Plenarprotokoll 17/84 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 84. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 I n h a l t : Wahl der Abgeordneten Sylvia Canel zum ordentlichen Mitglied und des Abgeordneten Patrick Meinhardt zum stellvertretenden Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Wahl der Abgeordneten Johanna Voß zum ordentlichen Mitglied im Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 a Nachträgliche Ausschussüberweisung Zusatztagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutschland im Aufschwung - den Wohlstand von morgen sichern in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 2011 (Drucksache 17/4450) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Drucksache 17/3700) Rainer Brüderle, Bundesminister BMWi Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) Peter Friedrich (SPD) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Dr. Hermann Otto Solms (FDP) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Garrelt Duin (SPD) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Marlene Mortler (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln (Drucksache 17/3862) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) Manfred Nink (SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Drucksache 17/4231) Zusatztagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ungarische Mediengesetz - Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen (Drucksache 17/4429) b) Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren (Drucksache 17/4202) Tagesordnungspunkt 27: b) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Vincent und die Grenadinen über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksachen 17/3959, 17/4280) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Lucia über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksachen 17/3961, 17/4280) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom 8. März 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/3962, 17/4280) Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz Michael Roth (Heringen) (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karl Holmeier (CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA Frank Hofmann (Volkach) (SPD) Johannes Selle (CDU/CSU) Axel Schäfer (Bochum) (SPD) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) Jürgen Hardt (CDU/CSU) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/4401) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele Fograscher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht im Aufenthaltsgesetz (Drucksache 17/4197) c) Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative (Drucksache 17/2491) d) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Residenzpflicht abschaffen - Für weitestgehende Freizügigkeit von Asylbewerbern und Geduldeten (Drucksache 17/3065) e) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt verwirklichen (Drucksache 17/2325) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Reinhard Grindel (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aydan Özoðuz (SPD) Serkan Tören (FDP) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ute Granold (CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden (Drucksache 17/4427) Burkhard Lischka (SPD) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Jimmy Schulz (FDP) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Lars Klingbeil (SPD) Jörn Wunderlich (DIE LINKE) Christian Ahrendt (FDP) Zusatztagesordnungspunkt 6: Vereinbarte Debatte: Weißrussland - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken Michael Link (Heilbronn) (FDP) Uta Zapf (SPD) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jürgen Klimke (CDU/CSU) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 7: Vereinbarte Debatte: Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2011 Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA Michael Roth (Heringen) (SPD) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) Andrej Hunko (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Heinz-Joachim Barchmann (SPD) Detlef Seif (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den Ländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2012 (Drucksache 17/3046) Roland Claus (DIE LINKE) Dr. Michael Luther (CDU/CSU) Dr. Peter Danckert (SPD) Heinz-Peter Haustein (FDP) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jens Koeppen (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9: Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung: Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (Drucksache 17/3788) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Ulrike Gottschalck (SPD) Michael Kauch (FDP) Dorothee Menzner (DIE LINKE) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Daniela Ludwig (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mehrgenerationenhäuser erhalten und weiterentwickeln - Prävention stärker fördern (Drucksache 17/4031) Petra Crone (SPD) Katharina Landgraf (CDU/CSU) Heidrun Dittrich (DIE LINKE) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Dagmar Ziegler (SPD) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Geis (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Sportausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: 12. Sportbericht der Bundesregierung (Drucksachen 17/2880, 17/3110 Nr. 5, 17/4420) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktion der SPD: Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren (Drucksache 17/4198) Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Drucksache 17/3802) Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Drucksachen 17/3672, 17/4466) Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rechts an die Verordnung (EG) Nr. 380/ 2008 des Rates vom 18. April 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1030/ 2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige (Drucksachen 17/3354, 17/4464) Reinhard Grindel (CDU/CSU) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen an den Hochschulen initiieren (Drucksache 17/4203) b) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten - Prekarisierung des akademischen Mittelbaus beenden (Drucksache 17/4423) Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter Danckert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Zivilprozessordnung (§ 522 ZPO) (Drucksache 17/4431) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Mechthild Dyckmans (FDP) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenwürdiges Existenzminimum für alle - Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen (Drucksache 17/4424) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Pascal Kober (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der Bundesautobahn 14 (Magdeburg-Schwerin) entwickeln (Drucksache 17/4199) Dietrich Monstadt (CDU/CSU) Hans-Joachim Hacker (SPD) Jens Ackermann (FDP) Herbert Behrens (DIE LINKE) Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Karl-Heinz Daehre, Minister (Sachsen-Anhalt) Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetzbuch begrenzen (Drucksache 17/4201) Peter Götz (CDU/CSU) Daniela Ludwig (CDU/CSU) Hans-Joachim Hacker (SPD) Petra Müller (Aachen) (FDP) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann im Namen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Tagesordnungs-punkt 14) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: 12. Sportbericht der Bundesregierung (Tagesordnungspunkt 11) Klaus Riegert (CDU/CSU) Martin Gerster (SPD) Dagmar Freitag (SPD) Joachim Günther (Plauen) (FDP) Frank Tempel (DIE LINKE) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christoph Bergner, Parl. Staats- sekretär BMI Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren (Tagesordnungspunkt 12) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Henning Otte (CDU/CSU) Dr. Rolf Mützenich (SPD) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tagesordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Tagesordnungspunkt 14) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Joachim Günther (Plauen) (FDP) Niema Movassat (DIE LINKE) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: - Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen an den Hochschulen initiieren - Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten - Prekarisierung des akademischen Mittelbaus beenden (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU) Tankred Schipanski (CDU/CSU) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 84. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten, gibt es zwei Umbesetzungen in Gremien, über die wir befinden müssen. Die FDP-Fraktion schlägt vor, die Kollegin Sylvia Canel zum ordentlichen Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und den Kollegen Patrick Meinhardt zum stellvertretenden Mitglied zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die beiden Kollegen gewählt. Als Nachfolgerin des ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Herbert Schui im Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen benennt die Fraktion Die Linke die Kollegin Johanna Voß. Können Sie auch diesem Vorschlag zustimmen? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Voß zum ordentlichen Mitglied im Beirat bei der Bundesnetzagentur gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verbraucher konsequent schützen - Höchstmaß an Sicherheit für Lebensmittel gewährleisten (siehe 83. Sitzung) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 21 und 22 auf Drucksache 17/4406 (siehe 83. Sitzung) ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutschland im Aufschwung - den Wohlstand von morgen sichern ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 26 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ungarische Mediengesetz - Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen - Drucksache 17/4429 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren - Drucksache 17/4202 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 6 Vereinbarte Debatte Weißrussland - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz am Wohl der Allgemeinheit orientieren - Drucksache 17/4433 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine konsequente Strukturreform der Deutschen Bahn AG - Drucksache 17/4434 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Forderungen der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Dr. Gesine Lötzsch, Wege zum Kommunismus auszuprobieren - Opfer nicht verhöhnen Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 27 a wird heute abgesetzt. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 11. November 2010 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur Änderung weiterer Vorschriften - Drucksachen 17/3630 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 sowie die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutschland im Aufschwung - den Wohlstand von morgen sichern 3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2011 - Drucksache 17/4450 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 17/3700 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen soll die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden dauern. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland regiert die Zuversicht. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Was bleibt denn sonst?) In Deutschland regiert das Wachstum. In Deutschland regiert der Fortschritt. In Deutschland regiert Schwarz-Gelb. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Es ist eigentlich alles gesagt!) Die Menschen in unserem Land merken: Es geht voran. Der Aufschwung kommt bei ihnen an. Der Aufschwung kommt beim Facharbeiter an. Statt Kurzarbeit fährt er jetzt Sonderschichten. Sein Job ist sicher. Sein Gehalt steigt. Der Aufschwung kommt bei der jungen Berufsanfängerin an. Ihr steht der Arbeitsmarkt so offen wie schon lange nicht mehr. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Praktika!) Der Aufschwung kommt bei den Rentnern an. Sie bekommen im wohlverdienten Ruhestand mehr Rente. Der Aufschwung kommt bei den Familien an. Mit der Erhöhung des Kindergeldes und den höheren Steuerfreibeträgen haben sie mehr Geld in der Familienkasse. Der Facharbeiter, die Berufsanfängerin, der Rentner, die Familien - das sind die Gesichter dieses Aufschwungs. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es werden immer mehr. Der Aufschwung hat die Mitte der Gesellschaft erreicht. Ganz Deutschland feiert einen Beschäftigungsrekord. Wir freuen uns über 3,6 Prozent Wachstum im letzten Jahr. Die Entlastung aus dem Jahr 2010 von über 24 Milliarden Euro hat gewirkt. Das ist 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das war und ist eine konjunkturrelevante Größe. Es gab ja einige, die Anfang letzten Jahres gesagt haben: Steuerentlastungen bringen nichts. Diese Äußerungen sind jetzt widerlegt. Der Politikwechsel hat gewirkt. Wir setzen auf Wachstum, Wandel und Dynamik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Aufschwung ist keine Kurzgeschichte, der Aufschwung ist ein Fortsetzungsroman. 2011 schlagen wir ein weiteres Kapitel auf. Wir rechnen mit einem realen Wachstum von 2,3 Prozent. Die Wirtschaftsentwicklung steht auf einem stabilen Fundament. Die Binnennachfrage gewinnt an Kraft und Dynamik. Bereits letztes Jahr hat sie mit zwei Drittel zum Wachstum beigetragen. Dieses Jahr sind es über drei Viertel. Die Binnennachfrage hat die Fackel vom Export übernommen. Der klassische Aufschwung wird vom Export ausgelöst, und die Binnennachfrage springt quasi nach dem Lehrbuch an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Ausgangslage ist also gut. Jetzt geht es darum, den Wohlstand von morgen zu sichern. Wir tun das mit Vollbeschäftigungspolitik, Ordnungspolitik und Chancenpolitik. Noch vor kurzer Zeit wurde die Vollbeschäftigung von manchen als Illusion abgetan. Jetzt ist sie in aller Munde. Dieses Kunststück haben die vielen fleißigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in unserem Land geschafft. Sie haben vor Ort die richtigen Antworten auf die Wirtschaftskrise gefunden. Mit flexiblen Lösungen haben sie ein gar nicht so kleines Jobwunder geschaffen. Das Jobwunder ist inzwischen erwachsen geworden. Der Arbeitsmarkt wird sich auch weiterhin gut entwickeln. In diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt unter 3 Millionen liegen. Ich erinnere: Wir kommen von 5 Millionen. Das ist auch das Verdienst von Schwarz-Gelb. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist ein klarer Unterschied zur Opposition. Die setzt auf Blockade, Stagnation und sozialistische Tristesse. Ich erinnere mich noch gut daran: Herr Gabriel schwadronierte vor kurzem von einer Abwärtsspirale. Er sagte wörtlich: CDU/CSU und FDP führen Deutschland in eine Abwärtsspirale und die Bundeskanzlerin schaut tatenlos zu! (Thomas Oppermann [SPD]: Wir meinten die Umfragewerte!) Das Gegenteil ist der Fall. Wachstum und Arbeitsmarkt sind auf Rekordjagd. "Aufwärtsspirale" wäre besser gewesen, Herr Gabriel. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich freue mich über jeden, der unsere Politik der Vollbeschäftigung unterstützt. Besonders freue ich mich über Sie, Herr Steinmeier. Sie halten Vollbeschäftigung für möglich, und es regiert Schwarz-Gelb. Herr Kollege Steinmeier, Sie sind eine Insel der Vernunft im Meer der Unvernunft der SPD. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Thomas Oppermann [SPD]: Das ist gemein!) Mit unserer Vollbeschäftigungspolitik führen wir die Kurzarbeit auf das Normalmaß zurück. Die Opposition dagegen will Arbeit gesetzlich verbieten. Wir wollen Beschäftigungshemmnisse für Ältere ausräumen. Auf ihre Erfahrung können und wollen wir nicht verzichten. Die Opposition dagegen will sie in die Altersteilzeit abschieben. Wir wollen das große Potenzial der Frauen fördern. Wir setzen auf die qualifizierten Frauen in Deutschland. Unsere Wirtschaft braucht sie. Viele Unternehmen haben schon die Zeichen der Zeit erkannt, darunter viele Familienunternehmen. Wir schlagen konkrete Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor. Wir leisten einen finanziellen Beitrag für neue Betreuungsplätze. Wir haben die Initiative "Familienbewusste Arbeitszeiten" gestartet. Wir machen Tempo auf der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung. Gut, dass Schwarz-Gelb Deutschland regiert! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das garantiert: Im nächsten Jahr wird die Erfolgsgeschichte am Arbeitsmarkt fortgeschrieben. Wir rechnen 2012 im Jahresschnitt mit nur noch 2,68 Millionen Arbeitslosen. Meine Damen und Herren, zum ersten Mal seit langer Zeit gibt es in Deutschland wieder eine Regierung der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist ein Axiom dieser Regierung: Wir brauchen eine klare und verlässliche Ordnungspolitik. Manche reden am Sonntag über Wettbewerb und Marktwirtschaft, und am Montag wollen sie Millionen umverteilen. Diese Bundesregierung steht dafür ein, dass Ordnungspolitik nicht zu einer Floskel für Sonntagsreden wird. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für Hotels!) Deswegen haben wir bei Opel Nein zu staatlicher Hilfe gesagt. (Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Deswegen haben wir bei Karstadt die Kräfte des Marktes walten lassen. Deshalb spreche ich mich auch für einen möglichst schnellen Ausstieg des Bundes aus Bankenbeteiligungen aus. (Thomas Oppermann [SPD]: Aber für Mövenpick! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!) Ordnungspolitik ist kein Kurzstreckenlauf. Ordnungspolitik braucht einen langen Atem. Ordnungspolitische Grundsätze müssen auch in Europa gelten. Das hat zuletzt die Euro-Krise deutlich gemacht. Deutschland war und ist sich in dieser Krise seiner großen Verantwortung für Europa bewusst. Wir sind bereit, erhebliche Beiträge zu leisten, aber es darf keine Fehlanreize für unsolide Haushaltspolitik geben. Wir müssen beim Euro ein Wächteramt übernehmen. Wir lehnen die Euro-Bonds ab. Erfolgreiche Länder würden damit automatisch für laxe Haushaltspolitik der anderen einstehen. Das ist keine Lösung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden sie machen am Ende! Wollen wir wetten, Herr Brüderle?) Die deutsche Staatsräson ist: stabiles Geld. Die deutsche Staatsräson ist: ein stabiles Europa. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die deutsche Staatsräson ist: Demokratie!) Schwarz-Gelb fühlt sich beidem verpflichtet. Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. Das ist eine bittere historische Erfahrung. Die Bundesregierung ist sich dessen sehr bewusst und handelt entsprechend. Die Opposition hat aus der Geschichte offenbar wenig gelernt. Die Opposition will die Euro-Bonds. Die Opposition will die Transferunion. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben eine Transferunion! Ganz Europa ist eine Transferunion!) Sie ist ordnungspolitisch vollkommen auf dem falschen Dampfer. Gleiches gilt für diejenigen, die im internationalen Handel auf die Planwirtschaft setzen. Exportquoten können nicht die Lösung sein. Wir wollen uns unsere Exporte nicht in Brüssel genehmigen lassen. Wir brauchen Wettbewerb und offene Märkte. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ein Jahr christlich-liberale Koalition hat bewiesen: Wir machen Chancenpolitik für alle. Das bedeutet: Jeder erhält eine faire Chance, in Freiheit und Eigenverantwortung etwas aus seinem Leben zu machen. Genau diese Chancenpolitik hat dafür gesorgt, dass die Bundesrepublik zu einer einzigartigen Erfolgsstory wurde. Hier zeigt sich der Unterschied zur Opposition. Sie von der Opposition betreiben Chancenverhinderungspolitik. Sie wollen Steuererhöhungen. Das bringt die Menschen um einen Teil ihres hart erarbeiteten Geldes. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr hart arbeitendes Geld? Die Menschen arbeiten, nicht das Geld! Bei Brüderle arbeitet das Geld!) Sie wollen die Krankenversicherung verstaatlichen. Dadurch senken sie mittelfristig die Leistungen. Die rot-grüne Haushaltspolitik ist nahe am Verfassungsbruch. Der Verfassungsgerichtshof in Nordrhein-Westfalen hat gerade ein deutliches Stoppzeichen für rot-grüne Haushaltspolitik gesetzt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist Ihr Scheiterhaufen!) Das ist hemmungslose Schuldenmacherei auf Kosten der nächsten Generationen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal Herrn Pinkwart!) Das zerstört Chancen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Bundesregierung dagegen schafft Chancen. Sie stärkt die Bildung. Wir fangen schon bei den ganz Kleinen an. Das Erlernen der deutschen Sprache ist der entscheidende Integrationsschritt; denn Sprache bedeutet Teilhabe. Die Grünen sehen das offensichtlich anders. Für die Grünen ist wichtig, dass türkische Kinder in der Schule Türkisch lernen. Für die Grünen ist wichtig, dass arabische Kinder in der Schule Arabisch lernen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und chinesische Kinder Chinesisch!) Dann beklagen sie die Integrationsschwierigkeiten. Wir wollen, dass alle Kinder in Deutschland zuerst einmal Deutsch in der Schule lernen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am besten bei Frau Sarrazin! Die müssen alle bei Frau Sarrazin in die Grundschule gehen!) Die Bundesregierung setzt sogar noch früher an. Mit der Offensive "Frühe Chancen" unterstützen wir die Sprachförderung in den Kindergärten. Auch auf dem Ausbildungsmarkt gibt es noch Handlungsbedarf, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. In manchen Regionen macht sich bereits der demografische Wandel bemerkbar. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Wirtschaftsministerium!) Dort herrscht nicht mehr Lehrstellenmangel, dort herrscht Lehrlingsmangel, Mangel an Auszubildenden. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Wirtschaftsministerium gibt es offensichtlich einen Mangel an der Spitze des Ministeriums!) Unser Ausbildungspakt mit der Wirtschaft nimmt deshalb die Jugendlichen in den Blick, die noch keine Ausbildungsreife haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und den Fachkräftemangel der Bundesregierung!) Auch die Studierenden können sich über mehr Unterstützung freuen. Wir fördern in der Breite mit mehr BAföG, wir fördern die Spitze mit Stipendien. Mit all diesen Maßnahmen setzen wir auf den Wissensdurst der Kleinen und der Großen. Daneben dürfen wir bereits vorhandenes Wissen nicht verkümmern lassen. Wir müssen ihm zu neuer Blüte verhelfen. Zum Beispiel müssen im Ausland erworbene Berufsabschlüsse leichter anerkannt werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann macht mal!) Der Taxifahrer mit ausländischem Ingenieurabschluss soll der Vergangenheit angehören. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Vorschlag dazu im Jahreswirtschaftsbericht! Das wäre ein Thema für den Jahreswirtschaftsbericht!) Wir schaffen auch Chancen durch mehr Freiräume. Niedrigere Steuern und Abgaben bedeuten für den Einzelnen mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Schon kurzfristig werden wir das Steuersystem spürbar vereinfachen. Darauf hat sich die Koalition geeinigt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Thomas Oppermann [SPD]: Aber wie!) Mit der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erarbeiten wir uns weitere Spielräume. Bis zum Jahr 2014 werden wir die Neuverschuldung halbieren. Schwarz-Gelb hat diese Herkulesaufgabe bereits erfolgreich in Angriff genommen. Schon in diesem Jahr werden wir das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent Defizit wieder einhalten. Das ist zwei Jahre früher, als von der EU gefordert. Unser Zukunftspaket steht für intelligentes Sparen. Das schafft Zukunftschancen für künftige Generationen. Unsere Politik steigt konsequent aus der Staatsverschuldung und den Krisenmaßnahmen aus. Deswegen haben wir den Deutschlandfonds Ende 2010 auslaufen lassen. Nächsten Dienstag werde ich den Lenkungsrat des Deutschlandfonds verabschieden. Die acht Experten mit Professor Hellwig an der Spitze haben sehr gute Arbeit geleistet. Wir können sie nun guten Gewissens verabschieden; denn jetzt herrschen wieder die Kräfte des Marktes und des Wettbewerbs. Die Bundesregierung steht ohne Wenn und Aber für das Innovationsland Deutschland. Denn auch Innovationen eröffnen neue Chancen für die Menschen in Deutschland. Wir fördern deshalb massiv Forschung und Entwicklung von mittelständischen Unternehmen. Innovationen können helfen, Krankheiten zu besiegen. Wir unterstützen deshalb die Gesundheitsforschung. Innovationen können unsere Ressourcen sichern. Wir lassen deshalb die Nutzung nachwachsender Rohstoffe untersuchen. Das zeigt: Technischer Fortschritt hat auch eine ethische Komponente. Eine Dagegen-Republik können wir uns nicht leisten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn die Neinsager das Zepter in die Hand nehmen, dann gibt es keine neuen Energienetze. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind die Neinsager in Europa!) Der Weg ins regenerative Zeitalter bleibt versperrt. Deswegen hat die Bundesregierung ein umfassendes Energiekonzept vorgelegt. Die Grünen hingegen machen lieber Fundamentalopposition im Bundestag und draußen auf der Straße. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr wundert euch wohl nicht, warum ihr bei 4 Prozent liegt?) Das ist leider nichts Neues. Die Grünen waren gegen den Flughafen München. Die Grünen sind gegen den Flughafen Berlin Brandenburg International. Die Grünen waren gegen die bemannte Raumfahrt. Die Grünen waren gegen Handys und Funkmasten. Jetzt sind die Grünen auch noch gegen die Olympischen Spiele. Ihre Dagegen-Haltung bringt unser Land nicht weiter. Schwarz-Gelb ist die Dafür-Regierung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir sind für einen technologieoffenen Standort. Wir sind für moderne Verkehrsnetze. Wir sind für die Beteiligung der Bürger an solchen Projekten. Das ist keine leichte Aufgabe, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? - Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen das doch gerade ab!) aber wir gehen sie an. Wir nehmen die Menschen mit. Wir wollen den Menschen keine Ideologie überstülpen. (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Das rufe ich auch all denen zu, die den Kommunismus wieder salonfähig machen wollen. Kommunismus bedeutet das Gegenteil von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Kommunismus bedeutet Diktatur und Menschenverachtung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Bundesregierung entwickelt auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung das klare Gegenmodell. Wir schaffen mit mehr Bildung, Innovation und steuerlichen Freiräumen neue Chancen, aus denen ein ganzes Chancenland wird. Für ein solches Chancenland Deutschland arbeiten wir. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Menschen in unserem Land sind wieder zuversichtlich. Diese Zuversicht ist hart erarbeitet. Das haben die vielen fleißigen Menschen in unserem Land geschafft. Auch in Zukunft werden wir uns ordentlich anstrengen müssen und anstrengen; denn die erfreuliche Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist kein Selbstläufer. Schwarz-Gelb gibt die nötigen Impulse. Wir stellen die Weichen für die Vollbeschäftigung. Wir geben mit der Ordnungspolitik den richtigen Rahmen vor. Wir schaffen Chancen für unser Land. Deutschland hat gute Chancen, wir sollten gemeinsam daran arbeiten und uns über die Erfolge, die wir gemeinsam erreicht haben, auch gemeinsam freuen, sie nicht zerreden und unser Land nicht schlechtreden. Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hättest du geschwiegen, wärest du Philosoph geblieben!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, es ist schön, dass Sie gute Laune haben. Aber Sie müssen verstehen: Diese zur Schau getragene Selbstzufriedenheit versteht nicht jeder hier im Saal. Ich weiß auch nicht, ob Ihnen eines aufgefallen ist, wenn Sie Zahlenreihen beobachten, die normalerweise nicht zusammenpassen: die Wachstumsrate in Deutschland und die Umfragewerte der FDP. Die beiden Kurven treffen sich im Augenblick irgendwo zwischen 3 und 4 Prozent. Da gibt es einen Zusammenhang. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich kann Ihnen versichern: Wenn wir uns von dieser Krise besser erholt haben als andere, Herr Brüderle, dann freut das die Opposition nicht weniger als die Regierung, aber wir - und ich in aller Deutlichkeit - sagen: Das ist nicht Ihr Verdienst. Darüber hilft auch Ihr Frohsinn nicht hinweg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Wahrheit ist doch - das diskutieren auch Sie intern -: Die gute Wirtschaftslage auf der einen Seite und eine regierende FDP bundesweit unter 5 Prozent auf der anderen Seite zeigen, dass die Menschen in Deutschland begriffen haben, dass Sie, Herr Brüderle, sie im September 2009 veräppelt haben. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind auch nicht gerade ein Umfrageheld!) Sie haben unhaltbare Wahlversprechen gegeben -, die jedenfalls nicht für die 3,6 Prozent Wachstum gesorgt haben, die wir jetzt erfreulicherweise verzeichnen. Sie haben für wachsende Enttäuschung Ihrer Wähler gesorgt, für sonst aber nichts. (Beifall bei der SPD) Wenn es uns in Deutschland vergleichsweise gut geht, worüber ich mich freue, dann hat das mit vielem zu tun. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aber nicht mit Ihnen!) - Seien Sie vorsichtig. Viele Schultern tragen diesen Erfolg. Das hat auch mit mutiger Reformpolitik in der Mitte des letzten Jahrzehnts zu tun, die uns - das sage ich Ihnen ganz offen - belastet hat und über die wir gestritten haben. Aber das war eine mutige Reformpolitik, die wir von dieser Regierung erst einmal sehen wollen. Allerdings kommt von Ihnen nichts. (Beifall bei der SPD - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was ist denn davon übrig geblieben?) Das war eine mutige Reformpolitik, für die man sich entscheiden muss - da reicht es nicht aus, hier nur Parolen vom Pult zu verkünden -, und es war dann auch kluges Krisenmanagement in der Phase der Großen Koalition: eine Politik, Herr Brüderle, gegen die Sie und Ihre Leute von diesem Pult aus elf Jahre lang aus der Opposition gestritten haben, die Sie verdammt haben. Das ist Ihr Beitrag gewesen, allerdings kein Beitrag zum Wachstum. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jetzt sind wir Gott sei Dank ein bisschen aus der Krise heraus, es geht uns ein bisschen besser. (Jörg van Essen [FDP]: Ein bisschen?) Was kommt nach 15 Monaten Schwarz-Gelb? Die alte Leier: Steuern runter, Steuern runter! Sie haben es hier von diesem Pult eben auch noch einmal verkündet. Nur, Herr Brüderle, ich sage Ihnen eines: Wir sind hier nicht im Wahlkampf. (Lachen bei der FDP - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach so?) - Dies beweist nur meinen alten Satz: Sie sind nicht wirklich in der Verantwortung als Regierungsfraktion angekommen. Das ist Ihr Problem. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir sind hier nicht im Bundestagswahlkampf; 2013 ist noch lange hin, falls Sie denn bis dahin durchhalten, woran ich Tag für Tag ein bisschen mehr zweifle. Aber weil wir nicht im Wahlkampf sind, taugen jetzt für eine Regierung eben keine Parolen. Vielmehr haben Sie Verantwortung dafür, dass die gute Basis bleibt, von der Sie eben gesprochen haben, für die Sie nicht gearbeitet haben, sondern die Ihnen in den Schoß gefallen ist. Aber dafür sorgen Sie nicht. Was Sie hier vorgestellt haben, ist keine Wirtschaftspolitik. Kaum kommt Geld in die Kassen zurück - wir haben das bei dieser Regierung gerade in dieser Woche erlebt -, soll es möglichst schnell wieder raus, und das, was dringend notwendig ist, wird nicht gemacht. Herr Brüderle, verzeihen Sie es mir, aber manchmal sind Sie mir in diesen Tagen wie ein Lottokönig vorgekommen, der sich über den neuen Reichtum freut und ihn verjuxt, als gäbe es in diesem Lande kein morgen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wessen Haushalt ist denn gestoppt worden, der in NRW oder der hiesige?) - Darüber können wir gerne diskutieren, und das wird in diesem Haus garantiert noch einmal geschehen. Wenn wir uns noch einmal anschauen, wie der Nachtragshaushalt in Nordrhein-Westfalen zustande gekommen ist und warum er notwendig war, dann wird deutlich, dass diesen Scherbenhaufen Ihre Partei in Nordrhein-Westfalen und niemand anderes zu verantworten hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, wenn es uns in diesem Land erfreulicherweise besser geht als vielen in der europäischen Nachbarschaft, dann haben viele dazu beigetragen - das ist wahr; Herr Brüderle, Sie haben das auch gesagt -, und es war weiß Gott nicht nur die Politik. Die Frage ist nur immer wieder: Was ist eigentlich der Anteil dieser Regierung in den 15 Monaten ihrer Amtszeit seit Oktober 2009 außer der täglichen Portion Regierungschaos, an dem doch Ihre Partei, Herr Brüderle, seit Tagen, seit Wochen, seit Monaten kräftig mitgewirkt hat? Hier aber tun Sie so, als hätten Sie in sieben Tagen Himmel und Erde und das Paradies gleich noch mit erschaffen. Das macht Sie doch so unglaubwürdig, und das können die Leute nicht mehr ertragen. (Beifall bei der SPD) Dabei wissen wir im Grunde genommen alle, dass wir in dieser Situation wirklich keinen Anlass haben, uns zurückzulehnen. Es stecken unheimliche Chancen darin, wenn es uns besser als der europäischen Nachbarschaft geht. Aber wir sind drauf und dran, diese Chancen zu vergeigen, wenn wir jetzt nicht ein paar Weichenstellungen vornehmen. Schauen wir uns ein bisschen um in der Welt. Sie von der Regierung hatten Besuch vom chinesischen Vizeministerpräsidenten. China bildet die dynamischste Wachstumsregion der Welt, ist mittlerweile nicht nur Exportweltmeister - das ist sozusagen Binse -, sondern, wie man weiß, auch größter Gläubiger der USA. Seit kurzem wissen wir aber auch, dass dieses Land ein größeres Kreditvolumen ausreicht als die Weltbank. Brasilien und Indien sind auf dem Sprung; ganze Erdteile machen sich auf in Richtung Wohlstand. Die technologischen Revolutionen bei Energie, Effizienz, bei Informations- und Biotechnologien gewinnen wahnsinnig an Tempo. Ein Industrieland wie dieses, ein Innovationsland wie Deutschland muss jetzt investieren wie nie zuvor. Herr Brüderle, als Sie da unten saßen, haben Sie all das gewusst; Sie haben es uns elf Jahre lang aus der Opposition heraus vorgebetet. Ich habe es noch gut im Ohr. Seit Sie in der Regierung sind, scheinen Sie all das vergessen zu haben. Lieber Herr Brüderle, das, was ich hier sehe, ist politische Amnesie, aber es ist keine Politik. (Beifall bei der SPD) Was müssen wir in einer solchen Situation tun? Wir müssen Risiken abwenden. Wir sehen täglich, dass die Ressourcen knapper und teurer werden. Die Finanzmärkte sind nicht wirklich stabilisiert. Ich führe mir Ihre Rede von eben vor Augen und frage mich: Ist da wirklich Einsicht? Ist da ein neuer Realismus? Hat sich Ihre Sicht der Dinge seit dem Wahlkampf 2009 wirklich verändert? Ich finde, nein. Sie wollen noch immer zweistellige Milliardensummen mit der Steuersenkungsgießkanne in der Landschaft verteilen. Sie wollen das Gemeinwesen - es braucht, wie sich zuletzt in der Wirtschaftskrise bewiesen hat, in einer Krise Muskeln - aushungern lassen. Sie stellen sich bei der Kardinalaufgabe einer Rechtsstaatspartei blind, für Ordnung auf den Finanzmärkten zu sorgen, also nicht nur ordnungspolitische Reden zu halten. Reden Sie nicht nur über Opel, reden Sie auch über Hochtief! Sie verweigern Hilfe, wenn kerngesunde deutsche Unternehmen von ausländischen Wettbewerbern übernommen und - wir und die Arbeitnehmer befürchten das - anschließend filetiert werden. Sie sagten, da könne man nicht helfen, sie stünden zur Verhinderung von Wettbewerb nicht zur Verfügung. Nur ging es im Falle von Hochtief gar nicht darum; Sie waren da im ganz falschen Film. Es ging doch um die Frage: Wie sichern wir eigentlich fairen Wettbewerb? Wenn man nichts tut, wenn man die Dinge laufen lässt, dann führt das zur Verzerrung von Wettbewerb, dann werden die gesunden Strukturen vernichtet, die wir erhalten müssen. Es wäre die Pflicht eines Wirtschaftsministers gewesen - ein Wirtschaftminister hat doch nicht viele Gesetzgebungsaufgaben -, hier zu handeln; aber Sie haben sich da in die Furche gelegt. Das ist keine Wirtschaftspolitik; das ist die Verweigerung von Wirtschaftspolitik. Das merken die Menschen, lieber Herr Brüderle. (Beifall bei der SPD) Aber nicht nur das. Sie zeigen auch bei einem anderen Thema die kalte Schulter, das eine eminente wirtschaftspolitische Bedeutung für dieses Land hat - wir reden in einem anderen Zusammenhang im Vermittlungsausschuss darüber -: Mindestlöhne. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Steinmeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lindner? Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Ja, sicher. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Kollege Steinmeier, Sie sprachen gerade Hochtief an. Die Anbahnung der Übernahme geschah in einer Phase, in der große Industriemächte - Sie haben sie teilweise angesprochen -, auch die USA, erheblichen Druck auf uns ausgeübt haben, damit wir unsere Exporte drosseln. In dieser Phase wurde im Falle von Hochtief Druck auf uns ausgeübt, damit wir selbst die Märkte abschotten. Wir haben in allen Runden, in Doha und bei allen anderen Veranstaltungen, immer wieder für offene Märkte geworben. Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn wir genau in dieser Zeit, in der ein deutsches Unternehmen von ausländischen Investoren gekauft werden sollte - zugegebenermaßen keine erfreuliche Geschichte -, eine Lex Hochtief geschaffen hätten, um ausländische Investoren abzuschotten? Was hätten die anderen Länder dann gemacht? Sie hätten gesagt: Ihr seid doch in all den Runden überhaupt nicht mehr glaubwürdig. Eure Unternehmen, die Lufthansa und andere, sind immer die Investoren in unserem Gemüsegarten; aber in dem Moment, in dem es einmal andersherum läuft, ändert ihr die Gesetze. - Wir hätten uns doch, um in Ihrem Duktus zu bleiben, in die Furche gelegt, wenn wir eine solche Lex Hochtief geschaffen hätten. Klare Ordnungspolitik kann nicht am Einzelbeispiel gestaltet werden, sondern muss einen langen Atem haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist das eine Kurzintervention, oder was?) Genau hier unterscheidet sich unsere Position von Ihrer Position in dieser Frage. (Beifall bei der FDP) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Wenn uns das dauerhaft unterscheidet, dann müssen Sie mit dem Problem fertig werden. Das sage ich Ihnen nur. Es ging hier nie um eine Lex Hochtief (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Natürlich!) - das wissen Sie, oder das wissen Ihre Leute -, (Jörg van Essen [FDP]: Selbstverständlich ging es darum!) sondern es ging einzig und allein um die Frage, Herr van Essen, ob wir in Deutschland gemeinsam, Regierung und Opposition, in der Lage sind, unser Wettbewerbsrecht auf ein durchschnittliches europäisches Niveau anzuheben. (Beifall bei der SPD) Das wollten Sie nicht bei Hochtief. Unser Gesetzesvorschlag bleibt auf dem Tisch, und ich rate Ihnen: Überlegen Sie, ob wir in den nächsten Wochen nicht doch noch darangehen sollten. (Beifall bei der SPD - Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihren Gesetzentwurf hat Hochtief geschrieben!) - Das ist wirklich Quatsch, und Sie wissen das. Das sollten Sie nicht wiederholen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, ja!) Lassen Sie es. Es ist falsch. Das brauchen wir hier nicht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ganz flach, Herr Michelbach! Sie sind ja nicht Guttenberg! - Joachim Poß [SPD]: Der weiß es eigentlich auch besser!) Meine Damen und Herren, Wirtschaftspolitik - Sie haben darüber gesprochen, Herr Brüderle - muss den Anspruch haben, die Modernisierung in diesem Land voranzubringen. Sie haben das aber an den falschen Beispielen aufgezäumt, weil doch ganz klar ist: Die einzige strategische Entscheidung, die diese Koalition getroffen hat, ist schon jetzt der wirtschaftspolitische Rohrkrepierer Nummer eins. Mit dem energiepolitischen Konzept, von dem Sie eben gesprochen haben, wollten Sie eine langfristige Orientierung schaffen. Aber schauen wir uns doch einmal an, was tatsächlich passiert. Schauen wir einmal auf die kommunalen Investoren bei den Stadtwerken. Was haben die gesagt? 7 Milliar-den Euro an kommunalen Investitionen sind durch diese Entscheidung dauerhaft blockiert. (Bettina Hagedorn [SPD]: So ist das!) Die großen Betreiber sind nicht alle der Meinung, dass jetzt wirklich etwas vorangeht. Wenn man mit ihnen einmal außerhalb der politischen Runden redet, wo man sich etwas offener unterhalten kann, dann sagen die: Ja, ob uns das wirklich Orientierung gegeben hat, weiß ich auch nicht. - Der Chef von EnBW jedenfalls hat am Freitag vergangener Woche noch öffentlich gesagt, wegen der extrem negativen Effekte von außen - und mit "außen" waren nicht wir gemeint, sondern die Regierung - könne sein Unternehmen weniger investieren, als es ursprünglich vorhatte. Bei den Großen herrscht Verunsicherung. Bei den Stadtwerken gibt es eine Blockade bei den Investitionen. Die Erzeuger regenerativer Energien wissen im Augenblick nicht, wie es unter dieser Regierung überhaupt weitergeht. Das ist doch ein toller Zwischenstand, Herr Brüderle, den Sie uns hier berichtet haben. (Beifall bei der SPD) Beim CCS-Gesetz weiß ich nicht, wie der Stand innerhalb der Bundesregierung ist. Ich stelle nur fest: Wir hampeln da von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat herum, ohne dass irgendetwas passiert. Das ist die energiepolitische Realität nach Ihrem wunderbaren Energiekonzept: maximales Durcheinander. Ich prophezeie Ihnen: Bleibt das so, dann werden die Kraftwerke der Zukunft im Ausland entstehen. Das liegt nicht an den Grünen, das liegt nicht an der SPD, das liegt nicht an der Linkspartei, nicht an der Opposition insgesamt hier im Haus, sondern das liegt an Ihnen, an dieser Regierung, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Volker Kauder [CDU/CSU]: Diese Passage ist ja nur noch peinlich!) Statt Weichenstellungen vorzunehmen, wie das nötig wäre, folgt Gipfel auf Gipfel. Als ich mich auf den heutigen Tag vorbereitet habe, habe ich mich an den Gipfel für Elektromobilität erinnert und meine Mitarbeiter gefragt: Was ist eigentlich seit diesem wunderbaren Elektrogipfel - Autos rund um das Brandenburger Tor - passiert? Nichts ist passiert, nichts geht voran. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Arbeitskreis!) Andere Länder investieren wesentlich mehr. Wenn das so bleibt - das ist doch meine Sorge; deshalb melde ich mich dazu zu Wort -, dann findet der nächste Aufschwung eben nicht in Deutschland statt. Herr Brüderle, Ihre Aufgabe als Wirtschaftsminister dieses Landes ist es nicht, den gegenwärtigen Aufschwung zu feiern, sondern ist es, den nächsten Aufschwung zu organisieren. Das ist Ihre Verantwortung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe Ihnen die aktuelle Ausgabe der Wirtschaftswoche nicht mitgebracht, weil ich es immer etwas albern finde, wenn hier vorne Zeitungsartikel hochgehalten werden. Ich empfehle Ihnen aber, den Artikel mit dem Titel "Bröckel-Republik Deutschland" einmal sehr sorgfältig zu lesen. Dieses Thema geht nämlich, anders als das Titelbild es vermuten lässt, nicht nur Herrn Ramsauer an, der jetzt der Bahn noch einmal eben 500 Millionen Euro an Investitionsmitteln wegnimmt. Das betrifft alle, die auf der Regierungsbank sitzen. Deutschland lebt von Hightechprodukten. Unser Land braucht eine Spitzeninfrastruktur mit neuen Stromnetzen für die erneuerbaren Energien, mit intelligenten Stromnetzen, damit wir mehr Lebensqualität und eine bessere Energieeffizienz bekommen, mit Breitband- und Glasfasernetzen, mit schnellen Schienenwegen sowie guten Straßen und Brücken, die nicht für Lkws gesperrt werden müssen, sodass diese auch noch weite Umwege fahren müssen. (Birgit Homburger [FDP]: Und das soll alles in einem Jahr passieren?) Die Frage ist nur: Wann werden wir solche Netze haben? Werden wir sie jemals haben, wenn Sie die Prioritären anders setzen und die zur Verfügung stehenden Finanzmittel zunächst einmal zur Erfüllung Ihrer Wahlversprechen benutzen? So kann die Infrastruktur nicht verbessert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn in dieser für das Industrieland Deutschland entscheidenden Frage etwas zustande kommen soll und Sie die Opposition bei dem einen oder anderen Gesetzgebungsverfahren vielleicht sogar brauchen, dann kann ich Ihnen nur raten - das ist meine einzige Bitte -: Hören Sie auf, diese Republik in eine Dafür- und eine Dagegen-Republik zu teilen. Machen Sie Ihren Job. Legen Sie ein durchdachtes Konzept für den Ausbau moderner Netze vor. Ich sage Ihnen: Am Ende werden wir das brauchen, was wir vorgeschlagen haben. Wir brauchen in diesem Land so etwas wie einen Infrastrukturkonsens, und zwar gleich am Anfang und nicht erst, wenn irgendein Großprojekt gegen die Wand gefahren wurde und Sie Herrn Geißler bitten müssen, die Scherben zusammenzukehren. Das ist kein Konsens, und so entsteht keine verbesserte Infrastruktur. (Beifall bei der SPD) Ein letztes Wort zum Thema Europa. Herr Brüderle, ich sage ganz offen: Dazu hätte ich gerne mehr von Ihnen gehört. Das war erstaunlich wenig. Das klang, als habe all das, was im Augenblick in Europa passiert, nichts mit der Zukunft unserer Wirtschaft in den nächsten Monaten oder gar in den nächsten Jahren zu tun, als exportierten wir nicht 60 Prozent der hier produzierten Waren ins benachbarte europäische Ausland. Dieser Umstand sagt einem Wirtschaftsminister doch eigentlich nur eines: Wenn es dem europäischen Ausland schlechtgeht und wenn es nicht schnellstmöglich wieder auf die Beine kommt, dann können Sie hier ruhig die Steuern senken - am Ende können Sie vermutlich sogar auf Steuern verzichten -, aber Sie werden durch diese Politik die Wirtschaft in diesem Land nicht weiter nach vorne bringen. Deshalb ist das Thema Europa auch Ihr Thema; es ist nicht allein das Thema des Finanzministers und der Kanzlerin. An der Frage Europa wird sich entscheiden, wie die Zukunft unseres Landes, einer starken Exportnation in Europa, aussehen wird. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ganz im Ernst: Das, was mir am meisten Sorge bereitet, ist, dass wir dazu nicht nur von Ihnen, Herr Brüderle, sondern auch von den anderen Regierungsbeteiligten nicht sehr viel hören. Das Versteckspiel setzt sich im Grunde genommen fort. Sie betreiben es sogar offen miteinander über die Medien. Sie haben eben gesagt, was Sie auf keinen Fall in Europa wollen. Ich habe das verstanden. Ich sage noch einmal: Im Dezember habe ich in einer europapolitischen Debatte von diesem Pult aus vorausgesagt, dass das, was Sie uns damals im Deutschen Bundestag vorgelegt haben, nicht die Lösung der europäischen Probleme sein wird. Ich habe auch gesagt, dass Sie das ganz genau wissen. Ich habe Ihnen vorausgesagt, dass Sie im neuen Jahr - das hat jetzt begonnen - auf die Opposition zugehen und vorschlagen werden: Wir brauchen eine Erweiterung des Rettungsschirms, und wir werden auch etwas mit europäischen Anleihen machen müssen. - Von diesen europäischen Anleihen spricht Frau Koch-Mehrin, die zu Ihrer Partei gehört, schon jetzt. Ich habe Ihnen vorausgesagt, dass Sie mit diesen beiden Themen kommen werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Steinmeier, Sie behalten bitte das Zeitbudget Ihrer Fraktion im Auge. Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Ich bin gleich durch. Jetzt haben Sie noch einmal eine Atempause gewonnen, weil die portugiesischen Anleihen offensichtlich gekauft worden sind. Ich sage Ihnen nur: Das ist kein Grund, sich zurückzulehnen. Die Situation - Sie wissen das ganz genau - ist nicht so, dass die Probleme, über die wir hier sprechen und über die wir in der Sache hart diskutieren müssen, gelöst sind. Sie, Frau Bundeskanzlerin - sie ist jetzt nicht da - und die anderen Mitglieder der Bundesregierung, werden an diesem Pult vor dem Hohen Haus und auch vor Ihren Regierungsfraktionen begründen müssen, warum das, was aus Ihrer Sicht im Dezember letzten Jahres falsch und verwerflich war, im neuen Jahr richtig sein wird. (Holger Krestel [FDP]: Ihre Partei ist doch der Verursacher der Probleme!) Das Problem ist nur: Wer verschweigt, was notwendig ist, und erst später Schritt für Schritt mit der Wahrheit herauskommt, (Bettina Hagedorn [SPD]: Salamitaktik!) der schafft in diesem Lande, in der deutschen Bevölkerung kein Engagement für Europa, sondern der betreibt ein gefährliches Spiel mit der europäischen Integration. Auch das ist ein wirtschaftspolitisches Thema. Herzlichen Dank. (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland und die deutsche Wirtschaft starten in der Tat mit Rückenwind ins Jahr 2011: mit dem höchsten Wirtschaftswachstum seit der Wiedervereinigung, mit der besten Beschäftigungsentwicklung seit der Wiedervereinigung, mit deutlich besseren Haushaltszahlen und Verschuldungszahlen, als vor Jahresfrist erwartet. Auch wenn es die vornehmste Pflicht der Opposition ist, das berühmte Haar in der Suppe zu finden, Herr Steinmeier, müssen doch auch Sie anerkennen, dass dies nun wirklich die beste und heißeste Suppe ist, die wir seit der Wiedervereinigung in Deutschland haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Freuen wir uns doch gemeinsam über diese heiße Suppe, zum Beispiel darüber, dass wir nach 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum im letzten Jahr in diesem Jahr wohl mindestens 2,3 Prozent Wirtschaftswachstum erzielen werden. Das sind 25 Prozent mehr, als noch im Herbst letzten Jahres vorausgesagt wurde. Das Wirtschaftswachstum ist in Deutschland doppelt so hoch wie der Durchschnitt des Wirtschaftswachstums in Europa. Deutschland ist vom kranken Mann Europas zur Wachstumslokomotive in Europa geworden. Freuen wir uns doch gemeinsam darüber, dass neben dem Export erstmalig auch die Binnennachfrage mit einem Plus von 1,6 Prozent in diesem Jahr ein zentraler Wachstumsmotor sein wird. Freuen wir uns darüber, dass die verfügbaren Einkommen in Deutschland, also das, was die Menschen, die in diesem Land arbeiten, zur Verfügung haben, so deutlich ansteigen werden, dass sie mehr ausgeben, mehr konsumieren und mehr investieren können. Freuen wir uns gemeinsam darüber, dass sich der Arbeitsmarkt weiter positiv entwickelt; so wird die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr in absoluten Zahlen wohl erstmals unter 2,5 Millionen sinken. Freuen wir uns darüber, dass vor allem die Beschäftigung weiter zunimmt. Mit über 41 Millionen Menschen, die in Arbeit sind, verzeichnen wir die höchste Beschäftigung, die es in der Bundesrepublik jemals gab, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) und das, obwohl noch vor eineinhalb Jahren befürchtet wurde, dass die Zahl der Arbeitslosen auf 5 Millionen steigt. Was heißt das? Um ein paar Zahlen zu nennen: 100 000 Arbeitsplätze mehr führen zu Mehreinnahmen der Sozialversicherung in Höhe von 80 Millionen Euro und zu rund 600 Millionen Euro Steuermehreinnahmen, und sie sparen im Gegenzug Ausgaben, zum Beispiel für die Arbeitslosenversicherung, in einer Größenordnung von 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro. Der Unterschied zwischen 3 Millionen Arbeitslosen, die wir jetzt zu verzeichnen haben, und 5 Millionen Arbeitslosen, die prognostiziert wurden, besteht darin, dass wir gesamtstaatlich rund 40 Milliarden Euro weniger aufwenden müssen. Freuen wir uns darüber doch gemeinsam! Freuen wir uns auch darüber, dass dieser Zuwachs, anders als es von den esoterischen Linken und vom Rest der Opposition immer dargestellt wird, vor allem bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und in der Vollbeschäftigung entstehen wird. Insofern gibt es auch hier positive Nachrichten, die uns ermuntern sollten und können. Wenn dies die beste und heißeste Suppe seit langem ist und wir uns darüber freuen, dann muss man sich vielleicht eingestehen, dass dies auch etwas mit den Köchen zu tun hat. Herr Trittin, ich weiß, Sie sind lieber Kellner als Koch; aber wir sind lieber Koch. Wenn in anderen Ländern Europas diese Suppe nicht so heiß, sondern mehr lau ist, obwohl sie aus den gleichen Zutaten besteht, hat das offensichtlich auch etwas mit den Köchen zu tun. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind eine Frittenbude!) Deshalb ist es schade, dass die SPD, Herr Heil und Herr Steinmeier, sich quasi von ihrer eigenen Kochkunst distanziert. In der Tat haben Sie durch die Arbeitsmarktreformen, die in den letzten zehn Jahren durchgeführt worden sind, daran mitgewirkt, dass wir diesen Aufschwung haben. Das war ein Bestandteil. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) - Es wäre schön, wenn Sie nicht nur hier applaudieren würden. Sie distanzieren sich doch; Sie wollen doch alles rückgängig machen. Sie wollen die Reform am Arbeitsmarkt rückgängig machen; (Thomas Oppermann [SPD]: Nein! Das ist unsere Reform!) Sie wollen die Rente mit 67 rückgängig machen, (Thomas Oppermann [SPD]: Nein!) die ein entscheidender Baustein ist, dass das Beschäftigungsvolumen in diesem Land zunimmt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die ist doch noch gar nicht in Kraft getreten! Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?) Da besteht Fragebedarf, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön, Herr Kollege. Peter Friedrich (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Pfeiffer, ich habe eine Frage zum Thema Rückgängigmachen. Wir haben gemeinsam ein Konjunkturpaket für die Kommunen mit insgesamt 13 Milliarden Euro aufgelegt. Gerade werden viele kommunale Haushalte verabschiedet, und in fast allen Kommunen - selbst in unserem sehr wohlhabenden Baden-Württemberg - erleben wir, dass sie ihre Investitionsvorhaben aufgeben und ihre Haushalte nicht ausgleichen können. Das, was wir als Konjunkturprogramm auf den Weg gebracht haben und was viel zu dem Aufschwung beigetragen hat, indem wir die Kommunen in die Lage versetzt haben, vor Ort für Aufträge zu sorgen, hat jetzt dazu geführt, dass man dort vom Gaspedal auf die Bremse gewechselt ist. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik. Machen Sie durch Ihre Politik nicht das rückgängig, was wir an Aufschwung durch die Kommunen generiert haben und was uns durch die Krise gebracht hat? Wie stehen Sie zu diesem Teil des Rückgängigmachens durch Ihre Politik und auch zu Ihren steuerlichen Maßnahmen nicht nur bei den Hotels, sondern auch bei den Zurechnungen, die dazu geführt haben, dass die Steuereinnahmen der Kommunen flächendeckend wegbrechen? (Beifall bei der SPD) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Es fällt mir wirklich schwer, das jetzt intellektuell nachzuvollziehen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben wir! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das wundert uns nicht!) Es stellt sich die Frage, an wem das liegt: ob das am mangelnden Intellekt meinerseits liegt - das müsste man einmal überprüfen - oder ob da offensichtlich etwas durcheinandergebracht wird. Was waren die Ziele der Konjunkturprogramme und der Hintergrund? Wir haben damals, Ende 2008, wo wir auf Sicht gefahren sind und das Schlimmste zu befürchten war - keiner wusste, was passiert -, gemeinsam in der Großen Koalition gesagt: Jetzt ist die Zeit, wo der Staat, die Politik auf allen Ebenen, im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden, ein Zeichen setzen und versuchen muss, Vertrauen zu schaffen und Anreize dafür zu setzen, dass investiert wird und dass in diesem Land noch etwas geht. Wir haben von vornherein gemeinsam beschlossen, dass die Konjunkturpakete auf zwei Jahre begrenzt sind, nämlich auf 2009 und 2010. Für die Kommunen haben wir die Stellhebel so gestellt, dass die Konjunkturpakete nur Maßnahmen beinhalten sollten, die nicht schon im Haushalt sind, sondern normalerweise erst 2011, 2012 oder 2013 hätten realisiert werden können. Sie sollten vorgezogen werden; das war doch der Ansatz. Genau diesen Ansatz haben wir umgesetzt. Jetzt sind wir auf einen Wachstumspfad eingeschwenkt; das Vertrauen ist da, ein selbsttragendes Wachstum kann sich wieder organisieren. Wir mussten die Laufzeit der Konjunkturpakete nicht verlängern, sondern sie sind planmäßig ausgelaufen. Insofern kann ich überhaupt nicht erkennen, wo wir den eingeschlagenen Weg, der konsequent und stringent war, jetzt in irgendeiner Art und Weise verändert haben sollten. Das tut mir wirklich leid. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es ist jetzt mit Sicherheit aber auch nicht die Zeit, sich einfach zurückzulehnen und zu sagen: Alles wunderbar! Weiter so! Wir brauchen nichts zu tun, um an der Spitze zu bleiben; das alles ist ohne Risiken. - Das ist mit Sicherheit nicht so. Die Punkte sind bereits angesprochen worden. Neben allgemeinen Risiken wie Vulkanausbrüchen, Seuchen, Erdbeben und auch Terror, die wir im letzten Jahr erlebt haben und die das Wachstum gefährden können, sind die Rohstoffversorgung und die Preisentwicklung bei den Rohstoffen wieder auf der Agenda. Dies wird uns dieses Jahr beschäftigen. Auch die Inflation ist eine Gefahr für das weitere Wachstum. Wichtig ist auch die Freiheit der Handels- und Transportwege. Bei den weltweiten protektionistischen Bestrebungen, die dem Freihandel, durch den wir unser Wachstum im Wesentlichen geschaffen haben, entgegenwirken, müssen wir darauf achten, dass es kein Rollback gibt, sondern dass die WTO-Verhandlungen jetzt endlich zum Abschluss kommen und die internationalen Märkte geöffnet werden. Deshalb ermuntern wir den Bundeswirtschaftsminister und alle in Europa, in diesem Jahr bei den WTO-Verhandlungen endlich weiter voranzukommen. Auch was in den USA passiert, ist für uns nicht ohne Sorge zu betrachten. Zu der privaten Verschuldung kommt jetzt auch eine exorbitante und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ansteigende öffentliche Verschuldung hinzu. Ich kann bei allem Optimismus und bei allem Wachstum in den USA - vom Grundsatz her herrscht dort ja ein etwas anderes Verständnis - noch nicht so richtig erkennen, wie die Wettbewerbsfähigkeit dort in Kürze so hergestellt werden kann, dass diese Handelsungleichgewichte ausbalanciert werden können. Das sind sicher Gefahren, die uns hier begegnen. In Europa gibt es die Euro-Problematik. An dieser Stelle will ich aber noch einmal darauf hinweisen, dass das nicht aufgrund des Euro ein Problem ist, sondern aufgrund der Verschuldung der Staaten und der Divergenzen im Bereich der Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen Union. Auch zu Beginn des Jahres 2011 ist festzuhalten: Der Euro wirkte in der Krise stabilisierend. Wir erinnern uns an die Wechselkursprobleme Anfang der 90er-Jahre mit Italien und anderen. Ohne den Euro wäre uns der Laden in den letzten zwei Jahren im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geflogen. Hier hat der Euro stabilisierend gewirkt. Anders, als das häufig dargestellt wird, ist der Euro auch kein Inflations-Euro und kein "Teuro". Wir hatten in der Zeit des Euro, von 1999 bis jetzt, eine Inflationsrate von durchschnittlich 1,6 Prozent, während sie in den Zeiten der D-Mark 1 Prozentpunkt höher lag, nämlich bei 2,6 Prozent. Das heißt, der Euro hat zur Werterhaltung, zur Nachhaltigkeit beigetragen. Durch den Euro wurde auch verhindert - das geschieht nach wie vor -, dass die Unternehmen Transaktionskosten haben. Das bedeutet eine bessere Transparenz und ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes. Es ist aber zweifelsohne richtig, dass wir die Verschuldenskrise in Europa in den Griff bekommen müssen. Die Frage ist, wie man sie in den Griff bekommt. Dies erreicht man sicher nicht - darin stimmen wir mit dem Bundeswirtschaftsminister vollkommen überein - mit Euro-Bonds. Sie sind im besten Fall süßes Gift, weil dadurch schnelle Hilfe versprochen, langfristig aber die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Euro-Raumes zerstört wird und die falschen Anreize gesetzt werden. Wir wollen eine Lösung, durch die die richtigen Anreize gesetzt werden, sodass derjenige, der konsolidiert, spart und in Innovationen investiert, am Ende des Tages besser dasteht als derjenige, der sich nur auf Transferleistungen verlässt. Wohin das führen kann, sehen wir am eigenen Land; das muss man auch einmal sagen. Wir sind nicht in der Lage, die Finanzbeziehungen der Länder so zu ordnen, dass das Saarland und Bremen aus ihren Positionen herauskommen. Hier sehe ich keinen Ausweg. Wenn wir Euro-Bonds einführen würden, dann würde das für Europa "Saarland und Bremen hoch zehn" bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein. Deshalb wollen und werden wir keine Euro-Bonds einführen. Wir werden aber auch nicht nachlassen, weiter die Grundsatzentscheidungen zu treffen, durch die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt wird. Wir werden den Breitbandausbau weiter voranbringen. Wir werden das Telekommunikationsgesetz wettbewerblich novellieren und Wettbewerbspotenziale im Post- und Bahnbereich heben, und zwar nicht nur um des Wettbewerbs willen, sondern um Innovationspotenziale freizusetzen, die dann über niedrigere Preise und bessere Leistungen an die Verbraucher weitergegeben werden können. Das ist nämlich der Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft. Wir werden Forschung und Entwicklung weiter ausbauen. Wir haben in Bund und Ländern die höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung seit über 20 Jahren. Das werden wir konsequent weiter ausbauen. Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das hervorragend einschlägt, auf hohem Niveau stabilisiert und werden es fortführen. Wir werden aber auch neue Maßnahmen angehen, die die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im europäischen Kontext stärken. Die geplante steuerliche Forschungsförderung wird in dieser Legislaturperiode nicht mehr eingeführt. Wir müssen und werden aber den Einstieg schaffen. (Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU]) Wir machen nicht nur eine Energiepolitik, die neue erneuerbare Energien ins Netz bringt und langfristig den Umstieg schafft, wie wir ihn im Energiekonzept festgelegt haben, sondern wir werden auch für bezahlbare Energiepreise für Wirtschaft und Verbraucher sorgen. Denn ohne wettbewerbsfähige Energiepreise ist die deutsche Wirtschaft bzw. der deutsche Mittelstand nicht wettbewerbsfähig und in seiner Export- und Wirtschaftskraft gefährdet. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Insoweit sind wir auf dem richtigen Weg, meine Damen und Herren. Es ist nicht alles glänzend, aber der Weg und die Richtung stimmen. Wir werden den eingeschlagenen Pfad konsequent weitergehen. Dann wird Deutschland in den nächsten Jahren die Lokomotive Europas in der wirtschaftlichen Entwicklung bleiben. Lassen Sie uns gemeinsam und freudig daran arbeiten, um Deutschland und Europa nach vorne zu bringen, statt nur als Kritikaster unterwegs zu sein. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Thomas Oppermann [SPD]: Aber jetzt nicht so wie Brüderle!) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Steinmeier, mir ist aufgefallen, dass Sie gesagt haben, dass die Union und die FDP die Reformen von SPD und Grünen nutzen. Es sollte Ihnen aber nicht positiv auffallen, sondern negativ, dass den Konservativen und Neoliberalen Ihre Reformen so gut gefallen. (Beifall bei der LINKEN) Aber abgesehen davon, Herr Brüderle, haben Sie im Zusammenhang mit dem Aufschwung ein paar Fakten vergessen; daran muss ich Sie einfach erinnern. Der Aufschwung macht ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent aus. Im Jahr davor hatten wir ein Minus von 4,7 Prozent. Das heißt, wir stehen immer noch schlechter da als 2008. Das hätte doch Ihr erster Satz sein können. Abgesehen davon haben Sie - das ist das Entscheidende - überhaupt nicht über die Frage geredet, wem der Aufschwung zugutekommt und wem nicht. Was Sie dazu gesagt haben, stimmt nicht. Wir haben - das stimmt - einen Aufschwung für die Deutsche Bank. Wir haben auch einen Aufschwung für Vermögende und Spekulanten; das stimmt. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Porsche-Fahrer! - Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Porsche-Fahrer aus Ihrer Fraktion!) Aber wir haben keinen Aufschwung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben keinen Aufschwung für Rentnerinnen und Rentner. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben keinen Aufschwung für Kranke. Wir haben keinen Aufschwung für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Was hat denn die Hartz-IV-Empfängerin von Ihrem Aufschwung? 5 Euro wollen Sie ihr geben. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, kann ich da nur sagen. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU) Die Reallöhne sind im letzten Jahren um 0,1 Prozent gestiegen, Herr Brüderle. Aber das Geldvermögen ist im letzten Jahr in Deutschland um 4,7 Prozent gestiegen. Das Bruttogeldvermögen hat um 220 Milliarden Euro zugenommen und liegt jetzt bei 4,9 Billionen Euro, ein unvorstellbarer Betrag. Nun könnte man zwar sagen: Was spricht denn dagegen, wenn alle mehr Vermögen haben? Das Problem ist aber, dass 1 Prozent der Bevölkerung ein Viertel des Geldvermögens besitzt. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent des Geldvermögens. Zwei Drittel der Bevölkerung besitzen gar kein Vermögen. Das ist die grobe Ungerechtigkeit, an der Sie nichts ändern. Sie spitzen das sogar weiter zu. (Beifall bei der LINKEN) In der Krise - das hätten auch Sie eigentlich kritisieren müssen, Herr Brüderle - hat die Zahl der Vermögensmillionärinnen und Vermögensmillionäre um 51 000 zugenommen. Die Zahl liegt jetzt bei 861 000. Erklären Sie das einmal denjenigen, die nicht wissen, wie sie irgendwas bezahlen sollen. Wozu brauchen wir denn so viele Vermögensmillionäre? Mit etwas weniger kann man in unserer Gesellschaft auch sehr gut leben. (Lachen bei der FDP) - Sie nicht, meine Damen und Herren von der FDP! Es tut mir leid, wenn Sie sich das nicht vorstellen können. Bei uns nimmt nicht nur der Reichtum zu, sondern auch die Armut. Hier hilft am besten ein Zehnjahresvergleich. Von 2000 bis 2010 hat das private Geldvermögen von 3,5 Billionen auf 4,9 Billionen Euro zugenommen. Es ist also auf 150 Prozent gestiegen. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat die Armut in den letzten zehn Jahren um ein Drittel zugenommen. Der Anteil der Armen ist von 11 Prozent auf 14 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das heißt, von Armut sind nicht mehr 7,7 Millionen, sondern 11,5 Millionen Menschen betroffen. Da reden Sie von Aufschwung? Erklären Sie diesen 11,5 Millionen Menschen, worin der Aufschwung für sie besteht! (Beifall bei der LINKEN) Nur in Deutschland sanken in den letzten zehn Jahren die Reallöhne laut Internationaler Arbeitsorganisation, ILO - einer UN-Sonderorganisation -, um 4,5 Prozent. Der durchschnittliche Bruttoverdienst sank um 100 Euro. Wir sind Lohnsenkungsweltmeister. Herr Brüderle, wenn Sie vom Export reden, müssen Sie auch sagen, dass der Exportanstieg darauf zurückzuführen ist, dass in Deutschland die Löhne gesenkt wurden, die Renten gesenkt wurden und die Sozialleistungen gesenkt wurden. Das machte die Produkte billiger. Das heißt, Ihr ganzer Exportüberschuss ging zulasten der Bevölkerung. Das müssen Sie sagen, und das haben Sie verabsäumt zu erklären. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der FDP) Die Reallöhne in anderen Ländern haben sich anders entwickelt; sie sind gestiegen: in Spanien, in Frankreich, in Großbritannien, in Finnland und in Norwegen - in Norwegen sogar um 25 Prozent. Nur bei uns sind sie gesunken. Dafür tragen die letzten drei Regierungen Verantwortung: SPD und Grüne, Union und SPD sowie jetzt Union und FDP. Die umgekehrte Entwicklung in Deutschland hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die prekäre Beschäftigung in Deutschland - das haben Sie alle so gewürdigt - zugenommen hat. 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind prekär beschäftigt, zum Beispiel in Teilzeit, in Leiharbeit und in Minijobs. Oder sie sind Aufstockerinnen und Aufstocker. Erklären Sie diesen Menschen den Aufschwung! Die Zahl dieser Menschen nimmt nicht ab, sondern zu. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen im Laufe der letzten zehn Jahre. Deren Zahl hat nicht zugenommen, Herr Brüderle - Sie sind ja so stolz auf den Abbau der Arbeitslosigkeit -, sondern abgenommen, und zwar um 1,4 Millionen. Aber die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze hat zugenommen, und zwar um 1,6 Millionen. Jetzt sind wir bei 5,4 Millionen Teilzeitarbeitsplätzen. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten hat zugenommen: von 5 Millionen auf 6,6 Millionen. Die Zahl der Minijobs ist gestiegen: von 5,5 Millionen auf 7 Millionen. Die Zahl der Leiharbeiter ist gestiegen: von 320 000 auf 921 000. Erklären Sie den betroffenen Menschen, was sie vom Aufschwung haben! Sie haben den ganzen Arbeitsmarkt zerstört und die Gewerkschaften ungeheuer geschwächt. Das merken wir alle. (Beifall bei der LINKEN) Selbst die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker hat während des Aufschwungs zugenommen, und zwar um 100 000. Wir sind jetzt bei 1,4 Millionen. Auch ein toller Aufschwung für die Betroffenen! In Ostdeutschland muss fast jeder Dritte zu einem Einkommen unter 860 Euro arbeiten. In ganz Deutschland sind es 22 Prozent. Eine Studie hat jetzt herausgearbeitet, dass eine Leiharbeiterin oder ein Leiharbeiter im Schnitt 900 Euro weniger verdient als eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter ohne Berufsausbildung. Daran müssen Sie etwas ändern. Anstatt vom Aufschwung zu reden, sollten Sie sich um das Schicksal von Millionen Menschen in diesem Land kümmern. (Beifall bei der LINKEN) Was wir jetzt wirklich dringend brauchen - das verweigern Sie leider, gerade Sie von der FDP -, ist ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn. Sie wissen gar nicht, was Sie anrichten, wenn am 1. Mai Freizügigkeit herrscht und wir keine Mindeststandards diesbezüglich gesetzt haben. Ich sage Ihnen: Die Folge werden dann eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit und ein zunehmender Rassismus sein. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die schüren Sie doch gerade wieder! - Zurufe von der FDP: Sie schüren die doch!) Das können wir überhaupt nicht gebrauchen. Übernehmen Sie einfach einmal Verantwortung, und führen Sie einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland ein! (Beifall bei der LINKEN - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie und die NPD schüren das doch!) - Quatschen Sie doch nicht so ein dummes Zeug, Herr Lindner! Was an Ihnen liberal ist, würde ich auch gerne wissen. Sie sind das Intoleranteste, was mir je begegnet ist. Abgesehen davon, sage ich Ihnen, weil Sie vom Aufschwung reden: Die Druckerei Schlott macht gerade dicht. 2 000 Beschäftigte werden in Freudenstadt, Nürnberg, Landau und Hamburg entlassen. Das Unternehmen Alstom Power in Mannheim baut 400 Stellen ab. Erklären Sie den betroffenen Menschen den Aufschwung! Die Lohnsteigerungen, die wir jetzt brauchen, müssen wirklich von einem anderen Kaliber sein als in den vergangenen Jahren. Wir hatten einen Reallohnverlust von 4,5 Prozent. Deshalb sage ich: Wir brauchen in diesem Jahr einen Anstieg der Reallöhne um mindestens 5 Prozent, angemessen wären 10 Prozent, wenn man tatsächlich an einen Produktivitätsaufschwung denkt. (Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der FDP) Ja, wir brauchen Rentenerhöhungen. Wir brauchen auch Erhöhungen der Sozialleistungen. Statt Hartz IV brauchen wir endlich eine angemessene Grundsicherung in unserer Gesellschaft, und zwar sanktionsfrei. (Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der FDP) Sie sagen, die gesamte Entwicklung sei toll, sie gingen einen anderen Weg, und die anderen Länder machten alles falsch. Ich kenne diese Art von Egozentrismus. Ich glaube, er ist völlig falsch. Ich will Ihnen sagen, was Sie in Griechenland anrichten. In Griechenland werden die Reallöhne um 11,2 Prozent gesenkt, die Industrieproduktion um 20,7 Prozent, die Industrieaufträge sind um über 46 Prozent zurückgegangen. Das alles finden Sie richtig. Sie sagen: Die müssen sparen, sparen, sparen. Dasselbe sagen Sie bei Irland, dasselbe sagen Sie bei Portugal, und dasselbe sagen Sie bei Spanien. Ich sage Ihnen: Verträge, die die Menschen zu einem solchen Sozialabbau zwingen, haben verheerende Folgen. Sie müssen das einmal in einem Geschichtsbuch nachlesen. Durch den Vertrag von Versailles wurde Deutschland gezwungen, einen solchen Weg zu gehen. Der Weg war völlig falsch; denn er hat mit dazu geführt, dass die Nazis so stark geworden sind. Wir können überhaupt nicht regulieren, was in den genannten Ländern passiert, wenn Sie dort einen solchen Sozialabbau organisieren. Das ist der völlig falsche Weg. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Geschichtsklitterei!) Ich habe übrigens noch ein Beispiel für den Aufschwung. Die Europäische Zentralbank darf Griechenland keinen Kredit geben. Aber die Europäische Zentralbank darf der Deutschen Bank einen Kredit geben. Die Deutsche Bank holt sich dort 1 Milliarde Euro und zahlt 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank nach Griechenland und sagt: Ihr bekommt die Milliarde, aber ihr müsst leider 11 Prozent Zinsen zahlen. Da verdient die Deutsche Bank für eine Überweisung 10 Prozent Zinsen, das sind 100 Millionen Euro. In diesem Bereich organisieren Sie den Aufschwung, das stimmt, Herr Brüderle, aber wir brauchen einen anderen Aufschwung in unserer Gesellschaft. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Risikoaufschlag!) - So ein Quatsch. Wir haben es mit Spekulationen auf den Nahrungsmittel- und Rohstoffmärkten zu tun. Die Weizenpreise sind um 40 Prozent gestiegen. Ich sage Ihnen: Spekulationen mit Nahrungsmitteln sind ein Verbrechen. Das müssen Sie verbieten. (Beifall bei der LINKEN) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Sie wollen nur den Export stärken, wir wollen die Binnenwirtschaft stärken. Sie wollen und organisieren den Aufschwung für die Deutsche Bank, die Konzerne, die Großaktionäre und die Vermögenden, wir dagegen fordern einen Aufschwung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die Rentnerinnen und Rentner, für die Hartz-IV-Beziehenden und die kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer. Es wird Zeit, dass auch sie einen Aufschwung erleben. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ganz schön, Herrn Gysi bei uns zu haben; (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das finden wir auch!) dann weiß man mal wieder, wie Klassenkampfreden aussehen: (Beifall bei der FDP) völliger Realitätsverlust, nur Negatives wird dargestellt, obwohl alle Daten positiv ausfallen, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Eben nicht alle!) und zwar positiv für alle. Alle können sich über die Entwicklung freuen. Kein Mensch sagt, dass alles Gold ist, aber die Entwicklung ist äußerst positiv, weit über die Erwartungen von allen hier im Raume hinaus. Das muss man doch entsprechend bewerten. Sie behaupten, die Hartz-IV-Empfänger, die Rentner, die Arbeitslosen und die Arbeitnehmer hätten alle nichts. (Joachim Poß [SPD]: Sie werden zusätzlich gequält!) Das widerspricht total den Realitäten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben jetzt 2 Millionen Arbeitskräfte, die früher arbeitslos waren, und nun wieder in Arbeit und Brot gekommen sind. Das ist doch ein riesiger Fortschritt. Das Sozialste an dieser Entwicklung ist, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt wieder durch eigene Arbeit finanzieren können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber genau das passiert nicht! Was ist mit den Aufstockern?) Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ab, und zwar stärker als bisher. Die Jugendarbeitslosigkeit ist drastisch zurückgegangen. Die Erwerbstätigenquote steigt. Die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze steigt stärker als die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze. Das alles sind positive Entwicklungen. Die Nettolöhne, so das Statistische Bundesamt, steigen im Jahre 2010 stärker als in den letzten 17 Jahren. (Jörg van Essen [FDP]: 17 Jahre!) Wenn das kein Fortschritt ist, dann frage ich mich, was Fortschritt sein soll. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heute ist ein Tag der Freude für alle in der Gesellschaft, insbesondere für die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist aber auch ein Tag der Freude für uns und für die Bundesregierung. Offenkundig hat sie nicht alles falsch gemacht. Sie hat beispielsweise nicht bei Opel oder Karstadt interveniert, obwohl andere sie dazu aufgefordert haben. Erinnern Sie sich an Holzmann: Staatsintervention durch Schröder. 200 Millionen Euro in den Wind geschrieben; (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja! Ja!) denn die Firma ist trotzdem pleitegegangen. Wenn eine Firma keine Basis mehr hat, kann der Staat auch nicht mehr helfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sind Anfang des Jahres 24 Milliarden Euro freigesetzt worden. So wurde mit 24 Milliarden Euro dazu beigetragen, die Kaufkraft der Bürger zu stärken, insbesondere die der Familien und der kleinen und mittleren Unternehmen. (Joachim Poß [SPD]: Quatsch!) Nun regen Sie sich doch nicht über die Hotels auf. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Darüber regen wir uns auf!) Natürlich wäre es besser gewesen, die Umsatzsteuer für die Hotels in eine Gesamtumsatzsteuerreform einzubinden; das gebe ich zu. Nun ist es aber so gelaufen. Die Hotels haben die Mittel genutzt, um in großem Stil zu investieren und zu erneuern. Außerdem sind im Tourismusgewerbe in Deutschland etwa 2 Millionen Menschen beschäftigt. Deswegen war das wichtig, und deswegen hat das auch zum Aufschwung beigetragen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein ordnungspolitischer Sündenfall war das!) Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit ist dieser Aufschwung also ein Beschäftigungsaufschwung. Das ist das, was wir in erster Linie erreichen wollten, und dabei haben wir uns in Wahlkämpfen mit Versprechen gegenseitig überboten. Deswegen möchte ich daran erinnern: Es ist auch ein glücklicher Tag für die Oppositionsparteien SPD und Grüne. Natürlich ist es richtig, dass die Reformen, die damals durchgeführt worden sind - Hartz-IV-Reform, Arbeitsmarktreform und auch die Steuerre-form 2000 -, einen positiven Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet haben. Wer wollte denn das aberkennen? Wir haben diesen Reformen seinerzeit doch auch zugestimmt. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Das ist in doppelter Hinsicht glücklich für Sie. Sie können froh sein, dass Sie heute in der Opposition sitzen. Sonst müssten Sie nämlich Ihre absolut wachstums- und beschäftigungsfeindlichen Beschlüsse, die Sie in der Zwischenzeit gefasst haben, umsetzen. Dabei denke ich an den flächendeckenden Mindestlohn, an die Zurücknahme der Rente mit 67, an die Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer auf 49 Prozent, an die Wiedereinführung der Vermögensteuer und an die Abschaffung der Abgeltungsteuer, die Sie selbst gerade erst eingeführt haben. Das alles wäre natürlich Gift. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was?) - Der Abgeltungsteuer. Das habe ich nachgelesen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo steht denn das? Quelle!) - In Ihren Beschlüssen vom September letzten Jahres. Wenn das nicht der Fall sein sollte, so kann man zumindest sagen, dass das andere längst reicht. Das wäre Gift für diese Entwicklung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie müssen sich damit und mit der Frage auseinandersetzen, wie Sie das Wachstum auf Dauer verfestigen können. Deswegen sagen wir: Entscheidend ist eine klare Ordnungspolitik. Der Staat hat das zu tun, was seine Aufgabe ist. Er hat die Spielregeln festzulegen und die Durchsetzung der Spielregeln zu garantieren und zu überwachen. Dazu gehört beispielsweise auch eine effiziente Bankenaufsicht. Ich habe damals Herrn Eichel gesagt: Sie müssen die Bankenaufsicht in eine Hand geben. - Was hat er aber gemacht? Er hat die BaFin geschaffen. Dann haben sich die BaFin und die Bundesbank gegenseitig bekämpft. Die Bankenaufsicht hat die eigentlichen Probleme aber nicht erkannt. Deswegen muss dies jetzt nachgeholt werden: Wir brauchen eine klare und wirkungsvolle Regulierung der Finanzmärkte. (Joachim Poß [SPD]: Wo ist eigentlich Schäuble, der Verlierer dieser Tage?) Wir brauchen aber keine Regeln in den Bereichen, in denen sie den Wettbewerb stören. Wir müssen uns durch Wettbewerb und Ausleseverfahren auf den Märkten anpassungsfähig und zukunftsfähig machen; denn nur dann werden wir in dem zunehmend schwieriger werdenden weltweiten Wettbewerb bestehen können. Das ist keine europäische Frage, sondern das ist eine weltweite Frage. Natürlich gilt auch hier: Die Finanzpolitik muss die Wirtschaftspolitik unterstützen und umgekehrt. Das haben wir auch gemacht. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz war mit einer Freigabe von Finanzmitteln für die Bürger verbunden. Das hat dazu beigetragen, dass sich die Wirtschaft positiv entwickelt. Dadurch steigen die Steuereinnahmen wieder, und dadurch wird das eine vernünftige Maßnahme. Deswegen gilt auch jetzt: Wir sind dafür, dass die Haushalte konsolidiert werden. Wir haben schon in unserem Wahlprogramm zum Ausdruck gebracht, dass Steuerreform und Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. Sie müssen zusammen durchgeführt werden. Wir haben der Aufnahme der Schuldenbremse in die Verfassung zugestimmt. Schon jetzt wollen wir den Fahrplan der Schuldenbremse konsequent erfüllen. Wir wollen zwischen 2011 und 2016 in gleichmäßigen Schritten die Neuverschuldung auf einen Restbestand von höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abbauen. Wenn sich aber auf dem Weg dorthin über die Erfüllung der Vorgaben durch die Schuldenbremse hinaus Spielräume ergeben, dann sollen sie nicht durch neue Staatsausgaben verschwendet werden, sondern dann müssen sie genutzt werden, um sie den Arbeitnehmern zu geben, die ja jetzt bei wachsenden Löhnen von der kalten Progression besonders betroffen sind. Ich möchte gerade die Sozialdemokraten daran erinnern, dass sie in ihrem Wahlprogramm - ich habe es mitgebracht - genau das gefordert haben, wie wir und wie die CDU/CSU auch, mit unterschiedlichen Formulierungen; aber es ist genau das Gleiche: Wir wollen die Entlastungen daher auf die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen sowie die Familien konzentrieren. An anderer Stelle in diesem Programm sprechen Sie noch von einem Jahreseinkommen von etwa 53 000 Euro. Sie beziehen sich also genau auf den Bereich, auf den wir unsere Reformanstrengungen konzentrieren wollen. Da stimmen wir völlig überein. (Rolf Hempelmann [SPD]: Es ist schön, dass Sie bei uns so viel nachlesen!) Wenn die Löhne nun stärker steigen, was mich freut, dann werden die Arbeitnehmer umso frustrierter sein, wenn sie feststellen, dass ein immer größerer Teil des zusätzlichen Einkommens wegbesteuert wird. Deswegen ist es zur Bekämpfung der kalten Progression und des Mittelstandsbauches zwingend notwendig, Spielräume, die sich ergeben, zu nutzen, um hier zu Entlastungen zu kommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Diskussion um die Währungspolitik und die Stabilisierung des Euro sagen. Die Frage ist doch nicht, ob wir europafreundlich sind oder nicht. Wir sind alle europafreundlich. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Mit Ausnahme der Linken!) Die Frage ist nur: Was führt zu einer dauerhaften Stabilisierung? Ist es richtig, wenn Krisen entstehen, laufend neue Mittel zur Verfügung zu stellen - ich frage dies auch vor dem Hintergrund, dass wir hier um jeden Euro im Haushalt kämpfen, während da gleichzeitig viele Milliarden zur Verfügung gestellt werden -, um dann bei der nächsten Finanzierungsrunde wieder in die Situation dessen zu kommen, der erpresst werden kann? Da sind einige Akteure in den Finanzmärkten sehr geschickt. Sie drohen, die Banken würden zusammenbrechen, wenn jetzt nicht der Steuerzahler einspringen würde. So werden von Runde zu Runde die stabilen Staaten in Europa erpresst, um das Schlimmste zu verhindern. Ist es auf der anderen Seite nicht richtig, die Staaten, die in einer schwierigen Situation stecken, von Grund auf zu sanieren? Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, was angezeigt ist. Ein Staat, der seine Schulden wegen seiner mangelnden Wirtschaftskraft in den nächsten zehn Jahren nicht bedienen kann, wird um eine Umschuldung unter Einbeziehung der Gläubiger nicht herumkommen, die dann auf einen Teil ihres Darlehens verzichten müssen. Das ist der richtige Weg. Dieser Weg ist ja nicht neu. Er ist insbesondere in Südamerika, in Argentinien, aber auch in Europa, in Polen, in Russland, in vielen Ländern über den Pariser Club beschritten worden. Das hat vorzüglich funktioniert, und das hat zu einer anschließenden dauerhaften Stabilisierung geführt. Ich warne davor, zu glauben, es bedürfe irgendeines Aktionismus; da wird jetzt in Europa diskutiert. Dabei geht es eigentlich nur darum, dass die Triple-A-Staaten in Europa - das sind Deutschland, Frankreich, Österreich, Niederlande, Luxemburg und Finnland - für die Schuldnerländer eintreten müssen, ohne dass es zu einer dauerhaften Sanierung kommt. Ganz im Gegenteil: Gerade das löst den Moral Hazard aus. Die Regierungen sind dann nicht mehr veranlasst, eine solide Politik zu betreiben; denn sie können sagen: Die Defizite werden sowieso von den anderen ausgeglichen. Wir müssen vielmehr an die Grundlagen gehen: Jeder Einzelstaat muss aus sich heraus saniert werden, und er muss natürlich Auflagen bekommen und Sanktionen angedroht bekommen, wenn er die Voraussetzungen nicht erfüllt. Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Frage ist für die Zukunft von Europa von eminenter Bedeutung. Hier werden historische Entscheidungen getroffen, und sie dürfen nicht in die Richtung einer Transferunion gehen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Solms, ich finde es bemerkenswert und auch anerkennenswert, dass Sie nochmals darauf hingewiesen haben, dass die arbeitsmarktpolitischen Reformen jetzt Wirkung zeigen. Das heißt aber im Umkehrschluss natürlich auch, dass Sie durchaus anerkennen, dass institutionelle Reformen notwendig sind, um am Arbeitsmarkt und in Bezug auf die Wirtschaftslage Verbesserungen zu erlangen. Ich muss Ihnen jetzt Folgendes vorhalten: Das, was Sie uns an Reformen und institutionellen Veränderungen vorschlagen, ist überhaupt nicht ausreichend. Ich komme im Einzelnen noch dazu. Sie verzeihen, wenn ich etwas hochhalte: Das ist der Jahreswirtschaftsbericht 2011. Der Titel dieses Jahreswirtschaftsberichtes macht mir extreme Sorgen, Herr Minister. Natürlich ist unbestritten: Wir haben einen Aufschwung und mehr Leute in Jobs. Das ist gut, richtig und notwendig. Aber dass Sie allen Ernstes behaupten, dass die Krise überwunden ist, zeugt von einer unglaublichen Kurzsichtigkeit. Wir sind noch lange nicht über den Berg; wir müssen jetzt handeln. Das ist das, was uns wirklich Sorgen macht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise sind noch keineswegs beseitigt. Wir haben eine enorme Schuldenkrise in Europa und weiter unzureichende Finanzmarktregulierungen. Wir haben globale und europäische Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen. Wir haben zwar eine Währungsunion, aber wir haben doch noch lange keine Wirtschaftsunion. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen "Wir müssen halt aufpassen, dass Triple-A-Deutschland hier nicht geschädigt wird", dann haben Sie nicht verstanden, dass es auch im nationalen Interesse ist, Europa zu stabilisieren, und dass Deutschland hier eine ganz große Aufgabe hat. Das müssen Sie verstehen, wenn Sie nicht nur national, sondern europäisch denken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir vermissen zutiefst die Europäer in Ihrer Regierung, die sagen "Wir nehmen etwas in Angriff, wir starten, wir überlegen, wir gestalten mit", sondern Sie sind in einer Bremserrolle, was Europa angeht. Das ist hochdramatisch; auch das haben Sie nicht begriffen. Hier stecken noch so viele Krisensituationen drin, die uns in Deutschland betreffen werden. Aber auch die Klimakrise ist nicht vorbei. Vor ein paar Jahren haben Sie sich alle - das ist unser Eindruck - damit einmal ein bisschen thematisch auseinandergesetzt. Inzwischen haben Sie damit gar nichts mehr zu tun. Am Montag hat sich in diesem Bundestag eine Enquete-Kommission zu dem Thema Wachstum konstituiert, wo auch von Ihnen, Herr Präsident Lammert, durchaus kritische Töne in Bezug auf die Frage unserer Wachstumsabhängigkeiten angeschlagen wurden. Ich hoffe sehr, dass Ihre Vertreterinnen und Vertreter in dieser Enquete-Kommission nicht nur reine Lippenbekenntnisse abgeben, sondern dass es ihnen tatsächlich darum geht, dass wir anerkennen, auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen zu leben, der 2050 eine Weltbevölkerung von 9 Milliarden Menschen haben wird. Diese Weltbevölkerung wird wohnen wollen, sie wird arbeiten wollen, sie wird sich ernähren wollen, und sie wird Mobilität haben wollen. Wenn wir aus deutscher Sicht heraus wirtschaftspolitisch denken, dann wird es mit unsere Aufgabe sein, hier Lösungen für diese Herausforderungen zu finden. Das ist aus weltpolitischer Sicht richtig, das ist aus nationaler Sicht richtig, und das ist aus umweltpolitischer Sicht richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wenn Sie hier vorangehen, haben wir ein bisschen mehr als die Prosa in diesem Jahreswirtschaftsbericht. Ich komme jetzt zur Haushalts- und Finanzpolitik. Sie muss ja seriös sein, um für wirtschaftliche Stabilität sorgen zu können. Dieses Klein-Klein, das Sie uns in den letzten Tagen bei der Steuervereinfachung geliefert haben, ist schon echt ein Hammer. Da haben Sie jetzt durch die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags pro Monat 1,95 Euro für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer herausgeholt. Zwischenzeitlich hat die FDP wegen dieser Nummer mit dem Koalitionsbruch gedroht. Ich frage mich, was Sie eigentlich tun werden, wenn Sie einmal ernsthafte und große Probleme angehen. Was wird dann mit Ihrer Koalition los sein? Sie haben bei dieser Geschichte den Finanzminister demontiert. Sie feiern sich jetzt für 80 Euro Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags. Sie haben die Koalition infrage gestellt. Es ist lächerlich, was Sie hier geliefert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Noch einmal zur Krise. Diese Krise hat Deutschland laut IWF 115 Milliarden Euro gekostet. Folgekosten der Wirtschafts- und Finanzkrise: 115 Milliarden Euro. Wir haben eine Schuldenquote von 80 Prozent. Sie müssen uns irgendeine Antwort liefern, wie Sie hier herauskommen wollen. Die Antworten, die Sie liefern, haben überhaupt keine Substanz. Das Einzige, was Ihnen wieder einfällt, sind Steuersenkungen. Ich frage mich manchmal - diese Frage richte ich auch an die FDP -: Wundern Sie sich eigentlich noch, warum Sie bei den Umfragewerten bei 3 Prozent oder meinetwegen vielleicht bei 4 Prozent liegen? (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eher 3 Prozent!) Wundern Sie sich noch darüber? Die Menschen sind viel schlauer als die FDP, und sie sind auch viel schlauer, als die FDP denkt. (Zuruf von der CDU/CSU: Schlauer als die Grünen!) Sie wissen nämlich genau, dass starke Schultern natürlich mehr tragen müssen. Natürlich müssen wir diese Belastungen irgendwie zurückführen. Das wissen die Menschen. Deswegen glauben sie Ihnen diese Steuersenkungsfantasien nicht - unabhängig davon, dass sie es auch gar nicht wollen. Wundern Sie sich also nicht, dass Sie, wenn Sie so weitermachen, bei 4 Prozent landen werden. Uns soll es recht sein. Ehrlichkeit wird belohnt. Ehrlichkeit heißt: Wir sagen, was geht. Wir sagen, was wir zumuten. Sie sind zu feige, den Menschen zu sagen, was notwendig ist. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das wollen wir mal sehen!) Sie erschöpfen sich im lächerlichen Klein-Klein und im Rückwärtsgang. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Jetzt werde ich ein innovatives Beispiel anführen. Wir haben den Jahreswirtschaftsbericht bekommen. Es gab einen Vorläufer. Im Dezember/Januar wurde uns der erste Entwurf zugänglich gemacht. Darin haben Sie über den Fachkräftemangel gesprochen. Der Fachkräftemangel - wir werden nachher noch eine ausführliche Debatte dazu haben - ist einer der Punkte, die in Deutschland tatsächlich absehbar zu einer Krise führen werden. Wir haben im IT-Bereich, bei den Ingenieuren, im Pflegebereich definitiv einen Fachkräftemangel. Sie werden das Problem allein mit inländischen Kräften nicht mehr lösen. Wir sagen Ja zur Bildungsoffensive. Wir sagen Ja zur Frauenförderung. Wir sagen Ja dazu, ältere Arbeitnehmer länger im Job zu behalten. Trotzdem werden Sie sich über die Frage der Zuwanderung Gedanken machen müssen. Ein innovatives Land, ein Wachstumsland, wie es Deutschland ist, ist immer auch ein Einwanderungsland. Wir sind inzwischen ein Auswanderungsland. Was ist passiert? Nichts! Es steht nichts mehr darin! Bayerisch-konservative Ideologie hat sich durchgesetzt. Sie haben gesagt: Zuwanderung wollen wir eigentlich nicht, brauchen wir nicht. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Wo sind hier Ihre Siebenmeilenstiefel? Das ist ein Gänsemarsch, was Sie hier als CDU/CSU und FDP vorführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Völlig absurd, was Sie erzählen!) Jetzt komme ich noch zur Rohstoffstrategie. Wir haben von Ihnen, auch von anderen Rednern hier, gehört, dass für unsere Wirtschaft ein ganz großes Problem der Zugang zu bezahlbaren Rohstoffen und Ressourcen ist. Wir haben vor einigen Wochen die Rohstoffstrategie der Bundesregierung diskutiert. Ich sage Ihnen: Es ist ökologisch, aber auch wirtschaftlich überhaupt nicht rational, wenn wir das, was wir haben, nicht nutzen und stattdessen eine reine Beschaffungsstrategie fahren. Wo sind Ihre Vorschläge zur Kreislaufwirtschaft, zu Recycling, zu vernünftiger Materialeffizienz, zu Ressourceneffizienz? Dazu kommen keine Vorschläge! Heute - das muss man sich einmal vorstellen! - werden gerade einmal 50 Prozent des Schrotts in Recyclingprozessen aufgearbeitet. Das heißt, bei 50 Prozent geschieht das nicht. Ich will einen Wirtschaftsminister haben, der sagt: Ich gehe bei der Kreislaufwirtschaft voran. Ich mache mir hierzu Gedanken. - Aber nein, wir haben eine Beschaffungsstrategie und überlegen uns, wie wir in anderen Ländern, vielleicht sogar verknüpft mit der Zusage von Entwicklungshilfe, an Rohstoffe herankommen. Kurzfristig, kurzsichtig, falsch gedacht! Sie haben nicht die Erkenntnis, dass wir Umwelt und Ressourcen schonen müssen. Wenn wir es nicht tun, dann verbauen wir Chancen der Zukunft, und das wollen wir nicht. Sie betreiben eine völlig falsche Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum Schluss. Allein auf Wachstum zu setzen, reicht nicht aus. Sie brauchen Zukunftsinvestitionen und richtige institutionelle Reformen. Sie müssen auch einmal einen Vorschlag machen, der zu Diskussionen führt, und sagen: Das muten wir euch zu. Das ist das, was wir brauchen, um in die Zukunft zu gehen. - Sie brauchen eine seriöse Finanz- und Haushaltspolitik. Vor allem brauchen Sie das Verständnis, dass Deutschland sich in Europa befindet, dass wir in einer Wirtschafts- und in einer Währungsunion sind. Der Großteil der Reden, die wir von der Koalitionsseite gehört haben - bis auf wenige Ausnahmen -, hatte eine nationale Sichtweise. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nationales Parlament, Frau Kollegin!) Sie verstehen nicht einmal mehr, dass es notwendig ist, Europa zu stabilisieren, auch aus einem nationalen Interesse. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Europa zu stabilisieren, ist natürlich im europäischen Interesse. Das ist auch ein zutiefst grünes Interesse. Wenn Sie hier sagen: "Die Krise ist ausgestanden", dann haben Sie es nicht verstanden. Das macht uns Sorgen. Ich hoffe, dass Sie noch zu neuen Erkenntnissen gelangen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man so positive Zahlen verkünden kann wie heute der Bundeswirtschaftsminister und Kollegen, dann ist dieses einfach erfreulich. Dass man das so zerredet, wie das der eine oder andere Kollege hier getan hat, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Lieber Kollege Brüderle, Sie haben eben gesagt, Herr Steinmeier sei die Insel der Vernunft. Ich habe das Gefühl: Er ist im Hochwasser untergegangen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lacht nicht mal einer von Ihnen!) Wenn ich mir vergegenwärtige, was Sie, Herr Steinmeier, gesagt haben, dann frage ich mich, ob Sie in der gleichen Welt leben wie wir. Wenn ich letztes Jahr 3,6 Prozent Wachstum vorausgesagt hätte, hätten Sie mich schlicht für verrückt erklärt. Wir werden dieses Jahr ein Wachstum von 2,3 Prozent haben. Als wir noch gemeinsam regierten, haben wir gedacht, wir würden für das Jahr 2010 eine Neuverschuldung von circa 80 Milliarden Euro haben. Im Steinbrück'schen Haushalt war eine Neuverschuldung von 86 Milliarden Euro vorgesehen. Wir sind dank der vernünftigen Haushaltspolitik unseres Bundesfinanzministers Schäuble bei 44 Milliarden Euro gelandet. (Thomas Oppermann [SPD]: Und unseres Konjunkturprogramms!) Das müssen Sie doch einmal registrieren; das können Sie doch nicht einfach wegdiskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Als Sie mit Herrn Schröder noch im Kanzleramt saßen, Herr Steinmeier, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Jetzt sind wir auf dem Weg, unter 3 Millionen zu kommen. Im Jahreswirtschaftsbericht gehen wir davon aus, dass der Durchschnitt für dieses Jahr bei 2,9 Millionen liegen wird. Auch das ist eine ausgesprochen positive Zahl. Herr Gysi, diese Zahlen zeigen, dass wieder mehr Menschen in Lohn und Brot stehen, dass sie Chancen am Arbeitsmarkt haben und dass sie wieder mitmachen können. Das kann man nicht so zerreden, wie Sie es getan haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was meinen Sie, wie froh diese Leute darüber sind, dass sie wieder die Chance haben, Arbeit zu bekommen. Es passiert in diesem Bereich eine ganze Menge. Obendrein handelt es sich um Arbeitsplätze, die in industriellen Sektoren entstanden sind, also in den Bereichen, in denen Deutschland stark ist. Ich sage Ihnen noch eines: Ich bin verdammt froh, dass wir in Deutschland eine so gut funktionierende Industrie haben, die komplett durchorganisiert ist. Mein Deutschlandbild ist das Bild von einem Industrieland und nichts anderes. Ich bin auch froh, dass bei uns immer noch über 35 Prozent der Arbeitsplätze in der Industrie zu finden sind. In England beträgt der Anteil gerade noch 7 Prozent. Was meinen Sie, wie uns die Engländer um unsere industriellen Arbeitsplätze - bei denen es sich im Wesentlichen um hochbezahlte Arbeitsplätze handelt - beneiden! Ich möchte nicht, dass in Deutschland 27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an Orten wie dort der City of London erwirtschaftet werden. Da ist mir unsere Struktur wesentlich lieber. Wir müssen alles daransetzen, dass diese Struktur erhalten bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben etwas dafür getan. Wir sind nach wie vor Vizeexportweltmeister. Wir haben aber auch ein riesiges Importvolumen. Wir kaufen sowohl in den Industrieländern als auch in den Schwellenländern ein. Es ist also ein Gutteil Entwicklungshilfe mit dabei. Das ist positiv. Das Wirtschaftswachstum hat zum Teil auch den Binnenmarkt beeinflusst. Der Handel hat mitgeteilt, dass er das beste Weihnachtsgeschäft aller Zeiten verzeichnen konnte. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Das heißt auch - Herr Gysi, das sollten Sie sich merken -, dass Geld in den Taschen der Bürger vorhanden ist; denn sonst hätten sie im Weihnachtsgeschäft nicht so intensiv einkaufen können. Wir haben dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Das bedeutet, dass wir uns weiter um die Preisstabilität kümmern müssen. Diese war im letzten Jahr erfreulich niedrig. Eine Inflation in Höhe von 1,1 Prozent ist eine Zahl, die auch Sie, lieber Herr Steinmeier, zur Kenntnis nehmen sollten. Diese positive Entwicklung sollte man nicht wegdiskutieren. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Die Zahlen hat keiner dementiert!) Diese positive Entwicklung hat damit zu tun, dass in Deutschland Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen einen guten Job gemacht haben. Dafür können wir dankbar sein. Die Politik hat die richtigen Weichen gestellt. Dass wir am Anfang des letzten Jahres für eine Entlastung von circa 24 Milliarden Euro gesorgt haben, hat dazu geführt, dass die Kaufkraft gestärkt wurde. Das hat dazu geführt, dass der Binnenmarkt und speziell der Einzelhandel erstmalig wieder signifikant gewachsen sind, was in den Jahren zuvor leider nicht der Fall war. Ich gehe davon aus, dass wir diese Krise überwunden haben, Frau Andreae. Sie sagen, das stimme nicht. Natürlich stimmt das. Wir sind Gott sei Dank jetzt in der Lage, die Krisenmechanismen zurückzufahren. Zum 31. Dezember 2010 haben wir den "Wirtschaftsfonds Deutschland" geschlossen. Sie wissen genau, dass wir 115 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hatten. Diese Summe wurde allerdings bei weitem nicht in Anspruch genommen. In der Spitze waren es nur 14,2 Milliarden Euro. Das zeigt, dass die deutsche Wirtschaft auf der Kreditseite gut durch die Krise gekommen ist. Sie ist jetzt so erfolgreich, dass wir diesen Mechanismus zurückführen können. Darauf können wir stolz sein. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat genauso wie das noch gemeinsam - ich bin da ehrlich - beschlossene Bürgerentlastungsgesetz zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. Das waren richtige Entscheidungen. Dass es in Deutschland jetzt gut läuft, ist Schwarz-Gelb und unserer Koalition zu verdanken. Wie es denn laufen kann, wenn eine rot-grüne Koalition regiert, sehen wir in NRW. Da hat Ihnen das Landesverfassungsgericht bestätigt, dass der Haushalt nicht verfassungskonform ist (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: WestLB!) und hat Ihnen per einstweiliger Verfügung untersagt, diesen Haushalt zu exekutieren. Blamabler geht es nicht. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vorwurf geht so was von nach hinten los!) Noch schlimmer ist es in meinem Heimatland. Ich zitiere aus dem Bericht des sozialdemokratischen Präsidenten des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch Rheinland-Pfalz nicht schlecht!) der Folgendes gesagt hat - diese Entwicklung in Rheinland-Pfalz macht mir Sorge -: Dem Land droht der Verlust der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit. Und weiter: Demnach überschreiten die jährlichen Kreditaufnahmen die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze zum Teil erheblich. Da, wo Sozialdemokraten regieren, funktioniert es nicht. Da funktioniert weder der Haushalt noch die Wirtschaftsförderung oder die Investitionen - die Investitionsquote ist von allen Flächenländern in Rheinland-Pfalz die niedrigste überhaupt. Das ist sozialdemokratische Politik, und die läuft fehl. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Was Christdemokraten hinterlassen, haben wir 1998 gemerkt!) Bei Ihnen funktioniert es auch deswegen nicht, weil Sie sich permanent in einer Dagegen-Mentalität bewegen, weil Sie mehr oder weniger gegen alles sind. Wenn ich mir überlege, dass wir auf der einen Seite von den Grünen hören, wir brauchten mehr erneuerbare Energie, aber dann in den Ländern gegen Leitungsnetze demonstriert wird, die wir dringend brauchen, um die erneuerbaren Energien dahin zu bringen, wo sie gebraucht werden, dann ist das einfach traurig. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An der Spitze der Oberbürgermeister vor Ort!) - Frau Andreae, das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Vielleicht sollten Sie - bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie diesen wirtschaftspolitischen Sachverstand zumindest partiell noch haben - einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern reden, dass sie endlich diese Einstellung aufgeben, (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie mal mit Ihren Kollegen!) dass sie dafür sorgen, dass dort die Netze ausgebaut werden können, und sich nicht überall dagegen wenden. Das Dagegen ist ja nun zum - ich sage einmal - Signum Ihrer Politik geworden. Sie werden damit am Ende des Tages nicht durchkommen, weil die Bevölkerung irgendwann merkt, dass Wachstum nicht mit einer Dagegen-Haltung funktionieren kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es kann auch nicht so funktionieren - wie Sie offenbar der Meinung sind -, dass wir überall ein wenig mehr an Steuern kassieren. Frau Andreae, Sie wollen mit Ihrer Vermögensabgabe, von der Sie eben selbst gesprochen haben, 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren von den Vermögenden einkassieren - netto 20 Prozent wegnehmen. Das ist konfiskatorische Politik, das wird mit uns nicht funktionieren. Bei Ihnen ist das so ähnlich: wieder die Vermögensteuer! Sie haben alle den Halbteilungsgrundsatz, den uns das Verfassungsgericht einmal aufgeschrieben hat, vergessen. Das kann ich ja verstehen. Zur Vergesslichkeit neigen die einen oder anderen, weil das in der Politik einfacher ist. Aber merken Sie sich das: Mehr als 50 Prozent geht nicht, und wir sind verdammt nahe dran. Es ist auch heute schon so, dass die berühmten breiten Schultern jede Menge zu tragen haben. Die obersten 10 Prozent der Einkommensteuerzahler zahlen rund 53 Prozent der gesamten Einkommensteuer, Herr Gysi. Die obersten 25 Prozent zahlen über 75 Prozent, und die untersten 30 Prozent der Einkommensteuerzahler zahlen lediglich 0,3 Prozent der Einkommensteuer. Mit anderen Worten haben wir da schon eine gewaltige Umverteilung, die man doch nicht wegdiskutieren kann. Das muss in diesem Haus auch immer wieder gesagt werden. Sie machen sich das zu einfach. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit so viel Populismus werden Sie auch nicht durchkommen. Wir werden alles daransetzen, dass wir in Deutschland eine vernünftige Politik machen, die unsere Wirtschaft und unsere Industrie erhält. Wir werden dafür sorgen, dass Energie zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung steht. Ich finde es richtig, wenn der Bundesumweltminister die Exzesse bei der Photovoltaik zurückfährt. Es kann nicht sein, dass in einem Bereich rund 48 Prozent der Subventionen aus dem EEG ankommen, aber nur 8 Prozent des Stroms erzeugt wird. Das ist Photovoltaik. Das sind Fehlentwicklungen, die wir jetzt schnell korrigieren, weil das nicht sein darf. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt anführen, der mir sehr wichtig ist: Es ist so, dass wir als Bundesrepublik Deutschland, als Industrieland Deutschland sehr vom Export abhängen. Leider sind die Tendenzen, die zurzeit im internationalen Sektor zu spüren sind, negativ. Sie sind deswegen negativ, weil überall Free Trade Agreements, bilaterale Handelsabkommen, geschlossen werden. Das ist eine Tendenz, die für uns sehr ungünstig ist, schon gerade deswegen, weil wir viele kleinteilige Exporte haben, weil mittelständische Unternehmen im Export sind, und die können sich nicht in jedem Land nach den unterschiedlichen Richtlinien ausrichten. Das ist zu kompliziert und kostet sehr viel Geld. Wir sollten alles daransetzen, Herr Wirtschaftsminister, dass wir die Doha-Runde wieder in Gang bringen, dass dort weiterverhandelt und mit den Amerikanern gesprochen wird, die für mich zurzeit die größten Bremser auf diesem Sektor sind. Wir sollten alles daransetzen, dass wir Multilateralismus wieder Einzug halten lassen. Ich bitte Sie, dass Sie sich auch mit der WTO, mit Pascal Lamy, intensiv zusammensetzen, um so schnell wie möglich wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukommen. Ich halte dies für dringend notwendig; denn anderenfalls werden wir im Export Schwierigkeiten bekommen. Das, was da so läuft, wenn Amerikaner heute sagen, sie hielten es auch mit bilateralen Abkommen sehr gut aus, weil ihre Volumina so groß seien, dass sie auf großflächige internationale Abkommen nicht angewiesen seien, darf nicht so weitergehen. Wir müssen in diesem Jahr dafür sorgen, dass der Multilateralismus so schnell wie möglich wieder Einzug hält. Helfen Sie alle dabei mit! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Weil Sie, Herr Fuchs, davon gesprochen haben, dass man die schöne Frage, wem der Aufschwung gehöre, ein bisschen nüchtern betrachten solle, (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Tun wir doch immer!) sollten wir ein paar Dinge miteinander festhalten: Wir alle sind, glaube ich, der Meinung, dass es nach dieser furchtbaren Wirtschaftskrise tüchtige Unternehmer waren, die mitgeholfen haben, dass Deutschland gut durch die Krise gekommen ist, und dass es fleißige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren, die im letzten Jahr übrigens auf viel verzichtet haben. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das habe ich, glaube ich, gesagt!) Dass es aber auch etwas mit Strukturreformen der rot-grünen Bundesregierung zu tun hat - das hat ein Teil Ihrer Regierung anständigerweise einmal anerkannt gehabt - und dass es etwas mit dem Krisenmanagement in Zeiten der Großen Koalition zu tun gehabt hat, mit Kurzarbeitsregelungen und Konjunkturprogrammen zum richtigen Zeitpunkt, das wissen Sie, Herr Fuchs, und das weiß ich. Der Einzige, der das nicht sagt, ist Rainer Brüderle. Herr Brüderle, Sie benehmen sich hier wie ein Pressesprecher des Statistischen Bundesamtes. Sie verkünden Zahlen, für die Sie überhaupt nichts können. Sie sind aber nicht Pressesprecher des Statistischen Bundesamtes, sondern Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb hat Frank-Walter Steinmeier vollkommen recht: Ihre Aufgabe ist es nicht, hier Zahlen abzufeiern, für die Sie nichts können, sondern Ihre Aufgabe ist es, Deutschland zu sagen, wie wir aus diesem Aufschwung einen dauerhaften Fortschritt machen können, der bei den Menschen auch ankommt. Das ist Ihre Aufgabe. (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Jörg van Essen [FDP]: Das hat er doch getan! Da haben Sie wieder einmal nicht zugehört!) Herr Brüderle, wo ist denn die Fachkräftestrategie, die notwendig ist, damit wir keinen gespaltenen Arbeitsmarkt in Deutschland bekommen? Unternehmen beklagen sich in manchen Branchen und Regionen - Frau Andreae hat darauf hingewiesen - jetzt schon über Fachkräftemangel, während auf der anderen Seite immer noch 3 Millionen Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit abgehängt sind. Wo sind denn Anstrengungen der Bundesregierung für eine Bildungsoffensive, die dazu führt, dass wir kein Kind zurücklassen, dass nicht 65 000 Jugendliche Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Abschluss verlassen und dass nicht weiterhin 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erstausbildung dastehen. Wo sind denn da Ihre Antworten? Herr Brüderle, Sie haben in Ihrer Amtszeit genau zwei Dinge in der Koalition durchgesetzt: erstens die berühmte Hotel-Mehrwertsteuer und zweitens eine Energiepolitik zugunsten von Oligopolen und Monopolen großer Konzerne und zulasten des Wettbewerbs. (Bettina Hagedorn [SPD]: Zulasten der Stadtwerke!) Das ist die Bilanz des Wirtschaftsministers Rainer Brüderle. Sie sind nicht zukunftsfähig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Brüderle, Sie haben sich vorhin, weil es irgendwie zur Folklore Ihrer Partei gehört, über den Mindestlohn geäußert. Ich sage Ihnen einmal, warum ich der festen Überzeugung bin, dass Sie sich auch mit Frau von der Leyen einmal länger über die Entwicklung in ihrem Haushalt unterhalten sollten. Wir geben als Steuergeld, Herr Fuchs, Jahr für Jahr 11 Milliarden aus dem Bundeshaushalt allein für aufstockende Arbeitslosengeld-II-Leistungen aus. Das heißt, wir nehmen den Steuerzahlern 11 Milliarden Euro weg, um Armutslöhne in diesem Land aufzustocken. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Nein!) - 11 Milliarden Euro im Bundeshaushalt! Wenn das so weitergeht, dann kommen wir zu staatlicher Lohnbewirtschaftung. Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun. Das ist der Grund, warum wir sagen, Herr Brüderle: Wir wollen im Sinne der arbeitenden Menschen und einer sozialen Marktwirtschaft und im Interesse von fairem Wettbewerb wie in anderen Ländern dafür sorgen, dass Menschen von ihrer Arbeit wieder leben können. Auch wegen der Ordnung der Wirtschaft in unserem Lande brauchen wir Mindestlöhne. (Beifall bei der SPD) Herr Brüderle, in Ihrer Rede hat das Thema der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 vollständig gefehlt. Inzwischen sagt sogar die BDA, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, gegen Ihren Widerstand, dass wir einen Mindestlohn in der Zeitarbeit brauchen, weil wir sonst in die Situation geraten - Sie wissen es -, dass Unternehmen aus Osteuropa, die hier als Zeitarbeitsunternehmen tätig sind, den Wettbewerb in der Zeit- und Leiharbeitsbranche kaputtmachen und gleichzeitig Lohndumping befördern. Sie waren lange dagegen. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht aus. Wir brauchen den Mindestlohn für den Bereich der Zeit- und Leiharbeit; das ist inzwischen fast Konsens, abgesehen von Teilen der FDP. Wir werden den Mindestlohn für die verleihfreie Zeit durchsetzen. Um dem Missbrauch der Zeit- und Leiharbeit entgegenzutreten, ist es aber wichtiger, den Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" für Stamm- und Leihbelegschaft durchzusetzen; Sie werden es begreifen müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich wünsche mir einen Wirtschaftsminister, der mit ökonomischem Sachverstand einfach sagt: Wir wollen Zeit- und Leiharbeit nicht verbieten; sie ist ökonomisch vernünftig, wenn sie, Herr Fuchs, auf den Bereich der Auftragsspitzen von Unternehmen - auf nichts anderes - konzentriert wird. Wir dürfen aber nicht länger zuschauen, wenn die Zeit- und Leiharbeit zum Einfallstor für Lohndumping zulasten der Stammbelegschaft wird. Herr Oswald, ich habe mich lange mit Ihrem Ministerpräsidenten Seehofer über dieses Thema unterhalten; ich habe den Eindruck, er hat angefangen, das zu begreifen. Wir führen an dieser Stelle gerade Verhandlungen. Meine herzliche Bitte ist: Unterstützen Sie Horst Seehofer und überlassen Sie dieses Thema bitte nicht Rainer Brüderle; denn das wäre nicht gut für Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Brüderle, ich bin der festen Überzeugung, dass Sie ein Mensch sind, mit dem man reden kann. Manchmal erinnern Sie mich ein bisschen an den Satz von Johannes Rau, der einmal gesagt hat: Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber als Mensch unersetzlich! Herr Brüderle, ich will sagen: Ich finde Sie menschlich vollkommen in Ordnung; man kann gut mit Ihnen reden. Aber als Bundeswirtschaftsminister sind Sie in dieser Zeit leider eine Fehlbesetzung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Martin Lindner ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Kollege Heil, niemand von uns bestreitet, dass Rot-Grün und Schwarz-Rot vor uns ihren Teil zum Aufschwung beigetragen haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie waren gegen alles!) Ich sage es Ihnen hier ganz klar und ausdrücklich: Die Hartz-Gesetzgebung der damaligen rot-grünen Regierung hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir bei der Erwerbstätigkeit heute so dastehen, wie wir dastehen; das macht Ihnen überhaupt niemand streitig. Das Problem ist, dass sich Ihre Partei selbst von alldem verabschiedet, was sie damals richtigerweise gemacht hat: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie verabschieden sich selbst von der Hartz-Gesetzgebung und von der Rente mit 67. Sie machen nur noch populistischen Dödelkram, seit Sie hier in der Opposition sitzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Wo denn?) Das ist der große Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wir haben die Hartz-Gesetze auch in der Opposition mitgetragen, weil wir sie für vernünftig halten; wir handeln eben nicht heute in der Opposition so und morgen in der Regierung anders, auch wenn es möglicherweise manchmal angesichts der Umfragen wehtut. Kollege Heil und Kollege Steinmeier, es ist eher ein Treppenwitz, dass ausgerechnet Sie sich im Moment in Umfrageergebnissen baden; das muss man einmal ganz klar sagen. Frau Andreae, genießen Sie die Umfragen; ich gönne sie Ihnen von ganzem Herzen. Das gab es schon auf dem Schulhof: die Trainingsweltmeister, die erzählt haben, wie viele Asse sie gestern auf dem Tennisplatz hintereinander geschlagen haben, dass sie die 100 Meter unter 11 Sekunden gelaufen sind. Das Problem war nur: Wenn die Turniere, die Wettbewerbe anstanden, war nichts mehr los. Schauen Sie also einmal, dass Sie Ihre PS auf die Straße bringen und Sie bei den Landtagswahlen, die vor uns stehen, tatsächlich so tolle Ergebnisse haben. Ich darf Sie zum Schluss daran erinnern: Zwischen 1998 und 2002 hatten wir immer wieder super Umfrageergebnisse; die CDU/CSU hatte teilweise absolute Mehrheiten. Dummerweise sah es dann bei der Wahl 2002 ganz anders aus. Frau Andreae, warten wir also ab, wie sich das entwickelt. Kommen wir zurück zum Thema Mindestlohn. Wenn Sie sich einmal mit Unternehmern unterhalten - ich habe es Ihnen schon gestern gesagt -, dann werden Sie sehr schnell feststellen, dass Ihnen Unternehmen beispielsweise aus der Sicherheitsbranche, die sehr für den Mindestlohn sind, auf Nachfrage klarmachen, was passiert, wenn ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird: Genau die Leute, die jetzt für ein Gehalt unter dem Mindestlohn arbeiten, den Sie anstreben, würden wieder freigestellt; man würde dann, so wurde mir gesagt, Schichten zusammenlegen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, das stimmt aber nicht!) Genau diese 1,5 Millionen, die Sie gerade beklagt haben, die vom Staat teilalimentiert werden, die dürfen Sie dann voll alimentieren. Das kann doch keine sinnvolle Politik sein, Kollege Heil, Kollege Steinmeier. Es kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein, dass das die Alternative ist. (Thomas Oppermann [SPD]: In Irland ist das nicht passiert! Bei den Liberalen!) Schauen Sie sich die internationalen Vergleiche an! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Die Länder, die den Mindestlohn haben, wie Frankreich und andere, die sind doch in der Entwicklung der Erwerbstätigkeit alle deutlich hinter Deutschland. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Luxemburg 11 Euro!) - Entschuldigung. Sie können doch eines der größten Industrieländer der Welt nicht mit Luxemburg vergleichen! Das ist doch wirklich völlig abwegig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich meine, was wollen wir hier denn machen? Offshoregesellschaften gründen oder Ähnliches? Das ist doch läppisch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Besonders perfide, Kollege Gysi, ist, dass Sie sich hinstellen und hier sagen, wenn wir den Mindestlohn nicht einführen würden, würde das im Zuge vollständiger EU-Freizügigkeit zu einer Zunahme von Fremdenfeindlichkeit führen. Es ist doch Ihre Partei, die das schürt (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Was?) durch dieses Hetzen gegen den Vertrag von Lissabon, mit den Fremdarbeitersprüchen Ihres ehemaligen Vorsitzenden Lafontaine. Sie, die Linke, und die NPD sind führend in dem Schüren dieser Fremdenfeindlichkeit. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU]) Das ist doch ganz klar. Und dann stellen Sie sich hier hin und beklagen das. Das ist genau das, was gestern auch Frau Wagenknecht im Ausschuss an Ressentiments geschürt hat. Wir haben eine gesunde Entwicklung auch bei der privaten Konsumzunahme, aber, Frau Kollegin Andreae, Sie haben recht. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das finde ich auch!) Ich meine das, was Sie zu den Krisen sagen. Ich meine, ein richtig gestandener Grüner braucht Krisen, sonst fühlt er sich nicht richtig wohl. Das ist auch die Geburtsstunde Ihrer Partei. Krise hier, Krise da. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir wachsam sein müssen, dass gerade die Bewahrung der Euro-Stabilität eine der zentralen Herausforderungen ist. (Zuruf von der SPD: Ich will den anderen Lindner hören!) Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir natürlich auch für die deutsche wirtschaftliche Entwicklung gravierende negative Folgen haben. Deswegen setzt sich diese Bundesregierung so massiv dafür ein, zu verhindern, dass wir eine Transferunion bekommen. Es kann doch niemand hier, der deutscher Volksvertreter ist, das ernsthaft wollen, was da von Ihnen teilweise gestreut wird. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Interessante ist, dass wir schon eine haben!) Sie können doch nicht zulassen, dass in Griechenland mit Mitte 50 in Rente gegangen wird und der deutsche Arbeitnehmer, der bis 67 arbeiten soll, das aus seinem Steuergeld finanzieren soll. Das kann doch keine vernünftige Politik sein. (Beifall bei der FDP) Wahr ist aber, dass wir hier schon gemeinsame Wege, auch gemeinsame Wege wirtschaftlicher Entwicklung, finden müssen. Diese Balance, auf der einen Seite zu Umschuldungsverfahren zu kommen, zu sogenannten Haircuts, zu staatlichen Insolvenzverfahren, und auf der anderen Seite zu sehen, dass wir durch eine zusätzlich integrierte gemeinsame Wirtschaftspolitik Europa stärken und auf jeden Fall verhindern, dass wir hier in eine Renationalisierung in Europa kommen, das, glaube ich, muss auch gemeinsames Ziel und gemeinsame Politik dieses Hauses sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben neben der Haushaltsstabilität, die auch diese Bundesregierung in exzellenter Weise hinbekommen hat, dieses Jahr ein Defizit unter 2,5 Prozent. Das hätte uns am Anfang des vergangenen Jahres niemand zugetraut. Natürlich ist es für uns eine große Herausforderung, dies in einen Kontext mit unserem gemeinsamen Ziel einer Entlastung unserer Bürger bei Steuern und Abgaben zu bringen. Das bleibt unser Ziel, und da ringen wir natürlich miteinander, um dieses Ziel zu erreichen, es den Menschen ein Stück einfacher zu machen, ihre Steuererklärung abzugeben, dass sie sich nicht dauerhaft damit beschäftigen müssen, wie sie dem Staat Steuern entziehen können - legal oder vielleicht sogar illegal -, sondern dass sie einen Weg bekommen, sich weniger damit zu beschäftigen, und dass der Staat auf der anderen Seite solidere Einnahmen hat. Das ist doch auch eine vernünftige Politik. Natürlich ringen wir auch um Entlastungen für die Bürger. Da können Sie sich ja gern über kleine Erfolge lustig machen, aber wenn Sie diesen kleinen Erfolgen einmal gegenüberstellen, was Sie im Unmaß von Steuergier in den letzten Wochen und Monaten - Sie und die SPD - beschlossen haben, dann weiß da draußen doch auch jeder, woran er ist, wenn Sie tatsächlich irgendwann einmal an die Macht kommen sollten: (Joachim Poß [SPD]: Jeder nicht, nur Millionäre!) Wegfall des Ehegattensplittings und dann auch immer Ihre schöne Forderung nach Erhöhung der Spitzensteuer. Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Spitzensteuer entwickelt hat! Sie haben sie gesenkt. Sie haben sie doch gesenkt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kubicki ist auch dafür!) - Ja, aber Sie müssen sich einmal anschauen, wer heute alles Spitzensteuer bezahlt, Herr Kollege Heil. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Satz kann ja später einsetzen!) Das sind doch nicht mehr allein nur Millionäre und Vorstände von DAX-Unternehmen. Zu dieser Gruppe zählt doch mittlerweile jeder Facharbeiter. Das ist es doch. Sie wollen den Leuten in die Tasche greifen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kohl hatte damals recht: Masse bringt Masse. - Das wissen Sie ganz genau. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kohl hatte 53 Prozent!) Sie können nicht von den Steuern der paar Einkommensmillionäre leben. Der Ertrag aus der Reichensteuer liegt bei gerade einmal 400 Millionen Euro. Wenn Sie Masse kassieren wollen, dann machen Sie das auch deutlich. Frau Schwesig hat neulich zusammen mit Herrn Scharping, der ja brutto und netto verwechselt, gesagt, bei 100 000 Euro solle es losgehen. Wir werden Ihnen Ihre Gier um die Ohren hauen, die Sie an den Tag legen, wenn Sie an die Steuersäckel der Bürgerinnen und Bürger wollen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 3 Prozent, Herr Lindner! - Gegenruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: 1,5 Milliarden!) Meine Damen und Herren, wir haben auch im Bereich Forschung und Entwicklung deutlich zugelegt und verzeichnen hier große Erfolge. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Kubicki!) Trotz Haushaltskonsolidierung haben wir die Fördermittel auf 13 Milliarden Euro pro Jahr erhöht. Wir wollen und werden diesen Weg weitergehen, wobei das Thema Fachkräftemangel (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei der FDP!) in einer gesonderten Debatte zu behandeln ist. Wir wollen auch in die Infrastruktur investieren. Sie müssen aber vor Ort mitmachen. Die SPD kann sich nicht immer, wie bei Stuttgart 21, wegdrücken, wenn ihr die Kugeln um die Ohren fliegen, und die Arbeit den anderen überlassen. Sie müssen dann auch mitmachen und zu dem, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben, als Sie in der Regierungsverantwortung waren, auch dann noch stehen, wenn es einmal unangenehm wird. Sonst können Sie keine Infrastrukturpolitik machen. Da wird es immer wieder einmal unangenehm. Es werden immer 20 000, 30 000 oder auch mal 50 000 Menschen auf der Straße demonstrieren. Man kann sich nicht jedes Mal in die Büsche schlagen und sagen: Um Gottes willen, jetzt wird es aber gefährlich, das ist ja eine Massendemonstration. Man muss vielmehr auch dann zu seinen Entscheidungen stehen. Lieber Herr Kollege Steinmeier, Sie haben hier die "Bröckel-Republik Deutschland" reklamiert. Fahren Sie einmal durch Berlin, wo Rot-Rot regiert. Dort können Sie die Schlaglöcher ohne Großcomputer an Bord gar nicht mehr zählen. Daran sehen Sie, welche Infrastrukturpolitik Sie vor Ort machen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Lindner, Sie möchten bitte zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind hier nicht mehr im Abgeordnetenhaus!) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Wo Sie regieren, geht es den Leuten schlechter. Wo wir, wo Schwarz-Gelb regiert, in den Ländern und im Bund, geht es den Leuten besser. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb werden Sie abgewählt!) Das wird an nichts deutlicher als an diesem Jahreswirtschaftsbericht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: "Wege zum Kommunismus" hören wir jetzt!) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, nach so viel Selbstbeweihräucherung sollte man mal wieder auf die Realität zu sprechen kommen. (Beifall bei der LINKEN - Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wege zum Kommunismus!) Auch wenn Sie sich noch so sehr in die Tasche lügen: Dieser Wirtschaftsaufschwung, für den sich diese Regierung hier seit inzwischen zwei Stunden selbst feiert, findet für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land schlicht nicht statt. Er findet genauso wenig statt wie der letzte Wirtschaftsaufschwung 2005 bis 2007. Damals hatte noch eine andere Regierung die Verantwortung getragen; aber über Kontinuität ist hier ja schon mehrfach gesprochen worden. Was wir jetzt haben, ist ein Aufschwung für die Ackermänner, die wieder nach Herzenslust zocken können. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! - Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Für die Millionäre, die in Irland leben und in Deutschland Steuern hinterziehen wollen!) Das ist ein Aufschwung für die Konzerne, die sich schon wieder dumm und dämlich verdienen und trotzdem nicht investieren, und es ist natürlich ein Aufschwung für die Multimillionäre, deren Vermögen in den letzten zwei Jahren explodiert ist, vor allen Dingen auch im Krisenjahr 2009. Dass wir immer wieder Aufschwünge dieser Art bekommen, hat natürlich auch damit zu tun, dass dieses Land seit Jahren mit Regierungen gestraft ist, die von den Ackermännern, von den Konzernen, von den Multimillionären gekauft sind. Das ist das zentrale Problem. Das fing bei Rot-Grün an und hat sich bis heute nicht verändert. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der FDP - Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Reden Sie über sich selber?) Es gab in grauen bundesdeutschen Vorzeiten mal einen Kanzler, der tatsächlich Wohlstand für alle schaffen wollte. Wie fremd Ihnen auch nur dieser Anspruch geworden ist, merkt man daran, mit welcher Selbstgefälligkeit Sie hier eine Situation in den Himmel loben, in der der Wohlstand der großen Mehrheit der Menschen nicht steigt, sondern sinkt. Und das feiern Sie hier auch noch! (Manfred Grund [CDU/CSU]: Hummer für alle, ja?) Wenn in den letzten zwei Jahren in Deutschland 366 000 Industriearbeitsplätze abgebaut werden - davon allein im Jahr 2010 136 000 -, ist das für diese Regierung ein Jobwunder. Wenn die Maschinenbaubranche in Deutschland derzeit 17 Prozent weniger produziert als vor der Krise und die realen Nettolöhne pro Arbeitnehmer sich unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 bewegen, dann feiern Sie das als den größten Wirtschaftsaufschwung der bundesdeutschen Geschichte. Das ist doch absurdes Theater, was Sie hier vorspielen - schlechtes absurdes Theater. (Beifall bei der LINKEN) Die Gefahr ist natürlich groß, dass es noch erheblich schlimmer kommt; das ist schon angesprochen worden. Ab Mai dieses Jahres gibt es in Europa die Arbeitnehmerfreizügigkeit. In eine solche Situation mit einem deregulierten Arbeitsmarkt wie dem deutschen zu gehen - ohne Mindestlohn und mit einem boomenden Leiharbeitssektor, der mit seinen perspektivlosen Hungerlohnjobs schon jetzt immer mehr reguläre Arbeitsverhältnisse verdrängt -, ist doch ein Himmelfahrtskommando! (Beifall bei der LINKEN) Oder es ist eine bewusst kalkulierte neue Runde brutalen Lohndumpings. Wenn es Ihnen darum geht, erzählen Sie uns aber bitte nicht mehr, wie es im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass Sie erwarten, dass der Konsum in diesem Jahr wahnsinnig zulegen wird. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Es wird so sein!) Da fragt man sich schon: Wo soll denn dieser plötzliche Konsumrausch eigentlich herkommen? Von den Beschäftigten, die Anfang des Jahres schon wieder weniger Netto vom Brutto haben? Von den Rentnerinnen und Rentnern, deren Kaufkraft seit Jahren sinkt, weil ihre Renten, wenn sie überhaupt steigen, in geringerem Umfang als die Inflation steigen? Von den lächerlichen 5 Euro pro Monat mehr für Hartz-IV-Empfänger, die Sie ihnen längst schon wieder zehnfach aus der Tasche gezogen haben? Das ist doch das, was läuft! Oder von den Kleinunternehmern, die froh sein können, wenn sie vom Kreditgeiz der Banken noch nicht in die Pleite getrieben wurden? - Da soll Ihr Konsumrausch herkommen? Das ist doch absurd! Die Konjunktur des letzten Jahres wurde nahezu ausschließlich vom Export und von den Staatsausgaben getragen. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Lesen bildet! Die Zahlen sind andere!) Beides wird sich nicht fortsetzen. Die Bestellungen aus dem Euro-Raum sind bereits eingebrochen; schon Ende letzten Jahres sind sie eingebrochen, und das ist auch kein Wunder. Und von einer Ausweitung öffentlicher Ausgaben kann angesichts überschuldeter Kommunen und angesichts von Spardiktaten in Bund und Ländern sowieso keine Rede sein. Wenn Export und Binnennachfrage in so einer Situation die, wie Sie im Jahreswirtschaftsbericht schreiben, stabilen Säulen bzw. stabilen Standbeine dieses Aufschwungs sein sollen, dann heißt das nichts anderes, als dass der Aufschwung auf verdammt tönernen Füßen steht. Wenn Sie wirklich wollen, dass sich der Binnenmarkt erholt, dann müssen Sie einen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde einführen. (Beifall bei der LINKEN) Erzählen Sie nicht immer wieder diesen elenden Quatsch, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden. Durch Einführung eines Mindestlohns wurden weder in Frankreich noch in Großbritannien noch sonst wo Arbeitsplätze vernichtet, sondern Arbeitsplätze geschaffen. Verbieten Sie das Lohndumping via Leiharbeit, und erhöhen Sie den Hartz-IV-Satz auf 500 Euro. (Holger Krestel [FDP]: Nein! Lieber gleich auf 600 Euro! - Dr. Daniel Volk [FDP]: Ach was! 700 Euro! Alles kein Problem!) Das ist das Mindeste, was ein Mensch zum Leben braucht. Sie alle könnten davon wahrscheinlich gar nicht leben. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wie viel Hummer würde sich die Frau Wagenknecht wohl davon kaufen? - Holger Krestel [FDP]: Kaschmirpartei!) Sorgen Sie vor allem dafür, in Deutschland und in Europa, dass die explodierenden Staatsschulden denen in Rechnung gestellt werden, die sie verursacht haben, und nicht der Bevölkerung. Dafür sollten Sie sich einsetzen, statt immer mehr Länder in die Depression zu treiben und zugleich immer größere Risiken beim deutschen Steuerzahler abzuladen. Das ist verantwortungslos. (Beifall bei der LINKEN) Abschließend möchte ich Ihnen sagen: So wie ich Sie, Herr Brüderle, bei Ihrer Regierungserklärung und die Vertreter der Regierungsparteien hier erlebt habe, hatte ich das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis. Die Art und Weise, wie Sie die wirtschaftliche Realität wegreden, wie Sie Instabilität und Krisenanfälligkeit wegreden und den Leuten heile Welt vorspielen, und die Selbstgefälligkeit, die Sie zur Schau tragen, (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das alles müsste Ihnen doch eigentlich gefallen! Ganz wie in der DDR!) erinnert mich - das muss ich sagen - wirklich sehr an die letzten Ausgaben der DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera. Das ist das Niveau, auf dem Sie inzwischen angekommen sind. (Beifall bei der LINKEN - Holger Krestel [FDP]: Dass Sie sich daran noch gut erinnern können, liegt wahrscheinlich daran, dass diese Sendung die einzige ist, die Sie damals geguckt haben! Sie haben das doch alles geglaubt! - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So eine Frechheit!) Man kann sich nur wünschen, dass die Menschen Ihnen dafür bei den anstehenden Wahlen eine angemessene Quittung verpassen werden. