Plenarprotokoll 17/90 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 90. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter Begrüßung des neuen Abgeordneten Cajus Caesar Erweiterung der Tagesordnung Tagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Gestärkt aus der Krise - Der deutsche Mittelstand als Motor für Wachstum, Wohlstand und Innovation (Drucksache 17/4684) Rainer Brüderle, Bundesminister BMWi Peter Friedrich (SPD) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Birgit Homburger (FDP) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Andrea Wicklein (SPD) Julia Klöckner (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Willi Brase (SPD) Ernst Hinsken (CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Lena Strothmann (CDU/CSU) Dieter Jasper (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohnes (Mindestlohngesetz - MLG) (Drucksache 17/4665) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Mindestlohngesetz) (Drucksache 17/4435) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Anton Schaaf (SPD) Katja Mast (SPD) Klaus Ernst (DIE LINKE) Pascal Kober (FDP) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Klaus Ernst (DIE LINKE) Ottmar Schreiner (SPD) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Dr. Barbara Hendricks (SPD) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Klaus Ernst (DIE LINKE) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Agnes Alpers (DIE LINKE) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 27: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksache 17/4144) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des BVL-Gesetzes (Drucksache 17/4381) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Digitalisierung vergriffener und verwaister Werke (Drucksache 17/4661 d) Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen (Drucksache 17/4615) e) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherheit hat Vorrang - Atomkraftwerk Grafenrheinfeld sofort abschalten (Drucksache 17/4688) f) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rheintalbahn - Modellprojekt für anwohnerfreundlichen Schienenausbau (Drucksache 17/4689) Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der "Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern" der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Drucksache 17/4663) b) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot privater militärischer Dienstleistungen aus Deutschland (Drucksache 17/4673) c) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brennelemente-Zwischenlager am Forschungszentrum Jülich ertüchtigen (Drucksache 17/4690) d) Antrag der Fraktion der SPD: Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen (Drucksache 17/4670) e) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg "Schienenbonus" abschaffen (Drucksache 17/4652) f) Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren (Drucksache 17/4671) Tagesordnungspunkt 28: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifikations-Gesetzes (Drucksachen 17/3800, 17/4660) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestätigenden Regelung verschiedener steuerlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 (Drucksachen 17/3632, 17/3984, 17/4597) c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 17/3960, 17/4146, 17/4596) d) Beratung der dritten Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009 (Drucksache 17/4600) Kathrin Vogler (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) e)-l) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216 und 217 zu Petitionen (Drucksachen 17/4534, 17/4535, 17/4536, 17/4537, 17/4538, 17/4539, 17/4540, 17/4541) Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder - Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote Caren Marks (SPD) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) Katja Kipping (DIE LINKE) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dorothee Bär (CDU/CSU) Sigmar Gabriel (SPD) Marco Buschmann (FDP) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Dagmar Ziegler (SPD) Ewa Klamt (CDU/CSU) Christel Humme (SPD) Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden (Drucksachen 17/4193, 17/4651) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) Lars Lindemann (FDP) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Klaus Brähmig (CDU/CSU) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Jan Korte (DIE LINKE) Erika Steinbach (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei gestalten (Drucksachen 17/3433, 17/4659) Gero Storjohann (CDU/CSU) Sören Bartol (SPD) Petra Müller (Aachen) (FDP) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Daniela Ludwig (CDU/CSU) Michael Groß (SPD) Peter Götz (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken (Drucksache 17/4685) b) Antrag der Fraktion der SPD: Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken (Drucksache 17/4667) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken (Drucksache 17/4686) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Uta Zapf (SPD) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Frieser (CDU/CSU) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Evaluierung von Sicherheitsgesetzen - Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren (Drucksache 17/3687) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU) Frank Hofmann (Volkach) (SPD) Gisela Piltz (FDP) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jan Korte (DIE LINKE) Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag: Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 17/4680) Tagesordnungspunkt 9: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien andererseits (Drucksachen 17/3963, 17/4500) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA Uta Zapf (SPD) Peter Beyer (CDU/CSU) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, sondern fördern - Bestätigungserklärung im Bundesprogramm "TOLERANZ FÖRDERN - KOMPETENZ STÄRKEN" streichen (Drucksache 17/4551) b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen - Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen (Drucksache 17/4664) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ Sönke Rix (SPD) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) Steffen Bockhahn (DIE LINKE) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Florian Bernschneider (FDP) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Florian Bernschneider (FDP) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Geis (CDU/CSU) Sönke Rix (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft (Drucksache 17/4558) Marlene Mortler (CDU/CSU) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Ute Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gorleben - Echter Dialog statt Enteignung (Drucksache 17/4678) Dr. Matthias Miersch (SPD) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) Johanna Voß (DIE LINKE) Ulrich Kelber (SPD) Dorothee Menzner (DIE LINKE) Angelika Brunkhorst (FDP) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Eckhard Pols (CDU/CSU) Ulrich Kelber (SPD) Ute Vogt (SPD) Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Drucksachen 17/4231, 17/4720) Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbieten (Drucksache 17/4677) Jan van Aken (DIE LINKE) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 14: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken (Drucksachen 17/4196, 17/4613) b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen (Drucksache 17/4669) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktion der SPD: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen (Drucksache 17/4668) Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Drucksache 17/4666) Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit Seltenen Erden offenhalten (Drucksache 17/4553) Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-Freihandelsabkommen mit Indien stoppen - Verhandlungsmandat in demokratischem Prozess neu festlegen (Drucksachen 17/2420, 17/4616) Erich G. Fritz (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Annette Groth (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantieren (Drucksache 17/4439) b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem (Drucksache 17/4679) Reinhard Grindel (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im Patentrecht starten (Drucksachen 17/1052, 17/4725) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Stephan Thomae (FDP) Jens Petermann (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EUTM Somalia beenden - Für eine politische Lösung in Somalia (Drucksache 17/4248) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) Edelgard Bulmahn (SPD) Marina Schuster (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Daðdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/4672) Beatrix Philipp (CDU/CSU) Gerold Reichenbach (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Frank Tempel (DIE LINKE) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Andrej Hunko und Ulla Jelpke (beide DIE LINKE) zu den Abstimmungen über die Anträge: Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken (Tagesordnungspunkt 7 a und b, Zusatztagesordnungspunkt 5) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Zusatztagesordnungspunkt 6) Dieter Stier (CDU/CSU) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) Hans-Michael Goldmann (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbieten (Tagesordnungspunkt 13) Erich G. Fritz (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Klaus Breil (FDP) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Beschlussempfehlung und Bericht: Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken - Antrag: Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen - Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatztagesordnungspunkt 7) Jürgen Klimke (CDU/CSU) Ullrich Meßmer (SPD) Serkan Tören (FDP) Annette Groth (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Norbert Barthle (CDU/CSU) Peter Aumer (CDU/CSU) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) Florian Toncar (FDP) Roland Claus (DIE LINKE) Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit Seltenen Erden offenhalten (Tagesordnungspunkt 16) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Edelgard Bulmahn (SPD) Klaus Breil (FDP) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 90. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. - Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir uns den noch ernsteren Aufgaben zuwenden, möchte ich den Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann, Bernhard Schulte-Drüggelte und Dr. Erwin Lotter zu ihrem 60. Geburtstag gratulieren, den sie in den vergangenen Tagen gefeiert haben - man möchte es nicht für möglich halten. (Beifall) Im Namen des gesamten Hauses noch einmal herzliche Gratulation und alle guten Wünsche! Der Kollege Leo Dautzenberg hat mit Wirkung vom 1. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße ich einmal mehr den Kollegen Cajus Caesar, (Beifall) womit der Deutsche Bundestag seinen berühmtesten Abgeordneten endlich zurückbekommt. (Heiterkeit) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Vereinbarte Debatte zur Entwicklung in Ägypten (siehe 89. Sitzung) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Gewalttaten und anhaltende Ausschreitungen in Berlin und anderen Städten im Zuge der Räumung eines besetzten Hauses ("Liebig 14") (siehe 89. Sitzung) ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 27 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der "Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern" der Generalversammlung der Vereinten Nationen - Drucksache 17/4663 - Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot privater militärischer Dienstleistungen aus Deutschland - Drucksache 17/4673 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Brennelemente-Zwischenlager am Forschungszentrum Jülich ertüchtigen - Drucksache 17/4690 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen - Drucksache 17/4670 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg "Schienenbonus" abschaffen - Drucksache 17/4652 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren - Drucksache 17/4671 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder - Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken - Drucksache 17/4686 - ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 17/4231 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) - Drucksache 17/4720 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Undine Kurth (Quedlinburg) ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen - Drucksache 17/4668 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind. - Das ist offenkundig so. Dann können wir entsprechend verfahren. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Gestärkt aus der Krise - Der deutsche Mittelstand als Motor für Wachstum, Wohlstand und Innovation - Drucksache 17/4684 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Wirtschaft läuft auf Hochtouren. Der Economist spricht bereits von "Germany's New Wirtschaftswunder". Unter Schwarz-Gelb wird Deutschland in der Welt geachtet; unter Rot-Grün wurde Deutschland in der Welt verlacht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!) Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum von 2,3 Prozent. Der DIHK geht nach seiner gestrigen Prognose sogar von 3 Prozent Wachstum für dieses Jahr aus. Die Investitionsabsichten der Unternehmen haben einen Rekordwert erreicht. Ich habe noch gut den SPD-Vorsitzenden im Ohr. Er wollte wegen der angeblichen Investitionsschwäche eine Art Abwrackprämie für Maschinen. Die Grünen wollen jetzt Ähnliches. Die Wirtschaft investiert ohne Ihre Abwrackfantasien. Der volkswirtschaftliche Sachverstand der Opposition bewegt sich irgendwo zwischen Voodoo und Wolkenkuckucksheim. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie wollen vor allem das Falsche, aber davon reichlich. (Heiterkeit bei der FDP) Der Motor für die Wachstumsmaschine ist der Mittelstand. Dieser Aufschwung ist ein Mittelstandsaufschwung. Viele Mittelständler haben ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in harten Zeiten die Treue gehalten. Sie haben sogar neue Beschäftigte eingestellt. Das ist gelebte Eigenverantwortung, das hat sich bewährt, das ist soziale Marktwirtschaft, und das ist eine Geisteshaltung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aufgrund des Antrags der Koalitionsfraktionen befasst sich der Deutsche Bundestag mit dem Mittelstand. Das freut mich sehr; denn der Mittelstand steht im Zentrum der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Schwarz-Gelb hat den Aufschwungmotor Mittelstand gut geölt. (Lachen des Abg. Peter Friedrich [SPD] - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei Ihnen läuft alles wie geschmiert!) Wir haben die gröbsten Schnitzer bei der Unternehmensteuer beseitigt. Wir haben die Erbschaftsteuer reformiert. Die Opposition dagegen will mit Vermögensteuer und höherer Einkommensteuer den Motor abwürgen. Jetzt haben die Grünen als Deckmäntelchen ein Mittelstandspapier aufgeschrieben. Für mich hört sich das wie grüner Feudalismus an. Erst nimmt man dem Mittelständler ein Schwein weg, dann gibt man ihm gnädig ein paar Koteletts zurück. Dafür soll sich der Mittelstand dann noch artig bedanken. Es ist nämlich so: Eine höhere Einkommensteuer trifft nicht nur private Einkommen, sie trifft auch 80 Prozent der deutschen Unternehmen. Diese sind Personengesellschaften und zahlen Einkommensteuer. Das sollten Sie, Frau Scheel, immer berücksichtigen. Einer muss den Wohlstand erwirtschaften. Das ist der deutsche Mittelstand. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Einer reicht nicht! - Zuruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir haben Bürokratie im Vergaberecht abgebaut. Wir haben eine Fachkräfteinitiative in der Wirtschaft angestoßen. Drei Viertel der Mittelständler haben bereits Schwierigkeiten, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Das reicht von der exportstarken Maschinenbaubranche bis zur Boombranche Tourismus. Wir haben einen neuen Ausbildungspakt mit der Wirtschaft geschlossen. Aber moderne Mittelstandspolitik geht über Programme und Initiativen hinaus. In einer global vernetzten Wirtschaft muss Mittelstandspolitik schnell und flexibel reagieren. Wir unterstützen den Mittelstand überall und sofort, zum Beispiel etwa Unternehmen, die in Nordafrika tätig sind und mit der schwierigen Lage dort konfrontiert sind. Wir haben mit unserem Aktionsplan Nordafrika zehn konkrete Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, die in der Region tätig sind, auf den Weg gebracht. Morgen wird es dazu ein Treffen im Bundeswirtschaftsministerium geben. Wir sind Anwalt für den Mittelstand. Andere führen sich als Genosse der Bosse auf. Sie schauen nach Holzmann, Hochtief, Opel und Karstadt. Für sie sind Großunternehmen das Maß aller Dinge. Sie stellen die Rolle des Mittelstands als Jobmotor infrage. Im SPD-Vorfeld wird der Mittelstand als Trugbild bezeichnet. Meine Damen und Herren, das ist nicht die Politik der Bundesregierung. Wir kümmern uns um den Mittelstand. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gelaber!) Wir setzen auf Privatinitiative und Eigenverantwortung. Mein Ideal ist nicht: Oben ein paar Großkonzerne mit Gewerkschaftsdominanz, und unten fristen ein paar vom Staat abhängige und subventionierte Ich-AGs ihr Dasein. Ein solches Wirtschaftsmodell lässt sich ganz schnell auf Planwirtschaft umstellen. Davon mögen aktive oder Altkommunisten im Bundestag träumen. Wir machen das nicht. Wir wollen eine gesunde Mischung von großen, mittleren und kleinen Unternehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Wirtschaftsministerium hat letzte Woche eine Mittelstandsinitiative gestartet. Wir lösen die Wachstumsbremsen für den Mittelstand. Wir müssen das Thema der Gewerbesteuer anpacken. Es wäre fatal, wenn die Gewerbesteuerreform auf dem Hartz-IV-Verhandlungstisch hinten herunterfällt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir wollen unseren top ausgebildeten Frauen optimale Arbeitsbedingungen bieten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie einmal mit Frau von der Leyen!) Im Mittelstand und in Familienunternehmen sind die Frauen bereits auf dem Vormarsch. Es sollen aber noch mehr Frauen auf den Chefsesseln Platz nehmen. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach dem Vorbild des nationalen Ausbildungspakts könnte ein Pakt für Frauen zusätzlich entsprechende Impulse liefern. (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Wir setzen auf den Mittelstand. Wir setzen auf seinen Mut zur Verantwortung und auf seine Leistungsbereitschaft. Dieses Vertrauen ist gut angelegt. Es zahlt sich doppelt und dreifach aus. Hier stimmt die Vertrauensrendite. Die Leistung des Mittelstands verdient Respekt, und die Leistung des Mittelstands verdient insbesondere unsere Unterstützung. Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der FDP - Beifall bei der CDU/CSU - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war es schon?