraschen. Aber ein wenig irritiert ist man dann doch, wie unverfroren "Politik für die eigene Lobby" zur Grundlage völkerrechtlicher Abkommen gemacht wird. Drittens. Auch die Verteilung der Besteuerungsrechte von Ruhegehältern und Renten wird mit Blick auf den Übergang zur nachgelagerten Besteuerung in Deutschland neu geregelt. Gemäß Art. 17 Abs. 1 des Abkommens erhält der Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen das Besteuerungsrecht; davon ausgenommen bleiben Pensionen aus öffentlichen Kassen. Bei Bezügen aus der gesetzlichen Sozialversicherung hingegen liegt das Besteuerungsrecht beim Kassenstaat. Steuerlich geförderte Renten unterliegen dem Besteuerungsrecht des Wohnsitzstaates. Auch im DBA mit Großbritannien ist die Neuregelung der Rentenbesteuerung und der Übergang zum Kassenstaatsprinzip vorgesehen; es besteht hier allerdings ein Wahlrecht für Personen, die schon Sozialversicherungsrenten erhalten; de facto verzögert sich damit die Umstellung auf das Kassenstaatsprinzip. Viertens. Im Bereich der Bekämpfung der Steuerhinterziehung und der Durchführung der Besteuerung ist der erweiterte Informationsaustausch für Steuern jeglicher Art ein wichtiger Fortschritt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Belgien, das wie die anderen OECD-Mitglieder Schweiz, Österreich und Luxemburg zunächst Vorbehalte gegen den Art. 26 OECD-MA hatte. Dieser Art. des OECD-Musterabkommens für Doppelbesteuerungsabkommen greift inhaltlich weitgehend das sogenannte OECD-Musterabkommen für Auskunftsaustausch in Steuersachen (Tax Information Exchange Agreement, TIEA) aus dem Jahr 2002 auf. Das Muster-DBA geht allerdings über das TIEA hinaus und ermöglicht nicht nur den Auskunftsaustausch auf Ersuchen, sondern auch den spontanen und den automatischen Austausch. Es ist ein wichtiger Fortschritt im Kampf gegen die internationale Steuerhinterziehung, dass mit Belgien ein OECD-Mitglied endlich seinen Vorbehalt gegen die OECD-Standards aufgegeben hat. Denn viele sogenannte Steueroasen hatten sich zwar zur Umsetzung dieser Standards verpflichtet, die konkrete Umsetzung dieser Verpflichtungserklärungen allerdings davon abhängig gemacht, dass auch alle OECD-Mitgliedstaaten die OECD-Standards akzeptieren und anwenden, der sogenannte Level-Playing-Field-Vorbehalt - eine Auslegung des Grundsatzes "Gleiches Recht für alle", der die Steuerfahnder in der Vergangenheit immer wieder vor große Schwierigkeiten gestellt hat. Mittlerweile haben sich viele dieser Steueroasen und Offshore-Finanzzentren bereit erklärt, die OECD-Standards zum steuerlichen Informationsaustausch umzusetzen; der Bundestag hat in dieser und in der vergangenen Legislaturperiode schon einige dieser Abkommen beschlossen. Die vorliegenden Doppelbesteuerungsabkommen setzen diese erfreuliche Entwicklung fort, die ohne die Vorarbeiten der Finanzminister Eichel und Steinbrück nicht denkbar gewesen wäre. Ich erinnere insbesondere an das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung aus der vergangenen Legislaturperiode, die klugen Verhandlungen der Beamtinnen und Beamten aus dem Bundesfinanzministerium und die europäische Zinsrichtlinie. Die Zinsrichtlinie regelt für die meisten EU-Mitgliedstaaten die Besteuerung von Zinserträgen aus privaten Kapitalanlagen und gewerblichen Zinseinkommen, die natürliche Personen in einem anderen Mitgliedstaat erzielen, nach den Besteuerungsregeln des Wohnsitzstaates - leider unterliegen andere Kapitaleinkünfte noch nicht den Richtlinienbestimmungen. Besonders wichtig ist mir dabei das Verfahren, das ich mir auch in den steuerlichen Beziehungen mit anderen Staaten wünschen würde. Über ein Kontrollmitteilungssystem werden den Finanzämtern des Wohnsitzstaates automatisch Auskünfte über Zinszahlungen an wirtschaftliche Eigentümer bereitgestellt. 