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Herr Brüderle, Sie jubilieren über die Wachstumszahlen der letzten Monate. Ich glaube zwar nicht, dass dies größtenteils Ihr Verdienst ist; aber es sei Ihnen gegönnt, zu jubilieren (Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Der springende Punkt der heutigen Debatte ist jedoch die Frage, welche Weichen Sie für die Zukunft stellen. Sie als Politiker haben nicht die Aufgabe, die Vergangenheit zu beobachten. Sie haben die Aufgabe, die Zukunft zu gestalten und Warnsignale rechtzeitig wahrzunehmen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir doch!) Ein Warnsignal haben Sie, wie ich glaube, selbst erkannt. Herr Pfeiffer, Sie sprachen von steigenden Energiepreisen. Herr Brüderle, Sie haben gestern in der SZ, weil Sie sich um die steigenden Benzinpreise Sorge machen, gefordert, Benzin solle von Discountern verkauft werden. Sie haben argumentiert: Wenn es ein größeres Angebot gäbe, dann würden die Preise fallen. (Holger Krestel [FDP]: Ja! Es geht um mehr Wettbewerb!) Aber leider habe ich den Eindruck, dass Sie an der Stelle die Marktwirtschaft nicht ganz verstanden haben. Denn nur weil Benzin von Discountern verkauft wird, ist natürlich auf dem Weltmarkt nicht ein größeres Angebot an Rohöl vorhanden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier haben wir eine ganz entscheidende Alarmlampe, deren Leuchten Sie sehen und wahrnehmen müssten und worauf Sie mit Ihrer Politik reagieren müssten. Es ist wenige Jahre her, da gingen die allermeisten davon aus, dass der Ölpreis noch über Jahrzehnte bei 30 Dollar pro Barrel bleiben würde. Die Hochpreisszenarien gingen von 60 Dollar aus, und es wurde gesagt, das sei richtig teuer und ein richtiges Problem für unsere Wirtschaft - so hieß es damals. Die ganzen letzten Tage lag der Ölpreis bei über 90 Dollar pro Barrel - 60 Dollar sind schon ein Problem -, aber es hat sich an Ihrer Politik seit den Tagen, als er bei 30 Dollar lag, nichts verändert. Es hat sich nichts geändert in dem Sinne, dass Sie mit einer Effizienzstrategie für mehr Effizienz gesorgt hätten. Aber genau das müsste im Interesse der Wirtschaft passieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bleiben wir bei dem Beispiel Auto. Es gibt gerade die Anstrengungen, ein Effizienzlabel einzuführen. Das gibt es auf deutscher und auf europäischer Ebene. Im Wirtschaftsausschuss wurde ganz offen und unverhohlen klargestellt, dass die Regierung nur ein Interesse daran hat, deutsche Autos zu fördern, nicht etwa effiziente Autos. Es ist Ihnen also völlig egal, ob die Autos effizient oder ineffizient sind. Hauptsache, die deutschen Autos kommen gut dabei weg. Das führt dazu, dass letztlich jemand, der eine Bleiplatte unter sein Auto schraubt, nach den Vorstellungen, die Sie einbringen, mit seinem Auto in eine bessere Effizienzklasse kommt. So kommen wir nicht voran. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte unsere Autos fit für die Zukunft machen. Ihre Regierung geht davon aus, dass sich die Zahl der Autos weltweit bis 2030 verdoppeln wird. Glauben Sie ernsthaft, dass wir die Rohölproduktion bis 2030 werden verdoppeln können? Sie können über Peak Oil glauben, was Sie wollen. Fest steht, wir werden die Produktion nicht verdoppeln. Wem wollen Sie dann die Autos verkaufen, wenn Sie heute für die Industrie Anreize schaffen, Spritfresser zu bauen? Wem wollen Sie dann in Zukunft die Autos verkaufen? Ich weiß, dass Sie die heutigen Wirtschaftszahlen im Kopf haben, aber denken Sie doch auch an die Zukunft. Jetzt möchte ich noch zu dem Thema kommen, um das es hier geht, nämlich den Jahreswirtschaftsbericht. Sie leiten den Energieteil mit der Behauptung ein, das Energiekonzept der Bundesregierung sei der Weg in eine Zukunft mit erneuerbaren Energien. Das ist der Hohn. Eigentlich ist das gelogen, aber ich fürchte, Sie wissen an der Stelle einfach nicht, was Sie tun. Ihr Energiekonzept basiert auf Zahlen, nach denen der Ausbau von Windanlagen an Land über die nächsten zehn Jahre im Vergleich zu dem, was wir die letzten zehn Jahre hatten, gedrittelt wird. Eine Drittelung des Ausbaus ist nicht der Weg in die Zukunft der erneuerbaren Energien, das ist das Gegenteil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Konkret wird Ihr Konzept lediglich beim Thema Atom, ansonsten fehlt es an Maßnahmen. Auch in einem anderen Punkt ist der Jahreswirtschaftsbericht entlarvend: Er enthält einen Kasten "Ziele, Maßnahmen und Überwachung". In dem ganzen Kasten steht nicht eine einzige Maßnahme, und das charakterisiert Ihr Energiekonzept, dass nämlich keine Maßnahmen darin enthalten sind, nur Ziele und Konkretes zum Thema Atom. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Da ja unter anderem von Herrn Fuchs das Thema Netzausbau angesprochen worden ist, noch ganz kurz dazu: Ich gebe Herrn Steinmeier recht, dass es die Bundesrepublik nicht voranbringt, sie in eine Dafür- und eine Dagegen-Ecke zu teilen. Aber an dieser Stelle muss ich das doch korrigieren. Beim Stromnetzausbau ist die CDU/ CSU die Dagegen-Partei, die Dagegen-Partei sind Sie! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU]) Wir können über die Leute reden, die vor Ort für oder gegen Stromleitungen sind. Zig Landräte der Union kämpfen zum Beispiel gegen Stromleitungen. Aber reden wir doch hier im Bundestag darüber, was wir auf Bundesebene machen. Und da haben wir letzte Woche ein Stromnetzkonzept vorgelegt, das deutlich detaillierter ist als alles, was Sie haben, das deutlich konkreter wird als all das, was Sie vorlegen, und in dem wir uns klar zum menschenfreundlichen Ausbau der Stromnetze bekennen. Sie dagegen blockieren seit Jahren den Ausbau der Stromnetze, weil Sie bis heute den generellen Vorrang der Erdverkabelung vor neuen Hochspannungsleitungen nicht akzeptieren und den Ausbau der Erdkabel blockieren. Dagegen wehren Sie sich, dagegen haben Sie sich immer gewehrt. Sie akzeptieren auch nicht den generellen Vorrang der Teilverkabelung bei neuen Höchstspannungsleitungen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Sie blockieren das bis heute, wie Sie es schon seit unseren Regierungszeiten gemacht haben. Sie haben damit jede Menge Stromleitungen verhindert, die es heute schon geben könnte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie sind die Dagegen-Partei, die Neinsager-Partei. Herr Brüderle, ich freue mich, dass Sie unser Konzept zur Kenntnis genommen und auch gelesen haben. Sie haben es ja gestern in der Presse kommentiert. Sie haben aber nur einen Punkt herausgegriffen und gesagt, wir wollten mehr Verstaatlichung, Sie dagegen wollten mehr Wettbewerb. Ja, nennen Sie es ernsthaft Wettbewerb, wenn Sie verhindern, dass Netz und Erzeugung getrennt werden? Das Netz ist ein natürliches Monopol, bei dem es im Moment überhaupt keinen Wettbewerb gibt. Sollen diese Netze angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent der Stromerzeugung bei nur vier Unternehmen liegen, bei den Erzeugern bleiben? Nennen Sie es Wettbewerb schaffen, wenn Sie zulassen, dass dieses Monopol in den Händen der Großkonzerne bleibt? Vor diesem Hintergrund ist es nicht fair, uns vorzuwerfen, wir würden hier nicht für Wettbewerb eintreten. Wir haben Ideen dafür vorgelegt, wie man im Stromsektor - unter anderem im Ausschreibungsverfahren - mehr Wettbewerb schaffen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sind bei den Stromnetzen die Dafür-Partei, Sie sind die Dagegen-Partei. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das nimmt Ihnen keiner ab!) Sie wehren sich an dieser Stelle, und ich hoffe, dass Sie hier mit etwas mehr Ehrlichkeit in die Zukunft gehen; denn auch das ist für unsere Demokratie notwendig. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kollegin Nestle, wenn wir gegen etwas sind, dann gegen dieses industrie- und energiepolitische Harakiri, das Sie uns hier ständig anbieten. Es ist unglaublich, was Sie uns hier auftischen wollen, (Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist natürlich schrecklich für Sie!) wie Sie hier mit ideologisch gefärbten Fantasien versuchen, uns weiszumachen, dass man schon morgen ohne Verwerfungen und ohne Probleme in das Zeitalter der regenerativen Energien einsteigen könnte, und dass Sie immer dann, wenn es zum Schwur kommt und wir sagen, wir müssen auch mit Blick auf die Preissituation an der einen oder anderen Stelle eingreifen und etwas ändern, wieder dagegen sind. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind dafür!) Das werden wir demnächst wieder erleben. Ich bin mir sehr, sehr sicher, dass uns das wieder blühen wird, dass Sie dagegen sind und sagen: Nein, nein, 100 Prozent erneuerbare Energie ist möglich. - Das mag stimmen, aber natürlich nicht zu Konditionen, die wirtschaftlich sind und durch die unser Industriestandort vorangebracht wird. Liebe Kollegin Wagenknecht, (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: "Liebe" streichen!) am meisten treibt mich die Definition von Armut um, die Sie uns hier immer wieder auftischen. Die ist einfach unglaublich. Informieren Sie sich doch einmal, was die Länder um uns herum unter Armut verstehen und wie sie unser Sozialsystem einschätzen. Dann kommen Sie nämlich zu einem ganz anderen Befund als dem, den Sie hier vortragen. Ich weiß aber, dass Sie das nicht interessiert und dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben wie viele Ihrer Kommunistenfreunde - Lafontaine in der Villa, Ernst im Porsche - ein besonderes Verhältnis zum Vermögen. Ihre Brillanten, die mich vorhin geblendet haben, als Sie hier vorne standen, sind auch verräterisch. Dadurch zeigen Sie, wie Sie über diese Thematik denken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dass Sie dann auch noch die Statistiken komplett anzweifeln, mag ja vielleicht an Ihrer Erfahrung mit der ehemaligen DDR liegen, wo die Statistiken in der Tat gefälscht waren. Dadurch zeigt sich Ihr besonderes Verhältnis zur Statistik und im Übrigen auch zur Stasi. (Zurufe von der LINKEN) Dazu werden wir in der nächsten Zeit von Ihrer Seite ja auch noch einiges hören. Es ist eine unglaubliche Dreistigkeit, mit der Sie sich regelmäßig hier an dieses Rednerpult stellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Dreistigkeit unseres Altkanzlers Gerhard Schröder ist mir da deutlich lieber. Dadurch wird mir schon wieder ein gewisses Maß an Respekt abgenötigt. Direkt nach der Kanzlerwahl hat er verkündet: "Das ist mein Aufschwung", und jetzt, nachdem er nicht mehr Kanzler ist, sagt er wieder: "Das ist mein Aufschwung." (Garrelt Duin [SPD]: Recht hat er!) Das ist schon bemerkenswert. Mir ist diese Frechheit aber lieber als die Selbstverleugnung, der Kleinmut und der politische Opportunismus, den man hier und da spürt und der bei Ihnen allgegenwärtig ist. Ich glaube, wir alle miteinander verpassen hier eine große Chance für die Demokratie. Es ist uns gelungen, einen kurzen und direkten Weg aus der Krise zu finden. Er ist gegangen worden von mutigen Arbeitnehmern, gegangen worden von mutigen Unternehmern, aber gepflastert worden von beherzten Politikern. Die Botschaft, dass nationale Politik im internationalen Konzert etwas bewegt, müssten wir doch alle miteinander nach draußen tragen, anstatt hier jetzt das eine oder andere kleinzureden. Das ist wichtiger als die Debatte darüber, wem dieser Aufschwung gehört. Wir haben Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft geschaffen. Es liegt an uns allen miteinander, Vertrauen in die Politik zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich will an dieser Stelle kurz an die Zahlen erinnern: 3,6 Prozent Wachstum, 40,5 Millionen Beschäftigte, nur noch 2,9 Millionen Arbeitslose. (Zuruf der LINKEN: Weggerechnet!) Bei diesen Zahlen hätten Sie in Ihrer rot-grünen Regierungszeit Freudenfeuer angezündet. Heute sagen Sie: Jetzt geht es darum, sicherzustellen, dass sich das fortsetzt. - Das stimmt, aber es gibt gute Indizien dafür, dass das geschieht: Es wird einen weiteren Rückgang der Arbeitslosenquote geben. 41 von 46 befragten Wirtschaftsverbänden sagen, dass die Stimmung noch besser ist als im letzten Jahr. 32 dieser Verbände rechnen mit besseren Umsätzen. Viele Unternehmen wollen auch in diesem und im nächsten Jahr mehr Arbeitsplätze schaffen. Ich will aufgrund dieser Zahlen jetzt nicht in einen Freudentaumel verfallen. Das wäre sicherlich falsch. Die Kollegin Andreae hat sicher recht: Wir müssen insbesondere mit Blick auf das, was in Europa stattfindet, jetzt einen Weg finden, das alles und vor allem die geniale Idee Europa zu stabilisieren. Aber mit dem, was Sie gesagt haben, liebe Kollegin, haben Sie auch besondere grüne Positionen entlarvt, nämlich zum einen, dass Krise, Angst und Sorge grundlegend zu grüner Politik dazugehören, und zum anderen, dass Sie sich immer noch damit schwertun, was nationale Politik ausmacht. Die Kollegin Nestle hat vorhin darüber philosophiert, dass wir sagen, dass es unser ureigenstes Interesse sei, deutsche Autos zu verkaufen. (Klaus Barthel [SPD]: Bayerische Autos, Herr Nüßlein!) Da wir wissen, dass der konjunkturelle Aufschwung zu einem wesentlichen Teil von der Automobilindustrie abhängt, haben wir in der Tat ein legitimes Interesse daran, dass deutsche Automobile verkauft werden. Das ist eine ganz klare Sache, und dafür stehen wir auch ein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich meine, dass Europapolitik auch heißen darf, in Brüssel nationale Interessen zu vertreten. Ein fundamentales nationales Interesse von uns ist es, keine Transferunion zu schaffen. Das ist ein zentraler Punkt. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind schon eine!) Wir können zwar darüber diskutieren, ob es uns gelingt, das zu vermeiden - darin bin ich ganz auf Ihrer Seite -, aber wir müssen es zumindest versuchen. Heute ist schon viel über Arbeitskräftemangel diskutiert worden. Wir sollten jetzt nicht in Panik und Aktionismus verfallen. Minister Brüderle hat in bemerkenswerter Weise deutlich gemacht - darin gebe ich ihm ausdrücklich recht -, dass es darum gehen muss, das inländische Fachkräftepotenzial zu heben und in dem Zusammenhang unser duales Ausbildungssystem zu stärken. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was machen Sie denn?) Dieses System gibt uns einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern. Dieses System gibt auch mir die Gewissheit, dass uns Freizügigkeit im zukünftig eine halbe Milliarde Menschen umfassenden Binnenmarkt nicht mit Sorge erfüllen muss. Indem ich explizit darauf verweise, dass wir ab Mai einen Arbeitsmarkt haben, der eine halbe Milliarde Menschen umfasst, will ich zugleich zeigen, dass ich guter Dinge bin, dass wir aus diesem Potenzial auch unseren Fachkräftebedarf decken können. Diejenigen, die uns einreden wollen, ein Arbeitsmarkt in dieser Größe werde nicht reichen, verfolgen entweder spezielle Ziele, die nicht immer ehrenhaft sind, oder kennen schlicht und schlank das deutsche Ausländerrecht nicht. Aus den USA oder aus Japan kann jeder kommen, der bei uns Forschung und Lehre betreiben will. Jeder, der mehr als 66 000 D-Mark verdient, (Klaus Barthel [SPD]: Euro!) kann von außerhalb der Europäischen Union ohne Vorrangprüfung zu uns kommen. Derjenige, dessen Verdienst darunter liegt, kann mit Vorrangprüfung - die im Übrigen meist positiv beschieden wird - zu uns kommen. Das heißt doch ganz klar: Wir brauchen kein pseudogerechtes Punktesystem. Wir brauchen keine Änderungen im Ausländerrecht. Wir brauchen keine Multikulti-fantasien wie die der Grünen. Wir brauchen aber schon gar keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich konzediere an dieser Stelle ausdrücklich, dass wir Handlungsbedarf im Bereich der Zeitarbeit haben. Es kann nicht in unserem Interesse liegen, den Arbeitnehmer zweiter Klasse zu institutionalisieren. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Flexibilität ist wichtig, darf aber auch etwas kosten. (Joachim Poß [SPD]: Sehr gut!) Aus meiner Sicht geht es um das Abdecken von Spitzenkapazitäten und Spitzenbedarf. Es darf nicht zu Lohndumping kommen. Deshalb besteht hier dringender Handlungsbedarf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Seien Sie versichert, dass wir das Problem lösen werden. Da sind wir eng beieinander. (Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Stimmt, eigentlich ist Ihre Redezeit abgelaufen. Kollege Heil, bestehen Sie auf Ihrer Nachfrage? Das ist keine Zwischenfrage mehr. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Ja. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Herr Kollege Nüßlein, da Ihre Redezeit vorbei ist, möchte ich Ihnen gerne Gelegenheit geben, das, was Sie zum Schluss gesagt haben, gemeinsam mit mir zu konkretisieren. Sie sagen: Zeit- und Leiharbeit werden missbraucht. Zeit- und Leiharbeit sollen auf die Auftragsspitzen von Unternehmen konzentriert werden. Sind Sie mit mir der Meinung, dass man als Gesetzgeber dafür etwas an zwei Stellen tun muss, nämlich dass wir zum einen das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" durchsetzen müssen, damit das nicht tatsächlich ein Einfallstor für Lohndumping ist, und dass wir zum anderen einen Zeitarbeitsmindestlohn einführen müssen? Können Sie mir bestätigen, dass wir beides brauchen? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Schade ist, dass Sie meine Redezeit nicht so verlängern, wie ich mir das gewünscht und erhofft habe; denn diese Frage kann ich schlicht und schlank mit Ja beantworten. Das werden und müssen wir tun. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Kritik an Gabriel!) Garrelt Duin (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, das ist verschiedentlich schon angesprochen worden: Sie haben heute hier den Eindruck erweckt, dass die Krise überwunden ist. Ich sage Ihnen: Sie blenden einen wesentlichen Teil der Realität aus. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nämlich NRW!) - In NRW scheint es immerhin so zu sein, dass Sie als FDP geradezu auf Knien betteln, in die Regierung zu kommen. Das wird aber nach einer Neuwahl nicht funktionieren, weil Sie dann im Landtag gar nicht mehr vertreten sein werden. Genauso werden Sie auch in Hamburg nicht in die Bürgerschaft kommen. (Beifall bei der SPD) Angesichts meiner kurzen Redezeit will ich darauf aber nicht näher eingehen. Herr Brüderle, der erste Punkt, wo Sie die Realität ausblenden, sind die Geschehnisse in Griechenland. Natürlich ist es richtig, dass wir den Griechen gesagt haben: Ihr müsst konsolidieren! - Natürlich ist es richtig, dass wir bestimmte Auflagen machen, wenn dort geholfen wird. Aber so, wie das jetzt konstruiert ist, wird die griechische Volkswirtschaft nicht wettbewerbsfähiger und nicht erstarken. Vielmehr wird man das Ganze in kürzester Zeit fast zwangsläufig an die Wand fahren. Dann ist der deutsche Steuerzahler richtig dran. Dann können Sie alle Ihre Prognosen - verzeihen Sie mir den Ausdruck - in den Papierkorb werfen, weil sie nichts mehr wert sind. Es ist dringend notwendig, endlich anzufangen, eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik zu initiieren. Die Bundeskanzlerin hat es jetzt - so war es zu lesen - begriffen. Herr Schäuble hat es begriffen. Der Einzige, der sich dieser Realität verweigert, ist der Bundeswirtschaftsminister. Das ist tragisch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt, wo Sie die Realität ausblenden, ist das Datum 1. Mai. Ab 1. Mai dieses Jahres herrscht absolute Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es ist absehbar, dass sich das auf die Löhne gerade im Niedriglohnbereich massiv negativ auswirken wird, weil Sie nichts tun. Sie sagen: Da kommt keiner. - Das ist nicht die Antwort, die wir auf diese Herausforderung brauchen. Vielmehr brauchen wir Mindestlöhne in Deutschland, und zwar gesetzlich und flächendeckend. (Beifall bei der SPD) Der dritte Punkt, wo Sie sich der Realität verweigern, ist das Krisenthema Investitionen und Innovation. Sie haben noch im letzten Jahr ein industriepolitisches Konzept vorgelegt. Im nun vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht herrscht dazu Fehlanzeige. Sie machen eine Energiepolitik, die Wettbewerb, aber vor allen Dingen auch Investitionen verhindert. Jedes große Energieunternehmen und nicht zuletzt die Stadtwerke in Deutschland bestätigen Ihnen, dass es sich hier um Investitionsbehinderungspolitik handelt und nicht das gemacht wird, was wir in Deutschland wirklich brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie singen stattdessen immer das gleiche Lied: Wir müssen die Spielräume nutzen, um Steuern zu senken. - Die Sachverständigen sagen Ihnen ohne Wenn und Aber, dass das der falsche Weg ist und dass dafür keine Spielräume bestehen. Herr Brüderle, Sie sind stolz darauf, dass die Neuverschuldung nicht so hoch wie geplant ist und nur bei 44 Milliarden Euro liegt. Bei einer Neuverschuldung von 44 Milliarden Euro über Steuersenkungen zu fabulieren, das passt einfach nicht zusammen, und die Menschen wissen das. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Solange die Schulen in Deutschland nicht saniert und personell entsprechend ausgestattet sind, solange die Bahn aufgrund der mangelnden Infrastruktur an Frühling, Sommer, Herbst und Winter scheitert, solange es Schlaglöcher gibt - nicht nur in Berlin, sondern leider in ganz Deutschland -, die eine Gefahr für jeden Verkehrsteilnehmer sind, solange wir also die bauliche und soziale Infrastruktur in Deutschland nicht auf Vordermann gebracht haben, solange ist kein Platz für Ihre Steuersenkungsfantasien. (Beifall bei der SPD) Werter Herr Minister, Sie haben heute Morgen davon gesprochen, dass der Aufschwung keine Kurzgeschichte, sondern ein Fortsetzungsroman sei. Deswegen will ich mit dem Auszug aus einem Gedicht schließen, das zu Ihnen passt wie die Faust aufs Auge. Es ist von Heinrich Hoffmann aus dem Jahre 1844 und heißt Hans Guck-in-die-Luft. Wenn der Hans zur Schule ging, Stets sein Blick am Himmel hing. Nach den Dächern, Wolken, Schwalben Schaut er aufwärts allenthalben: Vor die eignen Füße dicht, Ja, da sah der Bursche nicht, Also daß ein jeder ruft: "Seht den Hans Guck-in-die-Luft!" So ist es: Sie gucken nach der Schwalbe Steuersenkung, anstatt sich um das zu kümmern, was in Deutschland notwendig wäre, damit der jetzige Aufschwung von Dauer ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht 2011 zeigt, dass Deutschland im vergangenen Jahr das größte Wachstum seit Beginn der deutschen Einheit erreicht hat. Das ist durchaus bemerkenswert; denn in den letzten 20 Jahren hat Deutschland eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung vollzogen. Eine Überschrift im Jahreswirtschaftsbericht lautet: "Durch Forschung und Innovationen Wohlstand sichern". Genau auf diesen Punkt möchte ich zu sprechen kommen; denn das Thema Forschung, Entwicklung und Technologieentwicklung hat in der Debatte bisher überhaupt keine Rolle gespielt. Deutschland ist nach wie vor Exportweltmeister. China exportiert zwar inzwischen mengenmäßig mehr; aber umgerechnet auf die Einwohnerzahlen ist Deutschland eindeutig Exportweltmeister. Dass wir das sein können, liegt ganz klar daran, dass es in Deutschland Unternehmen gibt, die hochinnovative Produkte herstellen und hervorragende Verfahren exportieren können. Deswegen konnten wir nach der Krise ziemlich schnell wieder Exportweltmeister werden. Auch im Vergleich zu Frankreich, Italien oder den anderen großen europäischen Ländern wird deutlich: Deutschland steht eindeutig an der Spitze. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir Forschung und Entwicklung in Deutschland weiterhin stark fördern. Man kann nicht leugnen, dass die schwarz-gelbe Regierung, aber auch die Große Koalition für das Thema Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren Enormes geleistet haben. Ich erinnere nur daran, dass 12 Milliarden Euro zusätzlich in Investitionen in Bildung und Forschung geflossen sind. Durch die Hightech-Strategie der Bundesregierung sind die zukünftigen Technologiefelder für die deutsche Entwicklung definiert worden und werden intensiv gefördert. Natürlich gibt es noch Defizite, die in den nächsten Jahren beseitigt werden müssen. Zum einen gilt das für das Thema der steuerlichen FuE-Förderung. Hier konnte eine Lösung bisher noch nicht herbeigeführt werden. Zum anderen brauchen wir eine neue Gründerkultur. Wir haben die Krise jetzt zwar erst einmal überwunden. Das heißt aber nicht, dass diese Entwicklung in den nächsten zehn Jahren so fortschreiten muss. Die deutsche Industrie ist mittlerweile global aufgestellt. Überall auf der Welt gibt es Forschungseinrichtungen deutscher Unternehmen, die neue Verfahren und neue Produkte entwickeln. Die Frage, die sich letztendlich stellt, ist: Werden diese neuen Produkte in Deutschland hergestellt? Wird hier investiert, oder investiert man dort, wo man die Forschung angesiedelt hat? Das ist aus meiner Sicht die grundsätzliche Frage, die wir in Deutschland beantworten müssen. Wollen wir die Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland und damit für neue Arbeitsplätze schaffen? Dadurch würde sich auch das Thema 1. Mai erübrigen, das Sie, Herr Duin, eben angesprochen haben. Der linken Seite, die einen Mindestlohn von 10 Euro fordert, möchte ich sagen: Reden Sie doch einmal mit Ihren Freunden von der Gewerkschaft! Schauen Sie sich einmal die Tarifverträge an, die von den Gewerkschaften geschlossen worden sind! Zum Teil liegen diese weit unter dem Mindestlohn, den Sie jetzt fordern. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und warum?) Der erste Schritt müsste sein, dass man sich auf tariflicher Basis auf eine Lohnuntergrenze einigt, die dann auch Allgemeinverbindlichkeit erlangen kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Unterstützen Sie die Gewerkschaften?) Meine Damen und Herren, es ging um die deutsche Einheit. Ich möchte darauf hinweisen, dass die ostdeutsche Wirtschaft zu dem Wachstum von 3,6 Prozent einen ganz entscheidenden Beitrag erbracht hat. Es ist notwendig, auch das einmal zu würdigen, Herr Gysi. Positive Entwicklungen sind aber nicht in Ihrem Sinne. Sie sind eigentlich der Verfechter der negativen Meldungen. In Sachsen hat der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts 3 Prozent betragen. Allein im Jahr 2010 sind 14 000 neue Beschäftigungsverhältnisse - davon 80 Prozent sozialversicherungspflichtig - geschlossen worden. Das ist eine hervorragende Leistung, die zeigt, dass die Aufbauleistung der letzten 20 Jahre genau die Früchte trägt, die wir alle erwartet hatten. Die Umsätze sind stark gestiegen. Die Wertschöpfung ist stark gestiegen. Auch die internationale Verflechtung der ostdeutschen Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert. Ein Thema, das im Jahreswirtschaftsbericht 2011 deutlich hervorgehoben worden ist, sind die Instrumente, die in den vergangenen Jahren dazu geführt haben, dass wir letztendlich dieses gute Ergebnis erreichen konnten. An dieser Stelle möchte ich ganz speziell auf die GRW, die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", zu sprechen kommen. Das ist ein Instrument, über das wir im Deutschen Bundestag schon öfter diskutiert haben. Es zeigt sich, dass durch die Aufstockung der Mittel der GRW Investitionen angestoßen werden konnten, die genau jetzt wirksam werden, die genau jetzt ihren Beitrag zur Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts erbringen. Es zeigt sich, dass die eingesetzten staatlichen Mittel den Ertrag erbringen, den die Gesellschaft erwartet. Eine Gefahr besteht allerdings für die GRW, nämlich das Auslaufen der Förderperiode der Europäischen Union im Jahre 2013. Wir brauchen hier eine Anschlusslösung, um auch in den nächsten Jahren die mittelständische Unternehmerschaft unterstützen zu können. Nun zum Thema Fachkräftemangel, weil dieses Thema hier verschiedentlich angesprochen worden ist. Die Entwicklung mag regional unterschiedlich sein. Ich will gar nicht abstreiten, dass das Thema möglicherweise in Bayern oder Baden-Württemberg keine Rolle spielt. Aus meiner Sicht ist das in Ostdeutschland aber ein sehr drängendes Problem. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns auch!) Dazu liegen nicht nur politische Aussagen, sondern auch klare Berechnungen, zum Beispiel des Ifo-Instituts, vor. Wenn das Arbeitskräftepotenzial in den neuen Bundesländern bis 2015 definitiv um 5 Prozent zurückgeht - was nicht mit Abwanderungsbewegungen, sondern mit den nicht geborenen Kindern Anfang der 90er-Jahre zusammenhängt -, während der Rückgang in den alten Bundesländern weniger als 1 Prozent beträgt, dann bedeutet das, dass sich dieses Problem in Ostdeutschland fünfmal stärker auswirken wird als in manchen westdeutschen Bundesländern. Deswegen brauchen wir eine Regelung für eine gezielte Zuwanderung von Fachkräften. Das möchte ich an dieser Stelle ganz klar betonen. Es geht überhaupt nicht darum, Zuwanderung in die Sozialsysteme zu organisieren. Vielmehr brauchen wir gut ausgebildete Fachleute. Ich denke, darüber muss man reden. Meine Damen und Herren, das Fazit: Zur Erreichung eines Wachstums von 3,6 Prozent auch in den nächsten Jahren müssen wir erstens die Konsolidierung des Haushaltes fortsetzen, um die stark angestiegene Verschuldung zu reduzieren, und zweitens die Themen Technologie und Innovationsförderung an die Spitze unserer politischen Diskussion stellen; denn das ist die Grundlage der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung. An die Linken gerichtet möchte ich sagen: Wir brauchen keine neuen Wege hin zum Kommunismus. Wir wollen auch keine kleine neue DDR gründen, Herr Gysi, sondern wir wollen im System der Marktwirtschaft weiter für wirtschaftliche Entwicklung kämpfen. Dafür haben wir gute Bedingungen geschaffen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Marlene Mortler (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! "Boom bei Geschäftsreisen, Erholung bei Urlaubsreisen", so war es gestern einer Internetseite - der FVW, der führenden Branchenzeitung für Touristik- und Geschäftsreisen in Deutschland - zu entnehmen. Das ist ein Grund zur Freude; denn sie bezieht sich auf eine Reisestudie, die gestern im Rahmen der CMT, der Touristikmesse in Stuttgart, vorgestellt worden ist. Freuen wir uns jetzt einmal wirklich! Ich habe vor allem bei der Opposition heute das Gefühl gehabt, dass Freuen in unserem Land verboten ist. Was gibt es Schöneres als so einen Auftakt im neuen Jahr, nämlich positive Zahlen zu verkünden? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da fällt mir schon was ein!) Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich und ganz herzlich bei der Arbeitsgruppe Wirtschaft bedanken, dass ich den Bereich Tourismuswirtschaft wieder einmal ins rechte Licht rücken darf, eine Branche, die aus meiner Sicht vielfach unterschätzt wird, und das, obwohl sie weltweit zu den wenigen langfristigen Wachstumsbranchen zählt. Ich erinnere an dieser Stelle aus aktuellem Anlass ganz bewusst an ein Land, an Tunesien. Ich wünsche mir für die Menschen vor Ort, dass es ganz schnell wieder Stabilität und Sicherheit gibt. Ich danke auf der anderen Seite unserem deutschen Reiseverband und dem Auswärtigen Amt, dass es hier eine sehr gute, eine professionelle Zusammenarbeit gab und dass alle deutschen Touristen, die aus dem Land reisen wollten, innerhalb weniger Tage auch wirklich aus dem Land geholt worden sind. Dass wir diese positiven Zahlen über unseren Tourismusstandort, Deutschland, verkünden können - es geht uns so gut wie nie zuvor; ausländische Gäste kommen in großer Zahl, und es werden immer mehr; wir Deutsche haben unsere Heimat wieder lieb gewonnen -, kommt nicht von ungefähr; vielmehr ist dabei das Thema "Sicherheit und Stabilität" ein ganz wichtiger Faktor. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Wir sind Reiseweltmeister im eigenen Land, aber auch im Ausland. Wenn wir über Tourismus reden, dann reden wir über 2,8 Millionen Arbeitsplätze - nicht exportierbar, quer durchs Land -, dann reden wir über eine Branche, die den dritten Platz hinter dem Handwerk und hinter der Gesundheitswirtschaft einnimmt, und dann reden wir über 114 000 Ausbildungsplätze. Allein 100 000 Ausbildungsplätze stellt der Bereich Hotellerie und Gastronomie. Außerdem reden wir darüber, dass Deutschland EU-weit bei den Übernachtungen inzwischen auf dem ersten Platz liegt, also vor den klassischen Urlaubsländern Italien und Frankreich. Mit 380 Millionen Übernachtungen pro Jahr steuern wir auf das beste Jahresergebnis aller Zeiten zu. Wir sind weltweit Messestandort Nummer eins. Beim Thema "Tagungen und Kongresse" sind wir EU-weit Nummer eins und weltweit hinter den USA Nummer zwei. Darüber hinaus erwirtschaften wir in der Tourismusbranche einen Jahresumsatz von 233 Milliarden Euro. Tourismus ist eben mehr als Wasser, Sonne, Strand. Wenn ich diese 233 Milliarden Euro aufschlüssele, dann stelle ich fest, dass davon allein auf den Tagestourismus 163 Milliarden Euro entfallen. Der Rest, 70 Milliarden Euro, entfällt auf Übernachtungstourismus. Ein ganz wichtiges Segment ist und bleibt der Städtetourismus als umsatzstärkstes Segment mit 83 Milliarden Euro. Auch hier gilt: Freuen wir uns, dass wir in diesem Jahr im Städtebereich teilweise sensationelle Zuwächse bis zu 13 Prozent erzielen konnten! Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat Deutschland zweifellos an Attraktivität gewonnen. Das ist nicht nur der Freundschafts- bzw. Gastfreundschaftskampagne geschuldet. Die Menschen haben nach der Fußball-WM immer wieder zu mir gesagt: Du, Marlene, die Leute sind ja immer noch freundlich! - Ich glaube, auch hier hat sich etwas verändert. Nun haben wir die Fußball-WM der Frauen. Ich freue mich, dass wir mit Steffi Jones eine wirkliche Sympathieträgerin im Organisationsteam haben. Sie sagt: Wir wollen mit der Fußball-WM der Frauen 2011 Geschichte schreiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir alle können unseren Beitrag leisten, dass alle Spiele an den neun Spielorten zwischen Berlin und Augsburg vor ausverkauftem Haus stattfinden. In 2011 haben wir noch weitere Großereignisse: die Ski-WM in Garmisch, den Eurovision Song Contest in Düsseldorf und den Papstbesuch in Berlin. Im Bereich Kulturtourismus haben wir zum Beispiel "200 Jahre Franz Liszt" in Thüringen zu feiern. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Deutsche Zentrale für Tourismus, die mit unserer Hilfe über Mittel in Höhe von 24 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt verfügen kann und im Inland, aber vor allem im Ausland taffe Werbung für unseren Standort macht. Die DZT handelt nach dem Motto: Trends erkennen, aufgreifen, bewerben. Deshalb ist das Thema "Gesundheitsurlaub und Wellness" heuer besonders wichtig. Nächstes Jahr sind es Geschäftsreisen. 2012 geht es um Weinkultur und Natur in Deutschland. Außerdem wollen wir 2012 auf die vielfältigen Kulturlandschaften der 13 Weinanbaugebiete in Deutschland hinweisen, was ja eine wunderschöne Sache ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2013 ist "Junges Reiseland Deutschland" ein wichtiges Thema. 2014 geht es um UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten in Deutschland. Uns ist viel zu wenig bewusst, dass wir, wenn es um das Weltkulturerbe geht, über 2000 Jahre Kulturgeschichte in Deutschland sprechen. Diese 2000 Jahre haben Spuren hinterlassen. Es gibt weltweit kein Land, das so viele einzigartige Natur- und Kulturstätten in solch einer Dichte vorzuweisen hat. Weitere Stätten stehen Schlange. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weil ich aus Franken komme, weiß ich, dass auch Nürnberg in dieser Schlange steht. Wir haben aber nicht nur große Glanzlichter, sondern auch viele kleine Leuchttürme. Deutschland-Tourismus zeichnet sich vor allem durch eine große, attraktive Vielfalt aus. Dazu gehören Kreuzfahrten, Wandern, Camping, Wassersport, Radfahren, Urlaub auf dem Bauernhof und das Bedürfnis nach Naturnähe. Es ist aber auch festzustellen, dass das Bedürfnis nach nachhaltigem Tourismus im Bewusstsein der Verbraucher und Touristen erfreulich gestiegen ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man über Positives spricht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe mich gerade so wohlgefühlt!) Herr Präsident, ich komme in die Zielgerade und verweise noch auf die erste und einzige Möglichkeit, Marktforschung in der Tiefe zu betreiben, nämlich auf das sogenannte Sparkassen-Tourismusbarometer. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung - Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Aber Frau Kollegin, ich habe Sie doch schon ermahnt. Marlene Mortler (CDU/CSU): - leistet allen Akteuren, egal auf welcher Ebene, Hilfe. Wir Politiker werden unseren Beitrag leisten und die Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige Tourismuswirtschaft auch in Zukunft setzen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4450 und 17/3700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln - Drucksache 17/3862 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die vorangegangene Debatte ist für die Bundesregierung signifikant. Sie rühmt sich mit den Verdiensten der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die mit Mühe und Not sich und unsere Wirtschaft über Wasser gehalten haben, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit Lohnverzicht die Finanzkrise geschultert haben, tut aber selbst nichts Signifikantes für die Verbesserung unserer Wirtschaftslage und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Daher wird das Thema der Fachkräfteeinwanderung ein Lackmustest für die Bundesregierung sein. Ohne kompensatorische Maßnahmen wird die demografische Entwicklung zu einem erheblichen Rückgang nicht nur der allgemeinen Bevölkerungszahl, sondern auch der Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland führen. Nach den Berechnungen der statistischen Ämter soll die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 auf 25 Millionen sinken. Das Potenzial an Arbeitskräften in Deutschland werde, so die OECD, in den kommenden zehn Jahren so stark schrumpfen wie in keinem anderen Industrieland. Schon jetzt haben wir in einigen Branchen Personalnot. Allein im naturwissenschaftlich-technischen Bereich fehlen bereits heute 65 000 Fachkräfte. Unter "Fachkräfte" dürfen nicht nur IT-Spezialisten verstanden werden. Größte Not herrscht und wird herrschen bei den Pflegekräften, insbesondere in der Altenpflege. Als Reaktion auf die demografische Entwicklung und den daraus resultierenden Rückgang an Arbeitskräften brauchen wir eine kluge Mischung aus Bildung, Qualifizierung, Anerkennung ausländischer Qualifikationen und Aktivierung der inländischen Fachkräftepotenziale. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute und der Bundesagentur für Arbeit werden diese Maßnahmen allein aber nicht ausreichen. Für sie ist völlig klar: Deutschland braucht Einwanderung, und zwar in weit größerem Umfang als bisher angenommen. Deutschland braucht pro Jahr eine Nettozuwanderung von 200 000 bis 400 000 Menschen. Das geltende System wird diesen Bedürfnissen nicht gerecht. Auf Grundlage der restriktiven Einwanderungsregelungen entscheiden sich zu wenige ausländische Fachkräfte für ein Leben in Deutschland. So kamen etwa im Jahr 2009 auf Grundlage der Hochqualifiziertenregelung lediglich 169 Personen nach Deutschland, mit Zustimmung vom Arbeitsamt sogar nur 41 Personen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!) Wir Grüne plädieren für eine einladende Einwanderungspolitik für ausländische Fachkräfte. Dafür brauchen wir ein modernes und transparentes Auswahlverfahren mit einem Punktesystem. Mit dem bedarfsorientierten Auswahlverfahren sollen einwanderungswillige Personen, die nach klaren Kriterien ihre Qualifikation und Integrationsfähigkeit unter Beweis gestellt haben, eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive in Deutschland erhalten. (Beifall des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Für dieses Auswahlverfahren schlagen wir vor, dass das Bundesamt für Migration in Zusammenarbeit mit einem Beirat eine Bedarfsanalyse und darauf aufbauend ein Qualifikationsprofil erstellt sowie eine Quote vorschlägt. Ein solcher Punktekatalog kann beispielsweise die Kriterien "Alter", "Sprachkenntnisse" und "Berufserfahrung" enthalten. Sowohl das Qualifikationsprofil als auch die Quotenregelung erfordern die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates. Die Wirtschaft, viele Verbände, der Gewerkschaftsbund und Wirtschaftsforschungsinstitute unterstützen eine solche Forderung nach einem Punktesystem, das deutlich unbürokratischer und einfacher gestaltet ist als das heutige System. Ideologische Blindheit hilft nicht, sondern schadet unserem Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]) Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes und modernes Deutschland in einer globalisierten Welt sein wollen, das Einwanderinnen und Einwanderer willkommen heißt und als gleichberechtigte Bürger in unserer Demokratie anerkennt. Wir sind für einen Klimawandel in der Gesellschaft. Einwanderinnen und Einwanderer sollen nicht mehr als Eindringlinge, sondern als Neudeutsche angesehen werden. Eine einladende Einwanderungspolitik für Fachkräfte kann trotz vieler positiver Effekte auch die Gefahr von Braindrain mit sich bringen. Mit der Abwanderung von Arbeitskräften verlieren die Entwicklungsländer selber wichtige Fachkräfte. Diese Gefahr müssen wir ernst nehmen. Um Härten zu vermeiden, sollte unser Punktesystem daher um Maßnahmen ergänzt werden, die die Risiken für Entwicklungsländer minimieren. Uns Grünen wird seit einigen Tagen vorgeworfen, die Dagegen-Partei zu sein. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Stimmt doch!) Wir sind seit Jahren für ein Punktesystem. Blockiert wird die Einführung durch die Unionsparteien. Sie sind die Dagegen-Parteien - nicht wir. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie wissen nicht, was Sie wollen. Sie haben keine Ideen und bieten keine Lösungen für den wachsenden Fachkräftebedarf. Sie sind einfach nur dagegen. Das ist billig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) Während wir Gesetzentwürfe und Anträge in den Bundestag einbringen, um Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver zu gestalten, verspielt die Bundesregierung Deutschlands Chancen. Außer Streit fällt Schwarz-Gelb zur Beseitigung des Fachkräftemangels und zu Maßnahmen mit Blick auf die Überalterung unserer Gesellschaft nichts ein. Bundesministerin von der Leyen will sich mit marginalen Korrekturen wie der befristeten Aussetzung der Vorrangprüfung in bestimmten Branchen begnügen. Selbst das ist in der Union umstritten. Der Bundesinnenminister kann sich ein Punktesystem überhaupt nicht vorstellen. Er möchte der Fachkräftezuwanderung lediglich "besondere Aufmerksamkeit" widmen. Wie großzügig! Seehofer und Co. verweigern jegliche Reformen auf diesem Gebiet. Die FDP kann sich wieder einmal mit nichts durchsetzen. Das ist bezeichnend für sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Aydan Özoguz [SPD]) Deswegen wurde bei den letzten beiden Koalitionsausschüssen im November und Dezember eine Entscheidung zur Fachkräfteeinwanderung vertagt. Mit der Verschiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zeigt die Regierung, wie ineffizient sie arbeitet. Sie ist nicht einmal in der Lage, ihre eigenen Prüfaufträge aus dem Koalitionsvertrag abzuschließen. Seit mehr als einem Jahr tut die schwarz-gelbe Koalition nur so, als ob sie regieren würde. Das ist aber nicht wahr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln. Die Einwanderungspolitik muss dem 21. Jahrhundert gerecht werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Wolfgang Bosbach für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag der Grünen nicht zustimmt, ist sicherlich (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tragisch!) keine politische Sensation. Wir lehnen den Antrag aber nicht ab, weil er von der Opposition oder speziell von den Grünen kommt - ich füge hinzu: da habe ich schon Schlimmeres von den Grünen gelesen -, (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das geht mir auch so!) sondern wir lehnen den Antrag ab, weil er erstens aufgrund der darin enthaltenen Vorschläge nicht geeignet ist, einen wirksamen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels zu leisten. Sie lösen ja gerade die notwendige Verknüpfung von Zuwanderung und Zuwanderung in den Arbeitsmarkt auf einen konkreten Arbeitsplatz auf. Sie verlangen nicht, dass die Zuwanderung nur dann erfolgen darf, wenn damit ein konkreter Arbeitsplatz besetzt werden kann. Zweitens geht es Ihnen in dem Antrag - mein Kompliment für Ihre Ehrlichkeit - ausdrücklich um eine Ausweitung der Zuwanderung, insbesondere aus Entwicklungsländern. Auch das geht aus dem Antrag hervor. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber qualifizierte Zuwanderung!) Die Union ist jedoch der Überzeugung: Nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration ist das Gebot der Stunde. Das ist für uns die wichtigste Aufgabe. (Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei brauchten wir eine qualifizierte Zuwanderung in die Union!) Im Grunde bietet der Antrag alten Wein in neuen Schläuchen. Hier wird der alte § 20 des Gesetzentwurfes von Rot-Grün zum Aufenthaltsgesetz reanimiert. (Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Das ist Ihr gutes Recht. Aber die Gründe, die damals dazu geführt haben, diesen § 20 abzulehnen, sind die gleichen, die heute zur Ablehnung führen. Zunächst einmal zur Prognose. Es ist richtig, die Politik muss hören, was die betriebliche Praxis sagt. Es ist richtig, die Politik muss hören, was die Wissenschaft sagt. Wir müssen aber auch bedenken, was die Wissenschaft uns schon alles gesagt hat. Von dieser Stelle aus haben wir vor zehn Jahren anlässlich der CeBIT 2000 um die Zuwanderung von IT-Fachkräften gerungen. Damals sagten uns sogenannte Experten: Deutschland hat einen Bedarf von 200 000 IT-Fachkräften. Die Bundesregierung hat daraufhin gesagt: So viele müssen es auch nicht sein. Wir rechnen mit der Zuwanderung von 70 000. Dann hat Rot-Grün aus lauter Vorsicht bei 20 000 eine Obergrenze eingezogen. Schließlich haben Sie die Sonderregelung für die Zuwanderung von IT-Fachkräften auf den Weg gebracht. Jetzt schauen wir uns die Zahlen einmal an. Bei einem prognostizierten Bedarf von 200 000 kamen 2001 6 400; 2005 kamen dann noch schlappe 2 300. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist traurig! - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil unsere Ausländerbehörden sich verweigern!) Was Sie fordern, ist längst geltendes Recht. Wer IT-Fachkraft ist, kann kommen. Es gibt keine Quoten, es gibt keine Höchstzahlen, es gibt keine Begrenzungen. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur auf fünf Jahre begrenzt!) - Für Drittstaatsangehörige. - IT-Fachkräfte können kommen. Offensichtlich ist das Problem jedenfalls nicht das Ausländerrecht. Möglicherweise sind andere Staaten mit ihren Möglichkeiten attraktiver als die Bundesrepublik Deutschland und ihre Arbeitgeber. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist es!) Das hat aber erkennbar nichts mit dem Ausländerrecht zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) - Herr Kilic, ich habe Ihnen doch ganz ruhig zugehört. Ganz interessant ist: Ihr Vorbild im Antrag hinsichtlich der Zuwanderung sind Kanada und die USA. Merkwürdigerweise sind Sie dann nicht konsequent und wollen die Sozialsysteme der USA und von Kanada nicht bei uns einführen. Die wollen Sie natürlich nicht haben. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich nicht! Die wollen wir nicht!) Sie können doch nicht gleichzeitig das Zuwanderungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, die Sozialsysteme der Bundesrepublik Deutschland und das Punktesystem angloamerikanischer Länder haben wollen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt dort funktioniert gerade deshalb, weil diejenigen, die in die USA oder nach Kanada gehen, genau wissen, dass diese Länder nicht daran denken, Sozialleistungen zu zahlen, ohne dass vorher durch Erwerbstätigkeit in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt worden wäre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch jetzt um qualifizierte Zuwanderung! - Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) - Herr Kilic, es ist ja schön, dass Sie da Temperament haben, aber ein wenig Respekt vor dem, der eine andere Auffassung hat, sollten wir alle an den Tag legen. Was ist das beste Mittel gegen den Fachkräftemangel? Das beste Mittel ist erstens Qualifizierung und Vermittlung von Arbeitslosen. Wer den Antrag liest, muss ja glauben, wir hätten fünfmal mehr offene Stellen als Arbeitslose. Es ist genau umgekehrt: Wir haben fünfmal mehr Arbeitslose als offene Stellen. (Rüdiger Veit [SPD]: Dann tun Sie doch was!) Wir müssen doch zunächst einmal die inländische Erwerbsbevölkerung gleich welcher Staatsangehörigkeit in Beschäftigung bringen, bevor wir nach mehr Zuwanderung rufen. (Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man doch gleichzeitig tun!) Zweitens ist eine gute Bildungspolitik zu nennen, und zwar: nicht jedem Kind eine Bildung, sondern jedem Kind seine Bildung. Wir lehnen die Einheitsschule nicht aus ideologischen Gründen ab; wir lehnen sie ab, weil es keine Einheitskinder gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kinder haben unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Talente, unterschiedliche Begabungen, und jedes Kind soll individuell gefördert werden. Drittens. Ein hoher Stellenwert sollte auch der beruflichen Bildung zukommen. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Was für eine Märchenstunde hier im Parlament!) Der Mensch beginnt nicht mit dem Akademiker. Wir bewundern tolle Entwürfe von Architekten, aber wir brauchen auch fleißige Bauhandwerker, die in der Lage sind, diese Bauwerke zu errichten. Wir konzentrieren uns fast ausschließlich auf die wissenschaftliche Ausbildung und die Hochschulpolitik. Die berufliche Bildung hat bei uns nicht den Stellenwert, den sie eigentlich haben müsste. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie denn dagegen?) Viertens. Es muss auch, bevor wir nach mehr Zuwanderung rufen, aufhören, dass wir systematisch ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt verdrängen. (Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Wir alle haben doch Bürgersprechstunden. Ich kann doch nicht der Einzige sein, bei dem 50- oder 55-Jährige mit tollen Zeugnissen und langjähriger beruflicher Erfahrung erklären, dass sie keine Chancen mehr auf dem heimischen Arbeitsmarkt haben. Es kann ja sein, dass die Jüngeren schneller laufen, aber die Älteren kennen die Abkürzungen. Da geht manche Erfahrung verloren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vieles steht in dem Antrag nicht, was in ihm aber stehen müsste. (Zuruf von der FDP: Das sehe ich auch so!) Wir werden ab dem 1. Mai 2011 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Menschen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten haben. Wir wissen doch noch gar nicht, wie sich das in den nächsten Jahren auswirken wird. In unserem Land haben wir 167 000 arbeitslose Akademiker. Sind sie alle keine Fachkräfte? Ich brauche jetzt keine Belehrung; ich weiß selber, dass demjenigen, der einen Maschinenbauingenieur sucht, mit einem Archäologen nur begrenzt geholfen ist. Aber es kann doch nicht sein, dass wir knapp 170 000 arbeitslose Akademiker haben und gleichzeitig beklagen: Es gibt in unserem Lande keine Fachkräfte. Zwei Anmerkungen noch zum Schluss. Die für mich problematischste Stelle in dem Antrag ist, wenn Sie davon schwärmen, dass es insbesondere in den USA und in Großbritannien so viele Ärzte aus Afrika gibt. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir schwärmen nicht, wir problematisieren das! Das muss ich richtigstellen!) - Ich muss Ihnen sagen, Herr Kollege Kilic, dass ich das eher mit Sorgen sehe. Es arbeiten mehr Ärzte aus Mali in England als in Mali selber. England hat eine Relation von 35 Ärzten auf 10 000 Einwohner, in Mali ist es ein Arzt auf 10 000 Einwohner. Sie problematisieren das und lösen das Problem wie folgt - da muss man sich wirklich beim Lesen festhalten -: Wenn Migrantinnen und Migranten durch Rücküberweisungen, die Anbahnung von Geschäftsbeziehungen, Investitionen und Know-how-Transfer zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunftsländer beitragen ... (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch Fakt! Das geschieht heute!) Liebe Leute, welchen Know-how-Transfer soll denn ein Arzt aus Mali, der in England arbeitet, für die Patienten in Mali leisten? Denen ist doch nicht mit Geld geholfen, sondern nur mit Zuwendung und ärztlicher Heilkunst. (Beifall bei der CDU/CSU - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denken Sie dabei nicht an einen Ingenieur? Wieso denken Sie nicht an einen IT-Spezialisten?) Kommen wir zum Ärztemangel in Deutschland, den es tatsächlich gibt. In manchen Regionen finden wir keine sogenannten Landärzte mehr und rufen dann nach mehr Zuwanderung. Das hat doch nichts mit Ausländerrecht zu tun, wohl aber jede Menge mit Inländerrecht. Wir hatten 10 800 Zulassungen zum Medizinstudium und über 40 000 Bewerber. Den Ärztemangel in Deutschland beheben wir damit, dass wir jungen Leuten, die Medizin studieren wollen, bei uns eine Chance geben. Dadurch beheben wir den Ärztemangel, aber nicht dadurch, dass wir die Türen weiter aufmachen. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind Regierung!) Der Arbeitsmarkt bei uns ist nicht verriegelt. In den letzten drei Jahren haben über 270 000 Drittstaatsangehörige den Weg nach Deutschland gefunden. Deutschland ist ein weltoffenes und tolerantes Land. Aber wir haben auch die Verpflichtung, zunächst diejenigen in Beschäftigung zu bringen, die in Deutschland arbeitslos sind, und das ist für uns die wichtigste Aufgabe. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal ist die Idee - Herr Kollege Bosbach, da haben Sie recht -, die in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen verfolgt wird, so sensationell neu nicht. Interessanter sind dann vielleicht schon die Debatte und die Positionierungen, die heute - so nehme ich es jedenfalls an - eingenommen werden. Wo die Grünen nun einmal recht haben, haben sie recht. (Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir werden in unserer Gesellschaft weniger, und wir werden überdies auch älter. Die Geburtenrate ist zu niedrig; die entsprechende negative Statistik in Europa führen wir zusammen mit den Italienern vom Schluss her an. Der Wanderungssaldo - das haben wir auch gestern noch einmal gehört und besprochen - ist negativ. Herr Kollege Kilic hat zu Recht darauf hingewiesen: Selbst bei der Zuwanderung von Hochqualifizierten und Qualifizierten zum Teil auf sehr konkrete Arbeitsplatzangebote ist ein Rückgang im letzten Jahr im Vergleich zu den Vorjahren zu verzeichnen. Im Übrigen haben wir deswegen schon im Jahre 2001 in der Unabhängigen Kommission Zuwanderung, die von Frau Professor Süssmuth geleitet wurde - Stellvertreter war Hans-Jochen Vogel -, es für richtig und gut gehalten, ein Auswahlverfahren, ein Punktesystem zu schaffen, mit dem wir Zuwanderung gezielt organisieren. Als rot-grüne Mehrheit haben wir dies damals im Bundestag aufgegriffen und in der Tat, Herr Kollege Bosbach, in dem § 20 umsetzen wollen, wohingegen die Union uns dies mit dem Argument "Kinder statt Inder" wieder herausgeschossen hat; der eine oder andere wird sich vielleicht noch daran erinnern. Ich war damals im Übrigen gar nicht so furchtbar traurig darüber, dass dieser Punkt herausgenommen worden ist - jedenfalls nicht so traurig wie bei anderen Punkten -, weil mir klar war: Eines Tages wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Wirtschaft selbst oder ihre Interessenvertreter hier im Bundestag, die FDP, angesichts der demografischen Entwicklung auf den Plan treten und sagen werden, dass wir dringend zusätzliche Fachkräfte benötigen und deshalb Zuwanderung organisieren müssen. Diese Diskussion läuft jetzt seit dem letzten Herbst. Schließlich haben wir, die SPD-Fraktion, in einem Papier vom April 2009 zum Thema Migrationspolitik ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir ein Zuwanderungsverfahren nach Punktesystem für richtig halten. So ist es, und so bleibt es auch. Damit aber klar wird, welche Prioritäten wir setzen: Wir müssen uns zunächst einmal all denjenigen widmen, die bereits in Deutschland leben. Da gibt es in der Tat gewisse Unterschiede zu Bündnis 90/Die Grünen, auf die ich noch im Einzelnen zu sprechen kommen werde, gerade was den vorliegenden Antrag angeht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, ich finde es - darf ich das so sagen? - vielleicht ein kleines bisschen naiv, ausgerechnet von dieser Bundesregierung zu erwarten, dass sie uns einen Gesetzentwurf dazu vorlegt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Sie sprechen aus Erfahrung, Herr Veit!) - Ich spreche aus der Erfahrung, die ich in über einem Jahr gesammelt habe. Wir warten noch darauf, dass Sie mit dem Regieren beginnen. Sie sind in einem Lernprozess begriffen, der selten von Erfolg gekrönt ist. Manchmal ist man über die Ergebnisse eher erschrocken. Herr Kollege Dr. Uhl, damit das nicht vergessen wird: Ich bin stolz auf gemeinsame Regierungsjahre; die Große Koalition war gelegentlich besser als ihr verbreiteter Ruf. (Beifall des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD] - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Na ja!) Wir wollen aber gar nicht nur allgemein über diese Regierung und die Mehrheitsfraktionen reden, sondern über die Frage, wie Sie sich hierzu positionieren. Nun wurde unter der Überschrift "Zuwanderung: De Maizière blockiert" im Handelsblatt geschrieben, er sei dagegen, grundsätzlich, zunächst. Am Schluss des Berichts wird richtigerweise gesagt, dass Deutschland nach Auffassung der Regierung "an erster Stelle sein inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen" solle. Darüber kann und muss man in der Tat reden. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist ja nicht falsch!) - Ich höre sogar Zustimmung von der FDP. - In der Welt vom 20. Januar, also von heute, liest es sich ganz anders: Während die FDP massiv für eine verstärkte gesteuerte Zuwanderung eintritt, so auch Herr Brüderle, der da zitiert wird, ist es nun ausgerechnet Frau Haderthauer, die bayerische Arbeitsministerin, die gesagt hat - das muss ich einfach zitieren -: "Wir haben keinen echten Fachkräftemangel, solange die Rahmenbedingungen für unsere jungen Leute gekennzeichnet sind von befristeten Arbeitsverträgen, unflexiblen Arbeitszeitmodellen und unbefriedigenden Gehältern." Was die Wirtschaft beklage, sei doch in Wirklichkeit "ein Mangel an Arbeitnehmern, die bereit sind, zu diesen Bedingungen zu arbeiten". (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]) Das ist der Punkt. Diese Übereinstimmung mit der Einschätzung von Frau Haderthauer sollte einen eigentlich nachdenklich stimmen. Wir wollen Ihnen jedenfalls klar und deutlich sagen, dass man zwar immer darüber reden kann, ob man mit einer kleinen Zahl von Anwerbungen beginnt, um das System auszuprobieren - das war auch 2001 und 2002 unsere Vorstellung -, man aber, bevor man in großer Zahl Zuwanderung organisiert, daran denken muss und soll: Wir haben trotz Aufschwung immer noch 3 Millionen Arbeitslose, von denen etwa ein Drittel länger als ein Jahr arbeitslos ist. Wir haben in Deutschland immer noch 1,5 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss. Wir haben - auch das ist eine Schande, eine Vergeudung von Ressourcen und eine Beeinträchtigung menschlicher Entwicklungen und Schicksale - immer noch 300 000, 400 000, 500 000 oder 600 000 Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland - lassen Sie uns nicht über die Zahlen streiten -, deren Berufsabschlüsse nicht vernünftig anerkannt werden; da ist diese Koalition und diese Regierung nunmehr endlich gefordert. Wir haben die Problematik, die mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ab dem 1. Mai verbunden ist; niemand kann eine Prognose dazu abgeben, jedenfalls fühle ich mich dazu nicht imstande. Wir haben immer noch - ich werde nicht müde, Ihnen das auch an dieser Stelle zu sagen - eine fünfstellige, vielleicht sogar eine sechsstellige Zahl von in Deutschland lebenden lediglich geduldeten Mitbürgerinnen und Mitbürgern - wir haben dieses Thema schon gestern angesprochen -, die ohne Perspektive hier sind und denen man erst einmal Gelegenheit geben sollte, in Deutschland ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele von ihnen sind bereits in Deutschland geboren oder hier aufgewachsen und haben Integrationsleistungen erbracht. Man sollte auf die Gruppe der jetzt schon bei uns lebenden Menschen Rücksicht nehmen und sie mit entsprechender Bildung gezielt fördern, anstatt nur an die Zuwanderung von außen zu denken. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] und Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind also nach wie vor für eine gesteuerte Zuwanderung nach Punkten und mit Auswahlverfahren. Wir sagen aber auch: Wir brauchen zunächst (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ja, so halb und halb!) eine inländische Allianz für Fachkräfte, eine Allianz zwischen den Beteiligten im Wirtschaftsgeschehen, aber auch aller staatlichen Ebenen, von Kommunen, Land und Bund. Auch das tut not. Da gibt es einiges zu regeln. Ich habe schon die Unterlassungen dieser Regierung und der Koalitionsfraktionen bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse angesprochen. So könnte man das beliebig fortsetzen. Wir brauchen flexible Arbeitszeitmodelle, eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die durch entsprechende Kinderbetreuungsangebote noch besser gelingt - auch das verweigern Sie -, und wir brauchen für eine Reihe von Berufen attraktive Arbeitsbedingungen; das heißt vor allen Dingen attraktive Löhne. Denn es geht ja nicht nur darum, dass es die Leute nicht gibt, um bestimmte Arbeitsplätze zu besetzen; vielmehr werden Arbeitsplätze auch deswegen nicht angenommen, weil sie nicht vernünftig entlohnt werden. Wir brauchen auch Mindestlöhne. Das ist notwendig, aber auch hier verweigert diese Koalition entsprechende Taten. Wir haben hier mehr oder weniger nur hohle und leere Worte gehört. Noch einmal: In der Tendenz sind wir durchaus bei Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen vorher aber durch eine Allianz für Fachkräfte, durch eine entsprechende Offensive für die bereits in der Bundesrepublik lebenden Menschen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle Potenziale genutzt werden. Da sind wir uns mit manchem Diskussionsbeitrag wieder einig. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stimmen für eine Zuwanderungssteuerung nach klaren, transparenten, zusammenhängenden und nachvollziehbaren Kriterien mehren sich in allen Fraktionen und Parteien. Die FDP freut sich darüber. Wir Liberalen haben in den vergangenen Legislaturperioden dafür bereits entscheidende Anstöße gegeben. Nun steht dieses Ziel auch im Koalitionsvertrag mit den Unterschriften von Angela Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer. Dabei geht es uns nicht einfach nur um die demografische Entwicklung. Es geht auch nicht einfach nur um die Alterung der Gesellschaft oder andere statistisch darstellbare Prozesse. Uns geht es vor allem um die Menschen. Wir Liberale wollen Chancen eröffnen. Wir wollen nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute machen, sondern Perspektiven eröffnen. Wir wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre Zukunft selbst erarbeiten können. Das bisherige Recht zur Arbeitsmigration ist voller bürokratischer Hemmnisse, (Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Hört! Hört!) und zwar nicht nur in der sachlichen Regelung selbst, Herr Staatssekretär, sondern vor allem in seiner unübersichtlichen Struktur, die für einen Außenstehenden kaum zu durchschauen ist. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Weder Menschen, die sich für die Zuwanderung nach Deutschland interessieren, noch die Menschen hierzulande, die Ängste in Bezug auf die Zuwanderung haben, können das gegenwärtige Zuwanderungsrecht abschätzen oder seine Wirkung durchschauen. Daraus resultieren häufiger Ablehnung und Skepsis in Bezug auf Zuwanderung nach Deutschland, und zwar auf beiden Seiten - bei Inländern und Ausländern. Wir meinen, Deutschland braucht klare, faire und einfache Regeln. Wir brauchen Vertrauen in eine verlässliche und sinnvoll gesteuerte Zuwanderung. Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nicht mehr werden halten können, wenn wir uns nicht für qualifizierte Zuwanderung öffnen. Davon sind alle Menschen in unserem Land betroffen. Unser Wohlstand sowie unsere Fähigkeit, Menschen in Not etwa durch Sozialleistungen zu helfen, gerät in Gefahr, wenn die dafür notwendige Wertschöpfung nicht mehr gelingt. In Baden-Württemberg etwa hat sich die Koalitionsregierung aus Union und FDP und besonders der für Integration zuständige Minister Professor Goll mit diesen Zukunftsfragen intensiv befasst. Hier fehlen bereits heute rund 37 000 Fachkräfte. McKinsey hat ermittelt: Deutschland benötigt 2020 - das ist in neun Jahren - rund 250 000 Akademiker und 250 000 Fachkräfte mehr als heute, davon die Hälfte in den eher technisch geprägten Wachstumskernen. Zur Deckung dieses Bedarfs wäre bei heutiger Abbrecherquote ungefähr eine Verdopplung der Studienanfängerzahlen nötig. Lieber Kollege Bosbach und andere, es ist absolut utopisch, zu glauben, eine Verdopplung der Studienanfängerzahlen bei anhaltend niedriger Geburtenquote im eigenen Land erreichen zu können. Das ist mathematisch schlicht nicht möglich. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Wir werden es selbst bei Verbesserungen im Bildungswesen in einem geradezu unvorstellbaren Ausmaß nicht schaffen, diese Zahlen zu erreichen. Deshalb hat die Koalition zu Recht vereinbart: Wir brauchen ein System, dass die Zuwanderung nach klaren Kriterien steuert und unsere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer klar definiert. Entscheidend ist: Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsere Gesellschaft weiterbringen? Für diese Menschen brauchen wir eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland leichter macht, sich für Deutschland zu entscheiden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutschland ist im Wettbewerb um die weltweit besten Köpfe weit zurückgefallen. Deutschland verliert derzeit sogar Fachkräfte: Es wandern mehr Fachkräfte ab als zu. Andere Staaten wie Kanada und natürlich die USA, aber auch Dänemark und Großbritannien ziehen die Besten der Welt an. Wir hingegen erlauben es uns, mit hohen bürokratischen Hürden, intransparenten Regeln und einer mangelhaften Zuwanderungskonzeption die Besten der Welt an Deutschland vorbeiziehen zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir erlauben es uns in Deutschland sogar, ausgebildete Fachkräfte aus Drittstaaten auf dem Arbeitsmarkt nachrangig zu behandeln und sie lieber ziehen zu lassen, als sie hier zu beschäftigen. Es ist gut, dass diese Koalition verbindlich vereinbart hat, diese kurzsichtige Kirchturmpolitik zu beenden. Wir brauchen eine Systematisierung des bestehenden Rechts zur Fachkräftezuwanderung: klarer, einfacher, transparenter. (Zuruf von der FDP: Gerechter!) Wir brauchen schnelle Entscheidungen, also eine Vorrangprüfung bei ausländischen Fachkräften innerhalb von zwei Wochen. Wir brauchen eine Senkung des Mindesteinkommens und gezielte Anwerbemöglichkeiten. (Rüdiger Veit [SPD]: Wir brauchen Mindestlöhne!) - Wir reden nicht über Protektionismen, die Sie gerade angesprochen haben, Herr Kollege Veit. - Als ersten Schritt schlagen wir eine Genehmigungsfiktion für die Vorrangprüfung und die Senkung des Mindesteinkommens auf 40 000 Euro vor. (Beifall bei der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir ja auch vorgeschlagen!) Trotz des sympathischen Titels des vorliegenden Antrags der Grünen wollen die Grünen etwas anderes. Sie wollen eine Erhöhung der Nettoeinwanderung. Sie wollen nur kompensatorische Maßnahmen für die befürchtete demografische Entwicklung. Die Grünen wollen die Kriterien, die sie zunächst für die Zuwanderungssteuerung fordern, sofort wieder aushebeln. Bildungsanforderungen sollen nach Auffassung der Grünen nicht mehr gestellt werden, wenn ein Zuwanderer sie, etwa aufgrund der Wahrnehmung von Familienpflichten, nicht erfüllen konnte. Damit wird vor allem der unqualifizierten Zuwanderung aus Regionen mit aus unserer Sicht nicht mehr zeitgemäßen Familienvorstellungen Tür und Tor geöffnet. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat uns jetzt tief getroffen!) Gesteuerte Zuwanderung ist kein Selbstzweck, sondern ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit. Verbindliche Kriterien sind notwendig. (Rüdiger Veit [SPD]: Wo ist euer Gesetzentwurf? - Gegenruf des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: In der Schublade!) Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderung in einen leeren Raum, sondern in eine gewachsene Kultur. Wer hierher zuwandert, muss sich auch hier integrieren wollen, das heißt sich unsere Sprache und unsere Grundwerte überzeugend zu eigen machen. Nur so eröffnet sich für sie die Perspektive, Deutsche zu werden und auch als solche anerkannt zu werden. (Rüdiger Veit [SPD]: Das klingt manchmal gar nicht so schlecht!) Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir uns weiterentwickeln können, nicht stehen bleiben und die entsprechenden Kapazitäten dafür haben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht gegen die Union, was Sie jetzt sagen!) Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangels dringend beheben. Lieber Herr Kollege Veit, Gewerkschaften und Arbeitgeber sind sich einig, dass der gesteuerte Zuzug von Fachkräften nach Deutschland nach klaren, transparenten und richtig gewichteten Kriterien einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei uns darstellt. (Rüdiger Veit [SPD]: Habe ich das bestritten?) Der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. (Rüdiger Veit [SPD]: Sag' das mal denen von der Union!) Es geht aber nicht um ein schlichtes Mehr an Zuwanderung, sondern es geht um ein System, das für den Deutschland-Interessierten durchschaubar ist, ihm seine Chancen aufzeigt und deutlich macht, wen wir brauchen. Es geht um eine Regelung, die auch den Menschen hierzulande das Gefühl gibt, dass diese Zuwanderer unsere Gesellschaft bereichern und uns alle gemeinsam voranbringen. (Beifall bei der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommen die denn? - Rüdiger Veit [SPD], an Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Josef, hast du die Rede geschrieben?) Diese Koalition hat dies im Koalitionsvertrag vereinbart und wird noch in dieser Legislaturperiode die Weichen dafür stellen. (Rüdiger Veit [SPD]: Da sind wir aber neugierig!) Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Sevim Daðdelen für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der Internetseite meines geschätzten Kollegen Kilic von den Grünen (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich danke Ihnen!) steht zum Punktesystem Folgendes: Hier geht es um die Einwanderung von Fachkräften, die Deutschland in einigen Branchen dringend benötigt. Die in Arbeit stehenden ausländischen Fachkräfte werden mit ihren Steuerzahlungen dazu beitragen, unser Sozialversicherungssystem aufrechtzuerhalten. Sie, Herr Kilic, und die Grünen insgesamt - so ist mein Eindruck - verstehen Einwanderinnen und Einwanderer anscheinend nur als Ware. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie redest du wohl erst über nicht geschätzte Kollegen? - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! Oh! - Sie sind aber gemein zu uns!) Sie beurteilen Migration bzw. Migrantinnen und Migranten nämlich fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des volkswirtschaftlichen Nutzenkalküls. Dieses Zitat hört sich für viele Menschen in Deutschland gar nicht so schlimm an. In den 90er-Jahren war es noch verpönt, unter Nützlichkeitserwägungen über Menschen zu sprechen. Damals, Anfang der 90er-Jahre, als viele Asylbewerberheime brannten, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch jetzt nicht um Asylbewerber! Es geht um Arbeitsmarktzuwanderer!) war es verpönt, darüber zu sprechen, ob Menschen für unsere Gesellschaft nützlich sind oder nicht. Heute ist das anders, weil der neoliberale Mainstream mittlerweile überall fest verankert ist. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Allerdings! Selbst bei Herrn Kilic, wie Sie sehen!) Ich kann den Grünen nur sagen: Eine auf der Basis von Arbeitsmarktkriterien betriebene und nur ökonomisch legitimierte Migrationspolitik führt zu sozialer Exklusion und rechtspopulistischen Ressentiments gegen Einwanderer und Minderheiten à la Sarrazin & Co. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Und à la Lafontaine!) Das ist die Erfahrung aus Kanada, meine Damen und Herren. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Selbstdisqualifizierung der Linken! - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aha! Die Linken wollen sich also abschotten!) Sie sagen: Es gibt einen Fachkräftemangel. Ich sage: Das ist ein Mythos. Das denkt übrigens nicht nur die Linke. So spricht zum Beispiel auch der Focus vom "Mythos Fachkräftemangel"; (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Der Focus ist natürlich ein guter Kronzeuge! - Memet Kilic [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt ja auch noch die Bild-Zeitung! Haben Sie da vielleicht auch etwas gelesen?) der Focus ist wahrlich kein linkes oder linksliberales Blatt. Hinzu kommt, dass es in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt, weder aktuell noch auf absehbare Zeit. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Bei den Linken ist der Fachkräftemangel am größten!) Das sagt selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin; auch das ist kein linksliberaler oder linker Thinktank. Lesen Sie sich ruhig einmal den Wochenbericht Nr. 46 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom November letzten Jahres durch. Dann werden Sie erfahren, dass es für ein derzeit generell knappes Arbeitskräfteangebot keine Belege gibt. Weder die untersuchte Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt noch die Lohnentwicklung noch die Ausbildungssituation lassen den Schluss auf einen Fachkräftemangel zu. Die Studentenzahlen zeigen laut dieser Studie, dass der Bedarf in den akademisch-naturwissenschaftlich-technischen Berufen in den kommenden Jahren gedeckt werden kann. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was machen wir jetzt? Müssen deshalb die Grenzen abgeschottet werden, oder was?) Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel. Ich kann Ihnen aber sagen, woran es einen Mangel gibt: Es gibt einen Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen in Deutschland. Der Bedarf an Fachkräften könnte in Anbetracht der hohen Erwerbslosigkeit problemlos gedeckt werden, wie selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sagt. Doch wollen die deutschen Unternehmen - auch das stellte dieses Institut fest - nicht den gerechten Preis für eine gute Arbeit bezahlen. An dieser Stelle verweist das DIW zu Recht auf die Lohnentwicklung. Die Preise sind in Deutschland und anderswo nach wie vor Indikator für Knappheiten auf den Märkten. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist auch gut so! Alles andere wäre Planwirtschaft!) Wenn es also einen allgemeinen Fachkräftemangel gäbe, müsste er sich ja auch bei der Lohnentwicklung zeigen. Es zeigt sich aber, dass die Löhne in Deutschland immer noch sinken. Das heißt, die Lohnentwicklung in Deutschland macht deutlich, dass es diesen Fachkräftemangel so nicht gibt. (Beifall bei der LINKEN - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Logik kannst du für dich behalten! Die kann nämlich kein anderer verstehen!) Meine Damen und Herren von den Grünen, eines finde ich unerträglich: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Kommt jetzt etwa der Vorwurf "menschenverachtend"?) Mit dem Punktesystem sollen ausländische Fachkräfte angezogen werden, um das deutsche Sozialversicherungssystem am Leben zu erhalten. War es nicht Rot-Grün, die mit der Agenda 2010, durch den Abbau von Sozialleistungen und die Entlastung von Unternehmen mehr Arbeitsplätze schaffen wollten? War es nicht Rot-Grün, die durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Einführung von Hartz IV Hunderttausende in Armut und soziale Ausgrenzung getrieben haben, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsches Thema!) die die Beschäftigten durch eine drastische Kürzung des Arbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen erpressbar gemacht haben (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit Zuwanderung zu tun? So ein Unsinn!) und Lohndumping Vorschub geleistet haben, vor allen Dingen durch Leiharbeit? (Beifall bei der LINKEN - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Sie spielen doch den einen gegen den anderen aus!) Sie tun so, als würden ausländische Fachkräfte jetzt das Problem beheben können, das Sie geschaffen haben. Sie sagen: Deutschland braucht Fachkräfte. Wir als Linke sagen: Deutschland hat Fachkräfte. (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber scheinbar nicht in Ihrer Fraktion!) Das Problem ist aber, Fachkräfte drehen Deutschland zunehmend den Rücken zu. Sie verlassen Deutschland. Wir haben gestern hier mit Herrn Bundesinnenminister de Maizière den Migrationsbericht 2009 beraten. Die bittere Erkenntnis aus diesem Migrationsbericht ist, dass Deutschland ein Auswanderungsland ist. Von den Deutschen, die aus Deutschland wegziehen und im Ausland erwerbstätig sind, hat etwa die Hälfte einen Hochschulabschluss, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können doch nicht wieder eine Mauer hochziehen!) über 40 Prozent von ihnen besitzen einen mittleren Bildungsabschluss. Mehr als ein Drittel sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, knapp 20 Prozent Techniker und 17 Prozent Führungskräfte. (Zuruf von der FDP: Weil wir so hohe Steuern haben!) Mehr als die Hälfte der Deutschen, die im Jahr 2009 ins Ausland gezogen sind, war zwischen 25 und 50 Jahre alt, etwa ein Fünftel war jünger als 18 Jahre. Es ist doch auch kein Wunder, dass diese Menschen gehen. Deutschland ist inzwischen ein Niedriglohnland geworden. Eine Ausbildung schützt längst nicht mehr davor, im Niedriglohnsektor zu landen. Laut Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen ist der Anteil der Betroffenen mit abgeschlossener Berufsausbildung zwischen 1995 und 2008 von 63,4 Pro-zent auf 71,9 Prozent gestiegen. Werden Erwerbstätige mit Hochschulabschluss dazugerechnet, sind vier von fünf "Niedriglöhnern" so gut qualifiziert, um in Deutschland als Fachkraft oder auch als hochqualifiziert zu gelten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb soll jetzt keiner mehr einwandern dürfen, oder was? Das ist eine komische Logik!) Sie wandern aus, weil sie keine gut bezahlte Arbeit finden. Auch vielen Ostdeutschen ist es in den letzten 20 Jahren so ergangen. Und ein Ende ist mit Ihrer Politik einfach nicht in Sicht. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist Ihre Lösung?) Für die Fachkräfte mit Migrationshintergrund, Herr Kilic, ist ein Land einfach unattraktiv, in dem nicht erst die Sarrazin-Debatte rassistische Spuren hinterlassen hat. In einem so ausländerfeindlichen gesellschaftlichen Klima wie in Deutschland möchten viele Fachkräfte mit Migrationshintergrund einfach nicht leben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben sie Ihnen das erzählt? Stand das im Focus?) - Ja, Herr Winkler, das erzählen mir viele. Und was ist Ihr Problem damit? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb darf keiner mehr einwandern, oder?) Das erzählen mir nicht nur viele, sondern es ist auch in Studien mehrfach belegt worden, dass viele Menschen auswandern, weil sie die Diskriminierungen in diesem Land einfach satthaben. (Beifall bei der LINKEN) Das könnten Sie auch einmal bestätigen; denn Sie wissen sehr genau, dass das so ist. Sie sagen, Deutschland brauche Fachkräfte, und Sie führen das auf die demografische Entwicklung zurück. Das ist moderne Kaffeesatzleserei. Wir werden uns jedenfalls nicht daran beteiligen, Prognosen über einen Zeitraum von knapp einem halben Jahrhundert abzugeben. Das ist einfach unseriös, und dies wird Ihnen jede Expertin oder jeder Experte bestätigen. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte vor allen Dingen noch einmal daran erinnern, dass Demografie auch immer wieder als Mehrzweckwaffe genutzt wird. Ich möchte daran erinnern, dass Anfang der 90er-Jahre viele Medien, aber auch viele Politikerinnen und Politiker die Demografie bemüht haben, um das Recht auf Asyl in Deutschland faktisch abzuschaffen. Damals hieß es: "Das Boot ist voll!" Heute heißt es: "Raum ohne Volk", wie der Spiegel schon im Jahr 2000 in reichlich geschmackloser Art titelte. Ich finde: Demografie ist kein Problem, das man überhaupt nicht beeinflussen kann. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Linke will uns abschotten!) Wenn es ein demografisches Problem gibt, liegt das daran, dass wir keine gute Familienpolitik, dass wir keine gute Arbeitsmarktpolitik und keine gute Bildungspolitik haben. Das alles ist veränderbar. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie von Demografie sprechen, dann müssen Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass vor 100 Jahren auf einen über 65-Jährigen noch zwölf Erwerbstätige kamen, vor 50 Jahren waren es noch sieben, vor 20 Jahren waren es vier. Ein Problem war das nicht; denn ein Problem mit der Demografie besteht nur bei sinkender Produktivität. Die Produktivität in Deutschland ist jedoch steigend und bildet so die Basis für die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, die nicht abgeschafft oder zerstört gehören wegen des Mythos des demografischen Wandels. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben den Braindrain angesprochen. Ich kann nur dazu ermuntern, sich auch einmal die Entwicklungsländer anzuschauen, die ganz klar und deutlich sagen, sie wollen keine Fachkräfte, die sie in ihren Ländern unter ganz schwierigen Bedingungen ausbilden und für ihr Land und ihre Zukunft nutzen wollen, in die Industriestaaten schicken, damit sie dort dazu benutzt werden können, die Länder des Südens noch mehr auszubeuten und von den Industriestaaten ausgeplündert zu werden. Das ist keine Entwicklungspolitik, an der sich die Linke beteiligen kann. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Ja, ich komme zum Schluss. - Sie haben ein Problem mit Fachkräften in Deutschland? Ich fordere, endlich eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage zu beschließen - das hatte Rot-Grün vor Jahren einmal versprochen, aber nie eingeführt -, (Rüdiger Veit [SPD]: Doch, wir haben es gemacht! Das ist im Bundesrat gescheitert! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist im Bundesrat gescheitert! Machen Sie keine Geschichtsklitterung!) damit jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz findet. Beschließen Sie ferner einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro; denn wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit - - Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Ja, das ist mein letzter Satz, Herr Präsident. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte kommen Sie zum Ende. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit und Humanität hier im Säurebad der Konkurrenz verschwinden. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ole Schröder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Glückwunsch!) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird niemand die Notwendigkeit bestreiten, dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern müssen. Die Bundesregierung kümmert sich um dieses Thema. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht, und das tun wir auch in der Zukunft. Wir kümmern uns auch um die Qualifizierung. Noch nie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie zu Zeiten dieser Regierung. Wir sind offen für Hochqualifizierte, aber die Gewinnung von Fachkräften ist nicht alleine Aufgabe des Staates, nicht alleine Aufgabe der Regierung und auch nicht alleine Aufgabe des Parlaments. Sondern in einer sozialen Marktwirtschaft ist es natürlich auch Aufgabe der Unternehmen, sich um Qualifizierung zu kümmern (Beifall bei der CDU/CSU) und sich um die Qualifizierten auf dem inländischen und dem europäischen Arbeitsmarkt zu bemühen, aber natürlich auch offen zu sein für Fachkräfte auf dem weltweiten Arbeitsmarkt. Wenn man die Diskussionen der letzten Wochen verfolgt hat, dann hat man manchmal den Eindruck gehabt, dass es alleine Aufgabe des Staates ist, den Unternehmen die Fachkräfte sozusagen frei zuzuführen. Das ist in einer sozialen Marktwirtschaft mit Sicherheit nicht der Fall, sondern es ist Aufgabe des Staates und der Unternehmen, einen attraktiven Standort zu schaffen. Attraktivität schafft man natürlich auch mit anständigen Gehältern, die Fachkräften gezahlt werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU - Rüdiger Veit [SPD]: Mindestlohn!) Attraktivität schafft man daneben natürlich auch dadurch, dass auch in den Unternehmen darauf geachtet wird, dass Beruf und Familie miteinander vereinbar sind, dass eine Willkommenskultur für Fachkräfte von außen geschaffen wird, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für den Ehepartner, der mitkommt, geschaffen werden und dass auch die Belange des Kindes mitberücksichtigt werden. Einige behaupten nun, durch das Zuwanderungsrecht werden die Unternehmen daran gehindert, Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Das ist doch nicht der Grund dafür, weshalb zu wenige Fachkräfte nach Deutschland kommen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immerhin haben Sie zugegeben, dass es zu wenige sind!) Das hängt doch vom Gehalt ab, das gezahlt wird, und davon, ob eine Willkommenskultur in den Unternehmen vorhanden ist. Auch Sprachbarrieren spielen sicherlich eine wichtige Rolle. In einem Punkt enthält unser Zuwanderungsrecht allerdings eine notwendige Filterfunktion. Wir wollen nicht, dass ausländische Arbeitnehmer zu Dumpinglöhnen und damit auf Kosten von inländischen Arbeitnehmern nach Deutschland geholt werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn diese Arbeitsplätze auch durch Inländer oder Europäer besetzt werden können. Zu dieser Filterfunktion in unserem Zuwanderungsrecht bekennen wir uns ausdrücklich. Natürlich haben die Unternehmen ein Interesse daran, aus einem möglichst großen Pool bzw. Angebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt auszuwählen. Selbstverständlich ist das das Interesse der Unternehmen. Wir holen Zuwanderer aber nur dann ins Land, wenn auch wirklich eine Nachfrage besteht. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Sehr gut!) Gemäß unserem Zuwanderungsrecht ist die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften schon heute zulässig, wenn Fachkräftemangel herrscht und die Zuwanderung eben nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt. In welchem Maße unser Zuwanderungsrecht schon jetzt offen ist, ist offensichtlich vielen nicht bekannt. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist uns nicht bekannt!) Es wird auch viel vernebelt. Ich gebe zu, unser Ausländerrecht ist nicht immer leicht verständlich. Aber wenn man die Regelungen genau liest, dann wird deutlich, dass Zuwanderung möglich ist. Es wird beispielsweise immer wieder behauptet, dass die Einstellung ausländischer Hochqualifizierter mit einem Jahresgehalt unter 66 000 Euro nicht möglich ist. Das ist schlichtweg Unsinn. Es gibt keine feste Gehaltsgrenze. In bestimmten Fallgruppen, zum Beispiel bei Führungskräften, kann sogar auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichtet werden. Das heißt, es kann komplett auf die Prüfung verzichtet werden, ob eine Stelle nicht auch von einem Inländer oder einem Unionsbürger besetzt werden kann. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie davon Gebrauch gemacht?) Die Gehaltsgrenze von 66 000 Euro ist nur für die Frage maßgeblich, ob von Anfang an ein unbefristetes Aufenthaltsrecht erteilt wird. Mit dieser Regelung, dass mit einem Jahresgehalt ab 66 000 Euro ab dem ersten Tag ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt wird, stehen wir in Europa an der Spitze, was Offenheit angeht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hochqualifizierte Wissenschaftler können sogar unabhängig von jeglicher Gehaltsgrenze nach Deutschland kommen und haben vom ersten Tag an den Anspruch auf ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum kommen so wenige?) Das deutsche Recht ist besser als sein Ruf. Auch Fachkräfte mit einem Jahresgehalt unter 66 000 Euro können kommen, wenn die Vorrangprüfung positiv beschieden wird. Sie erhalten dann aber zunächst eine auf maximal drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Das ist weltweit ähnlich geregelt. Denn wenn jemand nach kurzer Zeit arbeitslos wird und sich nicht integriert, dann müssen wir die Möglichkeit haben, die Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlängern. Wenn von dem Punktesystem die Rede ist, wird oft so getan, als wäre unser Zuwanderungsrecht mit einem Punktesystem modern und ohne dieses System total verstaubt. Das ist Ideologie. Es ist schlichtweg falsch. (Rüdiger Veit [SPD]: Das hat keiner gesagt!) Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir mit einem Punktesystem eine bessere Steuerung erreichen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic? Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Bitte schön. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Schröder, Sie gehen in Ihrer Rede davon aus, dass kein Zuwanderungsbedarf an Fachkräften existiert und mit den vorhandenen gesetzlichen Regelungen alles unter Dach und Fach ist. Als Regierungsmitglied müssten Sie wissen, dass die CDU vor ein paar Tagen in ihrer Mainzer Erklärung festgestellt hat, dass die CDU die Zuwanderung von Fachkräften steuern möchte. Das klingt so, als ob Handlungsbedarf besteht. Wo sehen Sie auf diesem Gebiet Handlungsbedarf, oder glauben Sie, dass alles von geltendem Recht gedeckt ist? Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Selbstverständlich sind wir offen für Fachkräfte aus aller Welt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) die zu uns kommen, um zu arbeiten, wenn dies nicht zulasten derjenigen geht, die hier einen Arbeitsplatz haben. Wir wollen keine Zuwanderung aus Drittstaaten außerhalb Europas, wenn dies zu höherer Arbeitslosigkeit führt. (Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch nicht!) Die Frage ist, woran es liegt, dass wir für Fachkräfte offensichtlich nicht so attraktiv sind, wie wir uns das vorstellen. Sie meinen, das löst sich dadurch, dass wir unser Zuwanderungsrecht ändern. Das Zuwanderungsrecht ist aber nicht unser Problem. Die Probleme liegen ganz woanders. Sie hängen mit einer Willkommenskultur zusammen. Sie hängen auch damit zusammen, dass wir ganz andere Sprachbarrieren haben als der angloamerikanische Raum. Diese Probleme müssen wir in Angriff nehmen, nicht das Zuwanderungsrecht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich meine, dass wir mit der Feinjustierung im bestehenden System besser in der Lage sind, die Zuwanderung zu steuern. Wir können damit viel besser arbeitsmarktorientiert steuern und präziser auf die Nachfrage der Unternehmen reagieren. Wenn jemand eine offene Stelle hat, die er nicht mit einem Inländer oder einem Unionsbürger besetzen kann, dann ist es nach geltendem Recht möglich, jemanden von außen zu holen und einzustellen. Wir müssen aber sicherstellen, dass wir keine Fachkräfte nach Deutschland holen, die hier nicht gebraucht werden. Ein Punktesystem schafft am Ende mehr Bürokratie. Sie müssen Behörden aufbauen, die Auswahlkriterien schaffen und Auswahlverfahren in den Herkunftsländern organisieren. Unser jetziges System ist bürokratieärmer. Lassen Sie uns keine große Migrationsbürokratie aufbauen! Das macht keinen Sinn. Stattdessen sollten wir unser jetziges System voranbringen. Wir sollten prüfen, ob die Vorrangprüfung im Rahmen des jetzigen Systems beschleunigt werden kann, zum Beispiel durch eine Genehmigungsfiktion. Wenn ein Unternehmen meint, eine Stelle nicht besetzen zu können und sich an die Bundesagentur wendet und nach drei, vier Wochen keinen Bescheid bekommt, wird eine Genehmigung fingiert, und es kann jemand von außerhalb der EU kommen. Wir müssen auch prüfen, ob wir in einigen Branchen auf die Vorrangprüfung verzichten können. Wenn die Vorrangprüfung bloße Förmelei ist, weil der Fachkräftemangel so offensichtlich ist, dann ist diese Prüfung nicht notwendig. Das ist jedoch schon auf der Grundlage des geltenden Rechts möglich. Dafür brauchen wir überhaupt keine Rechtsänderung. Wir sollten auch einen Blick auf das Fachkräftepotenzial in Europa werfen, insbesondere auf das in den in letzter Zeit beigetretenen Staaten. Ab Mai haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ganz Europa, zum Beispiel aus Polen, Ungarn, Slowenien und Tschechien - außer aus Bulgarien und Rumänien -, die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, um hier zu arbeiten. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, was dann passiert, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn bei den letzten Beitritten passiert?) welche Migrationsströme dann entstehen und wie diese auf den deutschen Arbeitsmarkt wirken, bevor wir solche Experimente durchführen, die Sie von uns verlangen! Lassen Sie uns auch das Arbeitsmarktpotenzial der alten Mitgliedstaaten nutzen! In Spanien spricht man bereits von einer verlorenen Generation. Ich lese in der FAZ, dass dort die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jährigen bei rund 40 Prozent liegt. Warum holen wir denn diese arbeitslosen Jugendlichen nicht nach Deutschland und bilden Sie aus? Das ist doch viel naheliegender, als auf anderen Kontinenten Anwerberstellen zu organisieren und ein Punktesystem einzuführen. Lassen Sie uns doch nach Europa schauen! (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind Ihre Vorschläge? Wie machen Sie das denn?) Warum kümmern wir uns nicht um die arbeitslosen Jugendlichen in Spanien? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dagegen hat niemand etwas!) Warum bilden wir sie hier nicht aus, zumal wir mit Jugendlichen, die aus unserem Kulturkreis kommen, wesentlich weniger Integrationsprobleme haben, als mit solchen aus anderen Kulturkreisen? (Beifall bei der CDU/CSU - Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Das ist echt völkisch!) Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie uns den Menschen, die hier leben, eine Chance geben! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir attraktiv für Fachkräfte sind! Ein neues Zuwanderungsrecht, insbesondere ein Punktesystem, brauchen wir hierfür nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist der Fachkräftemangel, insbesondere im Zusammenhang mit Zuwanderung, eines der zentralen Themen im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Ich möchte gerne die Frage des Kollegen Veit aufgreifen. Ist es denn wirklich klug, gerade dieser Regierung den Auftrag zu erteilen, ein Konzept für ein Punktesystem vorzulegen? Ich kann mich gar nicht recht entscheiden, welches der schlimmere Worst Case wäre: wenn sich die CSU durchsetzt und wir dann überhaupt keine Zuwanderung mehr haben oder wenn sich die FDP durchsetzt, die sich in ihrer Politik einseitig an den Interessen der Unternehmen orientiert. Notwendig ist, ein gesamtgesellschaftlich ausgewogenes Konzept vorzulegen, das sowohl die Interessen der Unternehmen und der Wirtschaft in Deutschland als auch die Interessen der Menschen, die hier leben - ob mit oder ohne Migrationshintergrund -, berücksichtigt. Die Bundesregierung ist nicht nur beim Thema Zuwanderung zerstritten, sondern auch komplett blank, wenn es darum geht, das Potenzial, das wir hier im Land haben, zu heben und hier für mehr Fachkräfte zu sorgen. Alles, was ich bisher zu diesem Thema gehört habe, waren Sonntagsreden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie über Bildung reden, dann sind das Sonntagsreden. Sie versuchen weiterhin, Ihre Ideologie durchzusetzen, konkrete Konzeptionsvorschläge haben Sie nicht. Herr Bosbach - ich weiß nicht, ob er noch da ist - hat darüber gesprochen, dass man mehr für die Arbeitsvermittlung tun muss. Ich merke, dass ich bei diesem Thema richtig sauer werde. War es nicht die schwarz-gelbe Regierung, die die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik massiv zusammengestrichen hat? Oder ist mir etwas entgangen? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ist Ihnen aufgefallen, dass wir nicht mehr wie bei Ihnen 5 Millionen, sondern 3 Millionen Arbeitslose haben? - Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Was nicht sein kann, darf nicht sein!) Lassen Sie mich zu einer Gruppe von Personen kommen, die in den Reden bisher noch nicht vorgekommen ist, nämlich die Menschen, die eingewandert sind, schon länger hier leben und ein nicht zu unterschätzendes Fachkräftepotenzial darstellen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Der Grünen-Antrag lautet auf Zuwanderung!) Wir erinnern uns: Die Ankündigungsministerin Frau Dr. Schavan hat uns versprochen, dass es ein Gesetz zur Anerkennung im Ausland abgeschlossener Berufsausbildungen oder akademischer Abschlüsse geben soll. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da warten wir schon lange drauf!) Das ist jetzt über ein Jahr her. Wir warten und warten und bekommen Ankündigungen über Ankündigungen. Das ist schlecht für die Unternehmen, und ich hoffe, es ist Ihnen auch ein bisschen unangenehm, dass das so lange dauert. Versetzen Sie sich einmal in die Lage der Betroffenen. Überlegen Sie, wie frustrierend das für die 300 000 bis 500 000 Menschen ist, die in unserem Land leben, ohne dass ihre bisherigen Leistungen in irgendeiner Weise anerkannt werden. Das ist eine Katastrophe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Selbst wenn dieses Gesetz irgendwann verabschiedet wird - ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendwann verabschiedet wird -: Frau Schavan hat deutlich gemacht, dass es eine Einschränkung geben wird, es wird nämlich kein Recht auf Anschlussqualifizierung geben. Was dann passiert, ist ziemlich klar: So wird zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrern aus der ehemaligen Sowjetunion teilweise nur das Abitur anerkannt, obwohl sie ein Lehramtsstudium absolviert haben. Zum Teil wird ihnen gesagt: Studieren Sie ein Fach noch einmal komplett nach; denn die meisten haben nur ein Fach studiert. Was passiert, wenn wir das so handhaben? Es wird vielen anderen Personengruppen auch so gehen, dass sie nur eine Teilanerkennung bekommen und dann im Regen stehen gelassen werden. Liebe Bundesregierung, entweder ist der Fachkräftemangel gar nicht so groß, oder Sie müssen an dieser Stelle kräftig nachregeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein zweites Beispiel sind die ausländischen Studierenden, die ihr Studium in Deutschland absolviert haben. Gestern haben wir uns alle miteinander über den Migrationsbericht gefreut, der besagt, dass wir fast 250 000 Bildungsausländer im Land haben. Das sind eine Viertelmillion Menschen, die hier studieren. Das ist ein großes Kompliment und widerspricht der These, dass niemand Interesse daran hat, in unserem Land zu studieren. Die Absolventinnen und Absolventen, die in Deutschland ihr Studium absolvieren, sind Topleute, das sind diejenigen, die wir unbedingt begeistern wollen, hierzubleiben und Arbeit aufzunehmen. Das hat schon Rot-Grün erkannt. Im Jahr 2005 haben wir im Zuwanderungsgesetz gemeinsam vereinbart, dass die Absolventinnen und Absolventen ein Jahr Zeit bekommen sollen, um einen Arbeitsplatz zu finden. Selbst in der Großen Koalition konnte sich die SPD noch durchsetzen. Olaf Scholz hat durchgeboxt, dass für die Absolventinnen und Absolventen die Vorrangprüfung nicht mehr gilt und dass sie auch wieder einreisen können, wenn sie später hier einen Arbeitsplatz finden. Das sind große Chancen, die den meisten kaum bekannt sind. Das spiegelt sich in den Zahlen wider. Nur wenige versuchen, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden, noch weniger schaffen es. Was tut die Regierung? Immerhin diskutiert sie das Thema. Es ist gut, dass die Bundesregierung in die richtige Richtung diskutiert. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein!) Das Problembewusstsein ist vorhanden, aber ich habe so meine Zweifel, ob etwas dabei herauskommt. Der Minister hat schon wieder etwas ausgeschlossen. Er sagt, dass die betroffenen Personen definitiv nicht länger als ein Jahr Zeit bekommen sollen, um Arbeit zu finden. Ich persönlich halte das für einen Fehler. Denn wenn wir betrachten, wie lange die Absolventinnen und Absolventen in Deutschland brauchen, um einen Arbeitsplatz zu finden, dann stellen wir fest, dass nach einem Jahr nur 50 Prozent der Absolventinnen und Absolventen eine reguläre Beschäftigung gefunden haben. Sie wissen alle, dass es Menschen aus Drittstaaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt aus Gründen, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte, bedeutend schwerer haben. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat Ihr Parteikollege verursacht!) Liebe Bundesregierung, insofern besteht auch hier Handlungsbedarf. Ihre Ankündigungen sind bisher nur vage. Außerdem gehen Sie mit Ihren Ankündigungen nicht weit genug. Es ist also viel zu tun, um das Problem des Fachkräftemangels und des Hebens des Potenzials im eigenen Land anzugehen. Was ich dazu bisher gehört habe, hat überhaupt nichts mit dem Titel "Fachkräftestrategie" zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Analysiert man die Lage, dann muss man doch klar sagen: Es gibt heute einen Wettbewerb um die klügsten Köpfe der Welt. Leider müssen wir hinzufügen: Deutschland partizipiert hieran nicht gut genug. Wir sind nicht gut genug aufgestellt. Das sieht man an der Zahl der Hochqualifizierten, die derzeit über die Einkommensgrenze springen. Im vergangenen Jahr waren es gerade einmal 169 Personen. Das kann uns doch nicht zufriedenstellen. Das sieht man außerdem am Anteil der Hochqualifizierten an den Zugewanderten insgesamt. Dieser Anteil liegt bei uns bei 22 Prozent. In den USA sind es 43 Prozent. In Kanada sind es sogar 59 Prozent. Unsere Mitbewerber sind also doppelt so gut wie wir. Das sieht man auch am Saldo. Seit dem Jahr 2000 verließen unser Land pro Jahr im Schnitt 16 000 Hochqualifizierte mehr, als gekommen sind. Der Auftrag ist also klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderer, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das gilt aber nicht nur aufgrund der heutigen Situation, sondern insbesondere aufgrund der Situation, die sich infolge des demografischen Wandels in der Zukunft zeigen wird. Bis 2030 werden uns 6 Millionen Erwerbspersonen - vor allem Fachkräfte - in Deutschland fehlen. Das ist so, als ob Hessen plötzlich einfach weg wäre. Das kann Deutschland nicht verkraften. Deshalb ist der Auftrag klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderer. (Zuruf von der FDP) - Dass Hessen einfach weg wäre, das macht natürlich besonders den hessischen Kollegen Sorgen. Das muss uns aber auch insgesamt Sorgen machen. Liebe Kollegin Kolbe, das ist keine Sache, die nur die Unternehmen etwas angehen sollte. Das ist übrigens auch kein Gegensatz zur Qualifikation der leider arbeitslosen Menschen, die wir heute in diesem Land haben. Nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch muss die Devise sein; denn jeder Hochqualifizierte, der kommt, schafft doch in Deutschland weitere Arbeitsplätze. Liebe Kollegin Kolbe, dem Facharbeiter am Band bei BMW ist es vollkommen egal, ob der leitende Ingenieur ursprünglich aus Südamerika kommt oder in Deutschland geboren wurde. Wenn der Ingenieur jedoch fehlt und die Ingenieurstelle nicht besetzt werden kann, sind auch die Arbeitsplätze am Band gefährdet. Deshalb geht es hier nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Es geht um Qualifikation im Inland und um mehr qualifizierte Zuwanderer aus dem Ausland. (Beifall bei der FDP - Iris Gleicke [SPD]: 29 000 arbeitslose Ingenieure! Vielleicht qualifizieren Sie die!) Wir brauchen dafür ein einfacheres und transparenteres System, weil wir die Entwicklung anhand der Qualifikation der Zuwanderer und anhand der Bedürfnisse auf dem Arbeitsmarkt steuern müssen und vor allem weil das deutsche Kontensystem zu kompliziert ist. Wenn sich ein junger Vietnamese beispielsweise dafür interessiert, in ein anderes Land zu gehen, dann ist es unrealistisch, dass er nach Deutschland kommt, wenn es auf der einen Seite ein System wie in Kanada gibt, wo er innerhalb von fünf Minuten auf der Homepage der Botschaft ermitteln kann, ob er zuwandern darf oder nicht, und wenn es auf der anderen Seite ein System gibt, wie wir es heute in Deutschland haben, bei dem er erst den Stellenteil einer deutschen Tageszeitung wälzen muss und dann noch möglicherweise anwaltliche Beratung braucht, um herauszufinden, wie er hierherkommen kann. Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb brauchen wir ein einfacheres System. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mir persönlich ist es ganz egal, wie das System heißt. Mich überzeugt ein Punktesystem, weil die Erfahrungen damit beispielsweise in Kanada so gut sind. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Rede!) Deshalb halte ich das für einen guten Vorschlag. Mich überzeugt auch, dass zum Beispiel die Arbeitsplatzfrage dabei ganz smart in ein System integriert wird. Welches System dies ist, ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, dass es funktioniert, dass es steuert und dass es einfach ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, jetzt kommen wir zu den Unterschieden. Wir brauchen nämlich nicht nur ein gutes Zuwanderungssystem. Sondern wir brauchen - und darüber schweigen Sie sich leider völlig aus - das Bewusstsein, dass wir aktiv um die Fachkräfte in der Welt werben müssen. Natürlich geht es um die deutsche Wirtschaft. Es geht aber auch um die Politik. Wir müssen deutlich machen, dass wir diese Menschen zu uns holen wollen. Daran hapert es bisher. Dazu sagen Sie in dem Antrag leider überhaupt nichts. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das halten wir für so selbstverständlich, dass wir nichts hineingeschrieben haben!) Darüber hinaus - dabei hat das Innenministerium vollkommen recht - brauchen wir eine Willkommenskultur. Wir brauchen eine Kultur, die deutlich macht, dass wir wollen, dass die Menschen hier auch anerkannt werden. Schauen wir uns doch einmal die Situation der Fachkräfte an, die heute schon in Deutschland sind. Uns berichtet nicht nur beispielsweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass es immer wieder Probleme mit deutschen Ämtern gibt. Die Betroffenen stehen vor der Situation, dass etwa ihre Qualifikation hier nicht anerkannt wird. Dazu kann ich nur sagen: Wir brauchen ein Ausländerrecht, das den Menschen deutlich macht, dass sie hier willkommen sind. Eine Bekannte von mir ist eine junge Philippinin, die an einer amerikanischen Topuniversität gut ausgebildet wurde. Sie hat mir gegenüber nicht gerade den Eindruck vermittelt, dass sie von den deutschen Ausländerämtern besonders hofiert worden sei. Dabei ist es eindeutig eine junge Person, die unsere Gesellschaft bereichern könnte. Außerdem müssen bei uns mehr Abschlüsse anerkannt werden. Da kann ich die Kritik der Opposition nicht verstehen; schließlich ist es doch diese Bundesregierung, die sich vorgenommen hat, dieses Thema jetzt anzugehen. (Beifall bei der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Vogel, auch die Weichen richtig gestellt?) Ganz klar ist: Wir brauchen drei Ws. Wir müssen erstens den Wettbewerb aufnehmen; durch ein kluges System müssen die klügsten Köpfe ausgewählt werden. Wir müssen zweitens Werbung für unser Land machen, und wir müssen drittens eine Willkommenskultur schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Formulierungshilfen von der Opposition, insbesondere von Ihnen, brauchen wir dafür nicht. Dieses Thema hat die Regierung sich längst vorgenommen; es ist bei der Koalition in guten Händen. Schwarz-Gelb schafft es am ehesten, die Zuwanderungssteuerung, die Werbung und die Willkommenskultur zusammenzubringen, eher als Sie jedenfalls. Das zeigt sich an den Zahlen. Schaut man sich einmal die Zahlen von 2009 an, stellt man fest, dass, wie ich eben schon gesagt habe, leider mehr hochqualifizierte Menschen aus- als zugewandert sind. Trotzdem sind viele gekommen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind alle wegen Guido Westerwelle eingewandert, oder was? Das glauben aber nur Sie!) Interessant ist, sich anzuschauen, in welche Bundesländer die Einwanderer im Jahre 2009 gegangen sind. Für mich nicht überraschend standen an der Spitze der Rangliste natürlich drei damals glücklicherweise schwarz-gelb regierte Länder: Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg. Das zeigt: Hochqualifiziertenzuwanderung und Fachkräftemangelbekämpfung sind bei Schwarz-Gelb in besseren Händen als bei Ihnen. Deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, dass vor allem die FDP Zuwanderung braucht!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wiederhole, was meine Kollegin Sevim Daðdelen gesagt hat: Es gibt keinen Fachkräftemangel in Deutschland. Diese Aussage kommt nicht von mir - ich führe nämlich keine Untersuchungen durch -, sondern sie beruht auf einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie im Focus gelesen!) - Wollen wir hinterher noch einmal reden? Rufen Sie jetzt nicht dazwischen, bitte. (Beifall bei der LINKEN - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie jetzt die gleiche Studie noch einmal?) Worum geht es, wenn führende Unternehmen über unbesetzte Ingenieurstellen klagen und sogenannte Experten schon eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 50 Stunden in der Woche heraufbeschwören? Ich sage: Fachkräfte sind da; aber der Wirtschaft sind sie zu teuer. Persönlich habe ich mich die ganze Zeit über eine Diskussion über Fachkräftemangel gefreut, weil die Fachkräfte endlich einmal selbstbewusste Forderungen stellen konnten, zum Beispiel in Tarifrunden. Das geht nun nicht, weil die Wirtschaft jetzt im Grunde schaut, wie man dem Fachkräftemangel über Zuwanderung aus dem Ausland begegnen kann; sie hat die Diskussion darüber ganz einfach wieder entdeckt. Den Fachkräften aus dem Ausland kann man weniger Gehalt als den heimischen Beschäftigten zahlen, und darum drängen die Arbeitgeberverbände auf eine schnelle Lösung, die diesen Menschen einen leichten Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Das wird der Wirtschaft gerecht, aber nicht den Menschen, weder denjenigen, die hier leben, noch denjenigen, die zu uns kommen. Die Grünen fallen genau auf diesen Trick und diese Überlegung herein. Die Debatte um Fachkräftemangel ist nicht neu, die zweifelhaften Lösungen auch nicht. Waren es vor gut zehn Jahren die IT-Spezialisten, sind es heute Ingenieure und Techniker, und das auch nur in einigen Branchen. Wir erinnern uns an Rüttgers peinliche Debatte um "Kinder statt Inder". Die Greencard war ein Reinfall. Anstatt über gesteuerte Fachkräftezuwanderung mit Karten und Punkten zu sinnieren, müssen wir doch erst einmal über das eigentliche Thema reden, und das ist im Grunde die verkorkste Arbeitsmarktpolitik. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung und rund 4,1 Millionen Menschen ohne Arbeit. Dazu kommen viele verdeckte Erwerbslose; sie sind nicht mitgerechnet. Jahrelang hat sich die herrschende Politik um die junge Generation nicht gekümmert. Betriebliche Ausbildungsplätze wurden abgebaut, und stattdessen wurden sinnlose Warteschleifen und Schmalspurausbildungen eingerichtet. Nicht einmal ein Viertel der Betriebe bildet aus. Die drei Viertel, die nicht ausbilden, schreien jetzt am lautesten nach Facharbeitern. Die Unterzeichnung des Ausbildungspakts ist keine drei Monate her. Dort hätten Arbeitgeberverbände einfach die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze vereinbaren können. Das haben sie nicht getan. Es galt, lieber stillzuhalten und zu warten, ob es billige Fachkräfte aus dem Ausland gibt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht ja nicht um billig!) Dazu muss man ja keine eigenen Investitionen tätigen. Gerade für die 1,5 Millionen jungen Menschen, die sich qualifizieren wollen, ist das wie ein Schlag ins Gesicht. (Beifall bei der LINKEN) Bei der Qualifizierung der Beschäftigten sieht es auch nicht besser aus. Dort haben viele Arbeitgeber in den letzten Jahren einfach geschlafen und zu wenig in die Weiterbildung investiert. Auch diese Betriebe rufen jetzt nach qualifizierten Facharbeitern. Als Gewerkschafterin sage ich den Betrieben: Übernehmen Sie endlich die Verantwortung und bilden Sie Ihre Beschäftigten weiter bzw. bilden Sie junge Menschen aus. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Solange darf keiner einwandern!) - Mit Ihnen rede ich auch hinterher noch mal gerne. - (Beifall bei der LINKEN) Das ist das beste Mittel gegen Fachkräftemangel. Ich kenne einen jungen Industrieelektroniker, der sich zum Techniker weiterqualifiziert hat. Aber sein Betrieb hat ihn nicht entsprechend seiner höheren Qualifikation beschäftigt. Der hat lieber Mitarbeiter von außen geholt. Dieser junge Kollege hat sich dann entschieden: Ich gehe nach Norwegen und suche mir da einen Arbeitsplatz. Er hat dort eine Perspektive gefunden. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja rechtswidrig!) Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich sehe auch, dass das kein Einzelfall ist. Ich persönlich kenne noch mehrere Kollegen, die hochqualifiziert sind und heute überlegen, ins Ausland zu gehen, um ihre Qualifikation, die auch eine Halbwertzeit hat, entsprechend einzusetzen. Deutschland ist mittlerweile - das ist auch schon gesagt worden - kein Einwanderungsland, sondern ein Auswanderungsland. Da bilden sich Menschen ohne staatliche oder betriebliche Hilfe weiter, und sie werden trotzdem ignoriert. Ich kann es den jungen Leuten nicht verdenken, wenn sie in Richtung Auswanderung denken. Wenn wir Facharbeiter haben wollen, müssen wir den Facharbeitern auch eine Chance geben. (Beifall bei der LINKEN) Daneben gibt es noch Millionen von erwerbslosen Menschen, die auf eine Chance warten, auch ausgebildet zu werden. Gleichzeitig aber winkt die Bundesregierung ihr Sparpaket mit massiven Einsparungen bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten durch. Die Erwerbssituation in Deutschland befindet sich in einer Schieflage. Ich gebe allen recht, die so darüber reden. Schuld daran ist eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik, die eher bereit ist, aus fähigen Beschäftigten Leiharbeitnehmer zu machen, als sie anständig zu bezahlen. Ihre Arbeitsmarktpolitik macht Druck auf die Arbeitnehmer und versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Anstatt junge und ältere Beschäftigte einzustellen, Frauen mit Kindern zu unterstützen, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben und nicht zuletzt den hier lebenden Migranten endlich ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse anzuerkennen, werden nun wieder einmal internationale Fachkräfte gesucht. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um qualifizierte Zuwanderung und ordentliches Gehalt!) Hauptsache, sie sind schneller und billiger als hier zu bekommen. Die Linke spielt da nicht mit. Die Menschen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir brauchen keine Bewertung der Menschen nach Nützlichkeit. (Beifall bei der LINKEN) Wir fordern freie Zugänge für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und den gleichen Lohn für gleiche Arbeit - egal ob sie zu uns kommen oder schon bei uns sind. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn sowie gleichen Lohn für gleiche Arbeit. (Beifall bei der LINKEN) Vor allem brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die den Menschen und nicht die Maximalprofite in den Mittelpunkt stellt. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere zunächst: Der wachsende Fachkräftemangel ist in dieser Legislaturperiode das Megathema. "Er droht mittelfristig die gesunde wirtschaftliche Entwicklung abzuwürgen und zum Treiber für neue Arbeitslosigkeit zu werden." Jetzt frage ich Sie mal: Von wem stammt wohl dieses Zitat? (Max Straubinger [CDU/CSU]: Von Brigitte Pothmer!) - Das ist nicht von mir - Sie können jetzt nicht sagen: Pothmer übertreibt mal wieder -, sondern das stammt von Ihrer eigenen Arbeitsministerin Frau von der Leyen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, Frau von der Leyen hat recht. Sie werden ihr doch jetzt den Applaus nicht verweigern. Obwohl die Erkenntnis in dieser Regierung ganz offenbar da ist - mindestens in Teilen der Regierung -, führt die Koalition hier eine richtige Geisterdebatte. Die Union verweigert jede Einsicht in die gesellschaftlichen Realitäten, und die FDP verleugnet sich. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Nein, nein!) Sie teilen hier voll und ganz das Konzept, das wir Ihnen vorstellen, und gleichzeitig sagen Sie: Wir werden dem nicht zustimmen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dann müssen Sie sich nicht wundern, dass der gelbe Balken bei den Wahlumfragen sozusagen im Nichts verschwindet. Dabei ist eines doch wirklich längst klar: Es geht nicht um ein Entweder-oder; es geht um ein Sowohl-als-auch. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das stimmt! Aha! Sie haben gut zugehört, Frau Kollegin!) Es geht auch um die Förderung Einheimischer. Sie dürfen nicht gegen Zuwanderer ausgespielt werden. Aber was für eine Politik betreibt diese Bundesregierung? Sie von der Bundesregierung betreiben nicht nur eine Politik des Entweder-oder; Sie betreiben eine Politik des Weder-noch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]) Sie sperren sich gegen eine notwendige und sinnvolle Zuwanderung, und Sie tun nichts, aber auch gar nichts, um Arbeitslosen tatsächlich die Chance zu geben, auf die neu entstehenden Arbeitsplätze zu kommen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Falsche Debatte!) Herr Bosbach sagte gerade, das sei jetzt die wichtigste Aufgabe. Aber gleichzeitig kürzen Sie den Eingliederungstitel für Langzeitarbeitslose um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Weil viel eben nicht immer viel wirkt! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist scheinheilig!) Wie soll denn dann die Eingliederung gelingen? Genau in dem Moment, in dem das erste Mal die Arbeitsplätze da sind, für die wir die Leute qualifizieren könnten, streichen Sie diesen Titel zusammen, berauben die Menschen der Chancen und berauben die Wirtschaft der Chance, weiter zu wachsen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Aber auch die Potenziale der hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund heben Sie nicht. Es gibt immer noch den Pizzaausfahrenden Ingenieur, und es gibt immer noch die Ärztin, die als Putzfrau arbeitet. Dazu sagt der Parlamentarische Staatssekretär Schröder: Wir kümmern uns. - Ja, Sie kümmern sich. In dieser Regierung sind fünf Ministerien damit beschäftigt, sich diesem Thema zuzuwenden. Das bekommt dem Thema ausdrücklich gar nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie streiten sich wie die Kesselflicker, und in der Sache bewegt sich nichts. Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Der Fachkräftemangel fängt in dieser Bundesregierung an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie waren schon mal richtig inhaltlich!) Ein Gesetzentwurf zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse, Herr Schröder, wurde uns schon für das Jahr 2010 angekündigt. (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie hatten sieben Jahre Zeit!) Jetzt ist 2011, und es liegt immer noch kein Gesetzentwurf vor. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was zu erwarten war!) Sie kümmern sich, aber es passiert nichts. Hören Sie auf, sich zu kümmern! Tun Sie endlich etwas! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Das Wachstum der Zukunft könnte weiblich sein. Wenn wir die Potenziale nutzen würden, die in den hochqualifizierten Frauen stecken, dann wäre es möglich, dass 2,4 Millionen Frauen mehr auf dem Arbeitsmarkt tätig werden. Sie könnten einen Beitrag leisten, auch zur Produktivität und zum wirtschaftlichen Wachstum. Wenn wir, wie skandinavische Länder auch, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich vorantreiben würden, hätten wir da ein immenses Potenzial. Aber um das zu erreichen, müssten wir natürlich auch die Kommunen besser ausstatten. Sie rasieren die Kommunen und fordern gleichzeitig mehr Kinderbetreuungseinrichtungen. Das funktioniert nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch das Potenzial Älterer wird in Deutschland bei weitem nicht genutzt. Es reicht aber nicht aus, einfach die Rente mit 67 zu beschließen. Sie brauchen auch ein Konzept, das es ermöglicht, die Älteren tatsächlich länger im Erwerbsleben zu halten. Auch da ist eine große Leerstelle. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wenn wir nichts unternehmen, dann laufen wir sehenden Auges auf das zu, was Frau von der Leyen immer ein Horrorszenario genannt hat: auf einen exorbitanten Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Das ist das zentrale Versagen Ihrer Politik. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Unbestritten ist, dass wir zwei Probleme haben. Wir haben zum Ersten ein demografisches Problem. Die Gesellschaft wird - glücklicherweise - immer älter, und die arbeitende Bevölkerung wird leider Gottes immer weniger. Das heißt, die Versorgung der Alten ist gefährdet. Zum Zweiten haben wir einen Fachkräftemangel, der - auch das ist erwiesen - zunimmt und nicht abnimmt. In der Beschreibung dieser beiden Probleme sind wir uns einig. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis auf die Linke!) Bei der Lösung dieser Probleme gehen die Wege allerdings weit auseinander. In der Debatte war von den Linken ein ganz einseitiger und wirtschaftsfeindlicher Ansatz zu spüren. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Linken sind für eine Abschottung, sie wollen zum Schutz der Arbeitslosen niemanden hineinlassen. Außerdem fordern sie eine Erhöhung der Löhne. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Wir sind für Mindeststandards für alle Menschen!) Auf der anderen Seite gibt es zu wirtschaftsfreundliche Töne. Es wird so getan, als könne der Staat diese Probleme alleine lösen, indem er für Zuwanderung sorgt, und die Wirtschaft müsse dann nur hochqualifizierte Arbeitnehmer einstellen. Herr Veit, Sie als erfahrener Ausländerrechtler und Gutmensch sind natürlich der alten Meinung: "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Lasst möglichst viele Menschen herein! Die Qualifizierung überprüfen wir später." (Rüdiger Veit [SPD]: Ein paar mehr, als wir haben!) Die Probleme sind aber sehr vielschichtig. Herr Kilic, Sie sind ein Paradebeispiel für einen hochqualifizierten Menschen, der sein Land verlassen hat und jetzt bei uns ist. (Rüdiger Veit [SPD]: Das gilt für Bayern manchmal auch!) Sie kommen aus einem Land, das durchaus Hochqualifizierte Ihres Schlages brauchen könnte. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das jetzt eine Aufforderung zu gehen oder was?) Wir haben in Deutschland - das ist das Problem - 3 Millionen Arbeitslose. Wir haben in der EU - wir müssen uns vorrangig um die dort lebenden Menschen kümmern - 20 Millionen Arbeitslose. Deshalb kann man nicht einfach die Grenzen öffnen. Man muss sich sehr kluge Gedanken machen, was die probaten Mittel der Steuerung sind. Darüber sollten wir ruhig streiten. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist richtig!) Wenn die Deutschen oder die EU-Bürger, die hier leben, Vorrang haben sollen, dann müssen wir sehr sorgfältig auswählen, wer in unser Land herein darf und wer nicht. Wenn wir das nicht tun, gefährden wir den sozialen Frieden. Der Herr Staatssekretär Schröder hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht allein Aufgabe des Staates, sondern auch Aufgabe der Wirtschaft ist, dafür zu sorgen, dass wir in diesem Bereich zu Lösungen kommen. Sie von Rot-Grün hätten auch darauf kommen können, dass das nicht alleinige Aufgabe des Staates ist. Wir haben - das ist auch von Ihnen, Frau Pothmer, schon angesprochen worden - ein großes Potenzial an Arbeitslosen, an älteren Menschen, an Frauen und jungen Menschen, die nicht gut qualifiziert und ausgebildet sind, um das wir uns erst einmal kümmern müssen, bevor wir die Grenzen öffnen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen dafür auch Mittel zur Verfügung stellen!) An dieser Stelle haben Sie uns viele Vorwürfe gemacht. Aber diese Vorwürfe richten sich auch gegen Ihre Partei, die Grünen, weil Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierung auf diesem Gebiet nicht viel bewirkt haben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Mittel erhöht!) Das Problem zu erkennen, ist das eine, und das Problem zu lösen, ist das andere. Mir fallen aus den sieben Jahren keine Beispiele dafür ein, dass Sie erfolgreich an Lösungsvorschlägen gearbeitet hätten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die vergangenen sieben Jahre haben Sie doch regiert!) Ich möchte auf keinen Fall einer Abschottungspolitik das Wort reden. Wir in Deutschland schotten uns nicht ab. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. (Beifall bei der CDU/CSU - Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Sie waren gestern nicht hier, als es um den Migrationsbericht ging!) Einfältige Menschen behaupten allen Ernstes, man müsse 66 000 Euro verdienen, um nach Deutschland hereinzukommen. Das ist - mit Verlaub - dummes Zeug. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Viele Menschen - im letzten Jahr waren es übrigens 25 000 - sind nach Deutschland gekommen, obwohl sie weniger als 66 000 Euro verdienen. Wir haben eine sehr kluge Differenzierung: Herausragende Wissenschaftler sollen kommen. Lehrkräfte an Hochschulen sollen kommen, egal was sie verdienen. Führungskräfte mit hohem Einkommen sollen kommen. Es gibt eine weitere Personengruppe, über deren Qualifikation wir nicht viel wissen, die aber sehr viel verdient, nämlich mehr als 66 000 Euro. Wenn die Wirtschaft für Arbeitskräfte aus dieser Gruppe so viel Geld ausgeben will, dann müssen sie nützlich und wichtig für den Betrieb und damit auch nützlich und hilfreich für uns sein. Dann sollen sie kommen, egal welche Qualifikation sie haben. Dieser Sonderfall von Menschen mit einem Verdienst von über 66 000 Euro, den wir mit einer Niederlassungserlaubnis belohnen - dem höchsten Status, den man bekommen kann -, wird hier zur Norm erklärt. Es wird erzählt, dass man 66 000 Euro verdienen müsste und nur dann kommen dürfte. Das - noch einmal - ist dummes Zeug. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn gesagt?) Lassen Sie mich einige Worte zur Vorrangprüfung sagen. Diejenigen, die weniger verdienen, die qualifiziert sind und bei denen ein Arbeitgeber sagt: "Ich habe einen Arbeitsplatz für ihn, bitte lasst ihn rein!", unterliegen einer Vorrangprüfung. Ich kann nur von München berichten, wo ich mich mehrfach erkundigt habe. Die Arbeitsverwaltung da sagt: "Unsere Vorrangprüfungen dauern maximal vier Wochen, und unsere Vorrangprüfung endet zu über 90 Prozent positiv für den Arbeitgeber und für den Drittstaatler." Es mag in Deutschland andere Fälle geben. Dann ist es Aufgabe der Arbeitsverwaltung, da Abhilfe zu schaffen, aber nicht für uns als Gesetzgeber, Paragrafen zu ändern. Die Vorrangprüfung ist ein richtiges, wichtiges und gutes Instrument. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bürokratisches Monstrum!) Wenn es dann nötig sein sollte, irgendwelchen Arbeitsagenturen dazu zu verhelfen, dass sie etwas schneller arbeiten, dann kann man mit uns darüber reden, ob man eine Zustimmungsfiktion einführt. Wenn alle Unterlagen vom Betrieb bei der Arbeitsagentur angekommen sind, tickt die Uhr. Wer zwei, drei oder vier Wochen lang keine Antwort gibt, dem unterstellen wir die Zustimmung - eine Zustimmungsfiktion. Das kann man alles machen. Das ist gar kein Problem. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir das!) - Machen wir das. Ebenso machen wir einige andere Dinge, die uns wichtig sind. Wir wollen kein Lohndumping. Wir wollen nicht massenhaft Drittstaatler reinholen, damit der Lohn gedrückt werden kann. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Dann führen Sie den Mindestlohn ein!) Es ist nicht Aufgabe einer Christlich Demokratischen und einer Christlich Sozialen Union, hier für sozialen Unfrieden zu sorgen. Mit uns geht so etwas nicht. (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf der Abg. Sevim Daðdelen [DIE LINKE]) Warum ist das Punktesystem, von dem die Grünen so verliebt berichten, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die FDP auch!) kein gutes System? - Letztlich ist das Punktesystem ein klassisch sozialistischer Zuteilungsansatz. (Lachen bei der SPD und der LINKEN) - Ja, natürlich. Das heißt, der Staat stellt fest, wofür man Punkte bekommt und ab wie vielen Punkten man ins Land darf. Das ist eigentlich ein klassisch sozialistischer Denkansatz - Zuteilung! Nein, wir knüpfen am konkreten Arbeitsplatz in der Wirtschaft an. Wenn eine Firma einen Arbeitsplatz anbieten kann, dann schaut der Staat, ob es dafür einen deutschen oder einen EU-Bürger gibt. Und wenn es keinen gibt, dann kommt der Drittstaatler rein. Das ist individuell, konkret und arbeitsplatzbezogen. Der Kollege Bosbach hat es hervorragend dargestellt. Reden Sie einmal mit dem Zuwanderungsminister in Kanada. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Ist der Sozialist?) Ich habe es getan und ihn gefragt: Was ist mit dem, der die Punkte erfüllt hat, jetzt da ist und keinen Arbeitsplatz hat? Das ist ja nicht arbeitsplatzbezogen, sondern kanadabezogen. Wer hilft dem? Der schläft unter der Brücke. Der Staat hilft dem nicht. Machen Sie so etwas einmal in Deutschland. Wer hier ist, bekommt alle Wohltaten dieses Staates. Darauf sind wir stolz. Wollen Sie so ein System nach Deutschland transferieren? Wir wollen es jedenfalls nicht. Wir wollen auch nicht die soziale Kälte der Länder, die das so machen: Wer keinen Arbeitsplatz hat, schläft unter der Brücke. Das ist nicht unsere Politik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, auf den wir sehr großen Wert legen. Ab dem 1. Mai dürfen sehr viel mehr Menschen aus Osteuropa zu uns kommen und bei uns arbeiten. Wir haben dann 200 Millionen Erwerbsfähige in Europa - 200 Millionen mit der genannten Zahl von 20 Millionen Arbeitslosen. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die 20 Millionen Arbeitslosen weniger werden. Es wurde schon auf Spanien und andere Länder hingewiesen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Erstens. Das hier lebende Potenzial an Arbeitskräften besser nutzen - Junge, Alte, Frauen. Zweitens. Abwanderung Hochqualifizierter ins Ausland stoppen. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie?) Hochqualifizierte aus dem Ausland anwerben, Studenten anwerben, Studenten, die hier ausgebildet worden sind, in die Arbeitsverhältnisse bringen, und schließlich im Ausland für qualifizierte Arbeitnehmer werben. Das ist die Aufgabe Deutschlands. Den Rest muss die Wirtschaft erledigen. Das ist der Punkt, um den es uns geht. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Manfred Nink für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Manfred Nink (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Deutschland diskutiert den Fachkräftemangel. Wir diskutieren heute das Thema Einwanderung von Fachkräften. Dabei ist bei den meisten Vorrednern unschwer zu erkennen, dass Innenpolitiker hier die Federführung haben und in erster Linie Verfahren bezüglich der Zuwanderung im Blick haben. Ich möchte meine Ausführungen deswegen mehr auf die arbeitsmarkt- und berufsbildungspolitischen Aspekte und mögliche Lösungsansätze lenken. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs und anderer Faktoren wie der demografischen Entwicklung wird von verschiedenen Seiten ein Mangel an Fachkräften beklagt. Eine Auswertung der Deutschen Industrie- und Handelskammer aus dem Jahr 2010 kommt zu dem Ergebnis, dass derzeit 20 Prozent der Unternehmen generell und jedes zweite Unternehmen zum Teil Probleme mit der Besetzung offener Stellen haben. Dabei wird darüber hinweggesehen - einige haben es schon erwähnt -, dass nach wie vor 3 Millionen Bürgerinnen und Bürger arbeitslos sind, davon ein Drittel länger als ein Jahr. Andere Veröffentlichungen besagen, dass 2009 bei den Ingenieurberufen circa 34 000 offenen Stellen rund 25 000 arbeitslose Ingenieure gegenüberstanden. Der Verband Deutscher Ingenieure nennt hierzu noch mehrere Tausend Absolventen mit Technikerausbildung. Fachkräftemangel? Die genannte Berufsgruppe zählt zu den Fachkräften. Also liegen möglicherweise doch andere Gründe vor. Wir sollten uns deswegen hüten, den pauschalen Alarmrufen einiger Verbände nach mehr Potenzialeinwanderung leichtfertig zu folgen. Neutrale Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, aber auch des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommen ebenfalls zu einem differenzierteren Urteil. Sie stellen fest, dass von einem allgemeinen Fachkräftemangel aktuell nicht gesprochen werden könne; vielmehr unterschieden sich Engpässe nach einzelnen Berufsgruppen und Regionen sowie nach kurz-, mittel- und langfristigem Bedarf. Während in Zukunft mehr Fachkräfte im mittleren Segment und Hochqualifizierte nachgefragt werden, nimmt der Bedarf an Geringqualifizierten ab. Die demografische Entwicklung wird sich ebenfalls langfristig auf den Arbeitsmarkt auswirken; auch das ist schon genannt worden. Eine verantwortungsbewusste Politik zur Deckung des aktuellen und zukünftigen Fachkräftebedarfs muss deshalb in der Tat differenziert und vorausschauend sein. Da oft eine mangelnde Ausbildung durch die Unternehmen beklagt wird, ist der Fachkräftebedarf in Zukunft in erster Linie durch bessere Berufsausbildung zu decken. Dieser Schritt hat für die SPD Vorrang vor der weiteren Öffnung des Arbeitsmarkts für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus anderen Ländern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zwei Gründe sprechen dagegen. Erster Grund - auch das wurde schon genannt -: Deutschland hat einen der offensten Arbeitsmärkte für Akademiker weltweit. Seit 2009 können Hochqualifizierte weitgehend ohne Beschränkungen in Deutschland arbeiten. Es wird lediglich überprüft, ob es geeignete Bewerber aus dem Binnenraum der EU gibt und ob die Arbeitskräfte einen für diesen Arbeitsplatz bei uns üblichen Verdienst erhalten werden. Diese Möglichkeit wird in dem vorliegenden Antrag wenig berücksichtigt. Auch scheint mir der vorliegende Antrag ein weiterer Versuch zu sein, frühere Anträge doch noch umsetzen zu wollen; denn wenn man einen weiteren im thematischen Zusammenhang zu sehenden Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen, die Bundestagsdrucksache 17/3039, "Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes", betrachtet, wird das Ansinnen der Antragsteller vielleicht deutlicher. Auch in der Begründung zum damaligen Antrag ging es im Wesentlichen um die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Mit dem damaligen Antrag wollte man seitens des Antragstellers die festgelegte Höhe des Gehalts für Hochqualifizierte von derzeit 66 000 Euro auf 40 000 Euro reduzieren, was damals im Übrigen von der FDP abgelehnt wurde und heute als Ankündigung hier dargestellt worden ist. Jetzt müsste man den Begriff Hochqualifizierte vielleicht einmal genauer definieren. Wir jedenfalls verstehen darunter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit besonderen fachlichen Kenntnissen, Spezialisten oder Personen, die leitende Führungsaufgaben übernehmen können. Wir haben als Bundestagsfraktion den damaligen Antrag unter anderem deswegen nicht mitgetragen, weil uns die Höhe der geforderten Gehaltssenkung willkürlich erschien und nur ein Aspekt der Gesamtthematik betrachtet wurde. Auch barg der Antrag die Gefahr des Lohndumpings und widersprach unserer Forderung nach gutem Lohn für gute Arbeit. Nach der Rede des Kollegen Wolff von der FDP sollten sich die Grünen vielleicht einmal überlegen, ob wir mit unserer damaligen Befürchtung nicht doch recht hatten. Ein weiterer Grund - auch darauf wurde schon hingewiesen -: Dem vorliegenden Antrag fehlt völlig der Hinweis auf den erleichterten Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland, der bereits ab dem 1. Mai dieses Jahres mit Arbeitnehmerfreizügigkeit für fast alle Mitgliedstaaten der EU die Möglichkeiten für die Gewinnung ausländischer Fachkräfte deutlich zunehmen lässt. Diese Arbeitnehmerfreizügigkeit bietet allen Angehörigen der Europäischen Union neue Chancen. Sie bietet auch den hiesigen Unternehmen die Chance, zusätzliche Fachkräfte zu gewinnen. Wie kann man hier helfen? Wir alle wissen: Gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen mangelt es aufgrund fehlender personeller und finanzieller Ressourcen oft an einer mittel- und langfristigen Personalplanung. Diesen Unternehmen müssen wir mit Servicestellen, Beratungsangeboten und Unterstützungsleistungen helfen, eine langfristige Personalentwicklung zu betreiben. Eine qualifizierte Beratung für kleine und mittlere Unternehmen muss flächendeckend sichergestellt werden, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräften richtig eingeschätzt und frühzeitig darauf reagiert werden kann. Damit würde der Zugriff auf den deutschen Arbeitsmarkt erheblich erleichtert. Solche Möglichkeiten gilt es zuerst zu nutzen. Wir brauchen kein neues System für die Einwanderung von Fachkräften. Vielmehr geht es zunächst darum, vorhandene Ressourcen zu nutzen. Wie können diese Voraussetzungen zukünftig geschaffen werden? Die vorhandenen Potenziale müssen genutzt, die Erwerbsbeteiligung muss erhöht werden. Mit der Nutzung der Potenziale der Menschen, die bereits in Deutschland leben, wird Vollbeschäftigung tatsächlich möglich. Die Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs muss den Vorrang vor der Einwanderung von Fachkräften haben. Dafür sind Verbesserungen notwendig. Hier ist die Berufsbildung zu nennen; denn der Mangel an geeigneten Arbeitskräften mit klassischer Berufsausbildung beruht zum großen Teil darauf, dass nicht genug ausgebildet wird. Hier stehen einige Forderungen im Raum - Sie kennen sie sicherlich -; ich kann sie aus Zeitgründen jetzt nicht wiederholen. Das heißt also: Die Stärken der Erwerbstätigen müssen erkannt und ausgebaut werden. Wer bereits einen qualifizierten Berufsabschluss hat, muss die Möglichkeit zu Aufstiegsfortbildungen oder zum Hochschulzugang bekommen. Die Bedingungen für ältere Fachkräfte müssen verbessert werden; flexible Arbeitszeiten und spezifische Weiterbildungsangebote sind notwendig. Weitere Voraussetzungen sind attraktive Arbeitsplätze und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Ein sich verstärkender Mangel an Fachkräften vor allen Dingen im Bereich Pflege und Erziehung beruht auf vergleichsweise unattraktiven Arbeitsbedingungen, auf Arbeitsplätzen ohne Zukunftsperspektive. Diese Arbeitsplätze müssen attraktiver werden. Man erreicht das nicht mit Druck auf das Lohnniveau und mit einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Viele Unternehmen haben dies erkannt; sie stehen hier in der Verantwortung. Intelligente Arbeitszeitmodelle, vor allem für Familien und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sowie eine bessere Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung durch die Unternehmen selbst, damit die Arbeitnehmer mit den beruflichen Anforderungen Schritt halten können, sind für viele Unternehmen kein Fremdwort. Sicherlich brauchen wir auf bestimmten Berufsfeldern abgestimmte Fachkräfteoffensiven. Ich denke hier beispielsweise an die MINT-Berufe. Wie eingangs erwähnt, sehen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aktuell grundsätzlich keinen Handlungsbedarf, neue Einwanderungsregelungen zu schaffen. Lassen Sie uns zunächst Erfahrungen mit der neu geschaffenen Arbeitsnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai sammeln. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das habe ich bei Herrn Veit vorhin anders verstanden! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entspricht aber nicht eurer Beschlusslage, was Sie da erzählen!) Tatsache ist: Eine starke Wirtschaft braucht gut ausgebildete Menschen. Es ist die vorrangige Aufgabe im Land, die Voraussetzungen für eine gute Ausbildung zu schaffen, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräften gedeckt werden kann. Es gibt ein großes Potenzial in unserem Land; geben wir ihm eine Chance. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Martin Lindner. (Beifall bei der FDP) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Ich möchte als Erstes dafür werben, hier kein künstliches Gegeneinander zwischen der Qualifizierung einheimischer Arbeitskräfte auf der einen Seite und der benötigten Zuwanderung ausländischer Fachkräfte auf der anderen Seite zu schaffen; das bringt nichts. Wir brauchen beides; wir werden ohne beides nicht auskommen. Da können wir uns im Bundestag noch so viel Mühe geben und persönliche Beiträge leisten: Ohne die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte wird es nicht gehen. Wenn wir eine seriöse Bestandsaufnahme vornehmen, dann stellen wir fest, dass wir bisher Zuwanderer hatten, die nicht in der Weise qualifiziert waren, wie wir uns das vorstellen und wünschen. Die Menschen mit Migrationshintergrund bilden einen weit überproportionalen Anteil der Gruppe der Erwerbslosen; sie bilden einen überproportional großen Anteil der Gruppe der Empfänger von Sozialleistungen. Darüber müssen wir uns nicht wundern. Schauen Sie sich das Ausländerrecht an: Es ist ein völliges Durcheinander von humanitärer Zuwanderung auf der einen Seite und Zuwanderung von Menschen, die hier ihr Glück machen wollen, auf der anderen Seite. Das müssen wir dringend sortieren. Wir haben ein System, das falsche Anreize schafft. Wenn wir bedenken, dass eine Familie mit drei Kindern hier eine Sozialleistung von etwas über 2 000 Euro pro Monat bekommt - das ist der Betrag, den eine solche Familie in Ostanatolien für schwere körperliche Arbeit pro Jahr bekommt -, dann können wir uns vorstellen, welche Anreize wir setzen. Auf der anderen Seite machen wir es Menschen, die gut ausgebildet und qualifiziert sind, überproportional schwer, nach Deutschland zuzuwandern. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es gibt hohe bürokratische Hürden. Wir behandeln Fachkräfte, Manager und andere in Ausländerbehörden teilweise so, als seien sie Bittsteller. Dies muss endlich in Deutschland sortiert werden. Auf der einen Seite haben wir die Einwanderung aus humanitären Gründen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch sortiert!) Auf der anderen Seite muss für diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen zuwandern, eine klare Geschäftsgrundlage geschaffen werden. Die heißt: Komm hierher, mach dein Glück; aber Sozialunterstützung gibt es erst einmal keine. Komm hierher, wir machen es dir einfach, bring auch deine Familie mit. - Klar muss aber sein, dass Zuwanderung in Arbeit stattfindet, dass Steuerzahler nach Deutschland kommen, aber nicht Steuergeldempfänger. Das muss die klare Direktive unserer Zuwanderungspolitik sein: keine Zuwanderung in Hartz IV. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war unser Vorschlag!) Dafür müssen wir Fachkräften die Zuwanderung erleichtern. Es geht doch schon in den Schulen los. Wir müssen für deutsche Schulen im Ausland werben. Dort gibt es oft Sprachbarrieren, dort müssen die Grundlagen für qualifizierte Zuwanderung gelegt werden. Wir müssen uns überlegen, ob wir an den großen deutschen Universitäten die ingenieurwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer auch in Englisch anbieten. Es gibt gerade von potenziellen Zuwanderern aus dem asiatischen Raum aus sprachlichen Gründen eine Zurückhaltung, die wir überwinden müssen. Dann können wir die Zuwanderung über ein System regeln. Sie können das Punktesystem nennen oder nicht; das spielt gar keine Rolle. Die Kriterien für die Zuwanderung und die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft müssen aber sein: Ausbildung, Fachausbildung, Sprachkenntnisse und auch - das finde ich - in Deutschland gezahlte Steuern. Das müssen die Grundlagen für Zuwanderung sein. Wenn wir diese Grundlagen haben, kommen wir dahin, dass wir attraktiv für die Richtigen sind. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Viele Leute ertrinken auf dem Weg nach Deutschland im Mittelmeer!) Dann vermeiden wir, dass wir zwar hohe Zuwanderung haben, aber uns qualifizierte Menschen mit und ohne Migrationshintergrund - das ist in den letzten Jahren geschehen - wieder den Rücken kehren und diejenigen zurückbleiben, die in den Argen stehen. Letzteres kann nicht sinnvoll sein. Deswegen meine Bitte auch an die Koalitionspartner: Wir müssen versuchen, eine Systematik zu finden und das Zuwanderungsrecht neu zu sortieren. Der Kollege Bosbach hat recht, wenn er sagt, dass man nicht einfach ein Punktesystem aufpfropfen kann, ohne diese Systematik geschaffen zu haben. Deshalb können wir dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Er hat den richtigen Ansatz und geht in die richtige Richtung; aber Sie lösen die anderen Probleme nicht und beseitigen die Unsystematik im deutschen Ausländerrecht nicht. Sie fangen schon wieder an - Kollege Wolff hat es thematisiert -, Ihre eigenen Vorstellungen aufzuweichen und Ausnahmen zu schaffen. Das ist das Problem des bisherigen Ausländerrechts. An sich führt der Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme zur Ausweisung. Durch die ganzen Ausnahmen, die auch Sie wieder schaffen wollen, kreieren Sie ein wunderbares Beschäftigungsprogramm für Rechtsanwälte, (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aber Sie werden nie eine klare Regelung erreichen, die die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt garantiert und die in die Sozialsysteme verhindert. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man so nicht zuspitzen, finde ich!) Das aber muss unsere Zielrichtung sein. Dazu brauchen wir neue Ideen und eine ganz neue Stoßrichtung. Diese Regelung muss auch dazu dienen, dass Deutschland seine wirtschaftliche Prosperität erhalten kann. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Swen Schulz das Wort. (Beifall bei der SPD) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über Fachkräfte und über Zuwanderung reden, dann müssen wir mindestens genauso intensiv darüber sprechen, wie wir die Menschen, die bereits hier leben, besser fördern und ihre Potenziale besser nutzen können. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Diesen Gedanken enthält der Antrag der Grünen. So hat auch die SPD immer agiert. Es geht um eine Balance zwischen Zuwanderung und Investition in Bildung. So haben wir unter der Regierung Schröder zum Beispiel das Zuwanderungsgesetz gemacht und gleichzeitig Ganztagsschulen gefördert. In der Großen Koalition hat unser damaliger Arbeitsminister, Olaf Scholz, den Zuzug von Fachkräften erleichtert und gleichzeitig die Qualifizierung von Jugendlichen und Arbeitsuchenden verbessert. Dieses Prinzip der Ausgewogenheit von Zuwanderung und Bildung gilt in der jetzigen Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP leider nicht mehr. (Beifall bei der SPD) Ganz im Gegenteil: Der Kollege Lindner - ich sehe ihn leider nicht; er scheint den Saal schon wieder verlassen zu haben - und andere vor ihm haben gesagt, wir brauchten beides, Zuwanderung und Bildung. Doch das, was diese Koalition praktiziert, ist ein entschiedenes Weder-noch. Sie streiten über die Zuwanderung, bekommen aber nichts auf die Reihe, und Sie kümmern sich nicht um das Potenzial der Menschen, die hier leben. (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]) Das will ich an einigen Beispielen zeigen. Wer den Fachkräftemangel beklagt, der muss sich intensiv um die Bildung, die Ausbildung und die Qualifizierung der Jugendlichen in Deutschland kümmern. Die Situation ist schlimm: Jährlich verlassen etwa 65 000 Jugendliche die Schulen ohne Abschluss. 1,5 Millionen Jugendliche sind ohne Berufsausbildung. In diesem Bereich muss viel mehr investiert werden. Der damalige Arbeitsminister Olaf Scholz hat das Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses verankert. Wir wollen Menschen eine zweite Chance geben. Wir wollen ein entsprechendes Förderprogramm. Unser Ziel ist: Keiner darf ohne Abschluss bleiben; keiner darf ohne Ausbildung bleiben. Da müssen wir hin. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Doch, sehr geehrter Herr Staatssekretär Schröder, die Koalition streicht die Mittel für die Förderung im Arbeitsbereich zusammen. Bis 2014 sollen dort sage und schreibe 16 Milliarden Euro eingespart werden. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Und zweieinhalb Millionen Arbeitslose weniger! Das ist das Ziel!) Die Förderung soll dem Belieben der Agentur überlassen werden. Demnach soll nur noch nach Kassenlage finanziert werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, es passt nicht zusammen, dass Sie die Mittel für Qualifizierung in Deutschland zusammenstreichen, aber den Fachkräftemangel beklagen. Das merken die Bürgerinnen und Bürger, und wir werden sie auch immer wieder darauf hinweisen. (Beifall bei der SPD) Schauen wir uns die Schulen an. Wir als SPD haben ein Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Was machen Sie? Sie lehnen unsere Initiativen rundweg ab. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über Bildungsteilhabe. Wir wollen erreichen, dass an allen Schulen Sozialarbeiter eingesetzt werden. Das wäre ein erster Schritt zu einer besseren Unterstützung und Förderung von Schülerinnen und Schülern. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das müssen die Länder tun! Das ist Länderhoheit!) Was macht die zuständige Ministerin von der Leyen? Sie zögert, sie ziert sich, sie taktiert und sucht Ausflüchte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, investieren Sie doch einmal in diesem Bereich. Das wäre ein Beitrag. Das wäre etwas anderes als die Ministeuersenkung, die Sie gestern beschlossen haben. Das wäre etwas, wodurch wir wirklich vorankämen. (Beifall bei der SPD - Hans-Michael Goldmann [FDP]: Erzählen Sie doch einmal etwas von den Berliner Verhältnissen!) Wer über den Fachkräftemangel redet, der muss sich auch einmal die vorschulische Bildung und Betreuung anschauen. Sie ist für Eltern, vor allem für Alleinerziehende, von großer Bedeutung, damit sie überhaupt arbeiten können. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich fürchte, er glaubt wirklich, was er da erzählt!) Natürlich werden im vorschulischen Bereich Grundlagen für die Bildung und damit für die Fachkräfte von morgen gelegt. Wir von der SPD haben eine engagierte Politik für eine bessere und eine weiter gefasste vorschulische Bildung und Betreuung gemacht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nur keine Bezahlung!) Diese Koalition hingegen macht nichts. Seitdem die SPD aus der Regierungsverantwortung - leider - raus ist, passiert auf diesem Gebiet überhaupt nichts mehr. Die Arbeit ist eingestellt worden, mit einer Ausnahme - ein Punkt ist insbesondere der CDU/CSU wichtig -, dem Betreuungsgeld. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: In einer Zeit, in der wir über Bildungsprobleme und Fachkräftemangel reden, wollen Sie Eltern Geld dafür geben, eine Prämie dafür auszahlen, dass sie (Max Straubinger [CDU/CSU]: Kinder erziehen! Das ist gut angelegtes Geld!) ihre Kinder nicht in eine Bildungseinrichtung schicken. Das ist Wahnsinn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dann ist da noch die Sache mit der Anerkennung der Abschlüsse; dieses Thema spielte auch in dieser Debatte teilweise eine Rolle. In Deutschland leben bereits Zugewanderte, die qualifiziert sind, deren Qualifikation aber nicht anerkannt wird. Es gibt in Deutschland 300 000 bis 500 000 Fachkräfte, die nicht adäquat eingesetzt werden. Die SPD hatte mit ihrem Arbeitsminister Olaf Scholz bereits einen Vorschlag für ein Anerkennungsgesetz vorgelegt. Damals wollte die CDU/CSU davon überhaupt nichts wissen. Jetzt steht es sogar in der Koalitionsvereinbarung. Wunderbar! Es stellt sich die Frage: Was ist eigentlich passiert? Ich habe ein paar Unterlagen mitgebracht. Am 9. Dezember 2009 hat Staatsministerin Böhmer gesagt: Das Bundeskabinett hat grünes Licht für eine gesetzliche Regelung gegeben. Wunderbar! In einem Zeitungsinterview sagte sie: Das Problem brennt uns wirklich auf den Nägeln. Daher wollen und müssen wir 2010 zu Ergebnissen im Gesetzgebungsverfahren kommen. - Dann ist erst einmal gar nichts passiert, sodass ich bei der Bundesregierung nachgefragt habe. Auf meine Frage hat mir Staatssekretär Rachel, der auch anwesend ist, am 7. Juli 2010 geantwortet: Nach derzeitigem Planungsstand soll ein ... Referentenentwurf im auslaufenden Sommer 2010 vorgelegt werden. Am 7. Oktober 2010 - man könnte sagen: das ist auslaufender Sommer - hat Staatsministerin Böhmer im Deutschen Bundestag gesagt: Wir brauchen dieses Gesetz schnell. Es soll bis Dezember vorliegen. (Iris Gleicke [SPD]: Ja! Sie hat aber nicht gesagt, in welchem Jahrzehnt!) Bis heute liegt gar nichts vor, weder ein Referentenentwurf noch ein Gesetzentwurf noch ein Gesetz. (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Peinlich!) Gestern haben wir hier im Deutschen Bundestag Innenminister de Maizière gefragt: Wann kommt der Gesetzentwurf? Er wusste es nicht. Er konnte uns keine Antwort geben. Was sind Sie für eine Chaostruppe? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn Sie nur halb so viel Energie in die Lösung dieses Problems investieren würden wie in Ihren Streit um Zuwanderung, dann kämen wir tatsächlich weiter. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst kann man, wie ich glaube, in der Tat feststellen, dass wir uns hier im Haus in der Analyse weitestgehend einig sind. Die Analyse lässt sich auch mit Adam Riese nicht betrügen. Die demografische Entwicklung ist, wie sie ist. All die Kinder, die in 15 oder 16 Jahren keinen Ausbildungsplatz suchen werden, sind schon heute nicht geboren. Deshalb haben wir - das sagen uns die Zahlen - bis 2050 einen drastischen Rückgang des Erwerbspotenzials, insbesondere was die Zahl der Erwerbstätigen anbelangt, zu verzeichnen. Dabei geht es um eine Größenordnung von 5 bis 8 Millionen. Dies kann in Tateinheit mit dem Fachkräftemangel - darauf ist von verschiedenen Rednern schon eingegangen worden -, wie mir Professor Brücker vom IAB dieser Tage in einem Gespräch gesagt hat, zu ähnlichen Limitierungen der Volkswirtschaft führen wie in der Wirtschafts- und Finanzkrise. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) Das bedeutet, dass man dieses Thema nicht nebenher behandeln kann und es kein Wohlfühlthema ist, sondern dass es für das zukünftige Wohl und Wehe der deutschen Volkswirtschaft und dieses Landes von entscheidender Bedeutung ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, es ist notwendig und richtig, dass wir uns in der gebotenen Tiefe und mit der gebotenen Sorgfalt mit diesem Thema auseinandersetzen. Es ist schade, wenn suggeriert wird, wir brauchten nur dem Antrag der Grünen zur Einführung eines Punktesystems zuzustimmen oder an einer anderen Stellschraube zu drehen, und dann werde alles gut. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre aber auf jeden Fall besser, als nichts zu tun!) Wir brauchen eine umfassende Antwort, eine Gesamtstrategie zur Bewältigung der Herausforderungen. Ich differenziere einmal zwischen dem Pflichtprogramm und der Kür. Was zum Pflichtprogramm gehört, ist eindeutig - dazu sind wir gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet -: Erst einmal müssen wir das Erwerbspotenzial in Deutschland optimal ausnutzen und erschließen. Hier sind wir bisher nicht ganz untätig gewesen. Es sind richtige Wege eingeschlagen worden, die es konsequent weiter zu beschreiten gilt. Als ersten Schritt nenne ich die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung insbesondere der Älteren. Mit den Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen wurden und die in die richtige Richtung zielten, ist erreicht worden, dass die Erwerbsbeteiligung der Älteren, der 55- bis 64-Jährigen, in den letzten acht Jahren um fast 20 Prozentpunkte gestiegen ist, von rund 38 Prozent auf 58 Prozent. Dies müssen wir konsequent fortführen. Wir dürfen die Rente mit 67 oder andere Maßnahmen nicht rückgängig machen. Das Gegenteil ist notwendig: Wir müssen das Erwerbspotenzial der Älteren für uns erschließen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn sie gesund, leistungswillig und -fähig sind, dann müssen wir das nutzen. Es gibt dazu eine Berechnung, die besagt, dass wir es allein mit dieser Maßnahme, wenn wir sie konsequent genug umsetzen, schaffen, den Rückgang des Erwerbspotenzials aufgrund der demografischen Entwicklung bis 2025 - nicht bis 2050 - auszugleichen. Das heißt, damit könnten wir das Erwerbsvolumen, das für die Volkswirtschaft erschlossen werden kann, stabilisieren. Insofern müssen wir diesen Weg weiter gehen. Es ist schon angesprochen worden - ich glaube, auch da gibt es Einigkeit -, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert werden muss. Da sind die Weichen richtig gestellt. Wir können es uns nicht mehr leisten, insbesondere gut ausgebildete Frauen aus dem Arbeitsprozess auszuschließen, sie zu verlieren und den Kontakt zu ihnen in der Erziehungsphase nicht mehr zu haben. Wir müssen auch auf dem Ausbildungsmarkt den Gezeitenwechsel konsequent vorantreiben. Das haben wir mit der veränderten Schwerpunktsetzung im Ausbildungspakt getan, den wir im letzten Jahr beschlossen haben. Bisher war es so, dass es für Hunderttausende Ausbildungswillige darum ging, Ausbildungsplätze zu finden. Zukünftig wird es andersherum sein. Da wird man hinter ihnen her rennen, weil wir weniger Ausbildungswillige und -fähige haben, als Ausbildungsplätze in der deutschen Wirtschaft zur Erhaltung des Fachkräftepotenzials notwendig sind. Deshalb müssen wir sehr schnell die Problemfälle angehen. Das sind diejenigen, bei denen wir noch nicht so erfolgreich sind, die Mühseligen und Beladenen ohne Abschluss, ohne Schulabschluss und ohne Berufsabschluss, häufig mit Migrationshintergrund. Wir müssen sie bereits an den Schulen abholen und für uns erschließen. Da muss deutlich mehr gemacht werden. Das gehört zu den Pflichtaufgaben, die wir auf jeden Fall erledigen müssen. Aber wir werden natürlich nicht jeden ohne Schulabschluss und ohne Berufsabschluss zum Luft- und Raumfahrtingenieur weiterbilden können. Deshalb brauchen wir mit Sicherheit weitere Instrumente. Bei den Erläuterungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Schröder hat der Kollege Kilic gefragt: Warum kommen denn so wenige Wissenschaftler zu uns, wenn sie schon heute kommen könnten? Das liegt nicht nur an den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das liegt auch an der Sprache, weil manche lieber ins englischsprachige Ausland gehen. Es liegt auch an den Verdiensten, weil die, die gut sind, in Deutschland nicht so viel verdienen. Vielleicht liegt es aber auch an der mangelnden Willkommenskultur in Deutschland, an fehlenden internationalen Schulen und sonstigen Rahmenbedingungen. Es gibt nicht nur einen Grund; die Gründe sind vielfältig. Vielleicht liegt es auch daran, wie wir mit Technik umgehen. Glauben Sie, dass die Besten im Bereich Gentechnologie nach Deutschland kommen, wenn wir das Punktesystem einführen? Das glaube ich nicht. Sie wollen das ja auch gar nicht. Die Besten in der Kerntechnik haben wir schon verloren - da waren wir einmal Weltspitze -; sie werden nicht mehr nach Deutschland zurückkommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bauen Sie doch ein paar neue Kernkraftwerke! Dann kommen sie!) Die Gründe sind insofern vielschichtig. Wir müssen uns genau anschauen, was wir machen. Mit Blick auf die Uhr muss ich leider schon zum Ende meiner Rede kommen. Ich glaube, dass wir sowohl das Pflichtprogramm als auch die Kür absolvieren müssen. Wir müssen uns sehr genau anschauen, welche Fachpotenziale wir brauchen. Ich glaube, wir sollten die Verknüpfung mit Arbeit nicht lösen - Kollege Uhl hat das vorhin ausgeführt -; denn sonst haben wir vielleicht nur eine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Sie können sicher sein: Diese Koalition ist auch in dieser Frage handlungsfähig und wird eine Lösung erarbeiten, die die Herausforderungen für die Menschen und die Chancen für die Wirtschaft entsprechend optimiert. Wir müssen die Probleme, über deren Lösung wir uns einig sind, im Rahmen einer Gesamtstrategie lösen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn? In welchem Jahr? Dieses Jahr noch oder vielleicht nächstes Jahr?) und die Wachstumshemmnisse in Deutschland, wie wir es heute Morgen beim Jahreswirtschaftsbericht besprochen haben, weiter abbauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Die Debatte um das Punktesystem ist in der Tat sehr symbolträchtig. Ich finde, es ist eine übersteigerte und verengte Debatte, die für Zeitungsüberschriften gut ist, uns aber aufgrund der Breite und Vielschichtigkeit des Themas Fachkräftemangel leider Gottes nicht wirklich weiterhilft. Noch einmal zur Prioritätensetzung - es ist mehrfach gesagt worden, dass das für die Unionsfraktion die Grundlage ist -: An erster Stelle steht, das nationale Potenzial auszuschöpfen. Hier gibt es noch viel zu tun und viel Potenzial zu heben. (Rüdiger Veit [SPD]: Da sind wir uns einig! Also macht es doch endlich!) Zum Zweiten geht es darum, die Abwanderung unserer gut ausgebildeten Deutschen zu stoppen. Erst an dritter Stelle kommt die Zuwanderung der besten Köpfe aus dem Ausland. Hier sind in der Tat punktuelle Verbesserungen im Ausländerrecht notwendig, aber es braucht keinen grundsätzlichen, radikalen Systemwechsel. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum ersten Punkt, zur Ausschöpfung des nationalen Potenzials. Ausbildung, Qualifizierung und Bildung unserer Bevölkerung haben die höchste Priorität. Herr Kollege Schulz, mit Verlaub gesagt: Das, was Sie hier erzählt haben, gehörte schlichtweg in eine Märchenstunde. Gemessen an 2005, als wir von Rot-Grün die Verantwortung übernommen haben, steigern wir den Bildungshaushalt auf Bundesebene um sage und schreibe 74 Prozent. Das ist unsere Prioritätensetzung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Rot-Grün hat geredet, und wir handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Herr Schulz, allein den Etat für die Studienfinanzierung, von der Sie ständig reden, haben wir gegenüber dem Endzeitpunkt von Rot-Grün bis heute um 53 Prozent gesteigert, und obwohl es nicht unsere originäre Aufgabe ist, unterstützen wir die Hochschulpolitik der Länder mit sage und schreibe 6 Milliarden Euro. Das ist unsere Prioritätensetzung in der Bildung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Erfolge lassen sich sehen: Mit 46 Prozent eines Jahrganges, die an eine Hochschule gegangen sind, haben wir die höchste Quote erreicht, die es je gab. Das ist eine dramatische positive Steigerung und bedeutet mehr Know-how und mehr Qualifizierung für unsere jungen Menschen. PISA hat gezeigt, dass Deutschland durch viele Anstrengungen beim Lesen, beim Rechnen und bei den Naturwissenschaften Schritt für Schritt wieder an die Weltspitze zurückkehrt. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weltspitze?) Es wurde im Übrigen auch bestätigt, dass die Ergebnisse der Bildungspolitik in den Ländern Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen meilenweit besser sind als in den SPD-Ländern. Wir können gerne über Bildungspolitik auf Bundesebene reden; hier tun wir vieles. Es ist aber auch notwendig, die Diskussion darüber zu führen, was in den einzelnen Ländern getan wird und welche Modelle wirklich erfolgreich sind. Es ist eindeutig, dass die unionsgeführte Bildungspolitik wesentlich erfolgreicher ist. (Beifall bei der CDU/CSU - René Röspel [SPD]: Sie haben PISA nie gelesen! Geben Sie es zu, Herr Rupprecht!) Es geht an allererster Stelle um eine gute Politik, um die Stärken und die Fähigkeiten der Menschen in Deutschland zur Geltung zu bringen. Sie haben die Zahl erwähnt: 2,7 Millionen Deutsche sind ohne Schulabschluss. Das ist der eigentliche Skandal. Ich sage aber auch: Das SPD-geführte Bundesland Brandenburg hat eine doppelt so hohe Schulabbrecherquote wie beispielsweise die Länder Baden-Württemberg und Bayern. (Jens Ackermann [FDP]: Hört! Hört!) Das ist der Unterschied. An den Ergebnissen zeigt sich letztendlich, welche Konzepte vernünftig sind, welche zu Erfolgen führen und welche nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir geben uns damit aber nicht zufrieden. Wir stemmen uns mit aller Kraft gegen die Tatsache, dass bis zu 20 Prozent unserer Kinder durchs Raster fallen. Deswegen werden wir die Länder durch Bildungsketten - dafür haben wir in diesem Jahr 100 Millionen Euro im Haushalt eingestellt - und viele andere Maßnahmen bei ihrer originären Aufgabe unterstützen. Wir geben hier vonseiten des Bundes erheblich Gas. Wir sorgen dafür, dass die Berufsabschlüsse der in Deutschland lebenden Ausländer anerkannt werden. (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Wann?) Man kann gerne darüber reden, ob Dezember, Januar, Februar oder März der richtige Zeitpunkt dafür ist; aber das ist nicht die entscheidende Debatte. Entscheidend ist, dass wir darüber in dieser Legislaturperiode beschließen. Das ist ein hochkomplexes Thema und muss mit hoher Qualität umgesetzt werden. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welchem Jahr denn?) - Mit Verlaub gesagt: Sie hatten elf Jahre Zeit und haben nichts gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden es machen. Ob das im Februar oder im März geschieht, ist nicht entscheidend. Es geht darum, hier für eine hohe Qualität zu sorgen. Zum Zweiten. Wir müssen die Abwanderung unserer heimischen Leistungsträger stoppen. Es ist widersinnig, wenn unsere teuer ausgebildeten Ärzte in die Schweiz oder nach England gehen, weil wir sie aus dem Land vertreiben, und wir dann über ein Punktesystem Ärzte aus Russland und Afrika, die dort dringend gebraucht werden, nach Deutschland holen. Das ist absurd und widersprüchlich. Deswegen ist es in der Tat richtig - darüber muss auch debattiert werden -: Wir brauchen Konditionen, Arbeitsbedingungen, Löhne sowie Abgaben- und Steuerstrukturen, mit denen Deutschland auch in Zukunft für die Leistungsträger attraktiv ist. Daran mangelt es zurzeit. Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Daran müssen wir arbeiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum Dritten. Wir brauchen auch Leistungsträger aus dem Ausland und ein Stück mehr Willkommenskultur. Das ist richtig. Es gibt einen weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe. Das haben wir im Forschungsbereich seit 2005, als Annette Schavan Ministerin wurde, präzise und konkret angepackt, und wir haben bereits Erfolge erzielt. Über den DAAD, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und andere Einrichtungen holen wir Schritt für Schritt top ausgebildete, hochqualifizierte Wissenschaftler nach Deutschland. Wir sind in diesem Bereich wieder wettbewerbsfähig. Das kostet Geld und erfordert Mühe und Anstrengung, aber es ist erfolgreich. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber noch nicht ausreichend!) - Das ist richtig. Aber all das, was ich gerade aufgeführt habe, ist im Grundsatz schon mit dem bestehenden Ausländerrecht ohne Probleme möglich. Trotzdem müssen wir - auch das ist richtig - das Ausländerrecht punktuell nachbessern. Wir müssen es beispielsweise in folgendem Punkt nachbessern: Wenn nur 6 000 von 260 000 ausländischen Studenten in Deutschland nach ihrem Abschluss hierbleiben, dann ist das ohne Zweifel ein schlechtes Ergebnis. Das Ausländerrecht weist in der Tat in diesem Punkt Barrieren auf, die zu diesem schlechten Ergebnis beitragen. Deswegen haben wir in der Unionsfraktion vereinbart, dass wir in diesem Punkt nachjustieren und das Ausländerrecht punktuell ändern wollen, weil wir die jungen Menschen, die in Deutschland ausgebildet wurden oder studiert haben und die deutsche Sprache beherrschen, im Land behalten wollen. Wir brauchen punktuelle Änderungen des Ausländerrechts. Das ist richtig. Wir brauchen aber keinen grundsätzlichen Systemwechsel. Es geht in allererster Linie darum, die Kräfte zu mobilisieren, die wir im Land haben. Da ist in der Tat ein Riesenpotenzial gegeben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen, der unter dem Deckmantel vorgelegt wurde, dem Fachkräftemangel in Deutschland entgegenzuwirken, ist meines Erachtens nur ein verdeckter Versuch, die Einwanderung nach Deutschland insgesamt zu verstärken. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hört die FDP das? - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber sehr schlecht verdeckt, muss ich sagen!) Das ist der Hintergrund. Es geht nicht um den Fachkräftemangel - um den haben sich die Grünen in der Regel nie großartig gekümmert -, sondern darum, ihren eigenen parteipolitischen Vorstellungen etwas Nachdruck zu verleihen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde Ihnen nie einfallen!) Unter diesem Gesichtspunkt werte ich auch diesen Antrag. Auch wenn die prognostizierten Zahlen richtig sind und die Bevölkerungszahl in Deutschland abnehmen wird, ist es für uns, glaube ich, entscheidend, dass die demografischen Probleme im Inland gelöst werden müssen. Sie können nicht mit vermehrter und vor allen Dingen zügelloser Zuwanderung bewältigt werden. Ich bin überzeugt: Dadurch werden nur mehr Probleme in unserem Land entstehen, aber keine Probleme gelöst werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein weiterer Punkt ist die Sorge um unseren Industriestandort und die Frage, ob wir den Fachkräftebedarf der Wirtschaft decken können, die sicherlich eine weitere Erleichterung der Zuzugsmöglichkeiten fordert. Trotzdem möchte ich voranstellen: Wir haben 3 Millio-nen Arbeitslose. Das sind zwar 2 Millionen weniger als zur rot-grünen Regierungszeit, aber das lässt uns nicht auf diesen Erfolgen ausruhen. Wir wollen zuerst die bei uns arbeitslos gemeldeten Menschen in Brot und Erwerbsarbeit bringen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist bedeutsam, dass diesem Vorrang gegeben wird, bevor Zuwanderung erfolgt und Zuwanderer in Konkurrenz zu den in unserem Land arbeitslos gemeldeten qualifizierten Menschen treten. Für mich ist auch folgende Frage entscheidend: Wie viele Menschen brauchen wir? Wie viele Fachkräfte benötigen wir? Der Kollege Bosbach hat bereits darauf hingewiesen, dass es einmal die Prognose gab, wonach wir 200 000 IT-Kräfte brauchen. Diese Zahl wurde dann auf 100 000 IT-Kräfte reduziert. Die damalige Bundesregierung hat 20 000 Greencards ausgestellt. Glatte 10 000 wurden tatsächlich in Anspruch genommen. Das zeigt sehr deutlich: Die Ansprüche, die die Wirtschaft stellt, und die Realitäten klaffen weit auseinander. Es ist sehr eindrucksvoll, wenn es heute in Prognosen heißt, 35 000 Ingenieurstellen könnten nicht besetzt werden, weil es nicht genügend Fachkräfte gebe. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das von der Programmatik her den Unionsparteien nicht unbedingt nahesteht, hat eine bemerkenswerte Statistik veröffentlicht. Wenn man sich die "normalen" Vergleichszahlen, die dort niedergelegt sind, zu Gemüte führt, stellt man Folgendes fest: Im Oktober 2010 waren 5 250 Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure arbeitslos gemeldet. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie alt sind sie?) - Das Alter darf doch nicht als Kriterium angeführt werden, wenn Stellen zu besetzen sind. Sie haben ja Ansprüche! Das ist ja noch schöner. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellen lag in diesem Bereich bei 3 366. Im Oktober 2010 waren des Weiteren 3 490 Elektroingenieure arbeitslos gemeldet. Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellen lag bei 2 159. 6 317 Architekten und Bauingenieure waren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen 1 734 offene Stellen gegenüber. 2 657 Chemiker und Chemieingenieure waren arbeitslos gemeldet. Dem standen 288 offene Stellen gegenüber. (Iris Gleicke [SPD]: Und Sie streichen die aktive Arbeitsmarktpolitik, statt diese Leute zu qualifizieren!) 1 683 Physiker, Physikingenieure und Mathematiker waren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen 262 offene Stellen gegenüber. Das ist die Realität. Wenn die Unternehmen sagen: "Wir melden nicht alle offenen Stellen", dann kann ich nur sagen, dass sie alle offenen Stellen melden sollten, um damit den tatsächlichen Arbeitskräftebedarf zu untermauern. (Beifall bei der CDU/CSU) Hinzu kommt eine verfehlte Bildungspolitik. Sie alle von der linken Seite streben immer die Akademisierung der verschiedensten Berufe an und qualifizieren einige Bundesländer, insbesondere Bayern, mit dem Hinweis ab, dass diese die geringsten Abiturientenquoten aufzuweisen hätten. Aber aus der oben genannten Statistik geht auch hervor, dass im Oktober 2010 zum Beispiel 12 280 arbeitslosen Elektromonteuren und -installateuren 17 054 offene Stellen gegenüberstanden. Das zeigt sehr deutlich: Nur berufliche Bildung und akademische Bildung zusammen können die Probleme auf dem Arbeitsmarkt lösen. Dazu sind wir aufgefordert und nicht dazu, mehr Zuzugsregelungen zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU) Zum geltenden Recht. Ich darf aus der FAZ zitieren, in der es unter der schönen Überschrift "Der offenste Arbeitsmarkt für Akademiker" heißt: Deutschland hat den offensten Arbeitsmarkt für akademisch qualifizierte Arbeitskräfte. Seit dem Beginn des Jahres 2009 können Hochqualifizierte weitgehend ohne große Beschränkungen freie Arbeitsplätze besetzen. Weiter heißt es: Auch wer außerhalb der EU ein Hochschulstudium absolviert hat, darf in Deutschland arbeiten. Zum Schluss noch eine Überschrift: Die Beitragsbemessungsgrenze als Einkommensgrenze ist plausibel. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Max Straubinger (CDU/CSU): Wer hat dies niedergeschrieben? Was glauben Sie? (Zuruf von der CDU/CSU: Olaf Scholz!) Das war der ehemalige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz. Die SPD muss erst noch in ihren eigenen Reihen darüber philosophieren, was sie in dieser Frage überhaupt will, weil dies konträr zu den Aussagen des Kollegen Veit und nachfolgender Redner steht. Deshalb ist die Bewältigung des Fachkräftemangels bei CDU, CSU und FDP bestens aufgehoben. Ich bedanke mich bei der Präsidentin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3862 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich darf darauf hinweisen, dass wir jetzt einige Abstimmungen haben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie Zusatzpunkt 5 a und b auf: 26 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 17/4231 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Gesundheit ZP 5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ungarische Mediengesetz - Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen - Drucksache 17/4429 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren - Drucksache 17/4202 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Es geht dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 b auf: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Vincent und die Grenadinen über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/3959 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Lucia über den Informationsaustausch in Steuersachen - Drucksache 17/3961 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom 8. März 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/3962 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/4280 - Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Dabei geht es um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 29. März 2010 mit St. Vincent und die Grenadinen über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3959 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 7. Juni 2010 mit St. Lucia über den Informationsaustausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3961 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom 8. März 2001 mit Malta zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3962 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Roth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD): Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Seit vielen Jahren bin ich Berichterstatter meiner Fraktion für Ungarn. Seit vielen Jahren bin ich stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Ungarischen Parlamentariergruppe. Vor diesem Hintergrund können Sie sich vielleicht vorstellen, dass mir die heutige Auseinandersetzung alles andere als leichtfällt. Es bleibt das große ungarische Verdienst. Wenn wir den Mut zur Freiheit mit einem Land Mittelosteuropas verbinden, dann zuerst und vor allem mit Ungarn. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ungarn hat sich zu einem Zeitpunkt für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt, als andere noch verängstigt zu Hause geblieben sind. Wir, unser Land, unsere Bürgerinnen und Bürger, haben den Ungarinnen und Ungarn viel zu verdanken. Wir erwarten sicherlich auch von der ungarischen Ratspräsidentschaft Erfolg und Professionalität. Unsere besten Wünsche, auch die meiner Fraktion, begleiten die Verantwortlichen, die für Ungarn und mit Ungarn dafür arbeiten, dass Europa besser gelingt und dass wir die Probleme, nicht nur die Finanzkrise, gemeinsam bewältigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtiger als der Euro und wichtiger als der Binnenmarkt sind aber unsere Grund- und Freiheitsrechte. Das ist unser wertvollstes Gut. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist das Rückgrat der europäischen Identität. Das ist nicht irgendeine Frage unter ganz vielen sachpolitischen Fragen, sondern das ist der Kern der europäischen Zusammenarbeit. Es ist für uns als Europäerinnen und Europäer auch eine Frage der Selbstachtung und eine Frage der Glaubwürdigkeit im Umgang mit totalitären Staaten, mit Diktaturen auf dieser Welt. Wie ernst nehmen wir die Freiheitsrechte? Wie ernst nehmen wir die individuellen Menschenrechte? Nur dann, wenn wir sie selbst zu 100 Prozent ernst nehmen und wenn wir über jeden Zweifel und über jede Relativierung erhaben sind, können wir selbstbewusst und kämpferisch allen diktatorischen und autoritären Systemen dieser Welt offensiv entgegentreten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Umso unverständlicher - das sage ich sehr deutlich - ist das lange Schweigen des Kommissionspräsidenten, ist das lange Schweigen und Relativieren des Ratspräsidenten Van Rompuy, aber auch das Schweigen und Relativieren der Bundesregierung. Es ist gestern im Europaausschuss schon einmal darüber gesprochen worden; ich will das hier für meine Fraktion noch einmal deutlich machen: Wir haben es auf diese Aktuelle Stunde überhaupt nicht angelegt. Wir haben Ihnen eine vereinbarte Debatte zum schnellstmöglichen Zeitpunkt angeboten. Wir haben Ihnen angeboten, über einen interfraktionell zu erarbeitenden gemeinsamen Entschließungsantrag zu reden und zu verhandeln. Sie haben diese beiden Angebote ausgeschlagen. Deswegen haben wir es als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bundestag als unsere Pflicht angesehen, jetzt diese Diskussion zu führen. Wir wollen keine juristische Diskussion, sondern wir wollen eine politische Bewertung vornehmen, wie sie im Übrigen anderswo auch vorgenommen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das dänische Parlament beispielsweise hat einen Antrag gestellt, der darauf abzielt, dass sich auch die COSAC, die Konferenz der Europaausschüsse der Mitgliedstaaten, kritisch mit der Frage des ungarischen Mediengesetzes auseinandersetzt. Wir stehen dabei nicht alleine. Es ist unsere Pflicht als nationales Parlament, klar und deutlich unsere Stimme zu erheben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dass das keine parteipolitische Diskussion ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir doch spätestens nach der Lektüre des lesenswerten Beitrags des Vorsitzenden des Europaausschusses, Gunther Krichbaum, festgestellt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was Gunther Krichbaum in einem Interview gesagt hat, findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. Damit ist der Vorwurf seitens der ungarischen Regierung, aber auch aus der Mitte dieses Parlaments, wir würden hier unsere parteipolitischen Spielchen treiben, völlig unerheblich. Ich frage einmal: Was wäre, wenn eine sozialdemokratische oder eine linke Regierung in Europa so etwas getan hätte? Sie wären auf den Bäumen, Sie wären auf dem Mount Everest, wenn wir eine solche Situation hätten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie können sich darauf verlassen, wir wären gemeinsam mit Ihnen auf den Bäumen, egal welche Regierung mit welcher parteipolitischen Färbung die Medienrechte bzw. die Freiheitsrechte in Zweifel zieht. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten gilt ausdrücklich nicht in der Europäischen Union. Im Gegenteil: Es gibt die Pflicht zur Einmischung. Das hat der ungarische Ministerpräsident Orban offensichtlich auch verstanden; denn er hat angekündigt - wir werden ihn sicherlich an seinen Taten messen -, dass nach Überprüfung der Kommission dieses Gesetz überarbeitet wird, wenn kritische Punkte festgestellt werden. Damit ist es keine innerstaatliche Angelegenheit, es ist eine europapolitische Angelegenheit, und deswegen gehört es auch hierher. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir kritisieren überhaupt nicht das ungarische Volk. Wir kritisieren die Entscheidung der ungarischen Regierung. Wir kritisieren die Entscheidung der über eine Zweidrittelmehrheit verfügenden Regierungsfraktionen im ungarischen Parlament. Wir respektieren und wir verneigen uns vor den Demonstrantinnen und Demonstranten in Budapest und in Ungarn, den Intellektuellen, den Journalisten, den Kulturschaffenden, die in diesem demokratischen Rechtsstaat Ungarn ihre Meinung zu diesem Gesetz kritisch geäußert haben. Darauf sind wir gemeinsam stolz. Aber wir müssen auch selbstkritisch anfügen - das sage ich zumindest für mich; für Sie von Union und FDP kann ich das vielleicht nicht sagen -: Möglicherweise haben wir in der EU zu oft in den vergangenen Jahren geschwiegen oder uns desinteressiert gezeigt. Die Qualität des Rechtsstaates, die Qualität der Demokratie bemessen sich vor allem am Umgang mit den Minderheiten, und wir haben bereits zu oft geschwiegen - Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Michael Roth (Heringen) (SPD): - bei der Diskriminierung von Roma, bei der Diskriminierung von Homosexuellen. Wir haben zu oft geschwiegen beim grassierenden Antisemitismus. Wir haben geschwiegen zu den Hasskampagnen gegen den Islam. Wir führen keine Kampagne gegen Ungarn. Wir führen eine Kampagne für die Grundrechte. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, haben Sie meine Einlassung gehört? Michael Roth (Heringen) (SPD): Ich habe sie gehört, und deswegen mein letzter Satz: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union zerbricht nicht an einem schwachen Euro; die Europäische Union zerbricht am Unernst im Umgang mit den Grund- und Freiheitsrechten, die täglich neu erkämpft und erstritten werden müssen, in Ungarn, in Italien, in den Niederlanden und auch in Deutschland. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann David Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Roth, nicht nur die letzten Sätze waren, weil sie über die Redezeit etwas hinausgingen, überflüssig. Wir sind der Auffassung, dass diese Debatte im Deutschen Bundestag und insbesondere Ihr Antrag zum jetzigen Zeitpunkt unangemessen und voreilig sind und dass diese Debatte dem deutsch-ungarischen Verhältnis deswegen nur schadet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sagen Sie dann was in der Debatte?) - Herr Sarrazin, ich werde es gleich begründen. Es bestreitet doch niemand, dass die Meinungsäußerungsfreiheit zu den Grundwerten und Grundrechten auf der Welt gehört, zum europäischen Wertekanon, spätestens seit der Französischen Revolution. Dieser Wertekanon gilt selbstverständlich auch in der Europäischen Union. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber nicht nur in Sonntagsreden, lieber Freund!) - Dass jetzt die Linkspartei anfängt, uns zu belehren, was Grundfreiheiten angeht, das erstaunt mich gerade in dieser Stunde sehr, Herr Kollege. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das sollte Sie nicht erstaunen!) Es waren die Ungarn, die überhaupt dafür gesorgt haben, dass ganz Deutschland frei wurde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann hören Sie, was die Leute sagen, die für die Freiheit gekämpft haben und heute eingekerkert sind!) und dass der Teil, den ein Teil Ihrer Vorgänger in Ihrer Partei geknechtet hat, seine Meinung überhaupt sagen konnte. Insofern sollten Sie zu dieser ganzen Debatte heute schweigen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ausgangspunkt muss für uns sein, dass wir den Freiheitswillen des ungarischen Volkes würdigen und wissen, dass dieses Volk in freier Selbstbestimmung eine Regierung gewählt hat, die eine große Mehrheit bekommen hat. (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Aber was für eine Regierung!) Ungarn ist 1956 für Freiheit eingestanden. Ungarn hat 1989 die deutsche Wiedervereinigung, die Freiheit aller Deutschen wesentlich ermöglicht. Im Geiste und im Bewusstsein dieser Entwicklungen und dieser Leistungen des ungarischen Volkes sollten wir Deutschen uns benehmen und uns vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch mit Belehrungen, wie ich sie gerade eben vom Kollegen Roth gehört habe, zurückhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das war doch keine Belehrung!) Pressefreiheit ist nirgendwo grenzenlos, auch in Deutschland nicht. Sie findet ihre Grenze in der Verletzung der Rechte anderer. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was heißt denn das jetzt?) Deswegen haben wir Pressegesetze. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein neues Pressegesetz, das an Schärfe kaum zu überbieten ist. Das hören Sie zwar ungern, aber es ist so. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer richtet denn darüber?) Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, zu prüfen, was er tut, um Rechte zu gewährleisten. Herr Roth, Sie haben darauf hingewiesen: Es gab schwerste Menschenrechtsverletzungen, auch durch die Medien, in Ungarn. Wie dort - ich sage es einmal auf diese Art und Weise - Kinderschutz nicht gewährleistet wurde, wie dort die Leugnung des Holocausts nicht verboten war, das hat ein Einschreiten notwendig gemacht. An dieser Stelle sollten wir uns gar nicht als Besserwisser aufstellen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Man sollte dem Kollegen Krichbaum nicht in den Rücken fallen! - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wissen Sie, was der Herr Krichbaum dazu sagt?) Nun ist die entscheidende Frage: Wie gehen wir mit der Überprüfung dieses Gesetzes um? Dazu gibt es ein Verfahren - wir leben in einer Rechtsunion, in der Europäischen Union -: Die Europäische Kommission prüft jetzt diese Gesetze. Herr Kollege Roth, Sie selber haben politisch ein wenig schizophren argumentiert. Sie haben selber gesagt: Wenn es denn Verstöße gibt, dann muss man handeln. In der Tat, wenn es Verstöße gibt, wird die Europäische Kommission diese auch öffentlich machen. Ich begrüße, dass Ungarn auch durch den Premierminister gesagt hat, dass man dann korrigieren wird. Man kann nur nicht zu Vorfestlegungen und Vorurteilen kommen. Sie legen aber schon jetzt einen Antrag vor, in den Sie hineinschreiben, Sie kennten diese Verstöße, relativiert durch das Wort "zahlreich". (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das Gesetz ist doch bekannt! - Weitere Zurufe von der SPD) Schon heute stellen Sie zahlreiche Verstöße fest. Das ist aus unserer Sicht falsch, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte noch etwas klarstellen: Der Kollege Stübgen hat dazu gestern in der Europaausschusssitzung etwas gesagt. Ich finde es etwas traurig, dass Sie das hier nicht wiederholen, sondern den falschen Vortrag von gestern noch einmal bringen. Wir haben gesagt: Wir sind zu diesem Punkt in dem Moment zu einer vereinbarten Debatte bereit, wo der Bericht der Kommissarin Kroes vorliegt, wenn wir also Ergebnisse haben und wissen, worüber wir reden. Deswegen verweise ich Sie an dieser Stelle - das fällt mir ja nicht leicht - einmal an den Kollegen Martin Schulz, "den großen Sozialdemokraten aus Deutschland", der auf europäischer Ebene auch mit großen Ankündigungen gestartet ist und dann insbesondere den Antrag der Grünen im Europäischen Parlament mit den Worten zurückgewiesen hat: Man braucht erst einmal sattelfeste juristische Argumente, bevor man zu Urteilen kommt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das hätten Sie an dieser Stelle auch einmal beachten sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen muss ich sagen: Es ist vollkommen legitim und auch in Ordnung, dass man unter Freunden in der Europäischen Union auch kritische Punkte anspricht. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde!) Es gibt ja keine Form der Distanzierung seitens der CDU/CSU-Fraktion zu dem, was der Ausschussvorsitzende gesagt hat. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was Sie jetzt tun, ist eine Distanzierung!) Er hat sich dazu geäußert und gesagt, in dieser Stunde sei es richtig gewesen, es dabei zu belassen, die Prüfungen der EU-Kommission abzuwarten und danach im Deutschen Bundestag gegebenenfalls darüber zu diskutieren und auch Anträge einzubringen. Dieser Schuss ging zu schnell los, und deswegen lehnen wir ihn ab. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Dehm für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Es gibt in Ungarn eine nur von den rechten Machthabern besetzte Zensurbehörde, die gegen kritische Journalisten Strafen bis zu 720 000 Euro verhängen darf. Ich sage Ihnen: Wenn da nicht die Alarmglocken läuten! Wehret den Anfängen! (Beifall bei der LINKEN) Wir als linke Partei wissen, was es bedeutet, wenn die Medien des Großkapitals, wie die Bild-Zeitung und der Spiegel, unsere Lösungsvorschläge gegen die Finanzkrise rücksichtslos unterdrücken und uns nur erwähnen, wenn sie uns verleumden können. Die Linken in Italien spüren es, wenn Berlusconi die Meinungsvielfalt abwürgt: als staatlicher Machthaber die öffentlichen Medien und als kapitalistischer Medienmafioso bei den Privaten. Aber Ungarns Rechte wollen noch mehr: Sie wollen die totale Macht! Hauptleidtragende sind kritische Journalisten und Gewerkschafter, aber auch Wertkonservative und Priester, die die Bergpredigt ernst nehmen, und mutige mittelständische Verleger. Dies geschieht nicht in irgendeiner Bananenrepublik, sondern im wirtschaftlich entwickelten Ungarn mit dieser großen humanistischen und künstlerischen Tradition. Das ist der Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Und weil in Ungarn vor allem Linke betroffen sind, bin ich besonders den konservativen Kollegen dankbar, die wie Gunther Krichbaum - jetzt zitiere ich ihn mal, und das hat er nach reiflicher Überlegung gesagt - das ungarische Mediengesetz in der Frankfurter Rundschau "inakzeptabel" nennen, weil damit Regimekritiker mit - ich zitiere - "vagen und willkürlichen Begriffen wie ‚ausgewogener politischer Berichterstattung'" verfolgt werden können. Ein Wort zur SPD: Ich finde es hilfreich, dass Ihre Sozialdemokratische Internationale den tunesischen Diktator Ben Ali und seine Staatspartei RCD ausgeschlossen hat - wenn auch erst am Montag, was ein bisschen so ist, als wäre jemand am 7. Mai 1945 entschlossen dem antifaschistischen Widerstand beigetreten. Bitte, setzen Sie sich etwas früher dafür ein, dass im tunesischen Nachbarland Ägypten jetzt die politischen Gefangenen - vor allen Dingen die vielen Tausend Linken - freigelassen werden. (Beifall bei der LINKEN) Das würde auch mancher Lektion in Sachen Menschenrechte von Herrn Gabriel und Herrn Steinmeier an unsere Adresse etwas mehr Nachdruck verleihen. Frau Merkel, nehmen Sie Ihren Parteifreund Viktor Orban härter in die Pflicht, wenn sein Regime linke Intellektuelle bis ins Ausland verfolgt! Solcher Antikommunismus - das hat uns Thomas Mann gelehrt - ist die größte Grundtorheit unserer Epoche, und dabei bleibt es. (Beifall bei der LINKEN) Wie lange wollen Sie noch wegschauen, wenn die rechte Regierung de facto die Grenzen der ungarischen Nachbarländer infrage stellt und im Ratsgebäude in Brüssel jetzt auch noch symbolisch einen Teppich aufhängt, der Großungarn in den Grenzen von 1848 zeigt? (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von 1848?) - Von 1848! Weil Sie diejenigen erwähnt haben, die in Ungarn mutig die Grenze aufgemacht haben: Einer davon war György Konrad, einstiger Präsident der Berliner Akademie der Künste und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Er sagt jetzt, auch nach reichlicher Prüfung: Die 1989 erkämpfte Pressefreiheit wurde rückgängig gemacht. Gibt Ihnen denn das nicht zu denken? (Beifall bei der LINKEN) Der populäre Rundfunkmoderator Attila Mong, der wegen seiner Kritik an dem Mediengesetz schon suspendiert wurde - das ist bereits geschehen -, wie übrigens die Journalisten Ivan Andrassew und Sandor Jaszberenyi, sagt: Der Grund, warum die deutschen Medienkonzerne zu allem schweigen, ist, weil sie "bekommen haben, was sie wollten, wirtschaftlich betrachtet. Was Product Placement, Werbung und die Digitalisierung der Medienlandschaft angeht, haben die Machthaber alle Wünsche der privaten Fernsehsender erfüllt." Meine Damen und Herren, auch Kommerz kann Freiheit töten. (Beifall bei der LINKEN) Ob es gegen die Macht von Verlagskonzernen geht oder gegen Zensurbehörden und omnipotente Parteienwirtschaft, ob es um linke Künstler in Ungarn geht oder um den chinesischen Nobelpreisträger Liu Xiaobo: Demokratische Gewaltenteilung, unabhängige Rechtsprechung und Meinungsvielfalt bedürfen noch viel mehr der Verankerung auf allen Seiten parlamentarischer Sitzordnungen in der EU, und darüber und darunter hinaus. Die Kommunistin Rosa Luxemburg hat das so ausgedrückt, dass sie damit hier an diesem Mikrofon schon von Vertretern fast aller Parteien zitiert wurde: Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist es!) Ich übersetze das einmal: Meinungsvielfalt beginnt dort, wo es einem selbst wehtut. Es muss dann auch Ihnen wehtun, Meinungsvielfalt einzuräumen. (Beifall bei der LINKEN) Die Kritik am ungarischen Zensurgesetz und an diktatorischen Maßnahmen in Italien und anderswo, also die Vision eines reinen Ideenstreits um die besten Lösungen gegen diese Krise, ohne Angst und Terror - Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): - ich bin beim letzten Satz -, (Zuruf von der FDP: Ja, Sie sind am Ende!) ist ein so zartes Gewächs, dass ich fürchte: Wir können es nur parteiübergreifend pflegen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Stefan Ruppert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich zunächst einmal darüber, dass der stellvertretende Botschafter Ungarns hier ist und diese Debatte verfolgt, (Beifall bei der CDU/CSU) also sehr aufmerksam registriert, was wir hier diskutieren. Ich fürchte, er hat beim letzten Beitrag einen sehr schlechten Eindruck gewonnen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach, wie schlimm! Ist das schlimm!) Das tut mir ausgesprochen leid. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Entschuldigen Sie sich doch!) An erster Stelle sollte man betonen, dass Ungarn zu unseren befreundeten Nationen gehört und Kern der Europäischen Gemeinschaft ist. Eine solche Beschimpfung, wie Sie sie hier eben geäußert haben, hat dieses Land nicht verdient. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie sind liberal? Das sind Liberale? Das sind Brachiale!) Insofern: Achten Sie bitte auf die Tonlage, wenn Sie hier Kritik äußern! Ich finde, das ist im ersten Redebeitrag, also von Herrn Roth, deutlich besser gelungen als jetzt bei Ihnen, Herr Dehm. Ich gehöre sicherlich nicht zu den Scharfmachern, sondern eher zu den nachdenklichen Politikern in meiner Fraktion. (Lachen bei der SPD) Scharfmacher gibt es bei uns sowieso nicht. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Gibt es auch Unnachdenkliche in Ihrer Partei? Wer sind denn die nicht Nachdenklichen in Ihrer Partei, die weniger Nachdenklichen?) - Herr Dehm, ich haue auf niemanden drauf, nur weil er Mitglied der Linken ist. Aber wenn Sie mit Ihrer überall dokumentierten Vergangenheit (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja! 77 zum Staatsfeind der DDR gestempelt!) und als jemand, der mit der Stasi konkret zusammengearbeitet hat, über die Frage reden, wie man mit Andersdenkenden umgeht, dann sollten Sie sich sehr genau überlegen, welche Tonlage Sie wählen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Genau die angemessene! Da können Sie sicher sein!) Auch das gehört zu Ihrer Glaubwürdigkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zuruf von der FDP: Das ist die Tonlage der Heuchelei!) Mir persönlich fehlt der missionarische Drang, den Sie anscheinend haben. Wenn ich eine Vergangenheit hätte wie Sie, könnte ich niemals mit diesem moralischen Impetus argumentieren, wie Sie das vorhin getan haben. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Als von der Stasi gestempelter Staatsfeind ab 77?) Nachdem wir uns lange genug mit Ihnen, Herr Dehm, in dieser Debatte aufgehalten haben, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) möchte ich zur Sache zurückkommen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben Sie doch gemacht!) Natürlich kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass wir die Grundrechte in Europa ganz ernst nehmen müssen. Sie sind Teil unserer Identität. Immer dann, wenn wir das Gefühl haben, dass die Grundrechte in einzelnen Mitgliedstaaten - es wurden neben Ungarn auch andere Staaten genannt - nicht ernst genommen werden, oder wenn es Tendenzen gibt, sie zu relativieren, müssen wir dem mit aller Entschiedenheit entgegentreten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Manuel Sarrazin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie das mal!) Mir als Jurist ist manche Klausel in diesem Gesetz zu schwammig. Es gibt Klauseln, die man nach meiner Meinung viel zu weit dehnen kann. Ich habe auch Probleme mit der formalen Art, wie dieses Gesetz zustande gekommen ist. (Beifall des Abg. Michael Roth [Heringen] [SPD]) Ich finde, man muss diesen Punkt sachlich und in aller Freundschaft zu Ungarn ansprechen. Wir können nämlich in Europa nicht akzeptieren, dass es einen Bereich gibt, in dem die Grundrechte ernster genommen werden als in einem anderen. Ich möchte am Ende noch darauf hinweisen, dass mich diese Entwicklung - nicht nur die Entwicklung in Ungarn - etwas mit Sorge erfüllt. Wenn man sich die Berichte der OSZE anschaut, dann kann man sagen, dass auch andere Länder in Europa die Pressefreiheit nicht so ernst nehmen, wie wir das eigentlich erwarten können. Wenn man sich die Rangliste in puncto Pressefreiheit anschaut, dann stellt man besorgniserregende Tendenzen fest. Ich warte mit Neugier und Interesse, aber auch mit Hoffnung auf den Bericht, den die Europäische Kommission dazu erstellen wird. Auf der Grundlage konkreter Ergebnisse und Berichte und im Hinblick auf die Frage, was juristisch zu beanstanden ist, sollten wir - das hat Herr Wadephul schon angekündigt - über dieses Thema in aller Ruhe und Sachlichkeit reden. Wegen unserer Freundschaft mit den Ungarn dürfen wir dies nicht im Ton missionarischer Belehrung tun. Aber in der Sache müssen wir glasklar argumentieren und dürfen keinen Millimeter von unserer Grundrechtsüberzeugung abweichen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn wir das tun, werden wir die ungarischen Freunde (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat gestern wunderbar funktioniert!) - Sie vielleicht nicht, aber wir - an unserer Seite behalten. Wir werden gleichwohl die Grundrechte in Europa stärken und dafür sorgen, dass sie weiterhin durchgesetzt werden. Ich glaube, es kommt sehr auf die Tonlage an. Es kommt auf die Sachlichkeit und nicht auf den Affekt an, den Sie hier gezeigt haben. Ich wünsche mir daher, dass die weitere Debatte etwas sachlicher als Ihre Rede verläuft. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungarn blickt in der Tat auf eine stolze Geschichte des Widerstandes gegen Unterdrückung zurück. Es ist hier schon an den ungarischen Volksaufstand von 1956 erinnert worden. Wir wissen alle: Ohne die ungarische Grenzöffnung wäre die deutsche Wiedervereinigung nicht so schnell gekommen. Europa und gerade wir Deutsche verdanken Ungarn viel. Das muss hier mit aller Klarheit gesagt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Deshalb ist es eigentlich ein Grund zur Freude, dass Ungarn jetzt die Präsidentschaft des Europäischen Rates hat. Und dann das: Es gibt in Ungarn ein neues Mediengesetz, das eine Gefahr für die Pressefreiheit darstellt. Natürlich gehört dieses Thema hierher. Was, wenn nicht das? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ein Gesetz, das ganz offensichtlich in wichtigen Punkten gegen Wort und Geist der europäischen Grundrechtecharta verstößt, das können Sie doch politisch bewerten. Verstecken Sie sich da nicht hinter juristischen Prüfverfahren, so langsam sind Sie doch sonst auch nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich will nur drei Punkte aus diesem Gesetz nennen, die es in sich haben, und das wissen Sie auch. Erstens werden die Medien in Ungarn verpflichtet, "ausgewogen" zu berichten, was immer "ausgewogen" genau heißen mag. Darüber entscheidet nicht etwa ein Gericht, sondern ein Medienrat, der auch sehr hohe Geldstrafen verhängen kann. Der ungarische Schriftsteller György Dalos, Träger des Leipziger Buchpreises, hat sehr deutlich davor gewarnt, was das heißen könnte - das sollten Sie zur Kenntnis nehmen -, nämlich zum Beispiel den Ruin kleinerer Zeitungen und natürlich dadurch auch eine Abstrafung von Kritik. Das ist ein ungarischer Demokrat; der weiß durchaus, worüber er in seinem eigenen Land redet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens wurde der Medienrat ausschließlich mit Persönlichkeiten besetzt, die der Regierung nahestehen. Eine Vertretung der Zivilgesellschaft oder der Opposition ist also für die nächsten neun Jahre nicht gegeben. Das könnte also - einmal ganz vorsichtig formuliert - darauf hinauslaufen, dass die Regierungsmehrheit die Medien überwacht, ob sie auch ausgewogen im Sinne dieser Mehrheit berichten. Sonst gibt es halt Sanktionen. Drittens kann dieses neue Mediengesetz nur mit Zweitdrittelmehrheit verändert werden. Demokratische Korrekturen sind also nur äußerst schwer erreichbar. Das können Sie nun wirklich nicht gut finden oder ignorieren, dass das gegen den Geist der europäischen Grundrechtecharta verstößt. Um so etwas festzuschreiben, wurde extra die Verfassung geändert. Das alles ist ein Affront gegen die demokratische Gesellschaft Ungarns, die wir sehr schätzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist auch ein Affront gegen die Europäische Union; denn ein Land, das so gegen den Geist der Grundrechtecharta verstößt, kann die Europäische Union international nicht glaubwürdig repräsentieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist doch klar: Eine solche Ratspräsidentschaft erschüttert die Glaubwürdigkeit Europas, wenn es darum geht, undemokratische Zustände in anderen Teilen der Welt zu kritisieren. Gerade deshalb sollten wir alle die Proteste dort in Ungarn mit besonderem Engagement unterstützten. Das kann niemand als antiungarisch bezeichnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, da irritiert es schon, wenn Ihr Fraktionsvorsitzender im Europaparlament, Herr Daul, sich über die "politisch motivierten Vorwürfe gegen die ungarische Regierung" mokiert. Ich verstehe ja sein politisches Problem, dass Herr Orban auch zur Europäischen Volkspartei gehört. Aber bei der Verteidigung der Pressefreiheit darf es eine solche politische Rücksichtnahme nicht geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich sage Ihnen das ganz direkt, denn Sie können hier mit der Europäischen Volkspartei und durch die Europäische Volkspartei helfen. Nehmen Sie Einfluss auf Herrn Orban! Fordern Sie doch wenigstens, dass er das Gesetz sofort und so lange aussetzt, wie die Europäische Union es prüft. Das wäre doch einmal eine Forderung, wenn Sie sich schon hinter dem Prüfprozess verstecken. Warum tun Sie das eigentlich nicht? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir müssen uns gemeinsam dafür starkmachen, dass die ungarische Regierung dieses Gesetz zurücknimmt und sich darüber hinaus in Wort und Tat an die europäischen Grundwerte hält. Falls Ungarn die beanstandeten Passagen nicht zurücknimmt, muss nach unserer Überzeugung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden. Europa ist für viele Menschen überall auf der Welt durchaus ein Vorbild, was Demokratie und Freiheit angeht. Aber nur, wenn wir selbst uns gegen Einschränkungen von demokratischen Rechten in der Europäischen Union zur Wehr setzen, erhalten wir uns diese demokratische Ausstrahlung. Das ist die Aufgabe, die wir auch hier und heute haben. Deshalb haben wir gemeinsam mit der SPD-Fraktion zusätzlich diese Woche den Antrag in den Bundestag eingebracht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn dieses Jahres hat Ungarn die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen. Das ist eigentlich ein bedeutendes Ereignis für die EU. Bedauerlicherweise wird es aber in der europäischen Öffentlichkeit und leider auch in Deutschland von einem ganz anderen Thema überschattet, dem ungarischen Mediengesetz. Bei der Debatte um dieses Gesetz redet so ziemlich jeder mit, und jeder meint plötzlich, ein Fachmann im Medienrecht zu sein. Das Urteil steht dabei für viele - vor allem für das linke Lager - bereits von Anfang an fest. Das ungarische Mediengesetz verstößt gegen EU-Recht, es verstößt gegen völkerrechtliche Verträge und bedroht die Medienfreiheit. Ich möchte zu diesem Thema keine langen Ausführungen machen und hier weder als Anwalt Ungarns auftreten noch den Eindruck erwecken, mir sei die Freiheit der Medien egal. Ich will Ihnen aber gerne drei Punkte zum Nachdenken ans Herz legen: Erstens. Eigentlich sollten wir in diesem Rahmen wichtige Themen für unser Land, für Deutschland, diskutieren. Stattdessen reden wir über ein ungarisches Gesetz, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist ja nicht zu fassen!) zu dem es noch dazu nicht einmal eine vollständige Übersetzung gibt. Es entspricht meines Erachtens nicht gerade gutem parlamentarischen Stil, im Deutschen Bundestag über ungarische Gesetze zu debattieren. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Dafür muss sich ja jeder FDP-Kollege schämen!) Ungarn ist ein souveräner Staat genau wie Deutschland. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sie wollten mal eine Europapartei gründen!) Genauso, wie wir nicht wollen, dass Ungarn sich in unsere Gesetzgebung einmischt, sollten wir den Ungarn auch nicht in ihre Gesetzgebung hineinreden. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die Weißwurstdebatte nicht absetzen?) Zumindest sollten wir eine endgültige Prüfung durch die zuständigen Gremien abwarten. Zweitens. Ungarn ist im Gegensatz zu vielen anderen Ländern tatsächlich eine lupenreine Demokratie. Ich zitiere einen deutschen Journalisten, der in Ungarn eine deutschsprachige Zeitung herausgibt: Orbán ist kein Antidemokrat. Und Ungarn ist nicht Nordkorea, ... Wir können doch einem demokratischen Land wie Ungarn nicht vor Abschluss einer eingehenden juristischen Prüfung unterstellen, rechtswidrige Gesetze zu schreiben und Grundrechte wie die Freiheit der Medien zu verletzen. Der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz hat selbst gesagt, Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Wenn das so ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum sind Sie denn so vorschnell dabei, zu erklären, das Gesetz sei rechtswidrig, obwohl es gerade erst geprüft wird? Hier findet eine Vorverurteilung statt, die einem souveränen Staat gegenüber überaus unangemessen ist. Sie ist jedoch gegenüber einem Staat, der mit Deutschland freundschaftlich verbunden und zugleich ein Partner in der Europäischen Union ist, ein offener Schlag ins Gesicht. So geht man mit Freunden nicht um. (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der LINKEN: Wer hat denn das geschrieben?) Dies führt mich zu meinem letzten Punkt: Bei aller möglicherweise berechtigten Kritik sollte man nie vergessen, dass der Ton die Musik macht. (Zuruf von der SPD: Sie haben ja ganz schrille Töne!) Der Ton gegenüber den Ungarn ist in dieser Debatte inakzeptabel. Hier wird eine Kampagne gegen Ungarn gefahren, die nicht nur die eingangs erwähnte Ratspräsidentschaft überschattet, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Pressefreiheit à la Bayernkurier!) sondern im Rahmen derer Ungarn sogar die Fähigkeit zur Übernahme der Ratspräsidentschaft abgesprochen wird. Das ist das eigentlich Skandalöse. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nehmen Sie mal einen anderen Redenschreiber als den vom Bayernkurier!) Hier wird eine bürgerlich-konservative Regierung an den Pranger gestellt. (Lebhafter Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier wird Schaden an freundschaftlichen Beziehungen angerichtet. Hier werden die ungarischen Bürger, die in der Mehrheit die Kritik an dem Gesetz nicht teilen, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Da kenne ich noch andere Länder, wo die Kritik auch nicht geteilt wird!) provoziert und gegen Bürger anderer EU-Staaten, auch Deutschlands, aufgebracht. Dies gilt übrigens auch für ungarische Journalisten. Die Journalisten in Ungarn sind es letztlich, die von dem Gesetz betroffen sind. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bürger nicht, oder was?) Sie fühlen sich jedoch anders als viele vermeintliche Retter der Medienfreiheit nicht durch das neue Mediengesetz eingeschränkt. Sie halten den Aufschrei gegen das Gesetz für überzogene Hysterie. Die viel zitierte Selbstzensur wird in Ungarn jedenfalls nicht befürchtet. Diese Kampagne ist unverantwortlich, und damit befassen wir uns in einer Aktuellen Stunde. Die Ratspräsidentschaft und die Schwerpunkte, die Ungarn setzen möchte, wären ein würdiger Anlass für eine Debatte gewesen; (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist eine schöne Volkskammerrede vor 1989!) ein in der Prüfung befindliches nationales Gesetz Ungarns ist es aus meiner Sicht nicht. Abschließend wünsche ich der ungarischen Regierung viel Erfolg bei ihrer Ratspräsidentschaft. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich liebe euch alle!) Ungarn hat sich viel vorgenommen und steht vor großen Herausforderungen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich liebe euch alle!) Es möchte Europa stärken und stabiler machen, es möchte Europa bürgernäher machen, (Zuruf von der LINKEN: Auch freier?) und es möchte dabei als ehrlicher Makler auftreten. Meine Unterstützung hat die ungarische Regierung hierbei. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Peinlich, peinlich, peinlich! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Martin Dörmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Martin Dörmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, ausgerechnet Ungarn! Ungarn, dem Deutschland und die anderen europäischen Länder so viel zu verdanken haben, Ungarn, das 1989 zu jenen Ländern gehörte, die einen entscheidenden Anteil an der Überwindung des Eisernen Vorhangs hatten, Ungarn, das wir alle als ein Symbol für den Kampf um Meinungsfreiheit und andere Freiheitsrechte verstehen. Europa - da sind wir uns, denke ich, alle einig - sähe ohne das entschiedene Handeln der Ungarn im Jahre 1989 anders aus. Ich freue ich mich, dass heute der stellvertretende Botschafter Ungarns unter uns ist. Wir begrüßen es sehr, dass Ungarn die Ratspräsidentschaft hat, weil es uns die Chance gibt, gemeinsam mit den Ungarn auch über diese Themen zu diskutieren. Denn so wie wir den Ungarn für ihren damaligen Mut dankbar sind, so können die Ungarn heute von uns umgekehrt erwarten, dass wir uns zur Bedrohung der Meinungsfreiheit in ihrem Land deutlich zu Wort melden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Warum hat Ungarn einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union gestellt? Weil die Menschen in die Europäische Union aufgenommen werden wollten, damit auch in die europäische Werteordnung. Heute sind sie angekommen. Jetzt steht auf dem Prüfstand, ob wir das ernst nehmen, ob wir uns als diejenigen verstehen, die die Rechte, die das ungarische Volk an dieser Stelle hat, auf europäischer Ebene durchsetzen. Darum geht es heute. (Beifall bei der SPD) Es ist nicht das ungarische Volk, das dieses Gesetz beschlossen hat; es ist in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der konservativen Regierung Orban mit ihrer Zweidrittelmehrheit, die sie nun einmal im Parlament hat, durchgedrückt worden, wie ich meine, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich will eine ungarische Stimme zitieren. Der ungarische Autor György Konrad beschreibt die Folgen dieses Mediengesetzes wie folgt: Wir sprechen von einem Mediengesetz, doch im Wesentlichen geht es um die Erstickung der Presse- und kulturellen Freiheit. Gestohlen wird uns das, was das Ziel und die Errungenschaft der öffentlichen und illegalen demokratischen Bewegung sowie das Wunder von 1989 war. ... Die Rede ist von einer neuartigen Diktatur. Ihre Neuartigkeit besteht darin, dass sie versucht, innerhalb der Europäischen Union zu existieren und zu wirken. Lassen wir nicht zu, dass die Werte Europas auf diese Weise ausgehöhlt werden. Schweigen wir nicht, wenn die Berlusconis und Orbans in Europa selbst bestimmen wollen, ob Kritik an ihnen erlaubt ist oder eben nicht. Eine staatliche Kontrolle der Medien, so wie es das ungarische Mediengesetz vorsieht, steht im Widerspruch zur Charta der Grundrechte der EU, zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zu den Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten. Angriffe auf die Presse- und Medienfreiheit und auf das Prinzip der Gewaltenteilung sind Angriffe auf den Wesenskern der Europäischen Union. Alle demokratisch gesinnten Kräfte sind aufgerufen, sich derartigen Entwicklungen entschieden entgegenzustellen. Deshalb ist das weitgehende Schweigen der Bundesregierung in der Tat kaum nachvollziehbar. Herr Dr. Hoyer, ich schätze Sie als Kölner Kollege und - Sie wissen das - als einen sehr bedächtig und angemessen redenden Menschen. Ich habe Sie beobachtet; ich interpretiere das. Ich glaube, es kann Ihnen bei den Wortbeiträgen, die heute sowohl aus Reihen der FDP-Fraktion als auch der Unionsfraktion gekommen sind, nicht wohl gewesen sein. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ich finde es schon skandalös, wenn hier, wie schon gestern im Europäischen Parlament, ein Vergleich zwischen dem nordrhein-westfälischen Mediengesetz und dem ungarischen Mediengesetz gezogen wird. Gegen einen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen vorzugehen, ist doch etwas anderes, als in einem Gesetz die Pflicht zur ausgewogenen Berichterstattung zu konstatieren, wie es in Ungarn geschieht, zumal ein einseitig regierungsnah besetztes staatliches Gremium - der Kollege Dr. Schmidt hat zu Recht darauf hingewiesen - definieren, kontrollieren und sanktionieren kann, unter klarer Missachtung der Gewaltenteilung. Dabei gehört doch die Möglichkeit, in der Berichterstattung eine Tendenz zum Ausdruck zu bringen, zum Wesen der Meinungsfreiheit. Deshalb sage ich auch: Es ist bedauerlich, dass sich die deutschen Medien, die sehr stark in Ungarn vertreten sind, bisher sehr zurückhaltend geäußert haben. Ich hoffe nicht, dass das ein erstes Zeichen dafür ist, dass dieses Gesetz wirkt; denn wir alle wissen: Gerade Mediengesetze wirken nicht erst dann, wenn der erste Journalist eine Strafe zahlen muss oder wenn die erste Zeitung geschlossen wird. Ein solches Mediengesetz wirkt bereits dann, wenn alle die Gefahr sehen und wenn die Schere im Kopf da ist. Genau das ist das Ziel dieses Gesetzes. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb müssen wir uns hier und heute äußern. Es reicht nicht, wenn die FDP sagt, wir müssten sachlich debattieren. Sie haben hier nicht sachlich debattiert, weil Sie am Kern des Problems vorbeigegangen sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich zusammenfassen: Die SPD-Fraktion fordert von der ungarischen Regierung und dem ungarischen Parlament nicht nur die inzwischen halbwegs zugesagte Überprüfung, sondern tatsächlich die Aufhebung, zumindest aber die Aussetzung des undemokratischen und europarechtswidrigen Mediengesetzes. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sind Sie der Souverän?) Wir erwarten von der Bundesregierung, von der EU-Kommission und auch vom EU-Parlament, dass diese sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für dieses Ziel einsetzen. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das ist eine Anmaßung! So etwas Undemokratisches!) Dafür haben wir sie geschaffen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Martin Dörmann (SPD): Das wäre im Interesse eines freien und demokratischen Ungarn und im Interesse eines zukunftsfähigen Europas. Darum geht es hier. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung hat nun Herr Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle waren wahrscheinlich noch mit dem Aufhängen der Weihnachtskugeln befasst, als ich in den Tagen vor Heiligabend in deutlicher Form zu den Sorgen über das ungarische Mediengesetz Stellung genommen und damit in Budapest zweifellos nicht nur Freude ausgelöst habe. Aber ich war der Auffassung, dass es erforderlich ist, frühzeitig darauf hinzuweisen, wenn man Bedenken hat. Man muss kein endgültiges Urteil abgeben, aber man muss Fragen stellen, und die müssen vom Adressaten befriedigend beantwortet werden. Wenn sie nicht befriedigend beantwortet werden, muss man gegebenenfalls etwas ändern. Das ist deutlich geworden. Ich möchte mich bei all denen bedanken - Sie eingeschlossen -, die das Thema, über das wir heute diskutieren, in einen größeren Rahmen stellen. Der große Rahmen ist durch das geprägt, was wir an den Ungarn bewundern und was wir ihnen zu verdanken haben. Ich spreche von dem unbändigen Freiheitswillen, der in Ungarn als dem ersten Land zum Ausdruck gekommen ist, als es zu einem großen Aufstand kam. Er ist auch dadurch zum Ausdruck gekommen, dass die Ungarn Deutschen den Weg über Österreich in die Freiheit ermöglicht haben. Das war eine großartige Leistung. Wir haben in den 90er-Jahren immer gesagt: Wir werden euch das nie vergessen. - Nach einiger Zeit haben mir ungarische Freunde gesagt: Wir können es nicht mehr hören. Ihr müsst einmal konkret werden. Ihr dürft nicht immer nur Worte machen. - Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass wir die Ungarn, die jetzt erfreulicherweise in unserer Wertegemeinschaft der aufgeklärten, rechtsstaatlichen europäischen Demokratien angekommen sind, darauf hinweisen, dass wir wegen einer möglichen Fehlentwicklung Sorge haben. Wir sollten das aber bitte in einem Umgangston tun, der diesem besonderen Verhältnis Deutschlands zu Ungarn angemessen ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben - auch das ist bereits gesagt worden - ein Interesse an einer starken und erfolgreichen ungarischen Ratspräsidentschaft, zumal in einer für die Europäische Union herausfordernden Zeit. Bei den im letzten Jahr gestellten Weichen ist jetzt Entschlossenheit das Gebot der Stunde, Entschlossenheit bei der Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates, zum Beispiel um unsere Währung sturmfest zu machen, Entschlossenheit, um den zum Teil sehr schmerzlichen Weg der Konsolidierung, auch der Haushaltskonsolidierung, fortzusetzen, und Entschlossenheit, neue Wege bei der Vertiefung und bei dem Zusammenwachsen Europas zu gehen. Daher ist die Ratspräsidentschaft wichtig. Eine Ratspräsidentschaft ist aber kein Orden, den man sich ans Revers heftet, sondern Ratspräsidentschaft heißt: gründliche Vorbereitung und sehr viel Arbeit. Wir wünschen unseren ungarischen Freunden viel Erfolg bei dieser kräftezehrenden Aufgabe, und wir werden sie nach Kräften unterstützen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Durchführung der Ratspräsidentschaft bringt eine besondere Verantwortung mit sich. Trotz des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon ist das jeweilige Mitgliedsland, das die Ratspräsidentschaft wahrnimmt, die Stimme Europas. Ungarn spricht in diesem ersten Halbjahr für die ganze Europäische Union, für uns alle. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass sich der Fokus in dieser Zeit auf die Ratspräsidentschaft richtet. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass sich auf die exzellent vorbereitete Ratspräsidentschaft ein Schatten legt, der die bisherigen Bemühungen überlagert. Europa - das ist Einheit in Vielfalt: Vielfalt im Sinne eines toleranten Miteinanders, das pluralistische Strömungen zulässt und die Rechte der Minderheiten ganz besonders schützt. Dies war das Leitmotiv der Antrittsrede von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Europäischen Parlament zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft 2007. Es sollte uns auch heute noch leiten. Vereint sind wir in Europa auch als Gemeinschaft der Werte, auf die wir alle verpflichtet sind: Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Das sind die Säulen. Sie wurden vor langer Zeit erkämpft und tragen Europa. Eines ist klar: Die Freiheit der Presse ist ein fundamentaler Wert in diesem Kontext. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nicht für Pressefreiheit einzustehen, hieße, dieses Fundament zu gefährden. Wir würden an Glaubwürdigkeit verlieren, auch und gerade im Gespräch mit Staaten, die wir von diesen Werten zu überzeugen versuchen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, Herr Kollege!) Wenn Bedenken aufkommen, dass die Freiheit der Presse in einem Mitgliedsland der Europäischen Union irgendeiner inhaltlichen Kontrolle unterworfen sein könnte - sei es auch nur in Form einer antizipierten Selbstzensur, gewissermaßen einer Schere im Kopf -, dann ist das für die Union als Ganzes Grund zur Besorgnis, ganz besonders, wenn dieses Land die Ratspräsidentschaft innehat. Dieser Anspruch, den wir hier erheben, richtet sich an ein bereits in Kraft getretenes und damit in seinem Anwendungsbereich allgemeingültiges Gesetz und nicht erst an mögliche Formen der konkreten Anwendung. Es zeugt übrigens von einem merkwürdigen rechtsstaatlichen Verständnis, wenn man das anders sieht. Die Bundesregierung hat sich von daher klar positioniert. Wir haben unserer Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Stellen im Mediengesetz geändert werden, die mit fundamentalen Werten in Konflikt stehen. Ich halte auch nichts davon, dass wir zulassen, dass das ungarische Gesetz mit Gesetzen verglichen wird, die im Bundestag oder in unseren Landesparlamenten verabschiedet wurden. Damit tun wir uns selbst unrecht. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe mir heute die Mühe gemacht, das nordrhein-westfälische Mediengesetz noch einmal genau zu lesen. Es ist zwischen 1966 und 2008 von 27 auf sympathische 17 Paragrafen reduziert worden. Das ungarische Mediengesetz ist dagegen im Original ein richtiger Wälzer. Kein Wunder, dass noch nicht jeder die Übersetzungen gelesen hat. Im nordrhein-westfälischen Mediengesetz kann ich wirklich nichts Angreifbares bezüglich des Sachverhaltes finden, über den wir hier sprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen ehrlich mit uns selbst sein. Ich finde es nicht angemessen, den Kolleginnen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, gleich welcher Fraktion, solche Vorwürfe zu machen. Ich möchte deutlich machen, dass durchaus einzelne Elemente des ungarischen Mediengesetzes in verschiedenen Gesetzen der Europäischen Union vorhanden sein können und dort möglicherweise sogar Sinn machen. Datenschutzvorschriften zum Beispiel nehme ich außerordentlich ernst. Diese wurden auch beim nordrhein-westfälischen Gesetz inkriminiert; das kann ich überhaupt nicht verstehen. Erst die Kumulation von Einzelvorschriften zu einem Gesamtwerk kann Bedenken auslösen oder Probleme verschärfen. Ich möchte einige unserer Zweifel konkret benennen. Dazu gehören die umfassenden Kompetenzen des neu geschaffenen Medienrates zur Kontrolle von Inhalten der Berichterstattung, die einseitige personelle Besetzung dieses Gremiums für einen Zeitraum von immerhin neun Jahren, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Höchstens!) die im Gesetz verankerte Pflicht zur Offenlegung von Quellen - das ist ein im Hinblick auf die Freiheit von Journalisten ganz elementarer Satz -, die inhaltlichen Vorgaben durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe, verknüpft mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten, und der den öffentlich-rechtlichen Sendern obliegende Zwang zur Übernahme der Nachrichten einer einzigen staatlichen Nachrichtenagentur. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur noch gegen links!) Unser Rat an unsere guten ungarischen Freunde ist, die bestehenden Zweifel in enger Zusammenarbeit mit der Kommission und der OSZE auszuräumen. Die OSZE hat gestern durch ihre Medienbeauftragte eine erste, weitgehend mit unseren vorsichtigen Analysen übereinstimmende Bewertung abgegeben. Ich finde, dies ist nicht nur vor dem Hintergrund der im Befreiungsprozess von Mittel- und Osteuropa begründeten historischen Kompetenz der OSZE von besonderer Bedeutung. Wir sind nicht nur den Grundsätzen der Europäischen Union, sondern auch denen der OSZE verpflichtet. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Kommission wird in den nächsten Tagen zu den Punkten, an denen sie Nachbesserungsbedarf vermutet, Fragen stellen. Ehrlicherweise muss man mit Offenheit an diese Prüfung herangehen; denn wir bewegen uns auf dem Gebiet einer sehr schwierigen Rechtsmaterie. Es ist weiß Gott viel zu früh, endgültige Festlegungen zu treffen. Aber die richtigen Fragen müssen von der Kommission gestellt werden. Wir sind zuversichtlich, dass es hier zu substanziellen Verbesserungen kommen kann. Gleichzeitig sehen wir natürlich das Problem des maßgeblichen Prüfungsmaßstabes. Eine solche Einschränkung der Pressefreiheit wäre eben nicht nur eine Verletzung sekundärrechtlicher Vorschriften. Eine solche Einschränkung würde den Kern unserer Grundwerte und Grundrechte berühren. Sie muss daher auch unter diesem Gesichtspunkt, das heißt primärrechtlich, behandelt werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch hier ist die Kommission als Hüterin der Verträge gefordert. Übrigens ist und war die Beachtung dieser Grundwerte auch Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäischen Union. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau! - Weiterer Zuruf von der SPD: So ist es!) Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Bundesregierung hat die Dimension und das Gewicht dieser Problematik erkannt, zumal die innenpolitische Entwicklung in Ungarn nicht nur von diesem Gesetzgebungsvorhaben geprägt ist. Als große und überzeugte Freunde Ungarns stehen wir jederzeit zur Unterstützung bereit. Wir bitten unsere Freunde in Ungarn, das nicht als Angriff auf Ungarn misszuverstehen. Das ist eine ganz konkrete Hilfe unter Partnern und Freunden in der Europäischen Union, bei der es darum geht, Fehlentwicklungen zu vermeiden und Schaden von Ungarn und der Europäischen Union abzuwenden. Jetzt ist die Kommission am Zuge. Ich habe Vertrauen darauf, dass die Kommission ihrer Pflicht zur sorgfältigen Analyse vollumfänglich nachkommt. Und: Ich begrüße die von Außenminister Martonyi geäußerte Bereitschaft, auf den Rat guter Freunde einzugehen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Martin Dörmann [SPD]: Da müssen aber einige Kollegen der Koalition ihre Reden umschreiben!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Frank Hofmann hat das Wort für die SPD-Fraktion. Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsminister Hoyer, ich möchte Ihnen ganz persönlich recht herzlich für diese Rede und die Offenheit danken, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit der Sie die Verbundenheit zum ungarischen Volk, aber auch die möglichen Kritikpunkte deutlich angesprochen haben. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Herr Holmeier zu einer völlig anderen Einschätzung kommt; (Dr. Eva Högl [SPD]: Oh ja! Das fragen wir uns alle!) auch er gehört doch, wie ich glaube, dieser Regierungskoalition an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe festgestellt, dass die FDP nach dieser Rede regungslos dasaß. An dieser Stelle möchte ich auch Herrn Wadephul ansprechen. Sie haben dieses Thema aus meiner Sicht behandelt, als gehe es um so etwas wie einen Verwaltungsakt, den man erst einmal abwarten sollte. Ich hoffe, dass Sie, nachdem Sie die Rede des Staatsministers gehört haben, zu einer anderen Einschätzung kommen werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht nämlich um den Kern der europäischen Grundrechte. Diese Formulierung hat der Staatsminister gebraucht, und ich greife sie gerne auf. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Aber die Verletzung ist doch noch nicht erwiesen! Sie wird doch gerade erst geprüft!) - Es ist eine politische Aufgabe, sich über dieses Thema zu unterhalten. Dazu sind wir hier. Wir sind kein Verwaltungsgericht, sondern wir müssen Politik machen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte einige weitere Punkte ansprechen. Ich war zusammen mit Axel Schäfer am 5. Januar dieses Jahres in Budapest. Dort haben wir uns mit zwei Chefredakteuren zweier Zeitungen und mit dem stellvertretenden Staatssekretär Pröhle unterhalten. Ich möchte Ihnen von meinen Eindrücken aus diesen Gesprächen berichten. Die Partei Fidesz erhielt bei den Wahlen einen Anteil von etwa 52 Prozent der abgegebenen Stimmen und verfügt durch Direktmandate über eine Zweidrittelmehrheit. Wir hören immer nur von einer Zweidrittelmehrheit der Partei. Sie stellt inzwischen aber nicht nur die Regierung und beherrscht das Parlament, sondern sie besetzte auch sämtliche Verfassungsorgane und nahezu alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens. Im Moment gibt es noch eine Ausnahme, nämlich die Zentralbank. In der Ministerialbürokratie wurden bereits sämtliche Leitungsposten bis zur Ebene der Referatsleiter neu besetzt. Die bisherigen Amtsinhaber wurden entlassen. Ohne Angabe von Gründen kann das Personal in der öffentlichen Verwaltung mit einer Frist von zwei Monaten entlassen werden. Wenn wir bei uns von Beamten reden, wissen wir, was das bedeutet. Trotz Neubesetzung durch zwei Fidesz-treue Richter wies das Verfassungsgericht eine rückwirkende 98-prozentige Sondersteuer auf Abfindungen im öffentlichen Sektor einstimmig zurück. Was machen Herr Orban und seine Regierung? Sie brachten das Gesetz mit kleinen Änderungen erneut ein und entzogen gleichzeitig dem Verfassungsgericht de facto die Normenkontrollbefugnis für den Fiskalbereich. Vor diesem Hintergrund kann ich nur davor warnen, darauf zu vertrauen, dass es im Medienbereich schon nicht so schlimm kommen werde, wie die Kritiker befürchten. Das Mediengesetz und die Medienverfassung sind aus meiner Sicht ein weiterer Schritt, um allein die Partei in den Vordergrund zu stellen. Es wurde schon erwähnt, dass nun für neun Jahre eine Fidesz-Repräsentantin den Vorsitz im neu geschaffenen Medienrat führt. Dabei geht es nicht um die Kontrolle des Wettbewerbs, sondern um die Medieninhalte. Durch regierungstreues Personal wird das Ganze dann kontrolliert und sanktioniert, gesellschaftliche Gruppierungen sind nicht vertreten, das sprachen Sie ja schon an. Es geht um die erklärten Ziele, nationale Werte zu vermitteln und die kulturelle Identität der Ungarn zu stärken. Es sind die unbestimmten Rechtsbegriffe, deren Auslegung von der Medienbehörde und deren Medienpolizei vorgenommen wird, die die Presse- und Medienfreiheit beeinträchtigen. In einem Gespräch im Deutschlandradio gestern Morgen berichtete Hans-Gert Pöttering, dass Orban in der Fraktion der Christdemokraten eingestanden habe, dass er das Mediengesetz schon früher hätte einbringen müssen, aber mit Rücksichtnahme auf die Opposition dies erst im Dezember erfolgt sei. Das stimmt nicht mit dem überein, was wir in Ungarn erfahren haben. Dieses Gesetz wurde nicht durch Orban eingebracht, auch nicht durch die Regierung, sondern durch einen einzelnen Abgeordneten. Üblich ist dieses Verfahren der Einbringung durch einen einzelnen Abgeordneten, wenn es um kleine Änderungen einzelner Paragrafen in einem Gesetzeswerk geht, das nur von regionaler Bedeutung ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer von uns wäre in der Lage, so ein Gesetz wie dieses Mediengesetz zu schreiben und einzubringen? Es sind im Original 120 Seiten, und die Übersetzung umfasst fast 200 Seiten. Charme hat diese Einbringung durch einen einzelnen Abgeordneten aus der Sicht der Regierung und von Orban deshalb, weil es so verkürzte Fristen gibt, und nicht deshalb, weil man der Opposition entgegenkommen wollte, wie Orban gestern suggeriert hat. Über das Mediengesetz fand praktisch keine öffentliche Diskussion statt. Die Diskussion im Parlament wurde auf ein Minimum beschränkt. Von 220 Änderungsanträgen wurden nur 22 zur Abstimmung gestellt. Zwischen der Einbringung des Entwurfs und der Verabschiedung ist nur ein knapper Monat vergangen. Am 3. oder 4. Januar 2011 legte die Regierung eine erste englische Übersetzung vor. Dummerweise fehlten entscheidende Passagen, in denen es gerade um einschneidende Sanktionsmöglichkeiten ging. Deshalb bestand Barroso nun darauf, eine Übersetzung in der EU-Kommission anfertigen zu lassen. Meine Damen und Herren, Vertrauen sieht anders aus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende? Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Ja. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ungarische Medienverfassung atmet nicht den Geist der europäischen Verfassung und von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Spitzen der EU haben versäumt, frühzeitig auf die Probleme hinzuweisen. Die Zurückhaltung war keine vornehme Zurückhaltung, sondern aus meiner Sicht eine politische Dummheit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Dafür, dass es zu dieser Konfrontation im Europäischen Parlament gekommen ist, tragen die konservativen Regierungschefs, auch Bundeskanzlerin Merkel, Verantwortung. Das Ganze war alles andere als eine Glanzleistung. Wer meint, man könne so etwas aussitzen, muss nachsitzen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Johannes Selle hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Johannes Selle (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier im Zuge der ersten Aufregung ein ungarisches Mediengesetz. Es gilt seit dem 1. Janu-ar 2011. Die englische Fassung gibt es erst seit 14 Tagen. Sie ist 225 Seiten lang. Das neue Gesetz löst ein altes Gesetz von 1996 ab, das unter der alten sozialistischen Regierung entstanden war. Mit dem Gesetz war es nicht möglich, die Jugend vor rassistischer Hetze und pornografischem Unrat zu schützen. Es war auch nicht möglich, die Holocaustleugnung zu verbieten. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach, das wird jetzt erst möglich? - Gegenruf des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Genau das ist der Fall!) Wiederholte Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde ausreichend zu ahnden, war ebenfalls nicht möglich. Die privaten Sender - im Wesentlichen RTL - haben in Ungarn einen Marktanteil von 45 Prozent, die öffentlich-rechtlichen Sender einen von 10 Prozent. Ein strengeres Mediengesetz wurde von Fidesz, der Partei des Ministerpräsidenten, vor der Wahl angekündigt. Fidesz errang die Mehrheit der Parlamentssitze und setzte das Wahlversprechen um. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wunderbar! Super!) Eine führende ungarische Zeitung hat das Verfassungsgericht angerufen, um das Mediengesetz zu überprüfen. Von großen Teilen der ungarischen Medienwirtschaft wird es aber völlig unaufgeregt behandelt. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Natürlich! Das ist doch klar!) Zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld gehört, dass das Land in den letzten vier Jahren unter sozialistischer Ägide am Rand der Insolvenz entlangschrammte. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen der Sozialdemokratie wahrscheinlich!) Es gehört auch zum gesellschaftlichen Umfeld, dass Ungarn begeistertes Mitglied der EU ist und seit Beginn des Jahres 2011 die Ratspräsidentschaft innehat. Es ist eine Tugend, Mediengesetze sensibel zu betrachten und kritisch zu hinterfragen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!) Die Freiheit der Medien ist für uns wesentlich für die Sicherung der politischen Freiheit und der Demokratie. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das merkt man! Viel wichtiger ist der Kampf gegen uns!) Der gesellschaftliche Fortschritt unseres demokratischen Gemeinwesens ist ohne die Freiheit der Meinungsäußerung und ohne Freiheit bei der Veröffentlichung der Meinung nicht denkbar. Wir haben in Deutschland einschlägige Erfahrungen damit gemacht, und wir wollen nicht mehr in dunkle Zeiten zurückfallen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!) Deshalb ist es verständlich, dass wir hellhörig sind, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dafür sind Sie jetzt eine Leuchtfigur!) ganz besonders wenn es um die eigene Familie geht, nämlich um die Staaten der EU. Die Freiheit des öffentlichen Beitrages, die unerlässlich für den politischen Dialog und das politische Ringen um den richtigen Weg, zur Aufklärung von Hintergründen und Verstrickungen und von vorteilhaften und nachteiligen Wirkungen ist, wird auch kommerziell genutzt, und zwar mit vielen beklagenswerten Nebenerscheinungen. Terror, Rassismus, Gewaltverherrlichung, Neonazi-Ideologie, Pornografie und Entwürdigung von Frauen und Minderheiten gehören dazu. (Zurufe von der LINKEN) Durch solche Themen kann ein demokratisches Gemeinwesen Schaden nehmen und ausgehöhlt werden. Wir sind in Deutschland noch nicht am Ende mit der Diskussion über das Löschen und Sperren von Internetseiten. Wir haben in Europa einen guten Grund, weiter über die Freiheit der Medien zu diskutieren, solange es für besonders mutig gehalten wird, wenn die Bundeskanzlerin anlässlich der Verleihung eines Medienpreises die Laudatio auf den dänischen Karikaturisten Westergaard hält. Es ist eine Tugend, die Freiheit der Medien zu beobachten, aber es ist keine Tugend, in heftigste Kritik zu verfallen, ohne den vollständigen Gesetzestext überhaupt gelesen haben zu können. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es! - Zuruf von der LINKEN: Haben Sie ihn denn gelesen?) Nach dem, was ich zum Beispiel über den so viel gescholtenen Medienrat im ungarischen Gesetz gefunden habe - das habe ich im Original gelesen -, ist er von der Regierung unabhängig, vom Parlament mit zwei Dritteln zu wählen und dem Parlament jährlich rechenschaftspflichtig. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) - Hören Sie doch einmal genau zu. Sie haben gerade die Dominanz und die unausgewogene Berichterstattung angegriffen. - Außerdem wird er nur auf Anforderungen von Bürgern tätig, die geltend machen, dass ihre politischen Argumente nicht dargestellt wurden. Ich kann es mir nur schwer vorstellen, dass ich es gut fände, wenn radikale Gruppen in Deutschland die Darstellung ihrer Argumente erzwingen könnten. Schließlich können Entscheidungen des Medienrates gerichtlich überprüft werden, und zwar mit aufschiebender Wirkung. Aufgrund einiger Stellen, die ich in dem Gesetz gefunden habe, könnten wir aus diesem Gesetz sogar noch etwas lernen: (Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt wird es aber ganz peinlich! - Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN) In Art. 27 wird Parteien und politischen Bewegungen verboten, einen Mediendienst oder ein Programm zu finanzieren. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Berlusconi!) Das sollten wir auf Italien und auch auf Deutschland anwenden. Gemäß Art. 28 ist es verboten, dass audiovisuelle Nachrichtensendungen und politische Informationssendungen Sponsoring annehmen. Art. 38 verpflichtet audiovisuelle Mediendienstleister mit signifikantem Einfluss, zu Hauptsendezeiten wichtige Nachrichten zu senden. Hier drängt sich die Erinnerung an den Appell unseres Bundestagspräsidenten auf, den er mehrfach an das ZDF gerichtet hat. Ein solch komplexes Gesetz, das auch Begriffe enthält, die einer Interpretation unterliegen, lässt sich nicht sofort umfassend beurteilen. Die EU-Kommission ist mit ihrem Apparat bis jetzt noch nicht zu einer Einschätzung gekommen, und es bedarf auch Beispiele der Anwendung in der Praxis und der dazugehörigen Rechtsprechung, um eine ernste und berechtigte Kritik an Ungarn zu richten. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Herr Hoyer, was haben Sie für Koalitionspartner?) Möglicherweise gibt es Nachbesserungsbedarf hinsichtlich des Quellenschutzes und des Umgangs mit ausländischen Medienanbietern. Der ungarische Staatspräsident Schmitt, der das Gesetz unterzeichnet hat, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hören Sie doch einmal hin!) äußerte in diesem Zusammenhang, dass sein Land alles, was es tue, an den gemeinsamen europäischen Standards messe. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Selle, kommen Sie bitte zum Ende. Johannes Selle (CDU/CSU): Ja, gleich. - Der ungarische Ministerpräsident bestätigte mehrfach wie gerade erst gestern wieder, dass er nach der juristischen Analyse zu Änderungen bereit ist. Dies in aller Gelassenheit abzuwarten, ist das Gebot der Stunde. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: In aller Gelassenheit?) Eine Beeinträchtigung der EU-Ratspräsidentschaft durch Vorurteile wollen wir jedenfalls nicht gelten lassen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Selle! Johannes Selle (CDU/CSU): Unser Vertrauen gilt der ungarischen Demokratie und seinen Repräsentanten. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Natürlich! Wir können viel von diesem Mediengesetz und von Berlusconi lernen!) Dem sollten sich die Fraktionen anschließen und die Freundschaft mit Ungarn festigen. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist denn jetzt mit Beifall der FDP?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Axel Schäfer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Beitrag meines Vorredners kann ich zunächst einmal nur feststellen: Er hat all das, was der Kollege Hoyer zum ungarischen Mediengesetz ausgeführt hat und was ich Wort für Wort unterstreiche, entweder nicht gehört, oder er ist völlig anderer Meinung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was dann die Freundschaft anbelangt, so hat einmal ein wichtiger bayerischer Ministerpräsident gesagt: Es geht immer auch um die Tapferkeit vor dem Freund. - Genau darum geht es: dass man auch unter Freunden in kritischen Fragen offen und solidarisch miteinander redet, statt kritikwürdige Punkte unter den Teppich zu kehren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Johann Wadephul [CDU/ CSU]: Miteinander, nicht übereinander!) Dass wir diese Debatte führen, hat auch damit zu tun, dass fast alle Journalistinnen und Journalisten in Deutschland, viele aus der Kultur, aber auch aus anderen Bereichen, seit dem 23. Dezember dieses ungarische Gesetz kritisieren, und das auch in vielen europäischen Ländern. Aus Sicht meiner Fraktion ist es unsere Pflicht, das auch in unserem Parlament zum Thema zu machen. Genau das machen wir heute. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich war mit dem Kollegen Hofmann in Budapest. Wir haben mit Regierungsvertretern, Abgeordneten und Medienvertretern gesprochen. Er hat bereits alles gesagt. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Insofern spare ich wieder etwas seiner ein bisschen überzogenen Redezeit ein. Es ist aber wichtig, dass wir das Gesetz auch im Kontext sehen. Die Regierung wird von 43 Prozent der Wahlberechtigten getragen. Sie hat 53 Prozent der Stimmen und 68 Prozent der Mandate, beansprucht aber 100 Prozent der Macht. Das geht in keinem europäischen Land. Das geht nirgendwo. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Völliger Quatsch!) Was die Kolleginnen und Kollegen von der CSU angeht, die das in besonderer Weise verteidigen, kann ich nur sagen: Glück gehabt, Deutschland! Auch nachdem die CSU in Bayern mal eine Zweidrittelmehrheit hatte, funktioniert die Demokratie. (Zuruf von der SPD: Überwiegend!) - Überwiegend, okay. - Wir sind in Sorge, dass angesichts der Maßnahmen dieser Mehrheit die Demokratie in Ungarn auf Dauer nicht mehr funktioniert. Die Demokratie bemisst sich nämlich nicht nur an der Möglichkeit, als Regierung etwas gestalten zu können, sondern auch an der Möglichkeit, als Opposition und Minderheit Meinungen zu vertreten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) All das ist wirklich besorgniserregend. Auch wir mussten ja unsere eigene demokratische Tradition erst lernen und entwickeln. Selbstverständlich gibt es auch bei uns zu Recht bei Regierungswechseln Veränderungen im Personalbereich. Aber wir können immer noch auf die Loyalität und Gesetzestreue derjenigen bauen, die bei uns in der öffentlichen Verwaltung und den Regierungsapparaten tätig sind. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Heißt das, dass es anderswo nicht möglich ist?) Aber Gesetze zu machen, aufgrund derer man selbst die weniger wichtigen Referenten oder Referentinnen mit einer zweimonatigen Kündigungsfrist ohne Angabe von Gründen einfach auswechseln kann, hat nichts mit einer demokratischen Kultur zu tun, die von Vielfalt lebt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/ CSU]: Sagen Sie einmal etwas zu den USA! Mittwochmorgen nach der Wahl!) Es ist auch ein bisschen besorgniserregend, dass in einem Parlament - wir kritisieren schließlich kein Land, sondern eine politische Partei - in sieben Monaten 120 Gesetze teilweise nach dem Verfahren verabschiedet wurden, das der Kollege Hofmann beschrieben hat. Es gab acht Verfassungsänderungen, darunter eine, nach der das Verfassungsgericht seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen darf. Nämlich: Gesetze auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen und gegebenenfalls Parlament und Regierung zu erklären, dass sie einen Gesetzentwurf vorgelegt oder verabschiedet haben, der nicht verfassungsgemäß ist. Das haben die Parlamentsmehrheit und die Regierung in Ungarn so gemacht. Auch dazu müssen wir etwas sagen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir befinden uns in Europa - das ist wichtig - in einer demokratischen Gemeinschaft. Wir diskutieren hier als Europäerinnen und Europäer. Es war richtig, dass wir, als die Sozialdemokraten in der Slowakei mit einer populistischen Partei koaliert haben, (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber euphemistisch umschrieben!) nicht gesagt haben: "Wartet ab", sondern diesen Sozialdemokraten das Stimmrecht in der sozialdemokratischen Familie entzogen haben, weil wir Sorgen haben. Es ist gut, dass wir nun das in Ungarn verabschiedete Mediengesetz zumindest kritisieren, weil wir Sorgen haben. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wie haben Sie sich denn gegenüber Österreich verhalten?) Das drücken wir heute aus. Deshalb ist diese Debatte so gut und so wichtig. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Manuel Sarrazin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, was gilt denn jetzt? Herr Holmeier oder Herr Hoyer?) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns Liberale ist die Freiheit der Medien nicht verhandelbar; das sollte hier vorweg gesagt sein. (Beifall bei der FDP) Lieber Herr Dr. Dehm, ich bin beschämt, dass Sie versuchen, dieses ernste und wichtige Thema in Europa auf Kommunismusschelte oder Kommunismushatz zu reduzieren. Das hat dieses Thema nicht verdient. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wenn Intellektuelle im Ausland verfolgt werden!) Dass Sie versuchen, dieses Wort des Jahres - für mich jedenfalls ist es ein Unwort - zum Diskussionsgegenstand zu machen, ist unanständig. Belasten Sie diese Diskussion nicht mit diesem Wort! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das ist die Realität! Informieren Sie sich mal! - Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das sagen die Täter!) Ich danke Staatsminister Hoyer für seinen Beitrag, den ich für sehr ausgewogen halte. Ich verstehe ihn so, dass er damit im Interesse Deutschlands und Europas, aber auch - ohne bevormundend sein zu wollen - im Interesse Ungarns einen Rat unter Freunden geben wollte. Das ist genau das, was wir tun und den Ungarn in großer Dankbarkeit zurückgeben können. Genauso positiv nehme ich auf, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban angekündigt hat, man sei bereit, das umstrittene Mediengesetz zu ändern, falls dies aus juristischen oder politischen Gründen notwendig sein sollte. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat er gestern gerade nicht gesagt!) Angesichts der immer schärfer werdenden Kritik sollte er dieser Ankündigung auch Taten folgen lassen. Die ungarische Opposition, Journalisten jeglicher politischen Couleur, Künstler und Internetaktivisten demonstrieren gegen das umfangreiche Gesetzeswerk. Obwohl es umfangreich ist, sprechen wir bereits heute darüber. Lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt nach gründlicher Analyse hierauf zurückkommen! Das EU-Parlament und auch wir im Bundestag sorgen uns fraktionsübergreifend um die Meinungsvielfalt und die Meinungsfreiheit in Ungarn. Die ungarische Regierung darf den erfolgreichen Weg hin zu einer tragfähigen demokratischen Struktur nicht verlassen, indem sie die Unabhängigkeit der Medien zur Disposition stellt. (Beifall bei der FDP) Für mich als Liberalen sind die Freiheit der Presse und die Unabhängigkeit aller Medien unverzichtbare Voraussetzung demokratischer Meinungsbildung. Die FDP versteht sich in langer Tradition als Hüter der Medienfreiheit. Wir sind alarmiert und setzen uns seit Wochen auf EU-Ebene und, wie Staatsminister Hoyer soeben anschaulich beschrieb, über die deutsche Außen-politik vehement für Änderungen am ungarischen Mediengesetz ein. Die EU-Kommission prüft derzeit die Vereinbarkeit des Mediengesetzes mit den EU-Verträgen. Dieser Prüfung sollten wir keinesfalls vorgreifen. Aber es geht nicht nur um eine juristische, sondern auch um eine politische Überprüfung. Wir sollten immer der politischen und nicht der juristischen Bewertung den Vorrang geben. Wir sollten eben nicht allein auf die Kommission schauen, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) sondern aufzeigen, wo das ungarische Mediengesetz demokratische Werte verletzt, und entsprechende Änderungen einfordern. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!) Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, weist auf die Verletzung ihrer Kriterien zur Medienvielfalt hin. Staatsminister Hoyer hat eben schon ausgeführt, dass es dort Ansatzpunkte der Kritik gibt. Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen. Nunmehr gibt es in Ungarn eine nationale Medien- und Kommunikationsbehörde. Diese Zentralbehörde bündelt alle Regulierungs- und Aufsichtsaufgaben unter einem Dach. Die Leitung dieser mächtigen Behörde wird auf neun Jahre direkt vom Ministerpräsidenten ernannt. Erste Amtsinhaberin ist - für mich wenig überraschend - eine langjährige Medienpolitikerin der Regierungspartei. Neben der Leitung der Medienbehörde obliegt ihr ebenfalls die Leitung des Medienrates, der für die Programmkontrolle der Medien zuständig ist. Wenn Regulierung und Inhaltskontrolle in den Händen einer einzelnen Person liegen, die ihr Amt auch noch vom politischen Mehrheitsführer erhält, ist es um die Meinungsvielfalt sehr schlecht bestellt. (Beifall im ganzen Hause) Die ungarische Regierung verteidigt sich mit dem Hinweis auf vergleichbare Strukturen in anderen europäischen Ländern. Zwar kritisiere ich als medienpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion die Staatsnähe einiger deutscher Medien immer wieder scharf. Wir streiten in Deutschland aber darüber, wie die Selbstkontrolle der Medien noch staatsferner organisiert werden kann. Bereits jetzt werden die Aufsichtsgremien pluralistisch durch die gesellschaftlich relevanten Gruppen gebildet. Insofern verbietet sich glücklicherweise ein Vergleich Ungarns mit Deutschland, nicht nur mit Nordrhein-Westfalen. Dies gilt auch für Vergleiche im Hinblick auf journalistischen Quellenschutz. Im Gegensatz zur ungarischen Regierung haben wir diesen Schutz erst kürzlich erhöht. Wir vertrauen darauf, dass der investigative Journalismus einen unverzichtbaren Beitrag zur demokratischen Kontrolle unseres Staates liefert. In Ungarn hingegen dürfen seit dem 1. Januar 2011 Informationen über die Identität der Quelle geheimer Daten nicht mehr vertraulich gehalten werden, sofern es sich um widerrechtlich qualifizierte Daten handelt oder nationale Interessen davon berührt sind. Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben uns schon einmal über eine - nennen wir es einmal so - unausgewogene Berichterstattung in den Medien geärgert. Diese müssen wir aber aushalten. Die Medien leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum demokratischen Meinungsaustausch. Wer die Freiheit der Medien beschneidet, der schadet der Demokratie. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jürgen Hardt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Herr Dehm hier heute vorgetragen hat, hat mich von allen Beiträgen am meisten erschüttert. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war auch dafür geeignet!) Denn er hat sich hier als der Hüter und Wächter der Menschenrechte weltweit profiliert. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das habe ich nicht! So viel Lob habe ich nicht verdient!) Vor zehn Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass anlässlich einer Demonstration von sieben Personen bei einer großen Veranstaltung der Linken hier in Berlin diese sieben Kritiker weggeprügelt wurden, darunter auch unsere frühere Kollegin Vera Lengsfeld. So geht die Linke mit Menschen, die in Deutschland demokratische Rechte für sich in Anspruch nehmen, um. Deswegen finde ich Ihren Beitrag nicht besonders glaubwürdig. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war keine Veranstaltung der Linken! Nehmen Sie das zur Kenntnis!) - Ich muss mich korrigieren. Das war eine Veranstaltung der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das war es auch nicht!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm zulassen? Jürgen Hardt (CDU/CSU): Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön, Herr Dehm. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: In der Aktuellen Stunde gibt es keine Zwischenfragen!) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Ich bin froh, dass meine Zwischenfrage zugelassen wird. - Herr Hardt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es weder eine Veranstaltung der Partei Die Linke noch der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern der unabhängigen linken Zeitung Junge Welt war? (Beifall bei der LINKEN - Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das ist doch völlig egal!) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Dehm, Gegenfrage: Sind Sie bereit, sich von der Gewalt gegen die Demonstranten bei dieser Veranstaltung zu distanzieren? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Sehr gute Nachfrage! - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich habe wie jeder - - Ich weiß nicht, ob ich jetzt - -) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nein, das können Sie nicht. Das dürfen Sie nicht. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann ist die Antwort: ja! - Gegenruf des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Lesen Sie mal die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages! - Gegenruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Er hat mich doch gefragt!) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Ich möchte an die Adresse der Linken einfach Folgendes sagen: Die mit dem Zaun durch Europa waren die Kommunisten, und die mit der Zange waren die Ungarn. Deswegen lassen wir auf die Ungarn nichts kommen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ungarn ein Volk sind, das mit seinen demokratischen Grundrechten gut umgehen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich komme zum Thema zurück. Angesichts der langen Geschichte, die Deutschland und Ungarn gemeinsam haben, und der Tatsache, dass die Ungarn gegenwärtig die enorme Verantwortung haben, Europa in dieser schwierigen Zeit zu führen, sollten wir in dieser Phase sehr sorgfältig mit Vorurteilen im Hinblick auf bestimmte demokratische Entwicklungen in Mitgliedstaaten der Europäischen Union umgehen. Es ist geradezu ein Beispiel für das Funktionieren der Europäischen Union, dass bei einem Projekt wie der Mediengesetzgebung in Ungarn, das nicht nur bei mir, sondern, wie ich denke, bei allen hier im Hause Bauchgrummeln auslöst, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Bei allen leider nicht!) der Ministerpräsident von Ungarn in einem kurzen Gespräch mit dem Kommissionspräsidenten zu folgendem Ergebnis kommt: Die Kommission prüft das, und wir setzen uns anschließend damit auseinander und werden auf der Grundlage einer freundschaftlichen, sachlichen und juristischen Bewertung die Dinge beurteilen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Das war gestern nicht so!) Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Vorgehensweise. Der Deutsche Bundestag ist nicht der Aufsichtsrat des ungarischen Parlaments. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin auch nicht als Abgeordneter des Deutschen Bundestages gewählt worden, um mir die 200-seitige englische Übersetzung eines ungarischen Mediengesetzes durchzulesen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat Ihr Kollege uns geraten!) Ich finde es wunderbar, dass man solche Dinge in der Europäischen Union mittlerweile auf diese friedliche Weise regelt. Ich glaube, mit ein bisschen weniger Schaum vor dem Mund bei diesem Thema könnten wir zu guten, konkreten, freundschaftlichen Ratschlägen an die Ungarn kommen, die vielleicht sogar ihre Unterstützung und Zustimmung finden könnten. Wir haben zum Beispiel in Deutschland gute Erfahrungen mit den Mechanismen von freiwilligen Selbstbindungen der Presse, von Ehrenkodexen, von Pressekodexen gemacht, in denen steht, was sauberer und ordentlicher Journalismus ist. Da gibt es das Recht der Gegendarstellung; man fühlt sich zur Wahrheit verpflichtet und verzichtet auf die Anwendung unlauterer Methoden. Vielleicht ist das ein Weg, den die ungarische Politik gehen könnte, wenn es darum geht, dieses Gesetz ein Stück weit zu ergänzen und sicherzustellen, dass es tatsächlich nicht gegen die Medien eingesetzt werden kann. Ich erwarte von den Entscheidungen der nächsten Tage, genauer gesagt von der Vorlage des Berichts der Kommissarin Kroes, wesentliche Aufschlüsse darüber, an welchen Punkten wir uns näher mit dem Gesetz befassen müssen. Das werden wir sicherlich in aller Ausführlichkeit tun, ohne dass wir hier eine polemische Veranstaltung durchführen, wie wir es vor einigen Jahren im Fall Österreichs getan haben, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das waren ja Liberale in Österreich!) und zwar ohne dass es den Österreichern oder uns oder der europäischen Idee in irgendeiner Weise genutzt hätte. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/4401 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele Fograscher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht im Aufenthaltsgesetz - Drucksache 17/4197 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative - Drucksache 17/2491 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Residenzpflicht abschaffen - Für weitestgehende Freizügigkeit von Asylbewerbern und Geduldeten - Drucksache 17/3065 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt verwirklichen - Drucksache 17/2325 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, dient der Präzisierung unserer Rechtsordnung, um noch vorhandene Defizite bei der Integration zu beheben. Immer noch sind zu viele Menschen, die schon lange bei uns leben, nicht ausreichend integriert. Integration ist die Voraussetzung für tragbare Lebensperspektiven. Eine Integration der Migrantinnen und Migranten ist aber auch Voraussetzung für Akzeptanz in der Bevölkerung in Bezug auf Zuwanderung in unser Land. Es ist nicht zu akzeptieren, wenn durch mangelnde Integration, insbesondere durch mangelnde Deutschkenntnisse, Menschen mit Migrationshintergrund nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, wenn Menschen mit Migrationshintergrund keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und dadurch abhängig von Sozialleistungen sind. Die Bundesregierung und die Koalition reagieren auf diese Mängel mit dem Prinzip des Forderns und Förderns. Auf der einen Seite machen wir den Integrations- und Leistungswilligen Angebote, um ihnen die Integration bei uns zu erleichtern. Wir verbessern den Schutz der Menschen in unserem Land, die schutzbedürftig sind. Auf der anderen Seite sanktionieren wir diejenigen, die nicht bereit sind, sich bei uns zu integrieren, die unsere Werteordnung ablehnen. Integrationsverweigerer müssen damit rechnen, dass sie Sanktionen spüren. Diejenigen, die unsere ausgestreckte Hand ausschlagen, müssen mit Sanktionen rechnen. Das wird an unserem Gesetzentwurf deutlich. Wir verbessern die Regeln zur Bekämpfung von Zwangsheirat. Wir führen ein eigenständiges Rückkehrrecht für Verschleppte ein, wenn sie in Deutschland integriert waren. Opfer von Zwangsheirat sollen drei Jahre die Möglichkeit haben, die Aufhebung der Zwangsehe zu beantragen. Außerdem schaffen wir einen eigenen Straftatbestand Zwangsheirat. Das ist ein deutliches Signal, dass Zwangsheirat in unserem Land auch nicht durch kulturelle Differenz entschuldbar ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD] - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch geregelt!) Zwangsheirat ist strafbares Unrecht, das mit unserer Werteordnung nicht vereinbar ist. Es ist richtig, dass wir hier einen eigenen Straftatbestand schaffen, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht die Caritas aber anders!) um auch der Appellfunktion des Strafrechts Ausdruck zu verleihen. Es ist eben ein Unterschied, (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Eindeutig!) ob es sich um einen Teil eines anderen Straftatbestandes handelt oder ob künftig jedes Mädchen sagen kann: Es gibt hier den Straftatbestand der Zwangsheirat; das ist Unrecht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Aydan Özoðuz [SPD]: Warum? Was ist dann der Unterschied?) Zur Politik des Förderns gehört, dass wir die räumlichen Beschränkungen für Asylbewerber und Geduldete zur Ermöglichung der Aufnahme einer Beschäftigung, einer Ausbildung oder eines Studiums weiter lockern. Zur Politik des Forderns gehört die neue Regelung zur Bekämpfung von Scheinehen. Der Nachzug von Ehegatten ist einer der häufigsten Zuwanderungsgründe. Wir haben in unserem Land in erheblichem Umfang Scheinehen, durch die ein Aufenthaltstitel erschlichen wird. Die Dunkelziffer ist erheblich. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele?) Die Mindestbestandszeit der Ehe, die erforderlich ist, um einen eigenständigen Aufenthaltstitel zu begründen, werden wir daher auf drei Jahre verlängern. Dadurch wird der Anreiz, eine Scheinehe einzugehen, verringert. Auch die Möglichkeit der Aufdeckung von Scheinehen wird erheblich gesteigert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Schröder, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic zulassen? Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Schröder, Sie haben uns mit einem wunderbaren Satz beglückt: Die Dunkelziffer ist erheblich. Wie hoch soll diese Dunkelziffer sein? Wenn es dunkel ist, ist es dunkel. Wie haben Sie bemerkt, dass sie so hoch ist? (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ihre Gedanken sind manchmal ein bisschen dunkel!) Wie haben Sie das erkannt? Welche Datenlage hatten Sie, um feststellen zu können, dass diese Dunkelziffer hoch ist? Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Das ergibt sich allein aus dem Delikt. Wenn sich zwei Personen einig sind, eine Scheinehe einzugehen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen, ist der Fall anders als bei Delikten, bei denen es einen Täter und einen Geschädigten gibt; in letzterem Fall hat der Geschädigte einen großen Anreiz, sich an die Polizei zu wenden. Bei Straftatbeständen, bei denen zwei Personen zusammenarbeiten, um eine Straftat zu begehen, und keine Persönlichkeit da ist, der unmittelbar ein Schaden entstanden ist, ist die Dunkelziffer extrem hoch. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl märchenhaft! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, was Sie da sagen?) Das gleiche Phänomen tritt beispielsweise auch bei Rauschgiftdelikten auf; auch da gibt es keinen unmittelbar Geschädigten. Insofern ist es eine kriminalistische Selbstverständlichkeit, dass die Dunkelziffer bei solchen Straftaten hoch ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, auch Herr Montag würde Ihnen gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Ich möchte jetzt gerne fortfahren. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnten Sie uns das aber doch erklären, Herr Schröder!) - Bitte, Herr Montag. Wenn Sie noch einen weiteren Aspekt haben, gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Montag, bitte schön. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich danke Ihnen sehr, dass Sie die Zwischenfrage doch zulassen. - Sie haben auf die Frage meines Kollegen Kilic geantwortet, dass dieses Delikt - zwei Personen vereinbaren eine Scheinehe - strukturell im Dunkeln ist, solange nicht einer von beiden etwas offenlegt. Das ist selbstverständlich; das bestreiten wir nicht. Wenn so etwas geschieht, dann geschieht es im Dunkeln. Aber Sie sagen, dass es oft geschieht, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Wir haben Sie nicht gefragt, aus welchen Gründen Sie der Meinung sind, dass das eine Tat ist, die sich im Dunkeln abspielt, sondern wir haben Sie gefragt: Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, dass dies so oft passiert? Könnten Sie das beantworten? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Dass die Dunkelziffer hoch ist, sieht man daran, dass allein die Zahl der aufgeklärten Straftaten erheblich ist. Es sind über 1 000 im Jahr. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass natürlich auch die Dunkelziffer entsprechend hoch ist. (Lachen der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich denke, das ist eine Selbstverständlichkeit, lieber Herr Kollege Montag. Ich möchte aber deutlich machen, dass auch an besondere Härten gedacht ist. Wenn keine Scheinehe besteht, wird natürlich eine Ausnahme von dem Erfordernis der Mindestbestandszeit gemacht, zum Beispiel bei körperlicher und psychischer Gewalt. Das war auch bisher schon der Fall. Unsere Rechtsordnung enthält die Verpflichtung zur Integration. In den Integrationskursen werden daher Sprachkenntnisse, das Alltagswissen sowie Kenntnisse unserer Rechtsordnung, Kultur und Geschichte vermittelt. Deshalb ist der Besuch solcher Integrationskurse auch so wichtig. Die Kontrolle des Besuchs dieser Integrationskurse wird durch den Gesetzentwurf verbessert. Die Feststellung der Ausländerbehörden, ob ein Ausländer seiner Pflicht nachkommt, wird verpflichtend. Wichtig ist, dass der Nichtbesuch der Integrationskurse Sanktionen nach sich zieht, bis hin zur Ablehnung der Verlängerung des Aufenthaltstitels. Ich möchte gerne noch auf den Vorschlag eingehen, der im Bundesrat verabschiedet wurde, nämlich dass ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Jugendliche geschaffen werden soll, die schon lange in Deutschland leben und hier die Schule besucht haben, einen Schulabschluss gemacht haben und dadurch gut integriert sind. Diese Jugendlichen sollten eine Perspektive haben. Auch das entspricht wieder unserem Prinzip des Förderns und Forderns. Diese Jugendlichen sind gut integriert. Sie haben eine Perspektive in Deutschland. Deshalb unterstützen wir auch den Vorschlag des Bundesrates, diesen Jugendlichen einen eigenständigen Aufenthaltstitel zu geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Rüdiger Veit hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Rüdiger Veit (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über eine Reihe von Gesetzgebungsvorschlägen aus den Reihen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei, aber auch über einen Vorschlag der Bundesregierung, der das Ganze sozusagen thematisch zusammenbindet. Ich will versuchen, so abgewogen, wie mir das möglich ist, dazu Stellung zu nehmen. Zunächst einmal, Herr Kollege Dr. Schröder: Wenn Sie in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung Dinge geregelt haben wollten oder wollen, die entweder eine Verbesserung der Integration bedeuten oder aber zusätzliche Sanktionen schaffen, dann hätte ich etwas überlesen. Das würde mir leidtun; dem könnte ich möglicherweise nur sehr bedingt, nämlich was die Verbesserung der Integrationskurse angeht, zustimmen. Ich habe das bisher so verstanden, dass es sich dabei im Wesentlichen um den Hinweis an die Verwaltungsbehörden - vor allen Dingen die Ausländerbehörden - handelt, dass sie das Gesetz anzuwenden haben; denn dass die Frage der Integration bei der Verlängerung oder Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen eine Rolle spielt, steht bereits drin. Soweit es hier um eine neue Rechtsgrundlage für den Datenaustausch zwischen den Beteiligten geht oder gehen soll, habe ich nichts dagegen. Allerdings ist der Nutzen nur schwer zu erkennen; denn im Grunde genommen spricht auch jetzt nichts dagegen, dass sich die Betroffenen über Daten austauschen. Spätestens wenn ein Integrationskurs abgerechnet werden muss, ist klar, wer wo teilgenommen hat und wer nicht. Aber gut, es ist Ihre Sache, wenn Sie das noch einmal ausdrücklich ins Gesetz hineinschreiben wollen. Es schadet nichts, es nützt aber auch nichts. Zweitens. In Bezug auf die Frage des Rückkehrrechts werden Sie mir nicht verübeln, dass ich dafür eintrete, den SPD-Gesetzentwurf, der sich nämlich genau auf diesen Punkt beschränkt, zu präferieren und letztendlich auch zu verabschieden. Ich bin zunächst einmal froh, dass Sie die Frage des Rückkehrrechts überhaupt aufgegriffen haben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir in der Großen Koalition darum gerungen haben. Da ist uns immer gesagt worden: Das machen wir als Union nur mit einem Gegengeschäft, nämlich gegen die Verlängerung der Mindestbestandszeit der Ehe bei der Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So kommt es ja jetzt!) - So kommt es. Ich habe seinerzeit immer die Meinung vertreten - die Auffassung hat sich nicht geändert, Herr Kollege Grindel -: Das ist eigentlich ein ziemlich unsittliches Verlangen. Das erinnert mich ein bisschen an Koalitionsverhandlungen mit den Grünen auf kommunaler Ebene: Genehmigung der Umgehungsstraße gegen Förderung des Frauenhauses oder so etwas Ähnliches. - Beides hat miteinander überhaupt nichts zu tun! Wenn Sie gegen Zwangsheirat sind, dann müssen Sie konsequenterweise in erster Linie den Opfern helfen und dafür sorgen, dass sie sich aus dieser Zwangslage befreien können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dazu gehört nun einmal zwingend das Rückkehrrecht. Dabei nehmen Sie im Gesetzentwurf Einschränkungen vor, die ich nicht nachvollziehen kann. Warum muss eine Person, die schon hier gelebt hat und einen Aufenthaltstitel hatte, dann aber Opfer von Zwangsheirat wurde, erst noch einmal nachweisen, dass sie eine positive Integrationsprognose hat? Ich dachte, es gehe darum, den Opfern zu helfen, ohne zusätzliche Hürden aufzubauen. Insofern würde ich sagen: Sie sind da zwar auf dem richtigen Weg, aber ein bisschen zu kurz gesprungen. Ähnliches gilt übrigens auch bei dem Punkt, dass das nur innerhalb von fünf bzw. zehn Jahren möglich sein soll. Ich komme zum nächsten Punkt: Strafbarkeit. Rot-Grün hat bereits im Februar 2005 den § 240 Abs. 4 des Strafgesetzbuchs geändert und Zwangsheirat dort ausdrücklich unter Strafe gestellt. Sie wollen das jetzt unter einer neuen Überschrift zusammenfassen. Ich sage Ihnen dazu einmal meine höchstpersönliche Auffassung und die einiger, aber bei weitem nicht aller Rechtspolitiker: Notwendig ist das nicht, aber es schadet auch nichts. Unter generalpräventiven Gesichtspunkten wird möglicherweise gedacht: Jemand, der diese Überschrift im Strafgesetzbuch und auch im Inhaltsverzeichnis liest, lässt sich eher davon abhalten, eine Zwangsheirat zu arrangieren oder eine solche als Beteiligter und Täter zugleich einzugehen. - Das ist ein frommer Wunsch. Dass das letztendlich eine entsprechende Wirkung hat, kann man bezweifeln, aber, wie gesagt, man kann eigentlich auch nichts dagegen haben. Dann komme ich zu einem weiteren Punkt, der Residenzpflicht. Da gehen die Anträge von Bündnis 90/ Die Grünen und von der Linkspartei ganz offensichtlich weiter als der Regierungsentwurf. Auch hierzu meine persönliche Auffassung. Ich glaube, auch als ehemaliger Kommunalpolitiker: Man kommt nicht umhin, gerade im Zuge einer gerechten Verteilung auf die Gebietskörperschaften, zu sagen: Eine Wohnortzuweisung - eine Wohnortzuweisung! -, verbunden mit der Regelung, wo und durch wen Unterstützung geleistet wird, ist in Ordnung. Die wollen wir auch gar nicht abschaffen; sonst gibt es Verwerfungen, auch und gerade zwischen manchen Flächenländern und Stadtstaaten. Aber ich persönlich habe eigentlich nie den Nutzen der Regelung gesehen, nach der jemand, der beispielsweise in Potsdam oder etwas südlich davon wohnt und einmal ins nördliche Brandenburg will und zu dem Zweck mit öffentlichen Verkehrsmitteln sinnvollerweise das Berliner Stadtgebiet durchquert, im Prinzip schon einen Verstoß gegen seine Residenzpflicht begeht. Von daher könnte ich mir vorstellen, dass die Residenzpflicht, also die Anordnung: "Du darfst dich nur in einem bestimmten Bezirk, einer Stadt, einer Gemeinde, einem Landkreis aufhalten", ersatzlos abgeschafft werden kann. (Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Wohlgemerkt: Korrespondieren muss das mit einer klaren Wohnsitzzuweisung, damit die Frage der Kostenträgerschaft eindeutig ist. Von daher enthält dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung Licht und Schatten. Er geht in manchen Punkten - ich nannte schon die Residenzpflicht und das Rückkehrrecht - nicht weit genug. Zur Datenübermittlung hatte ich schon etwas gesagt. Ich fasse zusammen: Das ist im Prinzip nicht schädlich, geht auch heute schon so; dazu bräuchte man das Gesetz eigentlich nicht zu ändern. Noch einmal zu der unseligen Verknüpfung von Wiederkehrrecht und Ehebestandszeit: Das ist eigentlich eine unsittliche Verknüpfung, ein unsittliches Ansinnen. Dazu wird meine Kollegin Aydan Özoðuz anschließend noch eingehend sprechen, sodass ich mir jede weitere Ausführung hierzu versage und Sie herzlich bitte, vielleicht den einen oder anderen Punkt aus den Gesetzentwürfen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei in die Beratung aufzunehmen. Sie könnten auf dem richtigen Wege noch ein wenig gute Begleitung, Hinweise und Mitwirkung gebrauchen. Wir jedenfalls wären dazu gern bereit. Danke sehr. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwangsheirat ist kein Kavaliersdelikt. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wer hat das behauptet?) Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen. Die Gleichberechtigung der Frau ist einer der wesentlichen Bestandteile unserer Rechts- und Werteordnung, deren Vermittlung auch eine der entscheidenden Integrationsaufgaben ist. Integration funktioniert nur bei Respekt vor dieser Werteordnung. In großfamiliären Strukturen mit altertümlichen Bräuchen bestehen zusätzliche Zwangslagen für junge Menschen. Falsche Traditionen oder intolerante kulturelle Konventionen verhindern eine unabhängige Lebensgestaltung - vielfach lebenslänglich. Zwangsheiraten sind dabei kein Einzelphänomen - auch nicht in Deutschland. Erfahrungen zum Beispiel aus Berlin, aber auch aus Flächenländern wie Baden-Württemberg oder Bayern zeigen, dass es leider viel zu viele junge Frauen gibt, die in einer Zwangsehe leben müssen. Der besondere psychische Druck, der auf Mädchen und jungen Frauen in der Zwickmühle zwischen familiärer Solidarität und eigener Selbstbestimmung lastet, ist hier sehr groß. Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt im Rahmen der Nötigung strafbar ist, ist den betroffenen Familien meist nicht bewusst, dass elterliche oder geschwisterliche Vorschrift des Ehepartners in der deutschen Rechtsordnung nicht toleriert wird. Den Eltern und Familienangehörigen muss ausdrücklich die kriminelle Dimension solchen Tuns klar sein. Die selbstbestimmte Lebensgestaltung, die Freiheit, einen Ehepartner selbst aussuchen zu können, braucht den besonderen Schutz eines eigenen Straftatbestandes. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdings die Verbesserung des Opferschutzes besonders wichtig. Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen, sondern auch den Opfern wieder eine Perspektivchance geben. Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geben. Gerade die Verschleppung in ein fremdes Land verschärft diese Zwangslage noch. Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitel auch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monaten automatisch erlischt, ermöglicht es, diese Zwangslage noch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtperspektive zu nehmen. Nachdem über das Rückkehrrecht nun schon sehr lange diskutiert wird und es weder Rot-Grün noch Rot-Schwarz gelungen ist, diese Probleme anzupacken, ist es der christlich-liberalen Koalition nun zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die Betroffenen geschaffen zu haben. (Rüdiger Veit [SPD]: Wir gönnen euch einen Teilerfolg!) Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschleppung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dient auch die Verlängerung der Antragsfrist für die Aufhebung der Ehe. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik. Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheuklappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitik an, um die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte unserer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Herkunftsländern durchzusetzen, die mit dem deutschen Recht nicht vereinbar sind. Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlängerung der Ehemindestbestandszeit auf drei Jahre zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zugestimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen gestoßen. (Rüdiger Veit [SPD]: Zu Recht!) Wir nehmen diese Besorgnis sehr ernst und werden auch in Zukunft auf die Wirkung dieser Regelung genau achten. Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchgesetzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vier auf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert. Dem will die Koalition entgegensteuern. (Rüdiger Veit [SPD]: Ich denke, da ist alles dunkel!) Opfern häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu großer Zahl gibt und die in der Regel als Argument gegen die Anhebung der Ehemindestbestandszeit angeführt werden, kann durch die Härtefallregelung nach wie vor geholfen werden. Wir mahnen an, dass die Ausländerbehörden zu einer großzügigen Handhabung gerade im Sinne der Opfer von Zwangsheirat kommen. Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbesuch zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen von jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Die Koalition wird durch Fördern und Fordern die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser erschließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sevim Daðdelen spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um eines vorwegzunehmen: Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung und von den Regierungsfraktionen, geht es nicht um die betroffenen Frauen, wie es hier immer wieder gesagt wurde. Nein, Sie haben kein Herz für zwangsverheiratete Personen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was soll das denn?) Sie wollen auch nicht ernsthaft etwas gegen Zwangsverheiratungen tun. Es nimmt Ihnen auch niemand ab, dass Sie plötzlich für die Rechte von Frauen kämpfen, wo doch gerade Sie seit Jahren alles an Gleichstellungspolitik verhindert haben und immer noch verhindern. Deshalb protestierten heute vor dem Reichstag zahlreiche Frauenrechtsorganisationen und andere Vereine aufgrund des Aufrufs von Terre des Femmes gegen Ihren frauenfeindlichen Gesetzentwurf. Die Linke ist auf der Seite dieser Frauenrechtsorganisationen. (Beifall bei der LINKEN) Ihnen geht es nur um eines: Sie wollen die Notlagen von Frauen dafür nutzen, um Ihre hässliche Abschottungspolitik zu kaschieren; denn Sie wollen immer noch Familienzusammenführungen in Deutschland verhindern. Bereits im August 2007 wurde das Argument der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen angeführt, um den Ehegattennachzug einzuschränken. Da führte die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD den Zwang ein, die deutsche Sprache bereits im Ausland zu erlernen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr erfolgreiche Maßnahme!) Das vorgegebene Motiv war die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen, und das war scheinheilig. Denn durch diese Maßnahme wurde bis heute kein einziger Fall von Zwangsverheiratung verhindert. Es fehlt jeglicher Beweis seitens der Bundesregierung, dass diese Maßnahme irgendeine Zwangsverheiratung verhindert hätte. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Fragen Sie mal im Goethe-Institut in Istanbul nach, bevor Sie solchen Unsinn erzählen! Sie müssen sich mal vor Ort informieren!) Was hier als Opferschutz getarnt war, Herr Grindel, zielte ganz einfach auf die Verhinderung von Einwanderung. Und Ihr Ziel haben Sie auch erreicht: Vor der Verschärfung des Ehegattennachzugs konnten noch 40 000 Menschen von ihrem Grundrecht auf Ehe- und Familienzusammenführung Gebrauch machen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es gibt kein Grundrecht auf Zwangsehe, Frau Daðdelen! Das hätten Sie vielleicht gerne!) 2009 waren es nur noch 33 000. Das ist ein Rückgang um 16 Prozent. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Der kann man fast nicht mehr zuhören!) Wir sagen: Das ist keine familienfreundliche Politik, nein, das ist eine familienfeindliche Politik der Bundesregierung. Die Bundesregierung zeigt erneut, dass es ihr weiterhin nicht um die betroffenen Frauen geht. Denn was schlägt sie vor? Sie schlägt vor, die Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre zu erhöhen. Damit werden Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen oder Gewaltverhältnissen leben, aus Angst vor dem Verlust des Aufenthaltstitels oder vor einer Abschiebung gezwungen, ein Jahr länger in dieser Gewaltsituation auszuharren. Ich verstehe einfach Ihre Logik nicht. Sie begründen Ihre Gesetzesmaßnahme damit, (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Lesen Sie mal das Gesetz!) dass Sie behaupten, die Anzahl der Scheineheverdachtsfälle sei höher als im Jahr 2000. Auch das stimmt nicht. Das ist glatt gelogen. Auf meine Anfrage an die Bundesregierung vom 25. November 2010 konnte sie nicht leugnen, dass die Zahl der Tatverdächtigen bei Scheinehen im Jahr 2009 mit 1 698 Personen nicht einmal ein Drittel so hoch war wie im Jahr 2000 mit 5 269 Fällen, also in dem Jahr, in dem die Ehebestandszeit von vier auf zwei Jahre reduziert wurde. Jetzt wollen Sie die Zeit verlängern, obwohl die Zahl der Verdachtsfälle wesentlich weniger geworden ist. Wo ist eigentlich die Logik bei Ihnen? Es gibt gar keine Logik. Sie nehmen in Kauf, dass die Frauen länger in Gewaltsituationen bleiben. Deshalb finde ich das nicht nur unlogisch, sondern unmenschlich. Es ist skandalös, was Sie hier vorhaben. Sie verstoßen nicht nur gegen jedweden Grundsatz von Humanität, Sie verstoßen auch gegen europäisches Recht. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 9. Dezember 2010 verstößt die Erhöhung der Ehebestandszeit gegen Europarecht. Das europäische Assoziationsrecht sieht seit Ende 1980 ein sogenanntes Verschlechterungsverbot, zum Beispiel für türkische Arbeitnehmer, vor. Danach darf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht erschwert werden. Das heißt, seit 1980 gewährte Erleichterungen dürfen nicht mehr zurückgenommen werden. Genau das tun Sie aber hier mit Ihrem Gesetzentwurf. Deshalb muss er sofort gestoppt werden, wenn schon nicht aus Rücksicht auf die Frauen, dann aus europarechtlichen Gründen, sagt die Linke. Deshalb fordert die Linke auch flächendeckende niedrigschwellige Beratungsangebote und Notfallunterbringungen, die von Zwangsverheiratung bedrohten Frauen oder zwangsverheirateten Frauen helfen würden. Außerdem fordern wir verfahrensrechtliche Veränderungen zur Gewährleistung der Sicherheit und Anonymität der Opfer in den Gerichtsverfahren. Das sagen sehr viele Menschen, die in den Opferberatungsstellen oder Anwaltsvereinen arbeiten und seit Jahren mit dem betroffenen Personenkreis zu tun haben. Wir fordern ein wirksames Rückkehrrecht für zwangsverheiratete oder verschleppte Personen. Diese Menschen müssen vor allen Dingen ein uneingeschränktes Recht auf Wiederkehr haben, das ihnen unabhängig vom Nachweis eigenen Erwerbseinkommens zustehen muss. (Beifall bei der LINKEN) Wir fordern auch, dass in Fällen einer Verschleppung der Aufenthaltstitel grundsätzlich nicht erlischt. Ferner fordern wir die Bundesregierung auf, auf die geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit zu verzichten. Statt einer Verlängerung ist es endlich an der Zeit, in einer großen Industrienation wie Deutschland ein dem 21. Jahrhundert gemäßes eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehegatten zu schaffen. Ich komme zum letzten Punkt. Gestern war ich zu einer Podiumsveranstaltung zum Thema Asylbewerberleistungsgesetz bei der Katholischen Akademie eingeladen. Die Bundesregierung hat ja selbst zugegeben, dass das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV vom Februar letzten Jahres eigentlich verfassungswidrig ist und den Anforderungen des Gerichts nicht entspricht. Dort wurde auch das Problem der Residenzpflicht angesprochen. Deshalb halte ich das, was Sie vorgelegt haben, für etwas Halbherziges, für ein Teilstück. Ich fordere Sie auf, endlich auch allen Menschen mit Migrationshintergrund die Bewegungsfreiheit in Deutschland zu ermöglichen. Die Mobilität ist nicht nur für die Erbringung von Dienstleistungen und den Warenverkehr zu gewährleisten, sondern auch die Menschen müssen ein Recht haben, sich in Deutschland frei bewegen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Memet Kilic hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwangsverheiratungen sind schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Sie verletzen die Würde der Betroffenen, ihre persönliche Freiheit und selbstbestimmte Lebensführung sowie den Grundsatz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie sind in Deutschland zu Recht unter Strafe gestellt und geächtet. Es ist schäbig, was die Bundesregierung uns heute zur Bekämpfung von Zwangsheirat vorlegt. Sie ist offenbar nicht gewillt, für adäquaten Schutz für die Betroffenen zu sorgen. Als Alternative haben wir ein eigenes Konzept vorgelegt, damit Betroffene den Schutz und die Unterstützung erhalten, die sie wirklich brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schwarz-Gelb betreibt mit dem Gesetzentwurf puren Etikettenschwindel: Im Jahr 2005 hat Rot-Grün die Zwangsverheiratung ausdrücklich als einen besonders schweren Fall der Nötigung im Strafgesetzbuch verankert. Nun will die Koalition den Opferschutz angeblich dadurch erhöhen, dass Zwangsverheiratung in einem eigenständigen Paragrafen unter Strafe gestellt wird. Diese Umbenennung ist reine Symbolpolitik und wird wohl kaum einen Täter mehr abschrecken, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kilic, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolff zu? Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Kollege Kilic, Sie sagten gerade, es sei Etikettenschwindel, weil die Strafbarkeit, da das ein besonders schwerer Fall der Nötigung ist, vorher schon gegeben sei. Stimmen Sie mir zu, dass auch eine Handlung wie das Zuparken eines anderen Fahrzeugs als Nötigung strafbar ist, und ist das wirklich aus Ihrer Sicht mit einer Zwangsverheiratung vergleichbar? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein besonders schwerer Fall!) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Wolff, ich schätze Sie sehr; aber ich kann diese Frage nur als unqualifiziert zurückweisen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Zwischen einer Zwangsehe und dem Zuparken eines Autos besteht ein Unterschied. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Beides ist Nötigung!) Deshalb haben wir die Zwangsheirat als einen besonders schweren Fall von Nötigung verankert und ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Damit haben wir deutlich gemacht, dass es kein Kavaliersdelikt ist. Sie ändern an diesem Strafmaß von fünf Jahren gar nichts, sondern schaffen nur ein neues Etikett. Das nenne ich deshalb Etikettenschwindel. - Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die zweite Neuregelung betrifft die Verlängerung des Rechts auf Wiederkehr für Personen, die gegen ihren Willen in das Ausland verschleppt und verheiratet wurden. Die Bundesregierung macht die vorgesehene Rückkehrmöglichkeit aber von einer positiven Integrationsprognose abhängig. Will die Bundesregierung den Menschenrechtsschutz tatsächlich vom Portemonnaie oder Bildungsniveau der Betroffenen abhängig machen? Da sieht man, wie ernst es der Koalition mit diesem Thema wirklich ist. Das ist schäbig. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Es ist geradezu erbärmlich, dass Schwarz-Gelb die Mindestbestandszeit einer Ehe für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht ausländischer Ehegatten von zwei auf drei Jahre verlängern will. Schauen wir einmal in den Gesetzentwurf. Dort heißt es im Hinblick auf diese Regelung, sie sei erforderlich, da Wahrnehmungen aus der ausländerbehördlichen Praxis auf eine Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle hindeuteten. Was soll diese schwachsinnige Begründung? Es gibt überhaupt keine gesicherten Daten, die für die Notwendigkeit und Effektivität dieser drastischen Maßnahme sprechen. Die Bundesregierung setzt haltlose Verdächtigungen in die Welt und glaubt hinterher auch noch selber daran. Das hat bei ihr System; das ist schäbig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung wurde wegen dieser Neuregelung nicht nur von Terre des Femmes, von der Caritas, vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften sowie vom Deutschen Anwaltsverein heftig kritisiert, sondern auch vom Bundesrat düpiert: Sogar der Bundesrat bezweifelt in seinem Beschluss vom 17. Dezember 2010, "ob die Anhebung der Mindestbestandszeit einer Ehe ... mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs in Einklang steht, zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat beizutragen". Der Beschluss des Bundesrates für eine Bleiberechtsregelung bei gut integrierten Jugendlichen ist für viele bislang nur Geduldete ein Schritt in die richtige Richtung. Die Regelung bezieht sich aber nur auf Jugendliche, die "erfolgreich ... eine Schule besucht" haben. Was machen wir mit den Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Erfolg in der Schule gehabt haben? Werden wir diese Kinder für das Schicksal ihrer Eltern verantwortlich machen? Die Regelung ist nur ein halber Schritt; das muss korrigiert werden. Eine stichtagsunabhängige Regelung ist das einzig richtige Instrument, um humanitären Härtefällen vorzubeugen. Wir fordern die Koalition auf, bei der Umsetzung des Bundesratsbeschlusses weitere humanitäre Härten zu vermeiden, etwa im Hinblick auf alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben. Im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben ist eine grundsätzliche Überprüfung der nur in Deutschland praktizierten Residenzpflicht dringend geboten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skandalös; er ist ein Armutszeugnis für die Regierung. Wir erwarten, dass die Bundesregierung die allseitige Kritik ernst nimmt und die sinnvollen Vorschläge unseres Antrags übernimmt. Vielen herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist das gute Recht der Opposition, zu kritisieren, was die Regierung und die sie tragenden Fraktionen vorschlagen. Herr Kollege Veit und Herr Kollege Kilic, auf eines will ich aber schon hinweisen: Sowohl beim Thema der Residenzpflicht für Asylbewerber als auch beim Thema des Rückkehrrechts für Zwangsverheiratete und Zwangsverschleppte haben Sie zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts zustande gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir handeln jetzt. Diesen Unterschied wird man doch betonen dürfen. Herr Kollege Veit, zur Frage des Rückkehrrechts. Wir haben jetzt eine Regelung vorgesehen, mit der wir auf das entscheidende Problem der Zwangsverschleppten eingehen: Wir lassen hier die Pflicht zur Lebensunterhaltssicherung fallen. Um das klar auf den Punkt zu bringen - Sie sind langjähriger Experte -: Das heißt, wir nehmen aus humanitären Gründen in diesem Fall sogar die Gefahr einer Rückwanderung in die Sozialsysteme hin. Es kann sein, dass die Frauen, die zurückkehren, in die Sozialsysteme wandern. Das ist etwas, das wir grundsätzlich nicht wollen. Es muss doch einsichtig sein, dass wir sagen: Wenn wir schon dieses Risiko eingehen, dann muss es eine differenzierte Lösung geben. Natürlich haben wir eine besondere soziale Verantwortung gegenüber denjenigen, die schon sehr lange in Deutschland gewesen sind. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand schon sechs oder acht Jahre in Deutschland gelebt hat, ob er hier zur Schule gegangen ist oder ob er nur wenige Monate hier war und dann zwangsverschleppt worden ist, also keinen näheren Bezug zum Land hat. Insofern geht es bei der Integrationsprognose darum, dass wir auch sichergehen können, dass es tatsächlich eine Verwurzelung hier in Deutschland gibt und dass diese Frauen daher ein Anrecht darauf haben - und der Staat korrespondierend eine soziale Verantwortung hat -, dass ihnen eine Perspektive für ein Leben in Deutschland gegeben wird. Dass hier differenziert werden muss und dass das für diejenigen gilt, die besonders lange in Deutschland gewesen sind, das kann eigentlich nicht streitig sein. Das ist eine richtige und von uns klar so angestrebte Regelung in der Differenzierung der verschiedenen Fälle von Frauen, mit denen wir es hier zu tun haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es ist auch nicht in Ordnung, dass Sie hier die Vorschriften über die Integrationskurse schlechtreden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Grindel, der Kollege Veit würde Ihnen gern eine Frage stellen. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte. Rüdiger Veit (SPD): Herr Kollege Grindel, wir sind ja offenbar in der Bewertung unterschiedlicher Auffassung. Ich würde diesen Unterschied nicht machen bei Opfern von Zwangsheirat, die entweder zum Zwecke der Eingehung der Ehe oder aber aus dem Grund, um eine Zwangsheirat aufrechtzuerhalten, ins Ausland verschleppt worden sind und die vorher rechtmäßig in Deutschland gelebt haben. Warum soll ich da noch einmal differenzieren und sagen: "Ich verlange von den Betroffenen auch noch eine besonders gute Integrationsprognose, damit ihnen die Wohltat zuteilwerden kann, eventuell in das Sozialsystem einzuwandern"? Diese Differenzierung innerhalb der Gruppe von zwangsverheirateten Opfern kann ich nicht nachvollziehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Veit, das ist nun bemerkenswert, dass Rot-Grün hier klatscht. So war nämlich die Rechtslage. Unter Rot-Grün war die Rechtslage, dass nur die zwangsverschleppte, zwangsverheiratete Frau zurückkehren darf, die in der Lage ist, ihren Unterhalt selber zu bestreiten. Daran sind 95 Prozent aller Fälle gescheitert. Das ist die Rechtsgrundlage zu Ihrer Zeit gewesen. Wir, die christlich-liberale Koalition, obwohl wir eigentlich den Grundsatz verfolgen, eine Zuwanderung in Sozialsysteme nicht zulassen zu wollen, sagen: Aus humanitären Gründen lassen wir es zu. Aber wir differenzieren dann auch. Wenn ich nach acht oder nach zehn Jahren noch eine solche Rückkehr nach Deutschland zulasse, dann muss eine positive Integrationsprognose vorliegen, es muss ein Anknüpfungspunkt gegeben sein, sodass ich sagen kann: Der Betreffende, auch wenn er schon so lange aus Deutschland weg war, wird in der Lage sein, sich wieder in Deutschland zu integrieren und irgendwann auch ohne soziale Transferleistungen zu leben. Deswegen knüpfen wir daran an, dass zum Beispiel der Schulbesuch erfolgreich war. Das ist integrationspolitisch, sozialpolitisch und auch hinsichtlich der Akzeptanz bei der deutschen Bevölkerung für das, was wir hier tun, von zentraler Bedeutung. Ich halte es für richtig, dass wir hier differenzieren. Es macht einen Unterschied, ob sich jemand schon zehn Jahre in Deutschland aufgehalten hat oder nur ein paar Monate. Das muss einsichtig sein, lieber Herr Kollege Veit. (Beifall bei der CDU/CSU) Wie gesagt, wir verbessern die Qualität der Integrationskurse. Jetzt müssen die Ausländerbehörden nämlich nachhaltig prüfen, (Rüdiger Veit [SPD]: Das können die doch jetzt schon!) ob der Kurs tatsächlich besucht worden ist. Das fällt vielen Ausländerbehörden sonst erst bei der Beantragung der Niederlassungserlaubnis auf. Wir wollen, dass sie nach einem Jahr, also dann, wenn die Zuwanderer gerade erst in Deutschland sind, wenn sie noch besonders integrationsbereit sind, schnell nachprüfen, ob der Verpflichtung, den Kurs zu besuchen, auch tatsächlich nachgekommen worden ist. Der Datenaustausch zwischen den Kursträgern, den Ausländerbehörden und dem BAMF wird dazu führen, dass Kurse zum Beispiel schneller anfangen können. Das ist eindeutig eine qualitative Verbesserung. (Rüdiger Veit [SPD]: Das geht heute schon!) - Nein, das gibt es heute noch nicht. (Rüdiger Veit [SPD]: Das geht heute schon! Ob es das gibt, ist eine andere Frage!) Jetzt zum Thema Dunkelziffer. Sie müssten sich einmal, Herr Kilic, mit denjenigen in den Visastellen in Ankara, in Istanbul auseinandersetzen, (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich tue das!) die täglich dieses Geschäft machen. Die werden Ihnen sagen: Bei 30 Prozent der Fälle müssen Sie davon ausgehen, dass es eine Scheinehe ist. Das Problem ist nur: Sie können es denen nicht nachweisen, weil die Ausländerbehörden - das sind insbesondere die in Nordrhein-Westfalen; da kann ich sogar die Städte benennen, mit denen es die größten Probleme der Zusammenarbeit gibt - aus Gründen der begrenzten personellen Kapazitäten zunehmend nicht bereit sind, gleichzeitige Befragungen des einen Ehegatten in der Visastelle und des anderen Ehegatten in Deutschland durchzuführen. Zu den Zahlen, die Frau Daðdelen hier genannt hat. Es ist ja geradezu absurd, zu sagen: Das Problem ist kleiner geworden, weil die Zahl der Tatverdächtigen kleiner ist. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Die Bundesregierung sagt das!) Im Jahr 2000 galt eine Ehebestandszeit von vier Jahren. Damals hatten die Ausländerbehörden vier Jahre Zeit, um das Vorliegen einer Scheinehe aufzudecken. Dass man in vier Jahren mehr Fälle aufdeckt, als wenn man dazu nur zwei Jahre Zeit hat, ist doch wohl einsichtig. Ihre Argumentation ist völlig absurd. Ihrer Logik zufolge gäbe es, wenn die Ausländerbehörden überhaupt nicht mehr prüfen würden, null Verdachtsfälle. Dann gäbe es das Problem gar nicht mehr. Das ist Ihre Logik, liebe Kollegin Daðdelen. Das ist völlig absurd. Das Gegenteil ist richtig: Mit der Verlängerung der Ehebestandszeit erreichen wir, dass die Ausländerbehörden eine größere Chance haben, illegale Zuwanderung, auf die die Migranten kein Recht haben, aufzudecken. Diese Möglichkeit wollen wir unseren Behörden eröffnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Grindel, auch der Kollege Kilic möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen? Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu, dass es einen Europaratsbeschluss von 1996 gibt, welcher zur Bekämpfung von Scheinehen vorschreibt, dass Eheleute oder Verlobte zeitgleich angehört werden - einer im Ausland und der andere hier, bei der Ausländerbehörde -, weil man bei fast allen Ehen unterstellt, dass es sich um eine Scheinehe handelt und die Prüfungen in dieser Gefühlslage stattfinden? Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von der Gefühlslage der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Botschaften ausgehen? Welche Daten liegen Ihnen vor? Das ist die Frage. Rechtsstaatliches Handeln muss bei so wichtigen Themen, bei denen es um das Glück der Menschen, um das Leben der Menschen und Familienzusammenführung geht, auf gesicherten Daten basieren und darf nicht nur auf Verdächtigungen und Vermutungen beruhen. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Herr Kilic, ich finde, ich habe das klar gesagt. Ich habe gesagt, dass die Mitarbeiter der Visastellen in vielen Fällen Ausländerbehörden gebeten haben, zum Beispiel die Ausländerbehörden in Duisburg, Gelsenkirchen, Köln und Bochum, eine solche zeitgleiche Einvernahme durchzuführen. Die Ausländerbehörden sehen sich aus personellen Gründen dazu nicht in der Lage. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das findet immer statt!) Diese getrennte Einvernahme findet nicht statt. Das ist das Problem. Das habe ich hier angesprochen. Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Der Kollege Veit und ich waren bereits vor mehreren Jahren auf einer Tagung des Bundesinnenministeriums im Bundesverwaltungsamt. Damals hat - Herr Kollege Veit, es wäre nett, wenn Sie das durch Kopfnicken bestätigen würden - die damalige Leiterin der Ausländerbehörde in München geschildert - ich weiß nicht, ob sie heute noch im Amt ist; das Phänomen wird einem auch von anderen Ausländerbehörden bestätigt -, dass es eine Vielzahl von Fällen gibt, in denen Ehefrauen oder Ehemänner - in aller Regel sind es Ehefrauen - nach zwei Jahren und wenigen Monaten die Scheidung beantragen und ihren Ehemann, mit dem sie in erster Ehe in der Türkei verheiratet waren, wieder heiraten und diesen dann, weil sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, nach Deutschland nachholen. Die Kinder, die in der Zwischenzeit geboren worden sind, werden vom ersten Ehemann als eigene Kinder anerkannt. Wenn ich sage, dass man in diesem Zusammenhang von einer Dunkelziffer und dem Verdacht reden darf, dass es sich dabei um Scheinehen handelt, obwohl es mir nicht möglich ist, das vollkommen nachzuweisen, dann halte ich das für eine zulässige politische Bewertung, Kollege Kilic. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei solchen Fällen wird das Aufenthaltsrecht aberkannt! Eine strafrechtliche Verfolgung gibt es auch in solchen Fällen! - Rüdiger Veit [SPD]: Das ist nach drei Jahren aber auch nicht anders! Das halten sie dann auch noch aus!) - Das ist wohl wahr. Das ist ein wunderbarer Zwischenruf. Deswegen waren wir für eine vierjährige Ehebestandszeit und damit für die Wiedereinführung der alten gesetzlichen Regelung. Sie haben dazu die Ausführungen des Kollegen Wolff gehört. Wir haben uns in der Koalition schiedlich-friedlich auf eine dreijährige Ehebestandszeit verständigt. Frau Daðdelen, ich will noch einen Punkt erwähnen, der, wie die Kollegin Jelpke immer so gerne sagt, zynisch war. Sie haben hier gesagt, dass all das, was wir beim Thema Zwangsehe vorhaben, nicht in Ordnung ist. Es sei zum Beispiel falsch, bei einem Ehegattennachzug Deutschkenntnisse zu fordern. Sie sagten, dass man niederschwellige Beratungsangebote und Notfallmaßnahmen braucht. Das wäre die Lösung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie bitte soll eine von Zwangsehe betroffene Frau niederschwellige Beratungsangebote annehmen? Wie soll sie denn Hilfe holen und Notfallmaßnahmen annehmen, wenn sie noch nicht einmal über einfache deutsche Sprachkenntnisse verfügt? Das ist doch das Problem, mit dem wir es in der Vergangenheit immer wieder zu tun hatten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt denn, dass wir nur auf Deutsch beraten dürfen?) Diese Beratungsangebote laufen doch völlig ins Leere, wenn nicht zumindest einfache Sprachkenntnisse vermittelt worden sind. Insofern geht die Bemerkung, die Sie hier gemacht haben, völlig ins Leere und hilft den Frauen überhaupt nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin. Ich begrüße sehr, dass Sie, Herr Staatssekretär Schröder, erwähnt haben, dass wir uns um ein gesetzliches Bleiberecht für integrierte Kinder und Jugendliche bemühen wollen. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind dafür. Wir haben keine Talente zu verschenken. Wir brauchen jeden, gerade denjenigen, der seine Integrationsbereitschaft dadurch bewiesen hat, dass er schulischen Erfolg hat, dass er eine Berufsausbildung macht - (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Schreiben Sie das doch ins Anerkennungsgesetz!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Reinhard Grindel (CDU/CSU): - und dass er sich um eine gute berufliche Perspektive bemüht. Es ist auch ein Anreiz für die Eltern - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss -, dafür zu sorgen, dass die Kinder in die Schule gehen und eine Ausbildung machen. Insofern sage ich für unsere Fraktion, Kollege Schröder: Wir sind dabei. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist für ein gesetzliches Bleiberecht - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Reinhard Grindel (CDU/CSU): - ohne jede Stichtagsregelung für gut integrierte Jugendliche. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Rüdiger Veit [SPD]: Jetzt nicke ich gerne! - Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Und was ist mit den Talenten, die nicht anerkannt werden? Ein Anerkennungsgesetz müsste geschaffen werden!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Aydan Özoðuz hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Aydan Özoðuz (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wünsche mir erst einmal ein bisschen mehr Ruhe und eine Versachlichung der Diskussion. Es geht immerhin um ein ernstes Thema. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was soll das denn heißen? Sie machen hier Krawall und stören, und dann reden Sie von sachlicher Atmosphäre?) - Nein. Sie sind derjenige, der Krawall macht und das komischerweise noch nicht einmal merkt; das ist das Eigenartige. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vielleicht direkt am Anfang zwei Worte zu Ihnen. Die Ansichten von Visastellen zur Basis der Integrations- und Zuwanderungsarbeit in unserem Land zu machen, halte ich für abenteuerlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gleichzeitig möchte ich sagen, dass man schlechte Erfahrungen, die es auch gibt, die aber nicht der Mehrheit anzurechnen sind, nicht zur Grundlage der parlamentarischen Arbeit machen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: "Mehrheit" habe ich ja auch nicht gesagt!) - Warum haben Sie das dann so breit ausgeführt? (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weil das viele Fälle sind!) Ich möchte es einmal andersherum versuchen. Wir sind jahrzehntelange Blockadepolitik von Ihnen gewohnt. Jetzt sehen wir, dass Sie durchaus kleine Schritte machen. Das ist wichtig und gut. Es gibt zwar auch andere Entwicklungen, auf die ich noch eingehen werde. Aber erst einmal möchte ich festhalten, dass es auch eine gute Nachricht gibt: Sie haben endlich eingesehen, dass es ein eigenständiges Rückkehrrecht für Opfer einer Zwangsheirat geben muss. Wir als SPD-Fraktion haben jahrelang darauf hingewiesen. Unser Gesetzentwurf zielt in diese Richtung. Möglicherweise bewegt sich bei Ihnen an dieser Stelle etwas. Das wird man bei den Beratungen im Ausschuss sehen. Ich möchte auch daran erinnern, dass Zwangsverheiratungen auf Bestreben der SPD-Fraktion seit 2005 - eben kam zum Ausdruck, dass das strittig ist - als besonders schwerer Fall der Nötigung - es geht also nicht nur ums Zuparken, Herr Wolff - (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ob Anklage wegen Nötigung oder Anklage wegen Zwangsheirat ist schon ein Unterschied!) in § 240 Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Jetzt wollen Sie dafür in § 237 Strafgesetzbuch einen eigenen Straftatbestand einführen. Sie wundern sich, dass dies den Eindruck erweckt, als würden Sie ein Stück weit Symbolpolitik machen. Das Eigenartige ist doch: Das Strafmaß ändert sich nicht. Es ändert sich eigentlich nichts, außer dass diese Regelung nicht mehr in § 240, sondern in § 237 Strafgesetzbuch steht, an einer eigens dafür geschaffenen Stelle. Dass Leute, die sich Gedanken über eine Zwangsheirat machen, dadurch sofort massenweise davon abgehalten werden, kann man, wie ich glaube, durchaus bezweifeln. Es stellt sich also die Frage, worauf Sie eigentlich abzielen, wenn Sie dafür einen eigenen Paragrafen schaffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Praxis zeigt, dass der Opferschutz bei einer Zwangsheirat nach der bisherigen Rechtslage noch nicht vollständig gewährleistet ist. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf versucht, diese Lücke zu schließen, gerade im Hinblick auf ungelöste Konstellationen. Dies gilt zum Beispiel für den etwas komplizierten Fall, dass eine Person aus Deutschland ohne deutschen Pass im Ausland zur Eingehung einer Ehe oder zur Fortsetzung einer bereits bestehenden Ehe genötigt wird. In diesem Fall müsste man sich nach Ihren Vorstellungen mit einem Katalog von Kriterien befassen. Da mein Kollege Rüdiger Veit schon auf die Nachteile Ihres Gesetzentwurfes hingewiesen hat, nutze ich meine Redezeit, um auf einige andere Aspekte einzugehen. Ich glaube nämlich, dass unser Gesetzentwurf sehr viel umfassender und besser ist. Wir begrüßen - das sage ich Ihnen gerne -, dass Sie über den Umweg des Bundesrates und den Beschluss der Innenministerkonferenz im Aufenthaltsgesetz einen eigenen Aufenthaltstitel für gut integrierte Jugendliche einführen wollen. Herr Grindel, das war nicht immer so; auch das muss man einmal deutlich sagen. Bisher hat Sie zum Beispiel nicht sonderlich interessiert, ob die Jugendlichen gut integriert sind. Wir hatten ja gerade in Hamburg einen sehr pressewirksamen Fall. In der Regel ist es jedoch so, dass diese Fälle nicht in der Presse stehen und keine Aufmerksamkeit erfahren. Es ist absurd, dass junge Menschen, die bei uns groß werden, fast ihr ganzes Leben bei uns verbringen, sehr häufig deutsch sprechen und unser ganzes System kennen, plötzlich abgeschoben werden. Diese absurde Situation bestand jahrelang. Da waren Sie nicht gerade die Vorreiter dafür, das zu ändern. Ich sage deshalb hier ganz bewusst: Es ist gut, dass sich offensichtlich auch bei Ihnen ein Stück weit etwas ändert. Wir werden sehen, ob das auch tatsächlich so geschehen wird. (Rüdiger Veit [SPD]: Wir freuen uns über die reuigen Sünder! - Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da schließen Sie den SPD-Innenminister mit ein! - Gegenruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]: Stimmt!) Schade finde ich - hier komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt, der hier schon genannt worden ist, den ich aber ganz ausdrücklich noch einmal nennen möchte -, dass Sie die Themenkomplexe Schutz vor Zwangsheirat und Scheinehe verknüpfen. Diese Konstellation richtet sich wieder ein Stück weit gegen die angeheirateten Ehepartner, insbesondere dadurch, dass Sie die Ehebestandszeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von zwei auf drei Jahre hochsetzen. Ich finde, man muss auch deutlich sagen, dass Sie damit sowohl symbolisch als auch ganz praktisch einen Generalverdacht gegen alle aus dem Ausland angeheirateten Ehepartner richten. Es ist überhaupt nicht in Ordnung, dass Sie ein solches Signal aussenden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Es heißt in Ihrem Gesetzentwurf dazu reichlich schwammig, dass die Wahrnehmung aus der ausländerbehördlichen Praxis darauf hindeuten würde, dass eine Mindestbestandszeit von drei Jahren den Anreiz zur Eingehung einer Scheinehe vermindern würde. Belastbare Zahlen dazu können Sie uns nicht nennen. Das haben wir jetzt mehrfach mitbekommen. Das BMI hat das auf Anfrage der Frankfurter Rundschau auch noch einmal bestätigt. Und Innenminister de Maizière sagte in einer Befragung genau an dieser Stelle am 27. Oktober 2010 - ich zitiere -: Insofern finde ich drei Jahre besser als zwei, und drei Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei und vier Jahren. Das nächste Mal können wir dann auch würfeln. Ich finde, absurder geht es überhaupt nicht mehr. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Zweck des Paragrafen, Zwangsehen zu verhindern - Sie vertreten das ja auch sehr deutlich, und das wird auch von all den Organisationen unterstützt -, muss man sagen: Sie sagen zwar, Sie wollten den Opfern helfen, Sie wollten denen helfen, die in einer Zwangsehe leben, sagen ihnen aber gleichzeitig: Ihr müsst in dieser Ehe jetzt nicht zwei, sondern drei Jahre verharren. (Der Abgeordnete Reinhard Grindel [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage.) - Warten Sie noch einen Augenblick mit Ihrer Frage, denn ich komme ganz sicher jetzt auf das, was Sie gerade fragen wollen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aber wollen Sie die Frage trotzdem zulassen? Aydan Özoðuz (SPD): Nein, ich würde das gern erst ausführen. Er kann dann ja immer noch fragen. Es gibt die Ausnahmen, auf die Sie gerade in Ihrer Frage sicherlich hinweisen wollten. Dazu sagen die Frauenorganisationen und alle anderen Organisationen ganz deutlich, dass die Frauen davon häufig nicht profitieren können, weil ihnen nicht geglaubt wird, weil sie die Nachweise, die verlangt werden, wie Fotos oder irgendwelche Zeugen, nicht beibringen können. Dies wird nicht von uns, sondern von denen, die mit diesen Frauen sprechen, gesagt. Deswegen greifen diese Möglichkeiten häufig gar nicht. Man muss also feststellen, dass Sie mit dieser Erhöhung der Mindestbestandszeit der Ehe genau denen dieses eine zusätzliche Jahr aufbürden, die sich in einer ganz furchtbaren Lage befinden. Es bringt also eigentlich überhaupt nichts. Leider muss ich gleich schon zum Ende kommen. Deshalb möchte ich hier gern nur noch einen letzten Satz zu den Integrationskursen sagen. Der Begriff Integrationsverweigerer, der eben auch noch einmal vom Parlamentarischen Staatssekretär genannt wurde, ist bei der Wahl zum Unwort des Jahres auf dem zweiten Platz gelandet. Das finde ich übrigens sehr angemessen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Juroren sagten, das Wort unterstelle, dass Migranten in größerem Umfang selbst ihre Integration verweigerten, dass für diese Behauptung aber die notwendige Datenbasis fehle; dass die Bundesregierung selbst zu wenig für die Integration tue, werde dabei ausgeblendet. - Sehr richtig, kann ich da nur sagen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Kein Mut für eine Zwischenfrage!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Serkan Tören hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Serkan Tören (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung wird unter anderem in dem Antrag der Grünen als - ich zitiere - "ein weiterer Fall schwarz-gelber Symbolpolitik" bezeichnet. Vorsichtig gesprochen ist das angesichts der darin enthaltenen Vorschläge kühn und selbstgefällig. Wir machen hier unmissverständlich klar: Menschen zu einer Heirat zu zwingen oder gegen ihren Willen ins Ausland zu verfrachten, ist weder mit unseren Werten noch mit unserem Recht vereinbar. Das ist schlichtweg kriminell. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir belassen es auch nicht bei Mahnungen und Gesten. Damit haben Sie sich während Ihrer Regierungsverantwortung begnügt, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist längst strafbar!) So etwas nennt man Symbolpolitik. (Rüdiger Veit [SPD]: Wir haben es ins Strafgesetzbuch hineingeschrieben!) Wir betreiben eine Politik der Tat und stärken zudem den Opferschutz, indem wir den Betroffenen endlich ein eigenständiges Rückkehrrecht einräumen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]) Auch hier zeigt sich unser pragmatischer Ansatz; denn aktuell scheitert eine Rückkehr der Betroffenen nach Deutschland oft an der Anforderung der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung. Diese Hürde ist für viele Frauen und Männer unüberwindbar. Wir haben daher auf diese Anforderung verzichtet. Das ist keine Symbolpolitik, das ist ein echter Fortschritt für die Opfer. Natürlich wird die Zwangsheirat durch diese Regelungen nicht gänzlich verhindert werden können. Dieser Illusion geben wir uns auch nicht hin. Wir setzen damit aber ein Zeichen und eröffnen dem Rechtsstaat und den Betroffenen neue Möglichkeiten, gegen diesen gewaltsamen Akt vorzugehen. Es gab auch Kritik - das ist hier ja schon mehrmals angesprochen worden - an der Verlängerung der Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahren. Unser Ziel ist es, Scheinehen deutlich zu erschweren. Es ist nicht unser Ziel, eine Not- und Gewaltsituation in einer Ehe zu verlängern. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sind dann alle Frauenverbände dagegen?) Wir wissen um die schlimmen Fälle, in denen aus Angst vor einer Abschiebung untragbare Zustände in einer Ehe hingenommen werden. Genau dafür gibt es die Härtefallregelung, durch die es dem Ehepartner möglich ist, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vor Ablauf der drei Jahre zu erlangen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Eben!) Dieser Notausgang ist richtig und notwendig. (Beifall bei der FDP) Das bedeutet aber gleichzeitig auch: Die Möglichkeit muss effektiv und vernünftig genutzt werden. Frau Özoðuz, es stimmt eben nicht, dass es aufgrund der Beweisanforderungen immense Schwierigkeiten gibt, sondern man kann durch einen substantiierten Vortrag vor den Verwaltungsgerichten (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) durchaus nachweisen, dass die Härtefallregelung greift. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Diese Härte muss eine besondere Härte sein! Das zu beweisen ist unmöglich! Das ist nicht praxisnah!) Das sage ich insbesondere auch mit Blick auf die Arbeit der Ausländerbehörden und der Beratungsstellen. Meine Damen und Herren, ich freue mich auch über die Fortschritte beim Thema Residenzpflicht. Auch hier hat Rot-Grün in eigener Verantwortung nie etwas schaffen können. (Rüdiger Veit [SPD]: Wegen der Länderbeteiligung!) Die aktuelle Praxis hat sich aus liberaler Sicht nicht bewährt. Es wurden hier unnötige Strafverfahren eingeleitet, viele Ausländer kriminalisiert und die Verwaltungen unverhältnismäßig belastet. Auch aus volkswirtschaftlichen Gründen ist eine restriktive räumliche Beschränkung unklug. Wieso sollten Asylbewerber nicht eigenständig für ihren Lebensunterhalt aufkommen? Warum sollte der Steuerzahler hier belastet werden? Warum sollte man den Betroffenen ein Stück Würde, Auskommen und Ausbildung versagen? Warum sollte man ihnen diese Wege zur gesellschaftlichen Teilhabe versperren? Ich sehe hier keine Gründe dafür. Deswegen haben wir diese Änderungen vorgenommen, zu der Sie sieben Jahre lang während der Regierungsverantwortung von Rot-Grün nicht bereit waren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Rüdiger Veit [SPD]: Viel zu halbherzig!) Ich hätte mir sicherlich noch mehr vorstellen können, vielleicht auch eine gänzliche Abschaffung der Residenzpflicht. (Rüdiger Veit [SPD]: Genau!) Dennoch gehen wir mit dem Gesetzentwurf weit über den Koalitionsvertrag hinaus. Wir schaffen nämlich nicht nur eine hinreichende Mobilität hinsichtlich einer Arbeitsaufnahme, sondern wir stellen auch die Mobilität zum Zwecke eines Schulbesuchs oder einer Ausbildung sicher. Hier haben wir in dieser christlich-liberalen Koalition eine sehr vernünftige Lösung gefunden. Der vorliegende Gesetzentwurf steht für eine moderne Integrationspolitik jenseits ideologischer Scheuklappen. Darauf bauen wir auf. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Monika Lazar hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Memet Kilic hat sich ja schon ausführlich mit der Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung auseinandergesetzt. Selbstverständlich sind wir uns in diesem Hause einig, dass Zwangsverheiratungen bekämpft werden müssen, weil sie in eklatantem Widerspruch zu den Werten sowohl unseres Grundgesetzes als auch der Menschenrechte stehen. Bündnis 90/Die Grünen waren es, die 2003 als erste Fraktion überhaupt mit einer Anhörung auf diese Problematik aufmerksam gemacht haben. Rot-Grün hat dann 2005 die Zwangsverheiratung ausdrücklich als besonders schweren Fall der Nötigung im Strafrecht verankert. Man kann das nicht oft genug sagen. Von daher ist es nicht viel, was hier an Neuerungen vorgelegt wird. Eigenständige Aufenthaltsrechte und Rückkehrrechte sind effektive Maßnahmen, um Migrantinnen wirksam zu helfen, die von Zwangsverheiratungen betroffen sind. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das hätte Rot-Grün ja auch machen können!) Das geht auch aus den verschiedenen Stellungnahmen der Verbände hervor. Sie teilen auch unsere Ansicht, dass der schwarz-gelbe Gesetzentwurf inhaltlich viel zu dünn ist. Wir Grünen schlagen in unserem Antrag nicht weniger als neun Gesetzesänderungen vor. Denn Migrantinnen brauchen rechtlich einwandfreie und unbürokratische Möglichkeiten, um im Fall einer Zwangsver-heiratung aus einem Drittstaat wieder einzureisen und in Deutschland ein sicheres Aufenthaltsrecht zu bekommen. Diesen zweiten Teil haben die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP leider vergessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In unserem Antrag "Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative" schlagen wir wesentlich mehr vor, als der Gesetzentwurf vorsieht. Wir legen einen vollständigen Aktionsplan vor, der mit den Betroffenenverbänden intensiv diskutiert wurde und von ihnen ausdrücklich gewünscht wird. Unter anderem wollen wir eine dauerhafte Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Zwangsverheiratungen" initiieren. Denn Frauen, die sich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen, muss schnell, kompetent und effektiv geholfen werden. Wir brauchen endlich verbindliche Absprachen zwischen Bund, Ländern und NGOs, klare Zuständigkeitsregelungen und Hilfsangebote. Gut gemeint ist nicht gut gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung. Ich rate Ihnen dringend, Ihren ersten Entwurf zu überarbeiten. Anregungen können Sie gerne unserem Antrag entnehmen. Wir sind gespannt auf die Beratungen. So weit erst einmal vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ute Granold hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ute Granold (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte aus der Sicht der Rechts- und Menschenrechtspolitik einiges zu dem heutigen Thema sagen. Es geht mir um einen ganzheitlichen Ansatz, und dabei möchte ich mich hier im Wesentlichen auf den Straftatbestand der Zwangsheirat und die zivilrechtlichen Folgen der Aufhebung einer Ehe beschränken. Es ist richtig, dass die Zwangsheirat heute unter Strafe steht. Nach § 240 Abs. 4 Strafgesetzbuch ist sie ein besonders schwerer Fall der Nötigung. Ein besonders schwerer Fall der Nötigung liegt auch dann vor, wenn ein Amtsträger seine Befugnisse überschreitet. Ich glaube nicht, dass das mit der Zwangsheirat, einer schweren Menschenrechtsverletzung, vergleichbar ist. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr richtig! - Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Strafmaß ändert sich! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sollen die Vergleiche? Es geht um das Strafmaß!) Deshalb halte ich es für ein richtiges Signal an diejenigen, die an Zwangsverheiratung denken, dass dies in unserer Rechtsordnung und unserem Staat nicht geduldet wird. Insofern ist es richtig, dass wir einen eigenständigen Straftatbestand mit der Überschrift "Zwangsheirat" vorsehen. Ich meine, das ist ein richtiger und guter Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das Strafmaß wenigstens erhöht würde! Das ist Kosmetik pur! - Aydan Özoðuz [SPD]: Eine Überschrift allein genügt nicht!) Das ist aber nur ein Punkt. Denn einem Opfer von Zwangsverheiratung ist alleine mit der Bestrafung des Täters in der Regel nicht geholfen. Es soll eine Abschreckung sein, diesen Weg zu gehen. Wenn es zu einer Zwangsheirat kommt, ist zu hoffen, dass das Opfer zumindest in geringem Maße die deutsche Sprache kennt und integriert ist. Denn nur dann ist es in der Lage, die Hilfsangebote, die es gibt - das Familienministerium hat eine Onlineberatung eingerichtet; es gibt Handreichungen für die Organisationen und Ämter, die damit befasst sind, und es wurde eine neue Studie in Auftrag gegeben, um das Phänomen näher zu beleuchten -, zu nutzen. Ich kenne aus meiner Tätigkeit als Anwältin - ich praktiziere seit 30 Jahren - selbst Opfer von Zwangsverheiratungen. Ich hatte aber jüngst auch den Fall einer Scheinehe, auf den ich kurz eingehen will. Es ging um eine junge Frau, die für 7 000 Euro einen Türken geheiratet hat. Sie hatten nur pro forma einen gemeinsamen Wohnsitz, den sie aber nie gemeinsam genutzt haben. Sie haben sich erst bei der Hochzeit auf dem Standesamt kennengelernt, und das war es schon. Ich habe dann die Scheidung begleitet. Dass es eine Scheinehe gegen Geld war, wurde mir erst später von der Frau gesagt. Sie sagte, mit zwei Wohnsitzen sei es schwierig gewesen, die Scheinehe schon über zwei Jahre aufrechtzuerhalten, weil von anderen - zum Beispiel Nachbarn - Fragen kommen, wo denn der Mann sei, und Ähnliches. Ich sehe die vorgesehene Verlängerung der Mindestehebestandszeit auf drei Jahre als eine richtige Lösung an, um die Eingehung der Scheinehe gegen Geld zur Erlangung eines Aufenthaltstitels zu erschweren. Das ist mitten in Deutschland Tatsache; es ist ein Fall aus meiner Praxis. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Ehen werden dann später relativ leicht geschieden. Nehmen wir die Zwangsheirat. Ich komme aus Mainz. Eine Frau, die in meine Kanzlei kam, sagte, sie habe es nach zwölf Jahren endlich geschafft, aus der Zwangsehe herauszukommen. Zuerst war sie in ihrer Wohnung isoliert gewesen. Der erste Schritt war, dass ihre Kinder in die Kita oder Schule gekommen sind und sie erstmals die Möglichkeit hatte, Kontakte nach außen zu knüpfen und ein bisschen die deutsche Sprache zu lernen. Diese Frau hat es dann - wohlgemerkt: nach zwölf Jahren - mithilfe des Frauenhauses bzw. der damaligen Interventionsstelle geschafft, aus dieser Ehe herauszukommen und für sich eine Lösung zu finden. Es ist für solche Frauen, die aus einem ganz anderen Kulturkreis kommen, sehr schwierig, sich gegen die eigene Familie und gegen die des Mannes zu stellen und ganz isoliert zu sein. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ändert jetzt das Gesetz?) Diese Frauen - ganz nebenbei, es sind auch Männer von Zwangsverheiratung betroffen - brauchen jedenfalls eine Chance. Erst nach einer langen Zeit der Prüfung sind sie bereit, diesen steinigen Weg aus der Ehe zu gehen. Dann muss eine Begleitung da sein. Dabei geht es unter anderem um folgende Fragen - ich spreche aus der Praxis -: Bin ich - da ich keinen Beruf ausüben kann - in der Lage, den Unterhalt sicherzustellen? Wie sieht es mit meinen Ansprüchen im Alter aus? Wir wollen uns daher in den folgenden Beratungen - auch im mitberatenden Rechtsausschuss - mit der Frage befassen, wie die Rechtslage aussieht, wenn die Ehe aufgelöst wird. Wir wollen die Antragsfrist zur Aufhebung der Ehe verlängern, damit die betroffenen Frauen nach Beendigung der Zwangslage, wenn sie zum Beispiel die eheliche Wohnung verlassen haben, prüfen können, ob sie den Weg der Aufhebung der Ehe oder den der Scheidung gehen wollen und welche Möglichkeiten bestehen, Unterstützung vom gewalttätigen Ehemann zu bekommen. Unser Zivilrecht muss begleitend die Möglichkeit eröffnen, Unterhaltsansprüche zu realisieren, und sicherstellen, dass das Erbrecht des anderen ausgeschlossen ist. Wenn es um Ehen geht, bei denen beide Partner aus dem Ausland kommen und alleine ausländisches Recht - zum Beispiel das türkische, das marokkanische oder das algerische - Anwendung findet, muss geprüft werden, welche Möglichkeiten die betroffenen Menschen haben, die in Deutschland leben, hier ihre Rechte durchsetzen, wenn das Heimatrecht keine rechtliche Grundlage dafür bietet, etwa Ansprüche betreffend den Unterhalt und den Versorgungsausgleich geltend zu machen. Wir müssen den Menschen, denen das Leid einer Zwangsehe widerfährt - das sind in der Regel Frauen -, eine Absicherung geben, wenn sie einen Weg aus der Zwangsverheiratung finden. Zur Härtefallregelung. Eine besondere Härte rechtfertigt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland auch bei einer Aufenthaltsdauer unterhalb der Grenze von drei Jahren. (Aydan Özoðuz [SPD]: Wenn man es nachweisen kann!) Ich empfehle, die Verwaltungsvorschriften zum Gesetz zu lesen. Dort steht - das hat der Kollege Tören eben ausgeführt -: Eine besondere Härte stellt zum Beispiel die Zwangsehe dar. Genau so ist es. Man muss substantiiert vortragen, wie die Umstände der Zwangsheirat aussahen. Wir können diesen Weg - ich hatte einen solchen Fall schon - ohne Weiteres gehen. Das eine oder andere können wir während der Beratungen noch vertiefen. Wir sollten ohne jede Polemik versuchen, den Menschen, die sich in einer Zwangsehe befinden - das ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung; das ist nichts anderes als Sklaverei -, zu helfen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Ute Granold (CDU/CSU): Ich bin gleich fertig. - Wir sollten nicht polemisch werden und nicht Schritte zurück gehen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Stephan Mayer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die christlich-liberale Koalition legt Ihnen heute einen guten, einen gelungenen Gesetzentwurf vor. Er stellt eine ausgewogene Mischung entsprechend dem Grundsatz "Fördern und fordern" im Bereich der Integration dar. Er umfasst wichtige Änderungen des Strafgesetzbuches, des Aufenthaltsgesetzes sowie des Asylverfahrensgesetzes. Ich möchte gleich zu Beginn auf die aktuelle wissenschaftliche Untersuchung des Bundesfamilienministeriums zum Thema Zwangsverheiratung in Deutschland hinweisen. Diese Studie belegt eindrucksvoll, dass und in welcher Form Zwangsverheiratung in Deutschland vorkommt. Ich muss ehrlich gestehen, meine werten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, da Sie die Dunkelziffer in Zweifel ziehen und behaupten, man könne nicht genau sagen, wie hoch die Zahl der Zwangsehen tatsächlich sei: Ich halte es für reichlich zynisch und sarkastisch, dass Sie die Lösung dieses Problems so unterminieren. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überhaupt nicht!) Ausgerechnet Sie, die Sie sich immer den Mantel der Humanität, der Empathie und des Gutmenschentums umlegen, gehen mit diesem Thema nicht mit der gebotenen Seriosität und Fairness um. Dass Zwangsverheiratung in Deutschland vorkommt und ein Problem darstellt, ist doch unbestreitbar. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bestreiten wir nicht! Unsinn!) Es gibt zahlreiche Fälle, die beweisen, welch schlimmes und katastrophales Unrecht insbesondere Frauen in Deutschland widerfährt und wie menschenunwürdig die Umstände sind. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir uns doch einig!) Nicht nur in Berlin, sondern auch in der bayerischen Idylle haben Zwangsverheiratungen teilweise zu Ehrenmorden und anderen Verbrechen geführt. Deswegen möchte ich Sie bitten, hier mit diesen gravierenden Problemen nicht so sarkastisch und lapidar umzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss diesem Thema mit Sicherheit in zweierlei Hinsicht begegnen. Wenn wir präventiv vorgehen wollen, ist es notwendig, dass die Integration gelingt. Denn eines ist klar: Das Phänomen der Zwangsverheiratung kommt vor allem in patriarchalischen Familienstrukturen vor. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es auch in Bayern!) Deswegen ist es das beste Mittel zur Prävention, um Zwangsheiraten zu verhindern, Frauenrechte zu stärken und den Frauen ein entsprechendes Selbstbewusstsein zu geben. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist es, dass Frauen über ordentliche und ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. (Aydan Özoðuz [SPD]: Es gibt auch selbstbewusste Frauen, die kein Deutsch können!) Nur eine Frau, die sich in Deutschland selbstbewusst behaupten kann, weil sie die deutsche Sprache spricht, ist gegen Zwangsverheiratung gefeit. Es ist schön, zu sehen, dass wir im Rahmen des Modellprojekts zur anonymen Onlineberatung in den vergangenen drei Jahren - von Juni 2007 bis Juni 2010 - sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten. Ein weiterer Fortschritt ist, dass ein eigenständiges Rückkehrrecht bis zu einer maximalen Dauer von zehn Jahren geschaffen wurde. Ich möchte betonen, dass wir als christlich-liberale Koalition unserer christlich-sozialen Verantwortung gerecht werden, indem wir nicht auf den Geldbeutel schauen und nicht darauf blicken, ob die betreffende Person in der Lage ist, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Dass wir das Angebot unterbreiten, nach Deutschland zurückzukommen und ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erwerben, auch wenn man sieben oder acht Jahre nicht hier gelebt hat, ist meines Erachtens ein großer Schritt in die Zukunft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein weiterer Fortschritt ist, dass wir den eigenen Straftatbestand der Zwangsheirat schaffen, und zwar den § 237 StGB. Ich muss auch sagen: Mich befremdet Ihre Reaktion nach dem Motto: Warum schafft ihr einen eigenen Straftatbestand? Zwangsverheiratung ist doch nach § 240 Abs. 4, dem Nötigungsparagrafen, bereits unter Strafe gestellt. - Ich möchte diesen Fall einmal mit den Straftatbeständen Totschlag und Mord vergleichen. Mord könnte man theoretisch auch als einen besonders schweren Fall des Totschlags deklarieren und in diesen Straftatbestand einbeziehen. Ich glaube, wir sind uns hier im Raum alle einig, dass es gut ist, dass dem besonderen Unwert, der in einem Mord zum Ausdruck kommt, durch einen eigenen Straftatbestand Rechnung getragen wird. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vergleich hinkt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, die Kollegin Monika Lazar und der Kollege Jerzy Montag möchten eine Zwischenfrage stellen. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr gerne. Selbstverständlich. Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir ziehen das zusammen, und dann antworten Sie auf beide Fragen. Frau Lazar, bitte schön. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Kollege, würden Sie bitte die Stellungnahme vom Caritasverband zur Kenntnis nehmen, wenn Sie schon die Stellungnahmen von Terre des Femmes oder vom Verein Frauenhauskoordinierung nicht so christlich-sozial bzw. christlich-demokratisch nah empfinden? Die Caritas schreibt in ihrer Bewertung des eigenständigen Straftatbestandes: Dieser hat vor allem symbolische Funktion. Er führt nicht zu einer unmittelbaren Besserstellung der Opfer. Die Erfahrung unserer Mitarbeiterinnen aus der Beratungstätigkeit zeigt, dass die Opfer ihre Familien zumeist nicht anzeigen. Der Caritasverband hält insbesondere praktische Maßnahmen für notwendig: eine möglichst flächendeckende und niedrigschwellige Erreichbarkeit professioneller Beratung und den Ausbau von Notfallunterbringungsmöglichkeiten etc. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns nicht immer irgendetwas zu unterstellen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch kein Widerspruch!) - Sie tun so, als ob das selbstverständlich wäre. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich sage doch nicht, dass es selbstverständlich ist!) Ich möchte, dass der Kollege das zur Kenntnis nimmt, weil der eigenständige Straftatbestand einfach nichts ändert. Bitte nehmen Sie die Stellungnahme der Caritas zur Kenntnis. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Montag. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Mayer, ich finde, Sie haben mit Ihrem mit Emphase vorgetragenen Beispiel von Mord und Totschlag einen richtigen Tiefpunkt juristischer Dogmatik erreicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich würde Sie gern fragen, ob es in Ihren Augen einen Unterschied darstellt, ob man darüber debattiert, zwei seit vielen Jahrzehnten getrennt voneinander vorhandene Straftatbestände wie Totschlag und Mord mit verschiedenen Strafrahmen in einem Paragrafen zusammenzufügen - niemandem in diesem Haus außer Ihnen ist dies bisher eingefallen -, oder ob man einen Straftatbestand auseinanderzieht und den Strafrahmen dabei völlig gleich lässt? Nachdem der Kollege von der FDP mit dem etwas abseitigen Beispiel des Zuparkens im Straßenverkehr argumentiert hat und nachdem die Kollegin Granold völlig zu Recht einen anderen besonders schweren Fall der Nötigung gemäß § 240 - das Verhalten eines Amtsträgers - als Vergleich herangezogen hat, möchte ich Sie gerne fragen, warum eigentlich die Tatsache, dass die Nötigung zu einem Schwangerschaftsabbruch ebenfalls in § 240 Abs. 4 und somit nicht als selbstständiger Straftatbestand geregelt ist, Ihre Fraktion nicht längst dazu bewogen hat, zu fordern, die Nötigung zu einem Schwangerschaftsabbruch zu einem neuen Straftatbestand zu machen. Das entspräche der Logik, mit der Sie uns hier anbieten, die Zwangsverheiratung aus § 240 herauszuholen, um sie dann zu einem eigenständigen Straftatbestand zu erklären. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt muss ich Frau Lazar bitten, sich wieder zu erheben, damit sie eine Antwort bekommen kann. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Von mir aus könnten Sie gerne sitzen bleiben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir legen schließlich Wert auf die Würde, gerade hier vorne. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ich möchte Sie nicht nötigen, stehen zu müssen. Vielen herzlichen Dank für die beiden Fragen. Liebe Frau Kollegin Lazar, ich nehme natürlich gerne die Stellungnahme der Caritas sowie auch die Stellungnahmen anderer Organisationen zur Kenntnis. Ich möchte nur ganz offen sagen, dass ich am Ende in der Abwägung zu einem anderen Ergebnis komme. Ich bin der Auffassung, dass die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes Zwangsheirat - § 237 - keine reine Symbolpolitik ist. (Aydan Özoðuz [SPD]: Natürlich!) Meines Erachtens wird mit der Schaffung eines eigenständigen Straftatbestandes auch der besondere Unwertgehalt dieser Tat zum Ausdruck gebracht. Ich habe deshalb den Vergleich zu Mord und Totschlag gezogen, weil ich klarmachen möchte, dass das Ergebnis leider Gottes das Gleiche ist: Es kommt ein Mensch ums Leben. Wir sind uns aber doch alle, inklusive meiner Person, vollkommen einig, dass es widersinnig wäre, den Straftatbestand des Mordes unter den Straftatbestand des Totschlags zu subsumieren. Ebenso bin ich der Meinung, dass dem Gesetzgeber zugestanden werden muss, zu sagen: Diese schrecklichen Straftaten, dieses schreckliche Unrecht, das insbesondere Frauen im Zusammenhang mit einer Zwangsverheiratung angetan wird, verdient die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes. Meine werten Kolleginnen und Kollegen - an dieser Stelle darf ich auch den Kollegen Montag ansprechen -, das ist doch überhaupt kein Grund, einander hier so echauffiert zu begegnen. Wir schaffen einen eigenen Straftatbestand. Wir gliedern einen Absatz aus dem Nötigungsparagrafen aus und schaffen einen eigenen neuen Straftatbestand. Das ist mehr als Symbolpolitik. Damit wird der besondere Unrechtscharakter der Taten zum Ausdruck gebracht und sonst nichts. Zum Abschluss darf ich noch eines ansprechen, was mir aufgefallen ist. Der Antrag der Linksfraktion impliziert teilweise eine Diktion, die für mich mehr als befremdlich ist. Ich halte es sogar für unerträglich und für widerwärtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag Deutschland mit dem Apartheidsystem in Südafrika vergleichen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist wirklich bodenlos. Genauso unerträglich finde ich es, dass Sie der Polizei in Deutschland pauschal rassistische Vorbehalte gegenüber Ausländern unterstellen, insbesondere mit Blick auf die Kontrolle ihrer Legitimationspapiere. Dies kommt ausgerechnet von einer Fraktion, die, wie wir gerade in diesen Tagen wieder haben erleben können, intensive Verknüpfungen zu einem früheren Unrechtsregime in Teilen Deutschlands hat, in der tatsächlich noch Mitarbeiter beschäftigt sind, die ehemalige Stasi-Informanten waren. Hierzu empfehle ich die Dokumentation über den Kollegen Gysi mit dem Titel "Die Akte Gysi", die am kommenden Donnerstag in der ARD ausgestrahlt wird. Dass gerade aus den Reihen dieser Fraktion Deutschland der Vorwurf gemacht wird, wir würden ein System unterhalten, das vergleichbar mit dem Apartheidsystem in Südafrika sei, das schrecklich war, das menschenunwürdig war, das halte ich für unerträglich. Ich kann Sie hier nur auffordern, sich insoweit von der Diktion in Ihrem Antrag zu verabschieden. Ansonsten handelt es sich um einen guten Gesetzentwurf, der heute von der Bundesregierung vorgelegt wird. Seine Verabschiedung wird mit Sicherheit dazu führen, dass wir einen weiteren Schritt in Richtung Willkommenskultur in Deutschland gehen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es folgt jetzt eine Kurzintervention des Kollegen Josef Winkler. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Mayer, Sie haben uns als Fraktion vorgeworfen, wir verhielten uns zynisch und sarkastisch, wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was es zu bedeuten hat, dass Staatssekretär Dr. Schröder sagt, bei Zwangsverheiratungen gebe es eine besonders hohe Dunkelziffer. Ich finde, man darf doch wohl einmal nachfragen, was es damit auf sich hat, wenn die Bundesregierung sagt, hier sei eine Änderung im Strafgesetzbuch notwendig, weil eine besonders hohe Dunkelziffer vorhanden ist - anscheinend im Unterschied zu normalen Dunkelziffern -, und ob es für diese Aussage eine Datengrundlage gibt. Da diese Grundlage offensichtlich nicht da war, ist die Begründung für die Änderung des Strafgesetzbuches denkbar dünn. Ich will Ihnen einmal sagen, was ich zynisch finde - das ist normalerweise nicht meine Wortwahl; aber Sie haben sie in die heutige Debatte eingeführt -: dass Sie sagen, Sie veränderten qualitativ etwas für die von Zwangsheirat betroffenen Frauen und Männer; meistens sind es ja Frauen. Denn es ändert sich ja nichts. Durch die Einfügung eines eigenen Paragrafen in das Strafgesetzbuch wird nicht einmal die Strafnorm erhöht. Wenn es Ihnen um die Androhung einer höheren Strafe ginge, dann hätten Sie einen Straftatbestand wählen können, der mit mehr Jahren Haft als Höchststrafe versehen wird, als es bisher der Fall war. Haben Sie das gemacht? Nein! Es ist zynisch und sarkastisch, so zu tun, als würde die Aufnahme eines Paragrafen in das Inhaltsverzeichnis des Strafgesetzbuches für die Frauen, die von Zwangsverheiratung betroffen sind, einen qualitativen Vorteil bedeuten. Was einen Vorteil bedeuten würde - eine Antwort bleiben Sie schuldig -, sind nämlich massive aufenthaltsrechtliche Verbesserungen. All die Forderungen der Frauenverbände berücksichtigen Sie nicht. Sie sagen: Wir tun etwas für die Frauen. Wo ist denn die Qualitätsoffensive der Bundesregierung für die Frauenhäuser in dieser Republik? (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Wo ist die denn?) Wo stehen denn die Millionen im Haushalt, um das Verbrechen der Zwangsheirat endlich besser zu bekämpfen? Wo sind die Millionen für bessere niedrigschwellige Angebote? Wo werden die damit einhergehenden Forderungen erfüllt? Nichts von alledem machen Sie. Sie betreiben reine Symbolpolitik. Das ist zynisch und sarkastisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung. Bitte. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege Winkler, ich habe Ihnen den Vorwurf des Zynismus und des Sarkasmus gemacht - ich rücke davon auch nicht ab -, weil ich es für vollkommen neben der Sache liegend halte, darauf zu insistieren, dass jetzt endlich gesagt wird, wie hoch die Dunkelziffer an Zwangsverheiratungen in Deutschland ist. Wie wollen Sie denn reagieren? Es gibt offenkundig - die Zahlen liegen auf dem Tisch - 1 000 Tatverdächtige, gegen die schon offiziell ermittelt wurde. Jetzt sagt Herr Staatssekretär Schröder - das ist auch meine Meinung -, man könne annehmen, die Dunkelziffer sei weitaus höher. (Aydan Özoðuz [SPD]: Nein!) Sehen Sie gesetzgeberischen Handlungsbedarf dann nicht mehr gegeben, wenn die Dunkelziffer 1 000 Fälle unterschreitet oder 2 000 Fälle unterschreitet? Es ist doch zynisch - ich bleibe ganz bewusst bei dieser Wortwahl -, sich jetzt an der Frage festzuklammern, wie hoch die Dunkelziffer tatsächlich ist. Dass die Problematik der Zwangsverheiratung in Deutschland evident und offenkundig ist, ist unbestreitbar; die Fälle liegen doch auf dem Tisch. Ich würde Ihren Vorwurf uns gegenüber zwar nicht verstehen, aber vielleicht erklären können, wenn die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes - § 237 StGB - die einzige Antwort wäre, die wir auf die mit dem Problem der Zwangsverheiratung verbundenen Fragen gäben. Ich habe auch in meinen Ausführungen deutlich gemacht: Man muss natürlich im Rahmen eines Maßnahmenpaketes gegen die Zwangsverheiratung vorgehen, sowohl präventiv, durch eine Stärkung der Frauenrechte, durch verbesserte Integrationsangebote, vor allem durch ein verstärktes Angebot an Deutschkursen, die man den jungen Frauen angedeihen lässt, als auch repressiv, zum Beispiel im Wege des Strafrechts, durch die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes, aber auch - ich möchte noch einmal Ihrem Einwand entgegnen - durch die Schaffung eines selbstständigen Rückkehrrechts mit einer Geltungsdauer von bis zu zehn Jahren für Frauen, die zwangsverheiratet oder verschleppt wurden. Ich glaube, wenn man sich das Maßnahmenpaket der Bundesregierung bzw. der christlich-liberalen Koalition ansieht, stellt man fest, dass das wirklich Hand und Fuß hat. Das kann sich sehen lassen. Dass man daneben natürlich auch noch mehr für Frauenhäuser tun kann, ist vollkommen richtig. Aber, lieber Herr Kollege Winkler, dafür ist nicht der Bund zuständig, dafür sind die Länder zuständig. Jeder muss vor seiner Haustür kehren. Ich glaube, der Bund hat seine Hausaufgaben mit dem Gesetzentwurf, der heute in der ersten Lesung beraten wird, ordentlich gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksache 17/4401, 17/4197, 17/2491, 17/3065 und 17/2325 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden - Drucksache 17/4427 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Burkhard Lischka von der SPD das Wort. (Beifall bei der SPD) Burkhard Lischka (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ganz sicher kaum Straftaten, die abscheulicher sind als der sexuelle Missbrauch von Kindern. Wir müssen alles, aber auch wirklich alles tun, um solche Straftaten bzw. die Täter zu verfolgen, und wir müssen alles tun, damit solche Bilder, und zwar für immer, aus dem Netz verbannt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Mit Scheinlösungen aber sollten wir uns nicht zufrieden geben. Deshalb sage ich deutlich: Internetsperren sind hier nicht der richtige Weg. Sie verbannen nicht ein einziges Bild aus dem Netz, sie verstecken es bestenfalls nur. Darüber hinaus sind sie wenig effektiv, ungenau und leicht zu umgehen. Sie schaffen eine Infrastruktur, die grundsätzliche Bedenken hervorruft und verfassungsrechtlich höchst problematisch ist. Das ist eine Erkenntnis, die sich zunehmend durchgesetzt hat und uns in vielen Anhörungen in letzter Zeit von den Experten immer und immer wieder bestätigt worden ist. Wir brauchen eine komplexe Strategie gegen Verbrechen an Kindern. Wir brauchen keine Stoppschilder, die Aktion suggerieren, das Leid aber nur ein bisschen besser verstecken. Da, wo vor allem kinderpornografische Bilder gehandelt werden - zum Beispiel an Tauschbörsen -, bringen Internetsperren überhaupt nichts. Was wir brauchen, ist deshalb ein effektiver Einsatz der Strafverfolgungsbehörden und ein effektives Löschen der Bilder, die Kinder zum zweiten Mal zum Opfer machen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Eines geht aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ein von diesem Parlament in einem geordneten parlamentarischen Verfahren verabschiedetes Gesetz, das Zugangserschwerungsgesetz, kann und darf doch nicht durch die Verwaltung eines Ministeriums einfach par ordre de mufti ausgesetzt werden. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind doch keine Bananenrepublik!) Das Parlament selbst, wir müssen doch das Gesetz aufheben. Alles andere ist ein glatter Verfassungsbruch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es gibt Jahrestage, die wirklich kein Grund zum Feiern sind, sie sind vielmehr ein Grund, verschämt zum Boden zu schauen. Einen solchen Jahrestag bescheren uns jetzt Bundesregierung und Regierungsfraktionen, nämlich am 17. Februar. Dann ist es ganz genau ein Jahr her, dass der Bundesinnenminister das Bundeskriminalamt angewiesen hat, ein von diesem Parlament verabschiedetes Gesetz nicht anzuwenden. Das ist ein Unding, ein Verfassungsbruch. Es dreht jedem Parlamentarier - einschließlich des Bundestagspräsidenten, der sich hierzu deutlich geäußert hat - den Magen um. (Beifall bei der SPD) Da wird ein Gesetz nicht angewendet, nur weil Schwarz und Gelb wie so oft nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Das wird dann eben mal auf Kosten der Verfassung ausgesessen. Das ist unwürdig. Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, beenden Sie diesen Zustand, und zwar schnellstmöglich. Machen Sie Nägel mit Köpfen. Heben Sie das Zugangserschwerungsgesetz auf und lassen Sie uns dann gemeinsam Kinderpornografie im Internet bekämpfen. Es ist doch weiß Gott alles andere als stringent, auf der einen Seite am Zugangserschwerungsgesetz festzuhalten, auf der anderen Seite das Gesetz im Erlasswege auszusetzen, um sich dann auf europäischer Ebene - vollkommen zu Recht - wiederum gegen Internetsperren einzusetzen. Es würde doch die deutsche Verhandlungsposition in Europa, nämlich "Löschen statt sperren", ganz maßgeblich unterstützen, wenn Sie dieses Hickhack endlich beenden würden. Handeln Sie endlich und versuchen Sie nicht, das Thema weiter auszusitzen, meine Damen und Herren! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schaffen Sie Wege, dass das Löschen von Kinderpornografie schneller und effektiver durchgesetzt werden kann: durch engmaschigere Kontrollen, durch internationale Vereinbarungen, durch eine gute Zusammenarbeit zwischen den Beschwerdestellen der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden. Mir will jedenfalls nicht in den Kopf, warum Banken anscheinend erreichen können, dass Betrugsseiten innerhalb kürzester Zeit vom Netz genommen werden, uns aber das Gleiche bei solchem Schmutz, bei Bildern gepeinigter Kinder, angeblich nicht gelingen kann. (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Da müssen Sie die Unternehmen fragen!) Dabei wissen doch alle: Die Server, auf denen solche Bilder sind, befinden sich nicht in erster Linie in irgendwelchen Bananenrepubliken, sondern in den USA und in Westeuropa. Da muss ein schnelles Löschen möglich sein. (Beifall bei der SPD) Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Zahlen, mit denen Bundeskriminalamt, Verbände, einschlägige Beschwerdestellen operieren, nach wie vor so extrem unterschiedlich sind und dass noch immer eine Vereinbarung fehlt, wer wem kinderpornografische Seiten meldet und wie schnell und stringent auf eine Löschung gedrängt wird. Wir brauchen endlich einheitliche Richtlinien. Wir brauchen eine Harmonisierung. Die Bemühungen, dies alles zu erreichen, dauern schon viel zu lange, und sie haben noch nicht zu irgendeinem Ergebnis geführt. Deshalb, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Herr Ahrendt, Frau Bundesjustizministerin: Beim Kampf gegen Kinderpornografie haben Sie uns wirklich an Ihrer Seite, bei dem Possenspiel, das Sie im Augenblick aufführen, ganz sicher nicht. Recht herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis vor etwa fünf Jahren habe ich noch gedacht, wir bekommen das Internet in den Griff. Wir müssen nur einen großen Verfolgungsdruck aufbauen, und dann sind wir raus. Aber heute weiß ich, das werden wir nicht hinbekommen. Den Kampf haben wir schon verloren. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist die resignative Einschätzung eines Oberstaatsanwalts, der sich viele Jahre intensiv mit der Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen befasst hat. Sie ist nachzulesen in einem sehr lesenswerten Artikel, der im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Emma erschienen ist. Der Oberstaatsanwalt hat den Kampf tatsächlich aufgegeben. Er ist heute für allgemeine Kriminalität zuständig. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie geben nicht auf!) Und wir? Haben wir den Kampf auch schon verloren oder gar aufgegeben? (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht in Korschenbroich!) Ich hoffe, nein. Lassen Sie mich dennoch mit etwas Unerhörtem beginnen, dem Eingeständnis von Hilflosigkeit. Ich weiß, das gehört sich in der Politik nicht. Schwäche und deren Eingeständnis haben hier normalerweise nicht viel zu suchen. Ich gestehe das aber trotzdem an der Stelle ein. Ich fühle mich bei der Frage nach der richtigen Strategie für die Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen oftmals hilf- und machtlos. Ich fühle mich auch bei der heutigen Debatte nicht wohl. Vielleicht geht es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von hier bis da in diesem Hause, genauso wie mir, vor allem angesichts der doch manchmal bestehenden Aussichtslosigkeit unseres Tuns. Gleichgültig, welche Strategie wir verfolgen - machen wir uns bewusst: Während wir hier debattieren, machen andere mit ihrem ekelhaften und schändlichem Tun annähernd ungehindert weiter, werden Kinder missbraucht, wird die Darstellung des Missbrauchs ins Internet gestellt oder werden solche Darstellungen ausgetauscht. Während wir darüber debattieren, ob die Nichtanwendung einer gesetzlichen Alternative verfassungswidrig sei oder nicht, werden alle diese Straftaten weiterhin begangen. Ich glaube, wir sollten darüber reden, wie wir Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen gemeinsam entschieden bekämpfen können. Natürlich könnten die Oppositionsparteien es mit der heutigen Debatte vor allem auf eines anlegen: zu zeigen, dass die Regierungsfraktionen unterschiedliche Vorstellungen haben und die Sache noch nicht abschließend geklärt ist. Ja, Sie haben recht. So ist das. Wir haben da divergierende Vorstellungen, die schwer überein zu bringen sind. Und? Bringt es uns in der Sache weiter, wenn nun der Finger in diese vermeintliche Wunde gelegt wird? Ich glaube, nein. Das gilt zugegebenermaßen genauso für den Hinweis darauf, dass wir in der Koalition daran arbeiten, dieses Problem zu lösen. Natürlich könnte ich auch parieren, indem ich die Schwächen der SPD bei diesem Thema deutlich mache, die sich auch bei diesem Antrag naturgemäß zeigen. Denn das Gesetz, dessen Aufhebung Sie jetzt begehren, ist von Ihnen selbst mit eingebracht und beschlossen worden. Sie sind damals für das eingetreten, wogegen Sie nun sind. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir sehen ein, dass es falsch war!) Ich kann dazu aus einem Beitrag der SPD-Fraktion in einer Debatte von 2009 zitieren. Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zugangssperren im Internet braucht eine klare gesetzliche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mit ihrer Forderung durchgesetzt hat. Nur eine gesetzliche Regelung schafft Rechtssicherheit und genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen. In einer anderen Debatte über das Zugangserschwerungsgesetz sagte der Kollege Dörmann: Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen gerecht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet und dem Einsatz für ein freies Internet. ... Ich finde, mit diesem Gesetzentwurf ist uns das gelungen. Weil sich die damalige CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen nach Auffassung der SPD nicht ausreichend für Sperren ausgesprochen hat, hatte die SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen unter Führung von Frau Kraft, heute Ministerpräsidentin, seinerzeit sogar beantragt - das können Sie in der Landtagsdrucksache 14/7830 nachlesen -, die Landesregierung von CDU und FDP aufzufordern, die Initiative des Bundeskriminalamtes zu unterstützen, eine gesetzliche Verpflichtung für Provider zu schaffen, Internet-Webseiten mit kinderpornografischen Inhalten zu sperren. Nur zu sperren: Von löschen findet sich in diesem Antrag kein Wort. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Aha! Das ist ja interessant!) Selbstverständlich ist es jedem zugestanden, nach einiger Zeit seine Meinung zu ändern. Mit dem heutigen Antrag suggerieren Sie, dass dies auf der Grundlage neuer Erkenntnisse geschehen sei; denn Sie behaupten, zwischenzeitlich habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen seien. Lassen Sie uns ehrlich sein. Das "zwischenzeitlich" ist doch nichts anderes als Autosuggestion. Tatsache ist doch, dass es keine wirklich grundlegend neuen Erkenntnisse gibt. Schon im Jahr 2009, während der Diskussion um den Erlass des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen, wurden bereits genau diese Punkte in den Anhörungen ins Feld geführt. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Und jetzt? Steht es unentschieden, weil Sie Ihre Meinung geändert haben und wir unterschiedlicher Auffassung sind? Letztlich kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, als würden wir uns alle seit 2009 wunderbar im Kreis drehen. Ich nehme mich und uns dabei nicht aus. Nur: Diejenigen, denen wir ans Fell wollen, können sich derweil die Hände reiben. Nutzen wir deshalb die heutige Debatte um das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie doch auch für ein paar grundsätzliche Überlegungen. Denn im Stellungskampf um politische Symbolbegriffe und angesichts der Neigung, gegenseitig mit dem Finger aufeinander zu zeigen, mag nach zwei Jahren hitziger Debatte die Notwendigkeit dafür ein wenig aus dem Blick geraten zu sein. Erstens. Wir alle wollen Instrumente, mit denen effektiv gegen Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen vorgegangen werden kann. Da sind wir uns alle einig. Das zieht sich seit der ersten Lesung des Gesetzentwurfs durch die gesamte Diskussion. Zweitens. Stichwort: Zusammenarbeit und Selbstregulierung. Hierauf zielt eine Forderung des SPD-Antrags ab. Fraglos ist das erst einmal hilfreich, und jede solcher Maßnahmen ist zu begrüßen. Aber es bleibt die Frage: Ist das ausreichend? Ich zitiere an dieser Stelle beispielhaft den Kollegen Wieland bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs im Juni 2009: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, es darf aber auch nicht zum bürgerrechtsfreien Raum verkommen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut?) - Herr Kollege Wieland, völlig d'accord. Ich war damals noch nicht dabei, deswegen geht mir das jetzt auch leicht über die Lippen. Aber ich bin völlig d'accord. Aber das bedeutet doch auch genau das: Freiwillige Vereinbarungen reichen dann ja nicht aus. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung mit klar definierten Eingriffsbefugnissen, rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen und Rechtsschutzmöglichkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit einem bloßen Aufhebungsgesetz wäre also an dieser Stelle rein gar nichts gewonnen. Drittens. Stichpunkte wie "Löschen statt Sperren", "Löschen vor Sperren" und "Löschen und Sperren" und, und, und. Wir können uns die Argumente zu der Wirksamkeit jetzt gegenseitig um die Ohren hauen. Ich glaube, wir haben da alle kein Erkenntnisproblem. Es mag auf den ersten Blick auch hilflos erscheinen, nach wie vor dafür einzutreten, sich die Möglichkeit des Sperrens als Ultima Ratio offenzuhalten. Das kann aber rasch abgelöst werden, dann nämlich, wenn wirklich wirksame Alternativstrategien erkennbar werden. Das ist - aus meiner Sicht jedenfalls - valide noch nicht der Fall. Heinrich Wefing hat dazu in einem ZEIT-Artikel im Jahr 2009 schon bei der damaligen Diskussion bedenkenswert formuliert: Nun könnte man die lärmende Ablehnung jeder staatlichen Regulierung und Rechtsdurchsetzung vielleicht sogar als romantische Utopie belächeln, wenn die Ideologen der Freiheit gelegentlich einmal selbst einen Gedanken darauf verwenden würden, wie sich der Missbrauch des Mediums eindämmen ließe. Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Gottlob besteht weder die analoge noch die digitale Welt nur aus Ideologen. Von daher ist nicht von der Hand zu weisen - das ist vielleicht der Erfolg der nach wie vor intensiven Debatte in dieser Wahlperiode -, dass sich gegenüber dem Jahr 2009 doch auch schon einiges verbessert hat. Aber es bleibt dabei: Nach wie vor sind keine wirklich wirksamen anderen Strategien erkennbar. Solange das so ist, sollte man jedenfalls nicht gänzlich auf die Möglichkeit des Sperrens verzichten. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Antrag der SPD hilft nicht. Er hilft nicht in der Sache, und er bringt keine neuen Erkenntnisse. Deshalb lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass sich die SPD-Fraktion endgültig für die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes einsetzt. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt. (Beifall bei der LINKEN) In der Großen Koalition 2009 stimmte sie noch wider besseres Wissen für die Einführung von Internetsperren. Angesichts der überwältigenden Argumente gegen die Netzsperren ist es heute aber eigentlich nicht mehr möglich, klaren Verstandes für dieses Gesetz einzutreten. Der Verband der deutschen Internetwirtschaft eco hat am Dienstag erneut belegt, dass mit einem schnellen und effektiven Vorgehen kinderpornografische Inhalte zügig - auch international - aus dem Netz gelöscht werden können. Dazu braucht man keine Netzsperren. Was man aber nicht braucht, braucht man nicht. Lassen Sie das Gesetz einfach! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Um nicht alle Argumente zu wiederholen, nur ein paar Stichworte: Das Verstecken strafrechtlich relevanter Inhalte hinter technisch leicht zu umgehenden Stoppschildern bringt gar nichts. Schon das Betreiben von Sperrlisten ist kontraproduktiv. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass diese Listen nie dauerhaft geheim bleiben. Einmal öffentlich geworden, können sie geradezu als Wegweiser zu diesen strafrechtlich relevanten Inhalten dienen. Stoppschilder werden so zu Hinweisschildern. Sie warnen die Betreiber dieser Seiten davor, dass ihnen die Strafverfolgungsbehörden auf der Spur sind. Außerdem bringen die geplanten Netzsperren auch die Gefahr mit sich, dass es ein Overblocking gibt. Es wird also möglicherweise der Zugang zu allen Inhalten eines Servers gesperrt - damit auch zu unbedenklichen. Die Einführung von Netzsperren bringt erhebliche Kollateralschäden für die Freiheit des Internets mit sich. Nicht mit uns! (Beifall bei der LINKEN) Das ständige Werben der innenpolitischen Hardliner der CDU/CSU für Netzsperren macht eines deutlich: (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Verantwortung!) Es geht längst nicht mehr um die notwendige Bekämpfung von Kinderpornografie, sondern um die Errichtung einer universalen Sperrinfrastruktur. Schon heute werden immer wieder Stimmen laut, die den Einsatz von Netzsperren unter anderem auch bei Urheberrechtsverletzungen fordern. Die Linke stellt sich solchen Entwicklungen entgegen. Eine Zensur des Internets wird es mit uns nicht geben. (Beifall bei der LINKEN) Die geplante Einführung von Internetsperren ist aber nicht die einzige Bedrohung für das freie Internet. Parallel dazu wird auch die Debatte über das Ende der Netzneutralität geführt. Wenn es nach den Vorstellungen der Netzbetreiber geht, sollen der Zugang zum Internet und die Nutzung verschiedener Dienste zukünftig vom Geldbeutel der Nutzer abhängen. Die Netzbetreiber möchten selbst entscheiden, welche Inhalte sie zu welchen Preisen und welchen Geschwindigkeiten durch ihre Netze leiten. Die Koalition geht hier unkritisch mit der Lobby der Netzbetreiber Hand in Hand. Wir müssen stattdessen aufhören, das Internet als Bedrohung wahrzunehmen, der nur mit Gesetzen und Regulierungen begegnet werden kann. Wir müssen die emanzipatorischen Potenziale des Internets erkennen und nutzen. Wir müssen Strukturen für freie Kommunikation und für freies Verbreiten von Informationen sowie die Möglichkeit zur Demokratisierung der Gesellschaft gegen alle Angriffe verteidigen. (Beifall bei der LINKEN) Reden wir über uns, das Parlament. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Über das Thema!) Was können wir tun? Wir könnten die demokratischen Potenziale des Internets noch besser nutzen. Die Onlinepetition ist bereits ein Schritt in die richtige Richtung. (Christian Ahrendt [FDP]: Was hat das denn mit Kinderpornografie zu tun? Falsches Thema!) Wir brauchen aber mehr. Gerade in Zeiten sinkender Wahlbeteiligung und steigender Politikverdrossenheit sollten wir das Internet nutzen, um mehr Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. Wir könnten beispielsweise die interessierte Öffentlichkeit bereits in der Entstehungs- und Beratungsphase von Gesetzen beteiligen. Lassen Sie uns hier mutig vorangehen. - Meine Damen und Herren von der FDP, ich kann ja verstehen, dass sie mir vorschreiben wollen, was ich sage. Es wird Ihnen nur nicht gelingen, dass ich mich daran halte. (Beifall bei der LINKEN) Wir sollten das Internet nicht ausschließlich als einen Wirtschaftsraum, sondern als einen globalen Kulturraum begreifen. Das Einhegen und Abschotten sowie die Errichtung eines weitgehend regulierten "deutschen" oder "europäischen" Internets lehnt die Linke ab. Auf der EU-Ebene wird zurzeit intensiv über Internetsperren diskutiert. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich auch in Europa gegen verpflichtende Netzsperren der Mitgliedstaaten einzusetzen. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Haben wir doch schon abgelehnt!) Dafür brauchen wir jede denkbare Unterstützung, auch und gerade aus dem außerparlamentarischen Bereich. (Beifall bei der LINKEN) Ich freue mich daher über die Kampagne von European Digital Rights zum Stoppen der europäischen Netzsperrenpläne. Auf netzpolitik.org wurde am Dienstag auf diese Kampagne hingewiesen, und ich empfehle diese Lektüre vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Die Linke fordert ein Umdenken und Umsteuern der deutschen Netzpolitik weg von Regulierung und Bevormundung und hin zu einem dauerhaft geschützten offenen und freiheitlichen Internet. Aus diesem Grunde prüfen wir wohlwollend eine Zustimmung zum Antrag der SPD-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Jimmy Schulz (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie von der SPD legen hier erneut einen Antrag vor, um ein Gesetz abzuschaffen, das Sie selbst vor gerade einmal 18 Monaten hier eingebracht und beschlossen haben. Sie tun dies, weil Sie glauben, es habe sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieses Gesetz den gesetzten Zielen nicht gerecht wird oder, wie wir glauben, nicht gerecht werden kann. Sie sagen jetzt das, was wir schon immer gesagt haben: Löschen und nicht Sperren funktioniert bei der Bekämpfung von Kinderpornografie. Aber besser spät als nie; es kommt mir vor, als hätten Sie mit einiger Reaktionszeit von der Standspur auf die rechte Spur, den rechten Weg, gewechselt. (Beifall bei der FDP) Wir haben gute neue Belege dafür erhalten - das haben wir gerade gehört -, dass Löschen statt Sperren funktioniert. Der Verband der deutschen Internetbranche eco hatte im Jahr 2010 eine Erfolgsquote von 99,4 Prozent beim Löschen dieser Dateien. Auch die internationale Zusammenarbeit konnte deutlich verbessert werden: Bilder können jetzt auch im Ausland sehr schnell gelöscht werden. Von 208 Webseiten konnten 204 innerhalb von kürzester Zeit gelöscht werden, davon 84 Prozent innerhalb einer Woche und 91 Prozent binnen zwei Wochen. Genau deswegen haben wir im Koalitionsvertrag eine Jahresfrist festgelegt. Wir wollen das Löschen dieser Webseiten ein Jahr lang anwenden und dann evaluieren, genau das werden wir auch tun. Wir können doch ein Gesetz nicht einfach vor Abschluss der Überprüfung aufheben und damit den Ergebnissen vorweggreifen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das Jahr ist doch nun um!) Zudem wird das im Koalitionsvertrag vereinbarte Verfahren erst seit Oktober 2010 angewendet; denn erst seit diesem Zeitpunkt leitet jugendschutz.net, eine der Meldestellen, die vom Bundeskriminalamt erhaltenen Hinweise an die jeweiligen internationalen Partner weiter. Die Evaluierung muss auch im Lichte dessen betrachtet werden. (Beifall bei der FDP) Sie fordern in Ihrem Antrag die schnellstmögliche Unterzeichnung des Harmonisierungspapiers, also des Papiers, in dem die Prozesse der Zusammenarbeit der Meldestellen und der internationalen Partner geregelt werden. Aber genau das steht gerade an; das Papier befindet sich doch schon längst in der Fertigstellung und wird demnächst unterzeichnet. Ihre Panikmache ist also vollkommen unbegründet. (Burkhard Lischka [SPD]: Na ja! Wir warten schon sehr lange!) Zu guter Letzt muss ich auf Folgendes zu sprechen kommen. Ich kann Ihren Antrag aus gutem Grund nicht wirklich ernst nehmen, war es doch gerade einer Ihrer Kollegen, der kaum zwei Tage nach der Verabschiedung des Gesetzes gefordert hat, die Internetsperren nicht nur, wie vorher angekündigt, gegen kinderpornografische Webseiten anzuwenden, sondern auch gegen digitale Falschparker. Gewundert hat mich diese Forderung allerdings nicht; denn damals fuhren Sie noch auf der Standspur, und dort stören Falschparker natürlich nur. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz vom Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines vorweg: Diese Debatte verläuft bisher etwas schief. Während der Kollege Heveling hier eine eher nachdenkliche bis moderate Rede hält, sieht es in der Öffentlichkeit ganz anders aus. Man erkennt Flügelbewegungen: Der Kollege Siegfried Kauder und unser Bundestagspräsident Lammert haben angekündigt, dass ihnen sozusagen gerade heute aufgefallen ist, dass die Aussetzung eines vom Bundestag erlassenen Gesetzes per Ministererlass verfassungsrechtlich irgendwie problematisch sein könnte. (Burkhard Lischka [SPD]: Das ist sogar so! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Kauder ein Jahr lang geprüft und kam jetzt zu dem Ergebnis!) Dabei handelt es sich aber leider nicht um eine Umkehr der Union bei den Bürgerrechten; denn der fragliche Erlass kommt aus dem CDU-geführten Innenministerium. Sie wussten doch von Anfang an, dass es so nicht geht: Die Verfassungswidrigkeit dieses Vorgehens war völlig offensichtlich; es stand dem Erlass geradezu neongelb auf der Stirn geschrieben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Aydan Özoðuz [SPD]) Das ist jetzt reine Taktik: Sie wollen Ihren Koalitionspartner, die FDP, erneut vor das Brett schnallen, Herr Kauder, und die Sperren durchdrücken. Das ist die traurige Wahrheit Ihrer im Gewand der Rechtsstaatlichkeit daherkommenden Argumentation. Zur Geschichte unserer Diskussion hier im Hohen Haus. Nachdem wir einen fraktionsübergreifenden Konsens gefunden hatten - wir erinnern uns, dass selbst der Kollege Uhl zu Beginn der Legislaturperiode hier in einer Sitzung reuig davon sprach, man habe beim ursprünglichen Sperrgesetz "ein bisschen mit der Stange im Nebel gestochert" -, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Unvergessen!) rudern Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Union, seit Monaten kräftig zurück und fordern Stoppschilder, anstatt an der notwendigen Verbesserung der Löschvorgänge zu arbeiten. Dabei hat der Bundestag keinen Aufwand und keine Kosten gescheut, um Sachverstand zurate zu ziehen. Dieser hat sich mehrheitlich klar gegen Netzsperren positioniert. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, man würde sich doch sehr wünschen, dass Sie die Anhörungen dazu nutzen, um die dort gewonnenen Einsichten in die Arbeit als Gesetzgeber einfließen zu lassen. Herr Heveling, Sie haben in Ihrer nachdenklichen Rede valide Alternativstrategien gefordert. Diese sind in der Anhörung genannt worden. Sie lassen aber die Einsichten, die dort gewonnen wurden, nicht in Ihre Argumentation einfließen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lars Klingbeil [SPD]) Es gab Anhörungen im Unterausschuss Neue Medien, im Rechtsausschuss und, nicht zu vergessen, anlässlich der Onlinepetition gegen Netzsperren. Wir haben von der ganz überwiegenden Mehrheit der geladenen Fachleute eindeutig ins Protokoll diktiert bekommen, dass erstens Sperren grundsätzlich der falsche Weg, ja sogar kontraproduktiv sind, wenn man effektiv gegen Missbrauchsdarstellungen im Netz vorgehen will, zweitens das Gesetz als solches schwerwiegende verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, drittens der von der Bundesregierung verfolgte Weg des Aussetzens eines ordnungsgemäß im Bundestag verabschiedeten Gesetzes par ordre du mufti mit unserer Verfassung unvereinbar ist und wir viertens endlich eine mehrdimensionale Strategie brauchen, die selbstverständlich das Löschen, nicht aber das Sperren umfasst. Bereits am Anfang der Legislaturperiode haben meine Fraktion und ich Sie aufgefordert, eine solche Strategie vorzulegen. Geschehen ist seitdem nichts. Dabei wissen Sie doch genau, was es braucht, Herr Heveling: Es braucht valide Optionen. Es braucht internationale Abkommen zur effektiven Bekämpfung des Kindesmissbrauchs und der Entfernung seiner Darstellungen im Internet. (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ja, darauf warten wir!) Es braucht verbesserte technische und personelle Ausstattungen der Strafverfolgungsbehörden und eine Verbesserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit den Internetbeschwerdestellen, Stichwort Harmonisierungspapier. Hier, bei diesen effektiven, drängenden, allgemein anerkannten Handlungsoptionen haben Sie nichts gemacht. Das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Auf einen Aspekt des hier vorliegenden zustimmungswürdigen Antrags der SPD möchte ich ausdrücklich eingehen. Dort heißt es, dass hinsichtlich der betreffenden europäischen Richtlinie Handlungsbedarf bestünde. Das ist einerseits richtig - genau aus diesem Grund haben wir als Oppositionsfraktionen entsprechende Anträge ins Verfahren eingebracht -; andererseits scheint es seit Dienstag so zu sein, als bestünde die Möglichkeit, dass dieser Handlungsbedarf so bald nicht mehr besteht. Denn im Beschlussentwurf des Innenausschusses des Europäischen Parlaments zur entsprechenden Richtlinie ist die konservative Berichterstatterin von einer generell die Mitgliedstaaten verpflichtenden Linie abgerückt, weil sie keine Mehrheit mehr für die verpflichtende Regelung sieht. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Bei den heute bekannt gewordenen Änderungsanträgen zum Bericht des Europäischen Parlaments wird deutlich, dass sich alle Fraktionen - alle Fraktionen - gegen verpflichtende Sperren aussprechen, selbst die Konservativen. Nur die deutschen Konservativen im Europäischen Parlament beharren isoliert und uneinsichtig weiterhin auf einer Verpflichtung. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: "Kontrafaktisch" heißt das bei Asterix!) Mit dieser Position stehen Sie in Brüssel genauso wie hier im Parlament alleine da. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das liegt an der Erkenntnis aus allen Beratungen, dass die Sperren nicht der falsche Weg zur Bekämpfung des Missbrauchs von Kindern und seiner Darstellung im Internet, sondern gar kein Weg sind, um effektiv etwas zum Schutz der Kinder zu unternehmen. Ich komme zum Schluss. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, haben den Koalitionsvertrag schlecht ausgehandelt. Das wurde schon häufiger gesagt; aber das beweist sich eben immer wieder. Sie werden von der Union seit Monaten getrieben. Ihre Wahlkampfversprechungen im Bereich der Bürgerrechte waren wohl für die Verhandelnden - unter ihnen die Freiheitsstatue der Republik, Guido Westerwelle - nicht ganz so wichtig. Die Agenda des Koalitionsausschusses heute Abend, Frau Justizministerin, liest sich wie Ihr ganz persönliches Sündenregister des Versagens im Koalitionsvertrag: Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren, ELENA. Man hat begründete Sorge, was da heute Abend und in den kommenden Wochen ausgedealt werden soll. Ich hoffe das Gegenteil; aber es steht zu befürchten, dass die Menschen in diesem Land auch im Bereich der Bürgerrechte unter Schwarz-Gelb nicht mehr, sondern weniger Netto vom Brutto haben werden. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Jimmy Schulz [FDP]: Wie unter Rot-Grün!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag der SPD, den wir heute beraten, spricht Bände über den Zustand der SPD. (Widerspruch bei der SPD) Wenn die Grünen die Dagegen-Partei sind (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wussten, warum wir dagegen sind!) und die Linkspartei mittlerweile die K-Partei ist, dann ist die SPD die Heute-so-und-morgen-anders-Partei. Vor gerade einmal eineinhalb Jahren hat die SPD-Bundestagsfraktion in diesem Haus dem Zugangserschwerungsgesetz fast geschlossen zugestimmt - bei nur drei Gegenstimmen und drei Enthaltungen. Heute fordern Sie nachdrücklich und lautstark die Aufhebung desselben Gesetzes. (Burkhard Lischka [SPD]: Wenden Sie es denn an? Sagen Sie doch mal was zum Erlass!) Ich gestehe zu, dass Sperren allein kein Königsweg sind. (Aydan Özoðuz [SPD]: Warum haben Sie sie dann gewollt?) Die Debatte heute zeigt wieder - sie wird Gott sei Dank auch sehr ernsthaft geführt -, dass wir alle um den richtigen Weg zur Bekämpfung dieser schrecklichen Inhalte im Internet und vor allem der Verbrechen, die diesen Bildern vorangehen, ringen. Gerade weil es in diesem Hause einen Konsens darüber geben sollte, dass wir alles tun, um diese widerwärtigen, diese abscheulichen Verbrechen zu verhindern und die Verbreitung ihrer Darstellung zu vermeiden, sollten wir doch auch von diesem Geist getragen die Debatte führen. Die christlich-liberale Koalition hat deshalb beschlossen, es ein Jahr lang mit dem Löschen zu probieren. Dann wollen wir evaluieren, und danach wollen wir weiterschauen. Lassen Sie uns dieses eine Jahr doch erst einmal abwarten. Die Vorabergebnisse zeigen ganz deutlich: Das Löschen funktioniert im Inland. Fast alle Seiten mit kinderpornografischen Darstellungen, die auf Servern im Inland platziert werden, können durch einen Auftrag zum Löschen eliminiert werden. Anders verhält sich das leider bei Servern, die im Ausland stehen, und zwar unabhängig davon, ob in der westlichen Welt, in den USA, Kanada oder den Niederlanden, oder in Russland. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: eco sagt etwas anderes!) Die Vorabergebnisse der Untersuchung der ersten Monate zeigen ganz klar, dass nach einer Woche noch 44 Prozent der Seiten aufrufbar sind. (Burkhard Lischka [SPD]: Dann haben Sie falsche Zahlen! - Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: 84 Prozent sind gelöscht!) Von über 1 500 Seiten, die von den Ermittlungsbehörden ausfindig gemacht wurden, waren nach einer Woche leider Gottes immer noch über 600 Seiten im Netz einsehbar. (Burkhard Lischka [SPD]: 84 Prozent gelöscht!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich bitte Sie, einmal mit dem Präsidenten des BKA, mit Herrn Ziercke, zu sprechen, der bekanntermaßen weder ein Mitglied der FDP noch ein Mitglied der CDU oder der CSU ist. Er bittet händeringend darum, dieses Zugangserschwerungsgesetz mit allen Komponenten, also sowohl dem Löschen als auch dem Sperren, anzuwenden. Das sagt ein Fachmann. Ich finde, darauf sollte man hören. Ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu nehmen, dass nach Schätzungen von UNICEF jeden Tag ungefähr 200 neue Bilder mit diesen widerwärtigen Inhalten in das Netz gestellt werden. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Löschen!) Ich habe schon eingestanden, dass wir mit dem Sperren allein nicht zum Erfolg kommen werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass wir auch mit dem Löschen allein nicht zu einem befriedigenden Ergebnis kommen werden. Deswegen muss doch die Conclusio sein, auf beide Mittel zurückzugreifen. Dabei muss man natürlich nach einem Subsidiaritätsprinzip vorgehen. Ich sage ganz offen: Mir ist es lieber, wenn diese Inhalte komplett aus dem Netz gelöscht werden. Wenn das Löschen allein aber nicht zu einem annähernd hundertprozentigen Erfolg führt - das ist erwiesen; das ist evident; die Zahlen liegen teilweise schon vor -, dann muss man doch redundant auf das Mittel des Sperrens zurückgreifen können. Daran wollen wir festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind der Auffassung, dass man diesen widerwärtigen kinderpornografischen Inhalten im Netz durch Einsatz aller effektiven und technisch verfügbaren Möglichkeiten begegnen muss. Daneben müssen natürlich auch die Kooperationen mit bzw. die Beziehungen zu ausländischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden intensiviert werden. Wir unterstützen das Bundeskriminalamt ganz ausdrücklich bei seinen dahin gehenden Bemühungen. Es wird schon sehr eng mit den ausländischen Sicherheitsbehörden kooperiert. Natürlich müssen wir auch ein Auge darauf werfen, dass die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden sowohl in personeller als auch in technischer Hinsicht ausreichend gut ausgestattet sind. An dieser Stelle dürfen wir uns aber keinem Trugschluss hingeben. Momentan sind acht oder zehn Mitarbeiter beim BKA mit diesem Thema betraut. Diese Arbeit ist für die einzelnen Mitarbeiter mit Sicherheit auch psychisch anstrengend. Aber auch, wenn man die Zahl der Mitarbeiter dieser Abteilung verdoppeln oder verdreifachen würde, würde man die Inhalte im Netz allein dadurch nicht tilgen, insbesondere nicht, wenn sie auf ausländischen Servern liegen. Ich glaube, wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Wir sind noch Suchende. Ich hoffe, dass wir alle von dem Geist getragen sind, alles Mögliche unternehmen zu wollen, um diesem schrecklichen Verbrechen zu begegnen, und dass wir weiterhin darüber debattieren werden. Der Antrag der SPD-Fraktion ist daher aus meiner Sicht zu diesem Zeitpunkt falsch. Ich finde das Vorhaben, dieses Gesetz abzuschaffen, auch nicht unterstützenswert. (Burkhard Lischka [SPD]: Was machen Sie mit dem Erlass?) Wir werden das eine Jahr abwarten. Dann wird evaluiert, und dann werden wir nach vorne schauen. Ich finde, man sollte sich in der Debatte ohne Schaum vor dem Mund begegnen. Was mich, ehrlich gesagt, etwas befremdet, ist - das sage ich zum Abschluss -, dass, obwohl wir alle dasselbe Ziel haben, nämlich diese schrecklichen Inhalte aus dem Netz zu tilgen, teilweise unheimlich ideologisch aufeinander losgegangen wird. Die einen sind für Sperren, die anderen für das Löschen. (Burkhard Lischka [SPD]: Und Sie machen einen Verfassungsbruch!) Man ist in unterschiedlichen ideologischen Lagern. Wir sollten uns auf den Sinn konzentrieren und alles tun, damit diese schrecklichen und widerwärtigen Fotos von einer Straftat aus dem Internet gelöscht werden. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lars Klingbeil (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regierungsfraktionen haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Zugangserschwerungsgesetz zunächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Das Bundeskriminalamt wurde durch einen Erlass zur faktischen Nichtanwendung des Gesetzes angewiesen. Die Fraktion der SPD hat im Februar 2010, also vor beinahe einem Jahr, den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen in den Deutschen Bundestag eingebracht. In diesem Gesetzentwurf haben wir gefordert, dieses Gesetz zurückzunehmen. Es ist bereits erwähnt worden - ich will das in aller Klarheit sagen -: Indem die SPD-Fraktion diesen Gesetzentwurf eingebracht hat, hat sie eingeräumt, dass es ein Fehler war, dem Zugangserschwerungsgesetz in der Großen Koalition zuzustimmen. (Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Wir haben zugehört, wir haben diskutiert, wir haben gelernt, und am Ende haben wir eine klare Linie gezogen. Sie können mir glauben: Das war für die SPD nicht immer einfach. Aber ich sage in aller Klarheit: Politik muss den Mut haben, Fehler ohne Wenn und Aber einzugestehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Heveling, Ihnen will ich sagen: Ihre Rede fing bemerkenswert an. Es hätte eine große Rede werden können, wenn auch Sie diesen Fehler eingestanden hätten, wenn Sie gesagt hätten, dass auch CDU und CSU hier einen Fehler gemacht haben. Bereits in der Begründung unseres Gesetzentwurfes haben wir Sozialdemokraten darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf den Erlass des Ministeriums ein verfassungswidriger Zustand besteht. Damals hat dies offensichtlich kaum jemanden interessiert. Aber wenn nun sogar Bundestagspräsident Lammert die Regierung dazu auffordert - ich zitiere -, "einen offensichtlich verfassungsrechtlich fragwürdigen Zustand schnellstmöglich zu beenden", dann zeigt das doch, wie dringend es ist, dass wir heute über das Zugangserschwerungsgesetz und den Erlass diskutieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist durchaus denkbar, dass sich noch nicht in allen Fraktionen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen sind. Diese Einschätzung wurde allerdings im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im federführenden Rechtsausschuss und in einer Anhörung im Unterausschuss Neue Medien nachdrücklich bestätigt. Wer die mittlerweile gereiften Erkenntnisse also pragmatisch, unideologisch und objektiv bewertet und sich mit ihnen auseinandersetzt, der kann zu keinem anderen Schluss kommen, als dass Netzsperren keine wirkliche Hilfe im ernsthaften Kampf gegen Kinderpornografie sind. (Beifall der Abg. Aydan Özoðuz [SPD]) Wir als Sozialdemokraten plädieren für einen nachhaltigen Kampf gegen die Darstellung von Kindesmissbrauch im Internet. Wir sagen: Löschen und effiziente Strafverfolgung müssen unsere Leitlinien sein. Wir brauchen keine Symbolpolitik durch Netzsperren. Wir müssen die Inhalte an der Quelle abschalten. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass Beweise für die Strafverfolgung sichergestellt werden. Erst in diesen Tagen hat der Verband der deutschen Internetwirtschaft, eco, die neuesten Zahlen bezüglich der Löschung von Internetseiten vorgelegt. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass "Löschen statt Sperren" erfolgreich ist. Über 99 Prozent der bei deutschen Providern gemeldeten Seiten wurden innerhalb einer Woche gelöscht. (Jimmy Schulz [FDP]: Das ist ja unstrittig!) Die Masse davon wurde in der Regel innerhalb einiger Stunden bzw. spätestens innerhalb eines Werktages gelöscht. Auch bei der Bekämpfung von Inhalten im Ausland wurde im Vergleich zu 2009 ein deutlicher Erfolg erzielt. Der Ausbau der Kooperation zwischen Beschwerdestellen, Internetserviceprovidern und Strafverfolgungsbehörden hat zu einer deutlich verbesserten Reaktionszeit geführt. Innerhalb einer Woche waren über 84 Prozent der gemeldeten Seiten abgeschaltet, nach zwei Wochen waren es über 91 Prozent. Gerade in den USA und in Russland, also in den Ländern, in denen die meisten kinderpornografischen Inhalte entdeckt wurden, entwickelt sich die Löschgeschwindigkeit überaus erfreulich. In den USA waren 87 Prozent der gemeldeten Inhalte binnen einer Woche offline, in Russland sogar 98 Prozent. Die Provider machen auch deutlich, dass sie das Prinzip "Löschen statt Sperren" durch internationale Kooperationen, beispielsweise im Rahmen des Netzwerkes Inhope, ernsthaft verfolgen und auch weiter ausbauen wollen. Die Faktenlage ist also eindeutig: Netzsperren sind für den Kampf gegen Kinderpornografie nicht geeignet. Das Löschen funktioniert, wenn man es richtig macht. Es bleibt zu fragen, was die Regierung eigentlich tut. Es wird immer beschwichtigend gesagt: Wir evaluieren und warten ein Jahr ab. - Auch der Kollege Mayer hat gerade gesagt: Lassen Sie uns doch ein Jahr abwarten. - Aber wenn ich dann die Äußerungen von Herrn Lammert lese - auch Herr Kauder hat sich dahin gehend geäußert -, der darauf verweist, dass dieser Zustand möglicherweise verfassungswidrig sei, dann glaube ich, dass es doch genau richtig ist, dass wir hier heute darüber diskutieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist doch nicht so, dass bei Ihnen ein Erkenntnisdefizit besteht. Nach knapp einem Jahr muss man schon sagen, dass es auch kein Handlungsdefizit mehr sein kann; denn Sie wissen eigentlich, was zu tun ist. Ich befürchte, die FDP wird langsam ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen. Wer sich in der Opposition laut gegen Netzsperren ausspricht, dann aber in der Regierung taktiert und abwartet, der muss sich schon fragen lassen: Was ist eigentlich aus den guten Ansätzen geworden? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Klingbeil, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich von den Linken? Lars Klingbeil (SPD): Ja, gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Wunderlich, bitte. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Schönen Dank. - Herr Kollege Klingbeil, ich habe eine Frage an Sie. Sie sagten, das Gesetz sei per Ministerialerlass ausgesetzt worden, die Koalition warte ab und wolle evaluieren. Das heißt, das Gesetz wird - wenn ich das richtig verstehe - nicht angewendet; (Jimmy Schulz [FDP]: Doch!) gleichwohl soll es evaluiert werden. Ihnen dürften die verfassungsrechtlichen Bedenken, die seinerzeit vom jetzigen Staatssekretär Stadler und auch von der jetzigen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gegenüber diesem Gesetz geäußert worden sind, bekannt sein, ebenso wie dem Rest der FDP-Fraktion. Gehe ich recht in dieser Annahme? Lars Klingbeil (SPD): In dieser Annahme gehen Sie recht. Umso dringender ist es, dass heute unser Antrag behandelt und nicht noch weiter abgewartet wird. Wir befinden uns in einem Zustand, der schnellstens geklärt werden muss. Sie haben darauf hingewiesen; es gibt bereits entsprechende Äußerungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss kommen. In einem Argumentationspapier, das vier junge FDP-Abgeordnete - lassen Sie mich anmerken, dass ich diese vier jungen, dynamischen Kollegen alle sehr schätze - in dieser Legislaturperiode vorgestellt haben, heißt es: Die FDP-Fraktion der 16. Wahlperiode hat im Juni 2009 geschlossen gegen das Zugangserschwerungsgesetz gestimmt. Dies hat uns in der Internet Community, bei Fachleuten und insbesondere auch bei zahlreichen Jung- und Erstwählern viel Sympathie und Respekt verschafft. Liebe FDP, das waren noch Zeiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was ist nur aus dieser klaren Linie geworden? Ich wünsche viel Glück bei den Verhandlungen und sage auch: Linke, Grüne und SPD laden ein, an dieser Stelle Spur zu halten. Ich hoffe, die FDP wird nicht zum netzpolitischen Geisterfahrer. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Christian Ahrendt von der FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) Christian Ahrendt (FDP): Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Klingbeil, Spurhalten ist immer gut, wenn es eine klare Spur gibt. Wenn es aber einen solchen Zickzackkurs, einen solchen Wendekurs in einer Geschwindigkeit gibt, wie ihn die SPD an den Tag legt, dann ist das Spurhalten wirklich schwierig. Insofern haben Sie sich vielleicht gerade bei diesem Gesetz ein Stück weit den Begriff des Wendehalses verdient. (Burkhard Lischka [SPD]: Ein bisschen billig!) Was mich an dieser Debatte aber viel mehr stört, ist ein ganz anderer Punkt. Hören Sie zu! Eigentlich sind die Auffassungen bekannt. Die einen möchten weiterhin sperren, die anderen möchten das Sperrgesetz aufheben. Man beklagt, dass die Regelung, die gefunden worden ist, um das Gesetz derzeit nicht anzuwenden, nicht verfassungskonform sei. Man kann die Debatte auch weiter führen; aber sie geht an einem ganz zentralen Punkt vorbei, über den wir uns wirklich Gedanken machen sollten. Wenn Sie bei der Telekom nachfragen, wie viele Urheberrechtsverletzungen in einem bestimmten Zeitraum im letzten Jahr verfolgt worden sind, bekommen Sie als Antwort eine sehr spannende Zahl. Im Zeitraum von Januar bis September letzten Jahres sind 2,6 Millionen IP-Adressen bei der Telekom abgefragt worden, um Urheberrechtsverletzungen zu verfolgen. Im selben Zeitraum - das ist das Ergebnis einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke - sind 1 407 Internetseiten, die dem Bundeskriminalamt bekannt geworden sind, durch die entsprechenden Stellen gelöscht worden. Das ist doch ein spannendes Verhältnis: Fast 2,7 Millionen Urheberrechtsverletzungen, aber nur 1 407 Internetseiten kinderpornografischen Inhalts, die vom Netz genommen worden sind. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist: Das Problem ist nicht so groß, wie wir glauben. Dafür steht ein Argument, das wir immer anführen, nämlich dass die kinderpornografischen Inhalte in Netzwerken außerhalb des World Wide Web ausgetauscht werden und dass das, was wir mit den Sperren zu greifen versuchen, ganz woanders stattfindet, dass sich die Kriminalität an einer ganz anderen Stelle aufgebaut hat. (Beifall bei der FDP) Die zweite Möglichkeit ist, dass wir das ganz andere Problem haben, gar nicht alle Fälle aufklären zu können, wenn es im World Wide Web wesentlich mehr Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt gibt. Auch dann haben wir nicht das Problem, zu entscheiden, ob wir die Seiten sperren oder löschen, sondern dann haben wir das Problem, dass wir gar nicht genug Beamtinnen und Beamte haben, um das durchführen zu können. Um das Problem zu lösen, müssen die Seiten nämlich aufgespürt, identifiziert und gelöscht werden. Nachdem Sie hier einen Gesetzentwurf eingebracht haben, wollen Sie ihn nun durch einen Initiativantrag in irgendeiner Form befördern. Liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie sich mit dem Thema wirklich auseinandersetzen wollen und es diese zahlenmäßige Differenz gibt, wäre es wichtig gewesen, einmal vorzuschlagen, wie das Problem eigentlich gelöst werden soll. Darum geht es. Kinderpornografie im Internet bekämpft man nicht, indem wir uns hier über das Löschen oder das Sperren unterhalten, sondern indem wir die Vollzugsdefizite beseitigen, um diese grausamen Seiten aus dem Netz zu nehmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Ahrendt, Sie regieren! Seit einem Jahr regieren Sie! Los geht's!) Das ist der eigentliche Punkt, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Wir befinden uns in der entsprechenden Diskussion mit unserem Koalitionspartner. Deswegen werden die Ergebnisse, zu denen wir in diesen Beratungen kommen, wesentlich erfolgversprechender sein als das, was Sie von der Opposition hier vortragen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP - Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da sind wir aber sehr gespannt!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/4427 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Kultur und Medien zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 6 auf: Vereinbarte Debatte Weißrussland - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache wiederum eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Gibt es Widerspruch dazu? Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Michael Link von der FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) Michael Link (Heilbronn) (FDP): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Alle Fraktionen des Bundestages haben sich gemeinsam zu dieser vereinbarten Debatte zusammengefunden - ich danke insbesondere Marieluise Beck für die ursprünglich von ihr ausgegangene Initiative -, um geschlossen ihr Entsetzen über die brutale Gewalt des belarussischen Regimes gegen seine eigene Bevölkerung auszudrücken. Wir sind schockiert über das Verhalten Lukaschenkos. Noch Anfang November hatte er dem besuchenden Bundesaußenminister Westerwelle und seinem polnischen Kollegen Radek Sikorski vollmundig versprochen: Diese Wahlen werden frei; Sie können selber nachzählen. Er hat sein Versprechen auf zynische Art und Weise gebrochen. Dieses Versprechen war nichts wert. Die Bilder der exzessiven Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten verursachten einen Schock, der nachwirkt. Es kam zu blanker Unterdrückung, purer Willkür und einem Wüten der Sicherheitsdienste auf einem auf europäischem Boden lange nicht mehr gesehenen Niveau. Es fällt schwer, zu glauben, dass so etwas gerade einmal eineinhalb Flugstunden von Berlin entfernt stattfindet, in fast gleicher Entfernung wie Paris. Die gemessene Entfernung nach Belarus, nach Minsk mag klein sein; die gefühlte Entfernung entspricht zurzeit dem Durchmesser eines Kontinents. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass es nicht zu einer Eiszeit kommt, die letzten Endes noch stärker auf dem Rücken der belarussischen Bürger, der Zivilgesellschaft, ausgetragen wird. Die OSZE hat in einer Klarheit, wie es in der Geschichte der OSZE selten der Fall war, erklärt, dass die Wahlen weder frei noch fair waren, sondern dass elementare Grundsätze transparenter und demokratischer Wahlen verletzt worden sind. Zehntausende Bürger demonstrierten am Wahlabend und in den Tagen danach für ein Ende des Autoritarismus und eine Annäherung an demokratische Strukturen. Sie wurden brutal niedergeknüppelt. Es gab Hunderte Festnahmen, Razzien, KGB-Gewalt, Verrat, Unterdrückung jeglicher Kritik im Keim, systematische Verfolgung, einen kalten Wind der Unterdrückung, Geruch eines Regimes aus spätstalinistischer Zeit. Sieben der neun Präsidentschaftskandidaten der Opposition wurden verhaftet, einige wie Andrej Sannikow zum Teil schwer verletzt und bewusstlos geschlagen. Einige befinden sich immer noch im Krankenhaus bzw. in Kontakt mit den Anwälten. Wir sollten alles tun, um ihnen Rechtshilfe zu leisten, soweit es unter diesen Umständen möglich ist. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich von den Präsidentschaftskandidaten rede, dann will ich die mutigen Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft ausdrücklich hinzufügen. Allen voran möchte ich stellvertretend Irina Chalip nennen. Ich glaube, wir als Deutscher Bundestag müssen all jenen, die dort mutig auf die Straße gegangen sind, unseren Respekt und unsere Solidarität ausdrücken und daran arbeiten, ihnen konkret zu helfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, letztes Jahr erweckte die Entwicklung in Belarus den Eindruck, es gäbe eine Art Tauwetter. Ich glaube, wir alle sind uns darin einig. Viele traditionelle Besucher des Minsk-Forums sind anwesend. Ich selber konnte leider im letzten November nicht teilnehmen. Ich habe das nach dem, was geschehen ist, umso mehr bedauert, weil man den Eindruck hat, dass es sicherlich wichtig gewesen wäre, mit jeder menschlichen Begegnung die dortigen Vertreter und Freunde zu unterstützen. Wir alle haben gehofft, dass es eine Art Tauwetter gibt. Es gab immerhin real die Möglichkeit, im belarussischen Fernsehen Wahlspots zu senden. Es gab auch eine Live-Debatte. Das alles waren immerhin kleine Fortschritte. Doch alles in allem war es eine Fehleinschätzung. Lukaschenko hat niemals auch nur im Traum daran gedacht, die Macht aus den Händen zu geben. Dennoch war es, glaube ich, den Versuch wert, den Weg zu gehen, alles auszutesten, was ging. Bei diesen tastenden Versuchen hat es sich allerdings erneut als Fehler herausgestellt, naiv heranzugehen. Ich glaube, einige von uns - ich schließe mich davon nicht aus - haben auch immer wieder einmal gedacht, dass wir schon mehr erreicht haben, als es tatsächlich der Fall war. Lukaschenko wollte testen, was er von Europa bekommt. Als er aber immer wieder - erfreulich klare - Signale bekommen hat wie beim Westerwelle/Sikorski-Besuch und beim Besuch vieler anderer Außenminister und die vielen Signale aus den Parteien, die hier vertreten sind, und aus den vielen Gesprächen, die er mit Vertretern aus Brüssel in Belarus geführt hat, dass er ohne echte Fortschritte bei Menschenrechten nicht so einfach durchkommt, hat er sich doch wieder dort Hilfe geholt, wo er in der Vergangenheit leider schon sehr oft Unterstützung bekommen hat, um sein Regime weiter zu verlängern, in Russland. Dieser Versuch, sich tatsächlich zu öffnen und nicht mehr so stark auf russische Hilfe angewiesen zu sein, ist misslungen. Er hat leider von russischer Seite wieder sehr viel mehr Hilfe bekommen, als wir es vermutet hatten. Trotzdem sollten wir uns gemeinsam mit allen, auch in Moskau, die bereit sind, daran zu arbeiten, darum bemühen, neue Wege zur Öffnung in Belarus zu finden. Denn ich glaube, es ist klar, dass er mit seinem Regime mittlerweile für alle Nachbarn ein Problem darstellt. Wir können deshalb keine einseitigen Schuldzuweisungen machen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was können wir tun? Wir haben nicht sehr viele Hebel, aber einige sind sehr effizient. Wir müssen aber bei allen Methoden und Entscheidungen prüfen, ob sie nicht die Falschen treffen würden. Zunächst die politischen Hebel. Wir haben die OSZE. Kollegin Zapf wird nach mir reden. Liebe Frau Zapf, Sie haben sich wie kaum jemand sonst in diesem Hause - Marieluise Beck habe ich schon genannt; Roland Pofalla hat sich mit seinen Einsätzen im Bereich Minsk sehr verdient gemacht - mit dem Bereich Belarus beschäftigt. Sie leiten die Arbeitsgruppe Belarus in der OSZE-PV. Damit haben wir einen Hebel. Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob wir nicht auf der anstehenden OSZE-PV eine Generaldebatte zum Thema Belarus führen und ob wir als Deutscher Bundestag einen Antrag zum Thema Belarus einbringen sollten. Das wäre eine schöne Gelegenheit, die in Kürze bevorsteht, nämlich am 24./25. Februar. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir sollten auch über Wege nachdenken, wie wir den Dialog mit der Zivilgesellschaft möglichst weitgehend an den offiziellen Stellen vorbei führen können, um die Richtigen zu ermutigen. Wir sollten so oft wie möglich auch selbst hinfahren und unsere Hilfe nicht denjenigen in der Regierung zukommen lassen, die sie den wirklich Bedürftigen und Betroffenen vorenthalten. Bei den konkreten Maßnahmen über das Politische hinaus sollten wir darüber nachdenken, inwiefern wir im Bereich des Internationalen Währungsfonds tätig werden. Nach dem, was geschehen ist, geht es nicht an, dass Lukaschenko weiter IWF-Kredite erhält, als ob nichts geschehen sei. Darüber müssen wir verstärkt nachdenken. Dieser Hebel würde an der richtigen Stelle ansetzen, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Aber er erfordert die Entschlossenheit sehr vieler Mitspieler. Daran müssen wir klug, aber sehr entschlossen arbeiten. Wir müssen uns bei allen anderen Maßnahmen, die anstehen, aber auch an die eigene Nase packen, zum Beispiel bei der Östlichen Partnerschaft. Wir müssen klare Worte finden. Wenn Ungarn tatsächlich wie geplant den Gipfel zur Östlichen Partnerschaft in Budapest abhält, dann müssen wir mit Belarus, wenn nötig vor oder hinter den Türen, in einer klaren Sprache sprechen. Das müssen wir aber auch - das sage ich uns allen - bei anderen schwierigen Partnern der Östlichen Partnerschaft wie der Ukraine tun, wo die Entwicklungen nicht erfreulich sind; das sage ich ausdrücklich für meine Partei. Die uns nahestehende Stiftung ist - das geht vielen hier im Hause so - über die Situation in der Ukraine extrem besorgt. Das müssen wir rechtzeitig ansprechen. Das Gleiche gilt für die drei Länder des Südkaukasus, und das gilt auch für Fälle wie Usbekistan. Präsident Karimow ist auf Einladung von Herrn Barroso gerade in Brüssel. Auch dort müssen wir deutliche Worte sprechen. Wir dürfen weder naiv noch mit Schaum vor dem Mund an die Dinge herangehen, sondern wir müssen die Dinge mit Augenmaß und dennoch sehr deutlich ansprechen. Letzte Bemerkung. Der nächste konkrete Schritt für uns sollte sein, im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Antrag, den wir, CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, erarbeiten wollen, über dieses Thema zu sprechen. Lukaschenko mag es vielleicht gelungen sein, sein Volk für den Moment einzuschließen. Aber wir dürfen und werden nicht wegsehen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Belarus den Weg zurück in die europäische Wertegemeinschaft findet, in der es von 1990 bis 1994 schon einmal war, bevor Lukaschenko an die Macht kam und das Land de facto aus dem Europarat ausgeschlossen werden musste. Das sind wir insbesondere den tapferen Demonstranten in Minsk schuldig. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion. Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag, den 18. Januar, erschien in der FAZ ein Artikel mit der Überschrift "Nichts hat funktioniert". Der Untertitel war: "Europa und der Umgang mit Weißrussland - eine Geschichte der Ratlosigkeit". Seit dem 19./20. Dezember ist es auch eine Geschichte der Fassungslosigkeit, der Trauer, der Wut und des tiefen Erschreckens über die Brutalität, mit der Lukaschenko nach der gefälschten Wahl protestierende Bürger niederknüppeln ließ und seine Gegenkandidaten und ihre Kampagnenhelfer wegen Anstiftung zum Aufruhr anklagen lässt. Seit diesem Tag hören und lesen wir täglich von Repression und Verfolgung, Durchsuchungen und Anklagen, Einschüchterungen, Racheakten an Oppositionellen, sogar vom Verschwinden von Familienangehörigen. Studenten werden von den Universitäten verwiesen. Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und sind Bedrohungen ausgesetzt, und das jeden Tag. Wenn Sie auf die Internetseite von Belapan gehen, dann lesen Sie von vielen solchen Fällen. Das geschieht systematisch und reicht bis in die tiefste Provinz. Dies ist in der Tat ein "Schlag ins Gesicht der Annäherungspolitik", wie es jemand aus dem Auswärtigen Amt genannt hat. Die OSZE und die EU müssen natürlich reagieren. Kollege Link, das, was Sie im Hinblick auf die OSZE vorgeschlagen haben, würde ich gerne machen. Aber es gibt rigide Regeln, die festlegen, was auf der Wintertagung zu passieren hat. Dort gibt es überhaupt keine Resolutionen oder Ähnliches. Kollege Wellmann, wir werden das natürlich in der Generaldebatte und in den Komitees an erster Stelle erwähnen. Da geht es darum, was wir auf der Jahressitzung im Sommer machen. Dann wäre es möglich, eine Resolution einzubringen. Kollege Wellmann, wir müssen uns auch darüber verständigen, wie wir mit der Arbeit der Working Group on Belarus im Rahmen des OSZE umgehen sollen. Business as usual geht nicht. Mich hat - das empfinde ich als eine regelrechte Unverschämtheit - am 21. Dezember der neue Vorsitzende der belarussischen OSZE-Delegation angeschrieben: Wir wollen doch zusammenarbeiten. Wir wollen das Seminar, das Sie vorgeschlagen haben und das bisher immer verschoben wurde, jetzt machen. - Das geschah am 21. Dezember 2010, nachdem die Knüppelei am 19. und 20. Dezember 2010 losgegangen war. Das ist etwas, was mir sehr nahegeht. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Botschaft hat Champagner an uns verschickt!) - Das ist wahr. Und Pralinen. - Noch am 3. Dezember 2010 - Herr Link, Sie erwähnten den Besuch des Außenministers - hat Lukaschenko mit seinem eigenen Füllfederhalter seine Unterschrift unter das Astana-Dokument gesetzt und somit die OSZE-Prinzipien Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie freie und faire Wahlen unterschrieben. Aber diese Werte sind durch die Polizei in den Dreck geknüppelt worden. Es ist richtig, dass wir deshalb ratlos sein dürfen. Wir wissen aber auch, dass das, was wir gemacht haben, nicht funktioniert hat. Gerade Deutschland hat viel gemacht. Ich erinnere an die Extraprogramme, die wir noch bis letztes Jahr mit finanziellen Mitteln von bis zu 5 Millionen Euro versehen haben, um unterschiedlichste Gruppen in Belarus zu unterstützen. Dies geschah auch in dem Bewusstsein, dass wir mit einem solchen menschlichen Verhalten für Demokratie, für Freiheit und für Menschenrechte werben. Ich habe aber schon öfter gesagt: Die Sticks and Carrots haben nichts geholfen. Wir haben keine Sticks mehr, und die Karotten wollen sie nicht nehmen. Deshalb sind wir ratlos. Dennoch müssen wir den Dialog aufrechterhalten; ich unterstreiche das, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Link. Natürlich müssen wir alles unternehmen, damit wir den Kolleginnen und Kollegen in Belarus, die in der Opposition zurzeit unterdrückt werden wie noch nie, Unterstützung geben. Die Hoffnung auf Verbesserungen sind zerstoben. Ich denke trotzdem, dass der Schock nicht dazu führen wird, dass wir in Schockstarre verharren. Es wird zu einem gemeinsamen Antrag kommen. Wir werden genau überlegen, welche Forderungen wir aufstellen sollen und müssen. Dazu gehört als Erstes die Freilassung der Gefangenen, das Fallenlassen der Anschuldigungen, der Rechtsbeistand, der Zugang zu den Verhafteten und die medizinische Versorgung der Hungerstreikenden und der Verletzten. Ich denke, das versteht sich von selbst. Zwei der Kandidaten sind verletzt worden: Nekljajew und Sannikow. Lebedko hat seinen Hungerstreik abgebrochen, Statkevich meines Erachtens noch nicht. Auch an dieser Stelle ist unsere volle Solidarität ganz wichtig. Wir wollen das Reiseverbot aufleben lassen und auf diejenigen, die an der Knüppelei teilgenommen haben, ausweiten. Wir wehren uns auch nicht dagegen, die Auslandskonten zu sperren. Wir wollen die Schuldigen sanktionieren, aber nicht das Volk. Deshalb fordern wir auf der anderen Seite Visa-Erleichterungen für all diejenigen, die an diesen Maßnahmen nicht beteiligt waren. Wir wollen die Studenten unterstützen, die unsere Unterstützung brauchen. Wir müssen für diese Studenten auf alle Fälle mehr Stipendien als bisher bereitstellen. Wir wollen neue Wege finden, die Zivilgesellschaft zu schützen. Ich möchte auf einige Möglichkeiten hinweisen. Wir wollen Menschenrechtler, Journalisten und Rechtsanwälte unterstützen, die die schwierige Arbeit in den Organisationen, die ich aus ganzem Herzen bewundere, leisten. Sie leisten eine hervorragende Arbeit. Außerdem müssen wir die vorhandenen Finanzinstrumente nutzen. Es gibt ein Finanzinstrument, das zur Unterstützung solcher Gruppen angewandt werden kann, ohne dass wir deshalb mit der Administration und der Regierung einen Vertrag abschließen müssen. Das ist das European Instrument for Democracy and Human Rights, also für Demokratie und Menschenrechte. Das müssen wir nutzen, aber bitte nicht so bürokratisch, wie sonst die Finanzinstrumente gehandhabt werden. Wenn die Leute zwei Jahre lang auf Geld warten müssen, dann ist das Ganze natürlich sinnlos. Wir müssen auch versuchen, die Familien zu unterstützen, die jetzt ihrer Existenzgrundlage beraubt sind, weil die Oppositionellen im Gefängnis sitzen. Diese werden möglicherweise 15 Jahre lang weggesperrt, oder es kommt möglicherweise sogar noch schlimmer, wenn es um eine Anklage wegen Hochverrats geht. Deshalb müssen wir schauen, wie wir dort agieren können. Das Europäische Parlament - das habe ich auch in dem Entwurf gesehen, in dem alle schon ein bisschen etwas hineingeschrieben haben - fordert eine unabhängige internationale Untersuchungskommission unter Leitung der OSZE. Ich denke, gerade die OSZE bietet durch den Moskauer Mechanismus die Möglichkeit, eine solche Untersuchungskommission zu installieren, die für solche Fälle gedacht ist. Herr Staatsminister Hoyer, deshalb fordern wir, dass die Bundesregierung innerhalb der OSZE darauf hinwirkt, dass dieser Moskauer Mechanismus in Kraft gesetzt werden kann. Ich hoffe, dass das auch klappt. Herr Link, Sie haben gesagt: Wir wollen mit Russland zusammen etwas erreichen. - Ehrlich gesagt habe ich daran so meine Zweifel. Inwieweit ist denn auch Russland daran beteiligt, dass Wahlbetrug honoriert worden ist? Wieso sagt Russland und wieso sagen einige Abgeordnete wie Sjuganow, der sich auch dort aufgehalten hat, das sei eine innere Angelegenheit? Diese Argumentation unter diesen Brüdern kennen wir doch. Deshalb bin ich nicht sicher, dass Russland, das von dem profitiert, was an Annäherung von Belarus in die Arme Russlands geschehen ist, sich jetzt auf die Menschenrechtsseite schlagen wird. Es gibt zwar in Russland Menschenrechtler, die sich auch gemeldet haben. Ich glaube aber nicht, dass Medwedew, Putin oder andere dies tun. Lassen Sie mich als Letztes noch einmal diese etwas groteske Geschichte aufgreifen, dass Polen und Deutschland diejenigen sind, die offensichtlich die Kalaschnikows wieder unter dem Bett hervorgeholt haben und die diese Umstürze versucht haben zu provozieren. Das ist bereits dreimal wiederholt worden. Allmählich wird es schon ein bisschen merkwürdig. Wenn man etwas drei Mal wiederholt, dann meint man es offensichtlich ernst. Ich denke, dagegen müssen wir angehen. Sjuganow hat gesagt, Lukaschenko habe richtig gehandelt, weil er sich rechtzeitig gegen die Tendenzen der Aufständischen gewehrt habe. Sonst wäre nämlich dasselbe passiert wie in Jugoslawien, wie in Georgien oder wie in Moldova, dass dann nämlich der Sturz der Regierung geklappt hätte. Ich denke, genau das ist die Paranoia, die dort herrscht. Deshalb wird es umso notwendiger sein, dass wir eine sehr gradlinige Stellungnahme entwickeln und trotzdem die Hand an der richtigen Stelle ausstrecken und mehr tun, liebe Freunde, als wir bisher getan haben, was Stipendien und was Visa betrifft. Darum bitte ich sehr. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die ausgestreckte Hand für die Bevölkerung!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in Minsk im Dezember eklatante Menschenrechtsverletzungen gesehen. Das, was wir an polizeilicher Gewalt und Brutalität gesehen haben, hat alles, was wir bisher dort wahrgenommen haben, in den Schatten gestellt. Wir verlangen - ich glaube, in der großen Mehrheit dieses Hauses - gemeinsam mit der zivilisierten Staatengemeinschaft erstens die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen und zweitens deren Zugang zu medizinischer Versorgung und zu anwaltlicher Betreuung. Der OSZE-Gipfel in Astana ist keine zwei Monate her. Lukaschenko hat persönlich teilgenommen. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was in der Resolution steht, die er unterschrieben hat: Wir unterstreichen, dass nur ein echter politischer Dialog in Belarus den Weg zu freien und demokratischen Wahlen ebnen kann, die ihrerseits die Grundlage für die Entwicklung einer echten Demokratie sind. Das hat er unterschrieben. Einen Dreck schert er sich darum und lässt die Demonstranten niederknüppeln. Wegen dieser Verhaltensweise, weil er 14 Tage vor den Wahlen diese OSZE-Resolution unterschrieben hat, hat er im Augenblick jegliches Vertrauen zerstört. Keiner will mit ihm im Moment reden. Das System in Weißrussland ist unvereinbar mit den Anforderungen der modernen Welt. Ohne Flexibilität, ohne freien Informationsfluss, ohne Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen fehlen diesem Land und diesem System die entscheidenden Voraussetzungen für eine Entwicklung. Viele von uns, auch die Bundesregierung, auch die Europäische Union haben in den letzten Jahren den Versuch unternommen, Weißrussland in die europäische Normalität zu begleiten. Auch viele, die hier sitzen, haben sich daran beteiligt. Es bleibt richtig, dass noch im November der Chef des Kanzleramts, Roland Pofalla, und der Außenminister, Guido Westerwelle, dort waren und mit ihm geredet haben. Sie sind von Lukaschenko desavouiert worden. Aber es ist richtig, dass dieser Versuch unternommen wurde. Es wird auch künftig - da hat Herr Link recht - Gesprächskanäle geben müssen. Die EU-Außenminister werden in drei Tagen Sanktionen gegen Weißrussland beschließen. Das ist richtig und wird, glaube ich, von einer breiten Mehrheit in diesem Hause unterstützt. Aber mit diesen Sanktionen dürfen wir nicht - das will ich ganz deutlich sagen - die Bevölkerung und vor allem nicht die junge Generation bestrafen. Wir dürfen sie nicht aussperren. In Diskussionen in Minsk wurde uns immer wieder mitgeteilt: Wenn wir denen sagen: "Ihr seid hier eingesperrt", dann entgegnet man: Nein, ihr sperrt uns aus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vergessen wir bitte nicht, dass die demokratischen Parteien in diesem Haus von alters her für Freizügigkeit eingetreten sind, nicht nur für die Menschen in der DDR, vor dem Mauerfall auch für die Menschen in Polen, in den baltischen Ländern, in Russland, in Weißrussland, in der ganzen früheren Sowjetunion. Dies dürfen wir nicht vergessen. Die Europäische Union gehört zum freien Teil Europas. Sie ist die Hoffnung für viele, die außerhalb leben; wir merken das immer wieder, wenn wir außerhalb der Europäischen Union reisen. Wir müssen uns öffnen für die Verzweifelten in Weißrussland, für die, die jetzt ihren Studienplatz verloren haben und die verfolgt werden, eingesperrt werden oder zum Militär eingezogen werden, weil sie ihre politische Meinung gesagt haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir sollten alle darauf dringen, das Visaregime zu erleichtern. Wir sollten leichten Zugang, zu uns zu kommen, insbesondere für die junge Generation schaffen, für Studenten, für Schüler, für Wissenschaftler. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Jawohl!) Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass wir hinreichend Studienplätze und auch Stipendien schaffen, damit diese Leute hier ein Auskommen haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man bedenke neben dem humanitären Aspekt auch, dass es sich in aller Regel in Weißrussland um hervorragend qualifizierte Personen handelt, gerade in den technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen. In der Welt von heute habe ich folgende Überschrift entdeckt: "Brüderle: Fachkräfte verzweifelt gesucht". Das ist für diejenigen, die wir noch überzeugen müssen, ebenfalls ein Aspekt: dass gute Leute kommen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der eigenen Fraktion anfangen, auch bei dieser Frage!) - Herr Altsenator Wieland, es gibt immer noch einige bei uns - ich weiß das -, die befürchten - (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat er!) - nun hören Sie doch erst einmal zu -, dass Europa von Wellen von Schwerstkriminellen und Prostituierten überschwemmt wird, wenn wir eine Visa-Erleichterung vornehmen. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer suggeriert das denn? Ich erinnere nur an die Visaaffäre!) Ich darf hier einmal sagen: Diese Kriminellen kommen sowieso zu uns; sie finden ohnehin Wege zu uns, wie auch immer. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte man gerne mal vor ein paar Jahren gehört!) - Frau Müller, wir haben doch Konsens. Wir müssen uns an dieser Stelle doch nicht streiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Kerstin Müller [Köln] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir haben auch unsere Erfahrungen gemacht!) Ich spreche doch ganz in Ihrem Sinne. Keine Reflexe! - Die Frage der Kriminalitätsbekämpfung - wie halten wir Kriminelle draußen? - darf uns nicht davon abhalten, diejenigen hereinzulassen, die wir hier haben wollen. Lieber Herr Staatsminister Hoyer, fühlen Sie sich doch bitte durch die Stimmung in diesem Plenum ermutigt. Helfen Sie dem Kabinett über die Hürde, was Visaerleichterungen angeht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir als Parlamentarier auch!) Lassen Sie uns die Tür etwas weiter aufmachen. Das ist gut für uns und gut für die Menschen in Osteuropa. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt sind wir gespannt!) S tefan Liebich (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Link, Frau Zapf, Herr Wellmann, wir sind uns in den allermeisten Fragen einig. Herr Wellmann hat gerade über Konsens und Reflexe gesprochen. Weil wir uns in den allermeisten Fragen einig sind, gehe ich davon aus, dass wir jetzt auch umgehend in die Gespräche einbezogen werden. Wir würden uns gerne daran beteiligen. Sie werden doch bei einem so ernsten Thema hier nicht mit den Albernheiten der Vergangenheit weitermachen wollen. Ich denke, es ist wichtig, dass es ein gemeinsames Signal des Hauses gibt. Wir möchten an diesem Signal gerne mitwirken. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf des Abg. Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]) Die Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus werfen ein bezeichnendes Licht auf Präsident Lukaschenko. Es gibt ein Klima der Angst in Minsk und im Land. Es gibt ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstranten. Unmittelbar nach der Wahl erfolgte die Verhaftung mehrerer Präsidentschaftskandidaten. Es gab eine Verhaftungswelle, die über 700 Menschen betraf. Das ist nicht zu akzeptieren. Damit nicht genug: Studenten und Dozenten, die protestieren, fliegen von der Uni. Das Büro der OSZE musste schließen, obwohl Belarus Mitglied der OSZE ist. Frau Zapf, ich kann Ihnen nur recht geben: Der Vorwurf von Lukaschenko, in Minsk seien polnische und deutsche Spezialeinheiten an einer Umsturzvorbereitung beteiligt, ist an Absurdität einfach nicht zu überbieten. Unsere Partnerpartei in der Europäischen Linkspartei, die United Party of the Left in Belarus, ist, was das Vorgehen gegen die Opposition angeht, Betroffene. Unser Parteivorsitzender Lothar Bisky hat mit deren Vertretern gerade vor einigen Tagen über das repressive Vorgehen der Regierung gegen die Demonstranten gesprochen. Diese Partei fordert selbstverständlich harte Sanktionen und bezweifelt die Wahlergebnisse. Ich sage das auch deshalb, weil entgegen anderslautenden Gerüchten unsere Partei, Die Linke, mit den Leuten, die dort regieren, nichts zu tun hat und auch nichts zu tun haben will. (Beifall bei der LINKEN - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Für uns ist klar: Eine freie Meinungsäußerung muss möglich sein, Wahlen müssen frei und fair sein, und das Ergebnis ist - und zwar sowohl vom Westen, wenn der Wahlsieger Lukaschenko hieße, als auch von den bisherigen Machthabern, wenn ein alternativer Kandidat gewinnen würde - zu akzeptieren. Die Charta von Paris, die im Jahr 1990 - auch mit Belarus - beschlossen wurde, hält fest: ... niemand darf: willkürlich festgenommen oder in Haft gehalten werden, der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden; jeder hat auch das Recht: seine Rechte zu kennen und auszuüben, an freien und gerechten Wahlen teilzunehmen, auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren, wenn er einer strafbaren Handlung beschuldigt wird ... Diese Prinzipien der OSZE wurden von Belarus unterschrieben und gerade erneut von Lukaschenko bekräftigt. Frau Zapf hat darauf hingewiesen. Wir dürfen natürlich nicht hinnehmen, dass diese Rechte mit Füßen getreten werden. (Beifall bei der LINKEN) Das Ganze ist besonders tragisch; denn - darauf wurde hingewiesen - es gab ja klitzekleine Verbesserungen. Es gab winzige demokratische Standards. Und jetzt sind wir so weit zurückgeworfen worden. Nun gibt es natürlich die Frage, wie Deutschland reagieren soll. Das kann selbstverständlich nur im Verbund mit der Europäischen Union geschehen. Hier ist eine gemeinsame, deutliche Sprache erforderlich. Auch sollte es keine doppelten Standards geben. Meinen Vorrednern muss ich schon sagen - sie erwähnten kurz Astana; dabei muss ich verweilen -: Auch in Astana wird regiert. Der Staatschef von Kasachstan, Nursultan Nasarbajew, hat in den Häusern seines Parlaments nur Abgeordnete einer Partei, seiner eigenen Partei. Die Wahlen, die dazu geführt haben, haben nicht den Standards entsprochen, die die OSZE für Wahlen vorsieht. Gibt es eine Einreisesperre gegen Herrn Nasarbajew? Im Gegenteil: Kürzlich haben sich 56 Staats- und Regierungschefs in Astana bei ihm die Klinke in die Hand gegeben, um den ungefähr überflüssigsten OSZE-Gipfel durchzuführen, den es je gegeben hat. Auf weitere Beispiele will ich nicht hinweisen, die kennen Sie ja alle selber. Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir in Belarus den Dialog mit der Zivilgesellschaft weiter ermöglichen, dass es eine zügige Visaliberalisierung gibt. Ja, ich bin skeptisch bei Sanktionen. Da bin ich nicht der Einzige. Diese Diskussion gibt es auch im Europäischen Parlament und hier im Hause. Ich teile die Sorge von Herrn Wellmann, dass diese Sanktionen die Falschen treffen. Aber ganz klar ist: Die Linke tritt für demokratische und Freiheitsrechte ein. Wir fordern die sofortige Freilassung von politisch motiviert Inhaftierten. Das Büro der OSZE in Minsk muss wieder eröffnet werden. Das Land darf nicht isoliert werden; im Gegenteil: Der Dialog mit der Zivilgesellschaft muss verstärkt werden. (Beifall bei der LINKEN) Lassen Sie mich mit der Charta von Paris schließen: Wir bekräftigen, jeder Einzelne hat ohne Unterschied das Recht auf: Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glaubensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Vereinigung und friedliche Versammlung ... Dem haben wir nichts hinzuzufügen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es besteht Fassungslosigkeit über die ungehemmte Gewalt und Brutalität in Minsk. Das scheint uns alle zu überraschen. Das fällt aber auf uns zurück, nämlich auf unser kurzes Gedächtnis. Dieser dicke Bericht, den ich mitgebracht habe, ist eine Untersuchung mit dem Titel "Willkür im Lukaschenko-Staat". Es geht um vier Menschen - ich möchte auch die Namen noch einmal nennen, damit sie nicht vergessen werden: Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krasowski und Dimitri Sawatzki -, die in den Jahren 1999 und 2000 verschwunden sind, in Minsk, zu einer Zeit, als die OSZE vor Ort war und mit vielen diplomatischen Gesprächen und Initiativen versuchte, das Regime zu begleiten und auch zu verändern. Der Berichterstatter des Europarats, Christos Pourgourides, hat in seinem Sonderbericht mit der Aussage geendet, dass er starke Anhaltspunkte dafür fand, dass die Personen offenbar auf Weisung und mit Billigung von Verantwortlichen der Staatsführung in Belarus verschwanden und möglicherweise getötet wurden. Das ist nicht Chile, und das ist nicht Argentinien, sondern das ist Minsk 1999 und 2000. Das heißt, wir haben genau gewusst oder wir konnten wissen, mit wem wir es zu tun haben. Nun kann man sagen: Gut, es ist legitim, dann, wenn man mit einer Politik der Isolation nicht weiterkommt, im Interesse der Menschen im Land eine andere Strategie zu versuchen. - Da sind zu nennen die erneuten Initiativen der OSZE und die Politik der östlichen Partnerschaft. Trotzdem haben wir uns 2006 geirrt, als wir sagten: "Es gibt Fortschritte", während Kasulin, einer der beiden Präsidentschaftskandidaten, zu fünf Jahren verurteilt worden ist. Heute müssen wir uns darüber klar sein, dass wir uns in einem Wettlauf mit der Zeit befinden. Herr Kasulin, der in der vergangenen Woche hier in Berlin gewesen ist, hat uns gesagt: Ein KGB-Gefängnis kann man kaum physisch oder psychisch überleben. Das heißt, wir arbeiten gegen die Zeit. Die Menschen, zu denen niemand Zugang hat - nicht das Internationale Rote Kreuz, keine OSZE-Beobachter, keine medizinischen Betreuer, keine Anwälte, keine Verwandten -, sind in großer Lebensgefahr. Das müssen wir hier noch einmal deutlich sagen. Verantwortlich ist ein Diktator, der offensichtlich durch nichts, aber auch gar nichts zu beeinflussen ist. Er kann für uns kein Partner mehr sein. (Beifall im ganzen Hause) Es stellen sich auch Fragen an Russland. Während der Wahlkampagne, die wir als politischen Frühling gesehen haben und sehen wollten, gab es eine massive Medienkampagne gegen Lukaschenko, eine Schmutzkampagne. Es wurden Kandidaten in Moskau empfangen und von Moskauer Seite auch massiv unterstützt, unterstützt dabei, gegen den Präsidenten Lukaschenko anzutreten. Zehn Tage vor der Wahl reist Lukaschenko nach Moskau. Er unterschreibt 17 Verträge. Daraufhin erklärt Putin, dieser Staatsmann, der vorher in übelster Weise denunziert worden war, sei durchaus respektabel. Ich frage, ob in Russland, einem Land, das Mitglied des Europarats ist, sich eigentlich jemand für die Kandidaten verantwortlich fühlt, die von dort unterstützt wurden und jetzt in einer KGB-Haft sitzen, die an die Lubjanka erinnert. Wir müssen die Regierenden und unsere Partner in Russland das sehr deutlich fragen. Es ist nicht so, dass ich da Illusionen hätte, aber wir dürfen sie nicht aus der Verantwortung entlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Nun kurz zu dem, was wir tun können. Ich hätte mir vorstellen können - und da hätte es nicht um Gesichtsverlust gehen dürfen -, dass eine Außenministerin Ashton oder die Außenminister Polens und Deutschlands im Rahmen einer gemeinsamen Initiative in Minsk vorstellig geworden wären und die sofortige Entlassung der Häftlinge verlangt hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich teile die Einschätzung von Staatsminister Hoyer, dass es um die Isolation des Regimes, aber nicht um die der Menschen im Land geht. Darin sind wir uns alle einig. Es gibt noch eines, was wir tun können, nämlich wirklich Reisefreiheit herzustellen. Als Honecker die Menschen eingesperrt hat, haben wir uns nicht mit Visaerleichterungen und niedrigeren Gebühren für diesen oder jenen zufriedengegeben. Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf unsere gemeinsamen Anträge aus diesem Haus von vor drei Jahren. Es geht um die Herstellung von Reisefreiheit. Schaffen wir dies nicht, helfen wir dem Diktator dabei, seine Leute einzusperren. Das kann nicht die Botschaft sein, die wir den Menschen geben. Wir wollen ihnen vielmehr sagen: Für euch, für die Bevölkerung sind die Türen in den freien Westen offen. Wir warten auf euch und werden alles tun, damit ihr eines Tages wieder in Freiheit mit uns verbunden seid. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach der engagierten Rede von Kollegin Beck und auch nach den Initiativen, die sie und unser Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in den vergangenen Wochen ergriffen haben, muss ich daran erinnern, dass dies heute kein Schlusspunkt unserer Aktivitäten sein kann. Wir sollten auch nicht einfach abwarten, was der Europäische Rat - hoffentlich - in den nächsten Tagen beschließen wird. Vielmehr muss es sich heute um einen Beitrag handeln, der aufzeigt, was folgen muss. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Gefahr ist natürlich, dass das Kalkül von Lukaschenko aufgeht, dass die prominenten Kritiker sukzessive in Vergessenheit geraten, wenn sie eingesperrt sind. Deshalb ist jegliche Initiative von uns Parlamentariern und auch von der Regierung, die dann hoffentlich auf europäischer Ebene fortgesetzt wird, hilfreich, um das Thema im Bewusstsein der Menschen zu halten. Ich bin auch dafür - Sie wissen, dass das an anderer Stelle schwieriger ist; da spreche ich auch für die Außenpolitiker unserer Fraktion -, dass wir das Thema Visaregelung auf die Tagesordnung setzen und damit deutlich machen, dass das leuchtende Bild des Westens, das von Freiheit und Meinungsfreiheit geprägt ist, auch für diejenigen erfahrbar ist, die sich jetzt in dieser schwierigen Situation befinden. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Diese Debatte gehen wir engagiert an und wollen entsprechende Maßnahmen so schnell wie möglich auf den Weg bringen. Alles, was möglich ist, um die demokratische Opposition zu unterstützen, tun wir. Wir führen entsprechende bilaterale Gespräche. Der frühere Präsidentschaftskandidat Milinkewitsch war vergangene Woche bei Kanzleramtsminister Ronald Pofalla. Er hat uns eindringlich gebeten, unsere Aktivitäten fortzusetzen. Das wollen wir auch tun. Wir waren in den vergangenen Monaten sicherlich nicht blauäugig, was Lukaschenko angeht. Angesichts der Berichte aus Minsk und seiner Äußerungen hatte man, obwohl man etwas anderes hoffte, den Verdacht im Hinterkopf, dass sein Handeln nur Show ist. Am Ende war es so. Er hat die Weltöffentlichkeit getäuscht. Insbesondere in Astana - Kollege Wellmann, Sie haben es angedeutet, Sie waren dabei - hat er versucht, die Weltöffentlichkeit hinters Licht zu führen. Deshalb müssen sich die OSZE und diejenigen, die sich mit dieser Region verbunden fühlen - dazu gehört in erster Linie Russland -, dazu verpflichten, mit uns gemeinsam jetzt mehr Druck zu machen. Sosehr ich es begrüße, dass es in der Europäischen Union gelungen ist - anders als es noch vor einigen Jahren der Fall war -, Sanktionen auf den Weg zu bringen und beispielsweise den italienischen Ministerpräsidenten davon zu überzeugen, dass es richtig ist, eine härtere Gangart einzuschlagen, bin ich doch gleichzeitig der Meinung, dass man unter bestimmten Bedingungen die Sanktionen noch weiter verschärfen sollte. Zumindest sollte man darüber diskutieren. Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, die Wirtschaftsbeziehungen so fortzusetzen, wie es momentan der Fall ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich teile zwar die Sorge, dass Sanktionen eventuell zu einer Solidarisierung mit Lukaschenko führen könnten. Andererseits sagen unsere Analysen über Weißrussland aus, dass der Hebel von harten Wirtschaftssanktionen unter Umständen helfen kann, dieser Regierung das Rückgrat zu brechen. Denn in der Tat ist es doch so, dass so viele in Weißrussland raffinierte Produkte in der westlichen Welt und auch in Russland gekauft werden, dass man ernsthaftere Wirtschaftssanktionen bis hin zu einem gänzlichen Einfrieren jeglicher Wirtschaftsbeziehungen diskutieren sollte, zumindest bis zur Erfüllung der Bedingung, dass die Präsidentschaftskandidaten freigelassen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dauerhafte Sanktionen würden natürlich auch die Bevölkerung treffen. Das will ich natürlich auch nicht, weil sonst die Wohlstandsentwicklung des Landes gefährdet werden könnte. Aber wir müssen eben - Marieluise Beck hat es eindringlich gesagt - alle Register ziehen und alle öffentlichen und diplomatischen Möglichkeiten nutzen, um dort aktiv zu sein, weil die Zeit wegläuft. Es gibt einen qualitativen Unterschied zum früheren Vorgehen von Lukaschenko, denn er hat eine Zeit lang versucht, unliebsame Gegner wegzusperren, die dann aber auch wieder freigelassen wurden. Aber nach alledem, was wir heute wissen, geht es heute nicht mehr um einfaches Wegsperren, sondern darum, die Menschen wirklich zu brechen und für immer von der politischen Bildfläche verschwinden zu lassen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Mißfelder, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich von den Linken? Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ja bitte, natürlich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte. Stefan Liebich (DIE LINKE): Herr Kollege Mißfelder, vielen Dank. Ich möchte auf die Frage der Sanktionen zu sprechen kommen. (Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Frage stellen!) Ich kann nachvollziehen, dass es den Wunsch gibt, mit möglichst harten Maßnahmen zu reagieren. Ihr Kollege Wellmann hat die Sorge formuliert, wie auch Sie, dass es unter Umständen dann auch diejenigen treffen könnte, die es - auch aus Ihrer Sicht - nicht treffen soll. Was sagen Sie zu dem Argument, dass, wenn wir harte Sanktionen beschließen, wir einfach nur einen Beitrag dazu leisten, dass die Entscheidungen in Moskau getroffen werden und immer weniger hier? Es ist ja jetzt schon so, dass sich die Frage nach IWF-Krediten dadurch erledigen könnte, dass sich Russland entscheidet, Belarus zu helfen. Es klingt erst einmal gut, zu sagen, wir beschließen harte Sanktionen. Aber praktisch führt es dazu, dass wir in einem noch geringeren Maße Ansprechpartner sind, als wir es ohnehin schon sind. Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Sie kennen ja meine grundsätzlich eher russlandfreundliche Haltung. Gerade deshalb, weil ich an vielen Stellen mit russischen Politikern vertrauensvoll zusammenarbeite und zahlreiche Gespräche geführt habe, gehe ich davon aus, dass es auch dieser russischen Regierung nicht egal sein kann, was gerade vor ihrer Haustür passiert. Selbst wenn man unterschiedliche Vorstellungen davon haben mag, zu welchem Ergebnis man in Weißrussland kommen möchte, hat Lukaschenko aus meiner Sicht - auch was die russischen Partner angeht - jeglichen Kredit verspielt. Wenn die Entscheidung in Moskau liegt, müssen wir dafür sorgen, dass wir gemeinsam mit Moskau den Druck erhöhen. Ich erwarte von dieser Debatte heute, dass als Signal nach Moskau und an die russischen Vertreter in Deutschland geht, dass wir uns natürlich von unseren russischen Partnern erhoffen, dass sie bei diesen Aktivitäten mitmachen, damit Lukaschenko das Handwerk gelegt wird. Ich glaube, dass an dieser Stelle Ihre Frage beantwortet ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Mißfelder, auch die Kollegin Beck möchte gerne eine Frage stellen. - Bitte schön. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich muss jetzt zu dem Trick 17 greifen: Herr Kollege Mißfelder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich dem Kollegen Liebich sagen möchte, - (Heiterkeit - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das können Sie mir doch direkt sagen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber nicht in dieser Debatte, weil diese Rundumdiskussionen nicht möglich sind. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - dass wir bei der Konstruktion eines IWF-Kredites in der Aufstellung einen Anteil von 270 Millionen Euro eingestellt haben, der aus dem Haushalt der Europäischen Union kommt, und dass dieses Geld dann in ein Land fließt, in dem es kein Parlament gibt, und dass es in die Hände einer Regierung fällt, über die es keine parlamentarische Kontrolle gibt, also mittelbar mit diesen IWF-Geldern und mit dem EU-Budget der Polizeiapparat und der Polizeiterror finanziert werden könnten, mit dem die Menschen zusammengeknüppelt werden? Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ja, ich bin gerne bereit, das auch dem Herrn Kollegen Liebich zur Kenntnis zu geben. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Habe ich doch schon gehört!) Er hat es jetzt aber nicht überhören können. Ich halte es für einen wichtigen Hinweis, den Sie gerade gegeben haben, weil natürlich in der Tat die bisherige Strategie war, dass er sich trotz Sanktionsmöglichkeiten so durchlavieren konnte, weil er irgendwie doch noch einen Ausweg gefunden hat. Solange sein Regime und die Finanzierung dessen so hält, hat er das geschafft. Weißrussland ist ja kein per se armes Land. Er hat es geschafft, sich dort geschickt an der Macht zu halten. Ich möchte zum Abschluss vier Forderungen aufstellen, die uns wichtig sind. Erstens. Kurzfristig muss unser Ziel sein, dass die politischen Gefangenen freigelassen werden. Deshalb setzen sich die Bundesregierung und auch der Deutsche Bundestag mit Nachdruck dafür ein. Zweitens fordere auch ich ein Einreiseverbot für Präsident Lukaschenko und seine regimetreuen Freunde und zugleich Visaerleichterungen für all diejenigen, die gegen ihn arbeiten und damit die Demokratie stärken. Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, für die Freilassung der politischen Gefangenen und für die weitere Unterstützung oppositioneller Gruppen und rechtsstaatlicher Gruppierungen, zum Beispiel NGOs, in Weißrussland selbst zu werben. Viertens können wir die Probleme in Belarus nur dann lösen, wenn wir tatsächlich - ich habe es gerade schon angedeutet - die Visabeschränkung auch generell neu definieren, weil nur Reisefreiheit, Austausch, langjährige persönliche Kontakte und Erfahrungen dazu führen können, dass Vertrauen wächst und wir eine Anbindung an die Europäische Union hinbekommen, um dem letzten Diktator in Europa das Handwerk zu legen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Dezember hatte ich zusammen mit dem Kollegen Schirmbeck die Gelegenheit, als offizieller Wahlbeobachter der OSZE in Minsk, in der letzten Diktatur Europas, dabei zu sein und den Vorkommnissen bei der Wahl beizuwohnen. Dabei ist uns vor Augen geführt worden, wie effektiv eine Diktatur Einfluss auf eine Wahlentscheidung nehmen und dies auch organisieren kann. (Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Zu unserer Beobachtungsmission gehörte auch eine kurze Diskussion mit dem Präsidenten Lukaschenko, in der wir unsere Vorstellungen von einer funktionierenden Demokratie deutlich machen konnten. Interessanterweise nahm Lukaschenko dies stillschweigend zur Kenntnis. Er ging in seinem nachfolgendem Statement nicht auf unsere Argumente ein. Im Gegenteil, er erzählte uns, wie man es von einem guten Diktator erwarten kann, wie erfolgreich das Land unter seiner Führung ist, welche Wege er in Zukunft einschlagen will und dass er alternativlos sei. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Klimke, die Frau Kollegin Beck würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Jürgen Klimke (CDU/CSU): Gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Klimke, ich halte diesen Punkt für nicht ganz unwichtig und bitte Sie, mir bei der Aufklärung dieses Besuchs im Wahllokal mit Lukaschenko Nachhilfe zu leisten. Sind Sie bereit, das zu tun? Nach den Gerüchten und meinen Informationen hatte der Kollege Schirmbeck ein Kuscheltier für das Söhnchen von Herrn Lukaschenko dabei und gab später ein Interview, in dem er sagte, dass man hier sehen könne, dass diese Wahlen nach den Vorgaben der OSZE ablaufen würden. Wir alle waren über diese Stellungnahme ziemlich entsetzt. Sie stellen das jetzt vollkommen anders dar. Ich glaube, es ist wichtig, dass dieses Parlament weiß, was in diesem Wahllokal wirklich passiert ist. Jürgen Klimke (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich gebe meinen ganz persönlichen Eindruck von vier Tagen wieder, in denen wir zunächst von der OSZE in die Voruntersuchungen eingeführt wurden. Es ist sodann ein Eindruck vom Wahltag selbst, den wir in zwölf Wahllokalen verbracht haben, und es ist auch bei der Auszählung der Stimmen ein Eindruck entstanden. Das alles ist ein sehr ambivalenter Eindruck, weil uns an diesen Tagen vorgeführt wurde, wie man etwas organisieren kann und wie man versuchen kann, vorzuführen, dass man demokratisch ist, ohne es tatsächlich zu sein. Das ist, glaube ich, das Entscheidende. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut! - Uta Zapf [SPD]: Was war das mit dem Kuscheltier?) Dieser Versuch ist misslungen; das kann ich eindeutig sagen. Aber es ist immerhin ein Versuch, den man auch zur Kenntnis nehmen muss. Man muss auch die ernüchternden Gespräche zur Kenntnis nehmen, die wir in Einzelterminen mit verschiedenen Oppositionskandidaten hatten. Dabei ist die Scheindemokratie auch wieder deutlich geworden. Diesen Kandidaten sind 30 Minuten im Fernsehen zur Verfügung gestellt worden, in denen sie ihre politischen Grundlagen darstellen konnten. Aber 90 Prozent der politischen Fernsehsendungen wurden von Lukaschenko bestimmt; das ist die andere Seite. Während von jedem Kandidaten 100 000 Unterstützerunterschriften mühsam herbeigebracht werden mussten, wurden die 1,1 Millionen, die Lukaschenko bekommen hat, natürlich in den öffentlichen Unternehmen und den Behörden unter Ausübung von Druck gesammelt. Die Menschen wurden genötigt, zu unterschreiben. Das ist doch das Entscheidende. Frau Kollegin Beck, am Wahltag selbst sollte uns vorgeführt werden, wie Wahlen frei und fair ablaufen können. Wir hatten freien Zugang. Wir konnten mit Wählern und Wahlhelfern sprechen und an der Auszählung teilnehmen. Aber das war eben nur eine Fassade. Wir konnten auch hinter die Fassade schauen. Wir haben festgestellt, dass Wahlurnen nicht bewacht wurden. Uns kam zu Ohren, dass Kandidaten mit Zwang eingeschüchtert wurden, dass Wähler genötigt wurden, das Kreuz bei Lukaschenko und nirgendwo anders zu machen. Man hatte in der kurzen Zeit eine gute Chance, die tatsächliche Situation zu analysieren. Das hat mir noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig die Aufgabe der OSZE ist, Wahlbeobachtungen durchzuführen und entsprechende Rückschlüsse zu ziehen. Wir haben nur ein Sechstel eines Eisberges gesehen; er wurde uns schön vorgeführt. Wir haben aber auch die anderen, die gefährlichen, negativen fünf Sechstel unter Wasser erahnen können. Das ist bei solch einem kurzen Besuch das Entscheidende. Ich unterstütze ausdrücklich das Außenministerium, das auf Grundlage der Erkenntnisse die richtigen Ideen für den mittelfristigen Umgang mit der Situation in Belarus entwickelt hat. Für mich ist es wichtig, dass wir die Isolierung der Verantwortlichen vorantreiben. Die Isolierung der Bürger Weißrusslands ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg. Die Menschen in Weißrussland sind Bürger Europas. Aus diesem Grund ist es nicht richtig, die Tür endgültig zuzuschlagen. Unser Plan muss sein - es wurde hier gesagt -, die Opposition zu stärken, ihre Schlagkraft einzufordern und vor allen Dingen sicherzustellen, dass die neun Oppositionskandidaten vereinter auftreten. Wir müssen Universitätspartnerschaften auflegen, den Studenten und der Jugend des Landes neue Chancen in Europa eröffnen, damit sie Europa besser kennenlernen können. Zudem müssen wir das Regime für die verhängten Strafen sanktionieren; das ist der richtige Weg. Ich nenne das Stichwort Visa; auch so etwas gehört aus meiner Sicht dazu. Zugleich ist es mir wichtig, noch einmal zu sagen, dass umfassende, langfristige Sanktionen aus meiner Sicht nicht richtig sind, weil dadurch das diplomatische Porzellan eher endgültig zerschlagen würde und wir keinen Einfluss mehr nehmen könnten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als Entwicklungspolitiker weiß ich, wie es ist, mit Staaten umzugehen, die eine schlechte Regierungsführung haben. Die grundlegende Erfahrung, die man sammeln konnte, war: Mit Sanktionen kann man nur einen kurzfristigen Erfolg haben; mit einem Boykott kann man nur kurzfristig etwas bewegen. Langfristig macht man damit aber die Chancen der Menschen in dem Lande kaputt, und genau das sollten wir in Weißrussland nicht tun. Wir sollten also den Fuß in der Tür behalten. Wir haben die Möglichkeit, dies mit Initiativen des Bundestages, die hier besprochen worden sind, kurzfristig zu erreichen. Ich halte es für völlig richtig, eine Strategie, ein Konzept zu entwickeln, das klar definierte Fortschritte bei der Durchsetzung der Menschenrechte, der Demokratisierung und der Einbindung in die westliche Sicherheitsarchitektur als prioritär ansieht. In gleichem Maße geht es darum, ein Konzept zu entwickeln, das es Deutschland und der EU erlaubt, langfristig aus unseren östlichen Nachbarn befreundete strategische Partner zu machen. Danke sehr. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf: Vereinbarte Debatte Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2011 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Werner Hoyer, das Wort. (Beifall bei der FDP) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorschau auf die kommenden Monate gebietet natürlich auch, kurz auf das vergangene Jahr zurückzublicken. In diesen Wochen arbeiten wir intensiv daran, die Beschlüsse des Europäischen Rates vom Dezember umzusetzen und weitere Wege zu suchen, wie wir unsere Wirtschaftspolitiken noch besser untereinander abstimmen können. Im letzten Jahr mussten wir immer wieder sehen, dass wir in unruhiges Fahrwasser gerieten und reagieren mussten. Ich sage ganz bewusst "reagieren", weil dies ja auch in einem Begründungszusammenhang mit dem noch in der Hauptsache laufenden Verfahren in Karlsruhe steht, Stichwort Ultima Ratio. Wir wissen nicht, was noch kommen mag, aber wir wissen, was wir verhindern müssen und was wir verhindern werden. Wir werden verhindern, dass die drei Säulen, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten getragen haben, ernsthaft beschädigt werden: Versöhnung, Wohlstand und schließlich die Überwindung der Teilung Europas. Wir dürfen uns nicht auf die Verteidigung dieser drei Säulen beschränken, so schwer dies schon sein mag. Wir müssen den Blick nach vorn richten, und das heißt zunächst, wir müssen den Euro sturmfest machen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch um die zentrale Herausforderung, um die es in dieser Zeit geht, zu bestehen. Das ist die Selbstbehauptung der Europäer in der Globalisierung. Wir brauchen eine starke Wirtschafts- und Währungsunion, in der Haushaltsdisziplin an erster Stelle steht. Wir brauchen europaweit eine Politik, die auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, auf neues Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist. Der Maßstab für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für unsere Fähigkeit, im globalen Maßstab zu bestehen, ist der globale Wettbewerb und nicht der Wettbewerb der EU-Staaten untereinander. Hierfür müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen, und dazu gehört, dass wir dafür sorgen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt. Damit sie sich nicht wiederholt, müssen die Fehler im System ausgemerzt werden. Die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die Einrichtung eines dauerhaften Krisenmechanismus sind zwei der grundlegenden Aufgaben, die die Europäische Union in den kommenden Monaten zu bewältigen hat. Es ist erfreulich festzustellen, dass wir uns hier gemeinsam mit unseren Partnern auf die wesentlichen Eckpunkte geeinigt haben. Ich sage ausdrücklich Beibehaltung des Bail-out-Verbots, Gläubigerhaftung und die notwendige Vertragsänderung. Deutschlands Stimme wird in Europa gehört. Unsere Nachbarn schätzen unsere Meinung, und sehr häufig - nicht immer verständlicherweise - teilen sie sie auch. Deswegen werden wir uns bei vielen weiteren wichtigen Vorhaben, die in 2011 zur Entscheidung anstehen, ebenso engagiert und konstruktiv wie bisher einbringen als überzeugte Europäer und in Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, zum Beispiel bei der weiteren Reform der Finanzmärkte, um Stabilität und Vertrauen in die Märkte zurückzubringen. Hier sind bereits wichtige Fortschritte erzielt worden. Wir sind bei weitem noch nicht am Ziel. Die Kommission hat nun das Ziel ausgegeben, das gesamte Reformpaket für den Finanzsektor bis Ende 2011 auf EU-Ebene zu verabschieden. Wir unterstützen dieses ehrgeizige Vorhaben, und die Bundesregierung wird mit ihrem Sachverstand, ihren Ideen zum Gelingen beitragen; ich denke, der Deutsche Bundestag auch. Dasselbe gilt für die kommenden Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020, die uns allerdings auch noch weit über 2011 hinaus beschäftigen werden. Manche Nervosität bei dem Thema ist also etwas voreilig, wie ich glaube, weil erste wesentliche Entscheidungen und ein erstes Aufeinanderzugehen erst im Jahr 2012 und - ich sage mal voraus - wahrscheinlich auch eher in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 zustande kommen werden. Dabei reden wir ja dann über die grundsätzliche Ausrichtung und die politische Prioritätensetzung der Europäischen Union über den Zeitraum von sieben Jahren und über Haushaltsmittel immerhin in einer Größenordnung von zusammen nicht weniger als 1 000 Milliarden Euro. Mit dem mehrjährigen Finanzrahmen entscheiden wir darüber, wofür dieser Betrag ausgegeben wird, und damit nicht zuletzt über die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union insgesamt. Denn diese Entscheidungen werden ja Einfluss darauf haben, in welchen Spitzentechnologien und Wachstumsbranchen zukünftig in Europa geforscht, gearbeitet und Geld verdient wird. Wenn wir Zukunft gestalten wollen, ist es wichtig, dass wir diese Möglichkeit der Beeinflussung dieser Fragen über den Haushalt der Europäischen Union im Auge haben. Im Kontext werden natürlich auch dann intensiv Gespräche über die Neugestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik zu führen sein; beide zusammen machen immerhin drei Viertel des Gesamthaushalts der Europäischen Union aus. Deshalb erfordern sie unsere größte Aufmerksamkeit, und wir dürfen jetzt den Reformelan nicht verlieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Europäischen Kommission kommt bei all diesen Vorhaben eine Schlüsselrolle zu. Sie ist nicht nur die Hüterin der Verträge, sie muss auch Motor der Integration sein. Deshalb ist die Veröffentlichung des Arbeitsprogramms der Kommission mit rund 200 Einzelvorhaben weit mehr als ein verwaltungstechnischer Routinevorgang, der jährlich aufs Neue vollzogen wird. Das Arbeitsprogramm der Kommission gibt einen wichtigen Ausblick. Mit manchem hat man gerechnet, manches seit langem herbeigewünscht, anderes kommt dagegen vielleicht etwas unerwartet und zeigt uns, wo Gesprächs- und Klärungsbedarf gegenüber der Kommission besteht. Insgesamt begrüßt die Bundesregierung die Inhalte und die Ausrichtung des Arbeitsprogramms für 2011. Die Schwerpunktsetzung ist richtig, weil sie entlang der neuen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie "Europa 2020" aufgebaut ist und Impulse zur Überwindung der Krise setzt. Wir werden uns die einzelnen Dossiers natürlich sehr genau anschauen und darüber mit dem Deutschen Bundestag diskutieren müssen. Sofern wir die Verhältnismäßigkeit eines angekündigten Vorhabens infrage stellen oder Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips haben, werden wir dies deutlich benennen und auch darüber hier im Deutschen Bundestag debattieren. Uns geht es darum, dass der Gestaltungsspielraum nationaler Politik und nationaler Parlamente nicht ohne Not eingegrenzt wird, und zwar nicht, weil wir etwas gegen Europa hätten, sondern gerade deswegen, weil wir ein wirkungsvolles, funktionsfähiges Europa wollen, das sich auf diejenigen Aufgaben konzentriert, bei denen nationales Handeln allein an seine Grenzen stoßen würde, aber durch gemeinsames, europäisches Handeln tatsächlich ein Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger herbeigeführt werden kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In diesem Sinne blicken wir auf ein Jahr 2011, in dem die entscheidenden Weichen dringend gestellt werden müssen, in dem effektive Schritte zur Überwindung der Finanzkrise und zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion unternommen werden müssen, in dem umwälzende Reformen in den öffentlichen Haushalten anstehen, in dem der Europäische Auswärtige Dienst in vollem Umfang seine Arbeit aufnehmen und zu einem angemessenen und kohärenteren Erscheinungsbild Europas in der Welt beitragen kann. Von diesem Jahr 2011 wird es später vielleicht einmal heißen, dass Europa in diesem Jahr seine Fähigkeit demonstriert hat, Fehler zu beheben und aus einer schwierigen Situation heraus zu neuer Stärke zu finden; denn die Europäische Union ist und bleibt der Garant für Frieden, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent. Die Europäische Union wird deswegen auch weiterhin von der christlich-liberalen Koalition in vollem Umfang unterstützt. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Arbeitsprogramm der Kommission gibt uns Gelegenheit, auch wenn es dafür jetzt schon ein bisschen spät sein mag - wir hatten dieses Thema schon einmal im Dezember auf der Tagesordnung -, das Jahr 2011 in den Blick zu nehmen, über die Rolle der Kommission gemeinsam nachzudenken, aber sicherlich auch - ich nehme den Ball von Staatsminister Hoyer gerne auf - darüber zu sprechen, welche Rolle die Bundesregierung wahrnimmt; denn die Bundesregierung ist für den Deutschen Bundestag der erste Ansprechpartner, wenn es um die Gestaltung und die Kontrolle der Europapolitik geht. Insofern möchte ich zu dem einen oder anderen Punkt gerne Stellung nehmen. Herr Hoyer, Ihre europapolitische Märchenstunde eben hat mich schon ein wenig irritiert. Sie will so gar nicht zu dem passen, was wir Bundestagsabgeordnete einerseits auf den Fluren in Brüssel hören und andererseits als besorgte Anfragen fraktionsübergreifend wahrnehmen, nämlich, dass die Europapolitik der Bundesregierung in weiten Teilen ein Totalausfall ist. (Beifall bei der SPD) Sie ist wankelmütig. Sie ist ideenlos. Solidarische Führung in Europa sieht anders aus. Das greift über. Man hört nicht nur vom Auswärtigen Amt als dem zentralen Europaministerium wenig Konzeptionelles und Wegweisendes. Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit - das ärgert mich wirklich -, von der in den vergangenen Jahrzehnten viele wichtige Impulse ausgegangen sind, funktioniert nicht mehr. Das zeigte sich spätestens auf dem Gipfel in Deauville. Ihre Politik trägt eher zur Spaltung bei als dazu, dass zukunftsweisende und tragfähige Kompromisse in der Europäischen Union, in der EU der 27, geschmiedet werden. Damit, Herr Staatsminister, müssen Sie, Ihr Bundesminister und die Bundeskanzlerin sich schon einmal auseinandersetzen. Der Konflikt innerhalb der EVP-Familie, zwischen Ministerpräsident Juncker und der Bundeskanzlerin, stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Ich würde mit Ihnen auch gerne über die Rolle der Kommission sprechen; denn auch da sehe ich einiges mit Sorge. Ich bin mir sicher, Sie als überzeugter Europäer, Herr Hoyer - das würde ich niemals in Abrede stellen -, sehen das wahrscheinlich sogar ähnlich. Die Intergouvernementalisierung der Europäischen Union hat zugenommen. Die EU-Politik wird immer exekutivlastiger. Da stellt sich für uns schon die Frage, inwieweit die EU-Kommission ihre Rolle als die zentrale Institution der Gemeinschaftsinteressen und als Hüterin der Verträge überhaupt noch wahrnehmen kann, wenn sie ständig und in immer stärkerem Maße am Gängelband der nationalen Regierungen geführt wird. (Beifall des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD]) In der Regel sieht es heute so aus, dass auf den Gipfeln etwas entschieden wird und die Kommission als bloße Befehlsempfängerin fungiert und man dann schauen muss, was aus den verschiedenen Vorschlägen und Überlegungen der Staats- und Regierungschefs wird. Ich sehe das insgesamt mit Sorge, weil wir trotz des Vertrages von Lissabon überhaupt nicht in der Lage sind - das haben jedenfalls die vergangenen Jahre gezeigt -, hier die entsprechenden Kontrollen, die innerhalb der vergemeinschafteten EU-Politik zentral vom Europäischen Parlament wahrgenommen werden, zu leisten. Ich wünsche mir, dass wir die EU-Kommission nicht schwächen, sondern stärken. Ich könnte es mir jetzt relativ einfach machen und sagen: Die EU-Kommission ist eine eher konservativ-liberal besetzte Kommission; gerade einmal 6 von 27 Kommissarinnen und Kommissaren sind Sozialdemokraten. Das geht uns nichts an. - Allerdings ist die EU-Kommission diejenige Institution, die noch am ehesten in der Lage ist, das europäische Gemeinwohl in den Blick zu nehmen. An dem, was die Kommission in diesem Bereich in den vergangenen Monaten geboten hat, kann ich leider kein gutes Haar lassen. Wie sehen denn die Vorschläge der Kommission zur Bewältigung der Krise aus? Sie entsprechen alle dem hinlänglich bekannten neoliberalen Dreisatz: Sozialabbau gepaart mit Steuersenkungen und Rückführung staatlicher Leistungen. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass die Kommission zum Beispiel ein Grünbuch zur Rente herausgibt. Aber wenn versteckt darin steht, dass auf der nationalen Ebene Leistungsabbau im Sozialbereich betrieben werden muss, um die nationalen Haushalte auszugleichen, wird doch klar, wes Geistes Kind die Politik der Europäischen Kommission größtenteils ist. Das ist nicht unsere Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Austeritätspolitik hemmt das Wachstum. Wir brauchen aber in der Europäischen Union Wachstum, um solidarische und nachhaltige Wege aus der Krise zu finden, auf die wir die Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer wachsenden Skepsis gegenüber der EU mitnehmen können. Ich will auch ein paar positive Aspekte benennen. Wir unterstützen ausdrücklich die Schwerpunktsetzung der Kommission hinsichtlich Wachstumsbelebung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese wird zwar noch nicht durch konkrete politische Projekte untermauert; aber das ist der richtige Weg. Wenn es uns gelingt, die entsprechenden Schwerpunkte mit der Strategie EU 2020 zu verknüpfen, kann daraus sicherlich etwas Gutes werden. Positiv finde ich auch - das fordern die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im EP und hier im Bundestag schon seit Jahren - den konsequenten Kampf gegen Steueroasen. Ich betrachte den Vorschlag der EU-Kommission, eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage einzuführen, als eine Initiative, die in die richtige Richtung weist. Ich fordere die Bundesregierung, das Kanzleramt, das Bundesfinanzministerium und das Bundeswirtschaftsministerium, auf, diese Politik und diese Vorschläge konsequent zu unterstützen. (Beifall bei der SPD) Ich finde es sehr schade, dass es uns noch nicht gelungen ist, die notwendige Verordnung für die zumindest von uns als wichtig erachtete Europäische Bürgerinitiative auf EU-Ebene zu implementieren; sie ist immer noch nicht in Kraft getreten. Hier hätte ich mir von der Bundesregierung ein etwas beherzteres Vorgehen gewünscht. Insgesamt kann die Europäische Union nur erfolgreich arbeiten, wenn sie eine starke Kommission hat, die die Zeichen der Zeit erkennt. Aus unserer Sicht erfordern sie ein solidarisches gemeinsames Handeln sowie eine konsequent soziale und nachhaltige Ausrichtung der Politik. Das vermissen wir sowohl bei der Bundesregierung als auch bei der Kommission. Da muss dringend nachgebessert werden. Das soll unser Signal in der heutigen Debatte sein. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas Dörflinger das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Danke schön, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir vorausgegangene Debatten aus den zurückliegenden Jahren über Arbeitsprogramme der Europäischen Kommission ins Gedächtnis rufe, komme ich nicht an der Feststellung vorbei, dass sich durch viele der Debattenbeiträge der unterschiedlichen Fraktionen - freilich mit unterschiedlicher Akzentuierung - als roter Faden ein bisschen der Vorwurf zog, dass angesichts der Fülle dessen, was da aufgeschrieben worden ist, vielleicht weniger mehr gewesen wäre und man sich vielleicht besser auf das konzentriert hätte, was politisch prioritär und in einer bestimmten zeitlichen Spanne machbar war, anstatt all das aufzuschreiben, was schlussendlich wünschenswert war. Das vorliegende Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission unterscheidet sich in diesem Punkt wohltuend von seinen Vorgängern. Das ist selbstredend und logischerweise auch der Tatsache geschuldet - Ironie des Schicksals -, dass die Kommission - Herr Staatsminister, Sie haben darauf hingewiesen - beim Thema Bewältigung der Folgen der Finanz- und Bankenkrise einen ganz besonderen Schwerpunkt setzt. Dadurch sind logischerweise andere Themen in den Hintergrund geraten. Das tut dem Programm insgesamt gut. Ich will an dieser Stelle auf diesen Themenkreis, weil das schon dargestellt wurde und der Kollege Silberhorn darauf auch noch zu sprechen kommen wird, gar nicht detaillierter eingehen, sondern ein paar Punkte nennen, zu denen ich mir den einen oder anderen kritischen Unterton nicht verkneifen kann. Meine Damen und Herren, wer schon einmal in seinem Wahlkreis das Vergnügen gehabt hat, ein mittelständisches Unternehmen mit wenigen Beschäftigten bei dem Vorhaben zu begleiten, einen Antrag nach dem Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission zu stellen, der weiß, dass aus einem mehrseitigen Antragsformular innerhalb weniger Monate ein Vorgang wird, der mehrere Leitz-Ordner umfasst und das Unternehmen zu der Erkenntnis bringt, dass die Beantragung von Mitteln aus diesem Programm ohne Konsultation eines Unternehmens zur Beratung gar nicht zu leisten ist. Deshalb ist Entbürokratisierung ein wichtiges Thema. In dem Zusammenhang möchte ich ein kritisches Wort zu dem Thema Vergabewesen sagen. Wenn ich mir vorstelle, dass zukünftig durch die Verknüpfung der Vergabe mit sachfremden Argumenten, die mit der eigentlichen Dienstleistung, um die es in einem Vergabeverfahren geht, nur bedingt etwas zu tun haben, die Gefahr besteht, dass das Vergabeverfahren selbst länger dauert als die Auftragsabwicklung, stelle ich mir schon die Frage, ob wir an dieser Stelle auf dem richtigen Weg sind. Ich rate der Kommission, darüber noch einmal nachzudenken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der Kollege Roth hat das Weißbuch Pensionen angesprochen. Nun kommt es - da weiß ich als Baden-Württemberger, wovon ich rede - (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur weil Sie Baden-Württemberger sind, wissen Sie noch lange nicht, worüber sie reden!) in einer global strukturierten Arbeitswelt nicht so selten vor, dass jemand heute in Deutschland, morgen in Frankreich und übermorgen in Österreich arbeitet. Obwohl die Schweiz nicht zur Europäischen Union gehört, nenne ich auch sie in diesem Kontext; denn sie gehört sehr wohl zu Europa. Nachdem also jemand im Laufe eines langen Arbeitslebens in vier oder fünf unterschiedlichen Staaten gearbeitet hat, stellt sich für ihn bei Eintritt in das Rentenalter die Frage: Wie sieht es mit der Portabilität von Rentenansprüchen aus? Das ist für den Rentenantragsteller bzw. die -antragstellerin nicht selten ein ziemlicher bürokratischer Aufwand. Deshalb ist der Ansatz richtig, das Verfahren an dieser Stelle zu beschleunigen und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu entschlacken. Ich wage aber, die These aufzustellen, dass wir das durch bilaterale Vereinbarungen zwischen den Staaten mindestens genauso gut hinbekommen wie die Kommission, die hier ja selbst einen Legislativbedarf sieht und diesen dann möglicherweise noch durch Gründung einer eigenen Behörde zu untermauern versucht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der deutsche Kommissar Günther Oettinger hat vor einigen Wochen sehr plastisch die Summe von 1 Billion Euro als notwendige Finanzinvestitionen für den gesamten Energiesektor in die Diskussion geworfen. Herr Staatsminister Hoyer hat vorhin zu Recht das Faktum betont, dass wir Europäer uns in einem globalen Wettbewerb auf allen möglichen Sektoren befinden. Das gilt nach meiner festen Überzeugung nicht nur, sondern sogar in erster Linie auch für den Energiesektor. Wenn wir die Technologie, die es uns ermöglicht, Energie nachhaltig zu produzieren, nicht nur selbst nutzen, sondern auch zu einem Exportschlager machen wollen, dann müssen wir notwendigerweise nicht nur in diese Technologie, sondern insbesondere auch in die Netze investieren. Ich prognostiziere auch vor dem Hintergrund der einen oder anderen Diskussion, die wir in Deutschland dazu schon geführt haben: Das wird nicht konfliktfrei abgehen. Da aber die Netze auch im Wettbewerb mit anderen Regionen in der Welt einen zentralen Standortfaktor für Europa darstellen, rate ich den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, diese Debatte mit großer Ernsthaftigkeit zu führen und damit auch gegenüber der eigenen Bevölkerung zu dokumentieren, dass wir mit diesem Faktum, dass das ein zentraler Wettbewerbsfaktor ist, politisch umzugehen wissen. Dazu müssen wir die notwendigen Entscheidungen sachgerecht treffen und anschließend auch umsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fazit: Ich habe zu Beginn gesagt, das Arbeitsprogramm unterscheidet sich hinsichtlich der Effektivität und der Struktur wohltuend von seinen Vorgängern. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Arbeitsprogramm in den kommenden Monaten zusammen mit der Bundesregierung und der Europäischen Kommission tatkräftig umsetzen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Andrej Hunko (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin hier heute Morgen ja vom Sitzungspräsidium ausgeschlossen worden. Deshalb bin ich froh, dass ich jetzt noch reden darf. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie würden sonst meine Krawatte bekommen!) - Okay. Wir sprechen ja über das Arbeitsprogramm der EU-Kommission. Welche Frage stellen sich die Menschen, wenn sie vom Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2011 hören? Sie werden fragen, ob das Arbeitsprogramm dazu beiträgt, die drängendsten Probleme zu lösen. Aber genau das tut es unserer Auffassung nach nicht. Der Kommission ist zwar bewusst, dass das Programm "zu einem für die EU besonders kritischen Zeitpunkt" vorgelegt wird, aber ein wirkliches Umsteuern im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik ist nicht festzustellen. Im Gegenteil: Die gescheiterte Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2000 wird jetzt in der EU-2020-Strategie fortgesetzt. Das ist ja das Gerüst dieses Arbeitsprogramms. Das bedeutet noch mehr Deregulierung und noch mehr Privatisierung. Dieser Weg hat mit in die Krise geführt und wird die Krise weiter verschärfen. Dagegen beschwört die Kommission geradezu den Aufschwung. Durch die unsozialen europaweiten Kürzungsprogramme wird die EU-Binnenkonjunktur aber abgewürgt. Wenn bald noch weitere Länder aus der Euro-Gruppe dazu gedrängt werden, Milliarden aus dem sogenannten Euro-Rettungspaket abzurufen, werden sie zu neuen Kürzungsprogrammen und Schocktherapien verpflichtet. Dazu passt dann auch die Verschärfung des dummen Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Das ist schlicht inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN - Michael Link [Heilbronn] [FDP]: "Dummen"? - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie "dummen" gesagt?) All dies bedeutet: Die Menschen zahlen jeden Tag für die Folgen der Wirtschafts- und Bankenkrise, und die Profiteure werden nicht zur Kasse gebeten. Nicht nur die Linke sagt: "Profiteure endlich zur Kasse!", sondern das sagt auch die Mehrheit der Bevölkerung. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb gehen in vielen Ländern Europas immer wieder Hunderttausende auf die Straße - zuletzt in Irland und in Portugal. Dabei zeigt sich immer deutlicher - ich sage das hier sehr eindringlich -: Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein. Ein soziales Europa wird es nur mit einem echten Neustart der EU auf demokratischer und sozialer Grundlage geben. Ohne eine Komplettrevision und Veränderung der Grundlagenverträge in die richtige Richtung - sie werden ja gerade in die falsche Richtung verändert - wird es leider so weitergehen wie bisher. Schauen wir uns aber das Programm an einigen Punkten noch einmal konkret an: Erstens. Die Kommission gewährt zusammen mit den Mitgliedstaaten und dem IWF die sogenannten Hilfspakete. "Hilfe" klingt erst einmal solidarisch, aber diese Pakete sind in erster Linie Bankenrettungspakete. Die Mitgliedstaaten verdienen durch die Zinsen sogar noch an der Hilfe für bedürftige Staaten. Darüber hinaus sind diese Pakete aber vor allem Spardiktate auf Kosten der Bevölkerung. Sie führen zu mehr Armut und zu mehr sozialer Ausgrenzung. Ironischerweise wurde 2010 ja zum Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung proklamiert. In Wirklichkeit war es genau andersherum. Ich glaube, 2010 wird als Jahr für Armut und soziale Ausgrenzung in die Geschichte eingehen. Zweitens. Die Kommission arbeitet an der Umsetzung der sogenannten Solidaritätsklausel, die in Art. 222 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt ist. Aber auch hier geht es nicht um Solidarität zwischen den Menschen. Es geht schlichtweg um den Einsatz von Militär in anderen Mitgliedstaaten, und zwar nicht nur bei Terroranschlägen oder Naturkatastrophen, sondern, wie es im Vertrag heißt, auch bei "einer vom Menschen verursachten Katastrophe". Was kann das sein? Aufgrund dieser vagen Definitionen könnte EU-Militär auch zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden, wenn sich die sozialen Konflikte in einem Mitgliedstaat weiter zuspitzen. In Griechenland und Spanien zum Beispiel gab es in den letzten Monaten Situationen, in denen Militär mit eingesetzt wurde. Die Linke lehnt einen solchen Einsatz von Militär grundsätzlich ab, auch dann, wenn er als Solidaritätsakt verkleidet wird. (Beifall bei der LINKEN) Drittens plant die Kommission eine "Mitteilung über stärkere Solidarität innerhalb der EU". Auch hier findet sich wieder der Begriff Solidarität. Aber was verbirgt sich dahinter? Es geht um die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von illegalisierten Migrantinnen und Migranten. Aktuelles Beispiel: Griechenland soll nicht mehr allein gegen die Flüchtlinge kämpfen, sondern bekommt Unterstützung von der EU mittels FRONTEX-Soforteinsatzteams. Besonders angesichts der katastrophalen und menschenverachtenden Zustände in den überfüllten Lagern ist das nur noch zynisch zu nennen. (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!) Wir fordern stattdessen die Solidarität mit Menschen in Not, und zwar - in dem Fall ist der Begriff sinnvoll - bedingungslose Solidarität. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Fragen Sie die Menschen in Europa, welches Arbeitsprogramm sie der Kommission geben würden. Der Auftrag wäre ganz klar: Profiteure zur Kasse bitten, Regulierung der Finanzmärkte und ein soziales Europa. Die Menschen müssen in Europa wieder im Mittelpunkt der Politik stehen. Dafür stehen wir ein. Ich danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Manuel Sarrazin das Wort. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Hunko, eine ganz so große Rede mit Vorschlägen zu einer Komplettrevision der Grundlagenverträge wird mir heute nicht gelingen. Viele Punkte sind zu besprechen. Ich möchte meine Redezeit aber vor allem unserer liebsten Freundin seit über einem Jahr widmen, nämlich der Krise. Herr Staatsminister Hoyer, Sie wissen, dass wir Sie im Europaausschuss für Ihre Arbeit schätzen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich möchte aber daran anknüpfen, was Sie gesagt haben. Sie haben gesagt, die Bundesregierung werde sich 2011 ebenso engagiert einbringen wie 2010, was die Bewältigung der Krise angehe. Nehmen wir als Beispiel die von Herrn Juncker vorgeschlagenen Euro-Bonds. Herr Juncker steht deutschen Interessen ja durchaus positiv gegenüber. In dem Vorschlag von Bruegel, Juncker und Tremonti ist so offenkundig auf Art. 3 und Art. 119 AEUV eingegangen worden, dass Sie alle das eigentlich freudestrahlend als Beitrag zur deutschen Stabilitätskultur hätten begrüßen müssen. Was aber kommt von der Bundesregierung? Dieser von deutschem Geist durchtränkte Vorschlag, Euro-Bonds im Rahmen der jetzigen Verträge möglich zu machen, wird als Angriff aus dem Süden abgetan. Da habe ich verstanden, warum Herr Juncker beleidigt ist: weil Sie zwar sehr engagiert, aber in dem Fall völlig am Kern vorbei debattiert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich denke, es ist uns allen klar, dass wir dort, wo die Fazilität nicht funktioniert, nachbessern müssen. Es macht keinen Sinn, eine Fazilität, die ein Problem mit dem Triple A hat, was seinerzeit in der Diskussion noch nicht absehbar war, nur deshalb unverändert beizubehalten, weil man sich nicht bewegen will. Ich habe Verständnis für die Bedenken, was Konditionalität und Ultima Ratio angeht. Das muss in die Verträge passen. Es müssen auch weiterhin Verstöße gegen die No-bail-out-Klausel eingeschränkt werden. Ich erwarte aber von der Bundesregierung Bewegung in dieser Frage. Ich glaube, um eine solche Bewegung zu ermöglichen, ist es wichtig, dass sich die Koalition endlich auf eine Position einigt, damit wir in dieser Debatte eine Vorreiterrolle einnehmen können. Das wünsche ich mir von Ihnen. Denn aus meiner Sicht verpassen Sie gerade eine Chance. Theo Waigel hat wie andere Deutsche auch in den Verhandlungen über den Euro die Grundentscheidung durchgesetzt, das Wirtschaftsmodell der Europäischen Union sozusagen nach dem deutschem Zielmaßstab der Preisstabilität auszurichten. Dieses Ziel ist gerade im Hinblick auf den Euro - ich verweise auf Art. 119 AEUV - so fest in den Verträgen verankert worden wie kaum ein anderes Ziel. Natürlich ist die Entscheidung bislang nicht handlungsmächtig gewesen. Diese Krise mit ihren großen Schwierigkeiten, Herausforderungen und Gefahren bietet aber sowohl Ihnen als auch uns die Chance, diese Grundsatzentscheidung auf dem Papier zu einer in der Realität zu machen. Deshalb verstehe ich die zaudernde und zögernde Haltung nicht, die die Bundesregierung an den Tag legt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wirtschaftsregierung und Wirtschaftskoordinierung sind ein großes Thema. Das europäische Semester hat jetzt mit dem Bericht der Europäischen Kommission begonnen. Wir wollen, dass sich daran auch der Deutsche Bundestag engagiert beteiligt. Eine Wirtschaftsregierung kann nur funktionieren, wenn man nicht nur über Instrumente redet, sondern sie auch mit Leben erfüllt. Im nun begonnenen europäischen Semester kann der Deutsche Bundestag den Beweis liefern, dass er sich dieser Sache annimmt. Deswegen wollen wir am 9. Februar eine möglichst hochrangige Unterrichtung durch die Bundesregierung über dieses Thema in den Ausschüssen haben. Wir Grüne werden, wenn es um Fragen betreffend eine Wirtschaftsregierung und den Euro-Rettungsschirm geht, immer auf die parlamentarischen Rechte und die parlamentarische Beteiligung achten, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) und zwar auch an den Stellen, wo es uns selber wehtut, wenn zum Beispiel zu viele Informationen oder unbequeme Wahrheiten kommen. Der Deutsche Bundestag ist dafür da, dass die schwierigen Entscheidungen, die anstehen, legitim getroffen werden, und zwar so, dass sie von der Bevölkerung als legitim angesehen werden. Danach werden wir uns weiterhin richten. Herr Hoyer, Ihr Haus hat einen Minister, der in seiner Eigenschaft als normalerweise beliebtester Politiker des Landes besonders gut für etwas, das nicht so beliebt ist, eindringlich werben kann. Es darf gerne auch pathetisch werden. In dieser Debatte fragen wir uns: Ist der Außenminister nicht auch Europaminister? Ich habe Herrn Brüderle vor einer seltsamen Europaflagge auf der Treppe gesehen. Aber ich habe in der ganzen Krise kein richtig mahnendes oder klares Wort des Außenministers vernommen. Er ist nicht als wortgewaltiger Verfechter der weiteren notwendigen proeuropäischen Schritte, sondern eher als reiner Dementiminister aufgefallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich komme zum Schluss. Wenn in dieser schwierigen Zeit, in der so viel passiert, der Außenminister nicht bereit ist, die Gunst der Stunde zu nutzen, dann hoffe ich, dass wenigstens der Deutsche Bundestag die Bundesregierung vor sich hertreibt und dafür sorgt, dass die Gunst der Stunde nicht ungenutzt bleibt. (Dr. Bijan Djir-Sarai [FDP]: Schauen Sie mal, wie viele Leute aus Ihrer Fraktion da sind! Das scheint nicht so interessant zu sein!) - Sie sind da und hören uns zu. Das entschädigt mich für alles. Danke sehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Bijan Djir-Sarai [FDP]: Drei Leute!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Thomas Silberhorn. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist völlig richtig, dass wir über das Arbeitsprogramm der Kommission für 2011 vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise diskutieren. Die Kommission legt deswegen völlig zu Recht einen Schwerpunkt auf die Wachstumsbelebung und auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das steht am Beginn ihres Arbeitsprogramms für 2011. Wir müssen zu einem stabilen Wachstum zurückkehren. Die Zahlen sind durchaus erfreulich. Wir haben laut dem Herbstgutachten der Kommission in der gesamten Europäischen Union ein Wachstum von 1,7 Prozent in diesem Jahr und 2,0 Prozent im nächsten Jahr zu erwarten. Die deutschen Zahlen sind weit besser. Das heißt, Deutschland ist die Wachstumslokomotive der Europäischen Union. Wir müssen von daher klare Impulse für Wachstum, die Belebung der Wirtschaft und neue Arbeitsplätze setzen. Damit finden wir den schnellsten Weg aus der Wirtschaftskrise heraus. Wir sind wirtschaftlich gesund; aber die Euro-Krise stellt natürlich eine erhebliche Gefährdung dar. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn ständig an die Solidarität appelliert wird, dabei aber unter Solidarität verstanden wird, dass insbesondere wir Deutschen die Schulden aller anderen in der Europäischen Union aufkaufen sollen. Die Geschäftsgrundlage - das steht in den Verträgen - ist, dass es keine Transferunion gibt, dass jeder Staat für seine Schulden einsteht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch Quatsch!) - Selbstverständlich steht das so in den Verträgen. Deswegen muss die Solidarität in der Europäischen Union darin bestehen, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen, um in einer globalisierten Weltwirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu werden. Wir müssen Anreize dafür schaffen, dass die Mitgliedstaaten in der Euro-Zone ihre strukturellen Reformen angehen. Daran hapert es doch. In vielen Staaten der europäischen Wirtschaftsunion gab es in den letzten Jahren keine strukturellen Reformen in den sozialen Sicherungssystemen und auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb sind sie in die Verschuldung abgeglitten. (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Also noch mehr Sozialabbau!) Dort muss angesetzt werden, um in diesen Staaten eine Ordnung zu schaffen, die stabiles Wachstum ermöglicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch zwei Seiten einer Medaille!) Ihr Vorschlag, wir sollten Euro-Bonds auflegen, ist abenteuerlich. Haben Sie sich einmal ausgerechnet, was das alles kostet? (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, haben wir!) Wenn wir Schuldenagenturen schaffen, die alle Staatsanleihen in Europa aufkaufen, dann werden alle Schulden, die irgendwo in Europa gemacht werden, vergemeinschaftet. Somit würde eine gesamtschuldnerische Haftung für alle Schulden in der Europäischen Union geschaffen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Vorschlag offenkundig nicht kapiert!) Das Ergebnis wäre nicht nur, dass Deutschland den größten Teil dieser Schulden tragen muss, sondern auch, dass wir die Europäische Union selbst verschulden würden. (Klaus Hagemann [SPD]: Auch die Schulden der Bayerischen Landesbank! - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Vorschlag noch nicht einmal gelesen, Herr Silberhorn!) Der Charme der Europäischen Union ist doch, dass sie aufgrund ihrer sehr soliden Haushaltspolitik im Gegensatz zu fast allen Mitgliedstaaten der Euro-Zone keine Schulden macht. Deswegen sagen wir Nein zu Schuldenagenturen, Nein zu Euro-Bonds, Nein zur Schuldenübernahme. Das darf auch nicht durch die Hintertür geschehen. Deswegen sage ich - adressiert an die Bundesregierung und namentlich an das Bundesministerium der Finanzen -: Dafür gibt es nach meiner Wahrnehmung in dieser Regierungskoalition zu Recht keine Mehrheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen natürlich auch die wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten in der Euro-Zone verbessern. Das ist gar keine Frage. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin? Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Aber gerne. Bitte schön. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Silberhorn, offenkundig ist es Ihnen noch nicht bekannt; deswegen formuliere ich es so: Sind Sie bereit, etwas von mir anzunehmen, zu lernen bzw. mir zu glauben? (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Würden Sie mir glauben, dass die Vorschläge im Hinblick auf das Modell der Euro-Bonds, die Juncker und Tremonti sowie Bruegel gemacht haben, nicht zu Ihrer Umschreibung passen, sondern sowohl vereinbar sind mit den bestehenden Vertragsmerkmalen als auch mit der Funktionsweise des Art. 125 des EU-Vertrages sowie der individuellen Bonitätsbewertung jedes einzelnen Landes? Da es deutlich schwieriger ist, Red Bonds zu finanzieren, würde man sogar einen starken Anreiz für solide Haushaltsführung setzen, und zwar einen stärkeren Anreiz, als er bisher im Sanktionsmechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verankert ist. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Nein, Herr Kollege Sarrazin, ich glaube Ihnen kein Wort. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na dann nicht! - Zuruf von der CDU/CSU: Ich liebe klare Antworten!) - Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war doch die Antwort! - Gegenruf von der CDU/CSU: Stehen bleiben!) Bei allem Respekt - auch vor dem Ministerpräsidenten Juncker und Herrn Tremonti -: Es ist naiv, anzunehmen, man könne Schulden in 60 Prozent, für die man Euro-Bonds auflegt, und 40 Prozent, die die Mitgliedstaaten selber tragen, splitten. Die Reaktion der Finanzmärkte ist doch offenkundig: Man würde testen, wie weit die Solidarität der Mitgliedstaaten der Eurozone geht. Man würde die 60 Prozent ausschöpfen und dann fragen: Wie sieht es jetzt mit den 40 Prozent aus? - Was geschieht, wenn die 40 Prozent der Mitgliedstaaten, etwa Griechenlands oder anderer Staaten, nicht getragen werden können? Ist die Europäische Union dann weiterhin solidarisch - dann wäre Ihr Modell bereits gescheitert -, oder ist sie nicht solidarisch? In diesem Fall würde man Umschuldungen vornehmen müssen. Dafür haben wir aber noch kein Modell. Das funktioniert also hinten und vorne nicht. Ich sage Ihnen, was funktionieren würde: Man muss genau das tun, was der Internationale Währungsfonds mit seinen Experten seit Jahren betreibt. Man muss den hochverschuldeten Staaten die Möglichkeit eröffnen, umzustrukturieren und umzuschulden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen sie ja jetzt!) Meine Prognose ist: Je später wir das hinbekommen, desto teurer wird es werden. Wir sind durch die Akteure auf den Finanzmärkten einem permanenten Stresstest ausgesetzt. Wir werden diesen Stresstest nicht dadurch bestehen, dass wir immer frisches Geld in die Märkte pumpen. Wir müssen uns vielmehr den strukturellen Reformen, die die Ursache für die Krise sind, widmen und in den Mitgliedstaaten der Euro-Zone eine stabile Haushaltspolitik verfolgen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es gibt doch nicht die eine Krise! Wir haben allein drei Krisen!) Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir müssen den Stabilitäts- und Wachstumspakt schärfen. Wir müssen die strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen angehen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Was heißt denn das?) Wir müssen es am Ende auch ermöglichen, dass sich hochverschuldete Staaten restrukturieren und umschulden, teilweise zulasten der privaten Gläubiger, (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie?) die auf einen Teil ihrer Forderungen werden verzichten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hinzu kommt, dass wir die wirtschaftspolitische Koordinierung und Überwachung in den Mitgliedstaaten der Euro-Zone verbessern müssen. Dabei müssen wir uns an den Wachstumstreibern in der Europäischen Union orientieren. Wir können doch nicht die Starken künstlich schwächer machen und glauben, dass wir dann in der Europäischen Union insgesamt besser dastehen. Ich weise darauf hin, dass wir bei der Feinsteuerung nicht den Fehler machen dürfen, zu meinen, alles europäisch regeln zu wollen. Das wird nicht gelingen. Wir müssen die makroökonomische Überwachung besser koordinieren. Die mikroökonomischen Fragen aber müssen in der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten bleiben. Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, noch in einem Satz darauf hinzuweisen, dass uns die Europäische Kommission ein konkretes Angebot gemacht hat, den Dialog mit den nationalen Parlamenten zu vertiefen. Die Kommission hat uns zugesagt, jede Stellungnahme der nationalen Parlamente ernsthaft zu prüfen. Das bedeutet, die Kommission wird nicht nur Subsidiaritätsstellungnahmen prüfen, also Stellungnahmen, die einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip rügen, auch nicht nur Stellungnahmen zu Rechtsetzungsvorschlägen, sondern generell jede Stellungnahme. Ich finde, das ist ein großartiges Angebot. Wir sollten davon Gebrauch machen, (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ihr macht ja nichts!) indem wir uns intensiv einmischen in die Rechtsetzungsvorhaben und in die weiteren Vorhaben der Europäischen Union. Ich weise darauf hin, dass wir im letzten Jahr deutlich mehr Stellungnahmen im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, als das vor dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages vorher der Fall war. Insbesondere der Rechtsausschuss, aber auch der Europaausschuss sind dabei fleißig gewesen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem lehnen Sie fälschlicherweise unsere Anträge immer ab!) Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die hieran mitgewirkt haben und Europapolitik durch Mitgestaltung der Europäischen Union den Bürgern näherbringen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Barchmann das Wort. (Beifall bei der SPD) Heinz-Joachim Barchmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2011 erscheint auf den ersten Blick ambitioniert. Mehr als 40 Initiativen werden vorgestellt, um die Krisen der letzten Jahre zu bewältigen und einen neuen Aufschwung zu unterstützen, damit neue Arbeitsplätze entstehen. Ein zentraler Bestandteil dieses Arbeitsprogramms ist der Binnenmarkt. Damit komme ich jetzt ein bisschen von den Finanzen weg. Es gibt schließlich noch mehr in der Europäischen Union. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sehr wahr!) In fast allen Bereichen des Arbeitsprogramms wird auf den Binnenmarkt Bezug genommen. Der ehemalige Kommissar Professor Mario Monti hat in seinem Bericht zum Neustart des Binnenmarktes wichtige Aspekte und auch Probleme aufgezeigt. Monti stellte zum Beispiel fest, dass der Binnenmarkt notwendiger sei als jemals zuvor, aber bei den Menschen in Europa auch unbeliebter als jemals zuvor. Ich denke, beides ist richtig. Daraus darf man allerdings nicht den Schluss ziehen, nun alles den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu unterwerfen, und dann würde schon alles gut. Nein, gerade jetzt, nach solch schweren Krisen - der Euro hat sich immer noch nicht stabilisiert, und daran hat auch die Bundesregierung ihren Anteil -, müssen wir erkennen, dass der Markt ohne eine soziale Flankierung ein Irrweg ist. Deshalb fordern wir als SPD seit Jahren, die soziale Fortschrittsklausel in die europäischen Verträge aufzunehmen. Immer wieder wurde uns vonseiten der Regierungskoalition vorgehalten, dass der Vertrag von Lissabon nicht neu zu verhandeln sei und man keine Chance habe, daran etwas zu ändern. Was wir aber im Dezember in Brüssel erlebt haben, zeigt, dass durchaus noch Möglichkeiten vorhanden waren. Dort wurde nämlich kurzfristig eine Änderung des Vertrages vom Europäischen Rat beschlossen. Verstehen Sie mich in dieser Beziehung bitte nicht falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dieser Akt europäischer Solidarität in finanzpolitischen Fragen war wichtig und richtig. Deutschland hat schließlich auch ein massives Interesse an der Stabilität der Gemeinschaftswährung. Zu diesem Zeitpunkt hat die Bundesregierung aber wieder einmal die Chance verpasst, endlich die soziale Fortschrittsklausel in die Verträge hineinzuverhandeln. (Beifall bei der SPD) Das alleinige Starren auf die Euro-Krise und etwaige Krisenmechanismen greift einfach zu kurz. Wir müssen in der Tat die Europäische Union weiterentwickeln. Dazu gehört neben der politischen Union und einer koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik ein verbindlicher sozialer Rahmen. Dieser muss in ganz Europa Mindeststandards setzen und den Bürgerinnen und Bürgern Europas Schutz und Sicherheit bieten. Genau das wäre die soziale Fortschrittsklausel. Leider hat auch die Kommission nicht den Mut bewiesen, diese Klausel im Single Market Act vorzuschlagen, sondern sie hat sich auf einen butterweichen Kompromiss verständigt. Hier enttäuscht uns Sozialdemokraten die Kommission. Hier hatten wir auch nach dem Bericht von Professor Monti mehr erwartet. Wirtschafts- und Sozialpolitik sind keine Gegensätze. Deshalb darf es nicht sein, dass vor dem Europäischen Gerichtshof wirtschaftliche Grundfreiheiten Vorrang vor sozialen Rechten erhalten. Die soziale Fortschrittsklausel ist ein Schritt, um die Bürgerinnen und Bürger Europas mit dem Binnenmarkt zu versöhnen. Das ist genauso wichtig wie die Maßnahmen zur Stabilisierung des Euros. Nur wenn die Menschen der Europäischen Union ihren Institutionen vertrauen und sich in ihr sicherfühlen, können sie ihre kreativen Fähigkeiten entfalten. Vertrauen in die soziale Sicherheit ist für die soziale Marktwirtschaft ein wichtiges konstitutives Element. Dieses notwendige Vertrauen wird gerade in den Ländern, die unter der Euro-Krise am meisten zu leiden haben, massiv beschädigt. Woher kommen denn die Schwierigkeiten des Euros? Zum einen haben einige Länder über ihre Verhältnisse gelebt. Sie müssen jetzt sparen; aber sie dürfen sich natürlich nicht kaputtsparen, wie es in Griechenland und in Irland, nicht zuletzt auf Druck der Bundesregierung, vorgeführt wird. (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Hartes Sparen allein reicht nicht aus, um die Krise zu bewältigen, nein, sie verschärft sie nur noch. Das ist auch für die deutsche Wirtschaft gefährlich; denn wenn unsere europäischen Nachbarn als unsere Kunden ausfallen, dann schlagen deren Sparbemühungen auch bei uns negativ durch. Zum anderen ist die gemeinsame europäische Währung auch durch stark unterschiedliche Leistungsbilanzen der einzelnen Länder belastet. Wo einige Länder hohe Defizite einfahren, erwirtschaftet Deutschland enorme Überschüsse. Diese Ungleichheiten werden von den Finanzmärkten erkannt und erbarmungslos ausgenutzt. Der Euro wird als unsicher bewertet. Was macht die Bundeskanzlerin? Anstatt mit klaren Maßnahmen für Ruhe in den Märkten zu sorgen, zaudert und zögert sie weiter. Sie führt über die Presse Debatten mit Kommissionspräsident Barroso über die Ausweitung des Rettungsschirmes, der, so hört man zumindest, intern schon zugestimmt wurde. So beruhigt man die Finanzmärkte nicht, sondern so lädt man Spekulanten dazu ein, gegen den Euro zu wetten. Zur Bewältigung der Krise brauchen wir eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung der Europäischen Union, sodass die Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb des Euro-Raumes nicht so stark auftreten können. Es geht nicht darum, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu schwächen, sondern darum, die Leistungs-bilanzüberschüsse durch die Steigerung der Binnennachfrage zu verringern. Wir brauchen eine schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa: mit hohem Beschäftigungsniveau, stetigem Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Auf diesem Weg kann die soziale Fortschrittsklausel intensiv helfen. (Beifall bei der SPD) Es ist heute zu früh, um das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für dieses Jahr abschließend zu beurteilen. Das kann man erst, wenn die konkreten Vorschläge auf dem Tisch liegen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Barchmann, achten Sie bitte auf das Signal. Heinz-Joachim Barchmann (SPD): Ja. - Eines allerdings hat die Kommission der Bundesregierung voraus: Sie hat schon einmal ein Programm für die Weiterentwicklung Europas. Die Bundesregierung scheint nicht einmal eine genaue Vorstellung von Europa zu haben. Das ist wirklich ein Problem für Deutschland und Europa. Danke. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andrej Hunko [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Detlef Seif hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Detlef Seif (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte hat eines gezeigt: dass der Schwerpunkt des Arbeitsprogramms der Kommission richtig gelegt ist. Wir alle sind bewegt nach der schwersten Wirtschaftskrise, der Finanzmarktkrise und den erheblichen Anstrengungen im letzten Jahr, um die Stabilität des Euros sicherzustellen. All dies sind Gründe dafür, dass das ganz oben auf der Agenda der Kommission steht. Die Kommission will - das ist ein Schlagwort - die "wirtschaftspolitische Steuerung" stärken. Ich denke, dieser Begriff, der harmlos aussieht, zeigt den Widerspruch, der auch in diesem Hause herrscht. Wir haben unterschiedliche politische Auffassungen. Die einen sind der Meinung, man muss mehr regulieren und steuern; der Staat soll sich möglichst bis ins Detail einmischen. Die anderen sagen, die Kräfte werden durch den Markt freigesetzt; sie sind zu bändigen und in gesunde Rahmenbedingungen zu fassen. Deshalb muss das Motto - das gilt auch für die Kommission - lauten: Sinnvolle Rahmenbedingungen ja, aber kontraproduktive und bürokratische Überregulierung nein. Das war meine Feststellung zu dem Teil, der jetzt eigentlich die gesamte Debatte ausgefüllt hat. Es gibt aber noch ein paar weitere Punkte in dem Arbeitsprogramm der Kommission. Die "Agenda für Bürgernähe: Freiheit, Sicherheit und Recht" soll fortgeschrieben werden. Hier ist besonders die Unsicherheit für Unternehmen zu erwähnen, welches Recht bei Vertragsabschlüssen überhaupt zur Geltung kommt. Das ist ganz wichtig; denn die Unsicherheit führt nicht nur zu rechtlichen Schwierigkeiten, sondern kann auch handfeste wirtschaftliche Konsequenzen haben. Ganz wichtig ist auch die Richtlinie über die Rechte von Opfern von Straftaten. Erstmals soll in den EU-Staaten insgesamt das Opfer der Straftaten im Fokus stehen. Ihm sollen die notwendigen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen in allen EU-Ländern zuteilwerden. Die Kommission legt ihren Fokus auch auf die Stärkung der Präsenz Europas auf der internationalen Bühne. Ausdrücklich heißt es in dem Programm: Der Europäische Auswärtige Dienst, EAD, soll unterstützt werden. - In diesem Jahr wird es darauf ankommen, ob die Kommission die Kompetenzen der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich anerkennt oder ob es hier zu erheblichen Reibungsverlusten innerhalb der EU kommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Frage ist: Wird hier eventuell eine Doppeldiplomatie eröffnet, die im Nachhinein belegen würde, dass es sich bei dem Satz in diesem Programm lediglich um eine leere Phrase handelte? Das bleibt abzuwarten. Einige Umweltverbände haben den Kommissionspräsidenten Barroso kritisiert und gesagt: Das Programm ist wirtschaftslastig. Das soll im Ergebnis bedeuten: Energiepolitik und Umweltpolitik spielen in diesem Programm kaum eine Rolle. Aber der Teufel steckt im Detail. Das Arbeitsprogramm besteht nicht nur aus den zwölf Seiten Text, sondern auch aus den 40 strategischen Initiativen. Es gibt vier Initiativen, die im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik einschlägig sind: der Fahrplan für eine CO2-arme Wirtschaft bis 2050, der europäische Energieeffizienzplan bis 2020, der Fahrplan für erneuerbare Energien bis 2050 und die Richtlinie zu Energieeffizienz und Energieeinsparung. Was mir aber völlig fehlt, ist wenigstens ein Satz zu der Frage: Welche Reduktionsziele verfolgt die Kommission? Gilt das Ziel der Reduktion um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 im Verhältnis zum Referenzjahr 1990 noch? Oder hat sich da irgendetwas getan? Wird immer noch die Erhöhung des Reduktionsziels auf 30 Prozent - unter der Bedingung, dass auch andere Volkswirtschaften mitziehen - angestrebt? Das Europäische Parlament hat mit Blick auf Cancún durch eine Entschließung ein Zeichen gesetzt, nämlich: bedingungslose Erhöhung auf 30 Prozent. Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundesumweltministers Norbert Röttgen, dass sich die Europäische Union hier als Vorreiter positionieren sollte. Ein "Weiter so" hilft uns in der Klimapolitik nicht. Nachdem die Kopenhagener Konferenz gescheitert und Cancún "wenig mehr als nichts" ist - so ein Originalzitat im Handelsblatt -, wird es Zeit, dass hier deutliche Zeichen - von Deutschland und auch von der Europäischen Kommission ausgehend - gesetzt werden. Wir sollten uns deshalb für das bedingungslose Reduktionsziel von 30 Prozent einsetzen. Als Argument gegen diese Ansicht wird angeführt, die Wettbewerbsfähigkeit Europas sei gefährdet. (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Das kommt doch immer!) - Ja. - Meines Erachtens fehlt der Mut, und es fehlt die Innovationsbereitschaft, hier auch mal einen Schritt nach vorne zu gehen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allen Dingen bei der CDU/CSU-Fraktion!) Das sage ich als Abgeordneter. Die europäische Automobilindustrie hat schon einmal gezeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Sie ist über eine gewisse Zeit in einen Tiefschlaf verfallen. Während andere Antriebs- und Hybridtechnik entwickelt haben, die jetzt im Kommen ist - China will ein Joint Venture mit Toyota eingehen -, müssen wir darauf achten, dass wir noch den Anschluss finden. Meine Damen und Herren, lernen wir daraus! Wer heute nicht begreift, dass morgen nur die Volkswirtschaften und nur die Unternehmen wettbewerbsfähig sind, die das berücksichtigen, ist nicht zukunftsfähig. Wir müssen Ressourcen sparen, und wir müssen die Umwelt schützen. Machen wir Europa zukunftsfähig und helfen wir der EU-Kommission in diesem Punkt auf die Sprünge! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Andrej Hunko [DIE LINKE]: War das jetzt eine Oppositionsrede? - Gegenruf des Abg. Detlef Seif [CDU/CSU]: Dann bitte klatschen! - Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den Ländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2012 - Drucksache 17/3046 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Roland Claus (DIE LINKE): Glück auf, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Wir reden hier über ein gutes Stück deutscher Einheit. Beim plötzlichen Ende der DDR waren da viele Mondlandschaften: Braunkohletagebaue, die keiner mehr wollte oder brauchte, geschundene Erde, schlechte Luft und Hunderttausende Arbeitslose. Wir erinnern: Nach dem Krieg war im Osten nichts zur Energiegewinnung und zum Heizen - kein Öl, keine Steinkohle -, gab es keinen Marshallplan, aber Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Blieb nur die Braunkohle im Bitterfelder, im Lausitzer und im Zeitzer Revier, und damit entstanden die Folgen der Tagebaue. Unser Antrag ist ein Vorschlag an das Parlament, die Braunkohlesanierung fortzusetzen und dafür ein weiteres Bund-Länder-Abkommen abzuschließen. (Beifall bei der LINKEN) Es geht um ein Abkommen des Bundes mit den Braunkohleländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Um die Dimension einmal zu verdeutlichen: Seit 1992 wurden hier Flächen im Umfang von über 120 000 Hektar saniert und bewirtschaftet. Da das niemand von uns sinnlich erfühlen kann, will ich Ihnen sagen: Das ist etwa die Fläche von Berlin und Potsdam zusammengenommen. In diesem Jahr wird in meinem Wahlkreis und den beiden umliegenden Wahlkreisen im Süden Sachsen-Anhalts mit dem Geiseltalsee der größte künstliche Binnensee in Deutschland entstehen - natürlich verbunden mit unendlich vielen Herausforderungen zur Gestaltung einer solchen Aufgabe, aber auch mit Erwartungen zur künftigen wirtschaftlichen und touristischen Nutzung. Dabei kann inzwischen an sehr viele gute Erfahrungen der letzten fast 20 Jahre angeknüpft werden, die in der LMBV, der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft, gesammelt wurden. Aber es gibt auch eine Reihe neuer Herausforderungen. Wir erinnern an die tragischen Ereignisse bei der Böschungsrutschung bei Nachterstedt und die vielleicht weniger bekannten, aber doch komplizierten Vorgänge beim Grundwasseranstieg in den Sanierungsgebieten. Deshalb lautet die Forderung der Bergbausanierer, mit denen wir im guten Kontakt sind: Lasst uns den Finanzbedarf aktuell, also auch anhand der neu gewonnenen Erkenntnisse ermitteln und nicht nur eine schlichte Fortschreibung vornehmen! Geologie, meine Damen und Herren, hält sich nicht an Legislaturperioden. Seit unserer Antragstellung im September 2010 ist das Leben natürlich weitergegangen. Das haben auch wir verstanden, weil wir im ständigen Kontakt mit den Sanierern stehen. Es gab Verhandlungen zum Abkommen im September und im Dezember des vergangenen Jahres. Just am nächsten Donnerstag, am 27. Januar, erwarten wir die abschließenden Beratungen. Insofern macht es ausdrücklich Sinn, mit der heutigen Überweisung in die Ausschüsse und den Endverhandlungen zu dem Abkommen eine Übereinkunft herzustellen. Unser Antrag - das merken Sie - hat also bereits gewirkt. Ich will es einmal sehr zurückhaltend formulieren: Wenn Herr Bundesminister Brüderle den Antrag zu begründen hätte, hätte er zumindest gesagt: Der Antrag hat den Verhandlungen Flügel verliehen. Wir fordern Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie dem Antrag zu! Möglicherweise stört Sie daran nur der Absender. Wenn es Ihnen nicht passt, dass der Antrag von uns kommt, haben wir auch dafür einen Lösungsvorschlag: Wir können in dem damit befassten Ausschuss daraus sehr wohl einen interfraktionellen Antrag machen. Stimmen Sie also unserem Antrag zu! Stimmen Sie damit für ein weiteres gutes Stück deutscher Einheit! Glück auf! (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Michael Luther das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linken haben einen Antrag zum Thema Fortsetzung der Sanierung der Braunkohlealtstandorte vorgelegt. Ich kann diesem Antrag auch etwas Gutes abgewinnen; denn Sie stellen am Anfang fest, dass die Sanierungen der letzten 20 Jahre eine Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit darstellen. Sie loben damit die Regierungen der letzten 20 Jahre. (Roland Claus [DIE LINKE]: Und die fleißige Opposition gleich mit!) Da die CDU/CSU an diesen Regierungen viele Jahre beteiligt war, halte ich das für erfreulich. Das sollten Sie als Opposition öfter tun. Die Braunkohlesanierung ist, wie gesagt, eine Erfolgsgeschichte. Sie wurde 1992 unter einer schwarz-gelben Bundesregierung begonnen. Alle weiteren Regierungen haben sie fortgesetzt. Ich denke, wir werden sie in dieser Legislaturperiode unter einer schwarz-gelben Bundesregierung zu einem guten Ende bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Braunkohlesanierung hat den Steuerzahler viel Geld gekostet, bis Ende 2012 rund 8,5 Milliarden Euro. An dieser Stelle will ich einmal Danke sagen für die Solidarität, die hier gezeigt worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Lob im Antrag ist in Ordnung. Allerdings ist der nachfolgende Teil in Ihrem Antrag ziemlich überflüssig. Warum ist das so? Auch ohne Ihren Antrag haben die Verhandlungen längst begonnen. Daran kann man eine gewisse Kontinuität erkennen. Schließlich handelt es sich bei dem Abkommen, das jetzt geschlossen werden soll, um das fünfte Abkommen seiner Art. Man kann am zeitlichen Verlauf deutlich erkennen, dass man immer rechtzeitig angefangen hat, darüber nachzudenken, was der nächste Schritt ist, welche Maßnahmen fortgesetzt werden müssen und welche neuen Aufgaben hinzukommen. Man hat sich dementsprechend über die notwendigen Finanzierungen verständigt. Aus diesem Grunde sage ich: Was im Antrag gefordert wird, ist für mich nicht neu. Die Bundesregierung verhandelt über das 5. Verwaltungsabkommen seit dem letzten Sommer. Ich bin mir sicher, dass wir die Verhandlungen in diesem Jahr zu einem guten Ende führen werden. Ihr Antrag ist nicht notwendig; denn es gibt überhaupt keinen Grund, am Handlungswillen der Bundesregierung zu zweifeln. Ich denke, die letzten 20 Jahre haben bewiesen, dass für uns die Sanierung immer ein wichtiges Thema war. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bis Ende 2012 werden rund 97 Prozent der bergmännischen Sicherungsarbeiten abgeschlossen sein. In Zukunft geht es maßgeblich um andere Themen wie die Wiedernutzbarmachung und die Verwertung der sanierten Flächen. Es geht aber auch um die Abwehr von Gefahren, die sich für Häuser und Gebäude durch den Wiederanstieg des Grundwassers ergeben. 1990 wurde das ganze Ausmaß der notwendigen Sanierungsaufgaben sichtbar. Im Ergebnis gab es bislang - ich habe das schon gesagt - vier Verwaltungsabkommen über die Regelung zur Finanzierung der Beseitigung der ökologischen Altlasten. Bund und Länder haben sich damals darauf geeinigt - das gilt auch heute noch -, dass der Bund 75 Prozent und die Länder 25 Prozent der Kosten tragen. Aber mit dem Fortschreiten der bergbaulichen Sicherungsmaßnahmen wurden neue Aufgaben erkannt, insbesondere diejenigen, die sich aus den Gefahren des Wiederanstiegs des Grundwassers ergeben. Wir brauchen hier einen ausgeglichenen Wasserhaushalt. Dafür zu sorgen, ist eine entscheidende Aufgabe, die vor uns liegt. Der schon erwähnte Böschungsrutsch in Nachterstedt im Sommer 2009, bei dem leider drei Todesopfer zu beklagen waren, aber auch Erdrutsche beispielsweise im Spreetal im letzten Jahr zeigen, dass es notwendig ist, hier zu einer Normalisierung der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse zu kommen. Hier haben sich Bund und Länder verständigt, abweichend von der Sanierungskostenaufteilung zu einer Kostenaufteilung von 50 zu 50 für Bund bzw. die Länder zu gelangen. Diese Einigung gilt; diese Einigung steht. Ich habe noch niemanden gehört, der das anders will - bis jetzt zum Antrag von den Linken. Ich weiß auch nicht, warum wir, wenn diese Kostenaufteilung akzeptiert ist, in Zukunft zu einer anderen Kostenaufteilung kommen sollen. Ich sehe hier also keinen Grund, etwas zu verändern. Deshalb halte ich den Antrag für einen reinen Schaufensterantrag, wo hinter der Scheibe lauter alte Hüte ausgestellt werden. Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle noch ein Wort dazu. Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Rede natürlich die Frage gestellt, warum wir um Himmels willen sanieren und so viel Geld ausgeben müssen. Ich will es mit einer anderen Sache verknüpfen. Die Linke hat mit ihrer Kommunismusdebatte in den letzten Tagen wieder einmal gezeigt, worum es hier in Wahrheit geht, nämlich - die Vorsitzende hat es erklärt -: Sie wollen den Kommunismus. Die Braunkohlesanierung ist ein typisch ostdeutsches Thema. Sie ist für mich eine direkte und unmittelbare Folge der DDR-Misswirtschaft. Wer hat diese verursacht? Das passierte unter der Führung der Staatspartei SED, in deren Tradition sich die Linken heute stellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Raubbau an natürlichen Ressourcen, Umweltzerstörung in riesigem Ausmaß, Nichtrekultivierung von zerstörten Landschaften - das sind für mich Folgen des real existierenden Sozialismus auf dem Weg zum Kommunismus. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Ich habe immer fein aufgepasst, was im Neuen Deutschland stand. Der real existierende Sozialismus hat diejenigen mundtot gemacht, die versucht haben, genau auf diese Probleme hinzuweisen; die SED hat sie ins Gefängnis gesteckt. Die Linken stellen sich in die Tradition dieser Partei und wollen letztendlich das Gleiche. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Herr Dr. Luther, das war oberflach! Das war oberpeinlich! Wenn ich das im Wahlkreis erzähle, dann glaubt mir das keiner!) Ich muss sagen: Ich bin froh, dass wir im letzten Jahr 20 Jahre deutsche Einheit feiern konnten und dass ich nicht im 60. Jahr der Diktatur des Kommunismus leben muss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Braunkohleabbau, die Art und Weise, wie er betrieben wurde, und die damit in Verbindung stehende Umweltzerstörung waren für mich als Ostdeutscher real erlebter Kommunismus, und diese Erfahrung will ich nicht wiederholen müssen. (Zurufe von der LINKEN) Die Braunkohlesanierung unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Das 5. Verwaltungsabkommen wird diese Erfolgsgeschichte fortsetzen. Dafür brauchen wir den Antrag der Linken nicht und erst recht keine Belehrungen durch sie. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Peter Danckert das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Peter Danckert (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich Ihnen gute Besserung wünschen. Das ist wirklich ein lang andauernder Prozess, den Sie durchmachen müssen. Vizepräsidentin Petra Pau: Danke. Ich arbeite daran. Dr. Peter Danckert (SPD): Ich weiß nicht, ob Sie sich bei der Kanzlerin angesteckt haben. Ich hoffe nicht. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich fürchte, es war eher umgekehrt, wenn ich das im zeitlichen Ablauf betrachte. Dr. Peter Danckert (SPD): Wir haben heute einen Antrag zur Braunkohlesanierung vorliegen. Lieber Kollege Luther, ich finde es eigentlich gar nicht schade, dass man auch im Rahmen der Beratung eines solchen Antrags über dieses Thema redet. Wann sollten wir sonst darüber reden, wenn nicht anhand eines Antrags? Wenn er von den Linken kommt, finde ich das überhaupt nicht schädlich. Es ist - das haben Sie auch hervorgehoben - ein gesamtdeutsches Erfolgsprojekt. Es handelt sich um ein Riesenareal, das hier peu à peu saniert worden ist und saniert wird. Wir haben inzwischen über 8 Milliarden Euro investiert, und wir sind noch nicht am Ende. Wir haben vier sehr erfolgreiche Verwaltungsabkommen hinter uns. Ich finde, das ist schon eine gute Leistung. Bei aller grundsätzlichen Zuständigkeit des Bundes haben die Länder Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mitgemacht. Es war in den letzten Abkommen nicht immer ganz einfach, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Aber ich finde, das ist eine Erfolgsgeschichte. Über die kann man im Parlament auch reden. Ich gebe zu, dass da nicht alles neu ist. Verehrter Kollege Claus, auch ohne Ihren Antrag hätten sich der Bund und die vier Länder damit beschäftigen müssen. Das haben sie übrigens zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Antrag verfasst worden ist, schon längere Zeit getan. Außerdem gibt es die Verpflichtung aus § 5 des 4. Verwaltungsabkommens, sich damit zu beschäftigen und rechtzeitig ein neues Abkommen zu erarbeiten. Von daher ist der Antrag nicht so fundamental, dass ohne ihn diese Dinge nicht zur Sprache gekommen wären. Hier ist eine ökologische Meisterleistung - sie ist noch nicht abgeschlossen - vollbracht worden. Die Braunkohlesanierung bringt tagtäglich auch neue Probleme mit sich; wir haben von den Vorfällen in den letzten Monaten gehört. Aber hier muss auch - ich wende mich an den Staatssekretär Steffen Kampeter als einfachen Abgeordneten - (Otto Fricke [FDP]: Das ist der nie!) ein gewaltiger Kraftakt vollbracht werden. Im letzten Verwaltungsabkommen für die Jahre von 2008 bis 2012 sind es etwa 1 Milliarde Euro. Wir Brandenburger profitieren in einer Größenordnung von 480 Millionen davon, allerdings sind es auch 180 Millionen aus Landesmitteln. Es ist also ein gemeinsames Projekt. Die LMBV hat einen Bericht über den Status quo erarbeitet, der genau sagt, wo wir uns im Hinblick auf die bergrechtliche und wasserrechtliche Situation im Moment befinden, und daraus eine Plausibilitätsplanung gemacht, um das Sanierungsgeschehen weiter zu begleiten. In dieser Etappe hat sich gezeigt, dass wir nicht nur sanieren müssen, sondern auch sanierte Flächen nacharbeiten müssen, damit die Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger an dieser Stelle gegeben ist. Wir haben ganz erhebliche wasserrechtliche Probleme zu lösen - dabei geht es um die Wasserqualität -, was ebenfalls eine große ökologische Herausforderung ist. Auch dies kommt den Menschen in der Region zugute. Die Abwehr von Gefahren aus dem Grundwasserwiederanstieg muss fortgeführt werden. Diese Gefahren, die sich aus einer Kombination von Altbergbau und Grundwasserwiederanstieg ergeben, sind natürlich in die Sanierungsbemühungen einzubeziehen, um - ich habe es eben schon gesagt - auch das Hab und Gut der Bürgerinnen und Bürger sowie Gewerbeflächen sicher zu schützen. Dies ist wirklich eine große Herausforderung. In Ihrem Antrag beziffern Sie den Abarbeitungsstand mit etwa 97 Prozent. Dies werden wir in der Beratung im Haushaltsausschuss noch einmal zur Sprache bringen; denn das ist nach dem, was ich aus dem Kreis der auf der Arbeitsebene Tätigen höre, bei weitem noch nicht erreicht. Das heißt, es gibt hier auch zusätzliche finanzielle Verpflichtungen für den Bund und die Länder. Ich hoffe, Herr Staatssekretär, dass diese Aufgabe, die primär beim Bund liegt, ernst genommen wird und sich darüber keine größere Debatte ergibt, damit dieses riesige Projekt auch zu Ende geführt werden kann. Wir werden das Jahr 2011 abwarten müssen, um einen zwischen Bund und Ländern abgestimmten Entwurf hinzubekommen. Dann wird sicherlich noch einmal hier im Parlament darüber debattiert werden. Ich vermute, dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres eine Lösung gefunden werden kann. Im Haushaltsausschuss und in den mitberatenden Ausschüssen werden wir noch genügend Gelegenheit haben, diese Dinge im Detail zu erörtern und die historische Aufgabe hinreichend zu würdigen. Immerhin ist dies eines der ganz großen gesamtdeutschen Projekte, das für viele andere Regionen beispielhaft ist, die mit Braunkohlebergbau zu tun haben. Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Haustein das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Heinz-Peter Haustein (FDP): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Braunkohle ist ein fossiler Brennstoff; das ist bekannt. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nein! Das ist Erwachsenenbildung!) Ihr Wasseranteil beträgt 50 Prozent. In den festen Bestandteilen sind ungefähr 70 Prozent Kohlenstoff und 3 Prozent Schwefel enthalten; der Rest ist Erde. Deshalb hatte die Rohbraunkohle bei uns im Osten den Spitznamen "Heilerde". Es ist öfter mal passiert, dass das Feuer im Kessel ausgegangen ist, anstatt schön weiterzubrennen. Stellt euch vor, es gab einen Staat, der praktisch über eine einzige Energiequelle verfügte, nämlich die Braunkohle. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir sind doch nicht in der Grundschule!) Es gab riesige Tagebaue, große Schaufelradbagger und Eimerkettenbagger. Es gab kilometerlange Transportstrecken, um die Rohbraunkohle zu den Kraftwerken zu schaffen, wo sie verstromt wurde, oder um sie zu den Verladebahnhöfen zu bringen, von wo aus die Braunkohle im Land zum Verfeuern verteilt wurde. (Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP]) Besser war es, die Rohbraunkohle zu veredeln und sie zu Briketts oder zum BHT-Koks, zum Braunkohlehochtemperaturkoks, zu verarbeiten. Die Braunkohle bildete die Grundlage der Energiewirtschaft der DDR. Dies hatte zur Folge, dass auf einer Fläche von 1 400 Quadratkilometern, ungefähr von hier bis nach Dresden, auf einem 10 Kilometer breiten Streifen Tagebaue angelegt wurden. Damit wurde Raubbau an der Natur und am Menschen betrieben. Es wurde rücksichtslos abgebaut; man hatte nur die Produktion von bis zu 300 Millionen Tonnen pro Jahr im Blick. Das war Fakt; so war es bis 1990: öde Landschaften, Unland, Umweltverschmutzung hoch fünf. Dann kam die Wende, und damit kamen glücklicherweise ein verehrter Herr Bundeskanzler Kohl und ein Außenminister Genscher, die das Problem erkannt haben und die Weichen richtig gestellt haben. Das war entscheidend. In den ersten beiden Jahren wurden über 112 000 Menschen im Rahmen von ABM in den Braunkohletagebauen beschäftigt. Mit dem 1. Verwaltungsabkommen von 1993 wurde die Braunkohlesanierung geregelt. Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte: 97 Prozent der Flächen sind bereits bergmännisch saniert, 87 Prozent sind rekultiviert. Es tut gut, so etwas Schönes sagen zu können. Zum Antrag der Linken. Sie mahnen verschiedene Punkte an, die sowieso schon überholt sind. Die Verhandlungen, deren Abschluss Sie fordern, laufen bereits - mein verehrter Herr Kollege Michael Luther hat es gesagt -; (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Ja! Sieht gut aus!) in der nächsten Woche, am 26. oder am 27. Januar, kommt die Gruppe zusammen und wird die Weichen für das 5. Verwaltungsabkommen richtig stellen. Sie fordern, die Braunkohlesanierung "als öffentliche Aufgabe zu betrachten." Sie wird zwar von einem Privatbetrieb durchgeführt, aber der Bund ist einziger Gesellschafter des Unternehmens und hält 100 Prozent. Also wird die Braunkohleförderung schon jetzt als eine öffentliche Aufgabe durchgeführt. Sie fordern, genug Geld zur Verfügung zu stellen. Das ist selbstverständlich notwendig, um hier zu einem guten Ende zu kommen. Wir sollten aber nur so viel Geld wie nötig bereitstellen. Nur das, was sein muss, was wir unbedingt machen müssen, sollte gemacht werden, nicht so viel wie möglich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine weitere Forderung bezieht sich auf "Maßnahmen zur Abwehr von Gefährdungen ... im Zusammenhang mit einem Wiederanstieg des Grundwassers". Das ist natürlich so eine Sache. Sie wissen ja: Der Erzfeind des Bergmanns ist das Wasser, egal ob in den Erzgruben oder in den Tagebauen. Sie müssen es sich so vorstellen: Ein Tagebau mit den verschiedenen Stufen ist manchmal 200 oder 300 Meter tief. Die Wasserhaltung hat natürlich zu Verwerfungen geführt. Der Grundwasserspiegel wurde kilometerweise abgesenkt. Zum Teil wurde auf den Flächen neu gebaut. Durch das Fluten der Tagebaue steigt jetzt der Grundwasserspiegel. Dadurch kommt es zu Schäden an Häusern, Straßen und Brücken; es kommt auch zu Gefährdungen. Der Bergbau im Erzgebirge ist gut 800 Jahre alt. Noch immer - auch heute noch - gibt es Einstürze an Straßen und auf Feldern; noch heute entstehen Bingen. Der Bergbau ist also sehr langfristig angelegt. Ich fasse zusammen: Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte, die die christlich-liberale Koalition schon 1990 begonnen hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mir gibt dieser Antrag, eben weil er von den Linken kommt, Gelegenheit, den Leuten zu sagen: Auch das ist eine Seite des Kommunismus - Raubbau an der Natur, Missachtung der Schöpfung. Da spielt das überhaupt keine Rolle. Umwelt- und Naturschutz: gleich null. Auch das muss einmal gesagt werden. Wenn Sie letzte Woche gesagt haben, Sie wollen den Kommunismus wieder, dann kann ich nur entgegnen: Ich habe es ja schon immer geahnt; denn Sie halten ja am Kommunistischen Manifest als Grundlage Ihrer Politik fest. Meine Sache ist das nicht. Ich habe, ganz ehrlich gesagt, vom Kommunismus die Schnauze voll. SPD und Grünen in NRW möchte ich noch sagen: Seid vorsichtig, von wem ihr euch tolerieren lasst, sonst steckt es euch irgendwann auch noch an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP will doch die Grünen tolerieren! Eure eigenen Leute!) Liebe Freunde, in diesem Sinne ein herzliches "Glück auf!" aus dem Erzgebirge. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Krischer das Wort. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es fiele mir schon etwas ein zu dem letzten Debattenbeitrag, aber ich glaube, das hätte weniger mit dem Thema Braunkohlesanierung zu tun. Deshalb will ich mich lieber mit diesem Thema auseinandersetzen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Karneval steht vor der Tür!) Man kann sich in der Tat fragen, warum dieser Antrag jetzt hier eingebracht wird. Denn eigentlich war klar: Die Haushaltsmittel waren schon in die mittelfristige Finanzplanung eingestellt. Soweit ich informiert bin, gab es auch keinen großen Dissens darüber, dass das fortgesetzt wird. Da kann man schon fragen: Warum bringt man einen solchen Antrag ein? Aber ich will die Gelegenheit nutzen, einfach Bilanz zu ziehen. Hier ist sehr viel gelobt worden. In der Tat ist da eine Menge geleistet worden. Das ist ein positives Beispiel, ohne Zweifel. Aber es ist nicht alles gut gelaufen, und es gibt eine ganze Reihe von Problemen. Das Unglück in Nachterstedt ist nur das augenfälligste, das mit den schlimmsten Folgen gewesen. Wir haben in den Sanierungsgebieten eine ganze Reihe von Problemen. Erst im Oktober dieses Jahres hat es im ehemaligen Tagebau Spreetal einen schweren Grundbruch gegeben, bei dem - man glaubt es nicht - 80 Schafe umgekommen sind. Darüber kann man jetzt vielleicht lachen, (Zuruf von der LINKEN: Nein, nein!) aber man darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn an der Stelle Menschen gewesen wären. Das zeigt eben, ganz so optimal läuft diese Sanierung nicht. (Beifall der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Es gibt eine Reihe von weiteren Fällen. Zum Beispiel hat es in der Weihnachtszeit im ehemaligen Tagebau Lohsa einen weiteren Grundbruch gegeben. Wir haben riesige Probleme mit den Grundwasserständen. Wir haben Schwefel im Wasser, es gibt Versauerungen. Wenn ich mir die Stellungnahmen der Naturschutzverbände vor Augen führe, dann sehe ich: Es gibt auch eine ganze Menge Kritik, (Dr. Peter Danckert [SPD]: Was wäre denn die Alternative gewesen?) dass da die Kriterien der Biodiversität, des Naturschutzes nicht immer vollständig berücksichtigt worden sind. Auch das, denke ich, muss man in dieser Debatte sagen; auch darauf muss man hinweisen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde auch, es ist zu wenig, nur über die Vergangenheit zu reden. Denn es gibt ja auch noch laufende Braunkohletagebaue, im Osten und im Westen Deutschlands. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Bei Aachen!) Zu den Problemen, die damit verursacht werden, den Altlasten und Ewigkeitskosten, die dort bestehen bzw. noch entstehen werden, finde ich leider in diesem Antrag nichts. Ich würde mir wünschen, dass wir uns auch damit auseinandersetzen. Nur Geldforderungen für Folgen der Vergangenheit zu stellen, das ist meines Erachtens zu wenig. (Otto Fricke [FDP]: Jetzt kommt der Kirchturm!) Wir müssen darauf achten, dass wir hier nicht in ein paar Jahren über die Folgeschäden und die Folgekosten der Tagebaue, die heute laufen, diskutieren werden, dann nämlich, wenn sich RWE und Vattenfall, die diese Tagebaue heute betreiben, möglicherweise aus dem Staub gemacht haben und ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Dann haben wir die nächsten Altlasten. Dazu wären jetzt eigentlich Forderungen zu stellen; dazu würde ich mir auch mal einen Antrag wünschen. (Otto Fricke [FDP]: Das hat die rot-grüne Regierung in NRW doch verhindert!) - Die rot-grüne Regierung, das kann ich Ihnen sagen, hat eine sehr gute Entscheidung getroffen, indem sie sich nämlich dafür entschieden hat, dass es nach dem Auslaufen der vorhandenen Tagebaue keine neuen mehr geben wird, weil wir der Meinung sind, dass die Braunkohleverstromung nicht nur die klimaschädlichste Form der Energieerzeugung ist, sondern auch die schädlichste in Bezug auf die Landschaftszerstörung. Es werden Menschen vertrieben; sie verlieren ihre Heimat. Das alles ist nicht zukunftsfähig. Das ist auch völlig klar. Vor dieser Frage drücken Sie sich natürlich. Sie akzeptieren - das muss man leider auch der rot-roten Landesregierung in Brandenburg sagen -, dass der Braunkohletagebau weitergeht und für die Zukunft Altlasten produziert werden. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist nicht wahr! Sie sagen das wider besseres Wissen!) Das sollte nicht unser Thema sein. Es sollte uns eine Warnung sein, dass in der DDR derart viele Altlasten produziert worden sind, dass wir bisher schon 9 Mil-liarden Euro in die Sanierung stecken mussten. Sie selbst sagen, dass das noch lange nicht das Ende ist, sondern noch eine ganze Menge hinzukommen wird. Daraus sollten wir lernen und auf die Braunkohle in Zukunft insgesamt verzichten. Wir sollten den Betrieb dieser Tagebaue in einem geordneten Verfahren auslaufen lassen und die umweltverträgliche Alternative, die erneuerbaren Energien, nutzen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sagen Sie mal was zu Moorburg!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat der Kollege Koeppen das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jens Koeppen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich konnte beim Lesen des PDS-Antrags (Zurufe von der LINKEN: Oh!) nicht erkennen, was die genaue Zielrichtung dieses Antrags ist. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da haben Sie aber nicht gut gelesen!) Herr Claus, auch durch Ihre Rede ist mir das nicht deutlicher geworden. Die Kollegen vom Haushaltsausschuss hingegen haben deutlich gemacht, dass es keinerlei parlamentarischer Korrekturen bedarf, weil das 5. Verwaltungsabkommen auf dem Weg ist. Außerdem brauchen wir keine Hinweise von Ihnen in dieser Debatte. Der Antrag ist aber trotzdem sehr gut, weil er mir Gelegenheit gibt, kurz die Gründe hervorzuheben, warum ein Milliardenaufwand der Bundesbürger zur Braunkohlesanierung notwendig geworden ist. Von Ihrer Seite wird immer wieder versucht, zu unterstellen, dass die Lasten der öffentlichen Hand mit der heutigen Nutzung verbunden sind. Das ist schlichtweg falsch. Heute haften die Unternehmen für jeden Eingriff. Sie bilden Rückstellungen für die erforderliche Renaturierung. Diese Renaturierung wird von den Unternehmen, die dort tätig sind, selbst finanziert. Das ist so. Sie brauchen gar keine anderen Spuren zu legen. Die PDS-Vorsitzende Lötzsch hat auf ihrer verzweifelten Suche nach dem Kommunismus vor kurzem gesagt: Manchmal lohnt sich ein Blick in die Geschichte, um etwas zu verstehen. - Dann machen wir das einmal, um die Notwendigkeit von Verwaltungsabkommen zur Regelung der Finanzierung der ökologischen Altlasten zu erklären. Es handelt sich um fast 9 Milliarden Euro. Eines ist ganz klar: Über diese Verwaltungsabkommen wird ausschließlich die Bewältigung der Altlasten der desaströsen Energie- und Umweltpolitik des SED-Regimes finanziert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, Sie haben nicht nur einen politischen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern Sie haben auch in den Bereichen Wirtschaft und Energie und insbesondere im Bereich der Umwelt einen Scherbenhaufen hinterlassen. Und jetzt stellen Sie sich selbst als Umweltengel dar, wettern gegen die Braunkohle, beschimpfen die Kraftwerke als Dreckschleudern und würden sie lieber heute als morgen schließen und Tausende Menschen, die dort arbeiten, auf die Straße schicken. Davon wären insbesondere die Menschen in Ostdeutschland betroffen. Wäre ein Verständnis für nachhaltige Politik - ich sage das in Anführungsstrichen - bei Ihnen und Ihren Funktionären, die alle noch bei Ihnen hocken, in den Jahren vor 1990 in irgendeiner Art und Weise vorhanden gewesen, hätte es diese gewaltigen Umweltzerstörungen niemals gegeben. Sie haben Raubbau betrieben. Sie haben die Umwelt geschändet. Sie haben Wälder vernichtet. Sie haben den Dreck in die Luft geschleudert und die Menschen am Rande von riesigen Mondlandschaften wohnen lassen. Es ist absolut unredlich, jetzt solche Anträge zu schreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP]) Die Menschen in den neuen Ländern haben in den letzten beiden Jahrzehnten eine unglaubliche Leistung vollbracht, auch mithilfe - das ist richtig - öffentlicher Mittel und einer großen Solidarität. Herr Claus, das versteckte SED-Vermögen hätte vielleicht auch geholfen, diese Umweltsünden zu beseitigen, (Roland Claus [DIE LINKE]: Ach ja! Das haben wir im Tagebau verbuddelt!) aber das haben Sie über den Durst gerettet. Die Regionen, die mit den SED-Hinterlassenschaften umzugehen haben, können auch in Zukunft auf die gesamtdeutsche Unterstützung vertrauen. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!) Noch ein Wort zur Braunkohle - Herr Krischer, diesbezüglich bin ich überhaupt nicht bei Ihnen -: Dass in den Braunkohleregionen eine Akzeptanz für eine weitere Braunkohlenutzung vorhanden ist, hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass man die Abbaugebiete vernünftig saniert und die Menschen nicht, wie zu DDR-Zeiten, mit der Umweltzerstörung alleinlässt. Wir finden, dass die Braunkohle auch heute eine wichtige Funktion im Energiemix hat, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) und zwar in Bezug auf Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz. Wenn man das alles zugleich im Blick hat, wird man sehen - auch Sie werden es sehen -, dass man in absehbarer Zeit nicht auf den Energieträger Braunkohle verzichten kann. Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit hat die subventionsfreie Verstromung der heimischen Braunkohle gerade in Ostdeutschland eine wichtige Funktion. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie subventionsfrei die ist, sieht man ja!) Natürlich muss sie - da gebe ich Ihnen recht - klimaschonender werden. Wir brauchen effiziente Kraftwerkstechnologien - dafür wird unser brillantes deutsches Ingenieurwesen, über das wir verfügen, schon sorgen -, aber auch ein CCS-Gesetz, das wir in Kürze verabschieden werden. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da sind wir aber gespannt!) Hier sollten Sie sich einbringen. Da Sie in Brandenburg leider in Regierungsverantwortung sind, sage ich Ihnen: Sie sollten sich nicht immer wegducken und hier das eine, dort das andere sagen. Sie dürfen nicht immer schreien: "Haltet den Dieb!"; denn Sie sind die Räuber. Sie rufen nach dem Staat, den Sie auf dem Weg zu Ihrem Kommunismus beseitigen wollen. Ich finde das armselig und beschämend, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei der LINKEN - Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das wird auch nicht besser, wenn Sie das wiederholen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3046 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung - Drucksache 17/3788 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das passt ja ganz gut. Jetzt gehen wir von der alten Braunkohle zum Thema Nachhaltigkeit über. Mein Vorredner, Herr Koeppen, hat den Bogen zu dem, was nachhaltige Politik im Jahre 2011 bedeuten könnte, schon gespannt. Ich habe einleitend eigentlich sagen wollen, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung glücklich sind, den Indikatorenbericht 2010 schon am Donnerstag der ersten Sitzungswoche dieses Jahres zu einer Topzeit vorstellen zu können. (Heiterkeit) Zumindest beim Donnerstag und bei der ersten Sitzungswoche ist es geblieben. Der Beginn der Debatte hat sich allerdings etwas verzögert. Dass diese Debatte ursprünglich so angelegt war, beweist aber, dass der Aspekt der Nachhaltigkeit dem Deutschen Bundestag im Jahre 2011 noch wichtiger ist, als er ihm in der Vergangenheit bereits war. Schließlich haben wir schon im Jahre 2010 viele gute Debatten zu diesem Thema geführt und die Arbeit des Bundestages damit, wie ich hoffe, befruchten können. Natürlich stellt sich die Frage: "Wie bewertet man in sechs Minuten den Indikatorenbericht 2010?", zumal in dieser Debatte auch der Fortschrittsbericht, die Struktur des Parlamentarischen Beirats und unsere Arbeit zum Thema Nachhaltigkeit insgesamt eine Rolle spielen. Es ist sehr ambitioniert, alle Indikatoren - es sind 21 plus x - in 30 Minuten zu behandeln. Lassen Sie mich versuchen, in ein, zwei Sätzen zu sagen, was uns der Indikatorenbericht über die Entwicklung der Nachhaltigkeit in der Bundesrepublik verrät. Ich glaube, man kann sagen, dass die Nachhaltigkeit auf einem guten Weg ist. Man muss klar feststellen: Bei einzelnen Indikatoren besteht noch Nachbesserungsbedarf - im Indikatorenbericht sieht man in diesem Fall einen bösen Blitz -, bei vielen Indikatoren haben wir bereits gute Entwicklungen hinter uns - in diesem Fall ist im Indikatorenbericht eine Sonne zu sehen -, und bei einigen Indikatoren ist die Situation noch problematisch. An dieser Stelle vielen Dank an die Obleute. Wir haben es geschafft, diesen Bericht gemeinsam und mit nur wenigen Sondervoten zu verabschieden und ihn dem Bundestag vorzulegen. Ich will nur zwei, drei Beispiele für Indikatoren, die, wie ich glaube, signifikant Positives, aber auch Problematisches aufzeigen, benennen. Wichtig ist, dass wir uns zwei Ziele gesetzt haben. Zunächst werten wir die Indikatoren in den jeweiligen Fachbereichen aus. Dann überlegen wir, wo wir unsere Anstrengungen verstärken und nacharbeiten müssen, um die Nachhaltigkeit immer wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Ich glaube, insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg. Ein sehr positives Beispiel ist der Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch in Deutschland; dieses Thema ist gerade schon ansatzweise erwähnt worden. Ich will exemplarisch darauf hinweisen, dass sich die Bundesregierung für das Jahr 2010 zum Ziel gesetzt hat, einen Anteil von 4,2 Prozent zu erreichen. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch betrug bereits im Jahre 2009 8,9 Prozent. Dieses Ziel wurde also weit übertroffen. Ein weiteres Beispiel ist die Stromerzeugung. Es wurde das Ziel formuliert, der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung solle bis 2010 12,5 Prozent betragen. Mittlerweile liegt ihr Anteil bei 16,1 Prozent. Dieser Indikator sagt also: Hier liegt ein Erfolg vor. Da kann man auch einmal sagen, dass sich gewisse Handlungen der Politik in diesem Bereich nachhaltig auswirken. Ich erinnere an gewisse Gesetzesvorhaben, das EEG oder EE-Wärmegesetz. Darüber kann man en détail diskutieren, aber sie haben eins bewirkt: Sie haben den Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch deutlich nach oben steigen lassen. Das ist ein gutes Ergebnis, eine gute Botschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man könnte jetzt jeden einzelnen Indikator durcharbeiten, das mache ich aber nicht. Ich möchte nur noch zwei oder drei herausarbeiten, die für meinen Bereich, nämlich für die Bildung, gewisse Probleme mit sich bringen. Da haben wir zum Beispiel die Schulabbrecherquote, die Quote der 18- bis 24-Jährigen, die keinen Schulabschluss haben. Das ist eine für den Bildungsbereich hochbrisante und hochwichtige Quote. 