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Friedrich für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Peter Friedrich (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, vielen Dank, dass Sie Ihr routinemäßiges Selbstlob heute Morgen kürzer gehalten haben als sonst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich stelle fest: An den Kernpunkten, die dazu beigetragen haben, dass wir die Wirtschaftskrise überwunden haben, waren Sie und sind Sie nach wie vor nicht beteiligt. (Beifall bei der SPD - Jörg van Essen [FDP]: Quatsch! Das ist ein Unsinn!) Wir haben eben wieder gehört, dass Sie all die Reformen und Konjunkturprogramme, die ganz maßgeblich noch in der Großen Koalition und unter Rot-Grün angeschoben wurden und die uns durch die Krise geführt und Gott sei Dank auch wieder herausgeführt haben, soweit wir es heute sagen können, abgelehnt haben und in der Sache immer noch ablehnen. Sie haben nicht begriffen, wie man Wirtschaftspolitik in Deutschland machen muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind froh darüber, dass wir in Deutschland wieder Wachstumszahlen haben. Aber wenn Sie sich die Zahlen genau betrachten - so ehrlich sollten Sie zu sich selbst sein -, dann sehen Sie: 2009 hatten wir durch die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise einen Absturz von minus 4,7 Prozent. Danach hatten wir plus 3,6 Pro-zent, wesentlich getragen durch das Konjunkturpaket in 2010. Wir sind jetzt wieder auf dem Weg dahin, wo wir bereits einmal waren, bevor uns die internationale Finanzkrise mit in den Strudel gezogen hat. Die Zeche dafür hätten die Menschen und die Mittelständler bezahlt, wenn es das Kurzarbeitergeld, das Konjunkturpaket und das Investitionsprogramm auch der Kommunen nicht gegeben hätte. Dies alles wurde durch eine aktive Wirtschaftspolitik angeschoben - etwas, was für Sie schon per se ein Fremdwort ist. (Beifall bei der SPD) In dem Antrag, den Sie uns heute auf den Tisch legen, begrüßen Sie die umfangreichen Maßnahmen der Bundesregierung für den Mittelstand. Sie nennen drei Punkte: die Hightech-Strategie, den Ausbildungspakt und die Mittelstandsinitiative. Wenn wir uns - jenseits der Hochglanzbroschüren - in den Antrag vertiefen, dann können wir Folgendes feststellen: Beim Breitbandausbau haben Sie die Ausbauziele verfehlt. Wir haben das Geld und die Regulierung auf den Weg gebracht. Trotzdem wurden die Ausbauziele verfehlt. Die Mittelständler und die kleinen Betriebe in den Gewerbegebieten unserer Gemeinden leiden heute darunter, dass es den entsprechenden Ausbau nicht gibt. Wir alle kennen das aus den Wahlkreisen; darüber wird ja auch bei Ihnen eine Debatte geführt. Von Hightech kann in den Gewerbegebieten, was den staatlichen Beitrag angeht, nicht die Rede sein, Herr Brüderle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Thema Ausbildungspakt - Sie selbst haben gerade die Verhandlungen angesprochen -: Wo ist denn Schwarz-Gelb, wenn es darum geht, Schulsozialarbeit auf den Weg zu bringen? Wo ist denn Schwarz-Gelb, wenn es darum geht, dass die Schüler an einen Schulabschluss herangeführt werden und dass sie einen Wechsel wagen können? Was ist denn aus den Ausbildungsbegleitern geworden? Sie haben sich allen Hilfen verweigert, als es darum ging, Schule eben nicht nur als einen reinen Lernort zu begreifen. Gerade diejenigen, die wir brauchen, die Talente, werden nicht ausreichend gefördert. Auch die Organisation der Förderung von kleinsten Kindesbeinen an wäre hier zu nennen. All dem haben Sie sich gerade in den Verhandlungen verweigert. (Beifall bei der SPD) Schauen wir uns die faktische Mittelstandspolitik dieser Regierung einmal an: Schwarz-Gelb hat im Bundeshaushalt bei der Regionalförderung gekürzt; das trifft vor allem den Mittelstand und das Handwerk in den entsprechenden Gebieten. Schwarz-Gelb hat bei der Städtebauförderung gekürzt; das trifft vor allem das Ausbaugewerbe und das Handwerk in den Städten und Gemeinden. Auch das Marktanreizprogramm haben Sie gekürzt, wodurch Sie Zukunftsinvestitionen, Energieeffizienz und bessere Energietechnik verhindern. In der Energiepolitik haben Sie nicht nur die Monopole und Großkonzerne gestärkt, sondern jetzt wollen Sie, wie man lesen kann, auch noch den Einspeisevorrang zurücknehmen, was dazu führt, dass die vielen Tausend Handwerker und Mittelständler, die heute an der Energiewende arbeiten und damit Menschen Arbeit bieten, von den Großkonzernen wieder an die Wand gedrückt werden. Darum geht es Ihnen in Ihrer Energiepolitik. Das, was Sie bei der Energie veranstalten, ist Mittelstandsfeindlichkeit pur. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nach all dem Eigenlob und all den Beschreibungen Ihrer dicken Papiere - Handlungen gibt es von Ihrer Seite ja nur wenig - kommen Sie dann in Ihrem Antrag zu ein paar Forderungen. Sie sind im Wesentlichen davon getragen, dass die Regierungskoalition die Bundesregierung auffordert, sich an den Koalitionsvertrag zu halten. Das ist in gewisser Weise amüsant, weil der Koalitionsvertrag voller Prüfaufträge steckt. Der wichtigste Punkt für Sie - Sie haben ihn gerade noch einmal angeführt - ist das Thema Gewerbesteuer. In dem Antrag schreiben Sie: ... entsprechend den Festlegungen im Koalitionsvertrag so bald wie möglich Gesetzentwürfe vorzulegen, um kleine und mittlere Einkommen stärker zu entlasten, ... (Beifall bei der FDP) Sie sind übrigens die Koalition, die mit "Mehr Netto vom Brutto" angefangen und inzwischen bei deutlich weniger Netto aufgehört hat. Durch das, was Sie bei der Gesundheitsreform gemacht haben, durch Ihren Ministeuerkompromiss haben die Leute weniger Netto im Geldbeutel und nicht mehr. Sie sind die Nettolügen-Koalition. Insofern ist es gut, wenn Sie in den Antrag schreiben, dass Sie dies noch immer vorhaben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter, die Gemeindefinanzen sollten wachstumsfreundlich reformiert werden. Herr Brüderle, Sie haben am 1. Februar bei der Vorstellung Ihrer Mittelstandsinitiative gesagt, die Abschaffung der Gewerbesteuer sei die sauberste Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Sie haben selber gesagt, dass Sie das Thema der Gewerbesteuer bei den Verhandlungen über Hartz IV auf den Tisch gelegt haben; Sie haben damit die Verhandlungen überfrachtet. Sie verpassen mit Ihrer Aussage all den Gewerbetreibenden, die ihre Steuern - keiner zahlt gern Steuern - in dem vollen Bewusstsein zahlen, damit ihre Gemeinde zu unterstützen, eine Ohrfeige. Sie verpassen mit dieser Forderung allen Kommunalpolitikern eine Ohrfeige. Es geht bei der Gewerbesteuerreform darum, für eine Gleichbehandlung des Mittelstandes bei der Gewerbesteuer zu sorgen, indem eben nicht nur der Gewerbetreibende, sondern auch der Freiberufler zur Zahlung herangezogen wird. Es geht darum, eine vernünftige Finanzierungsbasis für die Gemeinden zu schaffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Während wir damals gemeinsam mit der Union ein Investitionsprogramm gerade zugunsten der Kommunen aufgelegt haben, springen Sie nun direkt vom Gaspedal auf die Bremse. Wir erleben jetzt bei der Haushaltsaufstellung in fast allen Kommunen, dass die Investitionsmaßnahmen gestrichen werden, dass sie ihren Haushalt nicht ausgleichen können. Sie wollen jetzt auch noch die wesentliche Finanzierungsquelle der Gemeinden komplett weghauen. Das sind Kommunalfeindlichkeit und Mittelstandsfeindlichkeit in Reinkultur. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Immerhin haben Sie erkannt, dass wir eine neue Gründungskultur brauchen. Da passt es hervorragend, dass ausgerechnet diese Koalition an einer Stelle, die für die Gründer wirklich wichtig ist, eine Verschlechterung herbeigeführt hat. Hier geht es um die Frage: Habe ich die notwendige Sicherheit, auch mit Blick auf meine Familie, eine Gründung zu wagen? Verfüge ich trotzdem über eine soziale Absicherung? Sie waren diejenigen, die die Beiträge der freiwillig Versicherten in der Arbeitslosenversicherung - das sind gerade Existenzgründer, Unternehmer in Kleinbetrieben und Freiberufler - um 300 Prozent erhöht haben. Sie haben es den Gründern erschwert, sich in der Gründungsphase abzusichern. Deswegen sind Sie die Allerletzten, die hier zum Thema Gründungskultur etwas sagen sollten. (Beifall bei der SPD) Immerhin haben Sie erkannt, dass wir bei der Unternehmensfinanzierung in eine problematische Situation geraten. Wir haben Gott sei Dank keine Kreditklemme, auch weil wir damals mit Peer Steinbrück in der Bankenkrise mutig gehandelt haben. Herr Brüderle, die Einrichtung des Kreditmediators ist Ihnen inzwischen selber peinlich. Sie schreiben in Ihrem Antrag einen sehr verschwurbelten Satz, der nichts anderes bedeutet als Folgendes: Wir haben das Problem, dass Kredite infolge der Umsetzung der Basel-III-Richtlinien insbesondere für die Mittelständler teurer werden. Jetzt frage ich Sie: Wo sind all Ihre Vorschläge und all Ihre Maßnahmen, um es tatsächlich hinzubekommen, dass Mittelständler Eigenkapital oder Eigenkapitalersatz zu vernünftigen Bedingungen erhalten können? Die Antwort auf die entsprechende Frage im Ausschuss war: Wir prüfen, wir prüfen, wir prüfen. - Sie sagen inzwischen nicht einmal, was genau Sie prüfen; Sie sagen nur: Wir prüfen. - Sie haben keine Antwort auf die Frage. Die von Ihnen veranstalteten Bankengipfel haben nichts gebracht. Sie drücken sich darum herum, zu sagen: Wir brauchen eine staatlich unterstützte Mittelstandsanleihe, um dem Mittelstand dabei zu helfen, neues Eigenkapital aufzubauen. Summa summarum: Ihr Handeln richtet sich gegen eine Unterstützung des Mittelstands, Ihrem Reden zufolge sind Sie dafür. Es bringt nichts, wenn Sie mittwochs, donnerstags oder freitags im Parlament noch einmal Sonntagsreden halten. Packen Sie besser die Punkte an, die den Mittelstand wirklich betreffen: faire Wettbewerbsbedingungen, faire Ausbildungsbedingungen und faire Finanzierungsbedingungen. Damit würden Sie dem Mittelstand mehr nützen als mit der heißen Luft, die Sie ständig produzieren. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schon wieder Wahlkampf! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Deswegen hat bei euch ja auch Friedrich gesprochen!) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Friedrich, Sie konnten mit der zeitlichen Länge Ihrer Ausführungen durchaus mit dem Bundeswirtschaftsminister konkurrieren; aber hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Kompetenz und Substanz war es doch ein bisschen dünn. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es kann gar keine Frage sein: Die Unternehmen unseres Landes sind mit den größten ökonomischen Herausforderungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, mit der Bankenkrise und der Euro-Krise, sehr gut fertig geworden. Das haben wir insbesondere dem Mittelstand zu verdanken. Der Mittelstand hat sich als das stabile Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschaft erwiesen. Es wird 2011 so sein, dass die meisten der 320 000 neu entstehenden Arbeitsplätze - so die Schätzung - aus dem Mittelstand kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Mittelstand ist der Motor für Wachstum, Beschäftigung und Ausbildung in Deutschland. Nichts verdeutlicht dies so sehr wie ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen, insbesondere auf die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland und in Europa. Bekanntlich beruht der nachhaltige wirtschaftliche Erfolg eines Landes darauf, dass gerade den jungen Menschen, den nachwachsenden Generationen, hinreichende Beschäftigungsperspektiven geboten werden. Unser Land tut dies glücklicherweise in hohem Maße, übrigens insbesondere dank des Mittelstandes. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete dieser Tage, dass die Werte der Jugendarbeitslosigkeit in Europa fast überall zweistellig sind. Insbesondere ist die Arbeitslosigkeit bei den jungen Menschen in Europa nach der Krise in die Höhe geschossen. In Schweden, dem vermeintlichen Arbeitnehmerparadies vergangener Tage, beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote 22,9 Prozent. Bei unserem Nachbarn Frankreich beträgt sie fast 25 Prozent. 33,4 Prozent sind es in Griechenland. Mehr als ein Drittel der jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren ist dort arbeitslos. Unrühmlicher Spitzenreiter ist Spanien: Dort erreicht die Jugendarbeitslosigkeit den erschreckenden Wert von 43,6 Prozent. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) Fast die Hälfte der jungen Menschen in Spanien hat keinen Job. Nur in drei europäischen Ländern, der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland, bewegt sich die Jugendarbeitslosigkeit im einstelligen Bereich. Besonders gut sieht es in Baden-Württemberg aus. Baden-Württemberg hat nicht nur die niedrigste Arbeitslosenquote in Deutschland, sondern wir haben mit 2,7 Prozent auch die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganz Europa. Das ist ein Spitzenwert, und darüber dürfen wir uns freuen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Volker Kauder [CDU/CSU]: Über 57 Jahre Unionsregierung!) Ich möchte es noch einmal sagen: Dies liegt nicht zuletzt an unserem stabilen Mittelstand. Die mehr als 4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer, die Selbstständigen in den Bereichen Industrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen und in den freien Berufen besitzen in hohem Maße jene Kreativität und Innovationskraft, die für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen unabdingbare Voraussetzung sind. Insofern haben sowohl die amtierende Bundesregierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch die baden-württembergische Landesregierung von Ministerpräsident Stefan Mappus auf das richtige Pferd gesetzt: Beide Seiten haben dem Mittelstand Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar insbesondere in der Krise. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung hat mit einer Steuerentlastung in Höhe von 24 Milliarden Euro Anfang 2010 insbesondere dem Mittelstand unter die Arme gegriffen. Wir haben dadurch eine Kreditklemme verhindert, die eine Kettenreaktion mit Firmenpleiten ausgelöst hätte. Dies wurde ja 2008 befürchtet und wäre 2009 beinahe Realität geworden. Nichts davon ist eingetreten. Die konjunkturelle Rückendeckung seitens der Bundesregierung hat funktioniert. Das gilt auch für die Hightech-Strategie 2020, die im Juli des vergangenen Jahres vom Kabinett von Angela Merkel auf den Weg gebracht wurde. Ihr zentrales Element ist die Stärkung der Innovationskraft des Mittelstandes. Sie ermöglicht Vernetzungen der Unternehmen untereinander, aber auch mit der Wissenschaft, was Synergieeffekte schafft, deren Wirkung wiederum neue und attraktive Arbeitsplätze sind. Das Ganze funktioniert bereits gut. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Ausgehend von der Einsicht, dass Mittelstandspolitik allen Menschen nützt, ist beim Mittelstand investiertes Geld gut angelegt. Für die gesamte Gesellschaft entsteht so ein Höchstmaß an Mehrwert. Wir wollen uns in Zukunft vor allem auf drei Bereiche konzentrieren: Erstens: Reduzierung der Staatsverschuldung. Nur ein Staat, der in der Zeit spart, vermag in der Not solche Rettungspakete aufzulegen, wie wir das in der Krise getan haben. Deswegen ist es oberste Pflicht, nach der Überwindung der Krise die Ausgaben wieder zurückzufahren und nach Maßgabe der schwäbischen Hausfrau zu agieren, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht zum Vorbild erklärt hat. Dies ist zwar nicht populär, aber es ist notwendig. Wer derzeit Griechenland, Portugal und Spanien dafür kritisiert, dass sie die Sanierung ihrer Staatsfinanzen allzu lang hinausgezögert haben, der kann sich in unserem Land nicht den auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Sparzielen verweigern. Wir haben die Verantwortung, in Europa Avantgarde und Vorbild zu sein, auch beim Thema Haushaltskonsolidierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Negativbeispiel können Sie übrigens in Nordrhein-Westfalen sehen, wo eine rot-grün-dunkelrote Landesregierung das Land in eine unverantwortliche Staatsverschuldung hineintreibt. Diesen Weg wollen wir exakt nicht gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens brauchen wir modernste, sauberste und sicherste Verkehrsinfrastrukturen, wenn wir auch in Zukunft wirtschaftspolitisch vorne bleiben wollen. Dazu sind wir gewillt, die Grünen aber leider nicht. Sie sind die Dagegen-Partei, vor allem was die Infrastrukturen angeht. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh je, oh je!) Wir wussten bereits, dass Sie gegen Straßen und Flughäfen sind. Seit Stuttgart 21 wissen wir, dass Sie auch gegen die Modernisierung einer hundert Jahre alten Bahnstrecke und gegen die Modernisierung von Bahnhöfen sind. Und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus: Jetzt sind Sie auch noch gegen Investitionen in die ökologischsten Verkehrswege überhaupt, gegen Investitionen in die Schifffahrt. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses, Winfried Hermann, sagte kürzlich, der Ausbau von Wasserwegen und Schleusen in Baden-Württemberg sei sinnlos und habe zu unterbleiben. Sie sind letztlich gegen alles. Sie gefährden damit den wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie gefährden Arbeitsplätze. Sie sind Wohlstandsgefährder. Drittens möchte ich das Thema Bürokratieabbau ansprechen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Strobl. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Kaum etwas gefährdet wirtschaftlichen Erfolg so wie eine übertriebene Bürokratie. Das darf nicht sein. Herr Präsident, ich komme zum Schluss (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) und möchte an Sie alle appellieren: Unterstützen Sie den Antrag der Koalitionsfraktionen! Die Umsetzung von dessen 15 Forderungen wird mithelfen, dass wir nachhaltig aus der Krise herauskommen. Daran sollten wir alle ein Interesse haben. Besten Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da kommt der nächste Mittelstandsbeauftragte!) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wundern sich, dass die Linke zum Thema Mittelstand spricht. Wir sind die eigentliche Mittelstandspartei. Ich werde Ihnen das gleich erklären. (Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie sind noch nicht mal Mittelmaß, Herr Gysi!) Eines steht nun einmal fest: Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft: (Zuruf von der CDU/CSU: Der Auftakt zu einer Büttenrede!) 70 Prozent aller Beschäftigten und 80 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in Unternehmen und im Handwerk mit weniger als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. 90 Prozent der 1,4 Millionen Jugendlichen werden in mittelständischen Unternehmen ausgebildet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen hat zwischen 2001 und 2008 um über 300 000 auf nunmehr 3,75 Millionen zugenommen. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie haben ja unser Infoblatt gelesen! Sehr gut!) Allerdings gibt es darunter 2,3 Millionen Soloselbstständige. Darüber müssen wir uns ein anderes Mal unterhalten. Die Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen arbeitet auf dem Binnenmarkt. Sie brauchen deshalb zahlungskräftige Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Daran mangelt es in Deutschland ganz erheblich; denn der Aufschwung geht an der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vorbei. Jetzt müssen Sie sich die Zahlen anhören; das tut mir leid: 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor. Diese nutzen dem Mittelstand gar nichts, um es einmal ganz klar zu sagen. Jede dritte Neueinstellung im sogenannten Aufschwung erfolgt in Leiharbeit. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklaverei. (Beifall bei der LINKEN) Nicht nur die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden ausgebeutet. Vielmehr werden damit auch noch die Löhne der anderen Beschäftigten gedrückt. Für die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gibt es nicht einmal einen Mindestlohn, und zwar dank der FDP, weil sie mit allen Mitteln versucht, den Mindestlohn zu verhindern. Rund die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt nur mit befristeten Arbeitsverträgen. Die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker stieg um 100 000 auf 1,4 Millionen. Übrigens auch ganz interessant: Unter den Aufstockern sind 92 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. Frau Merkel und andere finden das Aufstocken toll. Ich sage Ihnen Folgendes: Wenn jemand einen Vollzeitjob hat, gute Arbeit leistet und danach zum Sozialamt gehen muss, um sein Existenzminimum zu sichern, dann ist das für die Bundesrepublik Deutschland ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der FDP: Oh!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Gysi, nun haben Sie sich ja beinahe eine Zwischenfrage bestellt. Die Frage ist, ob Sie diese zulassen wollen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Es wird zwar keine Frage werden; aber ich lasse sie natürlich zu. Herr Präsident, Sie müssen aber die Uhr anhalten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie werden doch nicht auch nur andeuten wollen, dass ich Ihnen jemals auch nur zehn Sekunden gestohlen hätte. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Lieber Kollege Gysi, haben Sie eine Berechnung - es wird doch eine Frage -, wie viele Aufstocker es gäbe, wenn wir Ihrem Modell, das einen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro pro Person vorsieht, folgen würden? (Zuruf von der LINKEN: Mindestlohn!) Haben Sie einmal ausgerechnet, Kollege Gysi, dass, wenn man den von Ihnen geforderten Mindestlohn in Höhe von 11 Euro oder 10 Euro - ich weiß nicht, wie der Tageskurs bei Ihnen gerade ist - einführen würde - (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich schicke Ihnen unsere Programme zu, damit Sie das genau wissen. Das ist kein Problem. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): - gerne -, eine vierköpfige Familie etwa 1 000 Euro weniger hätte als eine Familie in Hartz IV, die nach Ihrem Modell einen Regelsatz von 500 Euro pro Person erhalten würde? (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Rechnen müsste man können!) Ihre Forderungen bezüglich eines Mindestlohns und Hartz IV müssen Sie zusammen betrachten. Wie viele Aufstocker würde es dann geben? Haben Sie das einmal ausgerechnet? Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Aufstocker gäbe es nach unserem Modell überhaupt nicht, weil wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn verlangen, der dies eindeutig verhindern würde. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie müssen unsere Vorstellungen immer im Zusammenhang sehen. Den Regelsatz, den wir für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger als eine soziale diskriminierungsfreie Grundsicherung fordern, ist das eine; der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist das andere. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das passt nicht zusammen!) Dann wäre das Lohnabstandsgebot eingehalten, und dann gäbe es all die Probleme nicht, die Sie dadurch anrichten, dass Sie sowohl die Steigerung des Regelsatzes als auch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns verhindern. (Beifall bei der LINKEN) Der Mittelstand braucht den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, den Sie verhindern. Er braucht auch steigende Löhne. Jetzt müssen Sie sich - auch Sie, Herr Brüderle - einmal mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es nur eine kapitalistische Industriegesellschaft auf der Welt gibt, die in den letzten zehn Jahren einen Verlust beim Reallohn zu verzeichnen hatte, nämlich Deutschland: minus 4,5 Prozent - das gab es weder in den USA noch in Großbritannien noch in Frankreich noch in Skandinavien. Damit müssen Sie sich einmal auseinandersetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir dem Mittelstand helfen wollen, brauchen wir jetzt Lohnsteigerungen von mindestens 5 Prozent; besser wären 10 Prozent. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: 20! 30! 40!) - Nein, wir übertreiben ja nicht. Ich sage Ihnen noch etwas zu höheren Sozialleistungen; dazu gehört auch Hartz IV. Schauen wir uns doch einmal dieses einzigartige Schauspiel an, das Union, SPD, FDP und Grüne diesbezüglich geliefert haben. Das Bundesverfassungsgericht hat gestern vor einem Jahr entschieden, dass das Gesetz, in dem die Hartz-IV-Leistungen geregelt sind und das von diesen vier Fraktionen verabschiedet wurde, grundgesetzwidrig ist und dass es bis zum 31. Dezember 2010 eine Neuregelung geben muss. Sie haben versagt; es gibt bis heute keine Neuregelung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: Stimmen Sie doch zu!) Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem - auch das ist interessant - alle diskriminierenden und diffamierenden Strukturen von Hartz IV beibehalten wurden. Die Steigerung des Regelsatzes um 5 Euro hatten Sie schon vor zwei Jahren angekündigt; dafür hätten Sie gar nichts berechnen müssen. Sie haben ja auch gar nichts neu berechnet, sondern einfach die 5 Euro genommen. Wenn das so einfach ist, warum haben Sie den Gesetzentwurf nicht vor der Sommerpause vorgelegt? (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!) Warum so spät? Warum haben Sie das absichtlich verzögert? Sie wollten, dass das Gesetz nicht zustande kommt. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist der Punkt! - Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!) Dann haben Sie auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts missachtet. Es liegt keine Berechnung des Bedarfs für Kinder vor, obwohl das Bundesverfassungsgericht dies verlangt hat. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Was hat das denn mit Mittelstandspolitik zu tun? - Gegenruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sehr viel!) - Das kann ich Ihnen sagen: Der Mittelstand braucht Kaufkraft, und diese verweigern Sie dem Mittelstand. Das ist das Problem. (Beifall bei der LINKEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie haben die verdeckten Armen nicht aus der Berechnung herausgenommen, und Sie haben bei der Vergleichsberechnung nicht mehr die unteren 20 Prozent der Einkommen, sondern nur noch die unteren 15 Prozent einbezogen, um die 5 Prozent, die etwas besser verdienen, nicht in der Vergleichsrechnung zu haben. Damit verfolgen Sie ein Ziel: Es sollen nicht mehr als 5 Euro werden. Das alles halte ich für grundgesetzwidrig. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht erneut angerufen werden wird. Nun haben Sie dieses Gesetz beschlossen, der Bundesrat lehnte es ab, die Bundesregierung berief den Vermittlungsausschuss ein, und dieser bildete eine Arbeitsgruppe. Dann passierte das Übliche. Union, SPD, FDP und Grüne waren sich einig: In diese Arbeitsgruppe nehmen wir die Linke selbstverständlich nicht mit hinein. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! Das bringt ja auch nichts!) Warum fürchteten Sie uns dort? Aus zwei Gründen: erstens, weil Sie keine prinzipielle Kritik an Hartz IV hören wollten - denn Sie vier sind sich einig, was Hartz IV dem Grundsatz nach betrifft -, und zweitens, weil Sie befürchteten, dass die Linke dann erfährt, welche Nebendeals dort verabredet werden. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! - Na, na! - Quatsch!) Also haben Sie alle einmütig beschlossen: Die Linke darf nicht daran teilnehmen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Weltverschwörung!) Daraufhin haben wir das Bundesverfassungsgericht angerufen und eine einstweilige Anordnung beantragt, und das Bundesverfassungsgericht hat dem Vermittlungsausschuss Fragen gestellt. Diese Fragen waren so gestellt, dass dem Vermittlungsausschuss klar war: Die einstweilige Anordnung wird höchstwahrscheinlich ergehen. (Birgit Homburger [FDP]: Zum Thema! - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Irgendwann müssen Sie aber auch noch etwas zum Mittelstand sagen!) Daraufhin hat Herr Altmaier von der Union dem Bundesverfassungsgericht mitgeteilt, dass die Linke natürlich in diese wunderbare Arbeitsgruppe aufgenommen wird. (Peter Altmaier [CDU/CSU]: Was wir auch gemacht haben!) - Ja, natürlich; das haben Sie auch gemacht. Am 19. Januar dieses Jahres haben Sie dann - weil Sie ärgerte, dass die Linken jetzt doch von den Nebendeals erfahren (Birgit Homburger [FDP]: Mein Gott! Wovon reden Sie denn da?) und Sie sich immer wieder unsere prinzipielle Kritik anhören mussten - eine illegale Gruppe außerhalb der Arbeitsgruppe gebildet. Diese illegale Truppe sollte alles vorbereiten: für den Vermittlungsausschuss, für den Bundestag und für den Bundesrat. Das Problem ist nur: Ohne uns ist selbst diese illegale Truppe zu keinem Ergebnis gekommen. Damit haben wir es jetzt zu tun. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Mit illegalen Truppen haben Sie ja Ihre Erfahrungen! Damit kennen Sie sich aus! Das ist wahr!) - Ich sage Ihnen eines: Sie sollten einmal darüber nachdenken, warum Ihre Fraktion nie die Hilfe des Bundesverfassungsgerichts benötigt, um ihre Rechte zu bekommen, und warum nur die Linke immer wieder den Weg zum Bundesverfassungsgericht gehen muss. Das liegt an Ihrer grundgesetzwidrigen Einstellung im Verhältnis zur Linken. So ist das. (Beifall bei der LINKEN - Peter Altmaier [CDU/CSU]: Vielleicht liegt das auch an Ihnen!) - Damit haben Sie, Herr Altmaier, übrigens auch das Versprechen, das Sie gegenüber dem Bundesverfassungsgericht abgegeben haben, gebrochen. Ich weiß, dass die Bundesverfassungsrichter so etwas nicht mögen. Jetzt gibt es, wie gesagt, kein Ergebnis. Das bedeutet: 6,5 Millionen Betroffene wissen eigentlich nicht, woran sie sind. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sagen Sie auch noch mal etwas zum Mittelstand?) Das Gesetz, das es einmal gab, ist grundgesetzwidrig und gilt nicht mehr. Ein neues Gesetz liegt aber nicht vor. Unter den 6,5 Millionen Betroffenen sind 1,8 Millionen Kinder. (Dieter Jasper [CDU/CSU]: Mittelstand!) Schon jetzt steht fest: Für drei Monate ist ihnen der Zuschuss zum Mittagessen unersetzlich entzogen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Reden Sie gerade über die Kinder von Mittelständlern?) Ich finde das alles skandalös. Wenn der einzige Unterschied zwischen SPD und Grünen auf der einen Seite und Union und FDP auf der anderen Seite darin besteht, dass die einen eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro und die anderen eine Erhöhung um 11 Euro wollen, muss ich Ihnen sagen: Auch für arme Leute ist das eine Verhöhnung. Darum kann es im Prinzip nicht gehen. (Beifall bei der LINKEN - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da hat Ihnen jemand definitiv die falsche Rede aufgeschrieben! Sehr schade!) Wieder einmal wird die Aufgabe, Politik zu machen, dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Die FDP tut alles, um Lohnniveau, Renten- und Sozialleistungen zu senken. Ich sage Ihnen: Das ist eine mittelstandsfeindliche Politik. Interessant ist auch Folgendes: Die Interessenverbände des Mittelstands fordern Steuervereinfachung und Bürokratieabbau. Im Unterschied zur FDP fordern sie nicht Steuersenkungen, sondern Steuervereinfachung und Bürokratieabbau. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das machen wir ja gerade! Darum kümmern wir uns!) Dabei haben sie in uns einen Partner. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Interessant! Seit wann kümmert sich denn die Linke um Bürokratieabbau und Steuervereinfachungen?) - Es gibt wunderbare Steuervereinfachungen: höherer Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer, linearer Tarifverlauf, endlich ein Abbau des Steuerbauches für die durchschnittlich Verdienenden, der überhaupt nicht gerechtfertigt ist, und eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer von 42 auf 53 Prozent für alle Einkommen, die man oberhalb von 72 000 Euro erzielt. Ja, dann müssten wir alle mehr Steuern zahlen. Dazu kann ich aber nur sagen: Na und? Das würde für mehr Gerechtigkeit sorgen und das Allgemeinwohl stärken. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen würde das auch Existenzgründerinnen und Existenzgründern nützen. Was machen Sie? Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: die Abgeltungsteuer. Die Reichen müssen nach der Abgeltungsteuer 25 Prozent Steuern zahlen, unter anderem auf Zinseinnahmen. Das ist Geld von Geld. Ein Unternehmen, das Gewinn gemacht hat und investiert, muss viel höhere Steuern zahlen. Erklären Sie doch einmal, wieso man fürs Nichtstun, wenn man also Geld bekommt, so viel weniger Steuern zahlen muss, als wenn man etwas tut. Nein, da haben Sie gar nichts verbessert. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist doch schon versteuert!) - Ich kenne die FDP-Argumentation. Wissen Sie, wie Ihre Argumentation immer lautete? Sie lautete: Weil es so viel Steuerhinterziehung gibt, muss man den Steuerhinterziehern entgegenkommen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach! So ein Quatsch! Aber dieses Geld wurde doch schon versteuert!) Ich sage Ihnen: Dieses Entgegenkommen gegenüber Kriminellen nutzt Ihnen gar nichts - ganz im Gegenteil. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie verstehen gar nichts!) - Ja, es kann schon sein, dass Sie viel mehr von allem verstehen. Aber die Ergebnisse Ihrer Politik sehen wir, und die sind katastrophal, lieber Herr Lindner. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen: Auch Ihre Steuerpolitik ist mittelstandsfeindlich. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen. Hier ist Ihnen allerdings ein großer Vorwurf zu machen. Es gibt in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir sind gerade bei der Mittelstandspolitik, Herr Gysi! Nur mal ganz nebenbei!) Ich habe Ihnen schon einmal erklärt: Das ist 19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Top-Bildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Davon sind wir meilenweit entfernt. Sie trennen die Kinder so früh wie möglich, um soziale Ausgrenzung zu betreiben. Das ist nicht der Weg, um ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bekommen. (Beifall bei der LINKEN) Allerdings sage ich auch, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen zu wenig ausbilden. Wir brauchen erstens Top-Schulen. Wir brauchen auch eine Ausbildungsumlage für Unternehmen, die jene Unternehmen bezahlen müssen, die ausbilden könnten, es aber nicht tun. Wir brauchen verbindliche Vereinbarungen über die Zahl der Ausbildungsplätze und ausreichende Studienplätze, und zwar ohne Studiengebühren. Dazu sage ich Ihnen noch etwas: Die ärmeren Leute in Bayern studieren inzwischen in Berlin, weil es in Berlin keine Studiengebühren gibt. Sie können nicht alles zulasten Berlins regeln. Das will ich Ihnen auch einmal so deutlich sagen. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden in Berlin keine Studiengebühren einführen, selbst wenn Sie sie in Bayern erhöhen. Ich glaube allerdings, dass wir von den Studiengebühren wegkommen müssen. Die Forschungsförderung, die Sie planen, planen Sie übrigens zu 80 Prozent für Konzerne und nur zu 20 Prozent, lieber Herr Brüderle, für die kleinen und mittelständischen Unternehmen; das sind gerade einmal 300 Millionen Euro. Warum erfolgt diese Ungerechtigkeit? - Leider läuft meine Zeit ab. Ich hätte Ihnen noch so viel zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine gute Nachricht!) - Ich wusste es. Wissen Sie, ich bekomme so selten Beifall von Ihnen, dass ich ab und zu einen solchen Satz sagen muss, um ihn doch zu bekommen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der FDP: Gut, dann machen wir das noch einmal!) Lassen Sie mich den letzten Satz sagen. Die größten Hemmnisse sind übrigens die Banken, die so gut wie keine Kredite an kleine und mittelständische Unternehmen vergeben. Diese Unternehmen haben größte Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Sie unternehmen nichts dagegen. Die größten Hemmnisse für den Mittelstand sind die Deutsche Bank und die sich nach ihr richtende Politik dieser Bundesregierung. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie reden von Schulen! Thema verfehlt! Note sechs!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Gysi, wenn man einen Großteil der Zeit, die für die Mittelstandsdebatte vorgesehen war, über Hartz IV redet, bleibt natürlich nur wenig Zeit, um anschließend noch etwas zum Mittelstand sagen zu können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP - Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das hören Sie nicht gerne!) Aber der Minister war nicht besser. Der Minister hat es in sechs Minuten geschafft, hier relativ viel heiße Luft abzulassen, aber zu den Problemen, die es zu lösen gilt, kein Wort zu verlieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Brüderle, dieses Sich-selbst-Loben, das man von der FDP kennt - das betreiben ja viele von Ihnen sehr gerne -, wird in den Ländern mittlerweile so gesehen - ich bringe ein kurzes Zitat Ihres Landesvize in Hessen, der Folgendes wörtlich gesagt hat -: Der Slogan ‚Erfolgreich vor Ort' verbietet eigentlich, dass sich Westerwelle vor Ort breit macht. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das ist zwar hart, zeigt aber, dass das, was Sie hier an guter Politik zu machen glauben, vor Ort anscheinend nicht ankommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist die Wahrnehmung der Menschen und ein Grund dafür, warum Sie in den Umfragen so abschneiden, wie Sie abschneiden. Es stimmt: Der Mittelstand ist gut durch die Krise gekommen. Daher müsste es umgekehrt laufen: Nicht die Politik sollte sich dafür auf die Schultern klopfen, was sie toll gemacht hat. Vielmehr sollten wir dem Mittelstand danken; denn wegen der Stärke der Unternehmer und Unternehmerinnen sind wir gut durch diese Krise gekommen. Sie haben es geschafft, das gut zu organisieren, und zwar trotz dieser Regierung und nicht wegen dieser Regierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Was auch auffällt, ist, dass Sie in Ihrem Antrag - das ist dieses 15-Punkte-Papier; es finden momentan in vielen Bundesländern Wahlkämpfe statt, und daher ist es nicht überraschend, dass wir hier und heute eine Mittelstandsdebatte führen - Forderungen stellen, die diese Regierung eigentlich schon längst hätte erfüllen können. Es ist bemerkenswert, dass Koalitionsfraktionen ihre eigene Regierung auffordern, etwas Vernünftiges zu tun. Sie haben es in der Vergangenheit geschafft, über die Mehrwertsteuergeschenke für die Hoteliers, über Milliarden-Gutscheine für Atomkonzerne, über die Abwrackprämie für die Automobilindustrie so viel Geld zu verpulvern, dass das, was Sie selbst in Ihrem Antrag als wichtig erachten, nämlich die Forschungsförderung für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, angeblich nicht finanzierbar ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist Ihre Denke, die dahintersteckt: Es geht Ihnen in Wirklichkeit um Klientelpolitik. Es geht Ihnen nicht darum, eine vernünftige Strukturveränderung über eine Rahmengesetzgebung herbeizuführen, wie sie beispielsweise unsere steuerliche Forschungsförderung für den Mittelstand eine wäre. Sie sagen bei jeder Veranstaltung: Das ist wichtig; das müssen wir machen. Wenn es aber konkret wird, dann lehnen Sie ab. Die Grünen hatten ja bereits einen Antrag dazu gestellt. Die Union und die FDP haben ihn abgelehnt. Jetzt haben Sie diese Forderungen in Ihr Papier geschrieben. Daran sieht man: Es ist irgendwie nett gemeint; (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nur Getöse!) aber sobald es konkret wird, sind Sie abgetaucht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das rächt sich aber. Die KMUs erhalten nur etwa 15 Prozent der Forschungsausgaben. Gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen sorgen aber doch in der mittleren Perspektive für das, was wir brauchen: für Innovationen im Bereich der Fahrzeugtechnologie, Innovationen im Bereich der Energieversorgung, Innovationen in der chemischen Industrie und den kleinen Unternehmen, zum Beispiel der Medizingeräteindustrie. Sie müssen erkennen, dass sehr viel an Förderung fehlt, um hier voranzukommen. Darauf sollte man den Fokus legen. Ansonsten rächt sich das am Ende; denn wir wollen doch Vorbild sein für vernünftige Produkte auf dem Weltmarkt, die ressourcenarm produziert werden und wenig Energie verbrauchen. Dafür ist diese Forschungsförderung notwendig. Geben Sie sich endlich einen Ruck, und machen Sie das. Ein anderes Thema, das Sie auch sträflich vernachlässigt haben, ist der Fachkräftemangel. Es wird darüber gesprochen, wie viele Fachkräfte fehlen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Brüderle, hallo! Fachkräftemangel!) Wir wissen, dass die Zeit drängt und dass dem Mittelstand Kosten in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro entstehen, weil es diese Fachkräfte nicht gibt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin. Herr Minister, es wäre ganz schön, wenn bei dem Bemühen der Rednerin, sich an Sie zu wenden, dafür auch Aufmerksamkeit hergestellt werden könnte. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gerade wenn es um Fachkräftemangel geht! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist der Fachkräftemangel in der Bundesregierung!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich nehme an, der Herr Minister muss sich zwischendurch beraten lassen, wie das Problem des Fachkräftemangels zu lösen ist. Das genau ist das Problem; denn innerhalb der Koalition gibt es hier keine klare Linie. Es wird immer nur darüber geredet, aber es gibt keine Position. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Bei der CSU ist es ganz schlimm. Sie diskutiert jetzt darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist - und das im Zusammenhang mit der Diskussion über Fachkräfte. Absurder geht es wirklich nicht mehr. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott, Christine!) Wer mittelständische Unternehmen besucht, der weiß, wie schwierig die Situation ist, lieber Ernst Hinsken. Wir wissen, wie schwierig die Situation ist, und wir wissen auch, dass die derzeitigen Regelungen, von denen Sie glauben, dass sie super funktionieren, eben nicht funktionieren. Wenn man bei der Regierung nachfragt, dann erfährt man zum Beispiel, dass es keine Daten über Vorrangprüfungen und darüber gibt, wie lange das dauert. Es gibt einfach keine vernünftige Grundlage, sondern es wird ins Blaue hinein behauptet, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ins Grüne hinein!) wir hätten hier keine Probleme, was natürlich überhaupt nicht stimmt und von den Unternehmen auch völlig anders gesehen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es passiert nichts. Wir haben auch den mehrfach angekündigten Entwurf eines Gesetzes zur schnelleren Anerkennung von ausländischen Abschlüssen noch nicht vorliegen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ungeheuerlich!) Es ist ein Problem, wenn eine Ärztin aus einem osteuropäischen Land hier nicht im Krankenhaus arbeiten kann, weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird, sondern als Reinigungskraft arbeiten muss, weil Sie das nicht voranbringen, und wir gleichzeitig einen Ärzte- und Ärztinnenmangel haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Daran sieht man, dass diese Regierung nicht in der Lage ist, die Probleme, die es zu lösen gilt, auch wirklich anzugehen. Der Vorschlag, den die Grünen machen, ist: Wir brauchen eine Kombination. Heimische Arbeitskräfte müssen weiter gefördert und qualifiziert werden; gleichzeitig brauchen wir bedarfsorientiert eine kontrollierte Zuwanderung. Wir haben eine Absenkung der Mindestverdienstgrenze auf 40 000 Euro vorgeschlagen. Das erzählen Sie draußen auch immer herum. In der Praxis haben Sie es aber noch immer nicht politisch umgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Sie sagen immer, man müsse Brücken bauen und etwas tun; aber Sie sind nicht bereit, hier voranzugehen, weil es zu diesem Punkt keine übereinstimmende Meinung in der Koalition gibt. In Wirklichkeit streiten Sie seit zwei Jahren. Das ist schlimm für unseren Standort und wirft uns im internationalen Wettbewerb zurück. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein Beispiel dafür, wie kurzsichtig auch Ihre Energiepolitik ist, ist die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, über die wir hier schon öfter diskutiert haben. Dabei geht es auch um die Frage, was das für unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen bedeutet. Denn der Mittelstand wird durch eine solche Maßnahme, wie Sie sie mit der Laufzeitverlängerung getroffen haben, massiv benachteiligt. Der Ausbau der regenerativen Energien wird gestoppt. (Jörg van Essen [FDP]: Das haben wir gerade bei der Solarenergie gemerkt! In was für einer Wirklichkeit leben Sie denn eigentlich?) Die kleinen dezentralen Energieversorger wie die Stadtwerke werden ausgebremst. Es gibt wütende Briefe aus den Regionen, in denen eine dezentrale Versorgung mit Beteiligung des örtlichen Handwerks gefordert und festgestellt wird, dass diese Regierung mit der von ihr getroffenen falschen Entscheidung ein gut geplantes Geschäftsmodell zunichte gemacht hat, und zwar zulasten der Unternehmen vor Ort, vor allem der kleinen und mittelständischen Betriebe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich der KMU übersteigt die in den Atomkonzernen um ein Vielfaches. Das ist bekannt. Sie haben die Förderung des Handwerks angekündigt. Was haben Sie aber gemacht? Sie haben bei der energetischen Gebäudesanierung die Förderung zusammengestrichen. Sie haben die Förderung reduziert, obwohl alle wissen, dass das Investitionsvolumen in diesem Bereich über 300 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland sichert. Wir wissen, dass 1 Euro öffentliche Investitionen gerade in diesem Bereich weitere 9 Euro an Investitionen auslöst und dass der Staat letztlich über die gezahlte Mehrwertsteuer mehr einnimmt, als er für Förderung ausgibt. Auch daran wird klar, dass Sie den Schwerpunkt falsch gesetzt haben. Für uns steht fest: Der ökologische Mittelstand ist weltmarktführend. Er ist innovativ und steht für die ökologische Modernisierung. Bremsen Sie sie nicht aus! Denn die Unternehmen wollen ökologische Modernisierung. Sie wollen, dass es auf dem Weltmarkt vernünftige Produkte gibt. Dann sind aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen in Deutschland notwendig, um diese Zukunftsorientierung leben zu können. Durch Ihre Politik machen Sie vielen das Leben ziemlich schwer. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist derjenige Staat am besten verwaltet und regiert, in welchem der Mittelstand der zahlreichste ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dieses Zitat ist 2 400 Jahre alt. Es stammt von Aristoteles und trifft den Nagel auf den Kopf. Die Entwicklung in Deutschland 2010 ist der beste Beweis dafür, dass wir den Mittelstand brauchen. Ein guter Staat stärkt den Mittelstand und macht ihn nicht kaputt. Deshalb hat diese Koalition die Wirtschaftspolitik konsequent auf eine Mittelstandspolitik umgestellt. Das werden wir auch so fortführen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Aufschwung, den wir derzeit erleben, ist zunächst einmal von den Unternehmen und den Arbeitnehmern erarbeitet worden. Das weiß niemand besser als jemand, der wie ich selber aus einem Handwerksbetrieb kommt. Deshalb haben wir gerade als Koalition immer konsequent deutlich gemacht, dass der Aufschwung vor allem auf die Unternehmen und Arbeitnehmer zurückgeht. Es geht aber auch um vernünftige Rahmenbedingungen. Diese hat die Koalition im letzten Jahr in der Krise geschaffen und damit dazu beigetragen, dass es aufwärts ging. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Mittelstand war der Motor, der uns aus der Krise gezogen hat. Das war auch deshalb möglich, weil Schwarz-Gelb in Berlin und Stuttgart die größten Brocken aus dem Weg geräumt hat. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein Quatsch!) Wir haben die Wachstumsbremsen beseitigt, beispielsweise durch die Entlastungen bei der Unternehmensteuerreform und die mittelstandsfreundliche Regelung der Unternehmensnachfolge, mit der wir die größten Probleme Ihrer Reform korrigiert haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein Quatsch!) Wir haben das auch deshalb getan, weil das Geld, das da besteuert wird, schon zigmal versteuert worden ist. Sie haben das Thema Zinsen angesprochen, Herr Gysi, die Sie höher besteuern wollen. Sie haben von einer Politik für Kriminelle gesprochen. Sehr verehrter Herr Gysi, diejenigen, die in diesem Land sparen und das tun, was wir von den Menschen erwarten, nämlich etwas von dem, was sie sich hart erarbeiten, fürs Alter zurückzulegen, sind diejenigen, die für ihr Erspartes Zinsen bekommen, und diese Menschen beschimpfen Sie als Kriminelle. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Es geht doch um Steuerhinterziehung, Frau Homburger!) Über diese Aussage sollten Sie einmal nachdenken, Herr Gysi. Wir machen Politik für die Menschen in diesem Land, für den kleinen Mann und die kleine Frau, die sich anstrengen, die arbeiten und die sparen und davon auch etwas haben sollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es war richtig, dass wir das Jahr 2010 mit einer Entlastung von 24 Milliarden Euro begonnen und damit einen Impuls für die Binnennachfrage gesetzt haben. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Mövenpicks sagen Danke! - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Deshalb haben die Kommunen auch kein Geld mehr!) Da komme ich zum Kollegen Friedrich, der hier gesagt hat, wir wollten mehr Netto vom Brutto. Ja, wir haben mehr Netto vom Brutto. (Lachen bei der SPD - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn? Höhere Krankenversicherungsbeiträge! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bei den Mövenpicks, oder wo?) Das Statistische Bundesamt hat gerade festgestellt, dass die Nettolöhne so stark steigen wie seit 17 Jahren nicht mehr. Das ist ein Erfolg, den wir erreicht haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: Die SED-Millionen, die sind Verbrechertum, Herr Gysi! Wo haben Sie die Millionen der SED versteckt?) Herr Friedrich, dann stellen Sie sich hier hin und werfen ausgerechnet dieser Koalition, die nachweislich erreicht hat (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo haben Sie die Millionen der SED versteckt?) - das sagt auch der Bund der Steuerzahler -, dass die Menschen mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben, Lüge vor. Das sagt ausgerechnet jemand, der einer Partei angehört, die einst keine Mehrwertsteuererhöhung wollte und dann eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent vorgenommen hat. Die größte Steuerlüge in dieser Republik haben Sie zu verantworten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!) Wir haben unsere Versprechen gehalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sehr verehrter Herr Gysi, jetzt komme ich noch einmal zu Ihnen und Ihrer Rede, die Sie im Wesentlichen Hartz IV gewidmet haben. Wer wirtschaftliche Dynamik über höhere Hartz-IV-Sätze regeln will, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Auch!) der verkennt Ursache und Wirkung. Deshalb bleibt es richtig, dass wir eine Politik zunächst einmal für diejenigen machen, die den Wohlstand in diesem Land erarbeiten; sie müssen mehr haben als diejenigen, die nicht arbeiten. Diese Politik werden wir konsequent umsetzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb sind Sie für Armutslöhne in Deutschland! Sehr logisch! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seit wann sind Sie logisch, Herr Heil?) Dann haben Sie hier so wunderschön gesagt, wir sollten nicht alles gegen Berlin regeln. Ich will Ihnen nur sagen - vielleicht können Sie einmal mit Herrn Wowereit Kontakt aufnehmen -: (Zuruf von der LINKEN: Kann mal jemand reden, der Ahnung hat?) Sie haben eine riesengroße Chance. Wenn Sie morgen im Bundesrat unserem Vorschlag zur Reform von Hartz IV zustimmen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Seit wann sind Sie denn im Bundesrat, Frau Homburger?) dann bekommen Sie eine Entlastung der Länder und der Kommunen, indem der Bund auf Dauer die Kosten der Grundsicherung übernimmt. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja eine parteipolitische Instrumentalisierung des Bundesrates! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja das Allerneuste!) Das wäre etwas, was tatsächlich Entlastung für die Kommunen bringen würde; das wäre etwas, was Sie machen müssten. Deshalb, Herr Gysi, kann ich Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie dieser Reform zu! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir werden die Mittelstandspolitik konsequent fortsetzen. Wir werden das tun, indem wir entsprechende Rahmenbedingungen bei der Infrastruktur setzen. Frau Scheel, Sie haben die erneuerbaren Energien angesprochen. Ich sage Ihnen: Wir fördern erneuerbare Energien. Wir haben zum ersten Mal einen Fonds für erneuerbare Energien auf den Weg gebracht, mit dem wir etwas schaffen werden, was Sie nie erreicht haben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir werden den Bereich Speichertechnologie konsequent fördern; denn wer für die erneuerbaren Energien eine große Zukunftschance will, der muss vor allen Dingen im Bereich der Speichertechnologie etwas tun. Mit unserem Fonds werden wir etwas reparieren, was Sie über Jahrzehnte in der Politik verpennt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Homburger, der Kollege Gysi möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident, ich möchte gern zum Schluss meiner Rede kommen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer das Gleiche! - Zurufe von der LINKEN: Oh!) - Also gut, wenn er unbedingt möchte. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das wird ohnehin das krönende Finale Ihrer Rede, (Heiterkeit) weil ich Sie gleich darauf aufmerksam machen möchte, dass mit der Beantwortung dann auch die Redezeit erschöpft ist. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Ich nehme auch an, dass es der krönende Abschluss sein wird. Ich wüsste auch nicht, was sonst noch kommen sollte. (Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD) Frau Kollegin Homburger, ich habe zwei Fragen. Sie haben darüber gesprochen, dass Leute, die sparen und die sich dieses Geld erarbeitet haben, zu unterstützen sind. Ich habe nichts dagegen gesagt. Ich habe von denen gesprochen, die ihre Steuerzahlungen reduzieren. Das Argument der FDP war immer: Weil bei den Zinsen so viel Steuern hinterzogen werden - und das ist kriminell -, muss man den Kriminellen entgegenkommen und die Steuersätze senken. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: So ein Quatsch!) Damit habe ich mich auseinandergesetzt und mit nichts anderem. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollten doch eine Frage stellen!) - Ich möchte gerne beantwortet haben, ob sie das auch so sieht. Ich kann es auch als Frage formulieren. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Lassen Sie ihn doch machen!) Frau Enkelmann sagt gerade, in der Geschäftsordnung steht, man kann auch eine Bemerkung machen, man muss gar keine Frage stellen. Aber ich kann übrigens Fragen stellen. Das fällt mir gar nicht schwer. Deshalb meine zweite Frage: Sie haben gesagt, denjenigen, die das Ganze erarbeiten, solle es besser gehen. Da stimme ich Ihnen voll zu. Dann erklären Sie mir bitte, warum die FDP gegen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ist, was generell zu einer Lohnerhöhung führte. Es sind doch, glaube ich, in erster Linie die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die die Werte in der Bundesrepublik Deutschland herstellen. (Beifall bei der LINKEN) Birgit Homburger (FDP): Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, das, wonach Sie gerade gefragt haben, hat der Kollege Martin Lindner vorhin schon völlig richtig ausgeführt. Ihre Politik passt überhaupt nicht zusammen. Sie ist in keiner Weise konsistent. Wir wollen, dass durch eine Stärkung der Arbeitnehmer sowie durch eine Stärkung des Mittelstandes möglichst viele Menschen in Deutschland die Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erhalten. Das haben wir ausweislich der Zahlen auch erreicht. Die niedrigste Arbeitslosigkeit und die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit seit 20 Jahren, das ist ein Erfolg unserer Politik. Diese Politik werden wir fortsetzen, und zwar im Sinne der Menschen in diesem Lande. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: Setzen, Gysi!) Herr Gysi, Sie dürfen gerne stehen bleiben, denn Sie hatten zwei Fragen gestellt. Die zweite Frage bezog sich auf die Zinsen. Wir haben immer wieder deutlich gemacht: Aus unserer Sicht ist es nicht fair, wenn man auf Erspartes Zinsen bekommt und auf diese Zinsen nochmals Steuern bezahlen muss; denn das ersparte Geld ist bereits zuvor versteuert worden. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So wird man zur Millionärspartei, genau so!) Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb sind wir der Meinung, dass wir den Menschen möglichst viel von dem lassen wollen, was sie sich erspart haben. Wir werden eine konsequente Mittelstandspolitik machen. Wir werden die Orientierung auf den Mittelstand in der Steuerpolitik, beim Bürokratieabbau, in der Innovationspolitik, bei Forschung und Entwicklung und bei der Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Dies wird für die Menschen in diesem Land die besten Ergebnisse bringen, die man sich vorstellen kann. Wir sind angetreten, weil wir mehr Chancen für mehr Menschen wollen. Das werden wir konsequent umsetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Andrea Wicklein für die SPD. (Beifall bei der SPD) Andrea Wicklein (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der Regierungsfraktionen. Wenn ich mir den Antrag, den Sie eingebracht haben, anschaue, dann entsteht bei mir der Eindruck, dass Sie Ihrem eigenen Minister Untätigkeit vorwerfen. Man könnte fast den Eindruck haben, Sie müssen Ihren eigenen Minister zum Jagen tragen. (Beifall bei der SPD - Volker Kauder [CDU/ CSU]: Nein, nein! Den brauchen wir nicht zum Jagen tragen; der macht das schon alleine richtig!) Schon im ersten Satz des Antrags schreiben Sie richtigerweise, dass die Unternehmen für den Aufschwung des letzten Jahres verantwortlich sind. Ich möchte noch ergänzen: Auch die weitsichtige Politik der SPD in der Großen Koalition war maßgeblich dafür verantwortlich. Welchen Anteil aber der Bundeswirtschaftsminister an diesem Aufschwung hat, kann man nicht erkennen. Offensichtlich halten Sie von der Regierungskoalition es für notwendig, nach anderthalb Jahren Schwarz-Gelb Ihren Minister aufzufordern, die beschlossenen Maßnahmen aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag endlich umzusetzen. Minister Brüderle hat seit seinem Amtsantritt pressewirksam eine ganze Reihe von Initiativen gestartet, die angeblich dem Mittelstand zugutekommen: die Initiative "Gründerland Deutschland", die Initiative "Internet erfahren" und die Initiative "Zukunftsmarkt zivile Sicherheit". Vor wenigen Tagen schließlich verkündete der Minister spontan eine neue Technologieoffensive. Am laufenden Band Initiativen zu starten, ist reine Ankündigungspolitik. (Beifall bei der SPD) Ganz offensichtlich, Herr Minister, sehen das die eigenen Regierungsfraktionen genauso; denn sie halten es für nötig, in ihrem Antrag ausdrücklich zu fordern, dass die neue Technologieoffensive auch zügig umgesetzt wird. Das zeugt nicht gerade von einem großen Vertrauen in Ihr Regierungshandeln. Aber die Krönung des Ganzen ist, dass Herr Brüderle bereits im Januar 2010 einen Neun-Punkte-Plan für den Mittelstand verkündet hat und exakt am gleichen Tag ein Jahr später nun einen Sieben-Punkte-Plan für den Mittelstand neu verkündet. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da sind zwei weggefallen!) Wenn ich diese beiden Initiativen nebeneinanderlege, stelle ich fest, dass dem Wirtschaftsminister nichts Neues eingefallen ist. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb ging die Rede auch nur sieben Minuten!) Da stelle ich doch ernsthaft die Frage: Was haben Sie in diesem Jahr getan? Offensichtlich nichts. (Beifall bei der SPD) Entscheidend sind eben Taten, Herr Brüderle, und nicht Ankündigungen. Trotz der momentan guten Konjunktur liegen doch die Probleme auf der Hand. Ich möchte einige herausgreifen. Erstens. Stichwort: Gründungen. Auch wenn der Trend positiv ist, sind die Zahlen der Gründungen in Deutschland nach wie vor ernüchternd. Deutschland nimmt unter den 18 hochentwickelten Volkswirtschaften bei Existenzgründungen nur den vorletzten Platz ein. Ich frage Sie: Wie und wann wollen Sie die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Gründungskultur nun konkret verbessern? Was wollen Sie für eine bessere soziale Absicherung der Gründer tun? Wann intensivieren Sie Ihre Bemühungen, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen? Welche Vorschläge haben Sie, gezielte Existenzgründungshilfen auszubauen? Von Ihnen hört man da gar nichts. (Beifall bei der SPD) Zweitens. In Deutschland haben es Gründer nach wie vor schwer, an das nötige Kapital zu kommen. Gerade die Finanzierung von der Geburt bis hin zu den ersten Schritten der jungen Unternehmen ist besonders schwierig. Jeder vierte Gründer klagt über große Probleme. Es ist beunruhigend, wenn fast zwei Drittel der befragten Experten die Finanzierungsbedingungen für Gründungen in Deutschland als besonders schlecht einstufen. Deshalb wäre es doch dringend geboten, Herr Brüderle, die Bedingungen für Wagniskapital zu verbessern. Ich frage mich: Wann werden Sie die bereits im Januar 2010 angekündigte Überprüfung der steuerlichen Verbesserung für Wagniskapital endlich abgeschlossen haben? (Beifall bei der SPD) Wann können wir mit konkreten Vorschlägen für eine Reform des Wagniskapitalbeteiligungsgesetzes rechnen? Als SPD setzen wir auf erfolgreiche Unternehmen, die Wagniskapital bereitstellen, auch unabhängig vom High-Tech-Gründerfonds; denn sie können ihre Erfahrungen mit den Gründern teilen. Das beweisen die Wagniskapitalgesellschaften, die es bereits gibt. Wir haben das "Corporate Venture Capital" genannt. Hier sollten Sie schnellstmöglich aktiv werden, um das zu erleichtern. Drittens: die Innovationsförderung. Auch dazu wurde heute schon zu Recht etwas gesagt. Die Koalitionsfraktionen haben die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung in ihren Antrag hineingeschrieben, obwohl sich, wenn ich mich richtig erinnere, Ihr Kollege Pfeiffer in der Bundestagsdebatte am 20. Januar von der Einführung der steuerlichen Förderung in dieser Legislaturperiode bereits verabschiedet hat. (Peter Friedrich [SPD]: So ist es!) Unklar bleibt also, was Sie eigentlich wollen und wann Sie damit beginnen wollen. Die SPD ist ganz klar für eine steuerliche FuE-Förderung. Diese soll die Projektförderung ergänzen. In Ihrem Antrag wird unter Punkt 7 wieder nur schwammig von der Einführung der FuE-Förderung "unter Berücksichtigung des gebotenen Konsolidierungskurses" gesprochen. Sehr geehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen, zusammenfassend ist zu sagen, dass Sie sich mit Ihrem gesamten Antrag nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Er ist unkonkret, und Sie schieben die Probleme vor sich her. Ich habe die Befürchtung, dass dem Motor Mittelstand bald der nötige Schmierstoff ausgeht, um auf Dauer das notwendige Tempo zu bringen. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Peter Friedrich [SPD]: Haben wir schon wieder Wahlkampf?) Julia Klöckner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott schütze Rheinland-Pfalz!) Herr Gysi, Sie wollten sich heute als neuer Mittelstandsbeauftragter präsentieren. Ich schätze ja Ihren Sinn für subtilen Humor. Ihre Partei ist mitnichten die Mittelstandspartei. Sie schafft es noch nicht einmal zur Mittelmaßpartei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Peter Friedrich [SPD]: Das habt ihr schon hinter euch!) Sie haben gefragt, wo denn die Spareinlagen sind. Wissen Sie, Herr Gysi, mich würde wirklich interessieren, wo die Spareinlagen der SED-Vermögen gelagert sind. Auch das könnte von Interesse sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der LINKEN) Diese Frage hören Sie nicht gern. Sie haben sich ja rechtlich nicht davon losgesagt. Insofern müssten Sie auch wissen, wie gute Geldanlage außerhalb Deutschlands funktioniert. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch vor wenigen Jahren sprach das Wall Street Journal von Deutschland als dem kranken Mann Europas. Das war 2005 unter der Regierung von Bundeskanzler Schröder. Und heute? Heute sieht es anders aus. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dank Herrn Schröder!) Heute spricht zum Beispiel die Washington Post davon, dass die deutsche Wirtschaft die stärkste in der Welt sei, und das unter der Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt der Trierische Volksfreund?) Heute ist Deutschland zur Konjunkturlokomotive in Europa geworden, und das übrigens in einer Zeit, in der sich andere Volkswirtschaften noch mühselig aus dieser Krise herauskämpfen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Tut, tut!) Natürlich gibt es auch noch Nachwehen. Ich denke, an dieses Problem müssen wir mit Demut herangehen. Nichtsdestotrotz ist klar, dass unsere Wettbewerbsposition nach dieser Finanz- und Wirtschaftskrise stärker ist als zuvor. Nach etwa 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr schauen wir jetzt auf 2,3 Prozent Wachstum im Jahr 2011. Natürlich darf nicht jedes Wachstum blind bejubelt werden. Umso mehr freut es mich, dass der Aufschwung an Breite und an Tiefe gewonnen hat. Die deutsche Wirtschaft engagiert sich nach wie vor intensiv im Export. Die Exportwirtschaft sichert Arbeitsplätze. In diesem Zusammenhang möchte ich der Opposition eines sagen: Auch die Ernährungswirtschaft sichert Arbeitsplätze. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guten Appetit!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie sagen, es sei unanständig, wenn wir Nahrungsmittel produzieren und ins Ausland schicken, Sie sagen, wir würden nicht nachhaltig produzieren, weil wir über Bedarf produzieren. Es ist unanständig, so etwas in den Ausschüssen zu behaupten. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe noch nie gehört, dass Sie sich über das importierte argentinische Rindfleisch beschweren. Ich danke allen, die an der Exportwirtschaft beteiligt sind, weil sie Arbeitsplätze und Zukunft sichern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst das Sorgenkind, das wir hatten, der inländische Konsum, hat sich erholt. So haben wir für 2011 eine Prognose von rund 2 Prozent Steigerung. Und das Allerschönste ist: Auch die Schröder'sche Massenarbeitslosigkeit haben wir weit hinter uns gelassen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was? Die Kohl'sche? - Weitere Zurufe von der SPD) Statt 5 Millionen Arbeitslose noch im Jahr 2005 haben wir jetzt nur noch 3 Millionen Arbeitslose, und die Tendenz ist weiter sinkend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Herr Heil, Sie müssen sich erinnern: Schröder sagte ja im Jahr 1998, er werde die Arbeitslosigkeit halbieren. Das hätte er gern für sich beansprucht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben wir geschafft!) - Sie sagen: Das haben wir geschafft. Spätestens daran sieht man, dass das Bildungssystem an manchen Stellen des Mathematikunterrichts verbesserungsbedürftig ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Frau Klöckner, Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen!) Lieber Herr Heil, 5 Millionen Arbeitslose waren es unter Gerhard Schröder. Diese christlich-liberale Regierung hat es in greifbarer Nähe, dass die Arbeitslosigkeit halbiert werden wird. Das danken ihr die Menschen; denn sie sind in Lohn und Brot. 40 Millionen Menschen sind in Beschäftigung. Das ist ein Ergebnis guter Politik, die Sie nicht schlechtmachen sollten. Es tut Ihnen weh; das weiß ich. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihre Oberflächlichkeit tut ein bisschen weh!) Aber dieses intelligente politische Krisenmanagement, dieses Szenario, war richtig und war wichtig. Wir haben die Kurzarbeit und die Konjunkturpakete auf den Weg gebracht. Und noch eines: Würden Sie einmal mit dem Mittelstand sprechen, dann würden Sie auch erkennen, dass dabei genau das, was der Kollege Fuchs, was der Kollege Brüderle, was die vielen anderen Kolleginnen und Kollegen der christlich-liberalen Koalition erkämpft haben, nämlich die Entlastung in Höhe von 24 Milliarden Euro seit Jahresbeginn 2010, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und der Hotels!) zum Tragen gekommen ist. Dass dies zum Tragen gekommen ist, spüren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deshalb sage ich: Herzlichen Dank all jenen, die bereit sind zu investieren! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es gehört der Fairness halber dazu, zu sagen, dass Sie durchaus ökonomischen Sachverstand und Vernunft hatten, als Sie noch auf der Regierungsbank saßen, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja!) zumindest waren Sie der ökonomischen Vernunft gegenüber aufgeschlossen. Das hat sich in der Opposition leider etwas gedreht. Wenn man jetzt betrachtet, was bei Ihnen auf der Oppositionsbank los ist, dann merkt man, dass der Fachkräftemangel akuter ist als jemals gedacht. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich glaube, Sie müssen dringend auf die Oppositionsbank in Rheinland-Pfalz, aber ganz dringend! Ist das eigentlich Ihre letzte Rede hier?) Das zeigt schon allein die Tatsache, dass Herr Gabriel die Liberalisierung der Zeitarbeit - übrigens ein echter Erfolg der rot-grünen Agenda 2010 - plötzlich als zentralen Fehler bezeichnet und fröhlich die Rolle rückwärts macht. Schauen wir zum Beispiel nach Rheinland-Pfalz. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen! - Zuruf von der CDU/CSU: Ein sehr schönes Land!) Dort gibt es Unternehmen wie Mercedes-Benz in Wörth, die das Prinzip eines dreistufigen Rekrutierungsprogrammes verfolgen. Dort wird schulbuchmäßig derjenige, der ausscheidet, durch einen bisher befristet Beschäftigten ersetzt, der nun unbefristet angestellt wird. Ein neuer Zeitarbeitnehmer erhält wiederum einen befristeten Vertrag. So rückt einer dem anderen nach. So wurden 40 Prozent der Zeitarbeitnehmer zu festen Mitarbeitern. Das ist ein Erfolgsmodell. Die Landesregierung in Rheinland-Pfalz möchte genau dieses abschaffen. (Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Herr Heil hat eine Nachfrage; ich erkläre es ihm gerne. Präsident Dr. Norbert Lammert: Dann will ich dem nicht im Wege stehen. Bitte schön, Herr Kollege Heil. (Heiterkeit - Peter Friedrich [SPD]: Frühstückspause für den Präsidenten!) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Liebe Frau Klöckner, sehr gnädig von Ihnen, dass Sie mir etwas erklären wollen. Deshalb darf ich Sie etwas fragen: Sind Sie mit uns der Meinung, dass die Zeit- und Leiharbeit für Unternehmen ein vernünftiges Flexibilitätsinstrument sein sollte, um die Auftragsspitzen von Unternehmen abzudecken, nicht aber - hier mag der Unterschied sein - ein Einfallstor für Lohndumping? Ich sage es noch einmal: Für Auftragsspitzen von Unternehmen ist Leiharbeit ökonomisch vernünftig, aber wir erleben es, dass das Fehlen des Grundsatzes "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" zwischen Stamm- und Leihbelegschaften (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Diesen Grundsatz gibt es! Er steht im Gesetz!) in der Zeit- und Leiharbeit zu Lohndumping führt. Meine Frage an Sie, Frau Klöckner, ist: Ab wie vielen Wochen oder Monaten sind Sie dafür, dass der Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" uneingeschränkt gilt? (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das steht im Gesetz!) Sind Sie wie die FDP der Meinung, dass die Grenze bei neun Monaten liegen sollte? Ich sage Ihnen: Drei Monate, innerhalb welcher 50 Prozent der Arbeitnehmer eingesetzt werden, sind die Grenze. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Heil, Sie reden Unsinn, absoluten Unsinn! Steht im Gesetz!) - Herr Kauder, beruhigen Sie sich doch einmal. Es ist nicht gut für die Gesundheit, wie Sie sich aufregen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich bin kerngesund, Sie arroganter Kerl!) - Herr Kauder, Dünnhäutigkeit ist das eine, aber wir wollen doch mit Frau Klöckner die Frage klären. Meine einfache Frage an die Spitzenkandidatin der rheinland-pfälzischen CDU: Nach welcher Einarbeitungszeit gönnen Sie den Menschen gleichen Lohn für gleiche Arbeit? Julia Klöckner (CDU/CSU): Lieber Herr Heil, es hilft, wenn man ins Gesetz schaut. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich kenne das Gesetz!) Wenn man darin liest, dann kann man einiges verstehen. Ich verstehe, dass es in der Opposition schwierig geworden ist, sich eine Position zu erkämpfen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Antwort! Wie viele Monate?) - Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Es ist unanständig, die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschimpfen, die über die Leiharbeit in feste Arbeit gekommen sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Beantworten Sie die Frage!) Es ist unanständig, weil es viele Betriebe in Deutschland gibt, die mithilfe der Leiharbeit die Auftragsspitzen abpuffern konnten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen meine Frage nicht beantworten!) Es ist auch unanständig, dass Sie diese kritische Frage nicht Ihrem Parteikollegen Beck in Rheinland-Pfalz stellen, der beim Nürburgring übrigens 400 Millionen Euro versenkt hat und jetzt als Landeseigentümer dort Lohndumping betreibt; denn die Putzkräfte dort verdienen weniger als 5 Euro pro Stunde. (Widerspruch bei der SPD - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Aha!) Ich frage Sie: Wann werden Sie glaubwürdig? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie eine Meinung?) - Lesen Sie das Gesetz! (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie weiß nichts! Sie hat keine Ahnung! Gott schütze Rheinland-Pfalz vor Ihnen!) Ich bedanke mich sehr herzlich bei unserem Wirtschaftsminister, ich bedanke mich bei unseren Kolleginnen und Kollegen und vor allen Dingen beim Mittelstand in dieser Republik. Wir müssen es schaffen, die Bildung intensiv voranzutreiben und die Ausbildungsreife junger Menschen zu garantieren, sodass es für viele Arbeitgeber nicht mehr einer Lotterie gleichkommt, welches Wissen in welchem Abschluss steckt. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie traurig!) Deshalb müssen wir von dem Flickenteppich in Deutschland wegkommen. Ich fordere die SPD auf, sich der Initiative der CDU-Länder anzuschließen, ein gemeinsames Abitur oder auch gemeinsame Abschlüsse für die Sekundarstufe I einzuführen; (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP] - Peter Friedrich [SPD]: Schwarz-gelbes Regierungschaos in Baden-Würtemberg meinen Sie? - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ahnungslos, die Dame!) denn eines ist klar: Nur mit gut ausgebildeten jungen Menschen und mit Freiheit für die Betriebe werden wir in Deutschland weiterhin die Lokomotive in Europa sein. Noch einmal: Mein Dank gilt den Unternehmerinnen und Unternehmern sowie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Denen Sie keinen gleichen Lohn gönnen! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Viel Spaß in der Opposition!) Seien Sie gewiss: Die CDU und die FDP stehen an der Seite des Mittelstands. Wir werden sie nicht beschimpfen, wie das die Opposition tut, weil sie damit Punkte machen will. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Peter Friedrich [SPD]: Nicht mal Landesliganiveau! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ab auf die Oppositionsbank, aber schnell! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor der CDU!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Willi Brase ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Willi Brase (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man sollte sich doch noch einmal an das erinnern, was in den letzten Jahren, vor allen Dingen im letzten Jahr, in den Wirtschaftsberichten und von den Fachleuten zur wirtschaftlichen Entwicklung zum Ausdruck kam. Es waren die Minister in der schwarz-roten Koalition, Steinbrück, Scholz und andere, die Anfang 2009 die Konjunkturprogramme I und II, die Kurzarbeitergeldregelung und die Abwrackprämie auf den Weg gebracht haben. Das wurde anerkannt. Das war der richtige Weg. (Beifall bei der SPD - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und wer war dagegen? Die FDP, wie immer!) Man wird sich erinnern: Es waren die FDP und dieser Herr Wirtschaftsminister, die dagegen polemisiert haben. Die Kurzarbeitergeldregelung von Scholz war das absolute Maß der Dinge. Darauf sind wir als Sozialdemokraten stolz. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf etwas muss man als Sozialdemokrat in diesen Tagen stolz sein!) Wenn über Leiharbeit und über den Niedriglohnsektor diskutiert wird, muss man einmal zur Kenntnis nehmen, dass wir jährlich über 11 Milliarden Euro aus öffentlichen Kassen, Staatsgeld, aufwenden, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die für wenig Geld arbeiten müssen, eine Aufstockung zu zahlen. Dieses Geld auszugeben, ist überflüssig. Deshalb brauchen wir einen vernünftigen Mindestlohn, und deshalb brauchen wir vernünftige Regelungen in der Leiharbeit. (Beifall bei der SPD) In der Debatte heute ist nach meinem Dafürhalten das, was wir kürzlich, am 25. Januar, im Handelsblatt lesen konnten, nicht ausreichend thematisiert worden. Ernst & Young haben eine Erhebung durchgeführt, nach der die Hälfte der mittelständischen Firmen Umsatzeinbußen befürchten, weil Fachkräfte fehlen, der Fachkräftebedarf nicht ganz zu decken ist. Darauf haben wir schon in den letzten Jahren hingewiesen. Wir haben immer wieder, hier im Deutschen Bundestag und anderswo, gefordert: Bildet mehr aus! Denn wer heute ausbildet, hat morgen keine Probleme mit Facharbeitern. Wer nicht ausbildet, muss anfangen, mit dem Lasso zu suchen. Das ist der falsche Weg. (Beifall bei der SPD) Rechtzeitig auszubilden, das ist Personalpolitik, sichert Beschäftigung, schafft Umsatz. Wir als SPD haben 2008 Papiere, Konzepte zum Fachkräftebedarf vorgelegt. Ich will auf einen Themenbereich hinweisen, für den heute keine Antwort gegeben worden ist; ich glaube aber, wir müssen ihn angehen. Sehr viele junge Leute im Übergang von der Schule zur Berufsausbildung, fast 400 000, sind im sogenannten Übergangssystem. Ich weiß, dass die Bundesbildungsministerin mit anderen dabei ist, diesen Dschungel zu durchforsten. Es gibt eine Vielfalt von Maßnahmen, die höchst ineffizient sind. Es wird Zeit, dass wir hier nach dem Motto "Weniger ist mehr" verfahren und mehr junge Leute aus den sogenannten Übergangsmaßnahmen in konkrete Ausbildung führen. Dafür muss man Geld in die Hand nehmen und Aktivitäten entfalten. Das vermissen wir bei der Bundesregierung. Bund und Länder sind in der Qualifizierungsoffensive für Deutschland die Verpflichtung eingegangen, die Zahl der jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung von 17 Prozent in 2008 auf 8,5 Prozent bis 2015 zu halbieren. Wenn wir dies tatsächlich schaffen, würden wir nicht nur etwas für den Mittelstand tun, sondern insgesamt für die jungen Menschen und für die Unternehmen in unserem Land. (Beifall bei der SPD) Wir haben in Deutschland mittlerweile - das ist durch mehrere Studien belegt - über 2 Millionen junge Erwachsene im Alter von 25 bis 35 Jahren ohne Berufsabschluss. Wir haben junge Männer und junge Frauen mit Migrationshintergrund - 38 Prozent der Männer, 40 Prozent der Frauen -, die keine Ausbildung haben. Das sind Millionen von Menschen. Diese Zahlen verdeutlichen: Wir brauchen mehr Investitionen in Bildung, in Qualifikation, in Berufsausbildung. Wir sind der Auffassung, hier handelt diese Regierung zu wenig. Was macht sie denn? Sie kürzt und streicht den Ausbildungsbonus, der dazu dient, die Zahl der Auszubildenden zu erhöhen. Entsprechende Umfragen - das stellt auch der Bundesrechnungshof in seiner Bewertung fest - haben unter anderem ergeben, dass vor allen Dingen kleinere Unternehmen dank dieser finanziellen Unterstützung erstmals wieder in Ausbildung eingestiegen sind. Warum wird das gestrichen, wenn wir wissen: "Wir brauchen junge Leute!"? Sie haben den Rechtsanspruch darauf, einen Hauptschulabschluss nachholen zu können, gestrichen. Sie haben den Eingliederungstitel um 2 Milliarden Euro gekürzt. Auch das trifft junge Leute. Stattdessen wird über Zuwanderung ausländischer Fachkräfte diskutiert. Millionen junger Erwachsener ohne Berufsabschluss, und dann wollen wir noch welche hereinholen! Das ist der falsche Weg. Die Arbeit in Deutschland muss mit denen gemacht werden, die hier in Deutschland leben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das wollen wir als SPD. (Beifall bei der SPD) Letztendlich geht es doch darum, wenn wir den Mittelstand stärken und ein Stück weit nach vorne bringen wollen, die Weiterbildungs- und Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen und den Menschen die Chance zu geben, ihre Arbeitskraft zu vernünftigen Bedingungen anzubieten. Die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und Weiterbildung muss erhöht werden. Es müssen eine zweite und dritte Chance eröffnet werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass keiner zurückgelassen wird, dass das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen möglich ist - darauf habe ich schon hingewiesen - und dass die Zahl der Geringqualifizierten, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, bis 2015 auf 55 Prozent gesteigert wird. Ja, hier stehen wir vor großen Aufgaben. Wir sind der Auffassung, dass man dabei Folgendes berücksichtigen sollte: Je höher die betrieblichen Kosten, desto höher die finanzielle Beteiligung der Betriebe und Unternehmen; je höher der persönliche Gewinn und das persönliche Bildungsnieveau, desto höher die Selbstbeteiligung des Individuums; je niedriger das vorhandene Bildungs- und Qualifikationsniveau und je höher die Benachteiligung, desto mehr Unterstützung vom Staat, vom Bund, von Ländern und Kommunen als Korrektiv für mehr Chancengleichheit für Benachteiligte auch im Weiterbildungsbereich. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir auch im Sinne von Integration, im Sinne von Mitnehmen von Menschen, die hier in unserem Land leben, eine große Weiterbildungskampagne starten. Wir brauchen sie. Sie ist notwendig und wichtig. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der Fachkräftemangel - darauf hat die Bundesagentur für Arbeit Anfang des Jahres hingewiesen - kann vermieden werden, wenn wir nicht weiterhin die Frauen von der Arbeitswelt ausgrenzen. (Beifall bei der SPD) Es wurden auch weitere Faktoren genannt: Es geht um Qualifizierung und Weiterbildung; es geht um Reduzierung der Zahl der Studienabbrecher und der Ausbildungsabbrecher; es geht auch darum, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss zu reduzieren. Letztendlich lebt der Mittelstand davon, dass er gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Ich selber lebe in einer Mittelstandsregion. Das Ziel muss sein, gute Bezahlung für gute Arbeit durchzusetzen, statt den Leiharbeits- und den Niedriglohnsektor auszuweiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Hinsken ist der nächste Redner für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf diese heutige Mittelstandsdebatte habe ich mich gefreut. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das haben wir geahnt!) Um den Mittelstand steht es momentan Gott sei Dank relativ gut. Das ist vor allen Dingen dieser Bundesregierung zuzuschreiben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Bis dahin war es gut, jetzt nicht mehr!) Das soll auch die breite Öffentlichkeit wissen. Ihnen werden wir es so oft sagen, bis Sie es endlich einmal kapieren und bereit sind, das zu schlucken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Peter Friedrich [SPD]: Du sollst uns keine falschen Dinge beibringen!) Unser Mittelstand ist eine tief in diesem Staat verankerte Gesellschaftskraft: nah am Menschen und für die Gemeinschaft. Dass Deutschland so gut dasteht, dass es weit besser dasteht als alle europäischen Nachbarn, hat es gerade seinem starken Mittelstand zu verdanken. Wenn die Politik also heute eine Lehre aus der Krise zieht - und das muss sie -, dann die, dass sich Politik für den Mittelstand lohnt. Daher kommt es jetzt, in Zeiten der kräftigen Erholung, ganz entscheidend darauf an, dass die Bundesregierung an einem mittelstandsgerechten und nachhaltigen Kurs festhält. Nur so lässt sich der Aufschwung verstetigen. Herr Wirtschaftsminister Brüderle, Sie haben es zwar kurz, aber prägnant auf den Nenner gebracht, dass das Ihre Richtschnur für eine Politik im Sinne des Mittelstands innerhalb der Bundesregierung ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Unionsfraktion ist die Fraktion zweier Parteien für den Mittelstand. Wir lassen uns von niemandem übertreffen, wenn es speziell um die Stärkung des Mittelstandes geht. (Zuruf von der LINKEN: Doch, von uns!) Unsere Politik ist zukunftsorientiert, verlässlich und leistungsfördernd. Das ist ein bisschen anders als das, was zum Beispiel Sie von den Grünen wollen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Jetzt kommen wir dran! Darauf habe ich schon gewartet!) Liebe Christine Scheel, Sie wollen doch den Mittelstand belasten, indem Sie zum Beispiel die Bürgerversicherung einführen wollen und die Beitragsbemessungsgrenze auf 5 500 Euro deutlich anheben wollen. (Peter Friedrich [SPD]: Es sind aber eure Zusatzbeiträge, die die Leute belasten!) Sie wollen eine Komplettsanierung aller Gebäude innerhalb von 40 Jahren und die vollständige Erzeugung von Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien. Das führt zu höheren Preisen und Mieten. Sie wollen, dass die Freiberufler in Zukunft Gewerbesteuer zahlen. Sie wollen den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anheben. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber erst bei höheren Einkommen!) Das heißt schlicht und einfach auf den Nenner gebracht: Sie wollen die Leistungsträger unserer Gesellschaft noch mehr belasten, als sie ohnehin schon belastet sind. Da machen wir nicht mit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Kerstin Andreae [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Ihr schiebt lieber 1 Milliarde Euro in Hotels!) Vernünftige Rahmenbedingungen sind das A und O, und dafür stehen wir. Selten hat der Mittelstand so zuversichtlich in die Zukunft geblickt wie zurzeit. Das möchte ich insbesondere an die Vorredner Herrn Friedrich von der SPD und an Sie, Herr Gysi, gerichtet sagen. Das KfW-Ifo-Mittelstandsbarometer erreichte im Dezember 2010 einen Rekordstand beim Geschäftsklima. Ein wichtiger Indikator dafür, wie der Mittelstand momentan dasteht, ist darin zu sehen, dass sich die Eigenkapitalquote in der Krise verbessert hat. Sie stieg von 12,8 Prozent auf 15,6 Prozent. In diesem Jahr entstehen, so die Bundesregierung, 320 000 neue Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Mittelstand. Die über 4 Millionen mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer, Selbstständige in Industrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen und freien Berufen sind damit der Motor für Wachstum, Beschäftigung und Ausbildung in Deutschland. Dafür kann nicht genug gedankt werden. Dafür gilt es sich nachhaltig immer wieder einzusetzen. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Herr Hinsken, darf ich Ihnen eine Frage stellen?) - Selbstverständlich dürfen Sie. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte sehr, Herr Kollege Gysi. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Hinsken, ich habe nur eine Frage: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass das Barometer, von dem Sie gesprochen haben, auch veröffentlicht hat, dass 25 Prozent der Kreditverhandlungen der kleinen und mittelständischen Unternehmen mit den Privatbanken scheitern, das heißt, dass sie keine Kredite bekommen? Was gedenken Sie denn dagegen zu tun? Sollten wir vielleicht eine direkte Förderung unter Umgehung der IKB und der Geschäftsbanken ins Auge fassen, also andere Wege einschlagen, um die Zahlungsfähigkeit der entsprechenden Unternehmen zu erhöhen? Ernst Hinsken (CDU/CSU): Erstens, verehrter Herr Kollege Gysi, sind nicht 25 Prozent der Kreditverhandlungen negativ betroffen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: 25 Prozent? Ein bisschen viel!) Zweitens möchte ich ausdrücklich darauf verweisen: Wenn es hinten und vorne fehlt, dann geht halt nichts. Das ist ein Stück Ordnungspolitik, der wir Rechnung zu tragen haben. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Darf ich nur sagen, dass Basel III - -) - Ich bin noch nicht fertig. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ach so!) Wir werden vor allen Dingen das Notwendige machen. Ich finde es gut, dass der Bundeswirtschaftsminister einen Kreditmediator eingesetzt hat (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was hat er bis jetzt gemacht? - Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - wenn ich schon gefragt werde, dann möchte ich auch antworten dürfen -, weil ich nach einem Gespräch mit Herrn Metternich in Erfahrung bringen durfte, dass allein im letzten Jahr über 1 000 Fälle beraten wurden, wonach davon allein 750 auf die Beratung entfallen und dass bei 247 Fällen intensiv direkt Einfluss genommen wurde. Zu guter Letzt konnten 45 Betriebe mit einem Volumen von 60 Millionen Euro auf der einen Seite und dem weiteren Verbleib von über 3 100 Arbeitsplätzen auf der anderen Seite gerettet werden. Es ist für mich schon wichtig, das in der Antwort auf Ihre Frage auszuführen. (Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage - Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist das jetzt ein Dialog?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Hinsken, Sie können jetzt auch in Ihrer vorbereiteten Rede fortfahren. (Heiterkeit) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich lasse eine weitere Zwischenfrage zu. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich möchte eine kleine Zusatzfrage stellen. Basel III wird die Bedingungen für die Kreditvergabe verschärfen. Es gibt kein Gegensteuern der Regierung. Meinen Sie nicht, dass man etwas dagegen tun müsste? Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Gysi, auch hier liegen Sie ein bisschen falsch: (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ein bisschen?) Die Regierung steuert selbstverständlich entgegen; sie hat das Interesse des Mittelstandes im Auge. Die Regierung wird speziell bei Basel III das Notwendige an Maßnahmen und Anreizen tun, das unserer Wirtschaft dient. Sie können versichert sein: Die Regierung kann das besser als Sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, zurzeit führen wir eine große Diskussion über die Frauenquote. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Au ja!) Hier möchte ich die Wirtschaft auffordern, es dem Handwerk, einem der größten Mittelstandsbereiche, nachzumachen; denn hier sind Frauen in den Betrieben längst auf dem Vormarsch. Jedes vierte Handwerksunternehmen wird zurzeit von einer Frau gegründet. Bei den Meistern ist ein konstanter Frauenanteil von über 20 Prozent, bei den Lehrlingen von über 27 Prozent festzustellen. Immer öfter übernehmen die Töchter den Familienbetrieb und bringen schon in jungen Jahren viel Ideenreichtum und Gründerwissen mit. Warum ist diese Mittelstandsdebatte so wichtig? Weil sowohl in Europa als auch in den USA die kleinen und mittleren Unternehmen fast überall die Gesamtzahl der Unternehmen ausmachen: Über 99 Prozent der Betriebe sind KMU. Im Jahr 2005 waren in der EU fast 20 Millionen Unternehmen im nichtfinanziellen Sektor der gewerblichen Wirtschaft tätig. Diese Betriebe zeigen Flexibilität. Sie sind bereit, sich zu behaupten; sie sind bereit, alles zu machen und zu tun, um nicht unterzugehen. Was die Gründungsdynamik anbelangt, ist noch etwas zu machen. Wir brauchen auch in der Bundesrepublik Deutschland mehr denn je eine starke Gründungswelle. Ich bin der Meinung, dass die jungen Mitbürger in den Schulen nicht mehr nur ausgebildet werden sollten, um einmal tüchtige Arbeitnehmer zu werden, sondern auch, um einmal tüchtige Unternehmer zu werden, also den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was den Fachkräftemangel anbelangt, verehrte Frau Kollegin Scheel, bin ich der Meinung, dass dieses Problem nicht isoliert gesehen werden darf; es muss vielmehr mit dem Thema der Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Verbindung gebracht werden. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein älterer Mitbürger bereit ist, sich bis zum 67. Lebensjahr voll und ganz einzubringen, wenn er eine Wochenarbeitszeit von weniger als 40 Stunden - vielleicht von 25 oder 30 Stunden - zu absolvieren hat. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch 68-Jährige machen 60 Stunden!) Da ist vor allen Dingen die Wirtschaft gefordert, etwas zu machen und zu tun. Denn eines steht unbestritten fest: Bis zum Jahr 2025 wird das Erwerbstätigenpotenzial in Deutschland um mindestens 5 Millionen Personen zurückgehen. Meine Damen und Herren, wenn ich bei Veranstaltungen bin, werde ich von einzelnen Mittelständlern oftmals gefragt: Was tut ihr denn überhaupt? Es ist doch unmöglich, diese - - Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, Sie können jetzt nicht ausführlich von Ihren Gesprächen berichten, sondern allenfalls eine kurze, zusammenfassende Bemerkung dazu machen. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Jawohl. Ich möchte dann nicht von diesen wichtigen Gesprächen berichten, (Heiterkeit) obwohl das sehr erleuchtend gewesen wäre. Ich erlaube mir, darauf zu verweisen, dass die von uns vorgeschlagenen 15 Punkte viele Maßnahmen beinhalten. 10 Punkte davon sind exzellent. Diese gilt es umzusetzen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind es jetzt 10 oder 15 Punkte? - Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Was ist denn mit den anderen 5 Punkten?) Wir werden das machen und tun, um die Herausforderungen zu meistern. Denn wenn wir Deutschland auf Erfolgskurs halten wollen, brauchen wir keine "Dagegen"-, sondern eine "Dafür"-Kultur. Dafür stehen wir, nicht Sie. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Lena Strothmann erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lena Strothmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deutsche Handwerk ist eine echte Jobmaschine. Wir erwarten in diesem Jahr mindestens 25 000 neue Arbeitsplätze. Wenn wir in Deutschland vom Mittelstand als Jobmotor und als Motor für Wachstum und Beschäftigung sprechen, dann reden wir immer auch über das Handwerk; denn mit seinen rund 1 Million Betrieben macht das Handwerk rund ein Viertel des gesamten Mittelstands in Deutschland aus. Knapp 5 Millionen Menschen arbeiten in Handwerksbetrieben, und fast 500 000 junge Menschen bekommen dort eine qualifizierte Ausbildung. Damit sind 11,8 Prozent aller Erwerbstätigen und knapp 30 Prozent aller Auszubildenden im Handwerk tätig. Leider wird das Handwerk häufig unterschätzt - ich hoffe allerdings, in diesem Hohen Hause nicht mehr -, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei einigen schon!) obwohl sich das Handwerk seit vielen Jahren als stabilisierender Faktor unserer Wirtschaft erweist. Mit seiner Kraft und mit seiner Substanz hat das Handwerk auch die Wirtschaftskrise sprichwörtlich gemeistert. Zugegebenermaßen mussten wir mit einigen Maßnahmen unterstützen. Ich nenne hier zum einen die Verdoppelung des Steuerbonus auf Handwerkerleistungen. Diesen sollten wir in jedem Falle fortführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Zum anderen konnten wir mit der Aufstockung der Fördermittel für die energetische Gebäudesanierung und für energieeffizientes Bauen (Peter Friedrich [SPD]: Habt ihr gekürzt und nicht aufgestockt! Das Marktanreizprogramm habt ihr gekürzt!) in Deutschland 290 000 Arbeitsplätze sichern. Auch dieses Programm sollten wir in Zukunft fortführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ohne die grundsätzlich gute Struktur und ohne den Willen, Arbeitsplätze zu erhalten und junge Menschen auszubilden, wäre das Handwerk nicht gestärkt aus der Krise herausgekommen. Auch das gehört zur Wahrheit. Der Aufschwung, an dem wir alle hart gearbeitet haben, ist jetzt da. Die Stimmung im Handwerk ist sehr gut. "Das Handwerk genießt den Aufschwung", "Das Handwerk hat Appetit auf den Aufschwung", so titelte in dieser Woche die Presse in meiner Heimat Ostwestfalen-Lippe. Bundesweit erwarten wir im kommenden Jahr ein Umsatzplus von 5 Prozent. 84 Prozent der Betriebe sehen ihre Zukunft positiv und sind zufrieden. Das sind immerhin 10 Prozent mehr als noch im vergangenen Jahr. Meine Damen und Herren, ich kenne meine Handwerker. Sie sind bei Zukunftsprognosen und Konjunkturumfragen immer eher vorsichtig und eher skeptisch. Deshalb sind die aktuellen Aussagen für mich der beste Beweis für den Stimmungsumschwung in unserem Land. Bürgerinnen und Bürger investieren wieder in Werte, in Haus, Hof und Garten. Die Betriebe erhalten mehr Aufträge, sie haben wieder Freude an der Zukunftsplanung, an Investitionen und Innovationen. Es geht ihnen gut, und sie haben mit der christlich-liberalen Bundesregierung einen verlässlichen Partner. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass sich diese positive Entwicklung fortsetzt. Ein wichtiger Grundstein für dieses Fortkommen sind die Innovationen. Sie sind der Motor für Wirtschaftswachstum. Auch hier ist das Handwerk gefragt; denn es ist entgegen der landläufigen Meinung besonders innovativ. Laut einer Prognos-Studie ist es sogar hochinnovativ; denn das Handwerk ist immer direkt an der Umsetzung neuer Technologien im Großen und im Kleinen beteiligt. Ohne das Handwerk kommt keine Photovoltaikanlage auf das Dach, und ohne das Handwerk würden keine schadstoffarmen Autos auf der Straße fahren. (Peter Friedrich [SPD]: Das stimmt!) Täglich stellen Handwerker ihre Innovationskraft unter Beweis, wenn sie für den Kunden individuelle Lösungen entwickeln und einbauen. Die kontinuierliche Entwicklung innovativer Produkte gehört, auch wenn sie in der Regel nicht beim Patentamt landen, zum Selbstverständnis des Handwerks. Vom Rad aus Stein bis zur Leichtmetallfelge - ohne das Handwerk wäre dieser Fortschritt nicht möglich gewesen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es werden auch in Zukunft große Herausforderungen auf uns zukommen. Wir haben in unserer Gesellschaft immer mehr ältere Menschen. Die Menschen werden dank das medizinischen Fortschritts immer älter. Dadurch ändern sich auch die Anforderungen an Wohnungen, Straßen und öffentliche Gebäude. Wir müssen sie seniorengerecht gestalten bzw. umgestalten. Es werden also viele neue Dienstleistungen in diesem Seniorenmarkt notwendig sein. Ohne das Handwerk ist auch das nicht zu schaffen. Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist nicht nur für unsere Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für unsere Gesellschaft, dass die Innovationskraft des Handwerks gestärkt wird. Voraussetzung für solche Innovationen sind qualifizierte Fachkräfte. (Willi Brase [SPD]: Richtig!) Leider melden bereits viele unserer Betriebe, dass sie keine Nachwuchskräfte finden. Deswegen brauchen wir dringend gut ausgebildete junge Menschen. Nur mit ihnen können wir auch im europäischen Wettbewerb unseren hohen Qualitätsstandard halten und damit Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze und unseren Wohlstand sichern. Allerdings fehlten allein im Herbst bereits 7 000 Auszubildende. Diese Lücke wird sich noch vergrößern, wenn wir nichts dagegen tun. Deswegen müssen wir mit der Vorstellung aufräumen, im Handwerk gebe es nur einfache Tätigkeiten. In den vergangenen Jahren hat sich im Handwerk vieles geändert. Die handwerkliche Arbeit erfordert mehr technisches Wissen. Sie ist anspruchsvoller geworden, und die Berufsbilder der 150 Ausbildungsberufe verändern sich. Gleichzeitig steigen damit aber die Anforderungen an die Bewerber und die Berufsausbildung. Deshalb ist es in Zukunft wichtig, leistungsstarke Schüler für das Handwerk zu gewinnen. Das ist eine Herausforderung, der sich das Handwerk stellen muss; denn die Schulabgänger der Gymnasien haben oft eine andere Lebensplanung, wollen ausschließlich an die Hochschulen. Wir dürfen uns als Politik diesem Trend nicht anschließen und nicht schwerpunktmäßig allein die akademische Ausbildung fördern. Eine Ausbildung im Handwerk ist eine gute Alternative zum Studium. Außerdem sucht die Wirtschaft junge Menschen mit Praxisbezug. Sie bietet ebenso zahlreiche Chancen und Aufstiegsmöglichkeiten. Meine Damen und Herren, wir brauchen also nicht nur Fachkräfte, sondern auch junge Menschen, die Unternehmen übernehmen. Wir brauchen qualifizierte Nachfolger für unsere Betriebe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung unterstützt dankenswerterweise schon jetzt die Betriebe beim Generationswechsel mit der Aktionsplattform "nexxt". Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Natürlich brauchen wir mehr Akademiker in unserem Land, aber unter dem Fachkräftemangel leidet auch das Handwerk. Deshalb muss die duale Ausbildung ein Schwerpunkt unserer Bildungspolitik bleiben. Dies gilt es, nach allen Seiten zu verteidigen. Zusätzlich braucht das Handwerk Unterstützung beim Fachkräftemangel, bei der Unternehmensnachfolge und bei der Umsetzung von Innovationen. Damit verstetigen wir den Aufschwung, sorgen für Arbeits- und Ausbildungsplätze und sichern Wachstum und Wohlstand in unserem Land. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dieter Jasper für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieter Jasper (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja interessant! Jetzt lernt man den auch mal kennen!) Im letzten Jahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent. In diesem Jahr wird mit einem Wachstum von 2,3 Prozent gerechnet. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund 3 Millionen Arbeitslosen so niedrig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Die Inflationsrate liegt zwischen 1 Prozent und 2 Prozent. Dieser Dreiklang aus hohem Wirtschaftswachstum, sinkender Arbeitslosigkeit und niedriger Inflationsrate hat dazu geführt, dass wir vom kranken Mann in Europa zur europäischen Wachstumslokomotive geworden sind. Diese überaus positive Entwicklung hat natürlich Ursachen. Es sind in erster Linie kleine und mittelständische Unternehmen, die mit Risiko und Leistungsbereitschaft Wachstum, Wohlstand und Innovation gesichert haben. Vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag habe ich fast 20 Jahre lang als mittelständischer Familienunternehmer gearbeitet. Wir betätigen uns im Bereich des Maschinenbaus. Seit vielen Jahren sind wir es gewohnt, uns dem nationalen und internationalen Wettbewerb zu stellen. Somit bin ich dem Mittelstand nicht nur verbunden, sondern ich weiß aus eigener Erfahrung, wie ein Mittelständler fühlt und agiert, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist interessant, was Sie wissen!) welche Erwartungen er hat und welche Dinge für ihn wichtig sind. Eine oft gestellte Frage ist, was wohl das wichtigste und wertvollste Gut unseres Unternehmens ist. Da brauche ich nie lange zu überlegen: Es ist der Mensch. Eine der Grundvoraussetzungen für ein mittelständisches Unternehmen sind gut qualifizierte und motivierte Mitarbeiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Vor allem gut Qualifizierte, Herr Kollege!) Die besten Anlagen und Maschinen sind wertlos, wenn keine Menschen da sind, um diese zu bedienen. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Akquisition und vor allem der Erhalt von qualifiziertem Personal eine der wichtigsten Aufgaben, die ein mittelständischer Unternehmer hat. Gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung muss alles getan werden, um vermehrt leistungsstarke Schulabgänger für eine betriebliche Berufsausbildung zu gewinnen. Hier hilft der im Oktober letzten Jahres von der Bundesregierung, den Ländern und der Wirtschaft unterzeichnete Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs. In diesem Programm wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass es weiterhin viele junge Leute gibt, die Schwierigkeiten beim Übergang in die Ausbildung haben. Es ist wichtig, dass wir hier niemanden zurücklassen. Dennoch muss immer wieder betont werden - das hat auch meine Kollegin Lena Strothmann getan -, dass auch und gerade im handwerklichen und im industriellen Bereich eine gute Ausbildung und eine gute Qualifikation von herausragender Bedeutung sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein zentraler Punkt, über den gerade in den letzten Tagen wieder vermehrt diskutiert wurde, ist die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das trifft insbesondere auf die Frauen zu. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ach, welche Weisheit! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch für Männer!) - Ja, das finde ich. - Wir können es uns nicht erlauben, auf hochqualifizierte weibliche Fachkräfte zu verzichten, nur weil keine Möglichkeiten der Kinderbetreuung vorhanden sind. Neben staatlichen Angeboten gibt es in unserer Region bereits etliche Firmen, die sich in diesem Bereich besonders hervortun und durch familiengerechte Angebote ganz neue Facharbeiterschichten für sich erschließen. Für viele Berufstätige sind neben dem Lohn gerade auch diese maßgeschneiderten familiengerechten Jobangebote von zentraler Bedeutung, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben. Noch eines wird deutlich: In Zukunft werden die Unternehmen immer mehr um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werben und kämpfen. Viele Mittelständler haben diese Situation erkannt und reagieren entsprechend. Um den eigentlichen Arbeitsplatz herum entstehen vielfältige Angebote, um Mitarbeiter zu finden, zu binden und zu motivieren. Das gilt natürlich auch für die älteren Mitarbeiter. Wir müssen Vorbehalte aufgeben und mit falschen Vorurteilen aufräumen. Die Erfahrung dieser Menschen ist unbezahlbar. Es bedarf oft nur kleiner Hilfestellungen, damit sie weiterhin aktiv und produktiv am Erwerbsleben teilnehmen können. Das ist nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch volkswirtschaftlich von hohem Nutzen. Entscheidend ist der richtige Mix aus Auszubildenden, alten und jungen Menschen. Wenn dieser Mix gelingt, dann ist das die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches gemeinsames Wirtschaften. Ist dieser Mix einmal gefunden, dann wird ein Mittelständler alles tun, um diesen zu erhalten. Gerade in den Zeiten der Krise haben viele Unternehmer an ihren Mitarbeitern festgehalten, damit im Aufschwung wieder eine schlagkräftige Mannschaft zur Verfügung steht. Auch hier zeigt sich wieder, dass insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen nicht in Quartalsergebnissen denken, sondern in längerfristigen Zeiträumen. Dieses Denken wurde durch die von der Bundesregierung beschlossene Regelung zum Kurzarbeitergeld unterstützt. Nur so konnte aus gemeinsamer Kraft gelingen, dass wir gestärkt aus der Krise herausgekommen sind. Es zeigt sich, dass sich Wirtschaftspolitik nicht in schönen Worten erschöpft, sondern an der richtigen Stelle ganz konkret helfen kann. Eine weitere Frage, die oft gestellt wird, ist, was uns Mittelständler am meisten beschwert. Da fallen mir zwei Stichworte ein: die Bürokratie und die Energie. Die überbordende Bürokratie ist für jedes Unternehmen eine große Last. Gerade die kleinen und mittelständischen Betriebe leiden besonders. Hier fehlt es oft an Know-how und an Personal, um den Abgabe- und Informationspflichten gerecht zu werden. Hier ist nicht nur der Deutsche Bundestag aufgefordert, den Bürokratieaufwand deutlich zu reduzieren. Der Normenkontrollrat macht in unserem Parlament eine gute Arbeit und bekommt zunehmend mehr Aufgabenstellungen zugewiesen. Eckart von Klaeden beschreibt die Situation treffend, wenn er formuliert, dass es mit den Bürokratiekosten so ist wie mit Zahnschmerzen: Wenn du sie hast, bringen sie dich fast um, wenn sie weg sind, hat man sie auch schnell wieder vergessen. - Dennoch ist nicht nur der gefühlte, sondern auch der tatsächliche Bürokratieaufwand enorm. Diese Hemmnisse müssen nicht nur auf deutscher, sondern auch auf europäischer Ebene konsequent abgebaut werden. Die Unternehmen brauchen Luft zum Atmen, für Engagement und Eigeninitiative. Auch das Thema Energie möchte ich kurz anreißen. Bei allem Streben nach einer Zukunft mit einer Energieversorgung aus ausschließlich regenerativen Energiequellen darf die damit einhergehende immense Kostenbelastung der Unternehmen nicht vergessen werden. Es sind gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die standorttreu und standortgebunden sind. Die Energiekosten sind für sie ein Fixum, da sie in der Regel nicht die Möglichkeit haben, auszuweichen und ihre Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern. Zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist es deshalb wichtig, Energiepolitik nicht ideologisch, sondern ökonomisch und sachorientiert zu betreiben. Die Bezahlbarkeit und die Sicherheit der Energieversorgung sind normative Voraussetzungen für die Existenz eines Betriebes. Die kumulierte Belastung aus Strompreis, Stromsteuer, EEG-Abgabe, Emissionshandel usw. darf die Unternehmen nicht erdrücken und ihrer Wettbewerbsfähigkeit berauben. Es gibt viele Themen, die den Mittelstand berühren: Fragen der Unternehmensnachfolge und der Finanzierung, Forschung und Entwicklung, Rohstoffsicherheit und viele andere mehr. Viele dieser Fragestellungen werden von uns in der christlich-liberalen Koalition richtig erkannt. Zahlreiche Aktivitäten wie die Hightech-Strategie, der Nationale Pakt für Ausbildung, die Mittelstandsinitiative usw. sind mehr als nur Schritte in die richtige Richtung. Der Mittelstand ist das Herzstück unseres Wirtschaftssystems. Wir müssen daran arbeiten, einen effizienten Ordnungs- und Handlungsrahmen zu schaffen, in dem dieses Herzstück seine optimale Leistung erreichen kann. Während andere Parteien in diesem Hause kommunistischen und sozialistischen Ideologien nachjagen, sind wir bereit, uns den Realitäten zu stellen und auf den Grundprinzipien der Marktwirtschaft eine sachorientierte und zweckgebundene Wirtschaftspolitik zu betreiben. Das ist gut für unsere Unternehmen, und das ist gut für die Menschen in unserem Land. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/4684 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, damit sind Sie einverstanden. - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohnes (Mindestlohngesetz - MLG) - Drucksache 17/4665 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Mindestlohngesetz) - Drucksache 17/4435 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 90 Minuten dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt dem Deutschen Bundestag heute den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Wir haben dafür gute Gründe. Über 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten derzeit im Niedriglohnsektor. Übrigens: 70 Prozent derjenigen, die dort arbeiten, sind Frauen. Wir haben die Situation, dass laut Studien mittlerweile über 5 Millionen Menschen in Deutschland weniger als 8 Euro die Stunde verdienen, Herr Hinsken. Weniger als 8 Euro die Stunde! Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass 1,2 Millionen Menschen in diesem Land weniger als 5 Euro die Stunde verdienen, (Andrea Wicklein [SPD]: Es ist nicht zu fassen!) dann muss man feststellen: Handeln ist geboten. Wer Leistungsgerechtigkeit will, wer will, dass es einen guten und anständigen Lohn für gute Arbeit gibt, der braucht den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Es ist Zeit, zu handeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Es geht um Anstand, um anständige Löhne, um Leistungsgerechtigkeit. Es geht aber auch, meine Damen und Herren von der Koalition, um fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen. Es findet ein Dumpingwettbewerb zuungunsten bzw. zulasten anständiger Unternehmerinnen und Unternehmer statt, die anständige Löhne zahlen wollen, die aber den Druck, der entsteht, wenn sie beim Lohnniveau mit Schmutzkonkurrenz konfrontiert werden, nicht mehr aushalten. Diese Unternehmen brauchen fairen Wettbewerb. Auch deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außerdem sind es die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die uns heute am Fernseher zuschauen oder oben auf den Zuschauerbänken sitzen - - (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So viele sind es bei Ihnen nicht! - Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] verlässt den Plenarsaal) - Herr Lindner geht und brüllt; so kennen wir ihn. Ich sage Ihnen: Das zeigt auch, welche Wertschätzung er gegenüber den arbeitenden Menschen in Deutschland in dieser Stunde hat. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Land, die Jahr für Jahr insgesamt 11 Milliarden Euro aufbringen und dafür sorgen müssen, dass Armutslöhne aufgestockt werden können. 11 Milliarden Euro geben wir im Bundeshaushalt für ergänzendes Arbeitslo-sengeld II aus. Ich gebe zu: Die Hälfte der Betroffenen sind nicht in Vollzeitarbeit, sondern sind Minijobber. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Eben!) Aber auch für diesen Bereich gilt: Es werden Stundenlöhne gezahlt, von denen die Menschen nicht leben können. Die andere Hälfte ist zum großen Teil in Teilzeit, werden Sie sagen. Aber es bleibt ein erklecklicher Teil, über 360 000 Menschen in Deutschland, der von morgens bis abends schuftet, nicht genug Geld hat, um leben zu können, und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt holen muss. Das ist nicht nur gegenüber den Familien und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die hart arbeiten, unwürdig. (Zuruf von der FDP: Wer hat denn so etwas eingeführt?) Es ist ökonomischer Unsinn, dass wir in diesem Land mit immer mehr Geld der Steuerzahler staatliche Armutslohnbewirtschaftung zu leisten haben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Skandal!) Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt. Wir wollen den Vorrang für tarifvertragliche, branchenübliche Mindestlöhne, wie wir sie in vielen Branchen schon durchgesetzt haben. Wir wollen im Übrigen dafür sorgen, dass solche Löhne einfacher durchzusetzen sind, indem wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen Wirtschaftszweigen die Möglichkeit eröffnen, zu Mindestlöhnen zu kommen. Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen. Wir brauchen allerdings auch den gesetzlichen Mindestlohn. Wir erleben in vielen Bereichen, dass Tarifautonomie nicht mehr vernünftig funktioniert, weil Arbeitgeberverbände und auch Gewerkschaften nicht gut genug organisiert sind. Dies führt zu dem Ergebnis, dass es zu keiner anständigen Lohnfindung kommt. Lassen Sie mich an dieser Stelle, wie es heute Morgen schon geschehen ist, den Bezug schaffen zu den Verhandlungen, die gestern an der Unwilligkeit und der Unfähigkeit der schwarz-gelben Koalition vorerst gescheitert sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP) - Nein. Ich will Ihnen das sagen. Herr Hinsken, ich war ja dabei. Ich habe es doch erlebt. - Am Montag und Dienstag hieß es, Frau Merkel werde das jetzt zur Chefsache machen. Die Chefsache, die sie geleistet hat, war, ihre Koalition auf ein Njet zu allen Vorschlägen, die wir gemacht haben, zu verständigen. Wenn das Chefsache ist, Herr Altmaier, dann ist mir angst und bange um die Zukunft des Landes in der Zeit, in der Frau Merkel noch Bundeskanzlerin ist. Chefsache bedeutet bei Ihnen Scheitern. (Beifall bei der SPD - Pascal Kober [FDP]: Ihre Verhandlungskommission ist sich uneinig!) Wir haben in mehreren Bereichen Vorschläge gemacht. Wir müssen uns bemühen - darüber wird noch an anderer Stelle zu reden sein -, den Regelsatz im Bereich Hartz IV verfassungskonform zu gestalten. (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist verfassungskonform!) Wir haben nach wie vor erhebliche Zweifel an dem, was Frau von der Leyen vorgelegt hat. Beim Bildungspaket fehlt die Berücksichtigung der Schulsozialarbeit. Sie ist notwendig, um tatsächlich dafür zu sorgen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien Hilfe bekommen. Ich empfinde es geradezu als ein Stück aus dem Tollhaus, dass diese Koalition überhaupt nicht dazu bereit ist, etwas gegen den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist weder christlich noch liberal. Zeit- und Leiharbeit können und sollen ein vernünftiges Instrument für Unternehmen sein, um Auftragsspitzen abzudecken. Aber Zeit- und Leiharbeit dürfen nicht weiter ein Einfallstor für Lohndumping in diesem Land sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deshalb brauchen wir zweierlei. Wir brauchen im Vorfeld des 1. Mai 2011 - ab diesem Datum gilt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa - einen Mindestlohn auch in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Ich meine allerdings einen richtigen Mindestlohn und nicht das, was Sie vorgelegt haben, nämlich einen Placebomindestlohn. Sie wollen einen Mindestlohn nur für die verleihfreie Zeit. Wir sagen: Wir brauchen eine absolute Lohnuntergrenze für die Zeit- und Leiharbeit. Sie sind aber nicht bereit, dem zuzustimmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir brauchen also einen Mindestlohn über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und nicht Ihr Placebokonstrukt eines Referenzlohns, den man dann auch noch unterschreiten kann. Wenn Sie die Leute "verklappsen" wollen, dann machen Sie ruhig weiter so. Der Mindestlohn in der Zeit- und Leiharbeitsbranche ist nur das eine. Das andere - das Wichtigere - ist, dass wir den Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" durchsetzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zu Frau Klöckner - jetzt ist auch sie weg - kann ich nur sagen: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor dieser Frau. Bernhard Vogel hat damals recht gehabt, als er sagte: Gott schütze Rheinland-Pfalz. Das ist geschehen. Die Rheinland-Pfälzer haben seit 1991 klugerweise nicht mehr die CDU an die Macht gewählt. Ich sage Ihnen: Frau Klöckner hat vorhin auf meine Frage, wie das mit dem gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei, geantwortet, dies sei schon im Gesetz verankert. Da hat sie recht. Aber da steht sie in der Tradition von Helmut Kohl, nach dem Motto: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit. Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert, aber es gibt ein Schlupfloch, das zu einem Scheunentor geworden ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das Schlupfloch denn geschaffen?) Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, meinethalben nach einer angemessenen Einarbeitungszeit von vier Wochen. Im Rahmen des Kompromisses haben wir sogar drei Monate angeboten, was verdammt schwer zu realisieren gewesen wäre. Wir brauchen die Verwirklichung des Grundsatzes "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"; Leihbelegschaften und Stammbelegschaften müssen bei gleicher Arbeit gleich verdienen. Es ist unfair, wenn zwei an einem Band stehen und der eine einen hohen und der andere einen niedrigen Stundensatz bekommt. Das ist auch deswegen unfair, weil ein Stammbelegschaftsmitarbeiter mit einem hohen Stundensatz somit Angst hat, dass er demnächst durch den ersetzt wird, der neben ihm als Dumpinglöhner missbraucht wird. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ist eine Frage von Anstand, Würde und ökonomischer Vernunft. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen auch im Streit um Hartz IV eine Lösung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Wir sind verhandlungsbereit; aber wir stimmen nur zu, wenn es zur Verbesserung der Lebenssituation von hart arbeitenden Menschen kommt. Deshalb: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Mindestlöhne in Deutschland! Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Faire Löhne für gute Arbeit gehören zu einer funktionieren sozialen Marktwirtschaft. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Daran machen gerade wir, die Union, die Partei der sozialen Marktwirtschaft, keine Abstriche. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Begeisterung bei der CDU/CSU! - Katja Mast [SPD]: Aber Sie tun nichts!) Das ist eine Position, die selbstverständlich nicht nur die Gewerkschaften, sondern Gott sei Dank auch viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einnehmen. Der Präsident der Arbeitgeberverbände des Hessischen Handwerks ist kürzlich in der FAZ mit den Worten zitiert worden: Es kann nicht sein, dass unsere guten Mitarbeiter in eine Lohnspirale nach unten gezogen werden. Damit hat er recht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bernd Scheelen [SPD]: Tosender Beifall! - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was tun Sie jetzt?) Durch die Anträge, die heute vorliegen und mit denen die SPD und die Grünen einen vom Staat verordneten und dekretierten Mindestlohn einführen wollen, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einer Kommission, Herr Weiß!) wird allerdings die Tatsache verwischt, dass wir in der Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten, Herr Kollege Heil, ein Instrumentarium geschaffen haben, um Mindestlöhne in Deutschland einzuführen. (Ulrike Flach [FDP]: So ist es! - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!) Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das Sie schon erwähnt haben, novelliert und darin eine ganze Reihe von Branchen neu aufgenommen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nehmen wir doch alle!) Wir haben das Mindestarbeitsbedingungengesetz novelliert, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das nicht funktioniert!) um in all den Bereichen, in denen es wenige oder keine Tarifverträge gibt, die Möglichkeit zu schaffen, dass auf Antrag, zum Beispiel von Arbeitgebern, Arbeitnehmern oder auch von beiden gemeinsam, Mindestlöhne festgesetzt werden. Ich finde es schon bemerkenswert: Kaum sind die Sozialdemokraten ein bisschen länger als ein Jahr in der Opposition, können Sie sich offensichtlich nicht mehr an das erinnern, was Sie mit uns zusammen beschlossen haben. (Beifall bei der CDU/CSU - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Alles vergessen! Was für ein schlechtes Gedächtnis! - Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Der Rahmen wird ja nicht mehr genutzt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer zulassen? Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Weiß, Sie haben hier gerade auf die Möglichkeiten nach dem MiArbG hingewiesen. Können Sie uns vielleicht sagen, wie viele Mindestlöhne über das MiArbG zustande gekommen sind und wie häufig die Bundesregierung in Kenntnis der Tatsache, dass es große Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gibt, selber tätig geworden ist und Branchen vorgeschlagen hat, in denen Mindestlöhne gezahlt werden sollten? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gute Frage! Jetzt nicht ausweichen, Herr Weiß! - Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU]: Auch die Landesregierungen, Frau Pothmer!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Kollegin Pothmer, es liegt bislang ein Antrag (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!) der dbb Tarifunion vor, um nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einen Mindestlohn für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Callcentern einzuführen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und wie lange schon?) Der Vorsitzende des noch von dem früheren Bundesarbeitsminister Olaf Scholz eingesetzten Hauptausschusses, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vertagt!) der nach diesem Gesetz notwendig ist, ist Klaus von Dohnanyi, der bekanntlich ebenfalls einer großen deutschen Partei angehört. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nicht ganz so groß! Ein bisschen groß! - Thomas Oppermann [SPD]: Einer guten Partei! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guter Mann! Das war noch ein Hamburger Bürgermeister!) - Ich wollte den Sozialdemokraten auch einmal etwas Nettes sagen. - (Zuruf von der CDU/CSU: Das war es dann aber auch!) Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Klaus von Dohnanyi, muss sich nun mit diesem Antrag beschäftigen. Ich gehe einmal davon aus, dass Herr von Dohnanyi deswegen noch keine Entscheidung im Hauptausschuss herbeigeführt hat, weil seine Gespräche mit den Mitgliedern dieses Hauptausschusses, der zur einen Hälfte mit Arbeitgebervertretern und zur anderen Hälfte mit Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern besetzt ist, in dieser Frage noch nicht zu einer Einigung geführt haben. Deswegen ist die Frage, wann dieser Antrag der dbb Tarifunion beschieden wird, keine Frage an die Bundesregierung, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch! Warum machen Sie keinen Gesetzentwurf? - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) sondern eine Frage an Herrn von Dohnanyi und an den Hauptausschuss. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil (Peine) (SPD): Die Antwort war: Gar keine! Keine Branche hat einen Mindestlohn über das MiArbG! - Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war nichts! Wir haben nichts! Keine Mindestlöhne! Das MiArbG bringt nichts!) - Entschuldigung. Diese Frage richtet sich nicht an die Bundesregierung oder an den Deutschen Bundestag. - (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Natürlich!) Wir, Herr Kollege Heil, haben in der Großen Koalition Regelungen geschaffen, nach denen der Hauptausschuss zuständig ist. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie hätten auch ein Gesetz machen können!) Der Hauptausschuss entscheidet. Appellieren Sie an den Hauptausschuss und an Ihr Parteimitglied Klaus von Dohnanyi! Er ist dafür zuständig, nicht die Bundeskanzlerin und auch nicht der Deutsche Bundestag. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Brigitte Pothmer [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können selber Anträge stellen!) Wir haben bereits mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das wir zusammen novelliert haben, allgemeinverbindliche Mindestlöhne für eine Reihe von Branchen in ganz Deutschland festgelegt: im Bauhauptgewerbe, in etlichen Branchen des Baunebengewerbes, für die Gebäudereiniger, Wäschereidienstleistungen, die Abfallwirtschaft und die Pflegebranche. Gestern hätten Sie von Rot und Grün im Vermittlungsausschuss die Chance gehabt, für drei weitere Branchen in Deutschland eine konkrete Vereinbarung zur Einführung von Mindestlöhnen zu treffen, nämlich für die Zeitarbeit, das Wach- und Schließgewerbe und die Weiterbildungsbranche. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Katja Mast [SPD]: Scheinlösungen haben Sie angeboten! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört!) Herr Heil, wenn Sie das, was Sie zur Notwendigkeit von Mindestlöhnen vorgetragen haben, wirklich ernst meinten, dann hätten Sie die ausgestreckte Hand der Koalition und der Bundesregierung zur Vereinbarung von drei zusätzlichen Mindestlöhnen gestern nicht ausschlagen dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das können Sie ohne uns machen, Herr Weiß! Das reicht nicht!) - Herr Kollege Heil, Sie, die Sozialdemokraten und die Grünen, haben dieses Thema in die Verhandlungen des Vermittlungsausschusses eingebracht, nicht wir. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber notwendig!) Ich wiederhole: Wenn Sie es mit Mindestlöhnen wirklich ernst meinten, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schauen Sie sich unsere Anträge an!) dann hätten Sie das Angebot im Vermittlungsausschuss, für drei weitere Branchen eine konkrete Vereinbarung zu treffen, nicht ausschlagen dürfen. Insofern ist alles, was Sie sagen, schlichtweg unglaubwürdig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Scheinheilig! Alles scheinheilig hier!