24 EU-Staaten nehmen daran teil, ausgenommen Österreich, Belgien und Luxemburg, die lediglich eine Quellensteuer auf Zinserträge der Anleger erheben und einen Teil der Einnahmen daraus an Deutschland abführen. Das neue Abkommen mit Belgien etabliert künftig einen Standard des Informationsaustausches, der über das Kontrollmitteilungssystem der Zinsrichtlinie hinausreicht - ein wichtiges Signal, das hoffentlich zu einer Weiterentwicklung sowohl der Richtlinie wie auch der zwischenstaatlichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und des Informationsaustausches führt. Peer Steinbrück hat einige Vorschläge gemacht, um die Stärken des Mitteilungssystems der Zinsrichtlinie zu verbessern und die Schwächen und Lücken im Regelwerk zu beseitigen. Dazu gehören die Streichung von Ausnahmen bei erfassten Produkten und Steuerpflichtigen, die Verbesserung der Transparenz sowie insbesondere die Ausdehnung des sachlichen, persönlichen und räumlichen Anwendungsbereichs der Zinsrichtlinie. Diese Überlegungen bieten sicherlich einen guten Anknüpfungspunkt für unsere weiteren Bemühungen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung, zum Informationsaustausch in steuerlichen Angelegenheiten und zur Durchführung eines ordentlichen Besteuerungsverfahrens. Ich hoffe, dass es uns gelingt, die Beteiligungsrechte des Bundestages bei der Neuverhandlung oder Revision bestehender DBA zu stärken und seine Mitsprache mit Blick auf Ziele, Inhalte und Methodenwahl weiterzuentwickeln. Angesichts der hohen und weiter wachsenden Bedeutung dieser Abkommen für die betroffenen Unternehmen und Bürger, für die Finanzverwaltung, für unsere Steuereinnahmen und ein gerechteres Steuersystem wollen wir die Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages erweitern. Dr. Birgit Reinemund (FDP): Von den mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten hat das Bundesfinanzministerium seit Anfang 2009 insgesamt 54 neu verhandelt. Etliche Abkommen waren ausgelaufen, in anderen Fällen wurden die neuen OECD-Standards zu Informationsaustausch und Amtshilfe aus dem Musterabkommen von 2005 eingearbeitet. Doppelbesteuerungsabkommen zielen in zwei Richtungen: Zum einen soll eine steuerliche Benachteiligung international tätiger Unternehmen vermieden werden, zum anderen gilt es, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Eine doppelte Besteuerung von Einkünften bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten wäre für international tätige Unternehmen mit hohem bürokratischen und finanziellen Aufwand verbunden. Sie schwächt deren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen im gleichen Land tätigen Unternehmen aufgrund von Unterschieden in Unternehmensteuern und Einkommensteuer, das heißt aufgrund unterschiedlich hoher Lohnkosten. Es ist erklärtes Ziel deutscher und internationaler Wirtschaftspolitik, Doppelbesteuerungen zu vermeiden. Gerade für uns als Exportnation mit zahlreichen Niederlassungen deutscher Unternehmen im Ausland ist es unerlässlich, eine Schlechterstellung unserer Unternehmen im Ausland im Wettbewerb zur einheimischen Wirtschaft und zu Unternehmen anderer Länder zu vermeiden und gleichzeitig Rechtssicherheit für die Betriebe und ihre Mitarbeiter im Ausland herzustellen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, hat