1990 hatten wir sozusagen als Ausgangsbasis einmal 14,9 Prozent. Jetzt liegt die Quote bei 11,8 Prozent. Richtig ist, dass wir das Ziel von 9 Prozent nicht erreicht haben, richtig ist aber auch, dass der Prozess als solcher positiv zu bewerten ist. Wir müssen dennoch darüber diskutieren, weil dieser Indikator zu spät ansetzt. Dieser Indikator bewertet das Ergebnis der zuvor erfolgten frühkindlichen, vorschulischen und schulischen Bildung, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Diesen Indikator kann man auch nicht alleine stehen lassen, man muss ihn immer durch einzelne Bildungsberichte ergänzen. In der letzten Sitzungswoche haben wir hier beispielsweise über PISA diskutiert. Das alles zusammen muss dann ein rundes Bild ergeben. Ich glaube aber auch, dass der Bildungsbereich deutlich macht, welche Anstrengungen die letzten Bundesregierungen gerade in diesem Bereich unternommen haben. Gut ist auch die Studienanfängerquote. Dabei muss man jedoch darüber diskutieren, was eigentlich der Begriff Studienanfängerquote bedeutet. Die Studienanfängerquote in Australien liegt bei 86 Prozent, die in Polen übrigens bei 78 Prozent. Sie ist natürlich nicht allein signifikant und aussagefähig hinsichtlich der Frage, wie sich der Bildungsbereich entwickelt hat. Wir haben einmal das berühmte 40-Prozent-Ziel festgesetzt - man muss Ziele definieren -, das bedeutet: 50 Prozent der Schüler erreichen die Hochschulzugangsberechtigung, 40 Prozent gehen an die Hochschulen und 30 Prozent sollen dann auch einen Abschluss machen. Mit 39,8 Prozent haben wir ein sehr, sehr gutes Ergebnis, sozusagen knapp vor der Zielmarke. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass wir einen doppelten Abiturjahrgang hatten, dass wir die geburtenstarken Jahrgänge hatten, muss man diese Quote noch wesentlich positiver sehen. Sie ist übrigens bei den Frauen mit 40,3 Prozent leicht höher als bei den Männern. Auch das ist bemerkenswert. Aber es sind in einigen Bereichen noch weitere Anstrengungen erforderlich, das macht dieser Bericht deutlich. Ich nenne als Beispiel die Energieproduktivität. Es klingt gut, wenn man sagt: Wir liegen im Vergleich zum Basisjahr 1990 bei über 140 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt liegt bei 125,7 Prozent, die Energieproduktivität bei 140 Prozent; die Entwicklung geht also in die richtige Richtung. - Richtig. Aber worin liegt der Mehrwert - in Anführungszeichen -, wenn wir energiesparende Lampen oder Fernseher produzieren, ich in meinem Haus aber das Dreifache an Fernsehern und brennenden Lampen habe? Der Deutsche Bundestag - wenn man sich so umschaut - könnte auch einmal überlegen, wie man möglicherweise hier oder da bei der Einsparung ein Vorbild sein könnte. Auch darüber wird zu sprechen sein. Dieser Indikator ist also durchaus auch problematisch zu sehen, wenn es nämlich nicht im Bewusstsein verankert ist, dass das Beste in Bezug auf Lampen ist, wenn sie gar nicht erst zum Brennen kommen. Leider sind die sechs Minuten Redezeit tatsächlich so schnell zu Ende, wie ich das fast befürchtet hatte. Ziel wird es sein, das Bewusstsein zu erweitern und positive Beispiele aufzunehmen. Ich glaube, zu diesem Indikatorenbericht kann man sagen, dass er zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Jeder setzt seinen Schwerpunkt, die einen bei der ökologischen Entwicklung, die anderen bei der sozialen Entwicklung, wieder andere bei der ökonomischen Entwicklung. Insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn wir jetzt das Bewusstsein - auch durch solche Debatten und ausführliche Diskussionen innerhalb des Beirates - weiter stärken, dann wird die Nachhaltigkeit im Deutschen Bundestag auch nachhaltig vertreten sein. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gottschalck das Wort. (Beifall bei der SPD) Ulrike Gottschalck (SPD): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Wie definieren wir Nachhaltigkeit? Was erwarten wir vom Fortschritt? Der Begriff Nachhaltigkeit ist in aller Munde, wird zwischenzeitlich für meinen Geschmack auch etwas zu inflationär benutzt, aber auf dem Plenarplan steht er nicht ganz so oft. Deshalb freue ich mich, dass der Punkt heute aufgerufen wird - wenn auch spät - und wir dieses elementare Thema Nachhaltigkeit behandeln. Die Nachhaltigkeitsdebatte wird jenseits parteipolitischer Grenzen seit längerem geführt. Wichtig ist aber auch, dass die Politik ihre Kräfte bündelt, um zukunftsweisende und praxisgerechte Grundlagen für eine wirklich nachhaltige und solidarische Gesellschaft der Zukunft zu schaffen. Genau dies versuchen die Mitglieder des Beirates. Es geht hier sozusagen um Grundlagenarbeit. Wir versuchen im Beirat durchaus, über den Tellerrand zu schauen und parteipolitisches Geplänkel außen vor zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will gerne zugeben: Das ist nicht immer ganz einfach. Wir arbeiten im Parlamentarischen Beirat sozusagen mit diplomatischen Samthandschuhen, weil wir gerne in langen Linien denken wollen, eben auch über Legislaturperioden hinaus; denn ich denke, das ist wichtig. Ich denke, es spiegelt sich auch in den meisten unserer Stellungnahmen wider, dass wir alle - alle Partien - sehr bemüht sind, einen Konsens herzustellen, um wirklich etwas voranzubringen. (Beifall im ganzen Hause) Ich möchte drei Thesen aufzeigen, die uns besonders wichtig sind: Erstens ist das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in der Gesellschaft zu verankern. Herr Weinberg hat das eben auch angesprochen. Diesem Ziel sind wir alle verpflichtet, insbesondere im Hinblick auf zukünftige Generationen. Zweitens. Die empirische Messung der Nachhaltigkeit anhand der Indikatoren kann selbstverständlich nur dann sinnvoll sein, wenn die Ergebnisse quasi als Ausschlag eines Seismografen oder Frühwarnsystems angesehen werden und wir negativen Entwicklungen entgegentreten können. Drittens. Die Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 der Bundesregierung sind zu Recht hoch. Wir dürfen hier gemeinsam nicht lockerlassen; denn durch die Ergebnisse in dem Indikatorenbericht 2010 wird doch noch ein immenser Handlungsbedarf in einigen Bereichen aufgezeigt. Auch wenn der Begriff Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft kommt - es geht darum, den Wald nachhaltig zu bewirtschaften -, hat er doch nicht nur etwas mit der Umwelt zu tun, sondern er hat ökonomische, ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen. Die Nachhaltigkeit wird uns im politischen Alltag zukünftig noch weiter beschäftigen. Seit einiger Zeit werden die Entwicklungen mit Indikatoren statistisch erfasst, gemessen und bewertet. Damit erhält der Begriff Nachhaltigkeit auch eine empirische Grundlage. An dieser Stelle möchte ich das Statistische Bundesamt einmal ausdrücklich loben, das diesen Bericht wirklich schön aufbereitet hat. Er ist übersichtlich und wirklich für jeden verständlich. Daher ein Lob an dieser Stelle. (Beifall im ganzen Hause) Der Parlamentarische Beirat fordert die Bundesregierung auf, Indikatoren, die sich in den letzten Jahren einfach nicht bewährt haben, durchaus auch zu überarbeiten und gegebenenfalls auszutauschen. Solche Änderungen müssen eng zwischen dem Bund, den Ländern und den Kommunen abgestimmt werden, damit es dann wirklich eine gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie gibt. An die Länder appelliere ich daher, das Thema Nachhaltigkeit wirklich zur Chefsache zu machen und bei den Staatskanzleien anzusiedeln; denn mit diesem populären und nach außen getragenen Beispiel könnte man die Nachhaltigkeit auch in den Ländern besser verankern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wie Herr Weinberg eben auch schon gesagt hat, können wir hier keine 21 Indikatoren aufzeigen. Ich greife drei ganz kurz heraus: Der Klimaschutz nimmt in der öffentlichen Debatte bereits einen wichtigen und präsenten Platz ein. Deutschland hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Das Erreichen dieser Ziele müssen wir nun aber gemeinsam erkämpfen. Wir vom Beirat fordern deshalb ganz eindeutig: Alle Programme zum Einsparen von CO2 müssen weiterentwickelt werden. Gerade in diesem Bereich hätte ein Versagen dramatische Konsequenzen für zukünftige Generationen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Bei den Staatsfinanzen müssen wir nachhaltiger denken; denn die Zinsen und die Tilgung unserer Schuldenlast müssen künftig von immer weniger Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern geschultert werden. Wir empfehlen dringend eine qualitative Ausgaben- und Einnahmeanalyse. Ich muss ein bisschen Gas geben, damit meine Redezeit reicht. - Bei dem Indikator Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern muss ich allerdings deutliche Worte finden. Denn ich finde die Gewitterstimmung bei diesem Indikator besorgniserregend. Es dürfte unstreitig sein, dass Männer und Frauen gleichen Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort und auch dieselben Aufstiegschancen bekommen sollten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Daher fordern wir die Bundesregierung auf, hier Verbindlichkeiten zu schaffen, damit wir an dieser Stelle gegenwirken und bis 2015 konkrete Maßnahmen umsetzen können. Fortschritt ist Zukunft. Aber der Begriff Fortschritt muss mit Leben gefüllt werden. Deshalb haben wir Sozialdemokraten in der letzten Woche ein Fortschrittsprogramm diskutiert und unsere Vorstellungen formuliert, wie wir uns Deutschland im Jahr 2020 vorstellen. Wir wollen Fortschritt mit Gerechtigkeit. Das ist unser Arbeitsplan, und den werden wir umsetzen. Genau das machen auch die Mitglieder des Beirats. Hier schließe ich ausdrücklich alle Mitglieder ein. Wir wollen Wege ebnen und gerechten Fortschritt forcieren. Wir müssen vorausschauend denken und komplexen Problemlagen begegnen. Wir müssen alle Beschlüsse auch daraufhin prüfen, ob sie unsere Kinder und nachfolgende Generationen entlasten oder sogar belasten. Wir müssen Nachhaltigkeit und Fortschritt mit Leben füllen und in konkretes Handeln umsetzen. Wir müssen Nachhaltigkeit leben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sind zwar nicht gerade viele Zuschauer auf den Rängen, (Heiterkeit - Manfred Grund [CDU/CSU]: Es sind nicht einmal Journalisten da!) aber dennoch ist es, glaube ich, wichtig, das Wort Nachhaltigkeit etwas bürgernäher zu übersetzen. Es geht nämlich letztendlich darum, dass wir von den Zinsen leben müssen statt vom Kapital: weder vom Naturkapital noch vom Finanzkapital oder dem Kapital, das in unseren Infrastrukturen liegt. Es geht darum, dass künftige Generationen faire und vergleichbare Lebenschancen haben. Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie haben Parlament und Bundesregierung 2002 Leitlinien aufgestellt, die über die Legislaturperioden hinweg ein roter Faden für die Politikentwicklung sind. Deshalb ist es wichtig, dass wir in diesem Haus zu einem möglichst breiten Konsens kommen. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie setzt Ziele; sie misst aber auch Indikatoren. Damit schafft sie Transparenz mit einem Managementsystem, wie es neben Deutschland und Großbritannien nicht viele andere Länder in Europa haben. Gerade auch die Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union kann, was Transparenz und Managementsystem angeht, von Deutschland noch einiges lernen. Ein Blick auf die Indikatoren zeigt, dass wir beim Klimaschutz und den erneuerbaren Energien sehr gut sind. Wir gehören zu den wenigen Ländern, die die Kioto-Ziele erreichen werden. Wir haben bei den erneuerbaren Energien die Ziele in den letzten Jahren sogar noch übertroffen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat sich als effektives Instrument der Förderung erneuerbarer Energien bewährt. Deshalb steht auch meine Fraktion nachdrücklich zum EEG. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben gleichzeitig die Situation, dass die Kosten für den Ausbau der erneuerbaren Energien insbesondere in den letzten Monaten aus dem Ruder gelaufen sind. Zu einer Politik der Nachhaltigkeit gehört auch, dass man die soziale und wirtschaftliche Dimension von Nachhaltigkeit nicht vergisst. Deshalb ist es richtig, dass wir heute einen Vorschlag vorgelegt haben, um die Solarförderung an die veränderten Weltmarktbedingungen anzupassen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Indikatorenbericht ist die Bilanz in einem weiteren Punkt positiv, und zwar im Bereich der Beschäftigung. Wenn wir uns anschauen, wo wir jetzt stehen und wo wir zum Beispiel 2002 standen, als die Nachhaltigkeitsstrategie auf den Weg gebracht wurde, dann erkennen wir, dass wir sukzessive - daran sind alle Regierungen seit diesem Zeitpunkt beteiligt gewesen - Reformen auf dem Arbeitsmarkt durchgeführt haben, die dazu geführt haben, dass wir zum einen die Krise besser als andere Länder durchgestanden haben und zum anderen den Aufschwung besser als andere Länder genutzt haben. Das ist positiv für die Menschen hier im Land. Es ist auch positiv, dass wir uns im Bereich der Beschäftigung nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell verbessert haben. Wir sind vorne in Europa. Das ist ein Verdienst nicht nur der Politik in den vergangenen Jahren, sondern auch der aktuellen Politik. Es gibt aber auch Bereiche, in denen sich Deutschland verbessern muss. Ich möchte den Bereich der Artenvielfalt herausgreifen. Wir haben es in den vergangenen zehn Jahren nicht geschafft, unsere Ziele in diesem Bereich zu erreichen. Das betrifft übrigens nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt. Die Konvention über die biologische Vielfalt hat sich vergleichbare Ziele auf UN-Ebene gesetzt und ist genauso dramatisch gescheitert wie die deutsche Politik in diesem Bereich. Genauso wie in Nagoya auf internationaler Ebene müssen wir auf nationaler Ebene ernsthaft darüber nachdenken, wie wir die genetischen Ressourcen, die für die Menschen auch in Zukunft wertvoll sind, erhalten können. Das ist ebenso eine Herausforderung wie die Staatsverschuldung. Wir haben zwar mit der Schuldenbremse und der daraus folgenden Politik eine Abkehr von der hemmungslosen Verschuldung auf Bundesebene erreicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben es aber noch immer nicht geschafft, alle Bundesländer dazu zu bringen. Wenn Nordrhein-Westfalen nun vom Landesverfassungsgerichtshof gezwungen werden muss, die Kreditaufnahme einzustellen, dann ist das kein Zeichen für Nachhaltigkeit im föderalen System. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um die Altlasten der schwarz-gelben Landesregierung zu beseitigen!) Zur Überarbeitung der Indikatoren. Es gibt insbesondere einen Indikator, bei dem sich die Bundesregierung fragen lassen muss, ob sie die Empfehlungen des Parlamentes in den letzten Jahren ignoriert hat. Wir möchten, dass die Bundesregierung endlich wahrnimmt, dass der Indikator für Kriminalität aus Sicht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung völlig ungeeignet ist. (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN) Man kann die Sicherheitslage der Menschen nicht nur an der Zahl der Wohnungseinbrüche messen, wenn es gerade die Gewaltdelikte sind, die den sozialen Zusammenhalt gefährden. Wir müssen die Indikatoren in diesem Bereich neu ausrichten. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt des Fortschrittsberichts ansprechen, den die Bundesregierung jetzt erarbeitet. Wir haben - das habe ich bei der Staatsverschuldung kurz angerissen - ein großes Problem in der Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland. Wir verabschieden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes. Wenn wir eine wirklich nationale Nachhaltigkeitsstrategie erreichen wollen - das ist gerade beim Thema Bildung von elementarer Bedeutung -, dann müssen wir die Bundesländer dazu bringen, gemeinsam mit uns vergleichbare Strategien zu erarbeiten. Das ist eine Herausforderung für die nächsten Jahre. Auf Bundesebene sind wir sehr weit vorangekommen. Auf Länderebene gibt es noch viel zu tun. Außerdem fehlt bisher völlig eine Verlinkung zu dem, was der Bund macht. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Dorothee Menzner spricht nun für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dorothee Menzner (DIE LINKE): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit scheint mir ein Modewort zu sein. Wenn ich mir nur die Mails dieser Woche anschaue, dann stelle ich fest: Da ist von nachhaltig zertifizierter Biomasse ebenso die Rede wie von nachhaltigen Geldanlagen. In meinem Fachbereich, der Energie- und Klimapolitik, ist die Forderung nach Nachhaltigkeit schon lange in den Präambeln aller Dokumente verankert, egal aus welchem politischen Lager sie stammen. An sich könnte dies ein Grund zur Freude sein. Doch manchmal scheint mir der Verweis auf Nachhaltigkeit eher eine Art verkaufsförderndes Argument zu sein. Nicht überall, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch Nachhaltigkeit drin. (Beifall bei der LINKEN) Das gilt nicht zuletzt für die Politik der Bundesregierung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf einige grundlegende Widersprüche aufmerksam zu machen, die mich als Umweltpolitikerin bewegen. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung, dessen Indikatorenbericht wir heute diskutieren, hat einen sehr unterstützenswerten Satz an den Anfang seines Berichts gestellt: Damit eine Gesellschaft sich nachhaltig entwickeln kann, muss dieses Leitbild in sämtliche Bereiche des Lebens integriert werden. Es braucht eine Kultur der Nachhaltigkeit, die helfen soll, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen. Wie aber sieht es in unserer politischen Realität mit dieser Kluft zwischen Wissen und Handeln aus? (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die haben kein Wissen!) Wir stehen am Ende des Zeitalters, in dem wir Energie durch Verbrennen fossiler Stoffe gewonnen haben. Diese Erkenntnis hat sich mittlerweile durchgesetzt und ist nicht mehr zu verdrängen. Die Aufgabe der Politik muss also darin bestehen, konsequent die notwendigen Schritte - und zwar schnelle Schritte - in Richtung Energiewende zu gehen. Das gebietet nicht nur der Klimaschutz, sondern auch die Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie erinnern sich sicherlich an die Debatten, die wir hier in diesem Haus zum Energiekonzept der Bundesregierung geführt haben. Das Energiekonzept war diktiert von Profitinteressen der großen Energiekonzerne und dekoriert mit irreführenden Floskeln wie jene von der Atomenergie als Brückentechnologie. Dieses Gesetz bremst den Ausbau der erneuerbaren Energien, anstatt ihn zu befördern. Wir erleben, dass es so weitergeht. Gerade heute - der Kollege Kauch hat das angesprochen - hat die Bundesregierung verkündet, dass sie die Mittel zur Solarförderung im Rahmen eines "Europaanpassungsgesetzes" kürzen will. Das ist wieder ein Schritt, der nicht in Richtung Nachhaltigkeit geht. Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wird uns mit Gewissheit ein nächster Rollback-Versuch beschert. In der Präambel wird garantiert wieder stehen, alles geschehe zum Nutzen der Nachhaltigkeit. Machen wir doch endlich Schluss mit dieser Augenwischerei. Wo Profitinteressen von Konzernen die Politik bestimmen, bleiben ökologische und soziale Notwendigkeiten zwangsläufig auf der Strecke. (Beifall bei der LINKEN) Die kleine Schicht der ökonomisch Herrschenden dieser Erde ist weder gewillt noch in der Lage, die Interessen der gesamten Menschheit zu vertreten. Das zeigt sich tagtäglich aufs Neue. Nachhaltigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung zu garantieren, heißt, die "Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen". Das ist übrigens kein Zitat von Karl Marx, sondern stammt aus dem Bericht, über den wir heute diskutieren. (Beifall bei der LINKEN) Mit anderen Worten: Demokratie und nicht Lobbyismus ist die Grundlage für nachhaltige Politik. Mein Optimismus, dass das mit einer schwarz-gelben Bundesregierung in die Tat umzusetzen ist, ist allerdings nicht besonders ausgeprägt. Ich danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Dr. Wilms das Wort. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir widmen uns heute nach längerer Zeit wieder einmal dem Thema nachhaltige Entwicklung. Das ist auch gut so; denn das sollten wir nicht in Vergessenheit geraten lassen. Nachhaltigkeit ist für uns Mitglieder im Parlamentarischen Beirat nun wirklich keine Floskel. Es geht schließlich darum, wie wir mit den Ressourcen der Erde so umgehen, dass wir jetzt und nachfolgende Generationen zukünftig gut leben können. (Beifall im ganzen Hause) Schon Anfang der 70er-Jahre, noch vor dem ersten Ölschock, legte der Club of Rome unter der Federführung von Dennis Meadows das berühmte Buch Die Grenzen des Wachstums vor. Die Diskussion führte schließlich zur Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio. Um ihrer Verpflichtung von Rio nachzukommen, hat die damalige rot-grüne Bundesregierung im Jahre 2002 die nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt. Wir wollen heute eine Zwischenbilanz ziehen. Ich möchte einige jener Bereiche nennen, die mir dabei besonders wichtig erscheinen. Kolleginnen und Kollegen haben das mit einigen anderen Bereichen auch schon gemacht. Ich habe vor allem solche Bereiche ausgesucht, bei denen es noch viel zu tun gibt. Schauen wir erstens auf den Umgang mit begrenzten Ressourcen. Der Indikatorenbericht 2010 zeigt: Wir sind zwar etwas effizienter mit importierten Rohstoffen umgegangen. Wir haben aber auch erheblich mehr Fertigteile importiert. Denken Sie nur an die vielen Handys und Computer, die wir alle paar Jahre durch neue ersetzen. Da wir als rohstoffarmer, aber auch hochentwickelter Industriestaat auf Importe angewiesen sind, wird es Zeit, über Alternativen nachzudenken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Alternative muss lauten: sukzessive Verwendung nachwachsender Rohstoffe sowie Kaskadennutzung und Recycling von Erzeugnissen, die aus fossilen Rohstoffen hergestellt sind. Das ist der Weg in die Zukunft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Ludwig [CDU/CSU]) Auch wenn das geltende Regelwerk den Export von Elektroschrott verbietet, landet viel Müll im unterentwickelten Ausland. Dort sorgen dann Kinder unter miserablen Bedingungen dafür, dass wertvolle Metalle wieder in den Kreislauf gelangen. Ist das der richtige Weg? Wohl kaum. Wir müssen dabei umdenken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Von den jährlich verkauften circa 1,9 Millionen Tonnen Elektrogeräten werden lediglich 0,6 Millionen Tonnen - also ein Drittel - gesammelt. Da stimmt doch irgendetwas nicht. Da müssen wir noch weiter vorgehen. Schauen wir uns zweitens die Energieproduktivität an. Diese hat Kollege Weinberg auch schon kurz angesprochen. Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir den Reboundeffekt, den Kollege Weinberg angesprochen hat, tunlichst vermeiden. Die Industrie benötigt wachstumsbedingt mehr Energie, die durch Effizienzmaßnahmen nur teilweise kompensiert werden kann. Ich glaube nicht, dass wir in diesem Zusammenhang mit freiwilligen Verpflichtungen unsere Ziele erreichen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Schauen wir drittens auf die Mobilität. Güterverkehr und Personenverkehr nehmen weiter zu. Mobilität ist wichtig und belastet uns zugleich mit verstopften Straßen, Lärm und Emissionen. Dabei gibt es wirklich gute Alternativen: Stärkung der Schiene für den Fernverkehr, kombiniert mit einem weitaus stärkeren Carsharing-Netz vor Ort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich appelliere an dieser Stelle an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass das Verursacherprinzip sukzessive angewendet wird. Wer für Lärm, verstopfte Straßen und Umweltverschmutzung bezahlen muss, wird es sich beim nächsten Mal überlegen, ob nicht ein anderer Transportweg günstiger ist. Gerne würde ich noch weitere Bereiche ansprechen, zum Beispiel die zunehmende Flächenversiegelung, aber auch die hohe Staatsverschuldung, die Kollegin Gottschalck schon angesprochen hat. Im Beirat betreiben wir gerne Arbeitsteilung. Das haben wir heute hier auch bei unseren Redebeiträgen gezeigt. Wir sind uns bei wichtigen Dingen meist einig. Kolleginnen und Kollegen, langfristige Politikziele können nur über die Fraktionsgrenzen hinweg festgehalten werden. Deshalb stehen wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Das haben wir auch bei diesem Bericht wieder gezeigt. Herzlichen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Daniela Ludwig das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Daniela Ludwig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach vielen inhaltlichen Aspekten hinsichtlich der unterschiedlichen Indikatoren würde ich gern einen Schritt zurück in Richtung Nachhaltigkeitsmanagement gehen. Auch das beschäftigt uns immer wieder. Wie bereits zum Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und in der Unterrichtung zum Peer-Review 2009 haben wir uns auch in unserer Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 dafür ausgesprochen, dass das Thema nachhaltige Entwicklung und auch die nationale Nachhaltigkeitsstrategie beim Zuschnitt der Referate im Bundeskanzleramt endlich seinen Niederschlag finden muss. Unser langandauerndes Drängen und Bohren wurde nun endlich erhört. Es ist ein eigenständiges Referat "Nachhaltige Entwicklung" im Bundeskanzleramt geschaffen worden. Ich gratuliere der Bundesregierung ausdrücklich zu diesem weisen Entschluss. An dieser Stelle möchte ich aber auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass dieses Referat - gerne auch mit tatkräftiger Unterstützung des Beirats - nunmehr auch mit Leben gefüllt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir können nur helfen, die Arbeit dieses Referates mit Leben zu füllen, wenn es unseren Beirat weiterhin gibt, wenn er zu einem dauerhaften Gremium wird. Wir, der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung, haben völlig zu Recht - das sage ich ganz bewusst - eine herausgehobene Stellung im Vergleich zu den vielen Ausschüssen in diesem Haus. Diese Stellung ist deshalb herausgehoben - das ist mittlerweile mehrfach angesprochen worden -, weil wir uns bei allem Hauen und Stechen, das wir uns zwischendurch auch einmal leisten, immer wieder durch Überparteilichkeit und gute Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen auszeichnen. Wir haben hervorragende Grundlagenarbeit geleistet. Um das zu verstetigen, wäre es ein ausgesprochen sinnvolles und sehr bewusstes Signal, wenn unser Beirat endlich fest verankert würde, möglichst in der Geschäftsordnung des Bundestages oder darüber hinaus. Ich denke, dieses Thema ist wichtig genug, um dieses Signal endlich zu geben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie bereits angesprochen wurde, wird es wenig helfen, wenn der Bund allein beim Thema Nachhaltigkeit vorturnt. Gebraucht werden die Länder und vor allem die Kommunen. Als ein Beispiel verweise ich auf das Thema Flächenversiegelung/Flächenverbrauch. Es nutzt relativ wenig, wenn der Bund immer wieder darauf aufmerksam macht, man möge bitte berücksichtigen, dass nicht allzu viel Fläche verbraucht wird. Wenn eine solche Vorgabe letztlich durch die überehrgeizige Ausweisung von neuen Bau- und Gewerbegebieten vor Ort unterminiert wird, dann strampeln wir wie der Hamster im Rad, arbeiten also, ohne dass es etwas bringt. Deswegen sage ich: Die Verzahnung über alle Ebenen hinweg ist unerlässlich dafür, dass sich eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie bis ganz nach unten auswirkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Frau Kollegin Gottschalck, ich habe sehr gerne geklatscht, als Sie gesagt haben, das Bundeskanzleramt gäbe ein gutes Beispiel und die Regierungschefinnen und -chefs der Länder könnten dem gern folgen. Ich wünsche mir, dass auch auf Länderebene an prominenter Stelle ein entsprechendes Referat eingerichtet wird, dass es dann mit Leben gefüllt wird, dass sich auch unsere Kollegen in den Landtagen mit dem Thema Nachhaltigkeitsstrategie intensiv auseinandersetzen. Ich habe in den letzten Tagen vom Kollegen Stefan Mappus gehört, dass er im Rahmen einer Ministerpräsidentenkonferenz das Thema Nachhaltigkeit aufgreifen möchte. Ich bin optimistisch, dass er das auch tun wird. Aber auch hier reicht es nicht, das einmal zu tun, sondern dieses Thema muss kontinuierlich Tagesordnungspunkt sein, der ebenfalls immer wieder mit Leben gefüllt werden muss; denn sonst ist "Nachhaltigkeit" wirklich nur eine Floskel. Wir sind die Letzten, die genau dies unterstützen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zur Weiterentwicklung der Indikatoren ist einiges gesagt worden. Herr Kauch, unser liebstes Beispiel ist in der Tat der Wohnungseinbruchsdiebstahl. Weiter daneben liegen kann man nicht, wenn man über das Sicherheitsgefühl von Bürgerinnen und Bürgern spricht. Natürlich sind wir dafür, dass wir auch im Rahmen der Indikatoren eine gewisse Beständigkeit haben, um die Bewertung immer wieder nachvollziehen zu können. Aber Beständigkeit sollte nicht dazu führen, dass letztlich die Zielschärfe der Strategie komplett getrübt wird. Das heißt, wir erwarten von der Bundesregierung eine eindeutige Überarbeitung der Indikatoren. Auch hierbei sind wir mit unserem Fach- und Sachverstand gern behilflich. (Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP]) Eine solche Überarbeitung wünsche ich mir. Der Fortschrittsbericht 2012 bietet die beste Gelegenheit dazu. Vielleicht ist damit die Chance verbunden, das neue Referat im Kanzleramt entsprechend einzusetzen, lieber Herr Bauernfeind; Sie sind ja anwesend. Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beeinflusst alle Politikfelder. Technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Fortschritt müssen sich immer an diesem Prinzip messen lassen. Wir, der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung, werden die Aktivitäten der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie weiter durchaus kritisch begleiten, und wir werden in unserem Wirkungskreis für eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in der gesamten politischen Praxis, also von ganz oben bis ganz unten, werben. Wir laden alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause gern dazu ein, dabei mitzumachen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3788 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mehrgenerationenhäuser erhalten und weiterentwickeln - Prävention stärker fördern - Drucksache 17/4031 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe Stunde zu diskutieren. Ich sehe, dass Sie auch damit einverstanden sind. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Petra Crone für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Petra Crone (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Im Herbst 2006 hat die damalige Familienministerin, Frau Ursula von der Leyen, mit Pauken und Trompeten die ersten Mehrgenerationenhäuser eingeweiht. So kennt man sie. Aber - "Chapeau!" - es ist etwas Gutes daraus geworden. Die meisten der nun existierenden 500 Mehr-generationenhäuser haben sich zu wichtigen Treffpunkten und Wirkungsstätten für Jung und Alt entwickelt, und zwar genau nach den Bedürfnissen in den jeweiligen Städten, Stadtteilen und Gemeinden. Aber dennoch - leider, leider! - haben sie einen eklatanten Geburtsfehler. Frau von der Leyen hat vor lauter Öffentlichkeitsarbeit bei der Geburt der Häuser vergessen, sich um eine gute Weiterfinanzierung zu kümmern. (Beifall bei der SPD) Es gab keine Vereinbarung - weder mit den Ländern noch mit den Kommunen, noch mit den Trägern. Nun stehen die Mehrgenerationenhäuser vor einem großen Dilemma. Schon im Herbst laufen für 45 Häuser die Zuschüsse aus, für weitere 112 am Jahresende. Sie, Frau Ministerin Schröder, sind heute Abend nicht da und lassen die Verantwortlichen für die Häuser im Regen stehen. Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die Häuser drohen als Projektruinen zu enden. Darum haben wir, die SPD-Fraktion, die Initiative ergriffen und diesen Antrag für ein Folgeprojekt vorgelegt, (Beifall bei der SPD) das einen ganz wichtigen neuen Schwerpunkt als Grundlage für die Mehrgenerationenhäuser, die Prävention, benennt; denn wir wollen die Häuser nicht nur erhalten, sondern auch weiterentwickeln. Prävention in der Gesundheit betrifft Ernährung und Bewegung. Prävention in der Bildung betrifft lebenslanges Lernen. Prävention in der Integration bedeutet das soziale Miteinander. Alle bestehenden Häuser können ihre selbstgewählte Ausrichtung beibehalten, und weiterhin sind alle Generationen angesprochen. Ich habe mich gefreut, als die Ministerin ankündigte, ein Anschlusskonzept vorzulegen. Aber wo bleibt es? Sollen die Pressemitteilung und der mündliche Bericht im Ausschuss alles gewesen sein? Auf jeden Fall war der Inhalt sehr erschreckend. Ohne ausreichende Absprache mit den Betroffenen soll den Mehrgenerationenhäusern ein enges Korsett angelegt werden, das ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Alle sollen über einen Kamm geschoren werden, egal ob sie in Berlin-Neukölln oder in Olpe im Sauerland stehen. Gleichzeitig sprengt die Anzahl der geforderten neuen Leistungen alle Ketten. Da sollen die Pflegestützpunkte plötzlich in die Mehrgenerationenhäuser integriert werden. Ich frage: Was soll das? Warum soll da eine gut etablierte und wichtige Infrastruktur zerschlagen werden? (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Warten Sie mal, was wir sagen!) Da sollen die Häuser Dienstleistungsdrehscheiben zur Unterstützung und Beratung von Pflegebedürftigen, für Demenzkranke und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden. Da sollen die Häuser Knotenpunkte werden für bürgerschaftliches Engagement und - hört, hört! - für die neuen Bundesfreiwilligendienste. Da sollen die Häuser Integrationsaufgaben leisten. Damit, liebe Kollegen und Kolleginnen, habe ich nur einiges aufgezählt. Ich frage die Ministerin: Wie, bitte, sollen diese Aufgaben mit den von Ihnen genannten 30 000 Euro Zuschuss bewältigt werden? Ich gebe dem Expertennetzwerk recht, wenn es fordert, dass die 40 000 Euro Zuschuss nur die unterste Grenze sein können. Wie soll ein Mehr an Angeboten und Aufgaben - und damit auch an Personal - mit weniger Geld machbar sein? Oder sollen die Kosten auf die Städte und Kommunen abgewälzt werden? Wie viele von Ihnen sind heute noch in der Lage, diese freiwillige Leistung zu erbringen? Sollen sich nur noch reiche Städte und Gemeinden die Mehrgenerationenhäuser leisten können? Wie sollen die Modalitäten für eine neue Bewerbung aussehen? Es gibt heute keine detaillierte Beschreibung der neuen Förderung. Die Träger fühlen sich alleingelassen und warten. Wieso halten Sie die Information zurück, dass das Ministerium einen geringeren Zuschuss, befristet auf drei Jahre Laufzeit, für weniger Häuser vorsieht? Wieso wird vorgegaukelt, es könne für die Mehrgenerationenhäuser so weitergehen wie bisher? Meine Herren und Damen, es wird Neubewerbungen geben und auch neue Mitbewerber. Darum fordern wir Sozialdemokraten die Bundesregierung auf: Legen Sie ein Anschlusskonzept vor, das diesen Namen auch verdient! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erarbeiten Sie gemeinsam mit den Betroffenen, mit Ländern, Kommunen und Trägern, ein Konzept, in dem die Finanzierung klar geregelt ist! Übernehmen Sie unseren Vorschlag und richten Sie es nach Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention aus, damit sich die Mehrgenerationenhäuser in ihrem jeweiligen Umfeld passgenau weiterentwickeln können. Liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade im ländlichen Raum, gerade in sozialen Brennpunkten, gerade in finanziell schwachen Kommunen müssen wir unbedingt verhindern, dass Mehrgenerationenhäuser schließen. Vielmehr müssen sie Vorbildfunktion für ein generationenübergreifendes Miteinander haben. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Katharina Landgraf (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD ist in Teilen durchaus begrüßenswert. Glücklicherweise ist er jedoch schon überholt. Dank unseres Einsatzes in der christlich-liberalen Koalition stand bereits Anfang Dezember letzten Jahres fest, dass es ein Folgeprogramm für die Mehrgenerationenhäuser geben wird. Dieses ist auch nicht, wie von Ihnen behauptet, längst überfällig; denn der erste Teil Ihrer Forderungen, ein Folgeprogramm, ist schon erfüllt. Die öffentliche Ausschreibung beginnt in diesem Jahr. Das Folgeprogramm startet dann Anfang 2012 für die Dauer von drei Jahren. Das bedeutet auch, dass sich die Mehrheit der Mehrgenerationenhäuser ohne Leerlauf für das neue Programm bewerben kann. Zusätzliche können sich ebenso bewerben. Dies ist eine Anerkennung für die Leistungen der engagierten und größtenteils ehrenamtlichen Mitarbeiter in den Häusern. Das neue Programm wird vier inhaltliche Schwerpunkte haben: Erstens. Alter und Pflege. Hier wird es darum gehen, gut funktionierende und aufeinander abgestimmte Netzwerke und Kooperationen zu schaffen sowie auf regionale Besonderheiten einzugehen. Gerade für Ältere und Gebrechliche wäre zum Beispiel ein Begleitservice für den Weg zum Arzt eine gute Sache. Zweitens. Integration und Bildung. Im Fokus sind unter anderem der Auf- und Ausbau der Betreuung sowie die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen. Außerdem soll das Potenzial von Migrantinnen und Migranten beim bürgerschaftlichen Engagement verstärkt und gezielt genutzt werden. Auch das gehört zu unserer Willkommenskultur. Drittens. Haushaltsnahe Dienstleistungen. Hier sollen die Mehrgenerationenhäuser vor allem Anlauf- und Vermittlungsstelle sein. In Sachsen hat sich bereits jetzt ein Verständnis der Mehrgenerationenhäuser als Vermittler und Anbieter unterstützender Leistungen wie Leih-omas, Einkaufshelfer und Betreuer für Kinder und Ältere entwickelt. (Caren Marks [SPD]: Das sind doch alles nur nebulöse Ankündigungen! - Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Märchen! Das sind alles Märchen!) Die vierte Säule ist das freiwillige Engagement. Dabei sollen die Mehrgenerationenhäuser als Knotenpunkte des neuen Bundesfreiwilligendienstes und des bürgerschaftlichen Engagements in den Kommunen etabliert werden. Damit haben wir die verpflichtenden Anforderungen an die Mehrgenerationenhäuser von ursprünglich sieben auf vier gekürzt. Damit sollen das Profil geschärft und eine Überforderung der Häuser vermieden werden. Der Vorschlag der SPD, einen neuen verpflichtenden Schwerpunkt im Bereich der gesundheitlichen Prävention zu setzen, wäre meiner Ansicht nach eine Überforderung. (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Jetzt auf einmal!) Das heißt natürlich nicht, dass dieses Thema im Folgeprogramm überhaupt nicht berücksichtigt wird. Das Ziel, insbesondere älteren Menschen möglichst lange ein mobiles und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, haben die Akteure bereits jetzt im Blick. Hier können die Mehrgenerationenhäuser tatsächlich einen qualifizierten Beitrag leisten. Sie tun dies vielfach bereits heute. Das gilt genauso für die Angebote im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention für Menschen jeden Alters. Viele Mehrgenerationenhäuser sind hier - zum Beispiel im Bereich Kindergesundheit - sehr aktiv. Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen geben die Häuser bereits heute über die internen Vernetzungsstrukturen weiter. Die SPD fordert weiterhin den Erfahrungsaustausch, die Vernetzung zwischen den Mehrgenerationenhäusern und Qualifizierungen der Akteure vor Ort. Diese Punkte werden im Folgeprogramm der Regierung natürlich auch Berücksichtigung finden. Die enge Beratung und Begleitung der Mehrgenerationenhäuser hat sich bereits im laufenden Programm bewährt. Die Aktiven in den Mehrgenerationenhäusern haben mir gesagt, dass sie sehr viel von dem Voneinander-Lernen profitieren. Auch zukünftig wird deren Qualifizierung einen hohen Stellenwert haben. Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, Ihr Antrag ist, wie schon erwähnt, durchaus gut gelungen. Allerdings ist er überfrachtet mit Ideen, die nicht für jedes Mehrgenerationenhaus umsetzbar sind. Statt hochgestochener Ziele wie zum Beispiel soziale Inklusion von einkommensschwachen und benachteiligten Menschen ist es viel wichtiger, genau hinzuschauen, was von den Menschen vor Ort nachgefragt wird. Dabei ist vor allem auf die regional unterschiedliche Prägung der schon jetzt existierenden Mehrgenerationenhäuser zu achten. Es sollte nicht zuallererst darauf geschaut werden müssen, ob den neuen Schwerpunkten entsprochen wird. Es wäre also noch zu klären, ob die Bewerber alle Programmschwerpunkte erfüllen müssen oder ob eigene Schwerpunkte innerhalb der vorgegebenen möglich sind. Ich werde mich dafür einsetzen. Beispielsweise sollte es möglich sein, nur drei der genannten Schwerpunkte zu erfüllen. Außerdem ist zu fragen, ob wirklich alle Angebote der Mehrgenerationenhäuser direkt in dem jeweiligen Haus verortet sein müssen oder ob nicht eine Vernetzung mit Partnern außerhalb der eigenen vier Wände wirkungsvoller ist. Für die Praktiker in den Mehrgenerationenhäusern wäre es zudem wünschenswert, die Art und Weise der Abrechnung und Dokumentation effektiv und effizient zu gestalten. Ein Verwaltungsaufwand wie im bisherigen Programm bindet zu viel Kraft und Zeit. Unerlässlich ist bei alldem die Unterstützung durch die Kommunen. Dies ist der entscheidende Indikator dafür, ob und wie die Mehrgenerationenhäuser im kommunalen Angebot verankert sind. Ich hätte außerordentlich große Bedenken, wenn der Bund eine verstärkte finanzielle Beteiligung der Kommunen fordern sollte. Da werden wohl einige Mehrgenerationenhäuser auf der Strecke bleiben. Viele Häuser werden bereits jetzt nach Möglichkeit von den Kommunen unterstützt. Eine festgeschriebene finanzielle Beteiligung würde in manchen Fällen sogar eine Kürzung an anderen Stellen bedeuten, zum Beispiel bei Jugendklubs. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Trotzdem ist es unser gemeinsames Ziel, dass die Mehrgenerationenhäuser langfristig auch ohne Bundesförderung und ohne Schaffung von Modellprojekten existieren können. Daher werden schon nächsten Dienstag, also am 25. Januar, erste Gespräche mit den Bundesländern und Kommunen geführt, um gemeinsam eine dauerhafte Eingliederung der Häuser in die lokale Infrastruktur erreichen zu können. Die spürbare Wertschätzung der Mehrgenerationenhäuser in Familien, Gemeinden und Regionen bestärkt uns darin. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sehen: Wir sind schon mitten in der praktischen Arbeit angelangt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Dittrich (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der SPD geht es in ihrem Antrag um die Anschlussfinanzierung der 500 Mehrgenerationenhäuser in Deutschland; denn dieses Projekt läuft 2011 in der Tat aus. Was findet in einem Mehrgenerationenhaus statt? Ältere Menschen betreuen im Tagestreffpunkt zeitweise Kinder. Die Kinder unterhalten die Senioreninnen und Senioren. Ehrenamtliche unterstützen die Begegnung der Generationen. Die Fördermittel reichen leider nur für eine halbtagsbeschäftigte Sozialpädagogin. Aber die Menschen haben sich mit diesen Einrichtungen angefreundet. Diese Beziehungen einfach abzubrechen, die Enttäuschung der Kinder und Senioren, wenn ihr Treffpunkt wegfällt, bewusst einzuplanen, ist menschlich gesehen ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Aber das schert die Regierung wenig. Es war von Anfang an auf fünf Jahre geplant - basta! Die Leute sollen doch sehen, wo sie bleiben. (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Schon wieder die gleiche Platte! Sie haben nur eine Platte!) Die von der Familienministerin vorgelegte Anschlussförderung bedeutet nicht, dass die bisherigen Mehrgenerationenhäuser erhalten bleiben. Nein, das neue Projekt richtet sich auch an neue Nutzer. Es sollen Pflegestützpunkte aufgebaut werden, und die Jugendlichen, die keinen Ausbildungs- oder Studienplatz erhalten, dürfen sich darin im Rahmen des neuen Bundesfreiwilligendienstes bewähren. Wieder wird mit einem neuen Konzept ein neuer Personenkreis gewonnen, wieder werden Vertrauensverhältnisse beendet. Wie kann eigentlich soziale Arbeit gelingen? Ich will Ihnen ein Beispiel aus meiner Tätigkeit im Jugendamt der Stadt Hannover schildern. Im Treffpunkt Allerweg in Hannover waren einst zwei städtische Sozialarbeiterinnen in Vollzeit beschäftigt und boten von morgens bis abends Mietschuldnerberatung und Hilfestellung bei Erziehungsfragen an und schufen Raum für ein selbstverwaltetes Bürgercafé mit Kinderbetreuung. 40 Kinder wurden wöchentlich im Tagestreffpunkt betreut. Die Eltern entwarfen im Stadtteilcafé ihre Stadtteilzeitung. Türkische und spanische Migranten mit Kindern trafen sich zum Spieleabend. Die Spiele waren die Brücke, um sich generationen- und sprachübergreifend zu unterhalten. Als Mitte der 90er-Jahre die städtischen Sozialarbeiter eingespart wurden, (Zuruf von der FDP: Und das zu Recht!) sollte der Treffpunkt von Ehrenamtlichen weitergeführt werden. Das aber scheiterte am Geldmangel. Die Kinderbetreuung fiel weg. Als die Kinder wegblieben, war der Treffpunkt gestorben. Später machte der Stadtteil negative Schlagzeilen: 12-Jährige fielen durch fortgesetzte Sachbeschädigung auf, und die Polizei war hilflos. Sollen diese verödeten Städte jetzt Programm der Bundesregierung werden? Genau das macht die Regierung. Sie kürzt zusätzlich noch die Mittel beim Programm "Soziale Stadt" um zwei Drittel und schafft damit vor allem Treffpunkte von Migranten ab. (Sebastian Körber [FDP]: Falsch! Sachlich falsch!) Soziale Arbeit ist nur dann erfolgreich, wenn dauerhaft vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden können, und pädagogische Arbeit gibt es nicht zum Nulltarif. (Beifall bei der LINKEN) Verankern Sie die Mehrgenerationenhäuser dauerhaft. Sozialer Zusammenhalt soll in einer Bürgergesellschaft organisiert werden. Das klingt gut, aber was steckt dahinter? - Die nationale Engagement-Strategie und die Abschaffung des Sozialstaates. Die Finanzierung der Mehrgenerationenhäuser zeigt, wie es gehen soll. Ein Drittel bezahlt die Stadtverwaltung, ein Drittel ein finanzkräftiges Unternehmen mit dem Schwerpunkt Pflege. Wenn sich das eingefunden hat, zahlt das letzte Drittel der Bund. Mit dieser Einsicht unterscheiden wir uns in der Tat von allen anderen Parteien. Hierzu zitiere ich den Sachverständigen Rupert Graf Strachwitz der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages: Die Bürgergesellschaft ist nicht Zustands- oder Lebensumstandsbeschreibung, sondern die Vision einer Gesellschaftsverfassung als Gegenmodell zum gegenwärtigen Versorgungs- und Verwaltungsstaat. Im Klartext heißt das: die Abschaffung des Sozialstaates ohne Wenn und Aber. Mit Ihrer Agenda 2010 haben Sie, meine Damen und Herren von den Grünen und der SPD, begonnen, den Sozialstaat noch mehr auszuhöhlen. Die jetzige Regierung aber versetzt ihm den Todesstoß. Damit wird die Demokratie untergraben. Denn die Unternehmen entscheiden nun über den Inhalt und die Fortsetzung der sozialen Arbeit. (Patrick Döring [FDP]: Wie kann man so viel Quatsch in so wenigen Minuten sagen?) Aus unserer Sicht darf die öffentliche Daseinsvorsorge nicht privatisiert werden. Der Staat muss das Gemeinwohl organisieren. Die Regierung verzichtet auf die Besteuerung der Millionäre, mutet den Menschen die soziale Wüste zu und entlässt die Reichen in die Steueroase. (Zuruf der Abg. Katharina Landgraf [CDU/ CSU]) Sichern wir zum Beispiel mit der Millionärsteuer den Sozialstaat. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehrgenerationenhäuser sind sinnvolle Einrichtungen. Die FDP-Fraktion fand die Idee, die dahintersteht, immer gut, nicht aber das Finanzierungsmodell und schon gar nicht das Modell, das die SPD-Fraktion in ihrem vorliegenden Antrag fordert. Mehrgenerationenhäuser sollen nach Auslaufen des Pilotprojektes nach dem Gießkannenprinzip weiter mit Steuergeldern des Bundes am Leben erhalten werden. Da machen wir Liberale nicht mit. Vor sechs Jahren hat die damalige Familienministerin von der Leyen das Modellprojekt der Mehrgenerationenhäuser gestartet. Ich betone: Modellprojekt. Der Bund wollte klammen Ländern und Kommunen auf die Sprünge helfen, wichtige Vorhaben anzustoßen. Ziel war es, Orte zu schaffen, in denen sich Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche generationenübergreifend treffen. Schon damals war also klar, dass es sich um eine Anschubfinanzierung für Projekte handelte, die wichtig sind und die das Land und die die Stadt nicht alleine schultern können. Jedes Land und jede Kommune wusste also von Anfang an, dass nach fünf Jahren der warme Regen aus Berlin aufhören wird. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ziegler? Nicole Bracht-Bendt (FDP): Nein, ich möchte bitte zum Ende kommen. Fünf Jahre hatten die Städte und Gemeinden Zeit, sich darauf einzustellen und nach Sponsoren oder Spendern Ausschau zu halten, von denen es noch welche gibt. Genau aus diesem Grund hat die FDP-Bundestagfraktion bisher auch daran festgehalten, dass es sich lediglich um ein Pilotprojekt handelt. Wir haben viel Kritik aus den Kommunen erfahren, weil wir diese Unterstützung durch den Bund nicht als Dauereinrichtung wollten. Es gab auch Kritik aus den Ländern. Diese Reaktion fand ich besonders bemerkenswert, da es normalerweise doch gerade die Länder sind, die laut aufschreien, wenn der Bund sich in ihre Angelegenheiten mischt. (Beifall bei der FDP) Als Ministerin Schröder Ende letzten Jahres eine Neuausschreibung der Mehrgenerationenhäuser ankündigte, habe ich keine kritischen Töne aus den Bundesländern gehört. Im Übrigen sieht das Konzept der Bundesregierung vor, dass bestehende Einrichtungen nicht automatisch einen Freibrief für weitere Bundesmittel erhalten. Nur Einrichtungen, die ein überzeugendes und langfristig tragfähiges Konzept haben und dabei sind, eigenständige finanzielle Strukturen aufzubauen, sollen weiter gefördert werden, und zwar nicht nur bestehende, sondern auch neue Häuser. Ohne Zweifel sind in den zurückliegenden fünf Jahren viele interessante Einrichtungen entstanden. Ich habe Häuser mit tollen Angeboten für alte Menschen gesehen, aber auch solche, in denen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Kinderbetreuung, Hausaufgabenhilfe und Frühförderung erreicht werden sollte. Über die Hälfte der Mehrgenerationenhäuser arbeitet zudem in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten, und das ist gut. Die Stadt Buchholz, in der ich wohne, ist ein typisches Beispiel. Bewährt hat sich dort zum Beispiel der Kindernotfalldienst; aber auch die Angebote für die Älteren und Migranten werden gut angenommen. Wir haben zwar Hamburg mit seiner Infrastruktur direkt vor der Tür. Aber ältere Menschen wissen oft nicht, wie sie dort hinkommen sollten. Deshalb sind Infrastrukturangebote für alte Menschen besonders in den Regionen wichtig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, in Ihrem Antrag fordern Sie als Schwerpunkt der künftigen Arbeit der Mehrgenerationenhäuser die Integration von Migrantinnen und Migranten. Diesem wichtigen Thema widmet sich auch das Folgeprogramm der Bundesregierung. Ihre weiteren Schwerpunktthemen Gesundheitsförderung und vor allen Dingen Prävention sind natürlich gut und wichtig. Deshalb arbeitet das Gesundheitsministerium gerade an einer Präventionsstrategie. Aber Themen wie Alter und Pflege, die im Konzept von Familienministerin Schröder vorgesehen sind, sind drängender. Wir brauchen mehr Unterstützungs- und Beratungsangebote für ältere Menschen, vor allem für Pflegebedürftige und Demenzkranke und deren Angehörige; denn die Zahl der Betroffenen wird, wie wir alle wissen, in jedem Jahr größer. Unabhängig von künftigen Schwerpunkten sind für uns Liberale Mehrgenerationenhäuser ein wertvolles Modell, das sich in vielen Regionen bewährt hat. Dennoch kann es nicht sein, dass der Bund auf Dauer das Füllhorn mit Wohltaten ausschüttet. Wir sind ganz klar der Auffassung, dass sich die Länder und Kommunen bei neuen Modellprojekten stärker als bislang an der Finanzierung beteiligen müssen. Als Kommunalpolitikerin im Buchholzer Stadtrat weiß ich, wie schwer es für Kommunen ist, solche Einrichtungen zu finanzieren. Dies erfordert eine ausführliche öffentliche Debatte darüber, wie wichtig dem Ort eine solche Begegnungsstätte ist und wie diese finanziert werden kann. Die Kommunalpolitiker müssen hier Flagge zeigen. Wenn sie es wollen und kreativ sind, gibt es Lösungen. Sie hatten fünf Jahre lang Zeit, finanzielle Strukturen zu entwickeln, und viele von ihnen bekommen nun sogar noch mehr Zeit, in der der Bund Zuschüsse bereitstellt. Pilotprojekte sind, wie gesagt, keine Dauereinrichtung. Ziel muss es sein, dass der Bund aus der Finanzierung herauskommt. Wir Liberale werden dem SPD-Antrag nicht zustimmen. Uns ist wichtig, dass der warme Regen aus Berlin nicht zum Dauerregen wird. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat sich Frau Kollegin Ziegler zu einer Kurzintervention gemeldet. - Bitte. Dagmar Ziegler (SPD): Sehr geehrte Kollegin, es hat mich schon etwas gewundert, dass Sie unterstellt haben, die Kommunen hätten von vornherein gewusst, dass es sich hier nur um ein Modellprojekt handelt und die Weiterfinanzierung ihnen obliegen soll. Ich kann Ihnen als ehemalige Familienministerin von Brandenburg eines sagen: Wir haben von Anfang an kritisiert, dass Frau von der Leyen durch die Lande gezogen ist und Mehrgenerationenhäuser als Modellprojekte etabliert hat, ohne dass die Länder in die konzeptionelle Arbeit und bei der Frage, wo Mehrgenerationenhäuser angesiedelt werden sollten, einbezogen worden sind. Wir haben Frau von der Leyen mit einem einstimmigen Beschluss der Fachministerkonferenz, also aller 16 Familienministerinnen und -minister, eindringlich darum gebeten, von diesem Verfahren Abstand zu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Länder einbezogen werden; denn auch die Länder leisten in diesem Bereich konzeptionelle Arbeit. Die Mehrgenerationenhäuser sind aber völlig losgelöst von den Ministerien mit den Kommunen vereinbart worden. Ich habe mich geweigert, an der Eröffnung von Mehrgenerationenhäusern teilzunehmen, (Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär: Das war der Fehler! Das war eine Dummheit!) weil genau das abzusehen war: Der Bund zieht sich nach Ablauf des Zeitraums zurück; dann stehen die Vertreter der Mehrgenerationenhäuser bei den Kommunen und den Ländern vor der Tür und bitten um Weiterfinanzierung der sehr sinnvollen Projekte, die dort durchgeführt werden. Wir alle haben vorher gewusst, dass das Geld weder auf der kommunalen Ebene noch auf der Länderebene vorhanden sein wird. Insofern verstehe ich Ihren Vorwurf überhaupt nicht, dass wir auf diesen Ebenen fünf Jahre Zeit gehabt hätten, "finanzielle Strukturen zu entwickeln", um die Weiterfinanzierung vorzubereiten. Diese Ebenen werden sich mit Ihnen damit auseinandersetzen, und zwar parteiübergreifend; denn das war gelogen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesfamilienministerium hat die Mehrgenerationenhäuser viel zu lange über eine mögliche Weiterförderung im Unklaren gelassen; das ist einfach Fakt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD] und Johanna Voß [DIE LINKE]) Daher begrüßen wir, dass wir uns heute hier im Parlament mit diesem Thema und mit der Zukunft dieser Häuser beschäftigen. Die schwarz-gelbe Koalition muss jetzt endlich für Planungssicherheit, Klarheit und echte Transparenz in der Frage sorgen, ob und wie es mit den Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Offensichtlich fehlt aber bis heute ein wirklich sinnvolles Übergangsmanagement, damit wir von einem Modellprojekt zu einer nachhaltigen Etablierung erfolgreicher Mehrgenerationenhäuser kommen. Das Ministerium hat zwar erste Eckpunkte per Pressemitteilung der Öffentlichkeit bekannt gegeben; aber die darin genannten Schwerpunkte sind schlichtweg willkürlich gewählt. Die Mehrgenerationenhäuser dürfen nicht in Konkurrenz zu bestehenden Strukturen vor Ort treten; das ist uns ganz wichtig. Dieses Risiko könnte jedoch beim vorgesehenen Schwerpunkt "Alter und Pflege" durchaus bestehen. Die Große Koalition hat in der vergangenen Legislaturperiode die Pflegestützpunkte auf den Weg gebracht. Die Pflegeversicherung leistet hierfür eine Anschubfinanzierung in Höhe von 60 Millionen Euro. Es wurde ein Rechtsanspruch auf die in Länderverantwortung durchgeführte Pflegeberatung und vieles mehr geschaffen. Da stellt sich doch die Frage, ob hier eine Doppelstruktur geschaffen wird. (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Nein, das sind Netzwerke!) Diese Frage stellt sich auch beim Bereich "Freiwilliges Engagement". Dort, wo es vor Ort eine gut funktionierende, tolle Ehrenamtsagentur gibt, braucht man vielleicht kein Mehrgenerationenhaus mit dem Schwerpunkt "Freiwilliges Engagement". Man muss sehr genau hinschauen, wie das auf bestehende Strukturen vor Ort wirkt, damit Doppelstrukturen nicht vorprogrammiert sind und die Zielgruppen, die Sie erreichen wollen, nicht irritiert, sondern orientiert sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen bei jedem neuen Modellprogramm von vornherein darauf achten, dass keine Modellruinen entstehen. Bei den Mehrgenerationenhäusern muss man sehr deutlich sagen: Die große Mehrzahl der Häuser leistet eine hervorragende Arbeit; einzelne Häuser können aber nicht überzeugen. Wenn man Mehrgenerationenhäuser zukunftsfähig gestalten will, dann muss man sich fragen: Wie unterscheiden sich die Häuser von den vorhandenen Strukturen, die es vor Ort gibt, in der Jugendhilfe, in der Altenhilfe etc.? Welche sinnvollen Ergänzungen zur kommunalen Infrastruktur können sie eigentlich leisten? Welchen dauerhaften Mehrwert gibt es für die Menschen vor Ort? Die Koalition muss diese Fragen noch beantworten. Wenn Sie ein Folgeprogramm vorlegen, dann müssen Sie sich ein Vorbild an den guten, erfolgreichen Mehrgenerationenhäusern nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aus Sicht der Grünen muss es das zentrale Ziel der Häuser sein, dass ein Miteinander von Alt und Jung stattfindet. Wo Mehrgenerationenhaus draufsteht, muss Kontakt und Dialog zwischen den Generationen tatsächlich drin sein und tagtäglich stattfinden; denn sonst wird ja mit dieser Überschrift etwas vorgegaukelt. Viele glauben immer noch, es findet ein Mehrgenerationenwohnen statt. Aber es ist sozusagen eine Kontaktstelle, wo unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Wenn dort tatsächlich ein Mehrgenerationendialog stattfindet, dann kann das auch ein Beitrag dazu sein, den demografischen Wandel aktiv zu gestalten. Dieser generationenübergreifende Gedanke zwischen Alt und Jung, zwischen Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen muss in allen Mehrgenerationenhäusern viel stärker zum Tragen kommen. Dann wird man dem Namen auch gerecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Grundsätzlich kann man der Koalition sagen: vielleicht ein bisschen weniger Leuchtturmprojekte und mehr wirklich nachhaltige Strukturen. Eine gute Infrastruktur, eine gute Förderung würden wir uns wünschen. Wenn man sich in die Evaluation vertieft, dann wird deutlich, dass die Mehrgenerationenhäuser vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie kommunal gut verankert sind und wenn sie sich mit der Förderung und Unterstützung von Familien beschäftigen. Das ist etwas, worauf man aufbauen sollte. Aber zwei Fragen muss die Koalition noch beantworten; vielleicht kann Herr Geis dazu etwas sagen. Wenn Sie jetzt schon festlegen, dass sich die Kommunen künftig in einem viel stärkeren Maße an der Finanzierung beteiligen sollen, wie wollen Sie dann eigentlich verhindern, dass in armen, in finanzschwachen Kommunen kein Mehrgenerationenhaus mehr gegründet, geschweige denn finanziert werden kann? Wie wollen Sie sicherstellen, dass alle Kommunen ein solches Mehrgenerationenhaus kofinanzieren können? Sie betonen auch - das ist die zweite Frage -, dass es ein neues nachbarschaftliches Miteinander und eine Netzwerkarbeit im Sozialraum gibt. Das wird zu Recht gelobt. Aber wenn Sie das Programm Soziale Stadt zusammenstreichen, dann passt das nicht zusammen; denn hier hat ein wirklich gutes Quartiersmanagement in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf stattgefunden. Deshalb ein ganz klarer Appell an die Regierung: Schaffen Sie endlich Transparenz über die Konzeption und die Fördermodalitäten für ein Nachfolgeprogramm! Zentral bleibt für uns die Frage der Nachhaltigkeit dieser Häuser, damit wir auch diese Debatte nicht alle paar Jahre führen müssen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe Herrn Gehring recht, dass die Mehrgenerationenhäuser dann in der Zukunft Bestand haben werden, wenn sie einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft leisten können. Das tun sie im Augenblick; jedenfalls ist das auch heute bei dieser Debatte zum Ausdruck gekommen. Was heißt "Beitrag zum Zusammenhalt"? Das soziale Klima in einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, dass die Menschen aufeinander zu gehen. Es geht um die Zuwendung zum anderen, insbesondere zu den älteren Menschen, die oft krank sind und oft auch verbittert daheim allein in ihren Wohnungen leben, ohne Kontakt zur Außenwelt. Aber es geht auch um den Kontakt der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit den deutschen. Es geht um Integration, eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft in der nächsten Zeit überhaupt. Es geht aber auch um den Kontakt von Jung und Alt. Es geht darum, dass die Menschen zueinanderfinden. Dann herrscht ein Klima vor, in dem es sich zu leben lohnt. Darum geht es den Mehrgenerationenhäusern. Natürlich haben wir viele Institutionen, und es besteht schon ein wenig die Frage, ob da nicht Doppelfunktionen entstehen. Wir haben die Vereine, die dergleichen leisten; wir haben auch andere Institutionen. Insbesondere die Familie ist nach wie vor das stabilisierende Element in einer Gesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Aber wir erleben auch, wie die Familien mehr und mehr ins Hintertreffen geraten. Viele Bindungen zerbrechen. Viele Verbindungen werden als Ehe gar nicht mehr aufgenommen. Das heißt schon, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir darüber hinaus die Chance haben, dass in der Gesellschaft genug Bindungskräfte sind und die Menschen nicht nebeneinanderher leben. Daher kann es, so meine ich, durchaus richtig sein, solche Mehrgenerationenhäuser zu installieren. Sie sind - das ist heute schon zur Genüge gesagt worden - Anlaufstellen, insbesondere für ältere Menschen. Sie können dort das finden, was ihnen im Alltag fehlt, den Kontakt zu Mitmenschen, insbesondere zu jungen Leuten. Hier können auch ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, was in vielen Mehrgenerationenhäusern der Fall ist, Kontakt zu Einheimischen aufnehmen. Hier können Jung und Alt zusammenfinden. Diese Häuser bieten also tatsächlich die Chance, innerhalb der Gesellschaft Bindungskräfte zu entwickeln, die wir dringend brauchen. Wir müssen uns deshalb Gedanken darüber machen, wie und ob wir den Bestand dieser Häuser in Zukunft garantieren wollen. Es ist richtig, dass die Bundesregierung die Einrichtung dieser Häuser initiiert hat, und es ist auch richtig - da gebe ich Ihnen recht -, dass dabei versäumt worden ist, sich mit den Gemeinden und insbesondere den Ländern in Verbindung zu setzen, um eine finanzielle Grundlage für diese Häuser zu finden. (Johanna Voß [DIE LINKE]: Sowieso fehlt den Gemeinden die finanzielle Grundlage!) Deswegen müssen wir das jetzt in der Folgevereinbarung nachholen. Die Koalition will diese Häuser erhalten, weil sie als gute Einrichtung erkannt worden sind. Aber wir müssen eine vernünftige finanzielle Grundlage finden. Deswegen kommt es jetzt darauf an, dass man diesen Fehler, den man vor fünf Jahren gemacht hat, nicht wiederholt. Sicherlich haben wir den Trägern der Mehrgenerationenhäuser vor fünf Jahren gesagt, dass die Förderung in fünf Jahren ausläuft. Aber man kann sich sehr leicht ausrechnen, dass man die Kontakte, die entstanden sind, nachdem ein solches Haus eingerichtet worden ist, nicht einfach beenden kann, weil die Finanzierung fehlt. Es kommt entscheidend darauf an, dass Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam vorgehen. Ich teile die Auffassung, dass man den Gemeinden nicht zu viel aufbürden kann, Herr Gehring. Die Gemeinden haben wirklich die größte Last zu tragen, wenn es um die soziale Absicherung geht. Das kann auf Dauer so nicht weitergehen. Wir müssen uns auch in anderer Hinsicht Gedanken darüber machen, wie wir die Gemeinden stärker entlasten können, oder wir müssen ihnen einen größeren Anteil am Etat zukommen lassen. Die Länder müssen ebenso wie der Bund begreifen, dass die Mehrgenerationenhäuser eine hervorragende Chance bieten, um innerhalb der Gesellschaft Bindungskräfte entstehen zu lassen, die notwendig sind, damit die Menschen nicht nebeneinanderher leben, sondern aufeinander zu gehen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Mehrgenerationenhäusern besucht und immer feststellen können, wie unterschiedlich sie aufgestellt sind, immer gerade richtig für den Ort, an dem sie entstanden sind. Ich habe auch feststellen können, welch wichtige Rolle sie inzwischen für die soziale Infrastruktur spielen. Sie waren ein Impulsgeber für Jugend-, Familien- und Altenhilfestrukturen vor Ort. Oft findet man dort Kinderbetreuungseinrichtungen, Hausaufgabenhilfen, Vorlesedienste, Integrationsangebote oder auch einen günstigen Mittagstisch für sozial schwache Familien oder Alleinstehende. Die Arbeit dort steht und fällt mit dem bürgerschaftlichen Engagement. Anders wäre das bei der schwachen Finanzierung, die schon jetzt gegeben ist, definitiv nicht zu machen. Die Menschen gehen aufeinander zu. Herr Geis, die Bindungskräfte werden durch diese Häuser zweifellos größer. Schon heute gibt es in vielen Mehrgenerationenhäusern präventive Grundansätze. Diese wollen wir ausbauen. Darauf bauen wir in unserem Antrag. Wir wollen die gesundheitliche Prävention zu einem neuen Schwerpunkt der Mehrgenerationenhäuser machen. Wir wollen, dass die Prävention nicht nur in die Hände der Ärzte gelegt wird, wie es der Gesundheitsminister vorhat - er führt eine entsprechende Honorarabrechnungsziffer ein -, sondern wir wollen eine Prävention im Sinne eines Präventionsgesetzes, wie es bereits die rot-grüne Bundesregierung verfolgt hat. Aktiv sein, Vorsorge treffen, Prävention ernst nehmen und nutzen, das sind, wie ich denke, die Schlüsselbegriffe für ein gesundes Leben. Insbesondere die Prävention im Alter können wir so stärken. Wir möchten durch die Verknüpfung der Mehrgenerationenhäuser mit Prävention und Gesundheitsförderung die Potenziale der Prävention vor Ort über niederschwellige Angebote heben. Wir wollen eine gesundheitliche Prävention, die im alltäglichen Leben greift, gerade für Personen aus einem sozial schwachen Umfeld sowie für Ältere, zum Beispiel durch vermehrte Ernährungs- und Bewegungsberatung. Wir wollen mit unserem Antrag dazu beitragen, die Mehrgenerationenhäuser in diesem Aufgabenbereich zu stärken. Wir freuen uns, dass Bundesfamilienministerin Schröder nach langem Zögern nun ebenfalls Vorschläge zur Weiterfinanzierung und zum Erhalt der Mehrgenerationenhäuser gemacht hat. Was die Bundesfamilienministerin zum Schwerpunkt der künftigen Mittelvergabe machen möchte, geht meines Erachtens allerdings weit über die Möglichkeiten eines Mehrgenerationenhauses hinaus. Da soll ein Knotenpunkt für Bundesfreiwilligendienste entstehen, da soll eine Ehrenamtsbörse entstehen, und es geht um die Beratung und Betreuung von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten. Das ist noch lange nicht alles. Hier steht nicht "Entweder-oder", sondern "und, und, und". Ich denke, die Mehrgenerationenhäuser werden überfordert. Die Beratung und Betreuung von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten zum Beispiel braucht qualifiziertes Fachpersonal. Das kann ein Mehrgenerationenhaus mit einem Zuschuss des Bundes in Höhe von 40 000 Euro pro Jahr definitiv nicht leisten, zumal die Bundesförderung nach dem Willen der Familienministerin sogar sinken soll. Mit den Pflegestützpunkten, die Sie im Rahmen der Mehrgenerationenhäuser schaffen wollen, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode den Aufbau einer Beratungsinfrastruktur in der Pflege gestartet. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. - Pflegestützpunkte und Mehrgenerationenhäuser sind zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Beide brauchen wir, aber nicht miteinander verwurschtelt. Wir brauchen keine Doppelstrukturen. Ich rate Ihnen: Bringen Sie die Möglichkeiten, die wir Ihnen mit diesem Antrag eröffnet haben, in die Beratungen ein. Vielleicht kommen Sie ja doch noch zu dem Schluss, dass unser Vorschlag der richtige ist. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4031 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten, zu denen die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie damit einverstanden, dass ich darauf verzichte, die Namen der Redner zu nennen? Das können Sie dann im Protokoll nachlesen. - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sparen wir uns einige Minuten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung 12. Sportbericht der Bundesregierung - Drucksachen 17/2880, 17/3110 Nr. 5, 17/4420 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Martin Gerster Dr. Lutz Knopek Katrin Kunert Viola von Cramon-Taubadel Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1 Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 17/4420. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des 12. Sportberichts auf Drucksa-che 17/2880 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4448. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren - Drucksache 17/4198 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Auch zu diesem Tagesordnungspunkt wurden die Reden zu Protokoll gegeben.2 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4198 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren - Drucksache 17/3802 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3 Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3802 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten - Drucksachen 17/3672, 17/4466 - Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) Karin Roth (Esslingen) Joachim Günther (Plauen) Niema Movassat Ute Koczy Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4 Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/4466, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3672 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.5 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rechts an die Verordnung (EG) Nr. 380/2008 des Rates vom 18. April 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige - Drucksache 17/3354 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) - Drucksache 17/4464 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Daniela Kolbe (Leipzig) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Jan Korte Memet Kilic Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wie ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzes betont habe, setzen wir mit dem elektronischen Aufenthaltstitel eine EU-Verordnung um. Wenn jetzt etwa die Grünen die Erfassung von Fingerabdrücken auf diesem einheitlichen Dokument in Kartenform kritisieren, dann geht das in doppelter Hinsicht ins Leere. Zum einen müssen wir die Verordnung eins zu eins bis zum 21. Mai 2011 umsetzen und haben gar keinen Handlungsspielraum, auf die Fingerabdrücke zu verzichten. Zum anderen zeigt sich an dieser Verordnung, dass offenbar viele Staaten in Europa die Bedenken der Opposition an der Erfassung von Fingerabdrücken nicht teilen. Insoweit sollte nicht die Regierungskoalition ihre Position überdenken und einen Verstoß gegen EU-Recht riskieren, sondern die Grünen sollten ihre Ablehnung der Erfassung von Fingerabdrücken überdenken, weil sie damit in Europa ziemlich allein dastehen. Denn die EU-Staaten haben aus gutem Grund auf dieses Instrument der Erfassung des Fingerabdrucks gesetzt. Der elektronische Aufenthaltstitel bietet dadurch eine Menge Vorteile: Die Identitätsfeststellung wird europaweit einheitlich geregelt und schafft deutlich mehr Sicherheit, weil durch die biometrischen Erkennungsmerkmale eine verlässlichere Verbindung zwischen dem Ausländer und seinem tatsächlichen Aufenthaltstitel geschaffen wird. Die für alle EU-Staaten einheitliche Aufenthaltskarte erfüllt sehr hohe technische Anforderungen, die Fälschungen ausschließen. So können wir besser illegale Einwanderung verhindern und illegalen Aufenthalt in Deutschland bekämpfen. Für Ausländer hat der elektronische Aufenthaltstitel gleichzeitig den Vorteil, dass er wie der deutsche Personalausweis als elektronische Identitätsfeststellung genutzt werden kann. Nun haben die Länder Bedenken gegen die neue Aufenthaltskarte wegen möglicher hoher Kosten geäußert. Das ist nicht ganz unberechtigt; denn für die Ausländerbehörden entsteht ein gewisser Mehraufwand durch die Abnahme der Fingerabdrücke, zusätzliche Datenerfassungen, mindestens eine zusätzliche Vorsprache des Antragstellers und sicher auch einen gewissen Beratungsaufwand in Sachen Zusatzfunktionen der "elektronischen Signatur" und des "elektronischen Identitätsnachweises". Die Koalitionsfraktionen haben in den Ausschussberatungen deshalb entschieden, dass der gesetzliche Gebührenrahmen um 60 Euro anzuheben ist. Wir liegen damit um 10 Euro höher, als das Bundesinnenministerium ursprünglich vorgesehen hat, und tragen den Bedenken des Bundesrates insoweit Rechnung. Ich will an dieser Stelle aber auch mit allem Nachdruck darauf verweisen, dass der neue Aufenthaltstitel den Kommunen natürlich eine Menge Vorteile bringt, die sich auch vor Ort finanziell auswirken werden. Erst einmal werden die Karteien der Ausländerbehörden um solche Personen bereinigt werden können, die Deutschland verlassen haben, ohne den Behörden davon Kenntnis zu geben. Das wird jetzt auffallen. Man bekommt also einen besseren Überblick, wie viele Drittstaatsangehörige sich in der Kommune aufhalten und welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Außerdem werden jetzt EU-weit Doppelanmeldungen verhindert werden können und damit auch das doppelte Abkassieren von Sozialleistungen. Wanderungsbewegungen innerhalb der EU kann man durch die Aufenthaltskarte leichter ermitteln. Diese Argumente haben offenbar auch die SPD überzeugt, deren kommunalpolitische Experten im Unterausschuss Kommunales unserem Gesetzentwurf immerhin zugestimmt haben. Eine zweite Änderung, die wir im Ausschuss vorgenommen haben, will ich hier nur kurz erwähnen. Die EU hat mit der Schweiz ein Abkommen über Freizügigkeit. Danach gilt zwischen Deutschland und der Schweiz in Fragen des Aufenthaltsrechts das Prinzip der Gegenseitigkeit. Die Schweiz hat uns nun mitgeteilt, dass sie nicht beabsichtigt, deutschen Staatsbürgern einen elektronischen Aufenthaltstitel auszuhändigen. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen entschieden, dass Schweizern der elektronische Aufenthaltstitel optional auf Antrag ausgestellt wird. Sicherheitsprobleme sind damit ersichtlich nicht verbunden. Einen dritten Änderungspunkt will ich auch nicht verschweigen. Die in den elektronischen Aufenthaltstitel eingebrachten Chips brauchen eine Zertifizierung. Die Bundesdruckerei hat uns während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens mitgeteilt, dass eine rechtzeitige Zertifizierung nicht möglich ist. Etwaige Zwischenlösungen wären mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verbunden. Deshalb haben wir uns entschieden, das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes auf den 1. September 2011 festzulegen. Ich sage ausdrücklich, das ist nicht schön. Wir hätten uns hier eine rechtzeitige Zertifizierung seitens der Bundesdruckerei gewünscht. Aber die zeitliche Überschreitung ist gerade noch hinnehmbar, zumal auch andere EU-Länder noch nicht startklar sind. Das gibt den kommunalen Ausländerbehörden auch noch etwas mehr Vorbereitungszeit. Der elektronische Aufenthaltstitel sorgt für mehr Sicherheit und hilft im Kampf gegen den Missbrauch von Sozialleistungen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen dem Gesetzentwurf deshalb gerne zu. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Zum 1. Mai 2011 sollte nach bundesgesetzlicher Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben der elektronische Aufenthaltstitel, eAT, im Scheckkartenformat eingeführt werden. Die mit dem eAT verbundenen Zusatzfunktionen elektronischer Identitätsnachweis und qualifizierte elektronische Signatur sind neue und für die Ausländerbehörden untypische Aufgaben, Aufgaben, die mehr Kosten produzieren und signifikant mehr Verwaltungsaufwand. Nun sind auch fast zwei Monate vergangen, seit wir den vorliegenden Gesetzentwurf in einer ersten Lesung hier im Bundestag beraten und diskutiert haben. Man könnte annehmen, damit wären zwei Monate Zeit für die schwarz-gelbe Bundesregierung gewesen, in Bezug auf den Gesetzentwurf Kritik, Anmerkungen oder Hinweisen, sei es von anderen Fraktionen, von Experten oder von den Ländern und Kommunen, nachzugehen, ernst zu nehmen und auch Änderungen vorzunehmen. Nur wieder einmal muss man hier und heute feststellen: Nichts, aber auch gar nichts Positives ist passiert. Im Gegenteil. Beginnen wir damit, dass das Gesetz urplötzlich und aus heiterem Himmel erst zum 1. September 2011 - also 4 Monate später als geplant - in Kraft treten soll. Als Grund wird laut Bundesregierung und Bundesdruckerei angegeben, dass ein fristgerechter Abschluss der notwendigen Zertifizierung durch T-Systems und das beauftragte Zertifizierungsinstitut nicht mehr möglich sei. Das kommt jetzt aber sehr plötzlich. Planungssicherheit für alle Beteiligten sieht anders aus. Ich kann nur hoffen, dass die entsprechende Software dann aber zum 1. September 2011, zum nächsten Einführungstermin, funktioniert und nicht noch beim Start für Chaos in den jeweiligen Ausländerbehörden sorgen wird. Doch zurück zu den Inhalten. Laut dem zweiten vorliegenden Änderungsantrag von FDP und Union soll der vorgegebene gesetzliche Gebührenrahmen in § 69 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes um jeweils 60 Euro erhöht werden, also noch über die bisher schon vorgesehene Steigerung im Gesetzentwurf der Bundesregierung hinausgehen. Zur Begründung heißt es kurz, dass damit die hohen Verwaltungskosten bei den Ausländerbehörden kompensiert und obendrein für die Zukunft noch mehr Spielraum für künftige Korrekturen geschaffen werden sollen. Wer muss also die Kosten des entstehenden Mehraufwandes tragen? Einerseits sind das die Antragstellerinnen und Antragsteller eines Aufenthaltstitels. Aber vor allen Dingen werden die Kommunen noch stärker als bislang belastet. Denn was die schwarz-gelbe Bundesregierung und auch die schwarze und die gelbe Fraktion übersehen, ist die Tatsache, dass bereits heute über 40 Prozent der Antragsteller von den Gebühren befreit sind oder Ermäßigungen in Anspruch nehmen können. Die dabei entstehenden Mehrkosten fallen dann auf die Kommunen zurück. Tatsache ist, bereits heute ist die Situation der kommunalen Haushalte äußerst kritisch und die Bilanz negativ zwischen den Gebühreneinnahmen einerseits und den Kosten für die Erteilung des Aufenthaltstitels andererseits. Denn nach der jetzt gültigen Aufenthaltsverordnung können Ausländer unter bestimmten Bedingungen Gebührenermäßigung oder auch eine Gebührenbefreiung erhalten, die wiederum von den Kommunen kompensiert werden müssen. Hier knüpft der von uns als SPD vorgelegte Entschließungsantrag an. Befreiungstatbestände müssen aus unserer Sicht auf Personengruppen reduziert werden, bei denen eine Befreiung wirklich geboten ist. Dazu zählen für uns nicht unbedingt die pauschale Befreiung von beispielsweise Lebenspartnerinnen und -partner minderjährigen Kindern Deutscher oder Eltern minderjähriger Deutscher. Diese Besserstellung von Menschen lediglich aufgrund eines engen Verwandtschaftsverhältnisses zu einem deutschen Staatsangehörigen geht zulasten der Kommunen. Wir wollen, dass dieser Privilegierungstatbestand abgeschafft wird. Den Kommunen entstehen durch den elektronischen Aufenthaltstitel hohe Mehrkosten, vor allem durch die stark erhöhten Verwaltungskosten, durch ein Mehr an Aufgaben wie die Abnahme der Fingerabdrücke, die zusätzliche Datenerfassung, mindestens eine zusätzliche Vorsprache je Antragsteller, Informations- und Beratungsaufwand zu den Zusatzfunktionen "elektronischer Identitätsnachweis" und "elektronische Signatur". Eine Stadt wie Leipzig rechnet mit circa sieben zusätzlichen Verwaltungsstellen, und das bei einer Kommune mit verhältnismäßig geringem Ausländeranteil. Wir fordern die Bundesregierung nochmals eindringlich dazu auf, zu überprüfen, ob weitere Möglichkeiten bestehen oder Maßnahmen ergriffen werden können, die Kosten für Kommunen und Antragstellerinnen und Antragsteller zu senken. Ebenso ist es für uns noch immer bedenklich, dass der Bund sich nicht in der Lage sieht, die tatsächlichen Produktionskosten der Bundesdruckerei transparent zu gestalten. Auch wenn die SPD-Fraktion die grundsätzliche Intention einer einheitlichen Gestaltung von Aufenthaltstiteln im Chipkartenformat sehr begrüßt, so können wir dem vorliegenden Gesetzentwurf, der die Lasten einseitig den Kommunen aufbürdet, nicht zustimmen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis spätestens 21. Mai 2011 den elektronischen Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige einzuführen. Dieser Pflicht wird durch den vorgelegten Gesetzentwurf entsprochen. Angesichts der Probleme bei der Zertifizierung mussten wir den Zeitpunkt des Inkrafttretens für das Gesetz auf den 1. September 2011 verschieben. Die Bundesdruckerei hatte mitgeteilt, dass der Abschluss der Zertifizierung nicht vor Ende Juli 2011 möglich ist. Es hätte keinen Sinn gemacht, für einen derart kurzen Zeitraum noch eine andere Lösung zu suchen. Verbindlich ist von europäischer Seite vorgeschrieben, entsprechende Karten mit einem Chip auszustatten. Darauf werden neben Daten des Titelinhabers, wie beispielsweise Name und Staatsangehörigkeit, auch ein Lichtbild und zwei Fingerabdrücke gespeichert werden. Vor einigen Wochen hat dies zu einem großen Aufschrei bei der Opposition geführt - und das, obwohl das Vorhaben schon lange bekannt ist. Bereits vor zwei Jahren wurde der entsprechende Beschluss auf europäischer Ebene gefasst. Aber wie so oft hat die Opposition vorher keinen Ansatzpunkt für Kritik gefunden. Die Grünen versuchen in ihrem Entschließungsantrag, ein großes Fass aufzumachen: keine Umsetzung mit Fingerabdrücken, Neuverhandlung der Richtlinie, bis die Fingerabdrücke herausverhandelt sind. Dieses Petitum zeigt nur die Realitätsferne der Grünen und ihre grundsätzliche Dagegen-Haltung. Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundestagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischer Daten im Pass, im Personalausweis und an anderen Stellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sich um sehr sensible Daten. Allerdings steht jetzt die europäische Vereinbarung; wir müssen sie nun umsetzen. Dies tut der Gesetzentwurf. Die Kritik der Opposition ist daher unangebracht. Von einer Stigmatisierung der Betroffenen, wie dies von der Opposition in der öffentlichen Diskussion dargestellt worden ist, kann nun wirklich nicht die Rede sein. Auch werden sie nicht, wie behauptet wurde, unter Generalverdacht gestellt. In der Stellungnahme des Bundesrates wurden bedenkenswerte Aspekte angesprochen: Die Herstellungskosten für diesen neuen elektronischen Aufenthaltstitel werden sich erhöhen; der Arbeitsaufwand bei den Ausländerbehörden wird ansteigen. Insgesamt wird der Belastungsaufwand für die Kommunen steigen. Deshalb haben wir den im Gesetzentwurf vorgesehenen Gebührenrahmen zur Abdeckung der Kosten erhöht. Die Bedenken des Deutschen Städtetages sind dabei in unsere Überlegungen einbezogen worden. Ein weiteres Wort zu dem Entschließungsantrag der Grünen: Diesen lehnen wir - wie bereits angedeutet - selbstverständlich ab. Den Kommunen helfen wir konkret durch die Anhebung der Gebühren. Den Vorschlag der Grünen, die finanzielle Unterstützung von Bundesseite zu prüfen, verbirgt hinter einer vorgetäuschten guten Absicht nur den Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Selbstständigkeit der Kommunen. Diesen lehnen wir ab. Wir bekennen uns zu dieser Selbstständigkeit. Wir haben überdies dafür gesorgt, dass Schweizer Staatsbürger nach Antrag fakultativ diesen elektronischen Aufenthaltstitel erhalten können. Durch dieses Gesetz wird europäisches Recht in nationales umgesetzt. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir debattieren heute abschließend über die Einführung eines elektronischen Aufenthaltstitels für Bürgerinnen und Bürger, die aus Staaten außerhalb der EU kommen und in Deutschland einen befristeten oder unbefristeten Aufenthaltstitel besitzen. Sie sollen in Zukunft eine Karte mit maschinenlesbarem Chip erhalten, der alle ihre persönlichen Daten, ein digitalisiertes Foto und die Fingerabdrücke enthält. Die Koalition ist eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, ob die Einführung dieses elektronischen Aufenthaltstitels angesichts des enormen technischen Aufwandes und der damit verbundenen Kosten wirklich notwendig ist. Ich will noch einmal auf die wesentlichen Bedenken der Linksfraktion zur Einführung des elektronischen Aufenthaltstitels eingehen. Wie bei der Einführung des elektronischen Personalausweises und des elektronischen Reisepasses mitsamt der digitalisierten Erfassung von Bildern und Fingerabdrücken bezweifeln wir die sicherheitspolitische Notwendigkeit des elektronischen Aufenthaltstitels. Weder in der zugrunde liegenden EU-Verordnung noch im Gesetzentwurf der Bundesregierung wird substanziell dargelegt, welche Sicherheitslücken bisher bestanden haben oder welchen quantitativen Umfang Fälschungen und Verfälschungen von EU-Aufenthaltstiteln aufgewiesen haben. Man hat den Eindruck, es ist wie bei vielen aktuellen sicherheitspolitischen Forderungen: Eine reale Gefahr besteht nicht, aber ein von den Sicherheitsbehörden und zahlreichen profitierenden Unternehmen entworfenes Szenario. Gehandelt wird nicht auf Basis der realen Gefahrenlage, sondern aufgrund der entworfenen Szenarien. Diese Politik lehnen wir ganz grundsätzlich ab. Die Ablehnung resultiert auch aus den Risiken und Gefahren der elektronischen Erfassung sensibler persönlicher Daten. Wo Daten erfasst und verarbeitet werden, besteht auch immer die Gefahr von Sicherheitslücken bei der Übermittlung und des Datendiebstahls. Auch die Karten selbst sind für jeden auslesbar, der über die entsprechenden technischen Mittel verfügt. Es werden aber auch weitere Begehrlichkeiten bei den staatlichen Behörden selbst geweckt: Wenn doch ohnehin Passbilder und Fingerabdrücke digital erfasst werden, warum diese dann nicht speichern? Ich sage Ihnen, wir werden eines Tages hier stehen und darüber debattieren, welche dieser biometrischen Daten von den kommunalen Behörden oder sogar dem Ausländerzentralregister dauerhaft gespeichert und den Sicherheitsbehörden zugänglich gemacht werden sollen! Schließlich lehnen wir den Gesetzentwurf auch wegen des diskriminierenden Charakters ab, alle Menschen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates besitzen und zum Teil ja dauerhaft in Deutschland leben, zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke zu zwingen. Ich will darauf hinweisen, dass davon ja nicht nur Erwachsene betroffen sind. Kinder ab dem sechsten Lebensjahr sollen ihre Fotos und Fingerabdrücke ebenfalls digital erfassen lassen. Es ist schlicht skandalös, hier eine erkennungsdienstliche Behandlung von Kindern durchführen zu wollen. Das sicherheitspolitische Argument ist an dieser Stelle nicht einfach zweifelhaft, sondern geradezu absurd. Das Signal, das von diesem Vorgang an die Kinder und Jugendlichen ausgesandt wird, ist integrationspolitisch verheerend. Auch die Kostenfrage muss ich hier noch einmal ansprechen: Hier sind vor allem die betroffenen Ausländer die Leidtragenden, denn sie haben die immens hohen Kosten dieser Ausweiskarte zu tragen. Statt bislang bis zu 200 Euro zahlen sie für eine Niederlassungserlaubnis bis zu 260 Euro, bei einer Aufenthaltserlaubnis werden zukünftig 140 statt 80 Euro fällig. Schon allein die Produktionskosten liegen weit oberhalb der derzeitigen Kosten: Bislang erhielten Ausländer einen Aufkleber in ihren Pass, aus dem der Aufenthaltstitel hervorging. Diese Aufkleber kosteten in der Produktion 78 Cent. Die elektronische Karte kostet in der Produktion 30 Euro. Hinzu kommt der deutlich gestiegene Aufwand bei den Behörden: Sie müssen nun eine neue technische Infrastruktur für die digitale Erfassung der Passfotos und der Fingerabdrücke und die Weiterverarbeitung der Daten bereithalten. Die tatsächlich entstehenden Kosten können noch gar nicht exakt eingeschätzt werden. Noch einmal kurz zusammengefasst: Die Einführung des elektronischen Aufenthaltstitels ist sicherheitspolitisch überflüssig. Sie ist eine Belastung der kommunalen Verwaltung. Sie kommt die Kommunen und vor allem die Betroffenen teuer zu stehen. Die Erfassung und Digitalisierung der persönlichen Daten, besonders der biometrischen Daten, schafft neue Sicherheitslücken und Begehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden. Die digitale Erfassung ganzer Familien aufgrund ihres Aufenthaltsstatus und ihrer Herkunft von außerhalb der EU ist diskriminierend und integrationspolitisch verheerend. Die Linke lehnt diesen Gesetzentwurf daher ab. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist unbegreiflich, dass ausgerechnet die FDP, die sich immer wieder als Bürgerrechtspartei rühmt, diesen Gesetzentwurf mit zu verantworten hat. Mit diesem Gesetzentwurf werden ausländische Staatsangehörige samt ihrer Kinder dazu verpflichtet, für den Erhalt einer Aufenthaltskarte - wie in einem Strafverfahren - ihre Fingerabdrücke abzugeben. Hier wird das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten. Das lehnen wir Grüne entschieden ab. Der Standard, der deutschen Staatsangehörigen garantiert wird, muss allen hier lebenden Menschen gewährt werden. Wir sind gegen einen Zweiklassendatenschutz und wollen nicht, dass sechsjährige Kinder wie Straftäter erkennungsdienstlichen Maßnahmen unterzogen werden. Es ist ein Beweis für die fehlende politische Sensibilität, dass die Bundesregierung der Europäischen Verordnung zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige im Jahr 2008 zugestimmt hat, obwohl ihr bekannt war, dass Fingerabdrücke für den Personalausweis heftig in Deutschland diskutiert wurden. Aus guten Gründen fand der obligatorische Fingerabdruck für den Personalausweis keine Mehrheit im Bundestag. Die Bundesregierung scheint die Einwanderinnen und Einwanderer als Türöffner für solche Maßnahmen zu missbrauchen. Die Aufnahme von Fingerabdrücken in die Aufenthaltskarte ist überflüssig. Es ist nicht bekannt, dass bisher in nennenswertem Umfang Missbrauch und Fälschungen von Aufenthaltstiteln stattgefunden haben. Es verwundert nicht, dass die ersten technischen Schwierigkeiten bei der elektronischen Aufenthaltskarte schon aufgetreten sind, bevor die Aufenthaltskarte überhaupt eingeführt wurde: Wegen diverser Probleme bei der Zertifizierung der Chipkarte und der darin enthaltenen Software soll die Einführung der Aufenthaltskarte um mehrere Monate verschoben werden. Das wird kein Einzelfall bleiben. Die Verwendung der Aufenthaltskarte als elektronischer Identitätsnachweis ist äußerst problematisch. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, empfiehlt den Ausweisinhaberinnen und -inhabern, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Seitens der Regierung hört man außer wenig hilfreichen Empfehlungen, wie die Antivirensoftware stets auf dem aktuellen Stand zu halten, nichts. Was können Betroffene jedoch tun, wenn die Betreiber der Antivirensoftware nicht schnell genug Updates anbieten oder die Anwenderinnen und Anwender mit der Software nicht klarkommen? Außerdem kann eine Antivirensoftware nicht vor allen Risiken schützen. Darauf hat die Bundesregierung keine Antwort. Schließlich bedeuten die mit der neuen Aufenthaltskarte einhergehenden Kostensteigerungen für Betroffene und Kommunen eine besondere Härte. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht für die neuen Aufent-haltstitel eine Gebührenerhöhung von 60 Euro vor. Damit verdoppelt sich die Gebühr für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, während die Gebühr für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auf bis zu 260 Euro erhöht wird. Die Kommunen gehen davon aus, dass der durch die Einführung der Aufenthaltskarte verursachte Mehraufwand nicht durch die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene Gebührenerhöhung ausgeglichen werden kann. Vielmehr werden die Kommunen selber mit erheblichen Mehrkosten konfrontiert sein. Die Bundesregierung muss prüfen, durch welche Maßnahmen sie die Antragstellenden und Kommunen finanziell entlasten kann. Sie darf die durch ihre Entscheidungen verursachten Zusatzkosten für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht auf Dritte abwälzen und sich aus der Verantwortung stehlen. Daher fordern wir die Bundesregierung mit unserem Entschließungsantrag erstens auf, unverzüglich im Rahmen der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass die Verordnung zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige dahin gehend geändert wird, dass für die Erteilung des Aufenthaltstitels Fingerabdrücke nicht erfasst werden, und bis dahin auf die Erfassung von Fingerabdrücken zu verzichten. Zweitens fordern wir die Bundesregierung auf, zu prüfen, auf welche Weise der Bund die Ausstellung des Aufenthaltstitels finanziell unterstützen kann, damit die Antragstellenden und Kommunen durch die Einführung des Aufenthaltstitels nicht über Gebühr belastet werden. Es ist für einen Rechtsstaat äußerst bedenklich, wenn bereits sechsjährige Kinder sich wie Straftäter erkennungsdienstlichen Maßnahmen unterziehen müssen. Das können wir nicht akzeptieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4464, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3354 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/4465. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, dagegen haben die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion gestimmt, enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen an den Hochschulen initiieren - Drucksache 17/4203 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten - Prekarisierung des akademischen Mittelbaus beenden - Drucksache 17/4423 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.6 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4203 und 17/4423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter Danckert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozessordnung (§ 522 ZPO) - Drucksache 17/4431 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Lassen Sie mich mit einem klaren Bekenntnis anfangen: Ich halte den aktuellen Rechtszustand tatsächlich für unbefriedigend! Gerade gestern Abend konnte man in der ARD-Dokumentation "Patient ohne Rechte" am vielen von Ihnen sicherlich bekannten Schicksal der kleinen Deike nachvollziehen, dass die Anwendung des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO tatsächlich manchmal zu Ergebnissen führt, die niemand von uns will. Hier etwas zu ändern ist daher absolut richtig und berechtigt. Das ist also einer der seltenen Fälle, in denen ich der SPD inhaltlich zustimmen kann. Bevor Sie sich aber zu früh freuen, meine Damen und Herren von der SPD: Das gilt freilich allein für Ihr Grundanliegen, aber keineswegs für die von Ihnen vorgeschlagene Lösung! In der Tat ist das schon ein bemerkenswerter Vorgang: Die SPD schlägt uns hier die ersatzlose Streichung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO vor, die Streichung einer Regelung, die im Rahmen der ZPO-Reform 2001 geschaffen wurde. Sie schlägt also die Streichung einer Regelung vor, die in Verantwortung der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder ins Werk gesetzt wurde. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie waren es selbst, die § 522 ZPO in seiner heutigen Form eingeführt haben! Es ist schon erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit Sie sich heute von vormals für richtig erachteten Positionen verabschieden. Wenn ich an die Hartz-IV-Gesetzgebung oder an die Rente mit 67 denke, scheint das neuerdings ein Muster bei Ihnen zu sein. Das kann man alles machen - nur, mit konsistenter und glaubwürdiger Politik hat das dann nichts mehr zu tun! Wir von der Union haben die Neuregelung des § 522 ZPO im Übrigen damals kritisiert, weil wir durch die ZPO-Reform mehr Bürgernähe und nicht weniger Rechtsschutz erreichen wollten. Nun könnte man natürlich meinen, zehn Jahre sind eine lange Zeit, in zehn Jahren kann viel passieren, da kann man dazulernen und als falsch erkannte Entscheidungen revidieren. Nur trifft das leider für die SPD-Kollegen so nicht zu; denn man muss gar nicht zehn Jahre zu den Beratungen über die rot-grüne ZPO-Reform zurückgehen; vielmehr ist es ist noch keine zwei Jahre her, da hat Ihre Justizministerin Zypries hier im Plenum bei der Debatte über einen FDP-Antrag zur Einführung einer Rechtsbeschwerde vehement die rot-grüne Regelung der Zurückweisung durch Beschluss als - wörtlich - "ordentliche Reform" mit einem "gutem Ergebnis" verteidigt, die "voll akzeptiert" werde. Welche bahnbrechenden Rechtserkenntnisse Sie nun allerdings in den letzten zwei Jahren gewonnen haben, die nicht schon bei der Debatte 2009 vorlagen, ist mir nicht ersichtlich. Was auch immer der Grund sei - nun wollen Sie jedenfalls eine Rolle rückwärts machen: zurück auf den Anfang, ohne den bisher zurückgelegten Weg zu betrachten. Die Politik im Allgemeinen und die Rechtspolitik im Speziellen sind aber meistens zu komplex, um sie in richtig oder falsch einzuteilen oder sie schwarz oder weiß zu malen. Genau das machen sie aber jetzt, wenn sie nicht genau hinsehen, wo es bei der Regelung des § 522 Abs. 2 ZPO Defizite gibt und wo Erfolge durch die ZPO-Reform erreicht worden sind. Lassen Sie mich mit den Defiziten beginnen. Ich habe anfangs ja bereits ausgeführt, dass ich den aktuellen Rechtszustand für unbefriedigend halte und dass ich hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehe. Seit der rot-grünen ZPO-Änderung muss das Berufungsgericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO eine Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert. Eine mündliche Verhandlung findet in diesen Fällen nicht statt. Der Beschluss ist zudem unanfechtbar. Obwohl der § 522 Abs. 2 ZPO die kumulativen Voraussetzungen des Zurückweisungsbeschlusses abschließend und ohne Eröffnung eines gerichtlichen Ermessens definiert, bestehen in der Praxis erhebliche regionale Unterschiede in seiner Anwendung. Nach der Zivilgerichtsstatistik bewegen sich die Quoten der Erledigung durch Zurückweisungsbeschluss auf der Ebene der Landgerichte im Jahr 2009 zwischen 6,4 Prozent im OLG-Bezirk Karlsruhe und 23,8 Prozent im OLG-Bezirk Braunschweig und auf der Ebene der Oberlandesgerichte zwischen 9,1 Prozent beim OLG Hamm und 27,1 Prozent beim OLG Rostock. Wir brauchen uns jetzt nicht über Zahlen oder darüber zu streiten, welche Umstände man bei der Evaluierung der unterschiedlichen Quoten berücksichtigen muss, etwa inwieweit auch einbezogen werden muss, wenn nach einem Hinweisbeschluss im Verfahren nach § 522 ZPO die Berufung zurückgenommen wird. Unter dem Strich bleibt eine regional deutlich unterschiedliche Handhabung. Das führt aber dazu, dass je nachdem, wo gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung eingelegt wird, ein Rechtsschutzsuchender ganz unterschiedliche Chancen hat: Einmal kann er mündlich über das erstinstanzliche Urteil verhandeln und ein dann gegen ihn ergehendes Urteil anfechten, das andere Mal gibt es keine mündliche Verhandlung, und er erhält einen unanfechtbaren Beschluss. Diese Ungleichheit in der Rechtsanwendung ist ein Problem. Sie ist ein Gerechtigkeitsproblem. Anders als die SPD in ihrer Antragsbegründung zu insinuieren versucht, ist sie aber kein verfassungsrechtliches Problem. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr mehrfach die Verfassungsgemäßheit des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO bestätigt. Es hat allein - und darauf nehmen Sie Bezug - beanstandet, dass eine den Zugang zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar sei, nämlich wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränkt. Diese sich im konkreten Fall möglicherweise stellende Frage hat mit der Regelung als solcher aber nichts zu tun. Dennoch - es bleibt das Gerechtigkeitsproblem. Wenn auch nicht verfassungsrechtlich zwingend notwendig, so ist dies doch ein rechtsstaatlich gebotener Auftrag an uns, zu handeln. Überdies halte ich in vielen Fällen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung - auch wenn der Fall rechtlich eindeutig und von der ersten Instanz richtig entschieden sein mag - für angemessen; denn eine mündliche Verhandlung dient nicht allein der Rechtsfindung und des Erkenntnisgewinns. Sie gibt auch einen besseren Rahmen für eine gütliche Einigung auf dem Vergleichswege und ermöglicht zudem ein Rechtsgespräch zwischen den Parteien, aber auch zwischen dem Gericht und den Parteien. Hierüber kann so manches Mal mehr Überzeugungskraft erzeugt werden als durch schriftliche Ausführungen. Eine mündliche Verhandlung schafft Akzeptanz in die gerichtliche Entscheidung und erfüllt auf diese Weise die Befriedungsfunktion des gerichtlichen Verfahrens in hervorragender Weise. Dies ist ein rechtsstaatlicher Wert an sich, der durch das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPO bislang ausgeschlossen wird. Berücksichtigt man zudem, welche gravierenden Auswirkungen die fehlsame oder sogar missbräuchliche Anwendung des Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO im Einzelfall haben kann - ich erinnere nochmals an das Schicksal der kleinen Deike -, dann kann man nicht anders, als festzustellen, dass die derzeitige Regelung angepasst werden muss. Aber wo Schatten ist, da muss auch irgendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einer seriösen Diskussion dazu, zu fragen, welche positiven Aspekte das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPO seit 2001 bewirkt hat und welche Folgen dessen ersatzlose Streichung nach sich zöge. Und da gibt es durchaus einige Dinge, die man nicht vernachlässigen sollte. Die Reform der ZPO - da waren sich Union und SPD in der 13. Legislaturperiode einig - war notwendig. Menge und Länge der Verfahren sollten ein gesundes Maß erreichen, um jedem Bürger den ihm zustehenden Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es so, dass auch solche Berufungen terminiert werden mussten, die offensichtlich unbegründet waren und die keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. Das ist nicht effizient und bindet richterliche Arbeitskraft, die an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung steht. Das verzögert nicht nur das konkrete Verfahren, sondern mittelbar auch alle anderen, für die dann keine oder weniger Zeit mehr ist. Guter, effizienter Rechtsschutz setzt aber voraus, dass er in angemessener Zeit gewährt wird. Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre eigene Ministerin Zypries hat 2009 ausgeführt, dass es vor der Möglichkeit einer Zurückweisung durch Beschluss kein gutes - weil nur langsames - Recht gab. Im Kern ist das richtig. Und die Daten zeigen uns ja auch, dass es durch das Beschlussverfahren tatsächlich zu einer Verfahrensbeschleunigung gekommen ist. Die wollen wir - im Interesse aller Rechtssuchenden - nicht wieder völlig aufgegeben. Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen, dass es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichtigen gilt: das Interesse des weiteren Rechtsschutzsuchenden, des Berufungsklägers, aber auch das Interesse des Berufungsbeklagten. Der in der ersten Instanz erfolgreiche Berufungsbeklagte hat verständlicherweise ein Interesse daran, das erstrittene Urteil möglichst schnell um-, nämlich durchsetzen zu können. Dafür benötigt er die schnelle Rechtskraft des Urteils, die unmittelbar durch einen Zurückweisungsbeschluss eintritt. Wenn man diesen - so wie die SPD das will - ersatzlos abschaffte, steht zu befürchten, dass es vermehrt Anreize gibt, Berufung nur deswegen einzulegen, um das Verfahren zu verzögern, nämlich die Vollstreckung eines zu Recht titulierten Anspruchs zu vereiteln. Für die in erster Instanz erfolgreiche Partei ist es aber wichtig, möglichst schnell Klarheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens, also Rechtssicherheit zu haben. Das alles würden wir negieren, wenn wir dem SPD-Antrag folgen würden. Die Ziele der ZPO-Reform 2001 waren aber im Kern richtig und haben sich auch - das zeigen die empirischen Daten und Umfragen - weitgehend verwirklicht. Deswegen verfolgt die christlich-liberale Koalition einen anderen Weg. Wir erkennen, dass der gegenwärtige Zustand unbefriedigend ist. Und wir anerkennen, dass mehr Rechtsschutz gewährleistet sein muss. Wir haben daher einen Gesetzentwurf erarbeitet, der die Schwächen des jetzigen §-522-Verfahrens beseitigt und gleichzeitig die Vorteile der ZPO-Reform bewahrt. Unsere Lösung soll alle Prozessbeteiligten - Kläger und Beklagte, Richter und Berufungsrichter sowie die Bundesländer als Träger der Landesjustiz - unter einen Hut bringen. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir den zwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO klarer formulieren und für Zurückweisungsbeschlüsse mit einer Beschwer über 20 000 Euro das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde einführen. Damit gewährleisten wir, dass eine bundeseinheitliche Handhabung der Voraussetzungen des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO und darüber die rechtsstaatlich gebotene Rechtsanwendungsgleichheit befördert wird. Zugleich ermöglichen wir die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in den Fällen, wo dies angemessen ist und dem Rechtsfrieden und der Akzeptanz einer gerichtlichen Entscheidung dienlich ist. Dieser Gesetzentwurf wird in der kommenden Woche im Bundeskabinett beraten und kann dann von uns im Detail debattiert werden. Zum Schluss bleibt also festzuhalten: Die SPD hat mit ihrem Antrag den Finger in die Wunde gelegt; diese Wunde hat sie allerdings selbst geschlagen. Wir verschließen uns dem Anliegen nicht; es ist in der Tat berechtigt. Allein der Lösungsvorschlag, den Sie uns hier unterbreiten, negiert die positiven Effekte des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO und schießt daher über das Ziel hinaus. Wir als christlich-liberale Koalition werden daher den skizzierten eigenen Gesetzentwurf einbringen, der ausgewogen ist und allen Interessen gerecht wird. Ihrem Antrag werden wir daher nicht zustimmen. Sonja Steffen (SPD): Wir debattieren heute in erster Lesung über den von meiner Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Streichung des § 522 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO. Danach kann das Berufungsgericht eine Berufung ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat. Der Beschluss ist unanfechtbar. Diese Vorschrift ist im Januar 2002 im Zuge der ZPO-Reform in Kraft getreten. Hauptziele der Reform waren es, gütliche Lösungen zu fördern sowie stärkere Transparenz und Akzeptanz der Entscheidungen zu schaffen. Diese Ziele wurden in weiten Teilen mit der Reform erreicht - im § 522 Abs. 2 ZPO wurden sie verfehlt. Zunächst ist festzustellen, dass die Vorschrift besonders anfällig für Verletzungen des verfassungsrechtlichen Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör ist. Der Rechtsuchende empfindet sich im Verfahren des § 522 Abs. 2 ZPO nicht als Rechtssubjekt, sondern fühlt sich der Willkür und der alleinigen Entscheidungsbefugnis der Richter ausgeliefert. Entgegen der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers führt die Vorschrift darüber hinaus zu keiner spürbaren Entlastung der Gerichte; denn wenn die Regelung ernst genommen wird, bereitet eine aussagekräftige Hinweisverfügung vor der Beschlussfassung, wie sie das Gesetz vorsieht, den Richtern nicht weniger Arbeit als ein Votum für eine mündliche Verhandlung. Auch der Zurückweisungsbeschluss ist ausführlich zu begründen, wobei es mit einer bloßen Wiederholung der Hinweisverfügung nicht getan ist. Wodurch also sollte eine Entlastung eintreten? Aber selbst wenn § 522 Abs. 2 ZPO zu einer Beschleunigung und Entlastung der Gerichte beitragen würde: Diese darf niemals zulasten der Einzelfallgerechtigkeit und der Transparenz der Rechtsprechung gehen. § 522 Abs. 2 ZPO wird nämlich in der Praxis völlig unterschiedlich und teilweise widersprüchlich gehandhabt. So werden etwa in Bremen nur 5,2 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern hingegen 27,1 Prozent der Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden. Im Ergebnis führt das zu Gerechtigkeitsdefiziten und Justizverdrossenheit der betroffenen Kläger, nicht dagegen zur Beschleunigung der Verfahren. Würde eine mündliche Verhandlung durchgeführt, könnte die unterliegende Partei ihre Stellungnahme in öffentlicher Verhandlung vortragen und damit die Richter vielleicht zu einer anderen Beurteilung bewegen. Die mündliche Verhandlung ist das Herzstück eines jeden Zivilprozesses. Sie räumt oft Missverständnisse aus, schafft Rechtsfrieden und kann gegebenenfalls auch den Unterlegenen überzeugen. Der vom Justizministerium vorgelegte Referentenentwurf sieht in seiner aktuellen Fassung vor, dass gegen den Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Nichtzulassungsbeschwerde eingeführt wird. Diese soll jedoch der gleichen Grenze für die Beschwer unterliegen wie das Berufungsurteil selbst, ist also nur statthaft, wenn die Beschwer über 20 000 Euro liegt. Damit wird an dem bisherigen Zustand jedoch wenig geändert; denn die meisten Beschlüsse, zumindest im Zuständigkeitsbereich der Landgerichte, werden auch nach Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht anfechtbar sein. Letztlich unterstützt das BMJ mit dem nun vorgelegten Referentenentwurf einen nicht zielführenden Weg und verbessert die Situation für den Rechtsuchenden nur unzulänglich. Die Abschaffung dieser Vorschrift ist der sinnvollste Weg. Er beseitigt das Problem der zersplitternden Rechtsanwendung der verschiedenen Spruchkörper, behebt die gegenwärtig zu beklagenden Gerechtigkeitsdefizite und trägt damit zum Rechtsfrieden und zur Transparenz bei. Mechthild Dyckmans (FDP): Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung der Zivilprozessordnung. Offensichtlich war man sich in der SPD sehr unsicher, ob man diesen Entwurf überhaupt einbringen sollte; denn er erreichte uns, obwohl schon auf der Plenartagesordnung für den heutigen Donnerstag angekündigt, erst am Mittwochmorgen, also gestern. Nun ist der Gesetzentwurf zugegebenermaßen sehr kurz. Er enthält nur den einzigen inhaltlichen Satz: "In § 522 werden die Abs. 2 und 3 gestrichen." Wer die Diskussionen zur Änderung des § 522 ZPO in der letzten Legislaturperiode verfolgt hat, wird sich aber verwundert die Augen reiben. Im März 2009, genauer gesagt am 5. März 2009, verteidigte die SPD noch im Deutschen Bundestag mit der geballten Kraft ihrer Bundesjustizministerin Frau Zypries und ihres damaligen Obmannes im Rechtsausschuss die bestehende Regelung in § 522 ZPO und lehnte jedwede Änderung kategorisch ab. Die FDP, die damals einen Änderungsentwurf eingebracht hatte, gehe von falschen Voraussetzungen aus. Eine unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte in den Ländern bei Berufungsentscheidungen ohne mündliche Verhandlung durch unanfechtbaren Beschluss sei nicht in relevantem Ausmaß gegeben, so die damalige Bundesjustizministerin. Jedenfalls habe sich das Rechtsinstitut der Berufungszurückweisung durch Beschluss bewährt und stelle auch keine Rechtsschutzverkürzung dar. Das liest sich in der Begründung zu dem heute eingebrachten Entwurf der SPD ganz anders. Nunmehr lassen die unterschiedlichen Zurückweisungsquoten von 5,2 Prozent in Bremen und 27,1 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern es auch für die SPD fraglich erscheinen, ob die in § 522 Abs. 2 und 3 ZPO statuierte Möglichkeit des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses noch rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Lehnte Frau Zypries es noch ausdrücklich ab, die Erfolgsquote der Zulassungsrevision beim Bundesgerichtshof zur Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob der BGH bei einer Überprüfung der Zurückweisungsbeschlüsse zu einer anderen Bewertung käme, ist diese Erfolgsquote heute für die SPD-Fraktion ausdrücklich die Begründung für den Gesetzentwurf. Nun könnte man sich ja darüber freuen, wenn auch die SPD-Fraktion zur besseren Einsicht kommt. Leider schießt sie aber mit ihrem Streichungsantrag über das Ziel hinaus. Der Vorschlag lässt nämlich völlig außer Acht, dass die Vorschrift auch dazu dienen sollte, raschen und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Das Berufungsgericht sollte bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückweisen. Dies hat - so auch die Landesjustizminister - zur Beschleunigung der Verfahren und auch zur Entlastung der Gerichte geführt. Diesen für alle Beteiligten positiven Effekt darf ein Änderungsvorschlag zu § 522 ZPO nicht vernachlässigen. Es sollte daher eine Regelung gefunden werden, die einerseits der bisher unterschiedlichen Anwendungspraxis entgegenwirkt und andererseits die Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Entscheidung durch Urteil gleichstellt. Genau einen solchen abgewogenen Gesetzentwurf wird die Bundesjustizministerin in der nächsten Woche dem Kabinett vorlegen. Wenn dieser anschließend das Parlament erreicht hat, werden wir im Rechtsausschuss ausreichend Gelegenheit haben, die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Regelungen zu diskutieren. Jens Petermann (DIE LINKE): Mit der Reform der Zivilprozessordnung hat Rot-Grün im Jahre 2002 versucht, die Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Gerichte zu entlasten. Hinsichtlich einer Änderung schossen sie jedoch weit über das Ziel hinaus: die Einfügung der Abs. 2 und 3 in § 522 der Zivilprozessordung. Nach nunmehr über acht Jahren der Erprobung müssen wir leider feststellen, dass die Änderung des § 522 ZPO eher ein Fluch als ein Segen für die Rechtsschutzsuchenden darstellt und auch die gewünschte Entlastung der Gerichte verfehlt wurde. Sie haben damit den Rechtsschutzsuchenden Steine statt Brot gegeben. Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sehr zu begrüßen. Die Sozialdemokraten haben eingesehen, dass die damalige Reform fehlerhaft war. Nun sollte die heutige Bundesregierung der SPD und den Grünen die Möglichkeit geben, ihren Fehler zu korrigieren. Ganz nebenbei wird damit ein verfassungswidriger Zustand korrigiert. Art. 103 Abs. 1 GG sichert jedermann vor Gericht einen Anspruch auf rechtliches Gehör zu. Wenn aber eine Berufung durch einen einfachen, unanfechtbaren Beschluss zurückgewiesen werden kann, so stellt dies meines Erachtens eine Verletzung eines durch die Verfassung zugesicherten Grundrechts dar. Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Streichung der beiden damals eingeführten Abs. 2 und 3 des § 522 ZPO vor und geht somit viel weiter, als der von der Bundesregierung vorgelegte Referentenentwurf. Der Referentenentwurf versucht lediglich, kosmetisch zu kaschieren, und übernimmt so die früheren Fehler von Rot-Grün! Er sieht neben den drei bestehenden noch eine weitere Bedingung für die Zurückweisung der Berufung vor. Und als kleine zusätzliche Verbesserung sollen dem Betroffenen nun Rechtsmittel gegen den ablehnenden Beschluss zugestanden werden. Das ist nicht genug und damit inakzeptabel! Durch den Entwurf der SPD soll diese überflüssige Regelung beseitigt werden. Mit der Einführung des § 522 Abs. 2 ZPO wurde dem Berufungsgericht die Möglichkeit eröffnet, die Berufung zurückzuweisen, wenn es zu der Überzeugung gelangte, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung aufweist und weder die Rechtsfortbildung noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Dieser Beschluss ist bisher nach § 522 Abs. 3 ZPO unanfechtbar. Entschiede aber das Gericht in dem gleichen Rechtsstreit durch Urteil, ist gegen die Zurückweisung der Berufung eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Zu Recht wird eine solche Vorgehensweise von vielen Juristen als "kurzer Prozess" bezeichnet. Gerade in Arzthaftungsfällen ist die Anwendung des § 522 ZPO in seiner heutigen Form im Hinblick auf die finanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschädigten eine wirkliche Zumutung. Da ist es nur verständlich, wenn der Glaube der Bürgerinnen und Bürger an die Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem Lande verloren geht. Wenn man sich die Intention des damaligen Gesetzgebers anschaut, kommt man zu dem Schluss: Kosteneinsparung im Justizsektor führt zu ungerechten Entscheidungen und lässt das Vertrauen in die Justiz und den Rechtsstaat schwinden. Dies dürfen wir nicht länger zulassen. Die Linke stimmt darum dem vorliegenden SPD-Entwurf zu. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute diskutieren wir über den Gesetzentwurf der SPD zur Änderung der Zivilprozessordnung - konkret über die Änderung von § 522 ZPO, der einen Teil der Rechtsmittel regelt. Dies beinhaltet eine äußerst wichtige Angelegenheit: den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Recht. Die Regelung des § 522 ZPO wurde mit der Zivilprozessreform 2002 eingeführt. Es wurden damals neben anderen Strukturänderungen die Rechtsmittel neu gestaltet. Ziel der Neugestaltung war die Entlastung der Gerichte. Zudem sollten die Rechtsmittelverfahren beschleunigt werden. Beides sind wichtige und begrüßenswerte Ziele, die aber nicht um jeden Preis durchgesetzt werden dürfen, vor allem dann nicht, wenn dadurch der Zugang zum Recht für die Bürgerinnen und Bürger erschwert wird. Um zu verstehen, inwiefern der Rechtsweg für Bürgerinnen und Bürger durch § 522 Abs. 2 ZPO verkürzt wird, müssen wir uns diese Norm etwas genauer ansehen. Sie besagt, dass die Berufungsgerichte verpflichtet sind, eine Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat. Das bedeutet konkret: In diesen Fällen findet keine mündliche Verhandlung statt. Gegen den im schriftlichen Verfahren gefassten Beschluss besteht kein weiteres Rechtsmittel, der zurückweisende Beschluss ist unanfechtbar. Damit ist der Rechtsweg für die Berufungsklägerin bzw. den Berufungskläger vor den ordentlichen Gerichten erschöpft. Sie haben keine weitere Möglichkeit, in ihren Angelegenheiten weiter gerichtlich vorzugehen! Für die Rechtsuchenden stellt es einen großen Unterschied dar, ob ihre Berufung im schriftlichen Verfahren zurückgewiesen wird oder ob eine mündliche Verhandlung stattfindet, in der sie sich äußern können. Ohne mündliche Verhandlung in einem Gerichtssaal vor einem Richter kann bei den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl entstehen, von der Justiz nicht wirklich gehört zu werden und nur "eine Akte" unter vielen zu sein. Ein weiteres Problem ist die unterschiedliche Anwendung der Vorschrift in der Praxis. Im Gesetz steht, dass durch schriftlichen Beschluss über die Berufung entschieden wird, wenn alle Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO nebeneinander vorliegen. Die Vorschrift hat also einen zwingenden Charakter. Daraus könnte man folgern: Alle Berufungsgerichte wenden diese Vorschrift in der gleichen Art und Weise an. Schauen wir uns aber die Statistiken an, müssen wir feststellen, dass es große Differenzen in der praktischen Handhabung bei den Oberlandesgerichten gibt. 2005 wurden am Oberlandesgericht Rostock 23,1 Prozent aller erledigten Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden, am Oberlandesgericht Saarbrücken waren es dagegen nur 4,3 Prozent. 2009 lagen die Prozentzahlen beim Oberlandesgericht Hamm bei 8,3 Prozent, das Oberlandesgericht Rostock erledigte im Vergleich dazu ganze 27,1 Prozent der Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO. Damit lag in beiden Fällen eine Diskrepanz von 18,8 Prozent vor. Das sind Missstände, die so nicht hingenommen werden dürfen. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf gleichen Zugang zum Recht. Das schließt auch die Rechtsmittelinstanzen mit ein. Angesichts der regional sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen ist dieses jedoch nicht gewährleistet. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie schlagen vor, § 522 Abs. 2 ZPO zu streichen. Das würde das Problem der unterschiedlichen Handhabung durch die Gerichte endgültig lösen; denn die Bürgerinnen und Bürger hätten dann regelmäßig den Zugang zum Recht über die mündliche Verhandlung. Jedoch gilt es auch zu bedenken, dass die Gerichte dieses nicht ohne Weiteres werden leisten können. Im Zuge der Einführung von § 522 Abs. 2 ZPO wurden Richterstellen abgebaut. Wenn wir diese Vorschrift jetzt streichen, müssten weitere Richterinnen und Richter eingestellt werden. Bevor das geschieht, könnte mit einer längeren Prozessdauer zu rechnen sein. Auch das liegt nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Es gilt also, noch einiges abzuwägen, bevor wir hier zu einer Neuregelung kommen. Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Die Beschleunigung von Rechtsmittelverfahren sowie die Entlastung der Justiz sind wichtige und begrüßenswerte Ziele. Aber nicht um jeden Preis. Der gleiche Zugang zum Recht und die Wahrung des Rechtsfriedens sind so bedeutend, dass sie nicht immer hinter Einsparargumenten zurücktreten können. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4431 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Menschenwürdiges Existenzminimum für alle - Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen - Drucksache 17/4424 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke knüpft an die zahlreichen Initiativen von Linken und Grünen zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, AsylbLG, an. Bereits im Juni des vergangenen Jahres haben wir über einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der fast wortgleich schon im November 2008 im Deutschen Bundestag debattiert worden ist, beraten. Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, mit Ihrer Forderung nach Abschaffung des AsylbLG stellen Sie die Grundkonzeption dieses Gesetzes infrage und begründen dies mit "einem diskriminierenden Ausschluss von Asylsuchenden aus der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende". Für eine solche Diskriminierung kann ich keine Anhaltspunkte erkennen; denn unser Asylrecht in Deutschland, das unser Grundgesetz im Übrigen als eine von wenigen Verfassungen der Welt jedem politisch Verfolgten gewährt, verfolgt einen ganz anderen Zweck als unser Sozialhilferecht. Kerngedanke des AsylbLG ist es, die Leistungen für Asylbewerber gegenüber der Sozialhilfe zu vereinfachen und auf die Bedürfnisse eines, in aller Regel nur vorübergehenden, Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland abzustellen. Wir sprechen hier von Asylbewerbern, die einen Asylantrag gestellt haben und sich bis zur Entscheidung über diesen Antrag bei uns aufhalten dürfen. Da gerade die Grünen immer wieder so tun, als ob sie schon immer in der Opposition gewesen wären und nicht sieben Jahre lang mit der SPD in Regierungsverantwortung gestanden hätten, möchte ich noch einmal auf den Ursprung dieses AsylbLG zu sprechen kommen. Erinnern wir uns: Anfang der 1990er-Jahre stieg die Zahl der asylbegehrenden ausländischen Staatsangehörigen stark an, von rund 438 000 Personen im Jahr 1992 bis auf den Höchststand im Jahr 1996 mit 490 000 Personen. Für viele Migranten war der wirtschaftliche Wohlstand in Verbindung mit der günstigen geografischen Lage und der verfassungsrechtlich verankerten Asylgarantie der Bundesrepublik Deutschland Hauptursache ihres Kommens; die politische Verfolgung stand ausweislich der Anerkennungszahlen im Asylverfahren weniger im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund verständigten sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP am 6. Dezember 1992 in dem sogenannten Asylkompromiss auf eine Neugestaltung des Asylrechts. Unter anderem sollte dadurch der Anreiz für nicht politisch Verfolgte reduziert werden, Asyl in Deutschland zu suchen. Daher einigten sich die Fraktionen auch darauf, ein Gesetz zur Regelung des Mindestunterhalts von Asylbegehrenden und anderen ausländischen Staatsangehörigen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu schaffen. Wenn Sie nun behaupten, dass 17 Jahre nach Inkrafttreten des AsylbLG festzustellen sei, dass dieses Gesetz weder damals noch heute dazu geeignet war und ist, die Asylsuchenden bzw. Geduldeten zu einer schnellen Ausreise aus Deutschland zu bewegen, dann haben Sie die Zahlen nicht verfolgt. Das Statistische Bundesamt stellt in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung vom 4. Mai 2009 fest, dass die Empfängerzahlen sowie die Ausgaben für Hilfeleistungen nach dem AsylbLG seit Mitte der 1990er-Jahre stark rückläufig sind. Waren es Ende 1994 noch 446 500 Menschen, die Leistungen nach dem AsylbLG erhielten, waren es zum 31. Dezember 2009 nur noch 121 235 Personen. Das ist der niedrigste Stand seit Einführung des AsylbLG. Die Bruttoausgaben nach dem AsylbLG sind von rund 2,8 Milliarden Euro im Jahr 1994 auf rund 789 Millionen Euro im Jahr 2009 zurückgegangen. Im Jahr 2008 erhielten 128 000 Personen in 73 000 Haushalten Leistungen nach dem AsylbLG. Zu den Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV möchte ich Folgendes sagen: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Linken festgestellt, dass die Leistungssätze im AsylbLG nicht den Anforderungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 entsprechen. Deshalb prüft die Bundesregierung eine Anpassung der Leistungssätze und wird dabei auch den Anpassungsmechanismus im AsylbLG mit einbeziehen. Darüber hinaus hat die Bundesregierung - wie es im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist - eine Evaluation des Sachleistungsprinzips bereits eingeleitet. Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, das AsylbLG sobald wie möglich anzupassen und so für eine verfassungsfeste Lösung zu sorgen. Nach Abschluss der Leistungsreform des Sozialgesetzbuches II werden wir diese Anpassungen gesetzlich regeln. Mit den Einzelheiten werden wir uns bei einer Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales Anfang Februar dieses Jahres befassen. Eine Abschaffung des AsylbLG lässt sich aus den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichtes jedoch nicht folgern. Vielmehr hat es das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen gerade dem Gesetzgeber überlassen, ein eigenes Konzept zur Sicherung des Lebensbedarfes für Asylbewerber zu entwickeln. Dies räumen Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, in Ihrem Antrag auch ein. Der Ausschluss von Asylsuchenden aus der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat besondere Gründe, die eine andere Beurteilung der Situation rechtfertigen. Dies hat auch das Bundesverwaltungsgericht so bestätigt. Der Grund hierfür ist, dass es bei Asyl zunächst nicht um einen dauerhaften Aufenthalt, sondern um eine vorübergehende Versorgung der Betroffenen bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag geht. Es kann nicht in erster Linie darum gehen, diese Menschen hier bei uns aufzunehmen, ohne dabei die Ursachen für ihren Aufenthalt zu bekämpfen. Vielmehr liegt die Ursache doch offensichtlich in den schlechten Verhältnissen vieler Länder, wo Millionen Menschen vor Ort zurückbleiben und Not leiden müssen. Dieses Problem kann nicht allein auf nationaler Ebene, sondern nur mit internationaler Abstimmung gelöst werden. Hier spielt die Entwicklungspolitik eine entscheidende Rolle. Fazit: Das schwierige globale Problem steigender Flüchtlingsströme werden wir nicht durch eine Abschaffung des AsylbLG lösen. Eine ausreichende Versorgung der Asylbewerber bei uns in Deutschland steht bei uns in Deutschland außer Frage; dafür sorgt das AsylbLG. Deshalb werden wir die Leistungssätze des AsylbLG auch im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil des vergangenen Jahres anpassen, sobald wir die Leistungsreform im Sozialgesetzbuch II abgeschlossen haben. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Bereits seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Linken, kritisieren Sie dieses - leider immer mit den gleichen, nicht überzeugenden Argumenten. Damit verschwenden Sie wertvolle Energie für konstruktive politische Arbeit. Verabschiedet wurde das Gesetz 1992 von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP, da in jenem Jahr 95 Prozent der Asylsuchenden nicht politisch verfolgt waren, sondern andere oder häufig wirtschaftliche Gründe für ihren Aufenthaltswunsch in Deutschland hatten. Dieser Zustand belastete unsere Sozialkassen so erheblich, dass Regelungen zu einem Mindestbedarf von Asylsuchenden nötig wurden. Wie die Entwicklungen der letzten Jahre zeigten, wirkt das Gesetz diesem Asylmissbrauch erfolgreich entgegen und erfüllt auch seinen zentralen Zweck: Es gewährt politisch Verfolgten und unmenschlich Behandelten die nötige Unterstützung. Zudem gebe ich zu bedenken, dass wir mit Maßnahmen gegen einen Missbrauch des Asylrechts, auf welchen das Asylbewerberleistungsgesetz abzielt, den tatsächlich politisch verfolgten und misshandelten Menschen in ihren menschenrechtlichen Bedürfnissen anerkennen, bekräftigen und unsere staatsrechtlichen Plichten ernst nehmen. Und, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, die Bundesregierung prüft derzeit genau, welche Bedeutung die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen auf das Asylbewerbergesetz hat. Dabei handelt es sich um komplexe Sach- und Rechtsfragen, deren Prüfung noch nicht abgeschlossen ist. Keinesfalls kann, wie in Ihrem Antrag, von einem "andauernden verfassungswidrigen Umgang mit Schutzsuchenden" gesprochen werden - dies möchte ich deutlich zurückweisen. Diskussionen vor Abschluss des Prüfergebnisses bringen uns leider keinen Schritt weiter! Doch lassen Sie mich auf einzelne Punkte eingehen. Der Antrag der Linken beschreibt ein "Existenzminimum zweiter Klasse" und bemängelt, dass Asylsuchende nicht die gleichen Sozialleistungen wie deutsche Staatsbürger erhalten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, dass der Gesetzgeber für die Hilfeleistung gruppenbezogene Differenzierungen vor-nehmen kann. Wir befassen uns mit einer Übergangsregelung für Asylsuchende, die nur solange Gültigkeit behält, bis die Entscheidung über den Asylantrag gefallen ist - oder eben maximal vier Jahre. Es handelt sich um keine Dauerregelung. Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer "systematischen Desintegration". Es ist auch sinnvoll, dass systematische Integrationsmaßnahmen erst beginnen, wenn dem Antrag auf Asyl stattgegeben wurde. Asylsuchende, deren Anträge abgelehnt werden, müssen zu einer Ausreise aus Deutschland bewegt werden. Sie können nicht umgehend sozial integriert und den inländischen Bedürftigen gleichgestellt werden. Hier gebe ich auch zu bedenken, dass Leistungszahlungen, die sich aus inländischen Steuereinnahmen ergeben, in einem angemessenen Verhältnis verteilt werden müssen. Die Steuerzahler in unserem Land sind bereits enorm belastet. Überdies würde eine Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes den Druck auf unsere Sozialkassen nur noch weiter erhöhen. Außerdem bemängelt ihr Antrag die Sachleistungsversorgung und kritisiert gleichzeitig, dass Preissteigerungen nicht berücksichtigt wurden. Durch die vornehmliche Gewährung von Sachleistungen wird doch in vollem Maße der Preisentwicklung Rechnung getragen: Der Staat trägt in diesem Fall die Preissteigerungen selbst, wenn beispielsweise Bekleidung oder Hausrat als Sachleistung gewährt werden. Dies ist wohl eher bei den Pauschalbeträgen, die das SGB XII und das SGB II vorsieht, der Fall. Ihr Vorwurf, dass die Preisentwicklungen seit 1993 nicht mehr angepasst wurden, ist also zurückzuweisen. Es ist eine wichtige staatliche und auch moralische Pflicht, Menschen, die politisch verfolgt und misshandelt werden, zu unterstützen, aufzunehmen und so ihr Leid zu mindern. Es ist wichtig, die Asylgesuche möglichst zügig zu bearbeiten, um Menschen nicht unnötig lange in einem ungewissen Zustand zu lassen. In Deutschland besteht für Flüchtlinge in dieser Übergangsphase eine gute Versorgung. Für weitere Entwicklungsmaßnahmen müssen wir die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses abwarten. Der vorliegende Antrag ist hierfür weder konstruktiv noch zielführend und muss deshalb abgelehnt werden. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Heute debattieren wir über das Asylbewerberleistungsgesetz. Das ist gut so; denn das Thema brennt unter den Nägeln. Leider werden unsere Reden, wie in der letzten Debatte auch schon, wieder nur zu Protokoll gegeben. Die Grünen hatten bereits im Sommer ihren Gesetzentwurf eingebracht. Nun kommt die Fraktion Die Linke mit ihrem Antrag. Das Ziel beider Initiativen ist, das Asylbewerberleistungsgesetz aufzuheben bzw. abzuschaffen. Das wollen wir nicht. Wir werden uns mit einem Forderungskatalog einbringen, um die Lage der Betroffenen zu verbessern. Die Expertenanhörung am 7. Februar steht ebenfalls noch bevor. Ich hoffe, dass es wenigsten dann gelingen wird, dem Thema die Beachtung zu verschaffen, die es verdient. Wenn wir über das Asylbewerberleistungsgesetz sprechen, dann reden wir auch über 120 000 Menschen, die davon betroffen sind. Diese Menschen dürfen in Deutschland nicht arbeiten, sie sind also auf Grundsicherung angewiesen. Sie müssen aber mit deutlich weniger auskommen als Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und das, obwohl sie zum großen Teil bereits viele Jahre in Deutschland leben. Spätestens seit Februar 2010 wissen wir, dass das verfassungswidrig ist. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben ein klares Urteil zu den Regelsätzen im Sozialgesetz-buch II und XII - also zum ALG II und der Sozialhilfe - gesprochen. Und natürlich gilt dieses Grundsatzurteil genauso auch für das Asylbewerberleistungsgesetz. Dies habe ich bereits in meiner Rede zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sommer deutlich gemacht. Das Verfassungsgericht fordert, dass der Gesetzgeber alle existenzsichernden Aufwendungen in einem transparenten Verfahren ermittelt und diese Berechnungen nachvollziehbar offenlegen muss. Außerdem müssen sich die zu erbringenden Leistungen an den bestehenden Lebensbedingungen orientieren und dementsprechend beständig aktualisiert werden. Dies hat die Bundesregierung inzwischen auch offiziell eingestanden - mehr ist allerdings seitdem nicht geschehen. Wir fordern die Bundesregierung und insbesondere die zuständige Ministerin von der Leyen deshalb erneut auf, endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die derzeitige verfassungswidrige Leistungspraxis des Asylbewerberleistungsgesetzes durch ein nachvollziehbares Verfahren zur Bemessung der Leistungen beendet. Wir haben diese Forderung bereits in unserem Antrag zur Neufestsetzung der Regelsätze vom 2. März 2010 formuliert und in unserem Antrag zur transparenten Bemessung der Regelbedarfe vom 10. November 2010 erneuert. Ich frage die Ministerin: Frau von der Leyen, wollen Sie so lange abwarten, bis Sie vom Bundesverfassungsgericht durch ein explizites Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz mit Frist zum Handeln aufgefordert werden? Sollen die Bundesrichter zukünftig Ihre Antreiber sein? Nur zu Ihrer Information: Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat bereits ein Verfahren zum Asylbewerberleistungsgesetz an die Bundesverfassungsrichter überwiesen. Warten Sie also nicht länger, handeln Sie endlich! Nicht nur die Regelsätze selbst müssen neu berechnet werden, auch deren fortlaufende Aktualisierung muss sichergestellt werden. Seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetz 1993 gab es keinerlei Erhöhung der Regelsätze. Der Kaufkraftverlust betrug allein zwischen 1994 und 2009 etwa 25 Prozent. 2001 haben wir gemeinsam mit den Grünen versucht, die Leistungen für Asylsuchende anzupassen. Die damalige Mehrheit im Bundesrat von CDU, CSU und FDP lehnte unsere Gesetzesinitiative jedoch ab. Darüber hinaus sehe ich in weiteren Bereichen des Asylbewerberleistungsgesetzes Handlungsbedarf: Das Sachleistungsprinzip sollte abgeschafft und die Regelleistungen in voller Höhe ausgezahlt werden. Gutscheine für Kleidung und Lebensmittel sind diskriminierend und menschenunwürdig! Auch das Zusammenstellen von Essenspaketen ist kein würdiger Umgang mit den Hilfebedürftigen. Es ist zudem äußerst fragwürdig, ob durch das Sachleistungsprinzip, wie behauptet, tatsächlich Kosten eingespart werden oder im Gegenteil es nicht wegen des Verwaltungsaufwandes teurer wird. Überdenken müssen wir auch den Zugang zu medizinischen Leistungen. Auch hier liegt einiges im Argen. Ganz wichtig ist darüber hinaus, dass der Kreis der Leistungsberechtigten überprüft wird. Er sollte wieder auf den ursprünglich Personenkreis, für den das Asylbewerberleistungsgesetz 1993 geschaffen wurde, zurückgeführt werden, nämlich auf Asylsuchende und Flüchtlinge, die unser Land in absehbarer Zeit wieder verlassen werden. Zurzeit fallen außerdem Geduldete unter das Asylbewerberleistungsgesetz. Auch deshalb haben wir bereits Ende 2009 eine Gesetzesinitiative - Drucksache 17/207 - ins parlamentarische Verfahren eingebracht, um die Zahl der bislang Geduldeten zu reduzieren und damit vielen eine Perspektive für die gesellschaftliche und ökonomische Integration in Deutschland zu eröffnen. Auch die Dauer des Leistungsbezuges sollte von den derzeit 48 Monaten wieder abgesenkt werden. Denn bei 4 Jahren kann nicht mehr von einer vorübergehenden Aufenthaltsdauer gesprochen werden. Außerdem beträgt die durchschnittliche Dauer aller rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren lediglich 15 Monate. Wir setzen uns für die grundsätzliche Abschaffung der heutigen Residenzpflicht für Asylbewerber und für geduldete Ausländer ein. Sie müssen sich, wie alle anderen Menschen auch, in unserem Land frei bewegen können. Wir wollen stattdessen, dass Asylbewerber und Geduldete einen festen zugewiesenen Wohnsitz haben, dann aber keinen Mobilitätseinschränkungen mehr unterliegen. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sollte ebenfalls überdacht werden, da dies für die Betroffenen meist belastend ist; denn oftmals befinden sich diese außerhalb von Ortschaften, was zu Isolation führt und Mobilitätskosten erhöht. Die Unterbringung in Wohnungen kann zudem kostengünstiger sein. Da es jedoch auch bereits heute möglich ist, die Betroffenen in Wohnungen unterzubringen, sollten die Kommunen davon Gebrauch machen. Diese Themenkomplexe werden Gegenstand unserer parlamentarischen Initiative sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken, Sie fordern eine komplette Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dafür sehen wir nach wie vor keine politischen Mehrheiten, weder hier im Bundestag noch im Bundesrat. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass Asylsuchende und deren Angehörige Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch erhalten sollen. Das würde bedeuten, dass erwerbsfähige Asylsuchende sofort eine Förderung zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhalten. Bei ungeklärtem Aufenthaltsstatus ist das aus unserer Sicht jedoch kein geeigneter Weg. Ich bin sehr gespannt, was uns die Bundesregierung vorlegen wird. Ich hoffe sehr, dass wir die Diskriminierung von Menschen im Asylbewerberleistungsgesetz endlich überwinden. Dieses Gesetz ist kein Ruhmesblatt - das haben uns auch die Verfassungsrichter ins Stammbuch geschrieben. Pascal Kober (FDP): Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar letzten Jahres hat auf die politische Arbeit der letzten Monate große Auswirkungen gehabt. Und selbst wenn wir das Vermittlungsverfahren zur Neuberechnung der Regelbedarfe bald abgeschlossen haben werden, wird das Urteil noch weitere Auswirkungen für unsere Arbeit haben; denn viele der Kritikpunkte, die das Bundesverfassungsgericht an den rot-grünen Hartz-IV-Gesetzen hatte, betreffen wohl auch das Asylbewerberleistungsgesetz. Daher werden wir jetzt, bevor uns ein Gericht dazu konkreten Anlass geben wird, das Asylbewerberleistungsgesetz so ändern, dass es den Ansprüchen, die wir an gute Politik haben, gerecht wird. Wir werden die Leistungen für Asylbewerber genauso transparent und nachvollziehbar darlegen, wie wir das jetzt für die Bezieher von Arbeitslosengeld II gemacht haben. Der Gesetzgeber ist 1993 bei der Festsetzung der Leistungssätze im AsylbLG von dem in den Verhandlungen zum Asylkompromiss vereinbarten Ziel ausgegangen, dass im ersten Jahr des Leistungsbezugs eine Absenkung der Leistungen für Asylbewerber gegenüber den Leistungen nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz erfolgen sollte. Der Umfang der Leistungen nach dem AsylbLG wurde als zumutbar und zur Ermöglichung eines Lebens, das durch die Sicherung eines Mindestunterhalts dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht werden soll, als ausreichend angesehen. Dass sich dies in der Zwischenzeit verändert haben dürfte, möchte ich nicht infrage stellen, und genau deshalb werden wir die Sache auch angehen. Es ist jedoch auch klar, dass wir eine Neufestsetzung der Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes erst dann vornehmen werden, wenn die Neufestsetzung der Regelbedarfe nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch abgeschlossen ist. Sie wird dann auf Grundlage der daraus gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse erfolgen. Wenn die Linke nun aber fordert, das Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen, dann geht das eindeutig zu weit. Es gibt natürlich einen gerechtfertigten Unterschied, auch in der Höhe, zwischen den Leistungen für Asylbewerber und denen von Menschen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Dass dies so ist, werden wir im Rahmen der Neufestsetzung offen und transparent darlegen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich in der Vergangenheit übrigens dafür stark gemacht, dass die Hürden, die Asylbewerber haben, um selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, weiter abgesenkt werden. Dies ist, wie überall in der Sozialpolitik, der wesentlich bessere Ansatz: Hilfe zur Selbsthilfe statt reiner Alimentierung. Ich kann Ihnen daher zusagen, dass wir das Asylbewerberleistungsgesetz nach Abschluss der Neuregelung der Leistungen des Sozialgesetzbuchs II direkt neu regeln werden. Eine Abschaffung kommt für uns jedoch nicht infrage. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt, mit dem die Fraktion die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes fordert. Der Antrag ist eine Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der sogenannten Hartz-IV-Sätze. Das Gericht hat in seinem aufsehenerregenden Urteil unterstrichen, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums universale Gültigkeit besitzt. Damit gilt es auch für Asylbewerber und andere Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, die bislang unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen. Das Verfassungsgericht hat außerdem die Anforderung aufgestellt, dass dieses Existenzminimum auf Grundlage realitätsnaher, transparenter und nachvollziehbarer Kriterien berechnet werden muss. Beides trifft auf das Asylbewerberleistungsgesetz nicht zu. Weder wird ein menschenwürdiges Existenzminimum gewahrt, noch liegen den Leistungssätzen nachvollziehbare Kriterien zugrunde. Sie sind schlicht und ergreifend politisch festgelegt worden, ohne Rücksicht auf die realen Bedürfnisse der betroffenen Asylbewerber, geduldeten Ausländer und Flüchtlinge. Die pauschalierte Festlegung der Leistungssätze steht in klarem Widerspruch zum genannten "Hartz-IV-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts. Dies musste mittlerweile auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke einräumen. Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden die Sätze der sogenannten Grundleistungen im Gesetz festgelegt und seitdem nicht der Preisentwicklung angepasst. Sie liegen damit mittlerweile über 30 Prozent unter den Hartz-IV-Sätzen. Die Bezugsdauer der abgesenkten Sozialleistungen wurde von zunächst einem Jahr schrittweise auf mittlerweile vier Jahre ausgedehnt. Der Bezug dieser sogenannten Grundleistungen schließt gleichzeitig den Zugang zum Gesundheitssystem aus, medizinische Leistungen gibt es nur in akuten Notfällen. Die Behandlung chronischer Krankheiten und psychischer Traumatisierungen ist damit nicht möglich. Der Schulbesuch der Kinder ist erschwert, die Wohnsituation in maroden Sammelunterkünften eine zusätzliche und andauernde Belastung. Das geltende Sachleistungsprinzip verschärft den diskriminierenden Charakter noch zusätzlich. Dieses Prinzip bedeutet, dass die Existenzsicherung in Form von Essens- und Kleidungspaketen oder über Gutscheine abgewickelt wird. Wenigstens die Mittel des täglichen Bedarfs selbst einkaufen zu können, bedeutet, ein Minimum an Selbstbestimmung und Würde zu bewahren. Selbst diesen Rest von Würde und Anstand nimmt das Asylbewerberleistungsgesetz den Betroffenen. Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde ein Existenzminimum zweiter Klasse eingeführt. Unverhohlen wurde und wird von seinen Verteidigern ins Feld geführt, es solle "missbräuchliche Asylantragstellung" und "Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme" verhindern. Abschreckung als Ziel eines Gesetzes, das nach dem Grundgesetz eine menschenwürdige Existenz sichern soll - dieser Widerspruch ist allzu offensichtlich. Diese beiden Ziele sind absolut unvereinbar. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist die in Gesetzesform gegossene Unterstellung, Flüchtlinge kämen nicht aus Angst vor Verfolgung und Unterdrückung, sondern aus rein ökonomischen Interessen. Von dort aus ist es nicht weit bis zu rechtsextremen Parolen gegen vermeintliche Schmarotzer und Parasiten, die schleunigst außer Landes geschafft werden sollten. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist diskriminierend und trägt zur Stigmatisierung von Asylbewerbern und Flüchtlingen bei. Es ist Ausdruck einer fatalen Abschreckungspolitik, die de facto den Schutzanspruch von Flüchtlingen verneint. Und schließlich ist es gleich in mehrfacher Hinsicht ein Verstoß gegen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes. Es muss abgeschafft werden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist gut und richtig, dass nun auch endlich die Linke mit dem vorgelegten Antrag die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordert. Es fragt sich nur, warum die Linke erst jetzt reagiert. Bündnis 90/Die Grünen fordern schon seit Jahren die Abschaffung des Gesetzes. Hierzu haben wir einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht - 17/1428 -, der Gegenstand der Anhörung im federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales am Montag, dem 7. Februar 2011, ist. Auch die Bundesregierung ist inzwischen von der Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes überzeugt und kündigt Nachbesserungen an. Die Einschätzung der Bundesregierung bestätigt unsere Kritik am Asylbewerberleistungsgesetz. Weniger Geld als im Regelsatz für ALG-II-Beziehende ist mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren. Einzig eine Neuberechnung der Leistungen für Asylbewerberinnen und -bewerber greift aber zu kurz. Das Asylbewerberleistungsgesetz führt seit nun mehr als 17 Jahren zu einem diskriminierenden Ausschluss von Asylsuchenden und Geduldeten aus der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Für Bündnis 90/Die Grünen gelten die Leitsätze des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zu den ALG-II-Regelsätzen nicht nur für Deutsche, sondern für alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das menschenwürdige Existenzminimum ist zu gewährleisten und nach einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren zu ermitteln. Dass die Bundes-regierung bei der Umsetzung des Urteils trickst, steht auf einem anderen Blatt Papier und ist derzeit Gegenstand der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag. Das Bundesverfassungsgericht sagt ganz klar, dass das soziokulturelle Existenzminimum nicht "ins Blaue hinein" zu schätzen ist. Es dürfte doch hier allen einleuchten, dass das selbstverständlich ein universaler Anspruch ist, der nicht nur für das Zweite Buch Sozialgesetzbuch gilt. Dieser gilt für alle Menschen, und deshalb brauchen wir kein Sondergesetz, das Menschenwürde für Flüchtlinge separiert und im Ergebnis Menschen mit ihrer Würde herabsetzt. Doch seit es das Asylbewerberleistungsgesetz gibt, geschieht genau dies mit vielen Menschen, ob asylsuchend, ob geduldet oder bleibeberechtigt: Der Aufenthaltstitel unterscheidet sich, nicht aber die Unterversorgung. Die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes liegen um ein Drittel unter den ohnehin schon zu niedrig bemessenen Sätzen des SGB II. Und sie sind entgegen geltender Rechtslage nach § 3 Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz nie angepasst worden - nicht ein einziges Mal in mehr als 17 Jahren. Ein weiterer wichtiger Punkt muss erwähnt werden: Zum Gesundheitssystem in Deutschland haben Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, keinen Zugang. Nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen gibt es Hilfe. Konkret heißt das: keine Prävention, keine Untersuchungen. Es muss schon erst so schlimm sein, dass der Krankenwagen vorfahren muss, bevor es Hilfe gibt. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden schon mehrmals in Gutachten aufgezeigt. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass das Asylbewerberleistungsgesetz gegen Art. 1 Grundgesetz - Menschenwürde -, Art. 3 Grundgesetz - Diskriminierungsverbot - und Art. 20 Grundgesetz - Sozialstaatsprinzip - verstoßen würde. Das Bundesverfas-sungsgericht hat noch nicht über Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes geurteilt. Wir als Gesetzgeber haben es in der Hand, einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuvorzukommen und das Gesetz abzuschaffen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4424 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der Bundesautobahn 14 (Magdeburg- Schwerin) entwickeln - Drucksache 17/4199 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben. Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Was zeigt uns die heutige Debatte? Die Dagegen-Partei hat wieder einmal zugeschlagen. Der heutige Antrag steht in einer Reihe mit der Ablehnung des Bahnhofsneubaus in Stuttgart, der Entscheidung, die Olympischen Spiele in München nicht zu unterstützen, und der Entscheidung gegen den Ausbau des Flughafens in Frankfurt am Main. Jetzt also auch die Ablehnung des wichtigen Verkehrsprojekts für die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Vor fast genau einem Jahr, am 26. Januar 2010, wurde die parteiübergreifende Bürgerinitiative für den Bau der Bundesautobahn 14 "BAFA 14" durch den Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit dem "Großen Preis der Wirtschaft" des Unternehmerverbandes Norddeutschland Mecklenburg-Schwerin e. V. für ihr langjähriges ehrenamtliches Engagement ausgezeichnet. Heute müssen wir uns mit einem Antrag der Grünen beschäftigen, der rückwärtsgerichtet ist und den jahrelangen Einsatz vieler Menschen in Mecklenburg-Vorpommern für den Bau der A 14 konterkariert. Die eingangs genannte Tatsache unterstreicht aus meiner Sicht sehr deutlich, dass der Weiterbau der A 14 in der Region Westmecklenburg, insbesondere in meinem Wahlkreis Schwerin-Ludwigslust, von breiten Teilen der Bevölkerung getragen wird. Dies zeigen auch die Reaktionen auf den Antrag, den wir heute im Parlament diskutieren. Sowohl die Regierungsfraktionen von CDU und SPD im Landtag, als auch die Oppositionsfraktionen von FDP und Linke haben diesen Antrag aufs Schärfste kritisiert. Der Landkreis Ludwigslust und führende Wirtschaftsverbände haben sich ebenfalls für den zügigen Weiterbau der A 14 von Schwerin nach Magdeburg ausgesprochen. Die Grundlagen dafür haben die Grünen übrigens im Jahr 2004 mit ihrer Zustimmung zur Aufnahme der A 14 in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans selbst mit beschlossen. Es stellt sich daher die Frage, warum die Grünen erst jetzt nach Alternativen fragen! Nach Angaben des Landesverkehrsministers kommen die Vorbereitungen für den 155 Kilometer langen Autobahnbau gut voran. Anfang dieses Jahres soll mit dem Planfeststellungsverfahren für den Abschnitt vom Autobahndreieck Schwerin bis Ludwigslust-Süd begonnen werden. Bis zum Jahr 2020 soll das Gesamtprojekt fertiggestellt sein. Im Hinblick auf die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern wollen sich die Grünen scheinbar auch in unserem Bundesland als Dagegen-Partei etablieren. Die aufgezeigten Reaktionen verdeutlichen jedoch, dass die Argumente der Grünen auf keinen sehr fruchtbaren Boden fallen. Von daher verwundert es nicht, dass die Grünen bisher bei allen Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern an der 5-Prozent-Hürde gescheitert sind. Mit realitätsfernen Initiativen wie dem vorliegenden Antrag tragen Sie dazu bei, dass Ihr Landesverband auch nach dem 4. September 2011 nicht in dem neuen Landtag von Mecklenburg-Vorpommern vertreten sein wird. Vor dem Hintergrund dieses Antrages ist das auch gut so! Die große Mehrheit der Mecklenburger und Vorpommern hat kein Verständnis für die Position der Grünen, die sich bereits ohne Erfolg gegen den Bau der Ostseeautobahn 20 eingesetzt hatten. Gerade das Beispiel der A 20 verdeutlicht die Bedeutung solcher Projekte für ein strukturschwaches Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern. Durch die Autobahn wird die Anbindung der Ostseeküste an das Hinterland verbessert. Die Wirtschaft und der Tourismus, aber vor allem die Bürgerinnen und Bürger in meinem Bundesland haben davon nachhaltig profitiert. Auch die Fertigstellung der A 14 wird für Mecklenburg-Vorpommern nachhaltig spürbare Effekte in diese Richtung bringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird es deshalb nicht zulassen, dass die Grünen mit ihrem Antrag die wirtschaftliche Zukunft Mecklenburg-Vorpommerns gefährden. Der Lückenschluss auf der A 14 zwischen Schwerin und Wismar vor gut einem Jahr hat bereits zu spürbaren Entlastungen für die Bundesstraßen vom Lkw-Verkehr geführt. Gerade auch im Interesse unserer Häfen in Rostock und Wismar brauchen wir einen zügigen Weiterbau der A 14 vom Norden in den Süden. Der Geschäftsführer der Hafenentwicklungsgesellschaft Rostock und der Chef des Seehafens Wismar haben sich in der "Ostsee-Zeitung" vom 23. Dezember 2010 ganz klar gegen den Antrag der Grünen ausgesprochen und die A 14 für die Häfen Mecklenburg-Vorpommerns als essenziell bezeichnet. Der Weiterbau der Autobahn erhöht die Lebensqualität für die Einheimischen und macht Mecklenburg-Vorpommern für Urlauber und Investoren noch attraktiver. Mit der A 14 wird es uns weiterhin gelingen, Unternehmer für Investitionen in Mecklenburg-Vorpommern zu gewinnen. Nur durch eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist ein Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern in der Lage, wirksame Schritte gegen die Abwanderung zu organisieren. Nur eine damit einhergehende wirtschaftliche Entwicklung kann die Abwanderung ganzer Jahrgänge junger und hochqualifizierter Fachkräfte verhindern. Der Lückenschluss der A 14 hat gleichzeitig eine enorme bundesverkehrspolitische Bedeutung. Die neue Nord-Süd-Achse wird nicht nur die Landeshauptstädte von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt miteinander verbinden, sondern auch zu einer spürbaren Entlastung anderer Autobahnen führen. Verkehrsbehinderungen durch Zeitverzug und Staus und damit einhergehende volkswirtschaftliche Verluste können deutlich reduziert werden. Eine solche Verbindung hilft damit auch den Nachbarbundesländern. Im Namen der CDU/ CSU-Fraktion bitte ich Sie deshalb nicht nur im Interesse des Landes Mecklenburg-Vorpommern darum, den Antrag der Grünen abzulehnen! Hans-Joachim Hacker (SPD): Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Dieser Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gehört in den Papierkorb. Er ist sachlich unbegründet. Der Antrag stellt unrealistische Alternativkonzepte vor, ist nicht aktuell und wäre bei seiner Umsetzung ein schwerer Schlag gegen die Wirtschaftsentwicklung in strukturschwachen Regionen. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt brauchen dringend den Lückenschluss zwischen der A 24 und der Landeshauptstadt Magdeburg. Das Straßenbauprojekt A 14 ist Bestandteil des Bundesverkehrswegeplanes 2003 und wird im Investitionsrahmenplan 2006 ebenfalls als prioritäres Bauvorhaben ausgewiesen. In den Bundesverkehrswegeplan werden bekanntermaßen nur Vorhaben eingestellt, die einem komplexen Bewertungsverfahren standhalten und bei denen ein volkswirtschaftlicher Nutzen nachgewiesen wird. Genau dies liegt bei der A 14 vor. Ich stelle an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen die Frage, welchen Wert Sie Ihren parlamentarischen Anfragen und den betreffenden Antworten der Bundesregierung beimessen. Bekanntermaßen sieht es mit der Beantwortung von Anfragen der Opposition durch die Regierung nicht gut aus, aber auf Ihre Kleine Anfrage "Zur Kosten-Nutzen-Berechnung der Verkehrsprojekte Bundesautobahn 14 und 39" hat die Bundesregierung am 1. Dezember 2009, Drucksache 17/98, ausnahmsweise etwas ausführlicher geantwortet. In der Vorbemerkung stellt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fest, dass das Ministerium für Bau und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt das Nutzen-Kosten-Verhältnis für die A 14 mit 4,6 ausgewiesen hat. Der vorliegende Antrag geht fälschlicherweise davon aus, dass es sich bei dem Infrastrukturprojekt A 14 um das "umstrittenste Straßenverkehrsprojekt Ostdeutschlands" handeln würde und die prognostizierte Verkehrsstärke von 16 000 Fahrzeugen pro Tag den Bedarf für eine milliardenschwere Investition nicht rechtfertigen würde. Als Alternative wird der zweistreifige Querschnitt einer Bundesstraße angeboten. Beide Annahmen gehen an der Wirklichkeit vorbei und sind in ihrer Aussage offensichtlich falsch. In den von dem geplanten Autobahnbau betroffenen Regionen Südwestmecklenburg, Prignitz und Altmark gibt es eine hohe Zustimmung zu dem Investitionsvorhaben. Bürgerinitiativen, Kommunal- und Landespolitiker und nicht zuletzt die Wirtschaft stehen zu diesem Projekt. Alle fordern eine Beschleunigung der Planungsarbeiten, damit mit dem Bau begonnen werden kann. Die Finanzierung für den ersten Bauabschnitt, er beinhaltet eine Summe von 775 Millionen Euro, ist im Investitionsrahmenplan festgeschrieben und nach den ermittelten Kostensteigerungen zwischen dem Bund und den Ländern 2009 nochmals bestätigt worden. Die Feststellung im Antrag zur prognostizierten Verkehrsstärke pro Tag - 16 000 Fahrzeuge - ist schlichtweg falsch. Schauen Sie in die bereits zitierte Antwort der Bundesregierung vom 1. Dezember 2009. Unter Ziffer 10 werden werktägliche Verkehrsstärken für das Jahr 2015, basierend auf Berechnungen aus 2003, sowie für das Jahr 2025 aus Nachberechnungen 2008 wie folgt ausgewiesen: Bei der Prognose für 2015 werden 15 000 bis 30 000 Fahrzeuge/Tag angenommen und bei der Prognose für 2025 sind es 22 000 bis 34 000 Fahrzeuge. Der von Ihnen angegebenen Verkehrsstärke von 16 000 Fahrzeugen/Tag stehen also tatsächlich größere Verkehrsstärken gegenüber. Sie sollten einfach in das richtige Zahlenwerk schauen. Natürlich ist es so, dass eine Infrastrukturmaßnahmen für sich genommen nicht der alleinige Schlüssel für die regionale Wirtschaftsentwicklung sind. Diese hängt von mehreren Faktoren ab, von denen allerdings die verkehrliche Anbindung eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Wenn die infrastrukturelle Erschließung nicht stimmt, stimmen auch die Rahmenbedingungen für die Wirtschaftsansiedlung nicht. Regionen mit einer guten Infrastruktur - das ist ein immobiler Produktionsfaktor - ziehen die mobilen Produktionsfaktoren Humankapital und Realkapital - Investitionen - nach sich. Sie befinden sich in dieser Frage auf dem gleichen Holzweg wie die Fraktion Die Linke. Deren Berichterstatter Lutz Heilmann erklärte am 25. Mai 2007 in seiner Bundestagsrede zum Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung "Demografischer Wandel und nachhaltige Infrastrukturplanung" - Drucksache 16/4900 - Folgendes - ich zitiere: "Es macht aber überhaupt keinen Sinn, Milliarden auszugeben, um schrumpfende Regionen an das Autobahnnetz anzuschließen, wenn auf diesen Straßen am Ende keine Autos fahren. Es ist doch Unsinn, in der vagen Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Ein Paradebeispiel dafür ist die zusammenhängende Planung der Autobahn A 14 und A 39 in Brandenburg und Niedersachsen ..." Ganz abgesehen davon, dass es bei Herrn Heilmann etwas mit der Geografie hapert und er nebenbei die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bei diesem Verkehrsprojekt verschwinden lässt, zeugen seine demografischen Bewertungen von Hilflosigkeit und fehlendem Konzept für die neuen Länder. Er hatte sich damit abgefunden, dass die Regionen Westmecklenburg, Prignitz und Altmark wegen ihrer noch vorhandenen Strukturschwäche abgeschrieben sind. Die Position der Linken wird auch nicht dadurch glaubwürdiger, dass sich ihr Bundestagskandidat Dr. Dietmar Bartsch im Wahlkampf 2009 auf einmal für den Bau der A 14 aussprach. Das ist Politik nach Stimmungslage und Tagesform, die den Menschen in diesen Regionen nicht hilft. Wir brauchen Beständigkeit, gerade in der Frage der Infrastrukturentwicklung, weil damit Perspektiven für die Zukunft verbunden sind und vor allem für junge Menschen Chancen für ein Bleiben in der Region eröffnet werden. Die A 14 ist das letzte große Infrastrukturprojekt in den neuen Ländern. Damit wird eine Lücke im Autobahnnetz geschlossen. Die Ostseehäfen Rostock, Wismar und Lübeck erhalten eine optimale Hinterlandanbindung. Von diesen Häfen und aus den betroffenen Regionen können Verkehre in den mitteldeutschen Raum, nach Süddeutschland und zu unseren südöstlichen EU-Partnern besser fließen. Ich will hervorheben, dass bei der Vorbereitung und Durchführung der Baumaßnahme A 14 die naturschutzfachlichen Erfordernisse umfassend berücksichtigt werden. Das hat nicht zuletzt auch zu Kostensteigerungen geführt. Wir brauchen jetzt eine zügige Durchführung der laufenden Planfeststellungsverfahren und keine neue Diskussion zu Alternativen mit zweistreifigen Bundesstraßen. Die geforderten Ausbaumaßnahmen für den Schienenverkehr sind sicherlich richtig, aber diese gegen die A 14 auszuspielen, zeugt von Kurzsichtigkeit in der Verkehrspolitik. Und im Übrigen: Die im Antrag geforderte Schließung der Elektrifizierungslücke bei der Eisenbahnstrecke Bad Kleinen-Lübeck und die Verbesserung der Bahnverbindung Schwerin-Lübeck sind Bestandteil der vom Bundesverkehrsministerium im Herbst 2010 vorgelegten Überarbeitung des Bedarfsplanes Schiene. Diese beiden Maßnahmen sind auch deswegen notwendig, um im Zuge der Festen Fehmarnbelt-Querung - gegen die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt hatte - eine optimale Eisenbahnverbindung zwischen Kopenhagen und Berlin auch über Schwerin-Ludwigslust zu schaffen. Mein Appell zum Schluss an den Antragsteller: Sie sollten den Antrag schleunigst zurückziehen. Sie wissen: Ihr Antrag wird in diesem Hause keine Mehrheit finden. Es bleibt dabei, die Regionen Südwestmecklenburg, Prignitz und Altmark benötigen die A 14 - vor allem die Menschen, die in diesen Regionen leben. Jens Ackermann (FDP): Der Autoverkehr ist ein fester Bestandteil unseres modernen Lebens. Soviel ist uns allen klar. Ohne Pkw, Lkw und Busse liefe heutzutage vieles nicht mehr oder wäre nur mit Mühen machbar. Erst das Auto ermöglicht die Flexibilität und Mobilität oder die Schnelligkeit, die heute erwartet werden. Es ist unsere Realität, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den eigenen Wagen angewiesen sind, um in vertretbarer Zeit oder überhaupt zur Arbeit zu kommen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen betrifft auch Sie. Wie Sie, wie wir, brauchen im ganzen Land tagtäglich viele Familien ein Auto, um ihre Kinder nachmittags zum Musikunterricht oder Sportverein zu bringen oder sie abends vom Sport abzuholen. Doch auch für Handel und Gewerbe sind schnelle Lieferungen direkt bis vor die Firmen- oder Ladentür unabdingbar. Kurz gesagt: Eine gute Verkehrsanbindung ist Voraussetzung für die ökonomische Entwicklung jeder Gemeinde und jeder Stadt. Gerade im länd-lichen Raum, wo die Bahnanbindungen schlecht oder kaum vorhanden sind, brauchen wir über die Bedeutung von Autos nicht zu diskutieren. Deshalb ist es auch nicht von der Hand zu weisen, dass Fernstraßen und Autobahnen elementar für Gesellschaft und Wirtschaft sind. Sie sind zweifellos immer noch die Lebensadern der Moderne. Autobahnen bringen Menschen zusammen, und hier werden wertvolle Güter transportiert. Damit tragen sie sowohl zur wirtschaftlichen Standortsicherung wie zur Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger bei. Zudem sind die Autobahnen eine der wichtigsten Grundlagen für den Tourismus in unserem Land; denn sonst würden wohl weniger Menschen durch unser schönes Land reisen können. Fast 50 Prozent der Familien mit Kind fahren mit dem Auto in den Urlaub und nur dahin, wo sie sich sicher sein können, dass sie schnell und heil an ihr Ziel kommen. Deshalb geht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auch an der Realität vorbei. Doch nicht nur das: Mit diesem Antrag wollen die Grünen wieder einmal auf Kosten der Bürger ihren Wahlkampf, diesmal in Sachsen-Anhalt, betreiben. Dabei machen sie mit der Forderung nach einem Baustopp bei der A 14 ihrem Ruf als "Dagegen-Partei" alle Ehre. Von den Grünen werden Realitäten verkannt, Chancen nicht gesehen und Bedürfnisse ignoriert. Mit dem Antrag werden Notwendigkeiten vom Tisch gewischt, Sinnvolles weggedrückt und Wichtiges nicht angegangen. Das Ziel der Grünen ist doch wohl uns allen klar: Hier wird nur danach geschaut, wo es Pläne für Fortschritt geben könnte, wo Chancen für Wachstum lägen, um dann eine einfache und platte Antwort zu geben: einfach nur dagegen zu sein. Doch wir antworten darauf klar und entschieden: Wir sind für die A 14! Denn wir setzen auf Erfolgsmöglichkeiten und Vorteile, die dieses Verkehrsprojekt bringen soll. Wir stellen uns der Diskussion. Der Antrag, den wir hier diskutieren, geht eindeutig an den Erfordernissen der Menschen vorbei: Die A 14 ist und bleibt eine der wichtigsten Verkehrsadern in Sachsen-Anhalt. Sie hat nur ein Problem: Sie ist unvollendet. Deshalb ist auch eine Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraumes an die Ostseehäfen längst überfällig. Die Menschen in der strukturschwachen Region der Altmark warten seit 20 Jahren auf den Ausbau der A 14 und ihren Anschluss an das Autobahnnetz der Bundesrepublik. Die Menschen warten und hoffen und wissen dabei eines: Mobilität verspricht Arbeit. Das beweisen nicht nur die Ansiedelungen in Barleben oder Osterweddingen. Deshalb können wir das Ansinnen der Grünen nicht verstehen. Würde doch der Lückenschluss zwischen Schwerin und Magdeburg die lang ersehnten wichtigen Impulse für die angrenzenden Regionen bringen. Ja, es wäre die langersehnte Grundlage und eine bedeutende Voraussetzung für das weitere Wachstum im ganzen Land. Wachstum, Fortschritt, Zukunftsfestigkeit sind natürlich nicht die Argumente der Grünen. Sie stellen sich hin und bringen, wie so oft, wieder das Argument des mangelnden Umweltschutzes an. Umweltschutz ist wichtig, und ich nehme diesen Punkt gerne und mit Freude auf; denn in diesem Falle kann man ihn eben nicht als Gegenargument ins Feld führen. Das Phantomargument mangelnden Umweltschutzes kann sogar ganz leicht entkräftet werden; denn: In Sachen Naturschutz wurden bislang alle umweltrelevanten Aspekte berücksichtigt. Geplant sind nämlich Wildbrücken, Unterbauten und sogar Überflugbrücken für Fledermäuse. Also: Verkehrssicherheit nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Tiere, Wachstumschancen nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Umwelt. Das hat zwar letztendlich auch die Kosten in die Höhe getrieben, aber wir unterstützen Entwicklungsmöglichkeiten da, wo sie vielen nutzen - egal ob Mensch oder Tier. Wenn die Grünen jetzt mit dem Antrag genau diese wichtige Nord-Süd-Verbindung unvollendet lassen wollen, wenn sie auch hier reflexartig einfach Nein sagen, anstatt zu prüfen und zu bewerten, wenn sie den Kopf schütteln, anstatt die Augen zu öffnen, dann schwächen sie den Norden Ostdeutschlands auf unabsehbare Zeit. Doch das ist ihnen offensichtlich egal. Ebenso wie die Tatsache, dass die A 14 bereits unter der rot-grünen Bundesregierung im Bundesverkehrswegeplan fest verankert worden ist. Aber wir wollen jetzt nicht zurückblicken, sondern nur eines: entschlossen nach vorne schauen und unser Land voranbringen. Wir sind nicht nachtragend, sondern wollen, dass Sie erkennen, was Sie - damals zu Recht - Sinnvolles angestoßen haben. Der Norden Ostdeutschlands liegt zu Unrecht seit Jahren in einem verkehrspolitischen Dornröschenschlaf. Unterstützen Sie jetzt die Menschen vor Ort; denn weitere Jahrzehnte des Stillstands verträgt die Region nicht. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam die Region wachküssen. Geben wir zusammen mit dem notwendigen Verkehrsprojekt wichtige Impulse für die Flexibilität und für die Wirtschaft. Wir haben in den Planungen für die Verlängerung der A 14 die Umwelt und den Naturschutz nicht aus den Augen gelassen. Die Menschen in dieser Region dürfen wir aber auch nicht vergessen. Deshalb kann ich Ihnen ganz klar sagen: Eine solche Verhinderungspolitik, wie sie in diesem Antrag dokumentiert wird, ist mit den Liberalen nicht zu machen! Der Lückenschluss der A 14 muss unverzüglich angegangen werden. Wahlkampf darf nicht auf den Schultern der Menschen ausgetragen werden. Herbert Behrens (DIE LINKE): Große Verkehrsinfrastrukturprojekte bringen mehr Wirtschaftswachstum. Dieses Dogma, das von den Befürwortern solcher Pläne immer wieder vorgetragen wird, trägt nicht. Auch durch ständige Wiederholung werden solche Sätze nicht wahrer. Im römischen Senat beendete Cato seine Reden mit dem Satz: "Und im Übrigen muss Karthago vernichtet werden", so heißt es. Wir wissen, dass das Beharren auf jenem Dogma später zum Untergang Roms selbst beigetragen hat. Der Antrag der Grünen fordert die Bundesregierung auf, auf die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern einzuwirken, damit diese die Planungsverfahren einstellen. Dass die Landesregierungen das nicht tun werden, weiß man heute schon. Alle drei Landesregierungen wollen die Autobahn bauen. Und sie stützen sich dabei auf breite parlamentarische Mehrheiten. Ohne einen Aushandlungsprozess über sinnvolle und notwendige Alternativen wäre diese Aufforderung anmaßend. Aber nochmal zurück zum Projekt A 14: Aufschwung, Arbeit und Wohlstand wurden auch bei der Ostseeautobahn A 20 versprochen. Dieser Autobahnbau hat eine ähnlich hohe ökologische Brisanz wie die A 14. Er berührt 19 Flora-Fauna-Habitate und zerschneidet drei EU-Vogelschutzgebiete. Bei der A 20 kann man heute sagen, dass Aufschwung und Wohlstand für alle nicht stattgefunden haben. Die erwartete wirtschaftliche Entwicklung ist nicht eingetreten, dafür haben die dort lebenden Menschen Lärm, Abgase und die Zerschneidung der Region bekommen. Ich will ein weiteres Argument anbringen, mit dem sich auch die Landesregierungen auseinandersetzen müssen. Die A 14 ist immer als Bestandteil der sogenannten Hosenträgervariante gesehen worden, zu der auch die umkämpfte und umstrittene VW-Autobahn A 39 in Niedersachsen und die B 190 neu gehörten. In der gegenwärtigen Bewertung des A-14-Projekts tauchen die einst als so wichtig bezeichneten Projektteile nicht mehr auf. Der "Hosenträgerteil" A 39 in Niedersachsen ist umstritten. Lediglich die Industrie- und Handelskammern kämpfen tapfer weiter. Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der Linken haben lange für Alternativen zur A 14 gekämpft und für den Ausbau der B 189 als einer "A 14 light" geworben. Diese Bundesstraße verläuft parallel zur A 14 und würde durch ihren Ausbau die Steigerung des Verkehrs, die auf der A 14 zu erwarten ist, auffangen. Allerdings bedeutete diese Variante, dass auch die B 5, die B 106 und die B 189 noch mehr Verkehr bewältigen müssten. Für die Anwohner der Stadt Lauenburg hieße das noch mehr des heute schon unerträglichen Lärms und Drecks, den die Lkws in die Stadt tragen. Hier müsste gründlich abgewogen werden, ob ein Autobahnneubau oder ein Bundestraßenausbau eine bessere Lösung sein kann. Innerhalb dieser Abwägung wünschte ich mir, dass praktikable Lösungen gefunden werden, die jenseits von Dogma und Romantik den Anwohnerinnen und Anwohnern helfen. An dieser Stelle begrüßen wir die - wenn auch späte - Einsicht der Grünen, über die Infrastruktur in diesem Gebiet noch einmal nachzudenken. Ich möchte zumindest daran erinnern, dass die Grünen selber 2004 beschlossen haben, dass die A 14 in den Vorrangigen Bedarf aufgenommen wird. Sie distanzieren sich hiermit also von ihrem Bundesverkehrswegeplan 2003, was ich grundsätzlich begrüße. Konkret müssten bei diesem Nachdenken dann nicht nur Vogelschutzgebiete, sondern vor allem auch die Belastungen der Menschen durch Dreck, Lärm und Unfallgefahren berücksichtigt werden. Der Antrag der Grünen geht davon aus, dass Mittel, die beim Autobahnbau gestrichen werden, direkt in den Ausbau des Schienennetzes gesteckt werden können. Dabei übersehen die Grünen aber, dass die Mittel für die A 14 nicht zweckgebunden im Safe liegen, sondern erst noch vom Bundestag bewilligt werden müssen. Auch die Linksfraktion befürwortet den Ausbau der Schiene in der Fläche. Wir setzen uns ein für eine deutliche Erhöhung der Mittel für die Investitionen in den Neu- und Ausbau von Schienenwegen auf 2,5 Milliarden Euro im Jahr. Die Grünen hingegen wollen lediglich 1,8 Milliarden Euro pro Jahr. Da sind sie ein Stück unglaubwürdig und vor allem auch unsystematisch. Umgeschichtet wird zwischen den Verkehrsträgern insgesamt, aber nicht von einem konkreten Straßenprojekt zu konkreten Schienenprojekten. Aus diesen Gründen können wir uns dem Antrag: "Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der Bundesautobahn 14 (Magdeburg-Schwerin) entwickeln" mehrheitlich nicht anschließen. Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Antrag mehrheitlich enthalten. Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der geplante Bau der Nordverlängerung der Autobahn 14 von Magdeburg nach Schwerin ist ein besonders absurdes Beispiel für die vorherrschende Verkehrspolitik in unserem Land. 1,3 Milliarden Euro sollen für die Asphaltpiste durch Altmark und Prignitz in den Sand gesetzt werden. Wir sind der Meinung, mit dieser erklecklichen Summe können wir mehr erreichen, als nur ein 155 Kilometer langes Asphaltband durch die Landschaft zu ziehen. Wir können Sinnvolleres für die betroffenen Regionen erreichen, und wir können vor allem Projekte mit einem höheren verkehrlichen Nutzen realisieren. Angesichts der knappen Investitionsmittel geht es künftig darum, angemessene Lösungen zu finden. Auf der Bundesstraße 189 von Magdeburg nach Stendal - die derzeit den überregionalen Verkehr aufnimmt - haben wir heute ein Verkehrsaufkommen von täglich rund 8 150 Fahrzeugen; der Lkw-Anteil liegt bei 10 Prozent. Wie uns die Zahlen des Bundesamts für Straßenwesen zeigen, stagniert das Verkehrsaufkommen seit 2005. In der Prognose, die der A-14-Planung zugrunde liegt, ist dagegen von 16 000 bis 30 000 Fahrzeugen die Rede, und man fragt sich angesichts der aktuellen Zahlen, wo dieses Aufkommen jemals herkommen soll. Aber schon in den Unterlagen zum Raumordnungsverfahren heißt es entlarvend: "Die Notwendigkeit der A 14 ist nicht durch hohe Verkehrsmengen und überlastete Straßenabschnitte begründet." Genau das ist unser zentraler Kritikpunkt: Der Bedarf für die Nordverlängerung der A 14 ist bis heute nicht plausibel nachgewiesen worden. Das heutige und künftig zu erwartende Verkehrsaufkommen in der Nord-Süd-Relation Magdeburg-Schwerin rechtfertigt nun einmal keine Maximallösung in Form einer teuren Autobahn, die zudem nicht durchfinanziert ist. Stattdessen brauchen die Regionen schnell realisierbare und vor allem finanzierbare Lösungen. Dazu zählt unserer Ansicht der angemessene Ausbau des Bundesstraßennetzes - also der B 189, der B5 und der B 71. Mit einem Drittel der Kosten des Autobahnbaus lässt sich die Leistungsfähigkeit dieser Bundesstraßen signifikant erhöhen. Für diese den örtlichen Gegebenheiten angepassten Verkehrsprojekte setzen sich mehrere Bürgerinitiativen ein. Zudem können die für das Autobahnprojekt vorgesehenen EFRE-Mittel für Bildung, Klimaschutz und die Förderung klein- und mittelständischer Unternehmen eingesetzt werden. Das stärkt die Regionen. Was können wir zusätzlich mit dem eingesparten Geld in den Regionen alles anschieben? Ganz oben auf der Liste steht der Ausbau der "Amerikalinie" Stendal- Salzwedel-Uelzen, eine Eisenbahnstrecke, die dringend zweigleisig ausgebaut werden muss. Die Verbindung ist eine Teilstrecke des sogenannten Korridors Ost, der dem wachsenden Seehafenhinterlandverkehr dienen soll. Ein Projekt, das mit einem Nutzen-Kosten-Faktor von 17 aufwarten kann und zudem mit 140 Millionen Euro auch finanziell überschaubar ist und dem verkehrspolitischen Ziel dient, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen. Es bleibt also weiteres Geld übrig, mit dem endlich die Elektrifizierung der Strecke von Lübeck nach Bad Kleinen finanziert werden kann. Es ist ein verkehrspolitisches Armutszeugnis, dass 20 Jahre nach Vollendung der staatlichen Einheit immer noch solche Defizite zwischen dem ost- und westdeutschen Eisenbahnnetz bestehen. Jeder Euro für den sinnvollen Ausbau des Bahnnetzes stärkt die Zukunftsfähigkeit unseres Verkehrssystems. Wer weg will vom Öl, der muss den Verkehrsträger ausbauen, der heute schon weitgehend unabhängig vom Erdöl ist - also die Bahn. Wer dagegen weiterhin äußerst zweifelhafte Autobahnprojekte vorantreibt, macht genau das Gegenteil und verspielt so unsere Zukunft. Dr. Karl-Heinz Daehre, Minister (Sachsen-Anhalt): Der von den Autobahnen A 2, A 7, A 24 und A 10 umschlossene Raum ist straßenverkehrlich weit unterdurchschnittlich erschlossen. Betroffen sind sowohl die Anbindung an das Fernstraßennetz als auch die Qualität des vorhandenen Straßennetzes innerhalb dieses Raumes. Im Bundesvergleich stellt dieser Bereich einen strukturschwachen ländlichen Raum mit sehr starken Entwicklungsproblemen dar. Beispielhaft sind hier folgende Strukturmerkmale zu nennen: eine extrem niedrige Bevölkerungsdichte, eine unzureichende technische und soziale Infrastruktur, ein eingeschränktes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, fehlende Arbeitsplätze im sekundären und tertiären Sektor, ein geringes Niveau an Investitionstätigkeit, anhaltende Binnenwanderungsverluste durch die Abwanderung der jungen Bevölkerung, geringe Geburtenzahlen, die mittel- und langfristig den Bestand der gesellschaftlich und wirtschaftlich funktionsfähigen Siedlungsräume und Kulturlandschaften gefährden und eine periphere Lage im europäischen Integrationsprozess mit fehlendem Anschluss an das transeuropäische Straßennetz. Die Vorhaben der sogenannten Hosenträger-Variante, zu denen der Neubau der A 14 von Magdeburg über Wittenberge nach Schwerin, der Neubau der A 39 von Wolfsburg nach Lüneburg, die Schaffung einer leistungsfähigen Verbindung zwischen der A 39 und der A 14 im Zuge der B 190n und Weiterführung nach Osten über Havelberg bis zu A 24 bei Neuruppin, die Schaffung einer leistungsfähigen Verbindung von der A 14 bei Wittenberge bis zur B 96 bei Neustrelitz im Zuge der B 189/B 198, der Ausbau der B 188 von der A 14 bis Wolfsburg und der Neubau der B 71n im Raum Haldensleben gehören, haben daher das Ziel, infrastrukturelle Defizite in den direkt betroffenen Regionen zu beseitigen. Es geht im Kern also auch darum, den dort lebenden Menschen eine lebenswerte Perspektive zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir geradezu zynisch, wenn die Gegner dieses so wichtigen Infrastrukturvorhabens versuchen, die Umsetzung zu verzögern. mit Klagen, mit der Verbreitung von Halbwahrheiten und mit der Diskussion über Alternativen, von denen doch jeder vernünftige Mensch weiß, dass sie keine sind. Die Strategie, die sich dahinter verbirgt, ist klar: Hier soll der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut werden, ein sinnvolles Vorhaben soll diskreditiert und die Menschen sollen verunsichert werden. Ich sage: Das ist unanständig! Wer Minderheitsinteressen auf diese Weise durchsetzen will, der vergeht sich nicht nur an den Bürgerinnen und Bürgern in der Altmark, die zu Recht gleiche Chancen für ihre Heimatregion einfordern. Wer so handelt, ist an fairem Meinungsstreit nicht interessiert, der stellt demokratische Grundprinzipien infrage. Das ist nicht akzeptabel! Die A 14 stellt ein Verbindungselement zwischen den Oberzentren Schwerin, Magdeburg, Dessau, Halle/Leipzig, Zwickau, Chemnitz und Dresden und der damit verbundenen Anbindung an die Metropolregionen Sachsendreieck, Hamburg und Bremen-Bremerhaven-Oldenburg dar. Weiterhin wird sie zukünftig zu den bereits vorhandenen Fernstraßen auf der Nord-Süd-Relation eine Alternative für die Routenwahl darstellen und entlastet damit die vorhandene Infrastruktur. Insbesondere die regional bedeutsamen Seehäfen Lübeck, Rostock und Wismar können von der verbesserten Anbindung des Hafenhinterlands durch den notwendigen und direkten Anschluss an das regionale Straßennetz und das überregionale Fernstraßennetz profitieren. Mit dem Neubau dieser Autobahn in einer Region, die durch besondere Strukturschwäche und schlechte Erreichbarkeit geprägt ist, wird künftig die zwingend erforderliche Beteiligung an den Wachstumsprozessen der Oberzentren und insbesondere der wirtschaftlich dynamisch wachsenden Metropolregionen Hamburg und Sachsendreieck ermöglicht. Im Hinblick auf die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen genannten Prognoseverkehrszahlen ist festzustellen, dass gemäß der Verkehrsprognose für die BAB 14 für das Jahr 2025 Verkehrsbelastungen von 20 000 bis circa 39 000 Kraftfahrzeugen pro Werktag zu erwarten sind, wobei die Verkehrsmenge von Norden nach Süden zunimmt. Die Verkehrsbelastungen weisen in allen Prognosen - übrigens trotz rückläufiger Bevölkerungszahlen! - nach wie vor auf einen hohen Bedarf hin. Bei den durchgeführten Berechnungen wurden die jeweils zum Zeitpunkt der Bearbeitung verfügbaren Ansätze und Prognosen über die Entwicklung der Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur sowie der Mobilität und über die jeweiligen Vorstellungen zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur herangezogen. Alle Entwicklungsansätze und -prognosen wurden im Rahmen der turnusmäßig vorgesehenen Fortschreibungen im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung weiterentwickelt und zuletzt mit der bundesweiten Verkehrsprognose für das Zieljahr 2025 in Übereinstimmung gebracht. Im Rahmen der Projektentwicklung für die BAB 14 wurden im Vorfeld der Bedarfsüberprüfung in der Bundesverkehrswegeplanung 2003 in der Verkehrsuntersuchung Nordost - VUNO, 1995/ 2002 - Netzalternativen zur Verbesserung der Fernstraßenerreichbarkeit im Großraum zwischen den Metropolräumen Berlin, Hamburg und Hannover untersucht. Derartige Konzeptalternativen enthielten neue und auszubauende Autobahnen und Bundesstraßen in unterschiedlicher Lage und Verknüpfung. Sie wurden im Hinblick auf ihre verkehrlichen Vor- und Nachteile ausführlich miteinander verglichen. Umweltbelange wurden ebenfalls aufbereitet und in die Abwägungsentscheidung einbezogen - in einem Maße übrigens, wie es bislang noch nie der Fall gewesen ist. Die BAB 14 Magdeburg-Wittenberge-Ludwigslust-Schwerin wurde als das wirkungsvollste und vordringlichste Projekt im Untersuchungsraum ermittelt. Die hohe Wirksamkeit der BAB 14 resultiert aus der direkten Nord-Süd-Führung des Trassenkorridors unter Einbeziehung der zentralen Orte - Einwohnerschwerpunkte - Stendal, Wittenberge und Ludwigslust. Die Umweltrelevanz der Netzkonzeptionen wurde im Rahmen einer Risikoeinschätzung ermittelt und berücksichtigt. Auf Basis der zum Zeitpunkt bekannten Natura-2000-Kulisse wurde ermittelt, dass keine mit Natura-2000-Belangen konfliktfreie Lösung vorliegt. Jede Netzalternative hätte insbesondere die Querung der besonders sensiblen Elbeniederung erfordert. Die Ausrichtung des Trassenkorridors der A 14 auf die Stadtlage Wittenberge wirkt hier eher positiv. Auf der Grundlage der Ergebnisse der VUNO haben sich im Juli 2002 der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie die Fachminister der Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf die "Hosenträger-Variante" als weiter zu verfolgenden Lösungsvorschlag verständigt. Die einzelnen Netzelemente wurden von den Ländern zur Fortschreibung des Fünften Bedarfsplans für Bundesfernstraßen angemeldet und im Rahmen der BVWP 2003 überprüft und bewertet, als Projekte mit vordringlichem Bedarf in den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen übernommen sowie durch das Fernstraßenausbauänderungsgesetz 2004 bestätigt. Dem gleichzeitig festgeschriebenen besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrag wurde im Rahmen der laufenden Planungen zu dem Projekt in allen beteiligten Bundesländern selbstverständlich umfassend Rechnung getragen. Die Planungen wurden kontinuierlich den aktuellen naturschutzfachlichen Anforderungen, beispielsweise aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zur A 143, Westumfahrung Halle, angepasst. Der gegen das Projekt immer wieder ins Gespräch gebrachte Ausbau der vorhandenen Bundesstraßen ist im Rahmen einer Null-plus-Variante sehr umfangreich untersucht worden. Dabei wurde festgestellt, dass eine den bestehenden Bundesstraßen B 189, B 5 und B 106 folgende Bundesfernstraßenverbindung der Null-plus-Lösung rund 17 Prozent länger ist als die Vorzugsvariante, die gewachsenen Verbindungs- und Anbindungsstrukturen der vorhandenen Bundesstraßen weitgehend neu entwickelt werden müssen und vorhandene Fahrbahnen der Bundesstraßen nur in Ausnahmefällen genutzt werden können, die neue Fernstraße nahezu vollständig neu gebaut und zusätzlich das Sekundärnetz in weiten Teilen ergänzt werden muss, der nach dem Bewertungsverfahren ermittelte gesamtwirtschaftliche Nutzen der Null-plus-Lösung um rund 30 Prozent geringer ist als bei der Vorzugslösung BAB 14. Allein schon diese Fakten zeigen, wie substanzlos die ideologisch geprägte Scheindiskussion über angebliche Alternativen zum A-14-Lückenschluss ist. Sie ist genauso falsch und unwahr wie der Hinweis auf die angeblich nicht gesicherte Finanzierung. Eine Lüge wird eben auch dann nicht zur Wahrheit, wenn man sie oft genug wiederholt. Denn jeder weiß doch: Schon seit dem Frühjahr 2009 gibt es eine solide Finanzierungsvereinbarung zwischen dem Bund und den beteiligten Ländern. Und die hat Bestand! Auch die Ergebnisse der aktuell vom Bundesverkehrsministerium abgeschlossenen verkehrsträgerübergreifenden Überprüfung der Ansätze des Bedarfsplanes ergeben keine Notwendigkeit, die A 14 infrage zu stellen. Es wurden großräumig wirksame Fernstraßenverbindungen wie die BAB 14 ebenso untersucht wie großräumig wirksame Schienenverbindungen. Mit der Bedarfsfeststellung für die BAB 14 wurde auf der Ebene der BVWP auch eine generelle Systementscheidung für den Verkehrsträger Straße getroffen. Dies ist gleichbedeutend damit, dass alternative Verkehrsträger wie zum Beispiel die Eisenbahn, Ziel und Zweck des Vorhabens nicht in gleichem Maße erfüllen können. Diese Feststellung ist im Fall der BAB 14 unter anderem aus folgenden Gründen plausibel und sachgerecht: Der Planungsraum der BAB 14 verfügt über eine überdurchschnittliche Anbindung an das Schienenfernverkehrsnetz. Stendal liegt an der ICE-Fernverkehrsstrecke Berlin-Hannover und ist Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Fernverkehr und dem regionalen Schienenverkehr. Eine Bahnverbindung für den Fernverkehr zwischen Magdeburg und Schwerin ist ebenfalls bereits vorhanden. Das prognostizierte Verkehrsaufkommen auf der geplanten BAB 14 liegt demgegenüber um mindestens das 10-Fache höher als die Verkehrsnachfrage auf der vorhandenen Bahnstrecke Magdeburg-Schwerin. Die Verkehrsnachfrage der BAB 14 ist daher mit der Verkehrsnachfrage der Bahnstrecke Magdeburg-Schwerin in der Größenordnung nicht direkt vergleichbar. Für den Fall, dass die Nachfrage im Personen- oder im Güterverkehr auf der Bahnstrecke Magdeburg-Schwerin zunehmen sollte, sind ausreichende Kapazitätsreserven vorhanden. Abschließend möchte ich herauszustellen, dass ich keine Zweifel habe, dass der A-14-Lückenschluss und die Umsetzung der "Hosenträger-Variante" für die weitere Entwicklung einer in der Gesamtbetrachtung stark benachteiligten Region von herausragender Bedeutung ist. Entgegen der Position von Bündnis 90/Die Grünen stehen nicht nur der Landtag von Sachsen-Anhalt mit großer Mehrheit von CDU, SPD und FDP sondern auch nahezu 90 Prozent der Bevölkerung in der Altmarkregion hinter der Realisierung dieses wichtigen Verkehrsprojekts. Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Ich empfehle jedem, der sich ein objektives Bild über die Notwendigkeit und die enorme Akzeptanz des A-14-Lückenschlusses machen will: Fahren Sie in die Altmark, schauen Sie sich dort um und sprechen Sie mit den Menschen, die dort zu Hause sind. Dabei werden Sie eines wahrscheinlich ziemlich schnell feststellen: Die Bürgerinnen und Bürger in dieser Region haben langsam kein Verständnis mehr dafür, wenn selbsternannte "Berufsgutmenschen", von denen viele nicht einmal in der Altmark wohnen, ihnen ständig erklären wollen, was für sie das Beste ist. Die Menschen sind alt und klug genug, um selbst entscheiden zu können. Und ihr Votum ist eindeutig: Sie wollen den A-14-Lückenschluss. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es wird vorgeschlagen, dass die Vorlage auf Drucksache 17/4199 an den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung überwiesen wird. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetzbuch begrenzen - Drucksache 17/4201 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben. Peter Götz (CDU/CSU): Es ist unstrittig: In den letzten Jahren hat die Anzahl von Spielhallen, die dem bauplanungsrechtlichen Begriff der Vergnügungsstätten zuzurechnen sind, zugenommen. Mit ihrem Antrag wollen die Grünen deshalb die Baunutzungsverordnung ändern. Es ist kein Geheimnis, dass der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für das Bauplanungsrecht unter anderem vorsieht, die BauNVO umfassend zu prüfen. Wie ferner bekannt ist, laufen zurzeit im dafür zuständigen Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Vorbereitungen für die notwendigen Änderungen beim BauGB und bei der BauNVO. Wir wollen sie nicht einzeln, sondern insgesamt in einem Gesetzgebungsverfahren beraten. Es macht wenig Sinn, von der Tierhaltung im Außenbereich über Kindertageseinrichtungen bis zu den Vergnügungsstätten jeden Einzelvorgang isoliert durchs parlamentarische Verfahren zu schicken. Wir sollten bei unserem Handeln auch an die denken, die in den Kommunen damit arbeiten müssen. Deshalb begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den von Bundesminister Dr. Ramsauer eingeschlagenen Weg, den notwendigen Änderungsbedarf sorgfältig zu prüfen, um danach in sogenannten Feldversuchen die Auswirkungen mit den Betroffenen - nämlich den Städten und Gemeinden - zu bewerten. Dieses Verfahren hat sich bei allen Baugesetzbuchnovellen, die ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bearbeiten und begleiten durfte, sehr bewährt. Und an Bewährtem sollte man ohne Not nichts ändern. Durch dieses Vorgehen werden die Kommunen sehr frühzeitig beteiligt. Das ist uns sehr wichtig. So hat das Deutsche Institut für Urbanistik, Difu, im vergangenen Jahr eine Kommunalumfrage zum Novellierungsbedarf bei der Baunutzungsverordnung ausgewertet und veröffentlicht, an der sich 158 Städte und Gemeinden beteiligt haben. Als Ergebnis der Umfrage kann festgestellt werden, dass das Instrumentarium der geltenden BauNVO grundsätzlich zur Bewältigung der anstehenden städtebaulichen Aufgaben ausreicht. Gleichwohl sieht die kommunale Ebene in Detailfragen einen Nachbesserungsbedarf. Wir wollen die kommunalen Erfahrungen und Auswirkungen nicht ignorieren, sondern bei den Beratungen zu den notwendigen Gesetzesänderungen berücksichtigen. So wurde in den vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urbanistik organisierten "Berliner Gesprächen" zum Städtebaurecht, an denen unter anderem Praktiker aus den Kommunen beteiligt waren, auch die Fragen nach der Zulässigkeit von Vergnügungsstätten diskutiert. Dort wurde deutlich, dass bereits das geltende Bauplanungsrecht den Kommunen erlaubt, die Ansiedlung von Spielhallen, Kasinos und anderen sogenannten Vergnügungsstätten in den einzelnen Baugebieten differenziert zu steuern. Hierbei ist zu beachten, dass die Steuerung im Allgemeinen die Aufstellung eines Bebauungsplans durch die Gemeinde erfordert. Nach dem vorliegenden Bericht über die "Berliner Gespräche" scheint es außerdem einen Trend zu geben, moderne Spielzentren mit mehreren kerngebietstypischen Spielhallen an Ausfallstraßen in Gewerbegebieten anzusiedeln. Unabhängig davon wird die im Antrag der Grünen angesprochene Problematik der Spielsucht gesehen. Zu Recht hat sich der Gesundheitsausschuss in dieser Woche mit der Suchtprävention auseinandergesetzt und vor allem die Fragen des Jugendschutzes erörtert. So sind bei der Glücksspiel-VO Verbesserungen notwendig. Die Frage, ob das Baurecht das geeignete Instrumentarium bietet, diese Negativentwicklung zu verhindern, bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Wir haben bereits heute eine Reihe von planungsrechtlichen Steuerungsmöglichkeiten für die Kommunen, die vor Ort angewandt werden können. Für CDU und CSU sind die kommunale Selbstverwaltung und die kommunale Planungshoheit hohe Güter, die wir stärken müssen. Die Kommunen müssen in die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich zu entscheiden, was für die Bewohner ihrer Stadt oder Gemeinde richtig oder falsch ist. Das ist in jedem Fall besser als Vorgaben aus Berlin oder Brüssel. Wir sollten prüfen, wie wir im Gesetzgebungsverfahren zum BauGB und der BauNVO die Steuerungsmöglichkeiten planungsrechtlich stärken können und wie durch klarstellende Regelungen die Handhabung vor Ort einfacher wird. Alle paar Wochen einzelne Bestimmungen der BauNVO herauszufischen und zu ändern, ist kontraproduktiv und verwirrt die Akteure, weil sie zu Recht davon ausgehen, dass wir - wie in der Koalitionsvereinbarung festgelegt - in dieser Legislaturperiode die BauNVO insgesamt in die Hände nehmen. Wir werden uns im federführenden Bundestagsausschuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in diesem Jahr mit dem Bau- und Planungsrecht ausführlich befassen. Dazu gehört neben Fragen zum Bauen im Außenbereich, Klimaschutzfragen im Innenbereich oder im Zusammenhang mit der Zulässigkeit bestimmter Vorhaben auch die Frage der Genehmigung von Spielhallen. Deshalb plädiere ich dafür, das Bau- und Planungsrecht im Gesamtzusammenhang zu sehen und nicht jetzt durch Aktionismus und Schauanträge in den Städten und Gemeinden Verwirrung zu erzeugen. Vor diesem Hintergrund lehnen CDU und CSU den Antrag der Grünen ab. Daniela Ludwig (CDU/CSU): In etwa 8 000 Spielstätten sowie in rund 60 000 Gaststätten, Beherbergungsbetrieben und bei konzessionierten Buchmachern sind nahezu 400 000 münzbetätigte Unterhaltungsautomaten mit und ohne Geldgewinnmöglichkeit aufgestellt. Ich glaube, unter uns ist niemand, dem sie nicht schon längst aufgefallen sind, die zunehmende Zahl der Spielhallen, die in Städten, Gemeinden und Dörfern fast wie Pilze aus dem Boden wachsen. Über diese wollen wir heute sprechen. Manchmal hat man den Eindruck, dass ganze Straßenzeilen in bestimmten Gegenden fast ausschließlich aus solchen Spielhallen und Glückstempeln bestehen, die zwar verdunkelte Fenster haben, sodass man nicht hineinsehen kann, aber die dafür umso bunter mit Leuchtreklame oder überdimensionierten Schriftzügen auf sich aufmerksam machen. Nicht nur mir sind sie ein Dorn im Auge; aber leider werden offenbar immer mehr von ihnen eröffnet und immer häufiger Konzessionen für Mehrfachspielhallen und Spiele-Center vergeben. Man kann das Phänomen ein wenig mit Graffiti vergleichen, das zunächst an einer Hauswand prangt und dann einen Nachfolgeeffekt auslöst. Wenn dann schließlich eine ganze Straßenzeile "zugesprayt" ist, hat sich längst die Attraktivität der Straße verändert, Mieter und Geschäftsinhaber fühlen sich nicht mehr wohl, und letztendlich sinkt der Wohnwert der ganzen Gegend, was sich, wenn man nichts dagegen macht, sogar auf den Mietspiegel auswirken kann. Ähnlich verhält es sich in Gegenden mit zahlreichen Spielhallen. Was kann man gegen diese Flut tun? Die Spielhallen sind kein Gewerbe, das man sich als Nachbar oder Mieter eines Hauses unbedingt wünschen würde. Es ist leider richtig, dass Städte und Gemeinden nach der bestehenden Rechtslage immer wieder Spielhallen genehmigen müssen, wenn die bau- und gewerberechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Spielhallen sind nach der Baunutzungsverordnung, BauNVO, sogenannte Vergnügungsstätten. Diese sind in Reinen und Allgemeinen Wohngebieten unzulässig - §§ 3 und 4 BauNVO -, in Besonderen Wohngebieten - § 4 a BauNVO -, Mischgebieten - § 6 BauNVO - und Kerngebieten - § 7 BauNVO - sind sie hingegen uneingeschränkt bzw. mit gewissen Einschränkungen zulässig. Besonders im ungeplanten Innenbereich haben die Gemeinden kaum die Möglichkeit, die Ansiedlung einer Spielhalle zu unterbinden. Dies kann bedauerlicherweise auch dann nicht verhindert werden, wenn zum Beispiel die Nähe zu Schulen und anderen Jugendeinrichtungen vorliegt, was ich für außerordentlich bedenklich halte. Gerade in diesen Gegenden halten sich viele junge oder suchtgefährdete Personen auf, die dann möglicher-weise der Verlockung nicht widerstehen können, Geld zu gewinnen oder sich im Spiel mit anderen zu messen. Schnell kann man in eine Spirale der Abhängigkeit geraten. Deshalb halte ich es grundsätzlich für richtig, den Kommunen auch baurechtliche Instrumente für die Genehmigung oder Ablehnung von Spielhallen an die Hand zu geben; denn nicht nur der schlechte Ruf eilt diesen Vergnügungsstätten voraus, auch die Tatsachen, dass Spielsucht in Deutschland ein echtes Problem darstellt, spricht gegen sie. Natürlich sind die Nutzer dieser Automatenspielhallen oft normale Menschen wie du und ich, die einfach gerne einmal den Kick eines Automatenspiels erleben möchten und die nicht gefährdet sind, spielsüchtig zu werden. Dennoch: Das sogenannte pathologische Spielen ist ein eigenständiges psychiatrisches Krankheitsbild, das in den letzten Jahren immer öfter dokumentiert und behandelt wird. Insgesamt geht man von circa 100 000 krankhaften Spielern in Deutschland aus, was unter anderem aus einer Erhebung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA, hervorgeht. Jedoch verhehle ich nicht, dass neben dem Gesetzgeber und Behörden auch die Automatenwirtschaft hier hohe Verantwortung trägt und diese durchaus auch ernst nimmt. Die Branche zeigt den Willen und den Wunsch, Verantwortung zu übernehmen, was sie schon seit einigen Jahren erfolgreich durch Selbstbeschränkung als Qualitätsmerkmal verfolgt. So kämpft zum Beispiel der Verband der Automatenwirtschaft gegen die schwarzen Schafe in der eigenen Branche und verlangt von seinen Mitgliedern einen hohen Standard und Verantwortungsgefühl. Im Sinne des vorbeugenden Jugend-Medienschutzes wurde zum Beispiel von der deutschen Unterhaltungsautomatenwirtschaft die Automaten-Selbst-kontrolle, ASK, eingeführt. Intensive Mitarbeiterschulungen und vielfältige Informationen sollen das Auge der Mitarbeiter schulen und so dazu beitragen, exzessivem Spielverhalten entgegenzuwirken. Gesetzgeberisches Handeln ist dennoch notwendig. Im Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung liegt die geplante Novelle des BauGB und der BauNVO in den letzten Zügen. Die Beratungen sind fast abgeschlossen, sodass wir im Bundestag diese dann bald in Gänze beraten können. Deshalb plädiere ich heute dafür, nicht Einzelpunkte dieser Novelle herauszugreifen, so richtig sie auch sein mögen. Eine allumfängliche Änderung halte ich für sinnvoll, zumal das Ministerium signalisiert hat, auch Regelungen zu Spielhallen in die Novelle aufgenommen zu haben. Meines Wissens ist eine entsprechenden Regelung vorgesehen. Wir sind also auf einem guten Weg. Hans-Joachim Hacker (SPD): Spielhallen sind für viele Menschen in Deutschland zur Spielhölle geworden, für diejenigen, die sich durch die drastische Zunahme dieser Geschäfte in der Nachbarschaft belästigt fühlen, aber auch für alle, die süchtig geworden sind - süchtig nach dem Kick am Glücksspielautomaten. Der Traum vom großen Gewinn und dauernd klingenden Münzen erfüllt sich aber nicht. Spielerinnen und Spieler geraten in einen immer dramatischer werdenden Abwärtsstrudel. Spielhallen sind ein großes Ärgernis in Deutschland. In vielen Kommunen wird darüber geklagt, dass die Spielhallen wie Pilze aus dem Boden schießen und kaum noch zu bändigen sind. Es ist wie überall: Wo sich ein Markt ergibt, öffnet ein Geschäft. Und das hat Auswirkungen - nicht nur auf diejenigen, die in eine Spielhalle gehen, sondern auch auf Nachbarn oder die Tourismuswirtschaft, die sehenswürdige Altstädte durch Spielhallen verschandelt sehen. Um des Problems Herr werden zu können, bedarf es eines umfassenden Konzeptes, das die verschiedenen Betroffenen und Betroffenheiten erfasst und ganzheitlich betrachtet. Dazu gehören zunächst noch stärkere Maßnahmen gegen die Spielsucht; denn die effektivste Maßnahme gegen Spielhallen ist dann gegeben, wenn es niemanden mehr gibt, der sich der Spielsucht in Spielhallen hingibt. Dazu sind frühzeitige Präventionskampagnen, auch und gerade in Schulen und Jugendeinrichtungen, notwendig. Das Lotterie- und Sportwettenmonopol muss erhalten bleiben. Wir wollen einen kleinen, einen regulierten Markt, auf dem die Suchtbekämpfung ein stärkeres Gewicht erhält. Inwiefern das Angebot von Spielhallen mithilfe des Baugesetzbuches begrenzt werden kann, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern, wird bereits seit geraumer Zeit unter Fachleuten diskutiert. An dieser Stelle nur ein Hinweis zur Begrifflichkeit: Der Antrag spricht in der Überschrift von Begrenzungsregelungen im "Baugesetzbuch". Tatsächlich wird jedoch eine Änderung der Baunutzungsverordnung gefordert. Experten verweisen darauf, dass es schon jetzt Möglichkeiten gibt, wie die Errichtung von "Vergnügungsstätten" - und zu denen zählen offiziell auch die Spielhallen - gesteuert werden kann. So können alle Arten von Vergnügungsstätten mithilfe der Festsetzung von Bebauungsplänen ausgeschlossen werden. Die Kommunen können mit Auflagen bei der Erteilung von Baugenehmigungen verhindern, dass an bestimmten Orten Spielhallen entstehen. Die Kommunen können sogar mithilfe der Baunutzungsverordnung spezielle Vergnügungsstätten und dabei dann ausdrücklich Spielhallen ausschließen oder beschränken. In der Praxis hilft das aktuell in vielen Kommunen jedoch nicht; denn viele Städte und Gemeinden sind von der Entwicklung der Spielhallen in den letzten Jahren überrascht worden. Sie haben vorher keine Bebauungspläne aufgestellt oder aber - auch das ist eine Möglichkeit - eine Gemeindekonzeption zur Steuerung von Vergnügungsstätten nicht erstellt. Mit diesen bestehenden Spielhallen muss man nun umgehen. Auch deshalb ist es wichtig, das Problem ganzheitlich zu betrachten und nicht auf eine baurechtliche Frage zu reduzieren. Die Frage der Suchtprävention stellt sich umso stärker in allen Städten und Gemeinden, in denen es bereits eine große Anzahl Spielhallen gibt. Ich verweise hierbei insbesondere auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion "Zukunft des Glücksspielwesens sowie Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht", Drucksache 17/4358. Dort werden Hinweise gegeben, mit welchen Projekten der Spielsucht begegnet werden kann. Das reicht aber noch nicht aus. In der Antwort wird auch deutlich, dass Studien ergeben haben, dass genauso von Spielautomaten in Gaststätten Gefahren für Spielsucht ausgehen. Hier sieht man, dass lediglich die Beschränkung der Baumöglichkeiten von Spielhallen nicht gleich die Spielsucht bekämpft, wenn Spielsüchtige dann eben in die nächste Gaststätte an den Automaten gehen oder aber zu Hause im Internet ihrem "Hobby" frönen. Mit der Föderalismusreform 2006 ist die Kompetenz für das Spielhallenrecht auf die Länder übergegangen. Es ist zwar wichtig, auch hier im Bundestag dieses Thema zu debattieren, jedoch ist der Grünenantrag nur ein zahnloser Tiger. Der Vorschlag, Spielhallen in die Gewerbegebiete zu verlagern, löst das Problem nicht, und Appelle an die Länder sind bei dieser Thematik kein zielführender Weg zur Lösung des Problems. Vielmehr können und müssen die vorhandenen Möglichkeiten des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts schon jetzt ausgeschöpft werden. Ich hatte eingangs bereits auf die negative gesellschaftspolitische Dimension der Spielsucht hingewiesen. Diese Feststellung wird belegt durch das Ergebnis einer Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages zur Evaluierung der Novelle der Spielverordnung, die am 18. Januar 2011 stattfand. Das Ergebnis dieser Anhörung kann man in einem Satz zusammenfassen: Die Spielverordnung des Bundes muss verschärft werden, um die zunehmende Spielsucht im Bereich der Geldspielautomaten wirksam einzudämmen. An die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Koalitionsregierung richte ich den Appell, die Kritik der Experten, die in der Anhörung deutlich wurde, ernst zu nehmen. Wenn die Bundesregierung nicht mit wirksamen Maßnahmen gegen die Spielsucht im Bereich der Geldspielautomaten vorgeht, muss ihr vorgehalten werden, dass sie bewusst eine weitere Zunahme der Zahl der Süchtigen und die daraus resultierenden sozialpolitischen Folgen in Kauf nimmt. Auch in diesem Fall muss sie sich entscheiden: zwischen einer Klientelpolitik für die Automatenindustrie und einer der Gesellschaft in Deutschland verpflichteten Politik der Eindämmung der Spielsucht. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern die Gesamtproblematik erörtern und nach wirksamen Wegen suchen, die die Handlungsmöglichkeiten des Staates verbessern und den Menschen, die spielsüchtig sind oder aber sich auf dem Weg dorthin befinden, Hilfe anbieten. Petra Müller (Aachen) (FDP): Wer die Spielsucht bekämpfen will, tut dies nicht mit dem Baugesetzbuch. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, die Baunutzungsverordnung dahin gehend zu ändern, dass Spielhallen zukünftig nur noch in Ausnahmefällen außerhalb von Gewerbegebieten zulässig sein sollen. Sie erhofft sich von dieser Maßnahme, Spielhallen aus dem Innenstadtbereich - also aus Besonderen Wohngebieten, Misch- oder Kerngebieten - zu verbannen. Wer dies fordert, muss sich aber der negativen Folgen bewusst sein: In Gewerbegebieten isoliert und konzentriert, werden sich die von Ihnen selbst beschriebenen typischen Begleiterscheinungen bei gewerblichen Spielstätten verstärken, also die Beschaffungskriminalität und soziale Isolation der pathologisch betroffenen Spieler. Zudem steigt die Gefahr, dass sich zusätzlich illegale Spielstätten etablieren. Gleichzeitig wird in einigen Gewerbegebieten oder Ausfallstraßen, in denen sich Spielbetriebe konzentrieren, bereits heute beklagt, dass Grundstückspreise und Mieten gebiets- und gewerbsuntypisch steigen. Mit den Möglichkeiten eines Spielbetriebs oder einer Geschäftskette können viele andere Gewerbe- oder Handwerksbetriebe, die sich nicht ohne Grund in preisniedrigen Außenbezirken angesiedelt haben, oft nicht mithalten. Hier kommt es unter Umständen zu nicht unerheblichen Wettbewerbsverzerrungen. Ein weiteres gravierendes Problem kommt hinzu: Außerhalb der Kernstädte wird sowohl die soziale Kontrolle als auch die Durchsetzung der gesetzlichen Schutzbestimmungen erheblich erschwert. Jeder, der sich mit Kriminalstatistiken oder Erfahrungen der gewerblichen Prostitution beschäftigt hat, muss um diese Gefahren wissen, und jeder muss gewarnt sein. Dies zu ignorieren, ist entweder fahrlässig oder Sie müssen sich nach der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens fragen lassen. Nur um die große Welle zu machen, wohl wissend, dass der Antrag fachlich kontraproduktiv wirkt, müssen wir uns nicht zur grünen Selbstbespiegelung hier hinsetzen. Für mich als liberale Politikerin noch erschreckender jedoch ist die Selbstverständlichkeit, mit der Sie meinen, in die Selbstverwaltungsrechte der Kommunen und in die Gewerbefreiheit eingreifen zu können. Beides ist vom Grundgesetz geschützt und Grundpfeiler unseres Rechts- und Wirtschaftssystems. Das gewerbsmäßige Aufstellen von Glücksspielautomaten ist nach § 12 Abs. 1 des Grundgesetzes als wirtschaftliche Betätigung geschützt. Den Kommunen erlaubt das bereits jetzt geltende Bauplanungsrecht, diese Freiheit einzuschränken, um damit die Ansiedlung von Spielhallen, Kasinos und anderen Vergnügungsstätten in einzelnen Baugebieten differenziert zu steuern und städtebaulichen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Bei fehlender Gebietsverträglichkeit kommt § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO zum Tragen, bei Ausschlussfestsetzungen greift § 1 Abs. 5. Selbst der von Ihnen im Antrag beschriebene "Trading-down-Effekt" kann nach herrschender Rechtsprechung dazu herangezogen werden, eine Genehmigung für eine Vergnügungsstätte zu versagen. Nach Meinung der FDP-Fraktion sind diese bestehenden Instrumente völlig ausreichend. Die Baunutzungsverordnung lässt den Kommunen viel Spielraum und Kreativität für lokale Lösungen. Zuletzt würde ein generelles Verbot der Ansiedlung außerhalb von Gewerbegebieten die Städte und Gemeinden in ihrem gesetzlich geschützten Selbstverwaltungsrecht beschränken. Ich fasse zusammen: Jede weitere bundesrechtliche Einschränkung der Gewerbefreiheit und der kommunalen Selbstverwaltung ist in diesem Fall weder notwendig, noch entspräche sie unserem freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftsgedanken. Einig sind wir uns im Hohen Hause, dass Automatenspiele die gefährlichste Form der Spielsucht darstellen. Einig sind wir uns auch, dass die Politik den an der Spielsucht erkrankten Menschen in unserem Land unterstützend zur Seite stehen muss - nicht jedoch im Baugesetzbuch. Den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lehnt die FDP-Fraktion deshalb ab. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): So sehr ich das Anliegen dieses Antrages - wenn das denn das Anliegen ist -, die Spielsucht einzudämmen und zurückzudrängen, unterstütze, so sehr zweifle ich daran, dass das Baurecht dafür ein geeignetes Instrument ist. Vielleicht kann über entsprechende Bestimmungen in der Baunutzungsverordnung das Spielhallenproblem aus den Innenstädten und Wohngebieten verdrängt und so die Zugangsschwelle für Spielerinnen und Spieler, die noch nicht süchtig sind, erhöht werden. Vielleicht kann man damit einer Entwertung von Immobilien und Stadtquartieren, die mit der Nachbarschaft solcher Spielhallen gestraft sind, entgegenwirken. Das Problem der Spielsucht, das der vorliegende Antrag zu seiner Begründung benutzt, wird dadurch jedenfalls nicht gelöst. Im Gegenteil: Dadurch, dass Spielhallen und Spieler aus Innenstadtlagen in Gewerbegebiete abgedrängt werden, entzieht sich das Problem höchstens der täglichen öffentlichen Wahrnehmung. Anstelle kleinerer Spielhallen in den Innenstädten entstehen dann eben große Glücksspielcenter auf der grünen Wiese. Spielerinnen und Spieler - und übrigens auch Spielhallenbetreiber - werden stigmatisiert und möglicherweise an den Rand der Legalität gerückt. Mit Verlaub: Das ist genauso wirksam wie die Bekämpfung der Prostitution durch die Ausweisung von Rotlichtbezirken! Der Konflikt, mit dem wir es hier zu tun haben, liegt doch ganz woanders: fast 10 Milliarden Euro Umsatz der Spielhallen in Deutschland 2009; Umsätze, Gewinne und Arbeitsplätze in der Automatenindustrie, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer und Vergnügungssteuer für die chronisch klammen Kommunen. Was kann eine Änderung in der Bauordnung dagegen ausrichten? Und was wollen die Antragsteller entgegnen, wenn die privaten Spielhallenbetreiber auf den Gleichheitsgrundsatz verweisen und dabei mit dem Finger auf die ländereigenen Kasinos und Lottoannahmestellen zeigen? Wenn wir die Novellierung des Baurechts dazu nutzen wollen, auch soziale Probleme zu entschärfen, bin ich selbstredend dabei. Dann aber konsequent und gründlich; denn andere Konfliktthemen sind ebenso drängend wie das hier angesprochene, zum Beispiel die Bestandsgarantie für Kindergärten und Schulen in Wohngebieten ebenso wie die Zulässigkeit von Spiel- und Bolzplätzen sowie anderen Begegnungs- und Erholungsmöglichkeiten dort, wo die Menschen wohnen und zusammen leben. Trotz aller Einwände gegen den vorliegenden Antrag: Wenn Sie mich davon überzeugen, dass die vorgeschlagenen Änderungen der Baunutzungsverordnung dazu beitragen, auch nur einen Menschen vor der Spielsucht zu bewahren, will ich mich dem nicht verschließen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gestern fand im Gesundheitsausschuss ein Expertengespräch zur Evaluierung der Spielverordnung statt. Gegenstand der Anhörung war unter anderem eine aktuelle Studie des Instituts für Therapieforschung München zu den Auswirkungen der Novelle im Jahr 2006. Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend: Fast 40 Prozent der in Spielhallen befragten Spieler zeigten Symptome einer Abhängigkeit oder waren zumindest dabei, eine solche zu entwickeln. Rund 50 Prozent der befragten Spieler gaben selbst zu, ihr Spielen nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Mehr als die Hälfte der Spieler erklärten, dass sie sich wegen des Spielens finanziell einschränken oder sogar zusätzliches Geld beschaffen müssten. Wir wissen seit langem, dass Geldspielgeräte in Spielhallen diejenige Glücksspielform sind, die die meisten Abhängigen hervorbringt. In einem aktuellen Modellprojekt der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen hatten rund 87 Prozent der Spieler, die in Beratungsstellen kamen, ein Problem mit diesen Automaten. Wir sind uns einig, dass ein generelles Verbot des Glücksspiels oder solcher Spielhallen der falsche Weg wäre. Es geht uns um die Reduzierung des Angebots, denn aus der Suchtforschung ist bekannt, dass die Verfügbarkeit einer Droge oder eines Suchtmittels einen wesentlichen Einfluss auf die Zahl der Abhängigen hat. Auch bei Geldspielgeräten wird diese wissenschaftliche Erkenntnis durch Erfahrungen aus der Praxis bestätigt. Genauso wie die Zahl der Spielhallen und Spielgeräte in den letzten Jahren erheblich angestiegen ist, genauso stieg auch die Zahl der therapiebedürftigen Spieler. In der bereits erwähnten IFT-Studie geben über die Hälfte der befragten Spieler an, dass sie Spielhallen den staatlichen Spielbanken vorziehen, weil erstgenannte besser erreichbar seien. Auch diese Studie belegt also, dass die Verfügbarkeit ein wesentlicher Aspekt für die Entscheidung ist, an Automaten zu spielen. Viele von uns wissen aus der Wahlkreisarbeit: Deutschlandweit haben Kommunen seit einigen Jahren mit einer inflationären Vermehrung von Spielhallen zu kämpfen. Auch die Zahl der dort aufgestellten Geldspielgeräte hat um 50 Prozent zugenommen. Die Mittel, die die Kommunen dem entgegensetzen können, sind begrenzt. Spielhallen dürfen nach der Baunutzungsverordnung nur in bestimmten Wohngebieten untersagt werden. Die Bauleitplanung in vielen Kommunen hat dieses Problem leider nicht von Anfang an berücksichtigt. Nachträgliche Änderungen sind aufwendig und langwierig. So sind die Kommunen weiterhin verpflichtet, neue Spielhallen zu genehmigen, wenn die bau- und gewerberechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Zudem werden vermehrt sogenannte Mehrfachkonzessionen beantragt, mit denen große Spielhallenkomplexe betrieben werden können, die sich mit Gastronomieangeboten und anderem den Anschein einer harmlosen Familienunterhaltung geben. Die Auswirkungen dieser Spielhallenflut sind nicht nur für die Spieler, sondern auch für die Kommunen ein erhebliches Problem. Neben einer steigenden Zahl Spielsüchtiger mit allen bekannten Begleiterscheinungen wie Verschuldung und Beschaffungskriminalität sehen wir vielerorts bereits heute negative Folgen für die Entwicklung bestimmter Stadtviertel. Spielhallen gehen oft mit dem sogenannten Trading-down-Effekt einher, das heißt, die Attraktivität einer Straße sinkt, Fachgeschäfte werden durch Ramschläden ersetzt, Mieter ziehen weg. Die gesamten volkswirtschaftlichen Kosten, die durch diese Begleitprobleme entstehen, dürften erheblich sein und den Nutzen weit übersteigen. Wir haben diesen Antrag eingebracht, um die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Ihr steht mit der Baunutzungsverordnung ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie den Kommunen helfen und die Versuchung für abhängige oder zumindest gefährdete Menschen abmildern kann. Wir fordern die Bundesregierung auf: Tun Sie etwas gegen dieses Problem! Geben Sie den Kommunen mehr Möglichkeiten, sich gegen diese Zunahme von Spielhallen zu wehren! Begrenzen Sie die Zulassung von Spielhallen auf Gewerbegebiete, sodass sie nicht mehr dort, wo die Menschen leben, direkt und rund um die Uhr verfügbar sind! Und setzen Sie sich bei den Ländern dafür ein, dass keine Mehrfachkonzessionen mehr erteilt und Spielhallen nicht dort zugelassen werden können, wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten! Lassen Sie die Kommunen nicht im Stich! Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck-sache 17/4201 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Schon sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen für das lange Ausharren. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Januar 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. (Schluss: 21.56 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 20.01.2011 Barthle, Norbert CDU/CSU 20.01.2011 Bülow, Marco SPD 20.01.2011 Burchardt, Ulla SPD 20.01.2011 Connemann, Gitta CDU/CSU 20.01.2011 Fischbach, Ingrid CDU/CSU 20.01.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 20.01.2011 Funk, Alexander CDU/CSU 20.01.2011 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.01.2011 Kruse, Rüdiger CDU/CSU 20.01.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 20.01.2011 Meinhardt, Patrick FDP 20.01.2011 Nord, Thomas DIE LINKE 20.01.2011 Remmers, Ingrid DIE LINKE 20.01.2011 Scholz, Olaf SPD 20.01.2011 Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 20.01.2011 Dr. Strengmann-Kuhn, Wolfgang BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.01.2011 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.01.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 20.01.2011 Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem An-trag der Fraktion Die Linke "Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten" (Tagesordnungspunkt 14) Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass unser Votum "Ja" lautet. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: 12. Sportbericht der Bundesregierung (Tagesordnungspunkt 11) Klaus Riegert (CDU/CSU): Mit Blick auf das Jahr 2011 und den 12. Sportbericht der Bundesregierung freue ich mich sehr, auf die beachtlichen Erfolge der Sportpolitik und des organisierten Sports zurückzublicken und zugleich auch auf künftige Vorhaben und Ereignisse vorauszuschauen und aufmerksam zu machen. Der 12. Sportbericht der Bundesregierung dokumentiert hierbei über den Zeitraum von 2006 bis 2009 auf mehr als 130 Seiten sehr umfangreich die sportpolitischen Inhalte und Maßnahmen der Bundesregierung in Kooperation mit dem organisierten Sport. Neben der Retrospektive werden hierbei erstmals - im Kapitel "Gegenwärtige Planungen und Perspektiven" - auch zukünftige Vorhaben und Projekte benannt. Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktion mit dem Titel "Den Sport in seiner Gesamtheit fördern: Chancen einer vernetzten Sportpolitik" bezieht sich in 16 thematischen Punkten bzw. Abschnitten insbesondere auf diese im Sportbericht beschriebenen, künftigen Vorhaben. Wer immer noch glaubt, dass es beim Sport einzig und allein um Bewegung oder Körperertüchtigung geht - oder in den Worten von Sepp Herberger, "das Runde ins Eckige" zu befördern -, der irrt gewaltig. Der Sport in Deutschland ist zentraler Bestandteil des sozialen Zusammenlebens und spielt mittlerweile in beinah fast allen gesellschaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle. Und: Der Sport stellt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten verantwortungsvoll eben auch fundamentalen Herausforderungen unserer Zeit - sei es im Blick auf die Bildung und soziale Teilhabe, den demografischen Wandel, im Blick auf die Integration und Inklusion, die Umwelt und Nachhaltigkeit oder gar den Frieden und die Völkerverständigung. Der Sport verbindet Menschen und trägt das Potenzial der gesellschaftlichen Veränderung, Dynamik und Erneuerung in sich. Aber auch negativen Begleiterscheinungen und Gefahren des Sports, wie zum Beispiel Doping, Gewalt, Homophobie, sexueller Missbrauch oder auch politischer Extremismus, wird durch eine verantwortungsvolle Sportpolitik Rechnung getragen und zusammen mit dem organisierten Sport entschlossen begegnet. Lassen Sie mich kurz den letzten Punkt noch einmal betonen, weil dieser mit der Kommunismusdebatte gerade auch wieder aktuell diskutiert wird. Die Politik und auch der Sport wehren sich zusammen gegen jegliche Instrumentalisierung und Vereinnahmung, sei es rechts- oder linksextremistischer Natur. Wie wir alle zur Genüge wissen, wurde der Sport im Nationalsozialismus wie auch im Kommunismus missbraucht und gegen jegliches Verständnis von Fair Play, gegenseitiger Anerkennung, Freiheit und Gleichheit ins Gegenteil verkehrt. Politischer Extremismus hat im Sport keinen Platz. Die Sportpolitik des Bundes unterstützt den Sport bei seinen vielfältigen Aufgaben seit Jahren auf hohem und solidem finanziellem Niveau. Unter der Prämisse eines strikten Kurses der Haushaltskonsolidierung des Bundes - und zudem in Zeiten von Finanzkrisen - konnten dabei die Belastungen für den Sport in vertretbaren Grenzen gehalten werden. Zudem ist das Verhältnis zwischen Politik und dem Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, von Vertrauen und konstruktiver Zusammenarbeit gekennzeichnet. Auf der Grundlage der Autonomie des Sports und des Subsidiaritätsprinzips wird die Sportförderung mit den angesprochenen, vielfältigen Themen nunmehr einem ganzheitlichen Sportverständnis stärker gerecht. Hierbei wird der Sport mit seinen unterschiedlichen Funktionen und Potenzialen nicht mehr isoliert oder gar reduktionistisch allein nach ministerieller Zuständigkeit betrachtet, sondern in seiner Gesamtheit bereichsübergreifend und in Zusammenhang mit den jeweilig gesellschaftlichen Wechselwirkungen gesehen und entsprechend gefördert. Auch der Sport als Ganzes ist mehr als die Summe seiner Teile. Den Sport in seiner Gesamtheit zu fördern bedeutet demnach - entgegen einem monokausalen Verständnis - zukünftige Chancen einer interdependenten und vernetzten Sportpolitik stärker zu ergreifen. Der Grundsatz, über den eigenen Tellerrand und die zum Teil spezifische Zuständigkeit hinauszuschauen, nach Verbindungslinien und Anknüpfungspunkten zu suchen sowie sprichwörtlich das große Ganze dabei nicht aus den Augen zu verlieren, ist gleichzeitig auch Arbeitsauftrag. Oder in anderen Worten: Durch interministerielle Kooperationen, durch inhaltliche und institutionelle Verflechtungen, durch Verknüpfungen zwischen verschiedenen Organisationen und politischen Ebenen bzw. Feldern wird ein Mehrwert für den Sport in unserer Gesellschaft geschaffen. Diesen Mehrwert gilt es vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Sportverständnisses und einer vernetzten Sportpolitik zu ergreifen. Doch um welche inhaltlichen Projekte, Vorhaben und sportpolitischen Maßnahmen geht es hierbei? Und wie werden diese entsprechend des vorher dargestellten ganzheitlichen Sportverständnisses realisiert? Auch wenn in Verbindung zum Entschließungsantrag der Koalitionsfraktion nicht auf alle 16 Punkte bzw. Abschnitte und schon gar nicht auf alle Verbindungslinien in ihrer Vollständigkeit und Komplexität eingegangen werden kann, möchte ich Ihnen drei Beispiele nennen sowie auf weitere Topthemen verkürzt eingehen: So steht beispielsweise die Förderung Dualer Karrieren von Spitzenathleten - mit der Vereinbarkeit von Beruf/Ausbildung oder Studium mit dem Spitzensport - neben anderen wichtigen Themen im Fokus sportpolitischer Bemühungen. Dies schließt aber unlängst auch die Förderung dualer Karrieren von Spitzensportlern mit Behinderungen ein. So konnten in Kooperation zwischen einer Vielzahl von Ministerien und Bundesbehörden sowie in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium des Innern einzelfallbezogene Lösungen und bedarfsgerechte Angebote für behinderte Sportlerinnen und Sportler geschaffen werden. Ebenso ist auch die stärkere Einbindung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in die deutsche Forschungslandschaft mit interdisziplinären Förderschwerpunkten und Nutzung verschiedener, sich daraus ergebender Synergieeffekte ein durch und durch positives Beispiel in diesem Zusammenhang. Dass Sportpolitik als Querschnittsaufgabe unterschiedlicher Politikfelder und -ebenen und als Kooperation zwischen Bund, Ländern sowie entsprechenden Organisationen verstanden und auch umgesetzt werden kann, zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel von Jugend trainiert für Olympia, dem Schulsport oder dem Nationalen Aktionsplan "IN FORM - Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung". Hierbei werden Ziele der Bildung, Werteerziehung und der Gesundheitsprävention miteinander verbunden und in interministeriellen Arbeitsgruppen unter Einbeziehung der Länder und Kommunen weiterentwickelt. Auch zeigt im Besonderen unsere Unterstützung der Bewerbung Münchens zusammen mit Garmisch-Partenkirchen und der Kunsteisbahn Königssee um die Austragung der Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2018, dass wir uns für Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz im Sport einsetzen. Dabei zeichnet sich im internationalen Vergleich die Bewerbung München 2018 vorbildlich durch das umfassende, und rund 100 Millionen Euro schwere Umweltkonzept im Bewerbungsetat aus. Dies wird anerkennend im Ausland sogar als wegweisend bezeichnet, übertrifft bisherige Standards von Olympischen Spielen und setzt neue Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit. Selbst versierte Sportpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen würdigen die Bewerbung als "durch und durch ökologisches Konzept". Dies ändert sich auch nicht durch die Tatsache, dass die Mehrheit der Grünen die Meinung ihrer Experten ignoriert und nach dem Motto "Destruktion statt Partizipation" kurz vor Mitternacht und innerhalb einer Viertelstunde Beratung sich mit dem Parteitagsbeschluss gegen das Großprojekt stellt. Fernab besseren Wissens um die Fakten und somit jedweder Vernunft und jedweden Verantwortungsgefühls ging es hier wohl eher um eine grundsätzliche Verdrossenheit gegenüber der Moderne. Der Rückzug von Claudia Roth aus dem Kuratorium der Bewerbung zeigt nicht zuletzt den fehlenden Willen der Grünen, die Bewerbung München 2018 unter ökologischen Gesichtspunkten konstruktiv zu begleiten. Gleichwohl des nicht nachzuvollziehenden Rückzuges der Grünen bestehen für das Projekt München 2018 weiterhin sehr gute Chancen. Auf dem weiteren Weg und Goldkurs zu München 2018 können die Bewerber, Athleten und begeisterten Wintersportzuschauer in Deutschland auch weiterhin auf die kraftvolle Unterstützung durch die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bauen. Nochmals: Die Austragung von internationalen Sportgroßveranstaltungen des Behinderten- und Nicht-behindertensports gehen weit über das singulare Sportevent und Ereignis hinaus. Auch bei der Bewerbung Münchens um die Winterspiele 2018 gilt es ebenso, die mit dem Sportevent verbundenen Chancen übergreifend für zum Beispiel die Sportentwicklung, die olympische Erziehung, die ökologische Vereinbarkeit und Nachhaltigkeit, die Integration bzw. Inklusion, für die Optimierung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur oder einen friedlichen Internationalismus zu ergreifen. Neben nationalen und internationalen Dimensionen des Sports und vermeintlichen Superlativen bleibt der Sport letztlich das, was die Menschen und Bürger in unserem Land daraus machen. In Deutschland engagieren sich 23 Millionen, circa 36 Prozent, der Bürgerinnen und Bürger freiwillig und unentgeltlich in Sportvereinen, Sozialverbänden oder anderen Organisationen und leisten dabei einen unschätzbaren Beitrag für und in unserer Zivilgesellschaft. Dabei profitieren vom bürgerschaftlichen Engagement im Sport das soziale Umfeld wie auch die Freiwilligen selbst. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich dabei für den Ausbau und die Förderung des Ehrenamtes stark gemacht und wird sich auch weiterhin kraftvoll dafür einsetzen. In Verbindung zur Nationalen Engagementstrategie der Bundesregierung oder zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 in der EU setzen wir uns mit dem Entschließungsantrag ebenso dafür ein, das Ehrenamt im Sport weiter zu stärken. Im Zuge der Reform der Bundeswehr und des Zivildienstes gilt es, mögliche Perspektiven für das Freiwillige Soziale und Ökologische Jahr im Sport aufzuzeigen. Auch der neue Bundesfreiwilligendienst - offen für alle Generationen - ist eine große Chance für die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements im Sport. Mit viel Eigeninitiative und Kreativität leben die Bürgerinnen und Bürger eine solidaritätsstiftende und demokratische Kultur. Allen ehrenamtlich Engagierten möchte ich an dieser Stelle für ihr soziales Engagement, für das sie sich im Alltag mit viel Herzblut und großer Leidenschaft einsetzen, herzlich und nachdrücklich danken. Wie bereits angedeutet ließe sich noch viel länger und ausführlicher über den 12. Sportbericht der Bundesregierung und die 16 thematischen Punkten des Entschließungsantrages der Koalitionsfraktion berichten. Der Antrag reicht in der inhaltlichen Auseinandersetzung und sportpolitischen Agenda von Themen, wie zum Beispiel "der Sport als Schlüssel sozialer Inklusion und gesellschaftlichen Teilhabe", über "Förderung des bürgerschaftlichen Engagements im und durch Sport" bis hin zu beispielsweise "neueren Entwicklungen im Antidopingkampf". An dieser Stelle kann ich nur auf unseren Antrag verweisen und um Unterstützung bitten. Ich möchte aber auch abschließend nicht missen, ein paar Worte zu den mehr als knappen und recht ideenschwachen Beiträgen der Opposition insgesamt Stellung zu verlieren. Der im 12. Sportbericht der Bundesregierung genannten sportpolitischen Agenda mit den beachtlichen Erfolgen der Vergangenheit und einem zielgerichteten und innovativen Maßnahmenpacket für die Zukunft scheint die Opposition - quantitativ wie auch qualitativ - nicht mehr viel hinzufügen zu können. Obgleich sie interessante und zum Teil aktuelle Einzelthemen anspricht, beziehen sich diese leider nur selten auf den Sportbericht und auf künftige Vorhaben. Diese Rat- und Perspektivlosigkeit zeigt sich auch in jenen Vorschlägen der Opposition, die einzig formalstrukturelle Aspekte der Gliederung des Sportberichtes betreffen oder sich auf vom BMI bereits angekündigte Ergänzungen im 13. Sportbericht beziehen. Ich blicke zusammen mit meinen engagierten, vom Sport begeisterten Kollegen mehr als optimistisch in die Zukunft und auf das Sportjahr 2011. Die mit Spannung und Vorfreude erwartete FIFA-Frauenfußball-WM im eigenen Land, die Entscheidung um die Austragung der Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2018, weitere bedeutende nationale und internationale Sportwettkämpfe bis hin zu den Aktivitäten in jedem einzelnen Sportverein veranlassen mich, nochmals zu wiederholen: Der Sport ist in der Gesamtheit mehr als die Summe seiner Teile. Lassen Sie uns gemeinsam - für den Sport in unserer Gesellschaft - im Sinne einer vernetzten Sportpolitik diese Chancen weiter stärker nutzen. Martin Gerster (SPD): Die SPD-Fraktion würdigt den 12. Sportbericht der Bundesregierung. Die Jahre 2006 bis 2009, um die es im Bericht im Wesentlichen geht, sind gute Jahre für den Sport gewesen. Sie waren geprägt von zahlreichen sportlichen Erfolgen und einer soliden Finanzierung sowie Verbesserungen der Rahmenbedingungen für den Sport, unter anderem durch das Gesetzespaket "Hilfen für Helfer". Wir als SPD-Fraktion und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück haben das entscheidend vorangetrieben. Es ist uns auch ein Anliegen, den zahlreichen für den Sport engagierten Menschen für die gute, sachorientierte Zusammenarbeit und ihren Einsatz zu danken. Der Sport ist nach wie vor eine große Bürgerbewegung, die weitgehend von vielen Ehrenamtlichen getragen wird. Für zahlreiche wichtige Bereiche der Gesellschaft bringt der Sport enormen Benefit, beispielsweise bei der Prävention und Rehabilitation, aber auch bei der Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus und Generationen. Insbesondere für Menschen mit Handicap entwickelt der Sport eine unglaubliche Integrationskraft. Mit großer Sorge sehe ich aber, dass Sport sowohl beim Deutschen Olympischen Sportbund, bei der Regierung, aber auch bei den Medien zusehends auf Olympia und olympische Disziplinen und auf Medaillenspiegel reduziert wird. Dem gilt es entgegenzuwirken. Nichtolympische Sportarten sind olympische Sportarten von morgen und verdienen daher mehr Beachtung, als dies im Sportbericht der Bundesregierung der Fall ist. Wir haben bei der Debatte im Sportausschuss beantragt, der Arbeit, dem Engagement und den Erfolgen im nichtolympischen Sport stärker Rechnung zu tragen. Bis heute ist mir unklar, wieso dieses Anliegen von den Regierungsfraktionen nicht unterstützt wird. Für großen Ärger bei den Sportverbänden hat im letzten Jahr die Tatsache gesorgt, dass die Zuwendungsbescheide des Bundes für 2010 erst Ende August zugestellt und die Fördermittel zum Teil erst im September überwiesen worden sind. Das hat den einen oder anderen Verband in finanziell schwierige Situationen gebracht; teilweise mussten Verbände Kredite aufnehmen, um Gehälter der Trainer oder Angestellten bzw. Wettkampfgebühren zahlen zu können. Ich bin der Meinung, das darf sich nicht wiederholen. Hier muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Bescheide frühzeitig zugestellt werden und die Fördermittel zu Jahresbeginn bereitstehen. Zu kritisieren ist auch, dass die mit den einzelnen Sportverbänden getroffenen Zielvereinbarungen wie Geheimpapiere unter Verschluss gehalten werden. Allein schon aus Transparenzgründen ist es unabdingbar, dass der Steuerzahler erfährt, welcher Sportverband wofür wie viel Fördermittel erhält. Erstaunlich ist im Übrigen, welche früheren Forderungen urplötzlich unter den Tisch gefallen sind und nicht im Entschließungsantrag der Koalition stehen: Über Jahre hat die FDP mehr Geld für Sportstätten gefordert. Kaum an der Regierung - schon vergessen. Über Jahre hat die FDP gefordert, dass der Sport ins Grundgesetz aufgenommen wird. Kaum an der Regierung - schon vergessen. Schade, Chance verpasst! Dagmar Freitag (SPD): Der 12. Sportbericht der Bundesregierung lässt unseren Blick zurückgehen auf den Zeitraum 2006 bis 2009; also eine Zeit, in der Deutschland ohne ständiges Gezänk, sondern weitgehend geräuschlos und verlässlich von der Großen Koalition regiert wurde. Diese Verlässlichkeit findet sich konsequenterweise auch im 12. Sportbericht wieder. Neben der Sicherstellung einer stabilen Finanzierung des Spitzensports auf hohem Niveau im Einzelplan 06 oder der Unterstützung der Stiftung Deutsche Sporthilfe wurden beispielsweise auch die Ansätze im Einzelplan 05 des Auswärtigen Amtes von 2 768 Millionen Euro in 2006 auf 5 272 Millionen Euro hochgefahren: Ausdruck der großen Wertschätzung des Sports auch auf dem Feld der Krisenprävention oder beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen durch den damaligen Außenminister Steinmeier. Über die Mittelkürzungen von Schwarz-Gelb in diesem und anderen Bereichen werden wir uns bei der Debatte zum 13. Sportbericht dann ausführlicher unterhalten. "Größter und unverzichtbarer Förderer des Sports ist die Öffentliche Hand", heißt es auf Seite 17 des Berichts - richtig! Der Steuerzahler als Hauptsponsor; da sollte man doch meinen, dass Parlament und Bundesregierung als seine Vertreter auch Rechte gegenüber dem Zuwendungsempfänger hätten. Gab es im 10. Sportbericht neben dem unstrittigen Verweis auf die Autonomie des Sports noch den Hinweis, dass sich "für den Sport als Bestandteil der Gesellschaft insbesondere da Konsequenzen ergeben, wo die Vergabe öffentlicher Mittel an die Einhaltung gesetzlich normierter Rahmenbedingungen geknüpft ist", finden wir seit 2006 unter Punkt 5.1 nun folgende Kernformulierung: "Jede sportpolitische Maßnahme muss in Anerkennung der Unabhängigkeit und des Selbstverwaltungsrechts des Sports erfolgen, der sich selbst organisiert und seine Angelegenheiten selber regelt"; von denkbaren Konsequenzen ist hingegen keine Rede mehr. Dass solch eine Formulierung just im Jahr 2006, kurz nach Gründung des DOSB, den Weg in den Sportbericht der Bundesregierung fand, ist aber sicher nur ein zeitlicher Zufall. Glücklicherweise muss man sich diese Lesart der Bundesregierung nicht zu eigen machen, schon mal gar nicht als Parlamentarier. Bereits seit Jahren diskutieren wir über die Wege zu einer erfolgversprechenden und effektiven Dopingbekämpfung. Der Weg dahin ist steinig, und die bisherigen Schritte können aus unserer Sicht nur Zwischenetappen sein. Die Verschärfung der gesetzlichen Vorschriften im Jahr 2007 war nur ein kleiner Schritt, ein großer Wurf scheiterte an unserem Koalitionspartner und der massiven Einflussnahme durch den organisierten Sport. Allerspätestens nach der Evaluation dieser Maßnahmen werden wir die Diskussion über weitere Maßnahmen wieder auf der Tagesordnung haben, da bin ich sicher. Dieser Sportbericht sollte erstmalig auch einen Blick in die sportpolitische Zukunft werfen. Hierzu gehört auch die Entwicklung der Nationalen Anti Doping Agentur - finanziell wie strukturell. Welche Maßnahmen der Bundesregierung sind vorgesehen, um die NADA bei wachsenden Aufgaben zu stärken? Wie sieht die Bundesregierung den starken Einfluss des Sports auf die NADA? Hierzu finde ich nichts im Bericht - aber diesen und anderen Fragen im Kampf um einen sauberen Sport dürfen wir uns nicht entziehen. Dass wir uns dieser Aufgabe stellen, kann ich für meine Fraktion versichern. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag begrüßt, dass im 12. Sportbericht der Bundesregierung die Bedeutung des Sports in all seinen Facetten dargelegt wird - vom Breitensport bis zum Spitzensport. Der Bericht selbst stellt vorrangig die Maßnahmen der Sportpolitik des Bundes dar, dokumentiert aber auch, dass Bund, Länder und Kommunen als Gesamtheit wirken müssen, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Waren frühere Berichte eher vergangenheitsbezogen, so ist der 12. Sportbericht der Bundesregierung nunmehr erstmalig auch mit konkreten Planungen und Perspektiven versehen, wie das Niveau des Spitzensports in Deutschland gehalten werden soll. So ist die Unterstützung für die Olympiabewerbung Münchens 2018 ein zukunftsweisender Schritt, um Deutschland als Gastgeber großer Sportveranstaltungen noch mehr zu etablieren. Die Begeisterung, die dabei von Fans und Aktiven gleichermaßen getragen wird, schweißt zusammen und lässt jede Integrationsdebatte viel leichter erscheinen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, die Olympiabewerbung Münchens 2018 auch weiterhin kraftvoll zu unterstützen sowie die sich bietenden Chancen der Sportentwicklung, der olympischen Erziehung, der ökologischen Vereinbarkeit und Nachhaltigkeit, der Integration und der Völkerverständigung zu nutzen. Die ablehnende Haltung der Grünen bekräftigt deren Haltung als Dagegen-Partei. Und dabei zeichnet sich dieses Bewerbungskonzept sehr vorbildlich dadurch aus, dass es mit seinem Umweltkonzept auch klare Bekenntnisse zu diesen Fragen enthält. Aber auch hier haben sich die Grünen wie bei Stuttgart 21 alle vorherigen Überlegungen aus dem Kopf geschlagen und rennen nur noch ihrer Wahlkampfstrategie hinterher. Doch ist der Sport nicht nur wichtig für die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Integration, sondern auch für die Wirtschaft. Man schätzt, dass der Sport als Wirtschaftsfaktor einen Anteil von 1 bis 3 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der EU-Mitgliedstaaten beiträgt. Daher begrüßen wir auch das gemeinsame Vorgehen von BMI und BMWi bei der Initiative "Sport und Wettbewerb". Eine Anpassung der europäischen Wettbewerbsregeln an sportrelevante Sachverhalte ist dringend notwendig, um Rechtssicherheit zu schaffen und die Finanzierung des Breitensports, die zum Teil auch aus Einnahmen der Verbände stammt, zu sichern. Von unschätzbarem Wert ist auch das ehrenamtliche Engagement für das Sportsystem in Deutschland. Bedauerlicherweise ist die Anzahl freiwillig Engagierter in Sportvereinen rückläufig, dennoch entspricht deren Arbeitsleistung einer jährlichen Wertschöpfung von 6,6 Mil-liarden Euro. Das ist beachtenswert! Diesen engagierten Bürgern gebührt unsere Anerkennung und unser Dank. Um erfolgreich Sport zu treiben und auch im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig zu sein, müssen ausreichende Trainingsmöglichkeiten vorhanden sein. Wir wollen die Erhaltung der Trainingsanlagen in unseren Bundesstützpunkten und unserer Wettkampfprogramme. Dies sollte territorial ausgewogen sein, sodass eine möglichst große Anzahl an Regionen von der Ansiedlung profitiert. So haben wir zum Beispiel in Oberhof und Ruhpolding große Stadien, in denen unter anderem die Biathlonwettbewerbe ausgetragen werden, die mehrere Tausend Zuschauer anlocken. Den Sport zu den Menschen zu bringen und neue internationale Wettbewerbe durchzuführen, das ist ein wichtiges Instrument zur Gewinnung neuer Sportler. Dass das funktioniert, zeigen Veranstaltungen wie der Parallelslalom in München und der Biathlon auf Schalke. Doch hat der Sport auch seine Schattenseiten. Wir müssen weiterhin unablässig Doping bekämpfen. Das ist die Grundlage für die Chancengleichheit im Sport. Die NADA hat dabei meiner Meinung nach eine weltweite Vorreiterrolle eingenommen. Es fehlt jedoch nach wie vor an einer besseren internationalen Abstimmung der Dopingbekämpfung. Ohne diese Abstimmung und Angleichung wird auch die Chancengleichheit verschoben. Das müssen wir ändern. Entwicklungsmöglichkeiten haben wir auch, wenn es um die duale Karriere unserer Spitzensportler geht. Das funktioniert bei der Bundespolizei und beim Zoll zum Beispiel recht gut. Diesen Weg müssen wir weiter ausbauen. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir dies über Sponsoring, eventuell auch mit Wirtschaftsunternehmen aufbauen können. Dass der Sport nunmehr auch im Lissabon-Vertrag in seiner gesellschaftlichen Bedeutung gewürdigt wird, begrüßen wir ausdrücklich, jedoch ist die Beachtung und Wahrung der Autonomie des Sports auch weiterhin unerlässlich, gerade in juristischer Hinsicht. Die Sportgerichtsbarkeit ist auf jeden Fall zu erhalten, sonst gehören übersichtliche und faire Wettkämpfe der Vergangenheit an. Die Entschließungsanträge der Opposition, die sich auf rein formal-strukturelle Aspekte der Gliederung des Sportberichts beschränken, haben aus meiner Sicht zum Teil die Form einer Alibiveranstaltung. Korruptionsbekämpfung wird durch andere Behörden durchgeführt. Die von der SPD eingebrachten Änderungsanträge sind ausführlich beraten worden bzw. finden sich in der Gliederung wieder. Aus diesen Gründen lehnen wir diese Anträge ab. Frank Tempel (DIE LINKE): Der vorliegende Sportbericht der Bundesregierung stellt fest - das möchte ich ganz vorn anstellen -, dass unsere Republik sowohl im Breitensport als auch im Spitzensport einiges aufzuweisen hat. Das kann auch ruhig einmal gelobt werden. Von einem Bericht der Bundesregierung erwarte ich aber mehr als nur die einseitige Betrachtung positiver Bilanzen. Selbstzufriedenheit bedeutet Stillstand, und Stillstand ist häufig der erste Schritt zurück. Ist denn wirklich alles super und das war's dann? Muss ein solcher Bericht nicht noch viel stärker erkannte Probleme aufzeigen? Muss er nicht auch Aufgabenstellungen für die Politik auflisten und die Differenzen zwischen Gewolltem und Erreichtem untersuchen? Die Fraktion Die Linke möchte bei aller Würdigung des Erreichten die Gelegenheit nutzen, noch einmal einige Aufgaben für die Zukunft aufzuzählen. Im Bericht wird auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Vereinen eingegangen. Was fehlt, ist die Frage, inwieweit der Zugang zum Sport, zu den Sportvereinen, jedem Bürger möglich ist. Wie sieht es denn für Bürger mit geringem Einkommen aus? Wie sieht es ganz besonders für die Kinder und Jugendlichen in einkommensschwachen Familien aus? Ist es nicht so, dass ihre Möglichkeiten nach wie vor stark eingeschränkt sind? In Ihrem Bericht spielt diese Frage überhaupt keine Rolle. Ich hoffe, dass dies im aktuellen Vermittlungsausschuss zum Harz-IV-Regelsatz und zum Bildungspaket eine Rolle spielt! Bisher hat man davon allerdings nichts gehört. Es geht aber nicht nur um die Zugangsmöglichkeiten für Einkommensschwache. Wie sieht es mit den Möglichkeiten für Menschen im ländlichen Raum oder für Menschen mit Behinderungen aus? Sehen sie dort keine Probleme? Ist da alles gut und fertig? Ich weiß ja, dass fast alle von Ihnen auch aktiv in ihren Wahlkreisen unterwegs sind. Es wird Ihnen im Kontakt mit den Vereinen doch aufgefallen sein, dass die Baustellen noch riesengroß sind. Die Zuständigkeit ist hier sehr schnell auf die Ländern geschoben. Es wurde aber in den letzten Jahren durchaus gezeigt, dass auch der Bund seinen Anteil leisten kann, wenn die politische Bereitschaft dazu vorhanden ist. Die größten Defizite liegen in den neuen Bundesländern. Auf Seite 129 im Sportbericht finden sie solche Zahlen: In Baden-Württemberg sind rund 35 Prozent der Bevölkerung im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) organisiert, in Thüringen rund 16 Prozent, ebenfalls rund 36 Prozent in Rheinland-Pfalz, in Sachsen nur rund 13 Prozent. Im Bericht finden Sie Zahlen, aber keine Erklärung dafür. Immerhin war es richtig und notwendig mit dem "Goldenen Plan Ost" diese Defizite abzubauen. Marode Sportstätten sollten hier saniert werden. Der Gedanke war richtig, und es sind auch Ergebnisse da. Laut Ihrem Bericht ist dieser Plan nun 2009 ausgelaufen. "Ersatzlos gestrichen" ist da doch wohl etwas präziser. Die Bezeichnung "ausgelaufen" lässt den Eindruck entstehen, die Aufgabe sei erfüllt. Das wollen Sie doch aber nicht ernsthaft behaupten?! Alleine in meinem Landkreis kann ich Ihnen genügend Beispielen von maroden Sportstätten nennen. In einer Stadt ist es die Kegelbahn, die wegen baulicher Mängel keine Spielzulassung erfährt, in einer anderen Stadt ist es nicht möglich, für einen Fußballverein mit sechs Kindermannschaften, einer Frauenmannschaft, zwei Männermannschaften und einem Altherrenteam wenigsten einen zusätzlichen Bolzplatz für das Training zu bekommen. Die Kommunen und Länder fühlen sich finanziell zu einer Lösung nicht mehr in der Lage, und im Bericht der Bundesregierung findet all dies keine Erwähnung. Ich sage es nochmal: Es ist wirklich schon einiges erreicht worden, und es gibt viele Länder, die sich deutsche Möglichkeiten in der Sportentwicklung wünschen. Wenn das aber so bleiben soll, muss aber auch von allen Seiten etwas dafür getan werden. Investitionen in den Breitensport, insbesondere in den Kinder- und Jugendsport, rentieren sich für die Gesellschaft mehrfach. Ich rede von Gesundheitspolitik, von Sozialpolitik und ganz sicher auch von Kriminalprävention. Ich rede von der Wichtigkeit funktionierender Vereinsstrukturen mit allem dazugehörigen Ehrenamtsengagement für das Zusammenleben in unseren Städten und Gemeinden. Ich fordere deswegen nochmals im Auftrag meiner Fraktion: Der Goldene Plan muss wieder aufgenommen werden und auf die strukturschwachen Regionen der alten Bundesländer ausgeweitet werden! Die Arbeit der Vereine gerade mit hohem Nachwuchsanteil muss unbedingt durch einen öffentlichen Beschäftigungssektor gefördert werden. Mit dieser personellen Unterstützung könnte auch eine Begleitung der Programme gegen Rechtsextremismus erreicht werden. Es ist gut, dass es viele solcher Programme gibt - aber das Problem selbst ist doch noch nicht behoben. Der Bericht erweckt den falschen Eindruck, man habe alles im Griff, aber so weit sind wir noch lange nicht. Der Sportbericht der Bundesregierung muss in Zukunft mehr leisten als nur Selbstlob. Wir wollen weiterkommen, weiterentwickeln - und dazu gehört eben auch ein Bericht über die Probleme und Herausforderungen. Das Ziel muss bleiben, jedem Bürger in diesem Land einen einfachen Zugang zum Sport zu ermöglichen. Ein vollständiger Bericht muss zeigen, wie weit wir davon noch entfernt sind. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen Sie mich zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zum 12. Sportbericht der Bundesregierung machen. Aus meiner Sicht ist es gut, dass wir den Bericht haben. In solcher Art und Ausführlichkeit gib es dies in keinem anderen Politikfeld. Ich möchte deswegen ein dickes Lob für die umfassende Recherchearbeit aussprechen, die dem zugrunde liegt. Der Sportbericht der Bundesregierung hat mir und meinen Mitarbeitern über die Jahre immer dabei geholfen, über die Situation im Sport auf dem Laufenden zu sein und Bilanz zu ziehen. Erwähnen möchte ich, dass sich der Sportbericht über die Jahre entwickelt und zum Positiven verändert hat. Er ist mittlerweile sehr neutral und sachlich, was ich schätze. Perfekt ist er aber noch immer nicht. In zukünftigen Sportberichten der Bundesregierung sollten Probleme in verschiedenen Bereichen deutlich thematisiert und mögliche Lösungsalternativen aufgezeigt werden. Wir Sportpolitiker haben dann zwischen dem einen oder dem anderen zu entscheiden. Beispielhaft hierfür stehen die Probleme bei der Nationalen Anti Doping Agentur (NADA), bei der es in kurzer Zeit zu viele Geschäftsführerwechsel gab und die Organisationsstruktur offensichtlich nicht optimal war. Auch die unzulängliche Dopingprävention von der Bundesregierung über die NADA bis zu den Ländern und Verbänden, nach wie vor ein Stiefkind, will ich an dieser Stelle erwähnen. Willensbekundungen alleine reichen nicht aus. Hier muss deutlich mehr kommen, und ich erwarte Vorschläge der Regierung, wie es in den nächsten Jahren weitergehen soll. Auch sollte aufgezeigt werden, wie die Länder, der organisierte Sport und die Wirtschaft besser einbezogen werden können. Ein anderes Beispiel sind, die Vorgänge in der Sportmedizin in Freiburg, die im Kapitel "Dopingbekämpfung" beschrieben werden. Es wird erwähnt, dass keine Bundesmittel berührt worden sind, und damit war Schluss. Hier würde ich mir wünschen, dass dort auch steht: Der Fall Freiburg hat gezeigt, dass es strukturelle und diverse andere Probleme gab. Die Politik muss sich nun darüber Gedanken machen, wie sie in Zukunft verhindern kann, dass etwas Ähnliches nochmals geschieht und wie oder welche Kontrollmechanismen eingebaut werden müssen. Dann die Studie "Kiggs" zur Fitness und Bewegung von Kindern und Jugendlichen: Anfang 2001/2002 gab es die Überlegung, diese zu unterstützen. Sie ist im Sportbericht auch aufgearbeitet worden, und es wird darauf hingewiesen, dass die Studie abgeschlossen worden ist. Mich interessiert aber auch: Wo und wie geht es weiter? Haben wir als Sportausschuss hierzu einen Handlungsbedarf oder ein eigenständiges Interesse, müssen wir das unterstützen oder überlassen wir das dem Gesundheitsministerium? Ein eigenes Kapitel, in dem alle vier Jahre über den Fitness- und Gesundheitszustand von Kinder- und Jugendlichen berichtet wird, ist wünschenswert. Insgesamt brauchen wir noch mehr Ehrlichkeit und weniger Schönfärberei. Nur so kommen wir auf Dauer weiter. Vieles ist zwar schon gut oder über die Jahre gut geworden. Aber es gibt weiterhin viel zu tun. Eine Bemerkung noch zum Kapitel über Sport, Umwelt und Natur. Dieser Bereich ist im Sportausschuss eher nebensächlich, fällt im Sportbericht aber erfreulicherweise relativ ausführlich aus und zeigt, dass im Berichtszeitraum viel passiert ist, was ich ausdrücklich gutheiße. Leider existiert der "Beirat für Umwelt und Sport" seit einem Jahr nur noch auf dem Papier. Die Bundesregierung hat ihn seitdem nicht mehr einberufen. Dies ist eines der vielen Versäumnisse dieser Regierung. Ich würde gerne wissen, wie ernst man das wirklich nimmt. Wann wird der "Beirat für Umwelt und Sport" wieder ins Leben gerufen? Der Sportbericht ist für uns gewissermaßen auch ein Arbeitsbuch mit Aufträgen für die nächsten Jahre. Ich sehe diesbezüglich klare Schwerpunkte weiterhin im Anti-Doping-Kampf. Hier muss unter anderem eine bessere Präventionsstrategie und -praxis erarbeitet werden. Es genügt nicht die WADA-Kriterien formaljuristisch zu erfüllen. Wir wollen den Geist eines sauberen, manipulationsfreien Sports bis in den letzten Winkel der Sportwelt getragen sehen. Unter Manipulation fällt allerdings nicht nur Doping. Eine bisher stark unterschätzte Gefahr ist der Wettbetrug und die Korruption. Nach Expertenmeinungen haben wir hier bisher nur die Spitze des Eisberges gesehen. Im Vergleich zu anderen Bereichen der Gesellschaft, in denen ähnlich viel Geld bewegt wird, muss man davon ausgehen, dass da noch viel Unentdecktes unter der Oberfläche lauert. Die besonderen Strukturen im Sport - häufig mit alten Seilschaften und engen persönlichen Kontakten der Beteiligten - lassen viel Raum für Fantasie. Immer wieder kommen ja auch Fälle von Korruption und persönlicher Bereicherung ans Tageslicht - in großem Ausmaße bisher vornehmlich im internationalen Bereich. Es wäre jedoch naiv, zu denken, dass wir in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen leben. Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, in zukünftigen Sportberichten ein eigenes Kapitel mit der Berichterstattung darüber zu machen, was im Bereich der Verbände, von Landesregierungen, Bundesregierung sowie auf internationaler Ebene getan wird, um Korruption und Manipulation zu bekämpfen. Weitere Initiativen in dieser Hinsicht bereiten wir vor. Es wäre auch wünschenswert, von der Bundesregierung Vorschläge in dieser Richtung zu hören. Erfreulicherweise äußerte sich der Vertreter des Bundesinnenministeriums im Sportausschuss äußerst wohlwollend zu unserem Antrag, sodass wir davon ausgehen, dass unsere Anregung aufgenommen wird und im nächsten Sportbericht ihren Niederschlag findet. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: "Wir wissen, dass Sport für die Aktivierung und den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft unverzichtbare Beiträge leistet und dass Deutschland auf großartige Traditionen und Leistungen im Sport verweisen kann, die es zu bewahren und zu entwickeln gilt." Dies ist der erste Satz des Koalitionsvertrages zum Thema Sport. Er könnte aber auch zugleich das Motto des 12. Sportberichts der Bundesregierung sein. Dieser gibt einen umfassenden Überblick über die Sportpolitik in den Jahren 2006 bis 2009. Zudem richtet er - aufgrund des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 5. Juni 2010 - erstmals den Blick nach vorn. Der Sportbericht zeigt eindrucksvoll, dass die Sportpolitik nicht nur eine Sache des Sportministeriums ist. Nahezu alle Ressorts leisten bedeutsame Beiträge. Ich möchte mich heute auf einige Eckpunkte des 12. Sportberichts beschränken, da wir den Bericht im Sportausschuss ausführlich beraten haben. Wir blicken auf erfolgreiche Jahre der Sportförderpolitik zurück und wollen dies in Zukunft so fortsetzen. Im Mittelpunkt steht entsprechend der Zuständigkeit des Bundes die Spitzensportförderung. Die wichtigste Voraussetzung ist, für eine solide finanzielle Förderung des Spitzensports auf hohem Niveau zu sorgen. Die Sportförderung der Bundesressorts betrug im Berichtszeitraum circa 832 Millionen Euro. Aus dem Etat des BMI mit rund 559 Millionen Euro konnte der vom DOSB im Jahr 2007 vorgelegte Stufenplan "Zur Zukunftsfähigkeit der Spitzensportförderung in Deutschland" in den wesentlichen Punkten umgesetzt werden. Ich bin sicher, dass wir auch künftig im internationalen Sport eine führende Rolle unter den Sportnationen einnehmen werden. lm Koalitionsvertrag finden wir den Hinweis auf die duale Karriere, die auch Spitzensportlern mit Behinderung ermöglicht werden soll. Dieses Ziel konnten wir bereits umsetzen. Ab diesem Jahr gibt es einen Stellenplafond im Umfang von zehn Stellen, um Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderung den Zugang zu einer "dualen Karriere" zu ermöglichen. Eine unbestrittene Schlüsselaufgabe für Politik und Gesellschaft ist die Integration. Auch hier leistet der Sport bereits einen wichtigen Beitrag. Wir haben in der Vergangenheit - nicht zuletzt bei der Fußball-WM in Südafrika - immer wieder erleben können, wie gegenseitiges Verständnis und Respekt über kulturelle, sprachliche und soziale Grenzen hinweg aufgebaut werden konnten. Die Bundesregierung hat bereits seit 1989 das vom BMI finanzierte Programm "Integration durch Sport" umgesetzt. Im Berichtszeitraum wurde das Programm erneut mit einer beträchtlichen Summe unterstützt. Wir Sportpolitiker fühlen uns neben der Begeisterung für den Sport auch dafür verantwortlich. Entwicklungen entgegenzutreten, die die Werte des Sports gefährden. Die Bundesregierung setzt daher konsequent ihre Linie fort, nur in einen sauberen Sport zu investieren, in dem Doping und Betrug keinen Platz haben. Auf diesem Gebiet sind wir im Berichtszeitraum ein großes Stück vorangekommen. Wir haben konsequente Anti-Doping-Arbeit geleistet und eine für manchen Verband schmerzhafte Überprüfung durchgeführt. Dies ist national und international gewürdigt worden. Unser Augenmerk werden wir künftig noch stärker auf die Präventionsarbeit richten. Der im Jahr 2009 unterzeichnete Nationale Dopingpräventionsplan muss nun mit Leben gefüllt werden. Daneben werden wir das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport bis Oktober 2012 evaluieren. Dabei wird ein wissenschaftlicher Sachverständiger einbezogen, der im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag noch bis Mitte dieses Jahres bestellt werden wird. Auch im Sport sagen wir dem Rechtsextremismus den Kampf an. Vorgestern wurde in Berlin das "Handlungskonzept zur Förderung von Toleranz und Menschlichkeit" vorgestellt. Ich bin davon überzeugt, dass Sport und Politik auch bei diesem Thema auf einem guten gemeinsamen Weg sind. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die mit Spannung erwartete Entscheidung über die Bewerbung München 2018 eingehen. Mit der Abgabe des Bid Books ist der Kampf um die Winterspiele 2018 nun in die entscheidende Phase getreten. Die Bundesregierung unterstützt die Bewerbung auf nationaler und internationaler Ebene. Die drei Weltmeisterschaften in Bayern in diesem Winter sind glänzende Plattformen, Deutschland im Vorfeld der IOC-Entscheidung international zu präsentieren. So hoffen wir alle darauf, dass am 6. Juli 2011 in Durban der Startschuss für ein "Wintermärchen 2018" fällt. Die Begeisterung für den Sport und seine Werte vereint uns alle, und der 12. Sportbericht zeichnet davon ein eindrucksvolles Bild. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass der Bericht im Sportausschuss fraktionsübergreifend als Gewinn für den Sport gelobt wurde. Wir werden die eingebrachten Anregungen der Fraktionen für den nächsten Sportbericht aufgreifen. So werden wir einen eigenen Abschnitt zum Thema "Dopingbekämpfung" aufnehmen und auch die Ergebnisse der "World Games" angemessen darstellen. Für ihren fachkundigen Einsatz, aber auch für manche durchaus lebhafte, aber immer konstruktive Diskussion im Berichtszeitraum möchte ich mich ganz herzlich hier bei allen Mitstreitern für den Sport bedanken. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren (Tagesordnungspunkt 12) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Seit 20 Jahren, seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, ist nicht nur unsere Gesellschaft von Veränderungen und Umwälzungen betroffen, sondern im besonderen Maße auch unser Verständnis von Sicherheitspolitik. Ein sichtbarer Höhepunkt dieser Transformation ist die anstehende Umstrukturierung der Bundeswehr, die eine erhebliche Reduzierung von Soldatinnen und Soldaten und hoffentlich auch Beamtinnen und Beamten der Bundeswehr mit sich bringt. Es wäre falsch, die Reform allein auf den personellen Abbau zu reduzieren, Ziel ist vielmehr, die Streitkräfte und die Bundeswehrverwaltung auf die mannigfaltigen sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit im Sinne eines vernetzten Ansatzes auszurichten. Vernetzte Sicherheit ist die Kunst, umfassend zivile staatliche und nichtstaatliche Akteure, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit, Polizei und Militär zu orchestrieren, um politische Ziele im Vorfeld von Krisen oder in Umsetzung eines Mandats der Vereinten Nationen in Krisengebieten zu erreichen. Es sind nicht nur militärische, sondern vor allem gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die die sicherheitspolitische Entwicklung bestimmen. Sicherheit wird deshalb weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet. Wesentlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist. In diesen oft asymmetrischen Konfliktszenarien kommt es in wachsendem Maße parallel zu militärischen und zu zivilen Kriseninterventionen. Dabei sehen sich militärische und zivile Akteure immer stärker mit Überschneidungen ihrer Handlungsfelder und der Notwendigkeit zur Abstimmung und Kooperation konfrontiert. Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund Kostendrucks und Sparmaßnahmen Aufgaben zunehmend an private Militär- und Sicherheitsunternehmen, PMSU, übertragen werden. Wir erkennen ein sprunghaftes Wachstum solcher Unternehmen. Die Gefahr dieser Privatisierung ist, dass solche Organisationen staatlicher und parlamentarischer Kontrolle und dem staatlichen Gewaltmonopol entzogen sein können. Deshalb müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Unternehmen richten. Ich danke an dieser Stelle den Kollegen der SPD für diesen Antrag, darüber hinaus gilt aber meine besondere Anerkennung unserem Kollegen Ruprecht Polenz, der bereits 2004 diese Problematik thematisiert hat und verantwortlich dafür war, dass wir in der 16. Wahlperiode einen Konsens erzielen konnten. Auf dieser Basis sollten wir weiterarbeiten. Beleuchten wir den großen Umfang, in dem die US-amerikanischen Streitkräfte gegenwärtig auf PMSU zurückgreifen, dann wird deutlich, dass wir in Deutschland noch weit von eben diesen Maßstäben entfernt sind, die selbst in den Augen des US Departments of Defense ein "nie gekanntes Maß an Abhängigkeit von zivilen Vertragsnehmern" angenommen haben. Für uns gilt: Wehret den Anfängen! Das staatliche Gewaltmonopol, demokratisch legitimiert und kontrolliert, darf nicht aufgeweicht werden. In den USA hat diese Unternehmensbranche innerhalb der letzten Dekade eine außergewöhnlich hohe Bedeutung für die militärischen Einsätze der Vereinigten Staaten von Amerika gewonnen. PMSU werden ein bedeutsames Element in den internationalen Beziehungen und im internationalen Konfliktgeschehen bleiben, ihre Bedeutung wird, wenn wir nicht aufmerksam sind, noch weiter zunehmen. Worauf kommt es an? Zunächst ist es wichtig, solche Unternehmen, deren Auftrag in der Durchsetzung politischer oder wirtschaftlicher Ziele mithilfe militärischer Gewalt besteht - Söldner -, rechtlich und politisch strikt abzugrenzen von Unternehmen, die Sicherheitsdienstleistungen anbieten, bei denen Gewalt keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Beispiele hierfür sind zahlreiche Dienstleistungen im Objekt- oder Personenschutz oder bei der Ausbildung. Also: nicht alles "über einen Kamm scheren". Zweitens brauchen wir dringender denn je einen geeigneten Rechtsrahmen mit Überprüfbarkeit und klaren Einsatzkriterien. Es bedarf einer strengen Differenzierung nach Aufgabenschwerpunkten, um hier ein "Bermuda-Dreieck" zu vermeiden von moralischen Aspekten, internationalen Erfordernissen in Krisengebieten und dem nachvollziehbaren Gewinnstreben privater Sicherheitsfirmen. Während für meine Fraktion ein Söldnereinsatz in Krisengebieten abzulehnen ist, kann eine Sicherheitspartnerschaft bei humanitären Einsätzen oder bei der Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte unter bestimmten Umständen durchaus sinnvoll und vorteilhaft für alle Seiten sein. Vorausgesetzt, dritter Punkt, eine entsprechende Zertifizierung des Unternehmens und verlässliche Überprüfungskriterien liegen vor. Viertens unterstreichen wir die Forderungen unseres Antrags aus der 16. Wahlperiode, das Wirken nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsfirmen stärker zu kontrollieren. Wir fordern die Einführung einer Registrierung von privaten militärischen Sicherheitsunternehmen, eine Mitteilungspflicht der Vertragsabschlüsse, die Einführung eines Lizensierungssystems für militärische Dienstleistungen von Unternehmen, um eine Kontrolle der "Dienstleistungen" ausüben zu können. Fünftens halte ich folgende weitere Kriterien für sinnvoll: Die Firmen sollten die Verträge mit ihrem Personal offenlegen: denn nur dort und nicht in Stellungnahmen und Pressemitteilungen wird stehen, was die "Military Contractors" im Ausland wirklich tun sollen bzw. für was sie bezahlt werden. Dass solche Überprüfungen und Controllinginstrumente jedoch ein schwieriges und kostenintensives Unterfangen sind, ist angesichts der Komplexität der Einsätze und der Tatsache, dass private Sicherheitsfirmen oft in Grauzonen operieren, offensichtlich. Sechstens muss eine enge Abstimmung mit den politischen Interessen des Entsendestaates erfolgen; insbesondere dann, wenn private Sicherheitsfirmen von Auftraggebern aus der Krisenregion beauftragt werden. Ein bedeutungsvolles Geschäftsfeld für private Sicherheitsunternehmen wird sicher der Ausbildungssektor sein, Entminungen sind es ja bereits. Fest steht, dass eine enorme Bandbreite von Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen besteht, die es zu kontrollieren und bei Bedarf auch einzuschränken gilt. Mir geht es um eine wirksame Kontrolle der Zusammenarbeit und der Unternehmen und um angemessene Sanktionierungsmöglichkeiten. Darüber müssen wir im Ausschuss beraten. Der Mangel an Transparenz kann durch verschiedene Formen von Kontrolle aufgehoben werden. Es fehlen bisher vergleichbare Kontrollmechanismen mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten. Ein Verbot würde die stärkste Form einer Regulation dieser Branche darstellen. Allerdings würde hierdurch außer Acht gelassen, dass auch kommerzielle Firmen wichtige Beiträge für das Gemeinwohl leisten können. Hierbei sei zum Beispiel auf einen Einsatz im Rahmen von humanitärer Hilfe oder Landminenbeseitigung hingewiesen. Dementsprechend erscheint ein generelles Verbot solcher Unternehmen als wenig sinnvoll, eine Feststellung, zu der wir bereits in der 16. Wahlperiode gemeinsam gekommen sind. Es ist notwendig, national und international möglichst einheitliche Genehmigungs- und Registrierungsverfahren zu schaffen. Sicherheitsunternehmen müssen sich zuvor registrieren lassen, um überhaupt tätig werden zu dürfen. Auf dieser Grundlage von unternehmens- und transaktionsbezogener Aufsicht könnten in Zukunft die Tätigkeiten kontrolliert werden. Die unternehmensbezogene Aufsicht kann jedoch die transaktionsbezogene bzw. projektbezogene Kontrolle und gegebenenfalls Genehmigung nicht ersetzen. Für eine projektbezogene Kontrolle der militärischen Sicherheitsunternehmen muss zunächst ein detaillierter Katalog von Dienstleistungen erstellt werden. Dieser Katalog müsste in Problemlagen auf die jeweilige aktuelle Situation und geplante Dienstleistung flexibel anwendbar sein. Ist dieses Instrument geschaffen, muss es weiterhin möglich sein, die Genehmigung mit bestimmten Auflagen zu versehen. Anschließend muss ein Gremium geschaffen werden, welches die Einhaltung der beschriebenen Tätigkeiten überprüft. Um die Belastung einer Kontrollinstanz oder -behörde in einem erträglichen Rahmen zu halten, sollte die Möglichkeit gegeben sein, bei Dienstleistungen von geringem Risiko, wie etwa Instandhaltungsdienstleistungen, nur eine Meldepflicht vorzuschreiben. Somit schlage ich vor, den Antrag der SPD, dem wir in weiten Teilen zustimmen können, um folgende Punkte zu ergänzen: Zertifizierung der Unternehmen, bevor sie als Auftragnehmer infrage kommen. Ferner muss geklärt werden, unter welchen Rahmenbedingungen die Bundeswehr oder die deutsche Polizei in Auslandseinsätzen mit Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten soll, die statt Soldaten oder Polizisten Angehörige privater Militär- oder Sicherheitsorganisationen in gemeinsame Vorhaben, Operationen und Projekte entsenden. Und schließlich sollten zumindest bis zum Vorliegen ausreichender Daten Verträge mit privaten Sicherheitsunternehmen mit Beträgen auch unter einer 1 Million Euro zur Kenntnis gegeben werden. Henning Otte (CDU/CSU): Bereits zur Zeit der großen Koalition im Jahr 2009 haben wir in einem mit großer Mehrheit des Deutschen Bundestages verabschiedeten Antrag festgestellt, dass nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen einer verbesserten Kontrolle und Lizenzierung unterzogen werden müssen. Der uns nun vorliegende Antrag der SPD lehnt sich sehr eng an den Konsens aus der 16. Wahlperiode an. Insofern bietet ihr Antrag wenig Neues. Private Sicherheits- und Militärunternehmen, PSMU, sind zwischenzeitlich vermehrt Gegenstand politischer und öffentlicher Kritik. Daher besteht in der Tat Handlungsbedarf, wenn es um die Kontrolle dieser Unternehmen geht. Skandale wie der um die Firma Blackwater haben uns gezeigt, dass immer häufiger Konflikte und militärische Operationen in die Hände Privater gegeben werden, die sich offenbar nicht an das humanitäre Völkerrecht halten wollen. Daher ist der Forderung der SPD-Fraktion, einen Genehmigungsvorbehalt für die Weitergabe von technischem und militärischem Know-how für private militärische Sicherheitsunternehmen einzuführen, grundsätzlich nichts entgegenzusetzen. Allerdings sagen Sie weder, wer die Genehmigung erteilen soll, noch, wer dann wie informiert wird. Auch scheinen Aspekte der Haftung bzw. der rechtliche Aspekt im aktuellen Antrag der SPD nicht maßgeblich zu sein. Ihr Antrag ist zumindest in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Damit Unternehmen in einem klaren rechtlichen Rahmen agieren können, fordern wir auch klare Haftungsbedingungen sowie Regelungen zur Verfolgung bei möglichen Straftaten. Seit dem Ende des Kalten Krieges befindet sich unsere Bundeswehr in einem Reformprozess, der sich gerade in einer entscheidenden Phase befindet. Die damit einhergehende Verkleinerung der Streitkräfte darf aber nicht als Grund für die von der SPD negativ bewertete Ausweitung der Beauftragung privater Sicherheitsunternehmen herangezogen werden. Die aktuelle Reform dient dazu, mit effizienteren Strukturen arbeiten zu können. So wird es möglich sein, mehr Soldaten für den Auslandseinsatz bereitzuhalten. Damit kann auch der Eigenschutz im Einsatz verbessert werden, ohne vermehrt auf Unternehmen zurückgreifen zu müssen. Das schließt aber nicht aus, dass wir weiterhin die Unterstützung vor allem von Unternehmen im Bereich des Transports und der Logistik brauchen, aber auch der einfachen Sicherung. Diese Aufgaben gehören nicht zum Kernbereich der Bundeswehr und schon gar nicht zu der auch von Ihnen geforderten Attraktivitätssteigerung. Somit wird keine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols betrieben. Auch müssen wir genau unterscheiden, welche Unternehmen dieser Kontrolle unterzogen werden sollen; denn Unternehmen, die nur logistische Dienstleistungen wie den Transport von militärischen Gütern abwickeln, aber nicht in die Konflikte selbst hineingezogen werden, sollten nicht für die Skandale in Haftung genommen werden, die andere verursacht haben. Es darf nicht sein, dass wir Firmen schädigen, die zum Beispiel die Bundeswehr bei ihren wichtigen Auslandseinsätzen unterstützen. Wer hier seriöse Dienstleistungen erbringt, darf nicht vom Gesetzgeber allein gelassen oder gar verboten werden. Auch haben wir in der Vergangenheit gute Erfahrungen mit der Sicherung von Bundesliegenschaften im In- und Ausland gemacht. Diese Aufgabe gehört ebenfalls nicht zum eigentlichen Kernbereich der Bundeswehr. Beschwerden im Zusammenhang mit rechtlichen Übertritten hat es nicht gegeben. Selbstverständlich müssen sich Soldaten selbst schützen können. Aber unsere Soldaten haben eine wichtigere Funktion, als einfache Wachaufgaben zu übernehmen. Wir alle haben die Verpflichtung, mit den Steuergeldern sorgsam umzugehen. Unsere Soldaten durchlaufen eine komplexe Ausbildung und sollen entsprechend dieser Ausbildung eingesetzt werden. Hierauf gründet sich auch ihre internationale Anerkennung, die es hier einmal hervorzuheben gilt! Es wird Zeit, dass nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrolliert und registriert werden. Ein Verschieben des Problems ist keine Lösung. Ansonsten würden diese Unternehmen weiterhin in einer Art Grauzone agieren. Ich stelle fest: Es ist wichtig, einen parteiübergreifenden Konsens zu erzielen, der einen gemeinsamen Antrag ermöglicht. Wir appellieren, sich dem nicht zu widersetzen. Um diesen Konsens zu erzielen, schlagen wir eine Überweisung des Antrags an den Auswärtigen Ausschuss vor. Dr. Rolf Mützenich (SPD): Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist eine zunehmende Privatisierung des Krieges zu beobachten. Gewalt geht heute meist von privaten Akteuren und Gruppen unterhalb der Schwelle des Nationalstaates aus. Auch wenn die Entstaatlichung des Krieges im Bewusstsein vieler noch überwiegend mit der Herrschaft von Kriegsfürsten und Warlords in Afrika und Afghanistan verbunden ist, erlebt auch der "Westen" eine zunehmende Privatisierung seines Kriegshandwerks. Private Sicherheitsunternehmen sind heute Teil der modernen Kriegsführung und des Wiederaufbaus in Postkonfliktgesellschaften. Nicht nur Regierungen und Firmen, sondern auch die Entwicklungszusammenarbeit und Nichtregierungsorganisationen nehmen vermehrt nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen in Anspruch. Diese haben seit dem Ende des Kalten Krieges einen wahren Boom erfahren und sind heute weltweit tätig. Etwa 300 solcher Firmen haben mehrere Zehntausend Mitarbeiter im Irak, in Afghanistan, in Südamerika und in vielen Ländern Afrikas im Einsatz. Auf 250 Milliarden Euro schätzen Fachleute den Jahresumsatz solcher Firmen weltweit. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt im logistischen Bereich, umfasst aber auch Bereiche wie den Personen- und Objekt- sowie den Konvoischutz, Ausbildung und Training von Sicherheitskräften, technische Dienste und die Informationsgewinnung. Kunden dieser nichtstaatlichen Sicherheitsunternehmen sind vor allem staatliche Institutionen, internationale Organisationen, aber auch Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaftsunternehmen. Angesichts international begrenzter staatlicher Ressourcen und der fortschreitenden Technologisierung und Spezialisierung militärischer Aufgaben ist künftig mit einem weiteren Anstieg der Nachfrage nach Leistungen privater militärischer Sicherheitsdienste zu rechnen. In Deutschland sind nach Angaben der Bundesregierung über 2 500 private Sicherheitsunternehmen tätig. Das Tätigkeitsfeld deutscher Sicherheitsfirmen umfasst bislang vor allem logistische Aufgaben, Dienstleistungen im technischen Bereich, aber auch die Übernahme von sogenannten nichtmilitärischen Wachfunktionen. Die Abschaffung der Wehrpflicht und die damit verbundene Reduzierung der Bundeswehr wird voraussichtlich zu einer verstärkten Inanspruchnahme von privaten Dienstleistern und damit auch von privaten militärischen Sicherheitsunternehmen im In- und Ausland führen. Afghanistan und Irak haben sich in den letzten Jahren zum Arbeitsplatz für nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen entwickelt. Und der Druck der Öffentlichkeit wächst, die regulären Truppen endlich nach Hause zu holen. Im August letzten Jahres hat US-Präsident Obama das Ende der Kampfhandlungen im Irak bekannt gegeben und angekündigt, dass bis Ende 2011 alle amerikanischen Truppen das Land verlassen haben sollen. Und auch in Afghanistan soll noch dieses Jahr mit dem Abzug der amerikanischen und deutschen Streitkräfte begonnen werden. Dabei sind in beiden Ländern längst nicht nur Soldaten im Einsatz, sondern auch Tausende private Militärdienstleister. Das US-Außenministerium hat nach dem Abzug der Kampftruppen angekündigt, die Zahl seiner privaten Wachleute im Irak auf etwa 7 000 zu verdoppeln. Zwischen 25 000 und 50 000 Angehörige von privaten in- und ausländischen Sicherheitsfirmen sollen allein in Afghanistan tätig sein, von denen 19 000 allein für das US-Militär Aufträge übernommen haben. Der Trend zur Privatisierung ist also in vollem Gange, ungeachtet aller Kritik der Öffentlichkeit. In Afghanistan stehen die privaten Sicherheitsfirmenunternehmer zudem dem Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte, besonders der Polizei, im Weg. Denn warum sollte sich ein junger Afghane zur Polizei melden, wenn er einen deutlich besser bezahlten Job bei einer Sicherheitsfirma kriegen kann? Neben zunehmender Kritik an den Auswüchsen und Missständen gab es in den letzten Jahren auch eine Reihe von Kontroll- und Regulierungsversuchen. So hat der Europarat im Juni 2009 auf der Grundlage eines umfangreichen Berichts eine Reihe von Forderungen aufgestellt, um auch auf nationaler Ebene Regulierungen dieser Firmen zu erreichen. Weltweit gibt es allerdings nur wenige Länder, in denen bislang spezielle Gesetze zur Überwachung, Regulierung und Begrenzung der Tätigkeit von privaten militärischen Sicherheitsfirmen geschaffen wurden. Nichtstaatliche Sicherheitsunternehmen bewegen sich dennoch nicht im rechtsfreien Raum. Nationale und internationale Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung gelten trotz der genannten Durchsetzungsschwierigkeiten auch für private Sicherheitsunternehmen. Ihre völkerrechtliche Einordnung nach den Zusatzprotokollen zur Genfer Konvention, besonders ihr Kombattantenstatus, ist jedoch strittig. Auch die 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Konvention gegen die Rekrutierung, Verwendung, Finanzierung und Ausbildung von Söldnern ist nur begrenzt auf diese Firmen anwendbar. Sie geht von einer Unterscheidung aus, die auf der einen Seite den guten freiwilligen Kämpfer kennt, der für seine Sache kämpft, und auf der anderen Seite den unehrenhaften Söldner, der aus materiellen Gründen kämpft. Beide Typisierungen treffen auf die Angestellten dieser Firmen kaum zu, sodass aus völkerrechtlicher Sicht Regulierungslücken bestehen. Ein erster Versuch auf zwischenstaatlicher Basis, die Rechtsstellung nichtstaatlicher Sicherheits- und Militärfirmen zu konkretisieren, ist das im September 2008 von 17 Ländern verabschiedete Montreux-Dokument, bei dem es sich allerdings nicht um einen verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag handelt. Zu den Unterzeichnenden gehört neben den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Afghanistan unter anderem auch Deutschland. Erste Versuche, dies auf internationaler Ebene zu erreichen, laufen somit bereits. Auch die Sicherheitsunternehmen haben reagiert und freiwillige Verhaltenskodizes aufgestellt. Freiwilligkeit ist jedoch im Zusammenhang mit sicherheitsrelevanten Dienstleistungen nicht die optimale Lösung. Hier bedarf es auch international der Transparenz und vor allem Rechtssicherheit. Bis zu einer sicheren Rechtslage ist es aber noch ein weiter Weg. Die Bundesregierung hat bei der Beantwortung entsprechender Fragen aus dem Parlament bis zum Sommer 2010 die Auffassung vertreten, dass nach ihren bisherigen Erkenntnissen die bestehenden Vorschriften im EG-Sanktionsrecht, Gewerberecht und Außenwirtschaftsrecht ausreichen, um "Sicherheitsunternehmen mit militärischen Absichten wirksam zu begegnen". Auf Nachfragen hat die Bundesregierung schließlich eingeräumt, dass ein weiterer Handlungsbedarf geprüft werden müsse. Ressortübergreifend soll über den Handlungs- und Regelungsbedarf im nationalen und internationalen Bereich eine Verständigung erzielt werden. Es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung erst auf Drängen des Parlaments zu einer Überprüfung des entsprechenden Regelungsbedarfs bereit war. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihrer Pflicht ohne weitere Aufforderung nachkommt und den Bundestag zeitnah über die Prüfergebnisse unterrichtet. Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen zu registrieren und zu kontrollieren, ist das Ziel des Antrags der SPD-Fraktion. Darin wird unter anderem gefordert auf nationaler Ebene eine Registrierungspflicht für private Sicherheitsfirmen und Militärdienstleister, die in Deutschland ihren Sitz haben, ein Lizenzierungssystem für militärische Dienstleistungen von Unternehmen sowie einen Genehmigungsvorbehalt für die Weitergabe von technischem und militärischem Know-how privater militärischer Sicherheitsunternehmen einzuführen. Weiterhin soll dem Bundestag ein jährlicher Bericht sowohl über die in der Bundesrepublik ansässigen als auch über ausländische private militärische Sicherheitsunternehmen vorgelegt werden, deren Dienstleistungen die Regierung oder ihr nachgeordnete Behörden im Ausland in Anspruch nehmen. Vor dem Hintergrund der geplanten Bundeswehrreform und der damit einhergehenden Reduzierung des Streitkräfteumfangs muss das Parlament darüber informiert werden, in welcher Form und in welchem Umfang die Regierung das Engagement privater Sicherheitsunternehmen im In- und Ausland beabsichtigt. Auf internationaler Ebene fordern wir die Bundesregierung dazu auf, die internationale Konvention gegen die Rekrutierung, Verwendung, Finanzierung und Ausbildung von Söldnern von 1989 zu ratifizieren und bei den Vereinten Nationen darauf hinzuwirken, die der VN-Konvention zugrunde liegenden Begrifflichkeiten zu spezifizieren, um eine konkrete, zeitgemäße, auch auf private militärische Sicherheitsunternehmen anwendbare Norm zu schaffen. Darüber hinaus sollten die bestehenden Völkerrechtsinstrumente zum Söldnertum durch weitere eigenständige völkerrechtliche und nationale Regelungen ergänzt werden, insbesondere durch eine internationale Registrierung der privaten militärischen Unternehmen, eine internationale Einrichtung zur Kontrolle der privaten militärischen Unternehmen und der von ihnen abgeschlossenen Verträge, die beim UN-Sonderberichterstatter über das Söldnertum angesiedelt sein sollte sowie die Einführung von Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den privaten militärischen Sicherheitsunternehmen und deren Auftraggebern. Ich freue mich über die Signale aus den anderen Fraktionen, auf der Grundlage unseres Antrags zu diesem wichtigen Thema interfraktionell eine Position zu erarbeiten. Dies würde dem Thema auf jeden Fall das nötige Gewicht geben, das ihm zusteht. Lassen Sie uns deshalb diesen Antrag möglichst rasch umsetzen und gemeinsam der Öffentlichkeit vorstellen. Es besteht in jedem Fall Handlungsbedarf. Denn neue Staaten aufbauen zu wollen, indem ihre innere wie äußere Sicherheit zum Teil entstaatlicht wird, erscheint zunehmend als ein Widerspruch in sich. Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Private Sicherheitsorganisationen sind heute weltweit tätig. Die Auslagerung bestimmter Aufgaben in nichtstaatliche Unternehmen hat auch in der Außen- und Sicherheitspolitik Einzug gehalten. Dieser Trend hat sich seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes stetig verstärkt. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ein wesentlicher Grund ist das gestiegene Sicherheitsbedürfnis von Behörden, internationalen Organisationen und Unternehmen, von Politik und Gesellschaft. Was wir hier heute vor allem debattieren, ist daher meines Erachtens nach nicht die Notwendigkeit der Auslagerung staatlicher Aufgaben. Vielmehr müssen wir uns im Hinblick auf die weltweiten Entwicklungen endlich um ein umspannendes Regelungswerk kümmern. Wir müssen im Parlament darüber debattieren, in welchem rechtlichen Rahmen wir den Wandel im Verhältnis zwischen Nationalstaat und Militär einbetten müssen. Nur wenn wir sämtliche möglichen Konsequenzen im Vorfeld ausführlich analysieren und bewerten, kann diese Herausforderung angenommen werden. Dabei ist eine verantwortungsvolle Ausgestaltung unbedingt notwendig. Es stellt sich die Frage nach den Rechten und dem Rechtsstatus der in bewaffneten Konflikten beteiligten privaten Sicherheitsunternehmen. Vor allem die weltweite Tätigkeit privater Sicherheitsunternehmen macht die Lageanalyse um ein Vielfaches komplizierter. Allein in Afghanistan waren bis vor kurzem mehr als 19 000 private Sicherheitskräfte im Einsatz. Aus diesem Grund ist eine Beschränkung auf nationale Richtlinien nicht sonderlich zielführend. Allerdings gilt auch für die deutschen Richtlinien: Es gibt bisher kein Gesetz im deutschen Rechtsraum, das explizit die Aktivitäten nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsunternehmen abschließend regelt. Hier besteht erkennbar Handlungsbedarf. Von daher möchte ich der SPD danken für diesen guten vorliegenden Antrag. Viele konstruktive Vorschläge werden hier unterbreitet, ob es um eine Registrierungspflicht und ein Lizenzierungssystem geht oder um die Kontrolle der Weitergabe von technischem und militärischem Know-how. Diese Gedanken müssen wir uns machen. Ich freue mich schon auf die inhaltlichen Beratungen zu diesem wichtigen zukunftsträchtigen Thema. In den kommenden Debatten muss dafür gesorgt werden, dass internationale Institutionen aktiv werden - und auch dies wird angesprochen im vorliegenden Antrag. Besonders die Vereinten Nationen sehe ich hier in der Pflicht. Ja, wir müssen unseren Einfluss geltend machen und auf die Spezifizierung der in den VN-Konventionen verwendeten Begrifflichkeiten hinwirken. Sicherlich müssen auch die bestehenden völkerrechtlichen Instrumente durch eigenständige Regelungen ergänzt werden. In Deutschland stehen wir erst am Anfang einer Debatte, die international schon hohe Wellen geschlagen hat. Mit diesem Antrag als Diskussionsgrundlage gehen wir gut gerüstet in die tieferen thematischen Beratungen im Ausschuss. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam mit den demokratischen Fraktionen hier im Hause eine zukunftsfähige Lösung in der Frage nach einem angemessenen Umgang mit privaten Sicherheitsunternehmen finden werden. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Der vorliegende SPD-Antrag ist vor allem ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Als die SPD im Juni 2009 noch an der Regierung beteiligt war, wurde ein ähnlicher Antrag vom Bundestag angenommen. Er wurde aber von der eigenen Regierung nicht umgesetzt! Das ändert allerdings nichts daran, dass für die Linke kein Zweifel besteht, dass Bundestag und Bundesregierung endlich eine Antwort auf die Risiken der Auslagerung von militärischen Dienstleistungen finden müssen. Viel zu lange schon starrt man in Deutschland gebannt auf den ICE der Privatisierung militärischer Dienstleistungen, ohne die Weichen richtig zu stellen, die nur in eine Richtung weisen können: in Richtung Verbot! So richtig daher die SPD-Initiative ist, so falsch ist die Halbherzigkeit, mit der sich die SPD diesem Thema annimmt. Ein Ja zur Regulierung, ein Ja zur Kontrolle, ein Ja zur internationalen Koordination reichen einfach nicht aus. Die Konflikte im Irak, in Afghanistan, aber auch schon früher Kolumbien, Sierra Leone oder Angola haben doch deutlich gemacht, wie gefährlich der Einsatz privater Militärfirmen ist, wie unkontrollierbar das Geschäftsgebaren privater Akteure in Konflikten ist. Diese Firmen untergraben das staatliche Gewaltmonopol, höhlen das Völkerrecht aus, schaffen Abhängigkeiten und tragen vor allem zur Konflikteskalation in fast allen Kontinenten bei. Nun liebäugeln deren Interessenverbände sogar damit, Aufträge der Vereinten Nationen für niedrigschwellige Friedensmissionen zu bekommen! Die US-Streitkräfte und das State Department kämpfen derzeit mit dem Vermächtnis der unter Reagan begonnenen Privatisierung militärischer Dienstleistungen. Im Irak und in Afghanistan haben die USA massiv auf diese privaten Anbieter gesetzt. Im Irak waren zeitweise sogar genauso viele private Angestellte mit militärischem Auftrag unterwegs wie US-Soldaten. Es kam zu Tötungen von Zivilisten, die Abhängigkeit der US-Streitkräfte von diesen Dienstleistungen wuchs, komplizierte Vertragswerke und dubiose Unterauftragnehmer begünstigten Korruption und Destabilisierung. Jetzt grübelt man in den USA, wie man die Büchse der Pandora wieder schließen kann. Aber das wird schwerfallen. Soll auch Deutschland, soll die Bundeswehr diesen Weg beschreiten? Die Antwort der SPD lautet wohl leider: Ja! - Natürlich ein wenig regulierter, kontrollierter und transparenter. Der Antrag liest sich wie ein Déjà-vu. Solche Hoffnungen hat man auch schon in Bezug auf die Kontrolle von Rüstungsexporten und der Rüstungsindustrie gehegt. Wie die Realität aussieht, weiß jeder: Deutschland gehört zu den größten Rüstungsexporteuren der Welt, der Schutz der Geschäftsinteressen der Rüstungsindustrie steht über allem und außerhalb der Kontrolle des Bundestages. Dieser Fehler darf bei den militärischen Dienstleistungen nicht wiederholt werden. Diese Art von Unternehmen sind noch undurchschaubarer als die Rüstungsindustrie: verschachtelte Unternehmensstrukturen, rotierendes Personal, nicht kontrollierbare Interessenverflechtungen usw. Glauben Sie wirklich, dass Sie wegen möglicher Kriegsverbrechen oder anderer Vergehen die Geschäftsführung, den gesamten Vorstand und Aufsichtsrat einer privaten Militärfirma vor einen nationalen oder internationalen Strafgerichtshof zitieren können? Eher meldet das Unternehmen Insolvenz an bzw. gründet sich neu: Aus Raider wurde Twix, aus Blackwater wurde Xe. Noch sind die Aktivitäten von deutschen Firmen wie der Asgaard German Security Group in Somalia oder der BDB Protection GmbH in Libyen Einzelfälle. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Firmen, die militärische Dienstleistungen anbieten, in Deutschland einen Marktzugang zu verschaffen. Die Bundeswehr hat immer wieder erklärt, militärische Dienstleistungen nicht auslagern zu wollen. Weiß die SPD mehr? Es ist vielmehr an der Zeit, klar zu machen, dass Deutschland nicht Heimat für Unternehmen ist, die militärische Dienstleistungen auf den Schlachtfeldern anbieten wollen, und dass sich alle deutschen Staatsbürger strafbar machen, die für diese Firmen solche Dienstleistungen erbringen. Die Linke wird entsprechende Initiativen in den Bundestag einbringen, und hoffentlich wird es gelingen, in den Ausschüssen auch die anderen Fraktionen zur Einsicht zu bewegen, dass auch in Zukunft das Gewaltmonopol in Deutschland nicht weiter angetastet werden darf, und dass dem modernen Söldnertum auf den heutigen Kriegsschauplätzen ein Riegel vorgeschoben wird. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dieser Legislaturperiode debattieren wir jetzt zum ersten Mal über das Problem der unzureichenden Regulierung von privaten Sicherheitsfirmen, und ich begrüße grundsätzlich den Antrag der SPD, der uns dazu heute vorliegt. Allerdings hat es in den vergangenen Jahren zu diesem Thema schon etliche solcher Anträge und Anfragen in unterschiedlichen Konstellationen gegeben. In der letzten Legislaturperiode gab es einen Antrag der CDU/CSU und SPD, in dem bereits einige Verbesserungen bei der Kontrolle nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsunternehmen eingefordert wurden. Ein Gesetzentwurf wurde aber bis heute nicht vorgelegt, obwohl das Problem immer größere Ausmaße annimmt. Private Sicherheitsfirmen sind weltweit im Dienste von Staaten, internationalen Organisationen, Unternehmen und Privatpersonen im Einsatz. Ihre Tätigkeiten reichen von Wach- und Schutzaufgaben über Logistik und Wartungsarbeiten bis hin zur Durchführung militärischer Operationen. Auch im Rahmen der militärischen Aufklärung und Informationsgewinnung sind solche Unternehmen tätig. Die USA setzen im Irak und in Afghanistan mittlerweile mehr privates Militärpersonal ein als amerikanische Soldaten. Allerdings sind auch deutsche Sicherheitsunternehmen im Ausland tätig. Nach 2003 arbeiteten sogar ehemalige deutsche Soldaten für ausländische Sicherheitsfirmen, wie Blackwater im Irak, obwohl die deutsche Regierung diese Intervention ablehnte. Die Privatisierung militärischer Fähigkeiten untergräbt das staatliche Gewaltmonopol. Das ist besonders in fragilen Ländern mit einer schwach ausgeprägten staatlichen Struktur gefährlich. In bewaffneten Konflikten unterliegen private Sicherheitsunternehmen als juristische Personen nicht einmal dem humanitären Völkerrecht. Jede natürliche Person, die aktiv an einem bewaffneten Konflikt teilnimmt, ist an das humanitäre Völkerrecht gebunden und kann sich gegebenenfalls strafbar machen, nicht aber das Unternehmen, für das diese Person arbeitet. Diese Konstellation war bei der Vereinbarung der Genfer Konvention und ihrer Zusatzprotokolle nicht vorgesehen und ist damit eindeutig eine Regelungslücke. Auch die Söldnerdefinition des Zusatzprotokolls findet auf Angehörige von privaten Sicherheitsfirmen nur selten Anwendung, weil sie sehr eng gefasst ist. Trotzdem wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn die Bundesregierung endlich die Söldnerkonvention von 2001 ratifizieren würde! Einen Grund, warum dies bislang nicht geschehen ist, haben wir auch auf mehrfache Nachfrage bis heute nicht erfahren. Ziel einer gesetzlichen Regulierung privater Sicherheitsunternehmen muss es sein, die Einhaltung humanitären Völkerrechts zu gewährleisten und Aktivitäten zu verhindern, die nicht im Einklang mit den menschenrechtlichen und friedenspolitischen Interessen Deutschlands stehen. Umfassende Registrierungs- und Lizensierungspflichten - wie sie die SPD vorschlägt - sind ein erster Schritt hin zu einer besseren Kontrolle privater Sicherheitsfirmen. Ebenso begrüße ich die Forderung nach regelmäßigen Berichten über die Aktivitäten dieser Unternehmen. Einen wesentlichen Kritikpunkt habe ich dann allerdings doch an diesem Antrag: Militärische Sicherheitsdienstleister sollten wir im deutschen Inland nicht registrierungspflichtig machen, sondern schlicht verbieten! Privates Militär ist weder mit unserem Waffenrecht noch mit der Gewerbeordnung vereinbar, und das soll auch unbedingt so bleiben! Für Sicherheitsdienstleistungen, die nicht der militärischen Kategorie unterfallen, gibt es allerdings großen Regelungsbedarf, wenn diese Leistungen im Ausland erbracht werden sollen. Wir halten es für dringend erforderlich, den Export solcher Dienstleistungen in das Außenwirtschaftsgesetz aufzunehmen. Wo das Handeln mit Waffen den Frieden gefährdet, tut dies erst recht das Benutzen einer Waffe! An dieser Stelle bleibt Ihr Antrag leider unklar. Solange es auf internationaler Ebene kein bindendes Vertragswerk gibt, sind die Nationalstaaten gefragt, private Sicherheitsfirmen durch innerstaatliches Recht effektiv zu binden. Zum Erlass solcher Regelungen hat sich Deutschland mit dem Dokument von Montreux vom 17. September 2008 verpflichtet. Dieser Verpflichtung ist Deutschland bis heute nicht nachgekommen. Meine Fraktion wird in Kürze hierzu eine Große Anfrage einbringen. Keinesfalls ausreichend sind in diesem Zusammenhang freiwillige Selbstverpflichtungen der entsprechenden Branche. Wer zu Hause auf nationaler Ebene keine effektive Regulierung vorweisen kann, kann auch international nicht glaubwürdig verhandeln. Sollten sich Bestrebungen zu einem interfraktionellen Vorgehen abzeichnen, sind wir gerne bereit, unsere Vorstellungen und konkreten Gesetzesänderungsvorschläge mit einzubringen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tagesordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Stellen Sie sich vor, Sie brechen sich bei einem Unfall auf dem Weg ins Büro einen Arm und das Nasenbein. Es vergehen neun Jahre, bis rechtskräftig über einen Anspruch auf Schadenersatz gegen die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners entschieden wurde. Es verrinnen weitere 15 Jahre, in denen es der Justiz in den verschiedenen Instanzen nicht gelingen will, über die Höhe des Schadenersatzes abschließend zu entscheiden. Dieser und andere Sachverhalte lagen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in den vergangenen Jahrzehnten aus den verschiedensten Mitgliedstaaten vor. Dies nahmen die Straßburger Richter bereits im Jahr 2000 zum Anlass, ihre Rechtsprechung dahin gehend zu ändern, die Europäische Menschenrechtskonvention als verletzt anzusehen, wenn gerichtliche Verfahren eine unangemessene Dauer aufweisen und den Betroffenen kein wirksames Rechtsmittel dagegen zur Verfügung gestellt wird. Dem Straßburger Gerichtshof lag im September letzten Jahres ein Fall aus der Bundesrepublik zur Entscheidung vor, in dem der Beschwerdeführer nach 13 Jahren auf eine rechtskräftige Entscheidung zur Neuerteilung eines Waffenscheins warten musste. Wenn man sich die Umstände des Falls vor Augen führt, aufgrund derer der EGMR nun die Bundesrepublik binnen Jahresfrist zur Schaffung eines wirksamen Rechtsmittels auffordert, so wird deutlich, dass es hier nicht allein um das zentrale Verfahrensgrundrecht der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes geht: Der Beschwerdeführer betreibt ein Personenschutzunternehmen. Es fällt daher nicht schwer, eine Betroffenheit seines Grundrechts auf freie Berufsausübung nach Art. 12 GG festzustellen. Auch andere Freiheitsrechte stehen hier im Fokus: In einem anderen prominenten Fall, der im Herbst 2000 entschieden wurde, verbrachte der Beschwerdeführer wesentliche Teile des als überlang empfundenen Verfahrens in Untersuchungshaft. Insgesamt sind in allen Fällen also ganz wesentliche Grundrechte betroffen. Deshalb verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von der Bundesrepublik, dass wir die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für einen effektiven Rechtsschutz schaffen. Neben Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes verpflichtet uns Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu. Auf der anderen Seite steht mit der Gestaltung und Leitung des Gerichtsverfahrens auch die richterliche Unabhängigkeit auf dem Spiel. Es sind damit unterschiedliche grundgesetzlich geschützte Rechte und Grundsätze betroffen, die in praktische Konkordanz gebracht werden müssen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht gilt: Bei der Ausgestaltung des Rechtsmittels müssen wir einerseits die Qualität eines tatsächlich wirksamen Rechtsmittels erreichen, ohne andererseits dem missbräuchlichen Einsatz Tür und Tor zu öffnen. Dabei ist mir die Missbrauchsgefahr, die ein solch umfassendes, die Gerichtsbarkeiten übergreifendes Rechtsmittel mit sich bringt, bewusst. Die Verzögerungsrüge mit anschließender Entschädigungsklage könnte schnell zum Massenphänomen werden. Schließlich könnten Rechtsanwälte allein aus Haftungsgesichtspunkten regelmäßig veranlasst sein, die Rüge gewissermaßen "pro forma" zu erheben, um für spätere Entschädigungsklagen nicht präkludiert zu sein. Natürlich muss das Rechtsmittel auch so ausgestaltet sein, dass es sich nicht selbst negativ auf die Dauer des Ausgangsverfahrens auswirkt. Deshalb ist es richtig, dass das Gericht nicht notwendig zu einer förmlichen und begründeten Entscheidung verpflichtet ist. Hier sollten wir aber meines Erachtens prüfen, die Eingabe, mit der die Verzögerung geltend gemacht wird, um ein Begründungserfordernis, wie es beispielsweise vom Deutschen Richterbund gefordert wird, zu ergänzen. Nur auf diese Weise kann den Verfahrensbeteiligten konstruktiv angezeigt werden, woran die gewünschte Fortsetzung scheitert. Gerade aus der Richterschaft höre ich, dass Verfahren oftmals daran kranken, dass Parteien, Sachverständige und das Gericht sich nicht hinreichend über den Fortgang des Verfahrens und etwaige Hindernisse und Hürden austauschen. Ihre Erfahrung ist, dass man oftmals über lange Zeiträume hinweg zwar die Dauer des Verfahrens kritisiert, ohne sich gemeinsam über die Gründe zu verständigen. Dem Mangel der unzureichenden Kommunikation könnte durch eine konkrete Begründung zumindest entgegengewirkt werden. Wenn sich eine lange Dauer abzeichnet, müssen die Beteiligten künftig verbessert nach Möglichkeiten suchen, wie man das Verfahren beschleunigen kann. Gleichermaßen müssen die Gerichte auch in die Lage versetzt werden, deutlich zu machen, warum im speziellen Fall die Dauer eben doch noch sachgerecht ist. Zudem soll das Rechtsmittel nicht dazu führen, dass die Gerichte in einer Art vorauseilender Anpassung die Gründlichkeit zugunsten der Verfahrensbeschleunigung hintenanstellen. In den allermeisten Fällen entspricht die gerichtliche Gründlichkeit dem Interesse der Parteien. In materieller Hinsicht müssen wir noch im Einzelnen diskutieren, welche Verzögerungsgründe zur Entschädigung führen sollen. Klar ist, dass es dabei nicht auf das Verschulden des Gerichts ankommen soll. Deshalb sollten wir auch den Begriff der Rüge noch einmal überdenken, denn damit ist zumeist assoziiert, dass ein Verschuldungsvorwurf gegenüber dem Gericht erhoben wird. Wenn man sich die Gründe für Verfahrensverzögerungen anschaut, dann ist es in den seltensten Fällen der Spruchkörper des befassten Gerichts selbst, der eine überlange Verfahrensdauer verursacht. Auch ist es - zumindest nicht für die Fälle, über die wir heute reden - nicht etwa eine unzureichende Personalausstattung von Gerichten und Staatsanwaltschaften, die zu Verfahrenslängen von 10, 15 Jahren führt. Die dünne Personaldecke verlängert die Verfahren in der Praxis - zweifellos. Aber dabei geht es um Verzögerungen um einige Monate oder darüber, nicht jedoch um Verzögerungen von acht, neun oder mehr Jahren. Ein gängiges Phänomen ist, so wird es aus der Praxis immer wieder berichtet, dass die Einholung von Sachverständigengutachten sich als wahre Verfahrensbremse erweist. Dass die Zahl der verfügbaren Gutachter, so beispielweise in komplizierten baurechtlichen Verfahren, sehr gering ist, gehört zu der Vielzahl von Gründen, weshalb sich gerichtliche Verfahren in die Länge ziehen. Das sehen die Parteien in der Regel aber auch ein, sie haben selbst ein Interesse daran, dass der Sachverständige sich die nötige Zeit zur Begutachtung nimmt. Unter welchen Voraussetzungen es dann einen Entschädigungsanspruch geben soll, müssen wir noch diskutieren. Wir müssen uns angesichts der im Gesetzentwurf angelegten Entschädigungslösung auch mit der Frage auseinandersetzen, ob der von der Großen Kammer des EGMR im Urteil vom Sommer 2006 erwogene präventive Ansatz zur Verhinderung von überlangen Verfahrensdauern ein gangbarer Weg wäre. Ob sich die teilweise vorgeschlagene gesetzliche Fixierung einer Untätigkeitsbeschwerde umsetzen lässt, ohne sich selbst verzögernd auf das Verfahren auszuwirken, wird zu prüfen sein. Auch die im Entwurf unbegrenzte Höhe des Ersatzes für materielle Schäden müssen wir diskutieren. Ich will an dieser Stelle noch auf die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingehen, deren überlangem Verlauf künftig ebenfalls mit einer Verzögerungsrüge begegnet werden soll. Im Strafverfahren sind kompensatorische Ansätze, beispielsweise in Form eines Straf- oder Vollstreckungsabschlags, bereits gerichtliche Praxis. Hier sind die Maßgaben der Art. 20 Abs. 3 GG und des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits richterrechtlich umgesetzt worden. Vor allem in den Fällen, bei denen die Verfahren durch Einstellung oder Freispruch beendet werden, sieht der Europäische Gerichtshof erheblichen Handlungsbedarf beim Gesetzgeber. Auch an dieser Stelle soll nun die Verzögerungsrüge greifen und all die Fälle abdecken, in denen verzögerungsbedingte Nachteile nicht bereits durch Strafgericht oder Staatsanwaltschaft ausgeglichen wurden. Ob wir uns als Gesetzgeber nun tatsächlich darauf verlassen, dass die richterrechtlich entwickelten Entschädigungsformen weiter praktiziert werden und die gesetzliche Kompensation lediglich subsidiär greift, ist ebenso zu diskutieren wie die These, nach der das richterliche Strafvollstreckungsmodell mit Inkrafttreten dieses Gesetzes entbehrlich und damit nicht mehr angewandt werde. Gleiches gilt für die Frage, ob wir mit der Gewährung einer Rügemöglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nicht über das Ziel hinausschießen und ohne Not weiter gehen, als es der EGMR von uns verlangt. Eines können wir trotz der im Einzelfall überlangen Verfahren in die Ausschussberatungen mitnehmen: Der Rechtsschutz am Justizstandort Deutschland funktioniert vorbildlich. Dies ist nicht zuletzt im jährlich von der Weltbank herausgegebenen "Doing Business"-Bericht auch für dieses Jahr deutlich gemacht worden: Gerade im Hinblick auf die Rechtspflege bestehen danach gute Investitionsbedingungen in der Bundesrepublik. Wir reden hier lediglich über Einzelfälle, bei denen die Umstände des Verfahrens für die Beteiligten wirklich extrem und nicht hinzunehmen sind. Trotzdem ist es gut, dass die Gesetzesinitiative anscheinend den Willen ausgelöst hat, auch mäßige Verzögerungen im Alltag der Gerichte noch einmal zu überprüfen. So haben, wie zu hören war, einige Verwaltungen bereits die Ankündigung des Gesetzentwurfs zum Anlass genommen, neben den üblichen "Überlängeanzeigen" in den Gerichtsbarkeiten auch Erhebungen zu den einzelnen Verfahrenslängen durchführen. Hier entsteht auch in einigen Landesjustizverwaltungen ein Bewusstsein, das ich angesichts der bis-herigen Verfahrenslängen nur begrüßen kann. Abschließend möchte ich noch einen weiteren Gedanken in die Beratungen mitnehmen: Wir sollten prüfen, wie man beim Entschädigungsverfahren den Effekt ausschließt, dass allein Richter über richterliches Handeln des Ausgangsverfahrens entscheiden. Ich gehe davon aus, dass nur in wenigen Fällen das Ergebnis heißen wird, dass ein Verfahren tatsächlich als überlang zu bewerten ist und einen Entschädigungsanspruch auslöst. In den vielen Fällen, in denen Richter entscheiden, dass die Kollegen alles richtig gemacht haben, dass ein langes Gerichtsverfahren trotzdem nur als angemessen und eben nicht als überlang bewertet wird, wird das nicht immer die gewünschte Akzeptanz finden. Deshalb wäre es schön, an dieser Stelle nicht ausschließlich professionelle Richter mit der Entscheidung zu betrauen, sondern auch die Bewertung durch Laien einfließen zu lassen. In den Gerichtsbarkeiten, in denen Laienrichter im Spruchkörper integriert sind, ist dieses bürgerschaftliche Element bereits vorgesehen. Wir sollten prüfen, ob und wie man dies darüber hinaus auf die anderen jeweils zuständigen Gerichte übertragen kann. Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute den Entwurf der Bundesregierung zu dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die mit diesem Gesetz verbundenen Maßnahmen zur Beschleunigung von Verfahren und vor allem zur Vermeidung von überlangen Verfahren werden seit langem vielfach gefordert. Lassen sie mich zunächst ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen. Worum geht es bei dem Gesetzentwurf? Mit dem Gesetz soll eine Rechtsschutzlücke geschlossen werden. Das Gesetz gibt dem Rechtsuchenden die Möglichkeit, bei Gericht die Rüge des überlangen Verfahrens zu erheben und auch eine Entschädigung hierfür zu beanspruchen. Die Entschädigung umfasst materielle und in Einzelfällen auch immaterielle Nachteile. In Strafverfahren darüber hinaus sind besondere Wiedergutmachungsmöglichkeiten vorgesehen. Über die Entschädigung sollen dann die jeweils nächsthöheren Instanzen entscheiden. Ich denke, eine Regelung ist notwendig. Bei den Prozessbeteiligten, insbesondere bei Klägern im Zivilprozess, geht oftmals das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren, wenn Prozesse so lange dauern, vor allem wenn es um richtig viel Geld geht. Wenn gerade bei Mittelständlern eine erhebliche Forderung nicht beglichen wird, kann das oftmals für den Gewerbebetrieb eine Existenzgefährdung bedeuten, weil dieser durch einen Forderungsausfall nicht selten in Liquiditätsprobleme kommt. Ein gerichtlicher Rechtsschutz ist nur dann effektiv, wenn er nicht zu spät kommt. Deshalb garantieren Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG als auch die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1 einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit. Die Schaffung eines Entschädigungsanspruchs bei überlangen Gerichtsverfahren ist im Grundsatz zu begrüßen. Damit wird dem Gedanken des Grundgesetzes, betroffenen Bürgern effektiven Rechtsschutz zu gewähren, Rechnung getragen. Zum effektiven Rechtsschutz zählt nach meiner Auffassung nämlich auch die Garantie eines raschen Rechtsschutzes. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits mit einem Urteil vom 26. Oktober 2000 entschieden, dass bei überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren neben dem Recht auf ein faires und zügiges Verfahren auch das in Art. 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde verletzt sein kann. Danach muss ein betroffener Bürger die Möglichkeit haben, einen Rechtsbehelf wegen der überlangen Verfahrensdauer bei einer staatlichen Stelle einzulegen und sich damit gegen eine unangemessene Verfahrensdauer zu wehren. Bislang sieht die deutsche Rechtsordnung einen solchen Rechtsbehelf bei überlangen Gerichtsverfahren ausdrücklich nicht vor. Das geltende deutsche Recht hat keinen speziellen Rechtsbehelf bei überlanger Dauer von gerichtlichen Verfahren, wenn man einmal von der Dienstaufsichts- und der Verfassungsbeschwerde absieht. Die Rechtsprechung lässt zwar kraft richterlicher Rechtsfortbildung eine außerordentliche Beschwerde, eine Untätigkeitsbeschwerde zu, aber um Rechtsbehelfsklarheit für alle Gerichtszweige zu erzielen, erscheint eine Normierung geboten. Und dennoch, liebe Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, besteht bei einigen Punkten aus meiner Sicht noch Klärungsbedarf. Und dennoch, liebe Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, nur eine gute Absicht zu haben, reicht nicht aus! Wichtig erscheint mir, dass insbesondere bei der Entschädigungsregelung noch Klärungsbedarf besteht. Nach meiner Überzeugung ist es notwendig und richtig, dass die Entschädigung nicht erst ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Verfahrensrüge durch den Betroffenen zu leisten ist. Nein, sie muss rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Beginns des Verfahrens geleistet werden, damit sie auch eine präventive Wirkung bei den Gerichten entfalten kann. Aber nicht nur das: Auch würde eine solche Regelung verhindern, dass ein Anwalt wegen der zu erwartenden höheren Entschädigungssumme frühzeitig im Verfahren diese Rüge vorbringt. Und Sie müssen die Voraussetzungen konkretisieren, nach denen Entschädigungszahlungen auch dann geleistet werden, wenn die Schäden der Betroffenen keine Vermögensschäden sind. Nach meiner Auffassung ist der von Ihnen in den Gesetzentwurf geschriebene Regelbedarf von 100 Euro pro Monat Verfahrensdauer in den meisten Fällen absehbar zu niedrig angesetzt. Gerade bei den von mir beschriebenen Fällen, wo wirtschaftliche Existenzen bedroht sind, bietet sich beispielsweise auch eine zeitliche Staffelung - zum Beispiel ab einem gewissen Zeitpunkt pro Monat 200 oder 300 Euro - an. Die vorgesehene Öffnungsklausel könnte beispielsweise auch entsprechend entwickelt und konkretisiert werden. Gerade auch als jemand, der in seinem Leben vor der Politik als Jurist und Bürgermeister tätig war, will ich mir erlauben, abschließend auf einige praktische Bedenken hinzuweisen: Erstens. Wenn man den Art. 22, also die Übergangsvorschriften des Gesetzentwurfes, liest, muss man befürchten, dass mit Inkrafttreten des Gesetzes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über alle Gerichtszweige über die Gerichte hereinbrechen könnte, wenn auch möglicherweise zu einem guten Teil unsub-stanziiert. Zweitens. Darüber hinaus muss man befürchten, dass zuerst die Verfahren bearbeitet werden, in denen die Rüge erhoben wurde, und dann unter Umständen hierbei die Fälle zuerst, in denen die Rüge substanziiert erscheint und es beispielsweise im Zivilrecht um hohe potenzielle Schäden oder Summen geht! Das wäre dann eine Bevorzugung der Fälle mit hohem Streitwert, und das kann nicht Sinn der Gesetzgebung sein. Drittens. Generell ist zu befürchten, dass Anträge auf Fristverlängerung und Terminverlegung - auch da, wo es juristisch geboten ist und sinnvoll erscheint - restriktiver gehandhabt werden, um den etwaigen Vorwürfen der überlangen Verfahrensdauer von vornherein den Boden zu entziehen. Viertens. Schließlich gilt es zu bedenken, dass es für Gerichte bzw. Richter auch eine Rolle spielen könnte, welche Schadenersatzansprüche sie durch überlange Verfahrensdauer ausgelösen würden. Mit anderen Worten, wir dürfen Richter auch nicht dem Vorwurf aussetzen, lieber schnell anstatt richtig entschieden zu haben. Zusammenfassend will ich feststellen, dass auch nach meiner Überzeugung der mittelbare Druck auf das entscheidende Gericht verstärkt wird. Insofern wird die Regelung präventiv eher zu einem zügigen Gerichtsverfahren führen. Ich bin allerdings davon überzeugt, liebe Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, dass es in jedem Fall geboten und notwendig ist, die Verfahrensdauer auch dadurch zu verkürzen, dass Sie für eine bessere Ausstattung an Personal- und Sachmitteln sorgen. Auch an dieser Stelle müssen Sie zweifellos noch deutlich nachbessern. Und, damit komme ich dann zum Schluss, wenn ich dann lese, dass das Bundesministerium für Justiz selbst davon ausgeht, dass die Schadenersatzansprüche nicht unbedingt zu Mehrbelastungen der öffentlichen Haushalte führen, weil die Richter jetzt schneller entscheiden und im Gegenzug zukünftig die Kosten der Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegfallen, dann ist, zurückhaltend formuliert, auch an dieser Stelle noch erheblicher Klärungsbedarf. Insofern hoffe ich, dass meine Bedenken bzw. die Bedenken der SPD-Fraktion im Gesetzgebungsverfahren noch Berücksichtigung finden können. Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt, sollte besonders gut werden. Die Hinweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte blieben zehn Jahre ungehört. Mehrfach wurde die Bundesrepublik Deutschland auf eine Lücke im deutschen Recht aufmerksam gemacht. Wer vor einem Gericht klagt, erwartet ein Urteil in angemessener Zeit. Das verlangen auch das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention. Nach zehnjähriger Untätigkeit versucht die Bundesregierung mit dem vorliegenden Entwurf, diese Lücke zu schließen. Wie jeder sehen kann, benötigt sie dazu einen unangemessenen Zeitraum; eine Untätigkeitsrüge gegenüber der Regierung ist damit mehr als angebracht! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll für die Menschen, deren Gerichtsprozesse zu lange dauern, ein gesetzlicher Entschädigungsanspruch eingeführt werden. Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausreichende personelle und sachliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit es gar nicht erst so weit kommt. Durch das nun vorgeschlagene Entschädigungsverfahren werden aber unnötig weitere Kapazitäten bei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzögerungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch die Entscheidung über den Entschädigungsantrag gebunden. Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsacheverfahren, liegen. Die von der Koalition angedachte Beschleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt. Die Einführung der Entschädigungsregelung ändert nichts an dem Missstand überlanger Verfahren. Vielmehr wird die ohnehin schon überlastete Justiz zusätzlich belastet. Scheinbar gehen Sie davon aus, dass die Richterinnen und Richter im Moment noch über ausreichend freie Arbeitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzögerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so. Und das sage ich Ihnen aus zwanzigjähriger Erfahrung als Arbeits- und Sozialrichter. Die einzige Gefahr, die ich mit der Einführung sehe, ist, dass die betroffenen Richterinnen, Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingang einer Verzögerungsrüge auf Kosten anderer - ebenfalls wichtiger und dringlicher Verfahren - vorziehen. Ich habe einen anderen Lösungsvorschlag: Sorgen Sie für eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben Sie der Justiz mehr Autonomie, dann bekommen wir die Probleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff. Die Krankheitssymptome zu kaschieren, ist der falsche Weg. Die eigentlichen Ursachen dieses Phänomens werden damit jedenfalls nicht beseitigt. So wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswidrige Hartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den Sozialgerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs Jahren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der Sozialgerichtsbarkeit und damit zu unzumutbaren Belastungen für die rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bürger geführt. In ihrer Not haben die Landesjustizminister Ressourcen aus den anderen Gerichtsbarkeiten verlagert. Auch innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit selbst wurden Stellen zum SGB-II-bearbeitenden Bereich zulasten der übrigen Bereiche wie Rentenversicherung, Krankenversicherung oder Unfallversicherung umgeschichtet. Da muss sich niemand mehr wundern, wenn ein rentenrechtliches Verfahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über die Instanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigt und im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen überlanger Verfahrensdauer abgeschlossen wird. Derartige Beispiele lassen sich zuhauf finden, und ihre Zahl wird sich auch trotz des nun vorgesehenen Entschädigungsanspruchs nicht signifikant ändern. Da wir gerade beim SGB II sind: Was bleibt eigentlich einem Hartz-IV-Empfänger, wenn er eine Entschädigung für ein mehrere Jahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt? Wahrscheinlich nichts; denn diese wird wohl auf seine Regelleistungen angerechnet! Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbetrages, der Nichtvermögensschäden ausgleichen soll, lehnen wir ab. Stattdessen sollte der Betrag von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung als Untergrenze und nicht als fester Entschädigungsbetrag festgelegt werden. In anderen derartigen Fällen hat der Gesetzgeber es den Gerichten überlassen, den angemessenen Betrag unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzusetzen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlichen psychischen Belastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinnvoll. Das Entschädigungsmodell soll für alle Gerichtsbarkeiten gelten und das jeweilige Oberlandesgericht soll eine Allzuständigkeit für Entschädigungsverfahren aller übrigen Gerichtsbarkeiten erhalten. Mir ist schleierhaft, wie Richterinnen und Richter am Oberlandesgericht schwierige steuerrechtliche, verwaltungsrechtliche oder arbeitsrechtliche Sachverhalte hinsichtlich einer damaligen Möglichkeit zur Beschleunigung bewerten sollen. Irgendwie drängt sich der Verdacht auf, dass nach dem Prinzip "linke Tasche, rechte Tasche" verfahren wird. Greifen Sie unsere Vorschläge auf, dann können wir dem Gesetzentwurf zustimmen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema der überlangen Gerichtsverfahren ist von grundlegender Bedeutung für die Rechtspolitik. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Bundesrepublik bereits in 54 Fällen verurteilt mit der Begründung, dass überlange Gerichtsverfahren gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Eines dieser Verfahren dauerte 13 Jahre lang. Dabei stritt man sich damals nicht einmal um eine juristisch besonders komplexe Materie. Es ging ausschließlich um die Erteilung eines Waffenscheins. In einem anderen Fall musste ein Unfallopfer 24 Jahre auf seine Entschädigung warten. Es war von einer Radfahrerin angefahren worden. Dabei hatte es sich Nase und Arm gebrochen und konnte anschließend seinen Beruf nicht mehr ausüben. Derart lange Verfahren führen die Rechtssuchenden oftmals an den Rand der Verzweiflung. Richtig ist aber auch: Die Alltagsrealität an den deutschen Gerichten ist das nicht. Überlange Gerichtsverfahren sind glücklicherweise kein Massenphänomen, sie sind die Ausnahme. Deutschland weist sich im Allgemeinen durch ein gutes und funktionierendes Rechtssystem aus. Was schlägt nun die Bundesregierung vor, um das Problem der überlangen Gerichtsverfahren zu lösen? Die Bundesregierung will für überlange Gerichtsverfahren einen Entschädigungsanspruch einführen. Um diesen Entschädigungsanspruch durchzusetzen, muss die Klägerin bzw. der Kläger zuvor im Verfahren die lange Verfahrensdauer gerügt haben. Die Entschädigung umfasst materielle Nachteile. Sie umfasst auch immaterielle Nachteile. Dann beträgt sie 1 200 Euro pro Jahr, bei Unbilligkeit kann ein höherer oder niedrigerer Betrag festgesetzt werden. Wenn man sich diesen Vorschlag genauer anschaut, dann stellt man fest: Die Entschädigung für immaterielle Nachteile kann nur beansprucht werden - ich zitiere -, "soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise ... ausreichend ist". "Wiedergutmachung auf andere Weise" bedeutet: die bloße Feststellung, dass das Verfahren zu lange gedauert hat, mehr nicht. Wir fragen uns: Was bringt dem Rechtsuchenden eine solche Feststellung, die er sich dann stolz auf seinen Schreibtisch legen kann? Aus unserer Sicht nicht wirklich viel. Wir Grünen setzen uns deshalb für eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses ein. Mit anderen Worten: Jede und Jeder soll Anspruch auf eine Entschädigungszahlung haben, wenn ein Verfahren zu lange dauert. Nur in besonderen Fällen soll die alleinige Feststellung der überlangen Verfahrensdauer ausreichen. Auch die Höhe der Entschädigungszahlung überzeugt nicht, wenn wir überlangen Verfahren wirklich vorbeugen wollen. Lassen Sie uns noch einmal einen Blick in den vorgelegten Entwurf werfen. Dort steht geschrieben: "Die Entschädigung ... beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung." Die Entschädigung wird also nicht nach Monaten, sondern nach Jahren berechnet. Das bedeutet wiederum, dass derjenige, dessen Verfahren sich "nur" um 11 Monate verzögert, leer ausgeht. Auch meinen wir, dass eine reine Entschädigungslösung zu kurz gegriffen ist. Wir müssen zusätzlich die Kontrollmechanismen innerhalb der Gerichte stärken. Wenn sich das Präsidium eines Gerichts alle Vorgänge vorlegen lassen müsste, die nicht innerhalb eines Jahres abgeschlossen sind, würde eine bessere und kontinuierlichere Kontrolle innerhalb der Gerichte stattfinden. Das Präsidium müsste dann feststellen, aus welchem Grund ein Verfahren zu lange dauert. Sollte dieser in der Struktur bzw. der Aufgabenverteilung liegen, sollte das Präsidium die Möglichkeit erhalten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Gesetzlich könnte das zum Beispiel im Deutschen Richtergesetz verankert werden. Über das Gerichtsverfassungsgesetz könnten wir regeln, dass die Gerichtspräsidien einen erweiterten Bedarf an Richterstellen dem zuständigen Parlament als Haushaltsgesetzgeber zur Entscheidung zuleiten. Wir Grünen werden uns in dieser Sache weiterhin aktiv am parlamentarischen Verfahren beteiligen, um den Bürgerinnen und Bürgern geeignete Mittel gegen überlange Verfahren an die Hand zu geben. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz: Die Justiz in Deutschland arbeitet im Ganzen gesehen zügig; sie entscheidet rasch, und sie ist damit bürgerfreundlich. Ganz gleich, ob Strafverfahren, ziviler Rechtsstreit oder Fachgerichtsbarkeit, die allermeisten Verfahren können in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werden. Bei den Amtsgerichten zum Beispiel wird die Hälfte aller Zivilverfahren innerhalb von drei Monaten erledigt. Trotzdem kommen leider immer wieder Einzelfälle vor, in denen Prozesse viel zu lange dauern. Wenn aber jahrzehntelang Unsicherheit besteht, ob eine Forderung besteht oder wie über eine Anklage entschieden wird, dann kann dies für die Betroffenen eine enorme Belastung sein. In Zukunft sollen Bürgerinnen und Bürger deshalb vor überlangen Gerichtsverfahren besser geschützt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat schaffen; er soll für alle Gerichtsbarkeiten gelten, und er bezieht auch die obersten Bundesgerichte und das Bundesverfassungsgericht mit ein. Damit wollen wir zugleich dafür sorgen, dass in Zukunft überlange Verfahren noch seltener vorkommen als heute. Bislang gibt es im deutschen Recht keinen Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren. Diese Lücke müssen wir schließen; denn sie ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein strukturelles Defizit. Nach den Vorgaben des Gerichtshofs muss Deutschland dieses Defizit bis spätestens Ende 2011 beheben. Wir stehen hier also völkerrechtlich in der Pflicht. In der Pflicht stehen wir aber auch verfassungsrechtlich. Das Bundesverfassungsgericht hat stets den hohen Rang der Prozessgrundrechte bekräftigt. Zu ihnen gehört das Recht, dass in einem Verfahren nach angemessener Zeit auch entschieden wird. Die Vorgaben sind also klar. Trotzdem sind in der Vergangenheit alle Lösungsversuche an politischen Widerständen gescheitert. Ich freue mich deshalb sehr, dass es inzwischen einen breiten Konsens darüber gibt, dass wir den Rechtsschutz gegen überlange Verfahren endlich verbessern müssen. Auch inhaltlich wird das Konzept der Bundesregierung von den Ländern und den Verbänden der Richter- und Anwaltschaft im Grundsatz mitgetragen. Viele sind mit mir der Meinung, dass wir den Entschädigungsanspruch davon abhängig machen sollten, dass die Betroffenen zuvor eine Verzögerungsrüge erheben. Eine solche Vorwarnung dient der Prävention. Sie soll das Gericht dazu bewegen, das Verfahren zu beschleunigen und es gar nicht erst zu einem überlangen Verfahren kommen zu lassen. Natürlich hat es an unserem Entwurf an der einen oder anderen Stelle Kritik gegeben. Manche Länder meinen, der Entwurf gehe zu weit und könne die Länderhaushalte mehr als nötig belasten. Demgegenüber wollen Teile der Anwaltschaft sogar mehr, als der Regierungsentwurf vorschlägt; sie wollen eine Kombination aus Entschädigung und einer echten Beschwerdemöglichkeit an ein höheres Gericht. Wenn ein Gesetzentwurf den einen zu weit und den anderen nicht weit genug geht, gibt das Anlass zu der Annahme, dass er genau richtig liegt, nämlich in der Mitte. Die Regelung ist so ausgestaltet, dass für die Justiz keine unnötigen Mehrbelastungen entstehen. Wir verzichten ganz bewusst darauf, für den notwendigen Rechtsschutz ein neues Nebenverfahren zu eröffnen. Das würde nur zusätzlichen Aufwand schaffen. Stattdessen bekommen die Richter, um deren Verfahren es geht, die Möglichkeit, bei berechtigten Verzögerungsrügen Abhilfe zu leisten und so einen Entschädigungsprozess zu verhindern. Nur wer nach einer solchen Vorwarnung an den Richter sein Verfahren immer noch für zu langsam hält, der kann eine Entschädigung verlangen. Liegen die Voraussetzungen vor, werden Vermögensnachteile und Nichtvermögensnachteile ersetzt. Dabei kommt es übrigens nicht auf ein Verschulden der einzelnen Richter an. Der Staat trägt auch dann die Verantwortung, wenn ein Verfahren aus strukturellen, also vom einzelnen Richter nicht zu vertretenden Gründen unangemessen lange dauert. Wenn es in Einzelfällen berechtigte Klagen über zu lange Verfahren gibt, dann muss man auch über Verbesserungen nachdenken. Das bedeutet aber nicht automatisch Mehraufwendungen für die Ausstattung der Gerichte. Verbesserungen lassen sich auch und gerade durch die Geschäftsverteilung und die Organisation in der Gerichtsbarkeit erreichen. Das neue Gesetz kommt deshalb nicht nur den Beteiligten eines Gerichtsverfahrens zugute, sondern es dient auch der Justiz insgesamt. Damit stärken wir den Rechtsstaat, und deshalb hoffe ich auf eine breite Zustimmung für dieses Projekt. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Tagesordnungspunkt 14) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Nach dem EU-Afrika-Gipfel Ende November letzten Jahres in Tripolis debattieren wir heute in zweiter und dritter Lesung den Antrag der Fraktion Die Linke "Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisieren und gerecht gestalten". Im Fall Ihres Antrags muss ich sagen: Papier ist geduldig. Aber Papier sowie Ihr undifferenzierter Antrag entwickelt sich manchmal auch genauso schnell, wie es beschrieben wird, zur Makulatur. Wenn Sie den Verlauf des Gipfels in Tripolis mit seinen Verhandlungsergebnissen verfolgt haben, dann werden Sie feststellen, dass Konsens über die Wichtigkeit der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten der EU und den Mitgliedstaaten der AU herrscht. Die Handels- und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den Ländern des afrikanischen Kontinents müssen als das begriffen werden, was sie sind, nämlich als Chancen für sozialen Aufstieg, wirtschaftlichen Fortschritt, politische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Darin liegt der Unterschied zu Ihrer "kolonialen Dominanz", die Sie in diesen Handelsbeziehungen erkennen wollen. Der Gewinn durch Handelsbeziehungen ist ungleich größer, als jede Form von Entwicklungszusammenarbeit es jemals sein kann. Die Linke tritt ja bekanntermaßen für mehr Solidarität der Menschen untereinander ein. Jetzt ist nur die Frage: Was ist überhaupt Ihre Definition von Solidarität? Ist Solidarität der Tropf der Entwicklungshilfe, wie es Ihr Antrag implizit fordert? Oder ist Solidarität, wie wir sie sehen, Partnerschaft, in der beide Partner, in unserem Fall Europa und Afrika, einander auf Augenhöhe begegnen und wirtschaftlich kooperieren? In Ihrem Fall sehe ich den Begriff Solidarität leider nur als ein Verharren im Status quo. Wozu eine Partnerschaft anstreben? Sie wollten doch am liebsten zurück in das von Ihnen kritisierte Geber-Nehmer-Verhältnis. Nur hier können Sie Mitleid haben und Ihre ideologische Rhetorik vortragen. Aber dieses Nichtsgetue macht die Menschen nicht satt und schafft auch keine Existenzgrundlage. Das sollten Sie sich endlich eingestehen. Wie in Ihrem Antrag dargestellt, sehen Sie das Konzept der zivilen Krisenprävention und der vernetzten Sicherheit als Wurzel staatlicher Repression und indirekt als Ursache für Menschenrechtsverletzungen. Nun, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie das Konzept einfach nicht verstanden haben. Die Krisenprävention, wie der Name sagt, beugt Krisen vor. Dabei sind Krisenprävention und vernetzte Sicherheit eine kohärente Strategie zur Problembewältigung. Nicht die militärische Intervention steht im Vordergrund, sondern die Vermeidung bewaffneter Konflikte und Krisen. Wer wie im Kongo, im Sudan und in Somalia den Schutz und die Sicherheit der Bevölkerung sicherstellen will, der muss dafür sorgen, dass ein Staat auf eigenen Füßen stehen kann. Dazu zählt notwendigerweise auch der Aufbau einer funktionierenden Polizei und von Streitkräften. Aber wenn Sie, wie in Ihrem Antrag auf Drucksache 17/4248, den sofortigen Abzug deutscher Ausbilder aus Uganda fordern, die dort Sicherheitskräfte für Somalia ausbilden, dann zeigt dies wieder einmal, wer sich mit der Thematik befasst hat oder nicht. Deutschland und die Europäische Union haben ein Interesse an starken, selbstständigen afrikanischen Staaten. Dazu wollen wir in Afrika Wirtschaftswachstum generieren. Doch wirtschaftliche Entwicklung setzt ein Mindestmaß an Stabilität voraus, die wir politisch begleiten müssen. Dazu gehören ein zuverlässiges Steuer- und Rechtssystem sowie eine gute Regierungsführung, die die Achtung der Menschrechte als erstes Paradigma vertritt. Die Einigkeit in dieser Frage kam auch auf der Abschlusserklärung des EU-Afrika-Gipfels in Tripolis zum Ausdruck. Nur mit einem gemeinsamen Voranschreiten in diesen Fragen werden wir Armut und Hunger in Afrika besiegen können. Und, ich wiederhole es hier noch einmal: Dies passiert in jedem Staat einzeln, unter der Berücksichtigung der Eigenheiten jedes Landes. Ihre "koloniale Dominanz" tritt darin hervor, dass Sie ganz Afrika über einen Kamm scheren. Deutschlands Ausgaben im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit steigen stetig. Dies ist ein Zeichen, wie ernst wir unsere Verantwortung nehmen. Ganz recht, wie Sie sagen: Migration kann nur in den Ländern, in denen die Ursachen liegen, wirkungsvoll bekämpft werden. Dafür treten wir ein. Deswegen haben wir im Jahr 2009 3 478 Millionen Euro in die afrikanischen Länder südlich der Sahara transferiert. Aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind auch die deutschen Unternehmen, die in zahlreiche afrikanische Länder investieren und so einen Mehrwert für die Menschen vor Ort schaffen. Wirtschaftlicher Austausch führt immer zu beiderseitigem Gewinn. Die Chancen, die darin liegen, gilt es zu nutzen. Hervorheben möchte ich hierbei den Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie, der in Tripolis erwähnt wurde. Hier schlummert ein riesiges Potenzial, das es zu wecken und zu fördern gilt. Auch müssen wir den Bereich des Public-private-Partnership stärker in unsere Entwicklungsbemühungen einbeziehen und fördern. Ein Punkt Ihres Antrags ist die Neuausrichtung der Rohstoff- und Energiepolitik auf regenerative, umweltverträgliche, gerechte und Konflikte vermeidende Strategien der Energieversorgung. In diesem Punkt Ihres Antrags stimme ich Ihnen vollkommen zu. Das Problem ist nur, dass Sie hier der Zeit etwas hinterher sind. Genau dies setzten wir schon lange um. Der Schutz der Umwelt ist ein ausgewiesenes Ziel der MDG. Eine nachhaltige Energieversorgung geht damit unzweifelhaft einher. Dies sahen auch die Staaten in Tripolis so. Der Ausbau eines Marktes für nachhaltige Energien insbesondere mit Investitionen in den Bereich der erneuerbaren Energien wird angestrebt, wie die Abschlusserklärung verlauten lässt. Ein Technologie- und Wissenstransfer kann dem großen Vorschub leisten. In Ihrem Antrag plädieren Sie für die Herstellung von Ernährungssouveränität in den afrikanischen Ländern. In diesem Punkt muss ich Ihnen beipflichten. Aber ich frage mich: Haben Sie die Entwicklung der letzten Jahre verfolgt? Es ist ein ausgemachtes Ziel, die afrikanische Landwirtschaft zu stärken. Daran wird mit vollem Elan gearbeitet. Ihre Forderung ist insofern nichts Neues. Gut wäre es, wenn Sie hierzu eigene Ansätze einbringen würden. Zu allerletzt noch eine Bitte an die linke Seite dieses Hauses: Sie werden den Chancen des Kontinentes Afrika mit solchen ideologisch geprägten Anträgen nicht gerecht. Noch weniger hilft es, die noch bestehenden Probleme zu lösen. Dies wird unter anderem dadurch deutlich, dass uns die Bevölkerung der Elfenbeinküste bittet, die Wählerentscheidung der Präsidentschaftswahlen vom 28. November 2010 durchzusetzen und Herrn Ouattara als gewählten Präsidenten anzuerkennen. Dies steht im krassen Gegensatz zu einer Äußerung eines Mitglieds der Fraktion der Linken in der Zeitung Das Parlament, keinen der beiden Kandidaten zum Wahlsieger zu erklären und die Wahlen zu wiederholen. Mit dieser Forderung steht die Linke wieder einmal gegen die gesamte Weltgemeinschaft. Kümmern Sie sich endlich um die Belange der Menschen dieses Kontinents, aber instrumentalisieren Sie die Nöte der Menschen nicht mehr zu Ihren Zwecken. Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das dritte Gipfeltreffen von Europäischer Union und den afrikanischen Staaten am 29. und 30. November 2010 in Tripolis war ein weiterer wichtiger Schritt zu einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe. Bedauerlicherweise hat die Bundeskanzlerin nicht an dem Gipfel teilgenommen und stattdessen ihren Außenminister geschickt. Dies ist eine völlige Fehleinschätzung seitens der Kanzlerin über die Bedeutung Afrikas in der Zukunft. Denn: Die Realität sieht anders aus. 1 Milliarde Menschen in 53 Ländern Afrikas erwarten zu Recht, dass die europäisch-afrikanische Partnerschaft nach dem Gipfel nicht nur in gut gemeinten Absichtserklärungen stattfindet, sondern konkret gelebt und weiter ausgebaut wird. Dazu haben sich die Staats- und Regierungschefs mit dem verabschiedeten Aktionsplan ein ehrgeiziges Ziel bis zum nächsten Gipfel 2013 in Brüssel gesetzt. Um es deutlich zu sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt den Aktionsplan. Allerdings kritisieren wir, dass es keinen verbindlichen Finanzierungsplan zu dessen Umsetzung gibt. Deshalb fordern wir alle Beteiligten - die Europäische Union, die afrikanischen Partnerländer und natürlich auch die Bundesregierung - auf, den Worten nun Taten folgen zu lassen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Der Antrag der Fraktion Die Linke, über den wir heute beraten, beschränkt sich im Wesentlichen auf wirtschafts- und sicherheitspolitische Aspekte und bleibt somit unvollständig. Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag deshalb ab. Vielmehr muss es darum gehen, die Entwicklung der afrikanischen Partnerländer in allen Politikbereichen zu fördern und nachhaltig zu stärken. Worum geht es uns konkret? Zum einen geht es um die künftige Ausgestaltung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Auch hier müssen die gemeinsamen Interessen und das Verbindende in den Vordergrund gerückt werden. Die Zeiten des Exportkolonialismus, bei dem es nur darum ging, neue Absatzmärkte für die Industriestaaten zu erschließen, sind glücklicherweise endgültig vorbei. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang ausdrücklich bei EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bedanken, dem es vor allem zu verdanken ist, dass auf dem EU-Afrika-Gipfel alle Beteiligten bei der Frage der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen einen oder gar mehrere Schritte aufeinander zugegangen sind. Das ist ein Verdienst und für uns das richtige Verständnis von Partnerschaft auf Augenhöhe. Dazu gehört übrigens auch der Aufbau einer Rohstoffpartnerschaft, bei der es nicht nur darum gehen kann, die Rohstoffe in Afrika für Europa auszubeuten. Stattdessen fordern wir die Eindämmung des illegalen Rohstoffabbaus und die Ausweitung der Zertifizierung. Ich begrüße den entsprechenden Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit der Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie - EITI - ein wirksames Controlling aufzubauen. Mit der Annahme des US-Gesetzes über Konfliktmineralien, Conflict Minerals Law, und des Cardin-Lugar-Act, der umfangreiche Berichtspflichten der Rohstoffindustrie vorsieht, wurden zudem große Schritte zu mehr Transparenz und zur Bekämpfung von Korruption und illegaler Rohstoffausbeutung in Afrika gemacht. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Kommission und die Bundesregierung auf, schnellstmöglich entsprechende Vorschläge für die Rückverfolgbarkeit von in den europäischen Markt eingeführten Mineralien und für mehr Transparenz in der Rohstoffwirtschaft vorzulegen. Letztlich brauchen unsere afrikanischen Partner und wir eine gemeinsame Rohstoffstrategie, die umwelt- und sozialverträglich ausgestaltet ist und auch der örtlichen Bevölkerung zugutekommt. Um es aber klar zu sagen: Wirtschaftliche Zusammenarbeit im Sinne von nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit muss sich auch an der Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Standards messen lassen. Bei der Verhandlung und Durchführung der Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika ist sicherzustellen, dass die von der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, vorgegebenen Sozialstandards - die sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen - und ökologische Mindeststandards verbindlich festgeschrieben und eingehalten werden. Ziel ist es, die Voraussetzungen zu verbessern, damit die Menschen durch Erwerbsarbeit ein existenzsicherndes Einkommen erhalten. Dies war übrigens - in Verbindung mit Wachstum und Investitionen - eine zentrale Frage des EU-Afrika-Gipfels. Die Leitlinien für die Umsetzung des Aktionsplans sind für uns eindeutig. Eine Grundvoraussetzung dafür ist zunächst einmal die Bereitschaft der Geberländer, ihre internationalen Zusagen und Verpflichtungen einzuhalten, allen voran die Erfüllung der sogenannten ODA-Quote. So hatte sich Deutschland verpflichtet, diese öffentliche Entwicklungshilfe im Jahr 2010 auf 0,51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Davon sind wir weit entfernt. Das Ziel, im Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu kommen, wird diese Bundesregierung - wenn sie so weitermacht - nie und nimmer erreichen. Wir begrüßen deshalb, dass sich die Staats- und Regierungschefs in ihrer Abschlusserklärung erneut zu dem 0,7-Prozent-Ziel bekannt haben und dass in diesem Rahmen für die nächsten drei Jahre Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliarden Euro zugesagt wurden; denn eines ist klar: Ohne die Einhaltung dieser Zusagen sind die Millenniumsentwicklungsziele und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in den Partnerländern nicht zu erreichen. Aber genau das wollen wir. Wir wollen die nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Partnerländer fördern und stärken. Dazu gehört zum Beispiel der Aufbau stabiler Strukturen für eine gute und transparente Regierungsführung. Wir wollen die Armut und den Hunger in den afrikanischen Ländern bekämpfen. Ein wesentlicher Schlüssel ist dabei der Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung - vor allem solidarisch organisierter Gesundheitssysteme. Nur so kann es gelingen, gerade für die Ärmsten der Armen eine Absicherung gegen alle Risiken von Krankheit zu gewährleisten. Gewinnorientierte privatwirtschaftliche Systeme sind der falsche Weg. Damit Gesundheitssysteme aber auch praktisch funktionieren, muss die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte - der sogenannte Braindrain - aus Afrika gestoppt werden. Damit diese Fachkräfte wieder in ihr Land zurückkehren, bedarf es starker Anreize. Die Einstellung und angemessene Entlohnung von Gesundheitsfachkräften müssen deshalb direkt gefördert werden. Im Bereich der Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit ist die Stärkung der Kampagne für die beschleunigte Reduzierung der Müttersterblichkeit in Afrika - CARMMA - zu begrüßen. Bis 2013 soll diese Kampagne in allen 53 Staaten der Afrikanischen Union an den Start gegangen sein. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bereich der Wasser- und Sanitätsversorgung in den neuen Aktionsplan aufgenommen wurde. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte die herausragende Bedeutung dieses Themas für die Menschen in den Partnerländern bereits im Vorfeld des EU-Afrika-Gipfels mit dem Antrag "Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung umsetzen" unterstrichen und so erfolgreich gefordert, dass das Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung ein Schwerpunkt der Europäischen Union bleibt und sich im Aktionsplan des EU-Afrika-Gipfels wiederfindet. Hinsichtlich der Vereinbarungen zum Klima- und Umweltschutz ist der Gipfel jedoch deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zwar ist es erfreulich, dass das Bekenntnis zur gemeinsamen ökologischen Verantwortung erneuert und vertieft wurde. Die gemeinsame Erklärung im Vorfeld der Weltklimakonferenz in Cancún ist, obwohl sie unterschriftsreif vorlag, letztlich nicht zustande gekommen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die Weichenstellungen für eine Energiewende auf dem afrikanischen Kontinent. Dazu gehört das Programm über die Zusammenarbeit zwischen Afrika und der Europäischen Union im Bereich der erneuerbaren Energien sowie die im September 2010 in Wien vereinbarten politischen Zielsetzungen bis 2020. Hier ist die Bundesregierung ganz besonders in der Pflicht, die gemeinsam mit der österreichischen Regierung den Vorsitz der europäisch-afrikanischen Energiepartnerschaft innehat. Der Aktionsplan zur Umsetzung der acht strategischen Partnerschaften ist ein ehrgeiziger Fahrplan für die nächsten drei Jahre. Die mit dem Tripolis-Gipfel gestärkte Partnerschaft von Europäischer Union und Afrika wird sich beim nächsten Aufeinandertreffen 2013 in Brüssel daran messen lassen müssen. Vor allem die EU-Mitgliedsländer sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten. Das Europäische Parlament hat mit seinem Beschluss vom 15. Dezember 2010 den richtigen Weg aufgezeigt. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt zudem ausdrücklich die Forderung, dass es den Europaabgeordneten ermöglicht wird, die Umsetzung des Aktionsplans zu überwachen und so dessen Erfolg bis 2013 zu gewährleisten. Die Bundesregierung muss dabei der Motor in der Europäischen Union sein. Gemeinsam mit den europäischen und afrikanischen Partnern muss ein konkretes Arbeitsprogramm zur Umsetzung der EU-Afrika-Partnerschaft erarbeitet und mit den erforderlichen Finanzmitteln ausgestattet werden; denn sonst geht es weiter wie immer. Großen Ankündigungen auf internationaler Bühne folgt schon bald die Ernüchterung, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. Hier ist durch Schwarz-Gelb in den rund sechzehn Monaten ihrer Regierungszeit viel Vertrauen und Kredit verspielt worden. Deshalb muss endlich Schluss sein mit den leeren Versprechungen. Die SPD-Bundestagsfraktion erwartet, dass die Bundesregierung - allen voran der Entwicklungsminister - sich wieder stärker mit den anderen Geberländern koordiniert. Es kann und darf nicht sein, dass deutsche Entwicklungspolitik mehr und mehr dem Motto "Auf jedem Projekt ein deutsches Fähnchen" folgt. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich wieder zu den erfolgreichen multilateralen Geberinitiativen zu bekennen. Denn eines ist klar: Die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015 und die weltweite Bekämpfung der Armut kann nur gemeinsam gelingen. Dies gilt ganz besonders für den Ausbau der europäisch-afrikanischen Partnerschaft. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir debattieren heute in zweiter Lesung den Antrag der Fraktion Die Linke "Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten". Lassen Sie mich zunächst festhalten: Wir alle sind fraktionsübergreifend überzeugt von der Wichtigkeit der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Afrika und auch davon, dass diese solidarisch und gerecht gestaltet sein müssen. Nur eben in der Ausgestaltung ist der Antrag der Linken erwartungsgemäß ein immer wiederkehrender Angriff gegen die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Afrika. Dabei wirft die Linke der EU und ihren Mitgliedstaaten vor, sie würden durch ihre Handels-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik die kolonialen Dominanzverhältnisse fortsetzen und damit eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Afrika erschweren. Beispielsweise wird die Anschuldigung erhoben, die EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und die Liberalisierung der Märkte seien unausgewogen und eine Bedrohung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung afrikanischer Länder. Die Armut werde damit nicht beseitigt, ja, sie verschärfe sich dadurch sogar. Die Linke lässt außen vor, dass letztlich nur eine wirtschaftliche Entwicklung in den jeweiligen Ländern eine Grundlage für Arbeit und Auskommen ist. Deshalb ist es wichtig, zu betonen, dass eine Zunahme des Handels zwischen der EU und den afrikanischen Ländern entwicklungsförderlich ist. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass bereits insgesamt 35 AKP-Staaten bislang ein (Interims-) Wirtschaftspartnerschaftsabkommen paraphiert haben und ihnen damit zoll- und quotenfreier Marktzugang für Waren in die EU gewährt wird, bei Übergangsfristen für Zucker bis 2015 und für Reis bis 2009. Darunter sind ein umfassendes regionales Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Karibik-Region, CARIFORUM, und ein regionales Interimsabkommen mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft, EAC - East African Community. In allen anderen Regionen haben Subregionen, zum Beispiel südliches Afrika - SADC - bzw. einzelne Länder, Interimsabkommen paraphiert und mit Ausnahme von Namibia auch unterzeichnet. Die Interimsabkommen konzentrieren sich dabei auf den Warenhandel. Sie bilden seit 2008 die Grundlage für die Weiterführung der Verhandlungen mit dem Ziel des Abschlusses umfassender WPAs. Parallel zur Weiterführung der Verhandlungen sollen die unterzeichneten Interimsabkommen umgesetzt werden. In ihrem Antrag kritisieren die Linken auch, dass die EU und Deutschland mit Einzelstaaten oder kleineren Staatengruppen Abkommen geschlossen haben. Hierzu möchte ich sagen, dass Afrika aus 54 eigenständigen Staaten besteht, die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit für jedes Partnerland jeweils unterschiedlich sind und es eine gute EU-Afrika-Strategie ausmacht, gerade auf die spezifischen Interessen, Bedürfnisse und Probleme der afrikanischen Staaten einzugehen. Afrika ist ein an Rohstoffen reicher Kontinent, der es in der Vergangenheit oft versäumt hat, daraus die richtigen Entwicklungswege einzuleiten. Diese Fehler der Vergangenheit dürfen nicht wiederholt werden. Allen sind noch die Worte "Blutdiamanten" und ähnliche Begriffe bekannt. Jetzt gilt es, auch mit unserer und der Hilfe der EU neue Wege zu beschreiten. Öleinnahmen sollten über Fonds für kommende Generationen mit angelegt werden. Das will zum Beispiel Ghana mit deutschen Entwicklungsexperten vorantreiben. Dazu muss das Land aber erst in die Situation versetzt werden, den Schatz "Erdöl" fördern zu können und über Pipelines zu vertreiben. Voraussetzung dafür ist auch der Schutz der Handelsinteressen und der Sicherheit im und um das Land. Im Antrag der Linken heißt es auch, die EU sei nur auf den Schutz ihrer Handelsinteressen aus, beispielsweise durch die Marinemission Atalanta. Außerdem gebe es eine Fokussierung der deutschen und europäischen Afrikapolitik auf den Auf- und Ausbau von Sicherheitsstrukturen in Entwicklungsländern. Auch darüber möchte ich Sie gern aufklären; denn beim nationenübergreifenden Atalanta-Mandat - im Übrigen ist auch China involviert - geht es durchaus um den Schutz des Handels, aber eben zu allererst um den Schutz von Menschenleben und vor Kriminalität durch Piraten. Es wäre absolut unverständlich, würde man der Kriminalität im Golf von Aden nichts entgegensetzen. Man könnte annehmen, die Linken meinen, das Leben eines Seemannes sei weniger wert als das eines Piraten. Aber lassen Sie mich auf einer sachlichen Ebene bleiben. Weiterhin dient der Auf- und Ausbau von Sicherheitsstrukturen der Wiederherstellung der staatlichen Gewalt durch die Stärkung von Polizei und Justiz. In vielen fragilen und zerfallenden Staaten zeigt sich, dass genau der Aufbau der staatlichen Sicherheitskräfte nach demokratischen Spielregeln elementar für die Stabilisierung eines Landes ist und kriminelle Banden nicht plündernd und mordend durch das Land ziehen können. Letztlich geht es hier ebenso um den Schutz der Bevölkerung und den Aufbau der Zivilgesellschaft. Die Vorwürfe gipfeln in der Behauptung, dass sich hinter dem zivilen Engagement häufig die Stärkung staatlicher Repressionsorgane, die paramilitärischen oder militärischen Charakter haben, verberge. Hier scheinen die Antragsteller wohl im Hinterkopf Nordkorea zu haben. Aber genau vor solchen Unterdrückungsstaaten, aus denen früher auch der gesamte Ostblock bestand, möchten wir Afrika bewahren. Dem Antrag liegt die permanente Anschuldigung zugrunde, die Bundesregierung finde sich mit Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen ab, sei sogar willens, selbst davon Gebrauch zu machen. Durch seinen Grundtenor disqualifiziert sich der Antrag als eine ernsthafte sachliche Diskussionsgrundlage. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt diesen Antrag ab. Niema Movassat (DIE LINKE): Jede Afrika-Politik muss sich daran messen lassen, ob sie die Armut in Afrika wirksam bekämpft; denn die Lage dort ist dramatisch: 27 der 29 Länder weltweit, in denen die Ernährung besonders gefährdet ist, liegen südlich der Sahara. Und im Niger und im Tschad herrscht derzeit eine Dürre; die Folgen sind Ernteausfälle und Viehsterben. Rund 2 Millionen Menschen im Tschad - das ist ein Fünftel der Bevölkerung - leiden deshalb an Unterernährung. Im Niger ist sogar jeder zweite Einwohner betroffen! Die Bekämpfung von Armut und Hunger muss in den Beziehungen der EU und Deutschlands zu Afrika deshalb uneingeschränkt im Mittelpunkt stehen, und eben nicht eigene Wirtschaftsinteressen. Was selbstverständlich klingt, ist nicht Praxis. Die Europäische Union und Deutschland haben auf dem EU-Afrika-Gipfel Ende 2010 erneut bekräftigt, dass sie ihre bisherige Politik der einseitigen Verfolgung von Wirtschafts- und Rohstoffinteressen unvermindert fortsetzen wollen. Seit Jahren versucht die EU, sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit afrikanischen Staaten abzuschließen, um den Freihandel zu stärken. Um die Entstehung gleichberechtigter Wirtschaftsbeziehungen geht es dabei aber nicht. In Wirklichkeit sollen diese Abkommen die afrikanischen Märkte einseitig für die Einfuhr von EU-Produkten öffnen. Für hiesige Unternehmen winken neue Absatzmärkte und Gewinne, für Afrika aber noch mehr Armut. Denn mit den oft hoch subventionierten EU-Waren können afrikanische Bauern und Unternehmen nicht konkurrieren. Im Ergebnis werden regionale Märkte und Arbeitsplätze dort vernichtet. So wurden auf dem Ganeshi-Markt in Ghana früher 3 000 lebende Hühner pro Tag verkauft. Seit der Öffnung des ghanaischen Marktes und der darauf folgenden Importschwemme aus Europa aber ist das Geschäft zusammengebrochen: Heute exportieren europäische Länder 1 000 Tonnen Hühnerteile pro Monat nach Ghana. Restfleisch, das hier keiner essen will, wird so zu einem lukrativen Geschäft für europäische Unternehmen. Für den kleinen Hühnerfarmer vor Ort, der gegen die Dumpingpreise nicht mithalten kann, bedeutet es den wirtschaftlichen Ruin. Sollten die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen Realität werden, wird sich die Situation wie in Ghana bald vielerorts wiederholen. Das ist unverantwortlich! Und die Europäische Kommission macht weiter massiven Druck, um die Abkommen durchzusetzen. So hält der Art. 8 des Interimsabkommens mit der SADC-Region, der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft, ausdrücklich fest, dass die EU für die Umsetzung des Abkommens eine Priorität bei der Zuteilung von Entwicklungshilfegeldern gewährt. Das ist nichts anderes als Erpressung und hat mit einer Partnerschaft auf Augenhöhe nichts zu tun! Es ist gut, dass die afrikanischen Staaten sich beim EU-Afrika-Gipfel gegen diese Abkommen positioniert haben. Um eine faire Handelspolitik zu betreiben, müssten Entwicklungsziele in den Abkommen festgeschrieben werden und nicht europäische Wirtschaftsziele! Aber ein Umdenken ist nicht in Sicht: Neueste Strategie der EU und Deutschlands ist es, die Gewährung von Entwicklungshilfe an den freien Zugang zur Ausbeutung afrikanischer Rohstoffe zu knüpfen. "Rohstoffpartnerschaften" heißt das Zauberwort. Im Gegenzug wird die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften vor Ort unterstützt - afrikanisches Personal für die von Deutschland gewünschten Bergbauarbeiten. Das ist ein Einsatz vor allem im eigenen Interesse. Entwicklungsförderung vor Ort sieht anders aus! Echte Entwicklungsförderung würde für die Menschen Möglichkeiten der Existenzsicherung vor Ort schaffen. Sie würde Perspektiven für ein besseres Leben eröffnen und vor der Flucht vor Armut und Hunger bewahren; denn während wir hier debattieren, sind in Afrika circa 18 Millionen Menschen auf der Flucht! Beispielsweise aus Mali, einem der ärmsten Länder der Welt, wo die medizinische Versorgung und das Bildungswesen brachliegen. Vielen Familien sehen dort keinen anderen Ausweg mehr aus der Not, als ein bis zwei Familienmitglieder auf die lebensgefährliche Reise nach Europa zu schicken. Und wie reagiert die Europäische Union darauf? Sie schottet sich mit aller Brutalität vom verarmten Süden ab, setzt Kriegsschiffe gegen die Flüchtlinge ein, schließt Abkommen mit nord-afrikanischen Staaten mit katastrophaler Menschenrechtslage - wie etwa Libyen - zum Stopp von Flüchtlingen. Währenddessen ertrinken täglich Menschen im Mittelmeer, weil ihre Boote seeuntauglich sind. Erst letzte Woche Sonntag sind vor der griechischen Küste wieder 22 Flüchtlinge gestorben. Jeden Tag wird an den Grenzen der Festung Europa die Menschenwürde mit Füßen getreten. Dieser Umgang mit den Flüchtlingen ist für unsere angeblich zivilisierte Gesellschaft die zentrale Schande des 21. Jahrhunderts. Sie ist ein Unrecht, das wir sofort beenden müssen! Die Bekämpfung von Hunger und Armut, die Wahrung der Menschenwürde und ein Umgang auf Augenhöhe müssen endlich die Grundlage deutscher und europäischer Afrikapolitik sein! Es ist Zeit für einen politischen Neuanfang in den Beziehungen zu Afrika! Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): "1,5 Milliarden Menschen, 80 Länder, zwei Kontinente, eine Zukunft" - so beschreibt die Europäische Kommission die Beziehungen zwischen der EU und Afrika. Der jüngste EU-Afrika-Gipfel in Tripolis Ende November letzten Jahres sollte zu einem weiteren winzigen Schritt auf dieser Etappe werden. Die rhetorischen Ergebnisse des Gipfels begrüßen und unterstützen wir. So bekannten sich die Staats- und Regierungschefs in ihrer Abschlusserklärung zum notwendigen Ausbau von Infrastruktur auf dem afrikanischen Kontinent, insbesondere zu der von uns geforderten Aufstockung von erneuerbaren Energien. Als positives Ergebnis des Tripolis-Gipfels begrüße ich es besonders, dass die Herausforderungen und vor allem die Verbindungen und Interdependenzen zwischen Migration und Entwicklung endlich klar angesprochen wurden. Hier muss in den nächsten Jahren allerdings mehr passieren. Die auf dem Gipfel nochmals klar geäußerten Bekenntnisse, etwa zum Ziel der Ernährungssicherheit oder der Bekämpfung von HIV/Aids, unterstreichen einmal mehr, dass die Millenniumsentwicklungsziele zumindest verbal im Mittelpunkt der aktuellen Partnerschaft EU-Afrika stehen. Doch es kommt darauf an, diese hehren Gipfelworte mit Leben zu füllen und den in Tripolis beschlossenen Aktionsplan tatsächlich umzusetzen. Denn auch auf diesem dritten gemeinsamen Gipfel wurde deutlich, dass die EU auf der einen und Afrika auf der anderen Seite von der angestrebten "Partnerschaft auf Augenhöhe" noch weit entfernt sind. Wie sonst lässt es sich erklären, dass die so heiklen und von afrikanischer Seite nach wie vor heftig kritisierten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und Afrika auf dem Gipfel nicht vertieft behandelt wurden, obwohl dies doch ausdrücklicher Wunsch der afrikanischen Partner war? Und wie sonst lässt sich die afrikanische Sorge einordnen, dass die Entwicklungshilfe aus Europa zunehmend an den Zugang zu afrikanischen Rohstoffen gekoppelt wird? Hier besteht seitens der EU noch enormer Nachholbedarf, vor allem auch im Hinblick auf eine kohärente Politik im Sinne der Entwicklung. Auch die Bundesregierung ist angesichts der Ergebnisse von Tripolis in der Pflicht. Denn während sich Deutschland unter Schwarz-Gelb von der Einhaltung des EU-Stufenplans verabschiedet hat, bekennt sich die Tripolis-Erklärung klar zum 0,7-Prozent-Ziel. Die Gipfelerklärung unterstreicht darüber hinaus die Notwendigkeit von innovativen Finanzierungsmöglichkeiten für die Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele. Auf beiden Feldern versagt die Bundesregierung. Das schadet dem Ansehen der Bundesrepublik sowohl bei den afrikanischen Partnern als auch bei den EU-Mitgliedstaaten. Zum Antrag der Linken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in vielen entwicklungs- und handelspolitischen Grundsatzfragen stimmen wir mit der Analyse Ihres Antrages überein. Dies gilt beispielsweise für die kritische Haltung zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Es gilt auch für den wichtigen Hinweis, dass Rohstoffpartnerschaften mit afrikanischen Ländern - seien sie von der EU oder der Bundesregierung initiiert - auf keinen Fall dazu führen dürfen, dass Entwicklungshilfe in irgendeiner Form an den Zugang zu Rohstoffen gekoppelt wird. Hier teilen wir Ihre Haltung. Doch in einigen Punkten werden Ihre Positionen von uns nicht mitgetragen. Wir lehnen den Antrag daher ab. Ihre Forderung nach einer Abschaffung jeglicher polizeilicher und militärischer Kooperation mit den afrikanischen Partnerstaaten, die aus meiner Sicht unvermittelt am Ende des Antrags auftaucht, ist in ihrer Konsequenz viel zu kurz gedacht. Sie orientieren sich außerdem nicht an den Bedürfnissen der afrikanischen Partnerländer. Entwicklungszusammenarbeit im Allgemeinen und insbesondere humanitäre Hilfe ist in Krisen- und Konfliktfällen ohne eine militärische Absicherung häufig einfach nicht realisierbar. Und was ist aus entwicklungspolitischer Sicht an ausgebildeten Polizistinnen und Polizisten, die zur Rechtssicherheit beitragen sollen, zu beanstanden? In dieser Hinsicht liegen wir weit auseinander. Zu kurz gedachte Forderungen finden sich auch in anderen Bereichen Ihres Antrags. So lehnen Sie jegliche Form von Privatisierung ab. Teilprivatisierungen und Privatisierungen können jedoch sinnvoll sein, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und effektive Kontrollbehörden vorhanden sind. Diese aufzubauen und zu stärken, ist auch Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit. Diese Forderungen gehen an der Realität vorbei. Was wir wollen und fordern, das ist die aktive Ausgestaltung einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen der EU und den afrikanischen Staaten. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: - Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen an den Hochschulen initiieren - Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten - Prekarisierung des akademischen Mittelbaus beenden (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU): Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linkspartei legen heute jeweils Anträge vor, die sich mit der Situation und den Zukunftsperspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchs beschäftigen. Für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir in vielen Punkten der Analyse und auch bezüglich der im Antrag formulierten Zielperspektiven zumindest mit den Kolleginnen und Kollegen der Grünen übereinstimmen: Natürlich ist es auch ein vorrangiges Anliegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dem wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland eine möglichst gute Ausbildung und dementsprechende berufliche Perspektiven zu bieten. Ich beziehe hier die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ganz bewusst mit ein; denn dazu findet man in Ihren Anträgen leider nichts. Dabei haben wir gerade auch diesen Punkt im vergangenen Jahr hier im Plenum häufig debattiert. Ich nenne nur die Stichworte Deutschlandstipendium und BaföG-Erhöhung. Dabei tragen diese Instrumente maßgeblich dazu bei, die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland zu verbessern. Das gilt im Übrigen auch für die Arbeit der Begabtenförderungswerke, die im kommenden Jahr mit mehr als 130 Millionen Euro durch den Bund gefördert werden. Rot-Grün hat demgegenüber im Jahr 2005 nur 80 Millionen Euro in die Begabtenförderungswerke investiert. Allein diese Zahl macht deutlich, wie wichtig die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses der Bundesregierung ist. Grundsätzlich sind wir alle uns hier aber bei der Bewertung der Situation einig. Gerade die sogenannte Postdocgruppe, also Nachwuchswissenschaftler mit Promotion, die ihre Zukunft in Forschung und Lehre an der Universität sehen, können an deutschen Hochschulen häufig zunächst nur befristet beschäftigt werden. Einerseits dient dies der ständigen Aktualität gerade in der schnelllebigen Forschung. Andererseits aber ist so eine stringente Planung der Karriere für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler häufig schwierig, sodass manche erst mit Ende 40 erkennen, dass sie die Ziele ihrer Hochschulkarriere nur schwer oder gar nicht erreichen können. Diese Problematik ist im Übrigen auch in der letzten Bestandsaufnahme der Bundesregierung zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland klar benannt worden. Leider scheinen die antragstellenden Fraktionen diesen "Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses (BuWiN)", den das BMBF 2008 vorgelegt hat, nicht in ihre Willensbildung mit einbezogen zu haben. In den Anträgen wird er jedenfalls an keiner Stelle erwähnt. Der Bundesbericht macht deutlich, dass einer besseren Planbarkeit der wissenschaftlichen Karriere große Bedeutung bei der Reform der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses zukommt. Die Ausweitung des "Tenure Track" an den Hochschulen und eine stärkere Konzentration auf die Weiterentwicklung der Juniorprofessur sind auch für die Bundesregierung Instrumente, um mehr Verlässlichkeit und Planbarkeit für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler zu schaffen. Nicht ganz zustimmen kann ich aber, wenn unbefristete Beschäftigungsverhältnisse an den Hochschulen als Allheilmittel dargestellt werden. Natürlich sind wir uns alle einig, dass Beschäftigungsverhältnisse auch und gerade in der Wissenschaft Sicherheit und Berechenbarkeit brauchen. Aber das Wissenschaftssystem kann sich in dieser Hinsicht nicht vollständig von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen lösen. Der Arbeitsplatz auf Lebenszeit ist heute nicht nur im Wissenschaftsbetrieb, sondern in vielen Arbeitsbereichen nicht mehr die Regel, übrigens nicht unbedingt zum Nachteil des Arbeitnehmers. Gerade gut ausgebildete, junge Nachwuchskräfte profitieren überproportional von den Freiheiten, die ihnen die globalisierte Welt bietet. Wenn wir die mahnenden Worte des Wissenschaftsrates berücksichtigen wollen, der der Politik und der Wissenschaft ins Stammbuch geschrieben hat, dass "die Promotion in Deutschland nicht allein auf eine wissenschaftliche Laufbahn ausgerichtet" ist, dann müssen befristete Arbeitsverhältnisse auch künftig ihre Berechtigung behalten, um den Austausch zwischen Hochschule, Wirtschaft und Gesellschaft weiter zu ermöglichen, der für beide Seiten, für exzellente Forschung und Lehre und für die sie umgebende Gesellschaft unerlässlich ist. Auch in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss nicht immer die unbefristete Stelle der einzig gangbare Weg sein. So hat die Bundesregierung zum Beispiel im Jahr 2007 das Programm "Zeit gegen Geld" gestartet, das Nachwuchswissenschaftlern ermöglicht, Gelder aus Stipendien für Maßnahmen der Kinderbetreuung zu verwenden. Eng verbunden mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch die Frage der Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen. Überraschenderweise haben beide Anträge dazu gar nichts zu sagen. Dabei haben es Frauen im Wissenschaftsbetrieb auch hier immer noch deutlich schwerer als ihre männlichen Kollegen. Zwar hat das Professorinnenprogramm der Bundesregierung seit 2007 mehr als 200 zusätzliche Professuren für Frauen geschaffen, doch trotz dieses großen Erfolges kann von einer wirklichen Gleichstellung der Geschlechter an den Hochschulen noch lange keine Rede sein. Deshalb sollten wir bei allem Engagement für Bildung und Wissenschaft auch nicht aus den Augen verlieren, dass die Zuständigkeit für Bildung und Wissenschaft im Wesentlichen bei den Ländern und hier vor allem bei den Hochschulen selbst liegt. Ich darf daran erinnern, dass die Länder für die Übernahme der Bildungsaufgaben allein 2011 mehr als 1,3 Milliarden Euro an Kompensationsmitteln vom Bund erhalten. Auch die Hochschulen haben in der Vergangenheit Schritt für Schritt mehr Autonomie erhalten und müssen damit auch ihrer gewachsenen Verantwortung gerecht werden. Dem Bund allein die Verantwortung für die Finanzierung einer erneuten kostenintensiven Maßnahme aufzuerlegen, ohne in Ihrem Antrag überhaupt einen Finanzierungsvorschlag zu machen, halte ich für deutlich zu kurz gesprungen. Dies alles sind Punkte, die wir trotz grundsätzlicher Einigkeit in den kommenden Ausschusssitzungen noch einmal intensiv debattieren müssen. Auf diese hoffentlich konstruktiven und fruchtbaren Diskussionen zum Wohle der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung freue ich mich. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Der wissenschaftliche Nachwuchs an den Hochschulen und in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in diesem Land liegt uns allen am Herzen. Deswegen beurteile ich das Ansinnen Ihrer Anträge, den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in unserem Lande gute berufliche Perspektiven und verbesserte Arbeitsbedingungen zu bieten, grundsätzlich als äußerst positiv. Dies gilt umso mehr, als sich das akademische Personal durch den Bologna-Prozess und die steigende Anzahl von Studierenden wachsenden Anforderungen ausgesetzt sieht. Sie, liebe Grüne, präsentieren uns in Ihrem Antrag den Vorschlag, mit den Bundesländern in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen an den Hochschulen zu schließen. Dort fordern Sie unter anderem, 4 000 zusätzliche Professorenstellen einzurichten und auch außerhalb der Professuren mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Allein, Sie bleiben uns die Antwort schuldig, wie Sie diese Ziele erreichen wollen. Wir alle wissen, dass die Verbesserung von Arbeitsbedingungen für Nachwuchswissenschaftler eng an die finanzielle Ausstattung der Hochschulen geknüpft ist. Und hier sind, ich habe es bereits in der Aktuellen Stunde im Dezember erwähnt und tue es hier gern wieder, zuallererst die Länder in der Pflicht. Diese müssen dafür sorgen, dass die Grundfinanzierung der Hochschulen in ihrem Verantwortungsbereich gesichert ist. In Zeiten knapper öffentlicher Finanzen heißt das eben auch, Prioritäten zu setzen. In einem rohstoffarmen Land wie Deutschland, dessen einzige Ressource die Köpfe der Menschen sind, sollten Bildung und Forschung selbstverständlich an erster Stelle stehen. Der Bund hat seine Prioritäten klar benannt. Unser Ziel ist es, bis 2015 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung auszugeben. Dabei haben wir selbstverständlich auch den wissenschaftlichen Nachwuchs im Blick. Mit der Exzellenzinitiative, die im nächsten Jahr in die mittlerweile dritte Runde geht, wurde eine Reihe von Stellen für Doktoranden und Postdocs geschaffen. Durch den Pakt für Forschung und Innovation verbessern wir zudem die Bedingungen in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Mit dem Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der von der Ministerin in Auftrag gegebenen HIS-Studie über wissenschaftliche Karrieren haben wir zudem erstmals empirisch fundierte Erkenntnisse über die Karrierewege des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgelegt. Die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes läuft. Sie sehen also: Hier tut sich einiges. Und die Resonanz aus der Wissenschaft zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind: Erst gestern, am 19. Januar 2011, haben die Präsidenten der drei großen Berliner Hochschulen beim 52. Treffpunkt WissensWerte des Inforadio des RBB bestätigt, dass Nachwuchswissenschaftler nie zuvor so viele Möglichkeiten hatten, sich um Promotionsstipendien oder Doktoranden- bzw. Postdocstellen zu bewerben wie gegenwärtig. Wenn wir über die Zukunft der jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem Land sprechen, kann es nicht nur um zusätzliche Stellen und Entfristungen gehen. Auch einige andere Punkte dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Zum einen - das macht die HIS-Studie deutlich - bemisst sich die Attraktivität der beruflichen Zukunft in der Wissenschaft nicht nur an der Vergütung oder der festen Stelle. Die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen vor allem gute Rahmenbedingungen, um ihrer Kerntätigkeit in Forschung und Lehre nachkommen zu können. Wenn man aber, wie dies in Brandenburg gehandhabt oder in Thüringen diskutiert wird, das Lehrdeputat der wissenschaftlichen Mitarbeiter exorbitant in die Höhe schraubt, sodass ihnen de facto keine Zeit mehr zum Forschen und Publizieren oder zur Vernetzung in der Scientific Community bleibt, dann sind wir tatsächlich weit entfernt von guten Rahmenbedingungen. Zweitens ist es ein Gebot der Fairness, zu sagen, dass wir natürlich Wettbewerb in unserem Wissenschaftssystem brauchen. Wir wollen vermeiden, dass Leute über Jahrzehnte auf - unbefristeten - Qualifizierungsstellen sitzen, ohne dabei nennenswerte Forschungsergebnisse zu produzieren und ohne Anreize zu haben, im akademischen System aufzusteigen, und die Stellen für andere Nachwuchswissenschaftler "blockieren". Auch müssen wir klar sagen, dass nicht jeder Doktorand später eine Professur oder eine unbefristete Stelle an einer Hochschule erlangen wird. Aber das kann auch gar nicht unser Ziel sein. Auch außerhalb der Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, zum Beispiel in der Industrie, im Mittelstand, in der Verwaltung oder auch im Gesundheitswesen, werden exzellent ausgebildete Nachwuchswissenschaftler mehr denn je gebraucht. Ein letzter Punkt, den ich mit Blick auf den Antrag der Grünen noch aufgreifen möchte, betrifft die Tenure-Track-Option. Wir als christlich-liberale Koalition stehen - und da verrate ich Ihnen kein Geheimnis - voll und ganz hinter der Möglichkeit, befristete Stellen nach einer positiven Bewertung in unbefristete Stellen umzuwandeln. Wir können dafür werben, und dies werden wir auch nach allen Kräften tun, aber wir als Bund können sie nicht verordnen, wie Sie das fordern, wenn Sie sagen, Sie wollen künftig alle Juniorprofessuren mit einer Tenure-Track-Option ausgestattet sehen. Lassen Sie uns uns also auf das konzentrieren, was wir leisten können, und dazu beitragen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland auch weiterhin eine gute Zukunft hat. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Einer aktuellen, von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie zufolge haben Nachwuchswissenschaftler Zukunftsängste. Sie bewerten ihre Arbeit an sich zwar positiv. Doch über 90 Prozent der Nachwuchswissenschaftler müssen sich mit unbefristeten Stellen begnügen. Die Leute wollen in der Wissenschaft arbeiten, aber sie wollen dort auch Perspektiven haben. Sie wollen ihre Karriere planen kön-nen - und das ist nur zu verständlich, vor allem wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Die Zukunftsängste gehen auch die Politik an, weil wir den wissenschaftlichen Nachwuchs brauchen! Wir brauchen ihn für die Lehre an den Hochschulen, und wir brauchen Forscherinnen und Forscher für die technologische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Entwicklung. Wir dürfen diese Hochqualifizierten nicht abschrecken durch schlechte Arbeitsbedingungen. Besonders beeindruckt hat mich ein Zitat aus der erwähnten Studie. Dort sagt eine wissenschaftliche Mitarbeiterin aus dem Bereich der Naturwissenschaften: "Die Gefahr, nach jahrelangem ,Durchschlagen' auf befristeten Stellen und einem gewissen ,Berufsnomadentum' am Ende keine permanente Stelle zu bekommen, ist hoch. Das Risiko, diesen Weg zu gehen, ist mir persönlich zu hoch, auch wenn ich die Arbeit in der Wissenschaft mag." Das können wir nicht einfach hinnehmen, dagegen müssen wir etwas tun! Sicher, in einem gewissen Rahmen, insbesondere in der Qualifikationsphase, sind Befristungen akzeptabel. Doch spätestens im vierten Lebensjahrzehnt, wenn neben der beruflichen auch die Familienplanung ansteht, ist der Wunsch nach einer Perspektive nur mehr als natürlich. Deshalb ist ein deutlich höherer Anteil an unbefristeten Stellen sinnvoll. Es gilt auch hier der sozialdemokratische Grundsatz von der guten Arbeit. Nur mit Perspektiven und nur mit guten Arbeitsbedingungen können wir die Leute gewinnen, und nur so können diese auch die exzellenten Leistungen abliefern, die wir von ihnen sehen möchten. Das wollen wir erreichen: Gute Arbeit, auch in der Wissenschaft! Die Bundesregierung hat bislang nichts unternommen, um dieses Problem zu lösen. Unter Rot-Grün haben wir Regelungen zur Ausschaltung von Kettenbefristungen geschaffen, und in der Großen Koalition haben wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz gemacht. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, dass es evaluiert werden soll, weil wir schauen müssen, was tatsächlich in der Realität passiert. Wir haben die Bundesregierung damit beauftragt, eine Evaluation vorzulegen. Auf dieser Basis können wir vorankommen, können sagen, ob die jetzigen Bestimmungen ausreichen oder vielleicht sogar an der einen oder anderen Stelle kontraproduktiv sind. Doch leider liegt der Bericht immer noch nicht vor. Ein Punkt scheint jetzt schon klar zu sein: Die Tarifsperre muss weg! Es sollte die Möglichkeit geben, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam Regelungen über das Gesetzliche hinaus treffen können. Wir Sozialdemokraten haben das übrigens in der Großen Koalition gefordert, aber unser damaliger Koalitionspartner CDU/ CSU wollte die Tarifsperre unbedingt beibehalten. Ich hoffe, dass da jetzt etwas geht. Dann die Juniorprofessuren: Unter Rot-Grün haben wir Juniorprofessuren eingeführt und auch gefördert, weil das vielen Nachwuchswissenschaftlern Perspektive gibt. Frau Schavan hat die Förderung beendet bzw. kein neues Programm aufgelegt. Wir wollen Juniorprofessuren. Deswegen schlagen wir ein neues Bund-Länder-Programm vor: 1 000 Juniorprofessuren - das wäre ein guter Beitrag. Der sogenannte Tenure Track, also der Karriereweg an der eigenen Hochschule, muss ausgebaut werden. Die Bundesregierung sollte da aktiv werden und mit den Ländern ins Gespräch kommen, wie wir den Tenure Track ausbauen können. Und wir müssen sehen: Es gibt eine Menge Bund-Länder-Programme im Hochschulbereich, etwa den Hochschulpakt und die Exzellenzinitiative. Die Bundesregierung hat in einem Bericht selbst gesagt, dass mit dem Hochschulpakt sicherlich alles viel besser für die Nachwuchswissenschaftler wird. Aber Vertrauen allein reicht nicht. Da muss man auch genauer hinschauen und vielleicht auch einmal den Erhalt von Bundesmitteln an Mindestarbeitsbedingungen knüpfen und Anreize für gute Arbeit einbauen. Es kann nicht sein, dass Leute ausgebeutet werden, zu ganz schlechten Bedingungen Arbeit leisten, die eigentlich von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geleistet werden sollte. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben. Wir sind den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke dankbar für ihre Impulse in den Anträgen. Die SPD-Fraktion wird ihre Vorstellungen ebenfalls in die Debatte einbringen - einige Aspekte habe ich bereits angesprochen. Obwohl wir an verschiedenen Punkten gleicher Meinung sind und hoffen, dass auch die Regierungskoalition sich anschließen kann, sind die Vor-stellungen doch an einigen Stellen unterschiedlich, bzw. wir haben noch Nachfragen, wenn etwa die Grünen unter Punkt 6 ihres Antrages einen Risikoaufschlag vorschlagen. Löst das wirklich das grundsätzliche Problem der Befristung der Mittel und damit der Reserve von Hochschulen, Wissenschaftler unbefristet einzustellen? Wir können und müssen uns Gedanken über Lösungsmöglichkeiten auch im Drittmittelbereich machen. Ich habe das bereits angesprochen. Aber ganz am Ende ist natürlich die beste Lösung, dass wir die steigende Abhängigkeit von Hochschulen und Forschungseinrichtungen von notwendig befristeten Drittmitteln reduzieren und die Grundfinanzierung wieder erhöhen, ohne in eine ja auch teilweise zu verzeichnende Beamtenmentalität in der Wissenschaft zu verfallen. Letztlich hängt die Beantwortung dieser Grundfrage von der finanziellen Ausstattung der Länder ab, die wiederum nur in Zusammenarbeit mit dem Bund verbessert werden kann - ein Feld, auf dem die Bundesregierung tätig werden müsste. Das wäre ein tolles Thema für einen Bildungsgipfel von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten. Diese Gipfel sind bisher immer gescheitert. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Der Bundestag befasst sich seit Jahrzehnten mit der beruflichen Perspektive von Nachwuchswissenschaftlern. Natürlich bewegt uns die Situation unserer klügsten und am besten ausgebildeten Köpfe. Keineswegs können uns Meldungen kalt lassen, wonach "nur jeder dritte Doktorand sein Promotionsprojekt tatsächlich abschließt". Gleichzeitig finden wir es bemerkenswert, dass in Deutschland mehr als 10 Prozent eines Hochschuljahrganges promovieren - diesbezüglich sind wir Weltmeister. Dabei wundert es einen aber doch, weswegen, bei einer so hohen Promotionsquote, nur 3 Prozent eines Hochschuljahrganges eine wissenschaftliche Karriere ernsthaft anstreben. Natürlich ist im Hochschulbereich nicht alles rosig. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Schließlich lehre ich an einer Hochschule, stehe im ständigen Kontakt mit Studierenden und wissenschaftlichem Nachwuchs. Und dennoch stelle ich die, gerade für linke Politiker, provokante These auf, dass dieser Personenkreis deutlich positive Lebensperspektiven aufweist, geradezu gesegnet ist. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift "Fördert mich, ich bin Forscher!" finden sich interessante Beispiele, die Mut machen und zeigen, dass an vielen Hochschulen bereits sehr verantwortungsvoll gehandelt wird. Den bereits vor Jahren festgestellten Defiziten zum Beispiel hinsichtlich einer qualifizierten Betreuung, Planbarkeit und Finanzierungsmöglichkeiten, Transparenz und Effizienz und in Fragen der Karriereplanung begegnen zahlreiche Universitäten und Fachhochschulen mittlerweile mit strukturierten Promotionsprogrammen und Graduiertenkollegs. In diesen werden beispielsweise Softskills wie Kommunikationsfähigkeiten vermittelt. Aber es gibt auch mehr und mehr Stipendienprogramme. Und nicht zuletzt leisten auch die Begabtenförderungswerke hier bereits sehr gute Arbeit. Und ja, es trifft zu, dass Projektarbeit und befristete Arbeitsverträge Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens sind, nicht nur in Deutschland. Tenure ist auch im Ausland mehr die Ausnahme als die Regel. Und doch gilt es, die deutschen Eigentümlichkeiten unter die Lupe zu nehmen. Neben den Professuren gibt es nach wie vor - im Gegensatz zu vielen Ländern - nur wenige andere, auf Dauer angelegte Personalkategorien im wissenschaftlichen Mittelbau. Das hat etwas mit dem Selbstverständnis des Wirkungsfeldes Hochschule zu tun. Wir setzen auch beim Personal auf die Einheit von Forschung und Lehre, lassen wenig Differenzierung zu. Eine Karriere in der Wissenschaft wird auch künftig nur dann angestrebt werden, wenn auch tatsächlich einigermaßen verlässliche Zukunftsperspektiven gesehen werden. Das trifft insbesondere auf die entsprechenden Rahmenbedingungen zu, die Deutschland attraktiv, forschungsfreundlich und international konkurrenzfähig machen. Vor allem die für die deutsche Wissenschafts- und Forschungspolitik verlorenen Jahre der rot-grünen Bundesregierung mit ihrer fortschrittsfeindlichen Politik, beispielsweise im Bereich der Energieforschung und bei der Gentechnologie, und den damit einhergehenden Folgen bis hin zu dem ganz aktuell beim ITER-Projekt zu beobachtenden Abzug von Know-how aus der deutschen Industrie haben hier eine große Lücke gerissen und die Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses beflügelt. FDP und Union haben genau hier angesetzt und werden mit ihrer Politik, die Deutschland tatsächlich wieder hin zu einer Bildungs- und Fortschrittsrepublik verändern wird, verlässliche Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaffen. Doch bei unseren Anstrengungen auf Bundesebene darf eines nicht aus dem Blick geraten: Wissenschaftspolitik - und damit auch die Problematik der Beschäftigung von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulen und Forschungseinrichtungen - ist in erster Linie Ländersache. Aber das kann ich heute schon versprechen: Die christlich-liberale Koalition wird mit einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz auch auf Bundesebene die Rahmenbedingungen weiter verbessern und bestehende Hemmnisse im Wissenschaftssystem beseitigen sowie die Handlungsspielräume der Hochschulen und Forschungseinrichtungen ausweiten. Wo wir in den Ländern in Regierungsverantwortung sind, werden wir die Autonomie der Hochschulen weiter stärken, sei es mit Globalhaushalten oder eigener Personalverantwortlichkeit usw., und für eine bessere Finanzausstattung der Universitäten und Fachhochschulen sorgen. In Nordrhein-Westfalen waren wir dahin gehend schon sehr weit. Und wenn man sich mit den Akteuren vor Ort verständigt, wird sehr schnell deutlich, dass erste positive Effekte gerade auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu spüren waren. Leider hatte die rot-grüne Minderheitsregierung nichts Besseres im Sinn gehabt, als neben einem verfassungswidrigen Haushalt auch gleich das Ende der Studienbeiträge zu beschließen. Gerade durch die Einbindung privater Mittel wie Studienbeiträge oder die Einwerbung privat kofinanzierter Stipendien, wie FDP und Union sie nun mit dem Deutschland-Stipendium auch für das gesamte Land durchgesetzt haben, bekommen die Länder die Möglichkeit, die seit Jahren unterfinanzierten Wissenschaftseinrichtungen mit dringend notwendigen finanziellen Mitteln zu unterstützen; denn nur so wird die Wissenschaft als Arbeitgeber an Attraktivität gewinnen können. Leider hat auch hier die rot-grüne Übergangsregierung in Nordrhein-Westfalen sofort die Axt angelegt und mit dem Wegfall der Studienbeiträge dazu beigetragen, dass zahlreiche Tutorenstellen an den Hochschulen gestrichen werden. Gerade die Grünen sorgen so dafür, dass aus befristeten Beschäftigungsverhältnissen, die sicher in vielen Punkten kritisiert werden können, nun aber ehemalige Beschäftigungsverhältnisse werden. So sieht also der rot-grüne Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs in der Realität aus! Auch was die Frage der fairen Beschäftigungsbedingungen gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs angeht, sind wir uns vermutlich einig. Es ist eine alte, aber nach wie vor aktuelle Forderung der FDP, dass die Tarifpartner in der Pflicht sind, einen geeigneten Wissenschaftstarifvertrag auszuhandeln, damit die auch seitens Professor Strohschneider vom Wissenschaftsrat im Bildungsausschuss geäußerte "Gefahr einer Prekarisierung des wissenschaftlichen Mittelbaus", wie es die Linke in ihrem Antrag auch zitiert hat, abgewendet wird! Für mich ist die Kernaussage des in beiden vorliegenden Anträgen zitierten HIS-Berichts "Wissenschaftliche Karrieren" jedoch, dass die Mehrheit der befragten Nachwuchswissenschaftler den Beruf des Wissenschaftlers als attraktives Ziel sieht. Damit das so bleibt, sind alle Beteiligten in Bund, Ländern und an den Hochschulen aufgerufen, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Das Gros der von Linken wie Grünen in einer bunten Sammlung vorgetragenen Wünsche zur Verbesserung der Berufsperspektiven im Wissenschaftsbereich fällt jedoch nicht in den Kompetenzbereich des Bundes. Vielmehr stehen die Länder in der Verantwortung, ihren Hochschulen die benötigten Freiräume zuzugestehen. Wenn ich mir beispielsweise die Wissenschaftspolitik von SPD und Linken in Brandenburg anschaue, habe ich jedoch eher den Eindruck, dass Anspruch und Wirklichkeit in ihrer Politik wie so oft bei den Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag extrem auseinanderfallen. Mit ihrer unverlässlichen Hochschulpolitik versetzt die rot-rote Landesregierung die Brandenburger Studierenden und Wissenschaftler in Angst und Schrecken! So wurden im vergangenen Jahr den Hochschulen 10 Mil-lionen Euro aus der vertraglich zugesicherten Rücklage entnommen, um Löcher im Landeshaushalt zu stopfen, natürlich nicht ohne den Hinweis, dass dies eine einmalige Vorgehensweise sei und ansonsten SPD und Linke Wissenschaft entsprechend ihres vollmundigen Versprechens im Koalitionsvertrag mit höchster Priorität behandeln würden. Nur wenige Monate später wissen wir heute, dass dies eine plumpe Lüge war. Für den Haushalt 2012 hat der von den Linken gestellte Finanzminister bereits Kürzungen im Wissenschaftsressort in Höhe von weiteren 27 Millionen Euro angekündigt. Welche Folgen dies für das wissenschaftliche Personal haben wird, kann sich jeder vorstellen. Solange Wissenschaftspolitik von SPD, Grünen und Linken in den Ländern so aussieht, wie beschrieben, können Sie hier im Bundestag noch so viele vollmundige Anträge mit Forderungen und Versprechungen für ein Ende der "Prekarisierung des akademischen Mittelbaus" und für einen "Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs" stellen. Solange diesen schönen Worten ständig nur gegensätzliche Taten in Ihren Landesregierungen folgen, wird sich ganz bestimmt nichts verbessern! Die christlich-liberale Koalition beweist mit ihrem 12-Milliarden-Euro-Paket für Bildung und Forschung, dass bei uns Anspruch und Wirklichkeit im Gegensatz zur Opposition nah beieinanderliegen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Ich hatte in den vergangenen Monaten die Gelegenheit, mit vielen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern bzw. Vertretern des akademischen Mittelbaus zu sprechen. Neben den Organisationen, Gewerkschaften und Verbänden hatte ich auch mit Promovierenden und Postdocs, die sich bei uns mit ihren Problemen gemeldet haben, das Gespräch gesucht. Ich wollte einen Eindruck gewinnen, wie sich ihre Situation seit 2008 geändert hat. Damals gab es eine umfangreiche Debatte hier im Bundestag und im Bildungsausschuss zu dem Thema, und die Bundesregierung gelobte Besserung bei den Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Leider kann ich nur wenig Positives von der "Basis" berichten. An erster Stelle der Probleme steht nach wie vor die Frage der prekären Beschäftigung. Da hat sich die Situation keineswegs verbessert. Der Trend zu befristeten Verträgen, zu Teilzeitbeschäftigungen, zu Stipendien hält ungebrochen an. Und mein persönlicher Eindruck trügt nicht, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. Die Zahl der unbefristeten wissenschaftlichen Vollzeitstellen neben der Professur hat einen historischen Tiefststand erreicht. An Universitäten waren im Jahr 2008 weniger als 12 Prozent der angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dauerhaft beschäftigt. Zehn Jahre vorher hatte diese Zahl immerhin noch knapp 19 Prozent betragen. Das Verhältnis von befristet zu unbefristet angestelltem Personal an allen Hochschularten hat sich von 3,6 : 1 im Jahr 2000 auf 6,7 : 1 im Jahr 2008 dramatisch verschlechtert. Ein Großteil des Personals verfügt zudem nicht über Vollzeitstellen. Die Teilzeitquote des gesamten hauptberuflichen Personals inklusive Professuren stieg von 24 Prozent im Jahr 2000 auf 35 Prozent im Jahr 2008. Selbst unter den angestellten hauptberuflichen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beträgt die Quote 40,9 Prozent. Umfragen unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wie aktuell eine Studie der Hochschul-Informations-System GmbH, HIS, ergeben das gleiche Bild. Die Befragten wie auch meine Gesprächspartner sagen übereinstimmend: Das Problem der unsicheren Zukunft und der mangelnden Berufsperspektiven ist nicht nur eine dramatische Beeinträchtigung der Lebenschancen dieser jungen Menschen, sondern behindert auch die Leistungsfähigkeit des gesamten Systems. Wer ständig mit der Sicherung der eigenen Arbeitsmöglichkeiten beschäftigt ist, verheizt Ressourcen für gute Wissenschaft. Und gerade die Besten verlassen irgendwann das Land, weil ihnen anderswo überhaupt die Möglichkeit zur dauerhaften und selbstständigen wissenschaftlichen Tätigkeit geboten wird. Für viele endet aber auch der Weg in der Wissenschaft, wenn nach der Habilitation oder der Juniorprofessur keine eigene Professur winkt. Dieses Land behandelt seine Hoch- und Höchstqualifizierten wie einen lästigen Posten in der Haushaltskasse. Die Ursachen für diese Entwicklung lassen sich klar aufzeigen. Der Anteil an flexiblen Mitteln in den Haushalten der Forschungsinstitute und Hochschulen steigt immer weiter an. Die großen Forschungsorganisationen haben ihre Finanzierung weitgehend auf wettbewerbliche Prozesse umgestellt. Eine Kollegin eines Helmholtz-Zentrums berichtete, es gebe in ihrer großen Arbeitsgruppe noch drei Stellen, die nicht aus befristeten Projektmitteln finanziert würden: die des Leiters und die von zwei Sachbearbeiterinnen. Auch ein Direktor eines Leibniz-Instituts erzählte, er sei der einzige Wissenschaftler am Institut, der dort eine dauerhafte Perspektive habe. Alle anderen müssten sich nach wenigen Jahren etwas anderes suchen. Aber auch der Boom der Drittmittel hält an: Ihr Anteil ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Er betrug im Jahr 2008 bei Hochschulen schon 25,1 Prozent, bei außeruniversitären Einrichtungen bereits 35 Prozent. Diese Situation schlägt sich auf die Arbeitsbedingungen nieder: Im Berichtsjahr wurden 36 Prozent des gesamten hauptberuflichen wissenschaftlichen Personals an Hochschulen und eine Mehrheit des befristeten wissenschaftlichen Personals aus Drittmitteln finanziert. Wir leisten uns um der Flexibilität und der niedrigen Kosten willen einen Verschleiß an Know-how und eine Vergeudung intellektueller Ressourcen, wodurch immense individuelle und institutionelle Nebenwirkungen produziert werden. Oder glauben Sie, die Professorinnen und Professoren finden es sinnvoll, alle zwei bis drei Jahre ihren Mitarbeiterstab komplett auszuwechseln? Nun endlich setzt langsam ein Umdenken ein. So hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft empfohlen, mehr Stellen und weniger Stipendien auszureichen. Auch können Stellen für Promovierende mit mehr als den bisher obligatorischen 20 Wochenstunden gefördert werden. Wir wünschen uns mehr solcher Initiativen, auch in den Forschungsorganisationen. Die Promovierenden-Umfrage des PhDnet bei der Max-Planck-Gesellschaft etwa zeigt die Schwierigkeiten bei deren sozialer Absicherung auf und verweist auf die ganz praktischen Probleme, mit denen sich besonders Stipendiatinnen und Stipendiaten herumschlagen müssen. Sie sind, anders als ihre angestellten Kolleginnen und Kollegen, weder arbeitslosen- noch rentenversichert. Viele Promovierende insbesondere aus dem Ausland überlegen sich trotz gesetzlicher Verpflichtung auch dreimal, ob sie ihr weniges Geld für eine Krankenversicherung ausgeben. Und obwohl die Stipendiatinnen und Stipendiaten in den gleichen Laboren stehen wie ihre Kolleginnen und Kollegen, genießen sie keinen Unfall- und Arbeitsschutz. Hier müssen Lösungen erarbeitet werden. Vor allem aber sind Stipendien auf die wenigen Fälle zu reduzieren, in denen sie geeigneter als Stellen sind. Der Regelfall in der Promotion sollte ein Arbeitsverhältnis mit sozialer Absicherung und angemessenem Umfang an Arbeitszeit und Gehalt sein. Auch die großen Probleme in den Phasen nach der Promotion müssen endlich angegangen werden. Wir schlagen ein Programm vor, mit dem die Einrichtung von dauerhaften Beschäftigungsmöglichkeiten neben der Professur durch den Bund unterstützt wird. Wir brauchen eine Kultur der Selbstständigkeit von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Jahre ihrer größten Kreativität nicht auf befristeten Teilzeitstellen in Projekten ihres Doktorvaters verbringen sollten; denn sie sind eben nicht der ewige Nachwuchs, der sich ein ganzes Berufsleben lang auf die Professur vorbereitet - um sie dann im Regelfall doch nicht zu bekommen. Diese Menschen leisten den Großteil der wissenschaftlichen Arbeit in diesem Land - auch wenn der Name des Professors oder der Professorin auf der Publikation steht. Sie sind Leistungsträgerinnen und Leistungsträger und sollten die Bedingungen bekommen, die sie für ihre wichtige Arbeit brauchen. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Beschäftigungsbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs haben sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Die Hochschulkarriere erweist sich für immer mehr hochqualifizierte Nachwuchswissenschaftler als Sackgasse. Befristete Arbeitsverhältnisse sind inzwischen der Normalfall an unseren Hochschulen. 2008 waren bereits 62 Prozent der hauptberuflichen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur noch befristet beschäftigt. Das ist ein Zuwachs von 23 Prozent innerhalb von nur fünf Jahren. Genauso rasant breiten sich Teilzeitbezahlung und nebenberufliche Beschäftigungsverhältnisse aus. Die Zahl der nebenberuflichen Lehrbeauftragten stieg seit der Jahrtausendwende um satte 50 Prozent. Die Zahl der Professuren stagniert dagegen seit Jahren. Wir sprechen hier keineswegs von einer kleinen Gruppe von Berufseinsteigern. Die Rede ist vielmehr von der Mehrheit und dem Kernbestand der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an den Hochschulen Daueraufgaben in Forschung und Lehre übernehmen und die bis weit ins fünfte Lebensjahrzehnt mit diesen prekären und befristeten Beschäftigungsbedingungen konfrontiert sind. Solche Personalstrukturen und solche unsicheren Karriereperspektiven werden auf Dauer nicht ohne Folgen für das gesamte deutsche Wissenschaftssystem bleiben. Der Trend, an den Hochschulen möglichst viel Personal zu möglichst kostengünstigen Bedingungen einzustellen, kommt nicht von ungefähr. Auch dass die Zahl der Professuren seit Jahren stagniert, ist kein Naturgesetz. Wenn die Aufgaben in Forschung und Lehre wachsen, aber zugleich an der Grundfinanzierung der Hochschulen gespart wird, darf man sich nicht wundern, wenn die Lücken mit kostengünstigen Nachwuchskräften und prekären Verträgen gestopft werden. Wer ein leistungsfähiges Hochschulsystem will, muss für die auskömmliche Finanzierung gerade auch der grundständigen Aufgaben der Hochschulen in Lehre und Forschung sorgen. Als Ergänzung haben wettbewerblich vergebene Drittmittel eine wichtige Funktion für Innovation und Qualität gerade in der Forschung. Drittmittel müssen aber keineswegs automatisch zu befristeter Beschäftigung führen. Mit der Herausforderung schwankender Auftragslagen sind nicht nur Hochschulen konfrontiert. Statt die Risiken einseitig auf die Beschäftigten abzuschieben, kommt es vielmehr auf die Steuerungsleistung und das Personalmanagement der Hochschulleitungen an. Öffentliche Drittmittelgeber wie das BMBF und die DFG sollten diese Steuerungsleistung durch gezielte Anreize unterstützen. Allein in der Unterfinanzierung der Hochschulen darf die Ursache für die prekäre Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses nicht gesucht werden. Auch die verkrusteten Personalstrukturen und Qualifizierungswege haben ihren Anteil. Aus internationaler Perspektive leistet sich das deutsche Hochschulsystem eine exotische Besonderheit: Unterhalb der Professur existieren hierzulande keine dauerhaften Beschäftigungsmöglichkeiten für bewährte Kräfte. An deutschen Hochschulen gibt es kaum eine Möglichkeit, jenseits der Vollprofessur Wissenschaft als Beruf selbstständig in Forschung und Lehre auszuüben. Das ist auch ein wesentlicher Grund für die extreme Verengung der Karrierewege für den wissenschaftlichen Nachwuchs und damit für die ungewissen Perspektiven. Die verstärkten Bemühungen im Rahmen der Exzellenzinitiative, des Pakts für Forschung und Innovation und die Internationalisierungsstrategie werden durch diesen Karriereflaschenhals konterkariert; denn nach den Graduiertenschulen und Graduiertenkollegs gibt es an den Hochschulen selbst für hervorragende wissenschaftliche Postdocs kaum realistische Anschlussperspektiven. Auch für hervorragende Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler droht an den Hochschulen die Karrieresackgasse. Der Beruf Wissenschaft verliert durch diese Karriererisiken und Unsicherheiten gefährlich an Attraktivität. Der wissenschaftliche Nachwuchs ist zwar hoch motiviert, begeistert sich für die Forschung und das wissenschaftliche Arbeiten. Aber er findet an den deutschen Hochschulen keine attraktiven Bedingungen und verlässlichen Perspektiven, und das oft in einem Alter, wo auch das Thema Familienplanung ansteht. Als Arbeitgeber verlieren die deutschen Hochschulen gegenüber privaten Arbeitgebern und den Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Ausland im Ringen um die besten Köpfe dadurch an Boden. Je stärker die demografische Entwicklung durchschlägt und je weiter sich die Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte internationalisieren, desto härter wird die Konkurrenz noch werden und desto mehr werden die deutschen Hochschulen das Nachsehen haben, wenn sich nichts ändert. Schon heute sind Sonderprogramme nötig, um hervorragende Nachwuchskräfte für die Rückkehr nach Deutschland zu gewinnen. Aber die Programme laufen ins Leere, wenn sich die Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs nicht verbessern und wenn Personalstrukturen nicht neu geordnet werden. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung endlich zu handeln beginnt und damit ihrer Verantwortung für das gesamte Wissenschafts- und Hochschulsystem gerecht wird. Es reicht nicht, auf die Länder zu zeigen und ansonsten den Kopf in den Sand zu stecken. Die Personalstrukturen an den Hochschulen gefährden die Qualität und die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Wissenschafts-, Forschungs- und Innovationssystems, das auf die Ausbildungsleistung der Hochschulen und den hervorragenden wissenschaftlichen Nachwuchs angewiesen ist. Wir fordern die Bundesregierung auf, mit den Ländern einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen zu schließen. Ziel muss es sein, die Professuren/Studierenden-Quote auf einen international wettbewerbsfähigen Standard zu heben, Daueraufgaben in Forschung und Lehre durch Dauerstellen erledigen zu lassen und mit der Tenure-Track-Juniorprofessur die Karrierewege in der Postdocphase zu verstetigen und zu entkrusten. Die Tarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist schleunigst aufzuheben, da die Intention des Gesetzes, Befristungen zu begrenzen, unübersehbar gescheitert ist. Besonders steht der Bund schließlich beim wachsenden Anteil der öffentlichen Drittmittelfinanzierung in der Verantwortung. Mehr als zwei Drittel der Drittmittel, die an die Hochschulen fließen, stammen direkt vom Bund oder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hier müssen effektive Anreize für mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse gesetzt werden, zum Beispiel durch einen Risikoaufschlag. Die Fakten sind sattsam bekannt. Jetzt gilt es, zu handeln und mit den Ländern einen Pakt zu schließen, um dem wissenschaftlichen Nachwuchs verlässliche Perspektiven zu geben. Morgen findet in Berlin die Follow-up-Konferenz der GEW zum Templiner Manifest statt. Es stünde dem Bundestag gut an, heute das Signal zu geben, dass sich nicht nur die Opposition um die Nöte der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler kümmern will. 1Anlage 3 2Anlage 4 3Anlage 5 4Anlage 6 5Anlage 2 6Anlage 7 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 9440 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 84. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 84. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9439 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 9560 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 84. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 84. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9559