bereits im Juli 1963 ein Musterabkommen vorgestellt, auf dessen Basis die Bundesregierung Doppelbesteuerungsabkommen verhandelt. Das Musterabkommen wird seither kontinuierlich überarbeitet und an die Anforderungen unserer globalisierten Welt angepasst: zuletzt im Jahr 2005 durch Überarbeitung der großen Auskunftsklausel. Die OECD hat im Rahmen ihres Programms zur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbs festgestellt, dass der Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden das effektivste Mittel zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ist. Die Bundesregierung kommt hier schnell und gut voran. Ich bin froh, dass in allen vorliegenden Abkommen die Aufnahme der großen Auskunftsklausel durchgesetzt werden konnte. So stimmen wir heute über die Revision der Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Malaysia, der Republik Bulgarien, dem Königreich Großbritannien und Nordirland sowie dem Königreich Belgien ab und erstmals über ein Abkommen mit der Arabischen Republik Syrien. Insbesondere mit Belgien war bisher nur ein sehr eingeschränkter Auskunftsaustausch möglich, da Belgien lediglich Informationen gewährte, die für die Durchführung des DBA selbst unbedingt erforderlich waren. Diese Regelung war zwar bei Abschluss des ersten Deutsch-Belgischen DBA im Jahr 1967 Standard, allerdings wurde der Artikel bereits 1977 erstmals überarbeitet. Jetzt nach mehr als 33 Jahren ist Belgien bereit, seine restriktive Haltung aufzugeben und das bestehende DBA endlich entsprechend anzupassen. Im Falle von Syrien und Malaysia konnte der betreffende Artikel noch nach Abschluss der ursprünglichen Verhandlungen geändert werden. Auch wenn dies zur Verzögerung des Abschlusses geführt hat, möchten wir als FDP-Fraktion an dieser Stelle ausdrücklich den Verhandlungserfolg und die Konsequenz unserer deutschen Verhandlungsführer loben. Erstmals ist die Amtshilfe bei Steuerhinterziehung - nicht erst bei Steuerbetrug - in den DBA mit Großbritannien und Bulgarien enthalten. Malaysia und Syrien konnten sich dagegen leider noch nicht von den Vorteilen dieser Amtshilfe überzeugen lassen. In allen vorliegenden Abkommen wurde grundsätzlich die Freistellungsmethode vereinbart. Nur in klar umrissenen Ausnahmefällen und bei Kapitaleinkünften wird die Anrechnungsmethode angewendet - wie auch schon in früheren Abkommen üblich. Das DBA mit Bulgarien enthält darüber hinaus noch eine Switch-over-Klausel von der Freistellungs- auf die Anrechnungsmethode. Dies gewährleistet im Falle von im Ausland nicht versteuerten Einkünften, sogenannten weißen Einkünften, die Methode im Einzelfall wechseln zu können. In Ausnahmefällen und bei begründeten Fällen ist dies allgemeiner Konsens. Eine Nichtbesteuerung von Einkunftsanteilen will keiner. Eine grundsätzliche Anwendung der Anrechnungsmethode würde allerdings dem Ziel zuwiderlaufen, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Es würde grundsätzlich das höhere Steuerniveau zum Tragen kommen und die deutsche Wirtschaft bei ihrer Auslandstätigkeit damit über Gebühr belastet. Dies ist nicht im Sinne einer wirtschaftsfreundlichen Steuerpolitik. Ich begrüße, dass die Bundesregierung hier aktiv und zügig bilaterale Abkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen vorantreibt. Insbesondere das Doppelbesteuerungsabkommen mit Liechtenstein, das derzeit verhandelt wird, erwarten wir mit Spannung. Ich bin zuversichtlich - auch wegen entsprechender Äußerungen von Bundesfinanzminister Schäuble und des Liechtensteiner Regierungschefs -, dass es noch in diesem Jahr unterschrieben werden kann. Nach den Turbulenzen um Liechtenstein im Jahr 2008 ist das ein Riesenerfolg. Die nächsten Abkommen sind bereits auf den Weg gebracht. Es ist erfreulich, dass immer mehr Staaten bereit sind, die OECD-Standards in der internationalen Zusammenarbeit zu akzeptieren. Dies ist ein bemerkenswerter Fortschritt in der Außenwirtschaftspolitik. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Beim Thema Steuern wird es nie langweilig. Das ist gut! Denn wir brauchen sie unter anderem für Schulen, Straßen und lebenswerte Kommunen. Wichtig ist, dass Steuern gerecht erhoben und sinnvoll ausgegeben werden. Dann sind Bürgerinnen und Bürger umso eher bereit, Steuern zu zahlen. Und hier sehe ich ein Problem. Während Milliarden von Steuergeldern in der HRE versickern oder der Atomindustrie hinterhergeschmissen werden, wird im sozialen Bereich drastisch und ohne Verstand gekürzt. Gleichzeitig werden weiter fleißig Steuern hinterzogen (rund 30 Milliarden Euro pro Jahr entgehen dem Staat an Steuereinnahmen). Dies muss weiter ernsthaft bekämpft werden. Ein Ansatz sind sogenannte Doppelbesteuerungsabkommen. Damit soll Folgendes erreicht werden: Erstens: Vermeidung einer Doppelbesteuerung. Zweitens: Vermeidung von Steuerumgehung und -hinterziehung. Unterschiedliche Ausgestaltungen der Steuersysteme dürfen nicht ausgenutzt werden. Wenn Sie mir in diesen Punkten recht geben, dann müssten Sie doch auch entsprechende Regelungen einführen? Aber Fehlanzeige! Sie wählten hier nur die Mindestlösung. So lässt sich in den hier vorliegenden Gesetzentwürfen zu Doppelbesteuerungsabkommen mit Syrien, Malaysia, Bulgarien, Großbritannien und Nordirland sowie Belgien eine unterschiedliche Handhabung erkennen. Mal ist nur das Einkommen Bestandteil des Doppelbesteuerungsabkommen (Malaysia), manchmal Einkommen und Vermögen (Bulgarien). Warum nicht beides gleichermaßen? Auch bei der Methode gibt es einen Mischmasch: So soll im Falle Bulgarien teilweise die Freistellungsmethode mit Progressionsvorbehalt (das heißt die ausländische Steuer führt in Deutschland zur Freistellung bei der Bemessungsgrundlage unter gleichzeitiger Berücksichtigung für die Ermittlung des Steuersatzes) angewendet werden, aber auch die Anrechnungsmethode (das heißt ausländische Steuer wird bei Berechnung der deutschen Steuer angerechnet). Warum nicht konsequent die Anrechnungsmethode? Bulgarien ist doch EU-Mitglied. Zum leidigen Thema Informationsaustausch: Bei keinem der uns vorliegenden Gesetzentwürfe ist eine Spontanauskunft und ein automatischer Informationsaustausch vorgesehen. Bei Tschechien und Ungarn ist dies möglich. Warum nicht auch bei Bulgarien, Syrien und den anderen? Wollen Sie Steuerhinterziehung bekämpfen, gehört ein automatischer Informationsaustausch dazu. Die jetzigen Forderungen führen nur dazu, dass deutsche Finanzbehörden sich an das jeweilige Land wenden und ihren Verdacht erst begründen müssen. Dazu brauchen sie etliche Daten, Daten über die sie erst Mal verfügen müssen. Gerade im Hinblick auf die massive Steuerhinterziehung durch Kapitalanlagen im Ausland ist eine Auskunft auf Ersuchen völlig unzureichend. Was muss geschehen? Erstens: Sorgen Sie endlich für einen internationalen Informationsaustausch, der eine Spontanauskunft sowie einen automatischen Informationsaustausch vorsieht! Zweitens: Wir brauchen Sanktionen gegen solche Staaten, die die OECD-Standards nicht einhalten. Hier ist eine Quellensteuer in Höhe von 50 Prozent auf Dividenden, Zinsen und Lizenzabgaben denkbar. Drittens: Geben Sie der Finanzverwaltung ausreichende Ressourcen, damit diese ihre Arbeit erledigen kann. Hier ein alarmierender Hinweis: Während es derzeit rund 111 000 Planstellen bei den deutschen Finanzämtern gibt, waren es 2004 noch über 119 000. Dabei ist die Rendite eines solchen Beamten enorm: Rein rechnerisch erbringt jeder Finanzbeamte pro Jahr rund 4,6 Millionen Euro. Wenn Sie hier bei den genannten Punkten nachbessern, könnten wir endlich Fortschritte erzielen und mehr Steuergerechtigkeit schaffen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wieder einmal stimmt der Bundestag über ein ganzes Paket von Doppelbesteuerungsabkommen gleichzeitig ab und wieder einmal ist dafür eigentlich keine Zeit vorgesehen gewesen. Der Zeitpunkt mitten in der Nacht macht das deutlich. Der Bedeutung von Doppelbesteuerungsabkommen wird das nicht wirklich gerecht. So technisch einzelne Doppelbesteuerungsabkommen ausformuliert sein mögen, so war und ist ihre Ausgestaltung doch immer eine grundlegende Frage der Besteuerungsgerechtigkeit und verändert die Attraktivität von Auslandsaktivitäten entscheidend - legaler wie illegaler. Gerade in Zeiten noch immer zunehmender Mobilität von Personen und Kapital ist es nicht gerade eine Seltenheit, dass Personen und Unternehmen in zwei oder mehr Staaten Einkünfte erzielen und damit den Regelungen von Doppelbesteuerungsabkommen unterliegen. Natürlich ist die Vermeidung von Doppelbesteuerung grundsätzlich wünschenswert. Oft aber verhindert die Ausgestaltung der Abkommen nicht eine Doppel-, sondern eine faire Besteuerung. So ist es auch in den Abkommen, über die wir heute abstimmen werden. Ich will dafür einige Beispiele nennen: In allen vier reformierten und von der Bundesregierung unterzeichneten Abkommen ist für Unternehmensgewinne nach wie vor die Freistellungsmethode vorgesehen. Damit werden erzielte Unternehmensgewinne nur noch im jeweiligen Vertragsstaat besteuert, während die Gewinne in Deutschland von einer Besteuerung freigestellt werden. Das nützt den Unternehmen, die steuerlich motivierte Verlagerungen von Steuersubstrat vornehmen, etwa in Form von Fremdfinanzierungsmodellen oder manipulierten Preisen für Transfers innerhalb des Konzerns. Wir Grünen fordern eine Umstellung der deutschen Doppelbesteuerungsabkommen auf die Anrechnungsmethode auch im Bereich der Unternehmensgewinne. So würde eine Gewinnverlagerung obsolet. Zweites Beispiel: Im überarbeiteten Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Vereinigten Königreich wird die Quellenbesteuerung von Dividenden zwischen verbundenen Unternehmen auf maximal 5 statt bisher 15 Prozent begrenzt. Das vereinfacht Verlagerungen von Steuer-substrat über Finanzierungsgestaltungen. Und ein drittes Beispiel: In den Doppelbesteuerungsabkommen mit Bulgarien, Syrien und Malaysia wird die Besteuerung öffentlich geförderter Renteneinkünfte nicht geregelt, sodass hier Umgehungsmöglichkeiten entstehen. Das ist bei Syrien und Malaysia weniger wichtig, bei Bulgarien aber kann das durchaus in größerem Umfang relevant werden. Die Liste ließe sich fortsetzen. Vor allem aber fehlt auf der Gegenseite ein steuerlicher Informationsaustausch mit Biss. Dann hätten die deutschen Steuerbehörden endlich ein Instrument in der Hand, mit der sie Steuersündern, die ihr Kapital in diese Länder transferieren, wirksam verfolgen könnten. Doch die vorliegenden Doppelbesteuerungsabkommen sehen lediglich eine Anpassung an das OECD-Musterabkommen zum Steueraustausch vor, das löchrig wie ein Schweizer Käse ist. Denn Informationen gibt es in diesem Fall nur auf Ersuchen, und für ein Ersuchen muss bereits ein erster Verdacht aufgetreten sein. Dieser entsteht doch aber häufig erst gar nicht, wenn nicht zunächst schon erste Informationen mitgeteilt werden. Deswegen fordern wir Grünen seit langem einen automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden. Die Bundesregierung aber gibt sich weiterhin mit dem OECD-Standard zufrieden. Dieser Standard ist für uns aber unzureichend für die Verabschiedung eines Doppelbesteuerungsabkommens. Diese Verbindung von steuerlichen Begünstigungen mit löchrigen Vorgaben zum Informationsaustausch ist der Grund, warum wir die heute vorliegenden Abkommen ablehnen. Ich möchte im Rahmen dieses Themas auch auf das Doppelbesteuerungsabkommen mit Singapur eingehen, das die Bundesregierung zurzeit verhandelt und das daher wohl ebenfalls bald vom Bundestag ratifiziert werden muss. Was bislang dazu den Medien entnommen werden konnte, lässt nichts Gutes erahnen: Wirtschaftsminister Brüderle will offenbar die Freistellungsmethode für alle Einkünfte durchsetzen, die von Deutschen in Singapur erzielt werden. Damit müssen Kapitalerträge, die in der Steueroase Singapur anfallen, in Deutschland nicht mehr versteuert werden. Das ist deshalb problematisch, weil Singapur angesichts der inzwischen etwas besseren Kooperation in Europa zunehmend zu einem der zentralen Orte für Fluchtkapital wird. Denn es darf als ausgeschlossen gelten, dass Singapur einem automatischen Informationsaustausch zustimmt - und ohne diesen würde die Attraktivität der Steueroase Singapur mit der Einführung der Freistellungsmethode noch einmal drastisch erhöht. Wer allerdings, wie der Wirtschaftsminister, die Steuervermeidung oder Steuerhinterziehung mancher Steuerzahler toleriert, muss zugeben, dass andere - zum Beispiel ehrliche Steuerzahler oder kleine Unternehmen, die ihre Steuerlast nicht über verschiedene Standort optimieren können - die Gekniffenen sind, weil ihre Steuerlast dadurch steigt. Die FDP steht regelmäßig auf der falschen Seite dieser Auseinandersetzung. Doppelbesteuerungsabkommen und die darin beinhalteten Informationsaustausche sind ja eben nicht nur eine Frage der technischen Ausgestaltung des Steuerrechts. Es geht um die Frage der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit und damit einen Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, gerade in einer so offenen Volkswirtschaft wie der deutschen. Deshalb habe ich mich in der letzten Legislaturperiode dafür eingesetzt, dass wir im Finanzausschuss wesentlich intensiver auf die Verhandlungsergebnisse der Bundesregierung schauen. Und deshalb war und ist es mir auch in dieser Legislaturperiode ein Anliegen, dass diese Abkommen nicht sämtlich völlig ohne Befassung im Plenum des Deutschen Bundestages durchgewunken werden. 1Anlage 2 2Anlage 3 3Anlage 4 4Anlage 5 5Anlage 6 6Anlage 7 7Anlage 8 8Anlage 9 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 6584 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 62. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 30. September 2010 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 62. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 30. September 2010 6583 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 6622 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 62. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 30. September 2010 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 62. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 30. September 2010 6623