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weiß, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Heil zulassen? Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön, Herr Heil. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Kollege Weiß, ich will Ihnen nichts vorwerfen, sondern Sie aufklären, weil Sie an den Verhandlungen nicht beteiligt waren. Ohnehin hat sich Ihre Fraktion relativ stark zurückgehalten. Ich muss Ihnen mitteilen: Es sind keine Mindestlöhne für drei Branchen angeboten worden. Im Einzelnen war es folgendermaßen: Sie haben keinen richtigen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeit, sondern einen Placebomindestlohn vorgeschlagen. Sie haben gestern auf Druck der FDP im Vermittlungsausschuss beim Wach- und Sicherheitsgewerbe noch eine Änderung vorgenommen, nämlich dass Sie als Bundesregierung das Verfahren nur begleiten wollen. Tun Sie bitte nicht so, als hätten Sie einen Mindestlohn zugesagt. Last, but not least haben Sie für die Weiterbildungsbranche keinen Weg aufgezeigt, wie wir tatsächlich zu einem Mindestlohn kommen. In Unkenntnis kann man viel Unsinn erzählen, Herr Weiß. Meine Bitte ist: Machen Sie den Menschen nichts vor! Sie haben keine Mindestlöhne angeboten. Vor allen Dingen haben Sie nichts getan, um dem Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gerecht zu werden. Meine Frage ist: Sind Sie wie Ihr Koalitionspartner FDP der Meinung, Herr Weiß, dass der Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" erst nach neun Monaten gelten soll, wissend, dass die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Zeit- und Leiharbeitsbranche, nämlich fast 90 Prozent, nichts davon hätte? Ist das die Meinung von Herrn Weiß, dem CDU-Vertreter der Arbeitnehmerschaft? Bitte nicht ausweichen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Katja Mast [SPD]: Auf die Antwort bin ich gespannt! Und nicht ausweichen!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Nein, ich weiche nicht aus, Herr Kollege Heil. Wenn Sie schon über Formalien reden wollen (Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) - doch, das war so -, (Katja Mast [SPD]: Nein, die Frage war konkret!) dann will ich Folgendes klarstellen: Im Vermittlungsverfahren können formal nur am Gegenstand des Sozialgesetzbuches II Änderungen vereinbart und vorgenommen werden. Alles andere sind politische Verabredungen. Dazu hat die Bundesregierung eine Protokollerklärung vorgelegt, die morgen auch dem Bundesrat vorliegen wird. Darin bringt die Bundesregierung ihren klaren Willen zum Ausdruck, nach den Regeln des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zu verbindlichen Mindestlohnregelungen bei der Leiharbeit, im Wach- und Dienstleistungsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche zu kommen. Sie haben nach dem Grundsatz des Equal Pay gefragt. (Katja Mast [SPD]: Sie haben ihn doch erst abgelehnt!) Equal Pay, die gleiche Bezahlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitern, ist Bestandteil des Gesetzes. Die rot-grüne Koalition hat damals (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Beantworten Sie bitte meine Frage, Herr Weiß! - Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie müssen schon die Antwort anhören!) die Sonderregelung in das Gesetz eingefügt, dass per Tarifvertrag von dem Equal-Pay-Grundsatz abgewichen werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Rot-Grün trägt die Verantwortung dafür, dass in Deutschland nicht nach dem Equal-Pay-Grundsatz bezahlt wird. Sie haben dieses Gesetz verabschiedet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Können Sie die Frage beantworten, Herr Weiß?) - Ich trage alles vor, Herr Heil. - Sie können der Protokollerklärung der Bundesregierung entnehmen, was festgelegt wurde. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ihre Meinung, Herr Weiß!) - Ich trage sie doch vor. Sie stellen hier Behauptungen auf. Wie es war, kann jeder in den Drucksachen schwarz auf weiß nachlesen. Die Bundesregierung hat in der Protokollerklärung Folgendes festgelegt: Wir erwarten jetzt von den Tarifpartnern, dass sie Tarifverträge schließen und Regelungen schaffen, ab wann in der Leiharbeitsbranche Equal Pay und kein abgesenkter Lohn gilt. - (Katja Mast [SPD]: "Neun Monate" war die Frage!) Wenn das in einem Jahr nicht erfolgt ist, dann werden wir gesetzgeberisch handeln. Aber es sollen erst einmal diejenigen verhandeln, die dafür Verantwortung tragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Katja Mast [SPD]: Neun Monate! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Neun Monate?) Ich finde es unglaublich, welche Show Sie veranstalten und wie Sie sich einfach der Verantwortung entziehen. Die Verantwortung liegt bei denen, die dafür zuständig sind, Tarifverträge abzuschließen. Das sind die Arbeitgeber und die Gewerkschaften. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie feige, diese Frage nicht zu beantworten, Herr Weiß! Verdammt feige!) Weil es mir aber nicht um Wahlkampf und auch nicht um politische Polemik geht, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zu feige, die Frage zu beantworten! - Katja Mast [SPD]: Neun Monate!) sondern weil es mir darum geht, dass das Prinzip "Faire Löhne für gute Arbeit" in Deutschland durchgesetzt werden kann, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nach neun Monaten?) habe ich die herzliche Bitte, dass sich die Ministerpräsidenten der Sozialdemokraten morgen im Bundesrat noch einmal ernsthaft die Frage stellen, ob sie nicht doch einer Vereinbarung mit der Bundesregierung und der Regierungskoalition hier im Deutschen Bundestag zustimmen wollen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schämen Sie sich! Feige! - Katja Mast [SPD]: Neun Monate, Herr Weiß! Sie sind feige!) die es möglich macht, dass wir für drei weitere Branchen in Deutschland eine konkrete Verabredung zur Einführung von Mindestlöhnen bekommen und dass das die Behandlung des Themas Sozialgesetzbuch II, bei dem kein Unbeteiligter mehr versteht, worüber wir eigentlich streiten, zu einem befriedigenden und guten Abschluss gebracht wird. (Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Feige ist das von der CDA! Unglaublich! - Katja Mast [SPD]: Und von Herrn Weiß auch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weiß, der Kollege Schaaf hat den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Würden Sie sie zulassen? Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Anton Schaaf (SPD): Herr Kollege Weiß, da Sie hier Redlichkeit einfordern: Würden Sie mir recht geben, dass es im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes einen Antrag der Tarifparteien in der Zeit- und Leiharbeitsbranche gab, über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung den vereinbarten Mindestlohn zu garantieren, (Zuruf von der FDP: Hatten wir nicht!) dass Sie, die Union, die Unterstützung für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit dem Hinweis auf konkurrierende Tarifverträge verweigert haben und dass die konkurrierenden Tarifverträge, die Sie als Begründung für einen nicht vereinbarten Mindestlohn in der Zeit- und Leiharbeitsbranche angemahnt haben, von einer Gewerkschaft abgeschlossen worden sind, die nicht tariffähig war, nämlich von einer CGB-Gewerkschaft? Sie haben sich darauf berufen, dass es konkurrierende Tarifverträge gibt. Ginge es nach uns, nach den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern in der Zeit- und Leiharbeitsbranche, gäbe es schon seit zwei Jahren einen Mindestlohn. Sie haben das verhindert, Herr Weiß. Würden Sie das bestätigen? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weiß, der Lohndrücker!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Schaaf, Sie haben diese Frage in Bundestagsdebatten schon mehrmals gestellt. (Katja Mast [SPD]: Aber nie beantwortet bekommen!) Ich muss Ihnen auf diese Frage die gleiche Antwort wie zuvor geben: Es ist richtig, dass wir in der Großen Koalition über die Frage gesprochen haben, ob wir Regelungen zur Zeitarbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. Es war damals leider so - ich bedauere, dass es so war -, dass die vier Arbeitgeberverbände, die es in Deutschland in der Zeitarbeitsbranche gibt, dieses Vorhaben wegen ihrer unterschiedlichen Tarifverträge bekämpft haben. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Die Kanzlerin hatte es schon zugesagt, und Sie sind wortbrüchig geworden!) So konnten wir die Frage, ob es einen Tarifvertrag gibt, den wir nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklären können und durch den die entsprechenden Bedingungen erfüllt werden, nicht klären. Es gibt in der Zeitarbeitsbranche in dieser Frage heute Gott sei dank eine Weiterentwicklung: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen doch gar nicht über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz reden!) Auch durch gutes Zureden haben sich alle vier Arbeitgeberverbände in der Zeitarbeitsbranche mit allen Gewerkschaften auf einen gemeinsamen Mindestlohn verständigt. Damit liegen jetzt die Voraussetzungen dafür vor, (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) dass wir ohne weiteren Streit den gemeinsamen Mindestlohn bei allen Zeitarbeitsverbänden in Deutschland für allgemeinverbindlich erklären könnten. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Könnten!) Das ist der große Unterschied zu dem, was in der Zeit der Großen Koalition geschehen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es gab gestern gar kein Angebot im Vermittlungsverfahren! Sie wollen doch gar nicht über das Entsendegesetz reden! Der verlängerte Arm der Lohndrücker sind Sie! - Weiterer Zuruf von der SPD: Dann brauchen Sie doch das Vermittlungsverfahren nicht!) In den Anträgen und auch in der Rede des Kollegen Heil ist nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden, dass am 1. Mai dieses Jahres die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Europäischen Union eingeführt wird, deren Herkunftsländer im Jahr 2004 der EU beigetreten sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weiß, ich hätte noch die Zwischenfrage von Frau Mast zu bieten. Möchten Sie die zulassen? - Bitte. Katja Mast (SPD): Herr Kollege Weiß, ich möchte die Frage wiederholen, die Ihnen Hubertus Heil gestellt hat und die Sie nicht beantwortet haben. Ursula von der Leyen, Angela Merkel und die FDP haben vor neun Monaten einen Kompromiss zum Thema "Gleiches Geld für gleiche Arbeit" vorgelegt, den Sie in der Koalition gemeinsam tragen können. Als Leiharbeitnehmerin oder Leiharbeitnehmer muss man in Deutschland neun Monate warten, bevor man das gleiche Geld wie die Kollegin oder der Kollege bekommt. Meine Frage lautet: Wie ist Ihre Haltung zu diesem Vorschlag? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Persönliche Haltung!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Kollegin Mast, um es noch einmal festzuhalten: Die derzeitige gesetzliche Regelung in Deutschland ist in der Tat so - damals von der rot-grünen Koalition beschlossen -, dass ein Zeitarbeiter, ein Leiharbeiter per Tarifvertrag auf Dauer schlechter gestellt werden kann als ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft. (Katja Mast [SPD]: Neun Monate!) Das ist die heutige Rechtslage. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Ihre Meinung?) - Ja, langsam! - Wir sind bereit und willens, die unbefristete Absenkung des Lohns abzuschaffen und das Ganze zu befristen. (Katja Mast [SPD]: Was denken Sie denn?) Nun ist es so: (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nach neun Monaten kommt ein Kind zur Welt! So antworten Sie doch mal!) Frau Kollegin Mast, die Frage, die Sie mir stellen, muss nicht der Abgeordnete Peter Weiß oder der Deutsche Bundestag beantworten, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie keine Überzeugung?) diese Frage müssen die Tarifpartner beantworten, die diese Tarifverträge abgeschlossen haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin Mast, damit wir nicht unnötig in die Tarifautonomie eingreifen müssen, haben wir gesagt: Wir setzen jetzt eine Frist von einem Jahr. In diesem einen Jahr sollen uns die Tarifpartner ein befriedigendes Ergebnis zum Thema Equal Pay vorlegen. Wenn sie das nicht tun, dann werden wir handeln. Wenn es die Tarifpartner selbst nicht schaffen, dann werden wir einen Zeitpunkt festlegen, ab dem Equal Pay in Deutschland gezahlt werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So viel Feigheit in einem Mann!) - Das ist keine Feigheit von mir, Herr Kollege Heil. Mut müssen die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerkschaften aufbringen. Wenn sie ihn nicht aufbringen, dann sind wir willens, zu handeln. Darin besteht der Mut. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist so mutig wie Sie bei Herrn Schröder! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Feigheit der CDA! Und das soll Arbeitnehmerschaft in der CDU sein!) Obwohl wir im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und im Mindestarbeitsbedingungengesetz die Möglichkeiten geschaffen haben, branchenbezogene Mindestlöhne festzulegen, wird vorgeschlagen, einen Mindestlohn per staatlichem Dekret zu bestimmen. Interessanterweise wird von den Sozialdemokraten ein Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde und von den Grünen 7,50 Euro in der Stunde vorgeschlagen. In einer ganzen Reihe von Branchen, die heute schon eine Mindestlohnregelung haben, liegt der Mindestlohn über 7,50 Euro oder 8,50 Euro, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott sei Dank!) weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu der Auffassung gekommen sind, dass es wirtschaftlich vertretbar ist, einen höheren Mindestlohn zu zahlen. Das ist zu begrüßen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Frage, die Sie sich stellen müssen, heißt: Wird dann, wenn ein staatlicher Mindestlohn festgelegt wird, in all den Branchen, in denen heute schon ein besserer, höherer Mindestlohn gilt, die Bereitschaft abnehmen, überhaupt Vereinbarungen über einen besseren Mindestlohn zu treffen? Müssen nicht diejenigen, denen schon heute ein höherer Mindestlohn zugesagt worden ist, damit rechnen, dass ihre Verträge auslaufen, nicht verlängert werden und sie zurückfallen auf das, was per staatlicher Gesetzgebung verordnet worden ist? Die Frage müssen Sie beantworten. Diese Frage haben zu Recht auch kluge Gewerkschafter und Sozialdemokraten gestellt. Ich will daran erinnern, dass der frühere Vorsitzende der IG BCE, Hubertus Schmoldt - (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein kluger Mann!) - ein kluger Mann; Sie haben recht -, auf die Frage nach der geeigneten Höhe für einen Mindestlohn geantwortet hat - ich zitiere -: Das muss in den einzelnen Branchen ausgehandelt werden, wie jeder normale Tarifvertrag auch. Wo Hubertus Schmoldt recht hat, hat er recht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es wäre gut, die Sozialdemokraten wie auch die Grünen würden diesem Ratschlag von Hubertus Schmoldt Rechnung tragen. Wir, die Union, stehen für Folgendes: Zur sozialen Marktwirtschaft gehören faire Löhne für gute Arbeit. Wir haben mit zwei Gesetzen das Instrumentarium dazu geschaffen. Wir wollen es nutzen. Das, was Sie beantragen, ist letztendlich die Verabschiedung von dem, was Sie selber mit uns zusammen geschaffen haben. Die Tatsache, dass Sie im Vermittlungsausschuss so gehandelt haben, wie Sie gehandelt haben, zeigt, dass Sie es gar nicht ernst meinen. Bitte, korrigieren Sie morgen durch Ihre Ministerpräsidenten diese Haltung. Es gibt eine Chance für mehr allgemeinverbindliche Mindestlöhne in Deutschland. Nutzen wir sie! Ergreifen Sie die ausgestreckte Hand der Union und der Regierung! Schlagen Sie sie nicht aus; dann sind Sie glaubwürdig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Klaus Ernst hat jetzt für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sechs Minuten Wege zum Kommunismus!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Weiß, Sie haben eben einen glänzenden Auftritt gehabt, als Sie bewiesen haben, wie man um eine Frage herumeiern kann, ohne sie zu beantworten. Das war wirklich ein Glanzstück. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben. Sie haben offensichtlich keine Ahnung von der betrieblichen Realität. Wenn Sie die hätten, würden Sie feststellen, dass es kaum einen Menschen gibt, der in einem Betrieb anfängt und dasselbe verdient wie der, der vielleicht schon 5, 10 oder 20 Jahre in diesem Betrieb arbeitet. Das ist die Realität. Deshalb ist es überhaupt nicht notwendig, eine Regelung zu treffen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer, wenn sie an einen Betrieb verliehen werden, auch noch weniger erhalten als die anderen Arbeitnehmer, die in dem Betrieb anfangen. Warum eigentlich? Die Neun-Monate-Regelung ist Humbug. Sie stehen in dieser Frage offensichtlich auf der Seite der FDP; sonst hätten Sie, Herr Weiß, hier eine klare Antwort gegeben. Die sind Sie schuldig geblieben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie, Herr Weiß, lenken offensichtlich sehr gern von der Verantwortung dieser Regierung und auch von Ihrer eigenen ab. Sie lenken ab, wenn Sie sagen: "Das sollen doch bitte schön Gewerkschaften und Arbeitgeber regeln", nur weil Sie sich weigern, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Für die Armut in Deutschland, für die Armut der Menschen, die arbeiten und trotzdem von ihrem Lohn nicht leben können, sind diese Regierung und Sie, Herr Weiß, mitverantwortlich. Dafür können sich die Menschen in diesem Land bei Ihnen bedanken, um das in aller Klarheit zu sagen. (Beifall bei der LINKEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir legen keine Löhne fest!) Um es deutlich zu machen: Angesichts der 1,4 Millio-nen Menschen, die hier trotz Arbeit ihren Lohn aufstocken müssen, wovon 330 000 in Vollzeitarbeit arbeiten, angesichts von 6,55 Millionen Niedriglöhnern in diesem Land - wir wissen, dass ihre Zahl steigt, seit Sie regie-ren - könnten Sie ein wenig demütiger sein, wenn Sie hier nach vernünftigen Lösungen gefragt werden. Schieben Sie die Verantwortung nicht auf andere ab. Das Nichtstun der Bundesregierung ist Ursache für diese Armut. Frau von der Leyen ist heute nicht da. Dafür habe ich Verständnis; denn sie musste nachts viel arbeiten. Sie weiß jetzt, wie das ist. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir auch! - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was soll denn das?) Die Bundesarbeitsministerin dieses Landes saust immer durch die Gegend und redet von den Kindern, für die sie sich ganz besonders verantwortlich fühlt. Dazu kann ich Ihnen sagen: Kinderarmut ist immer Armut der Eltern. Wenn die Eltern durch nicht vorhandene Mindestlöhne armgemacht werden, ist auch die Bundesarbeitsministerin persönlich dafür verantwortlich, wenn sie sich in dieser Weise verhält. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wissen, dass insbesondere Frauen von Mindestlöhnen betroffen sind und dass von drei Menschen, die unter 1 000 Euro verdienen, zwei Frauen sind. Es ist zwar schön, dass sich Frau von der Leyen dafür einsetzt - das unterstützen auch wir -, dass auch in den Führungsetagen Frauen sitzen; es arbeiten aber ganz viele Frauen in den Betrieben, die ihre Existenz nicht sichern können, weil die Bundesarbeitsministerin und diese Regierung Mindestlöhne verweigern. Das ist ein Zustand, den Sie ändern müssen. Diesen Zustand können Sie nicht einfach weglächeln. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt zur FDP, weil ich von ihr den einen oder anderen netten Zwischenruf gehört habe. "Leistung muss sich lohnen", höre ich da. Wissen Sie, was sich bei Ihnen lohnen muss? Offensichtlich soll sich die Abzockerei bei Ihnen lohnen. Ich habe vorhin in der Debatte die Rede Ihrer Fraktionsvorsitzenden gehört. Wenn man sich dagegen verwahrt, dass die CDs veröffentlicht werden, mit denen die zur Verantwortung gezogen werden können, die Steuerhinterziehung betreiben, dann schützt man damit die Abzocker und Steuerhinterzieher und kümmert sich offensichtlich nicht um die Menschen in diesem Land, die einen Mindestlohn brauchen. Das ist die Haltung der FDP. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der FDP) Es ist unglaublich, dass eine Partei, deren Umfragewerte offensichtlich unter 5 Prozent liegen, vernünftige Löhne für Millionen von Menschen verhindern kann. Das ist ein unglaublicher Zustand in diesem Land. (Beifall bei der LINKEN - Sebastian Körber [FDP]: Herr Gysi war unterhaltsamer!) Meine Damen und Herren, die Gesetzentwürfe der Grünen und der SPD gehen in die richtige Richtung. Einige Fragen bleiben trotzdem. Eine Frage bezieht sich auf die 7,50 Euro Mindestlohn im Gesetzentwurf der Grünen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestens!) - Mindestens. Das ist ja in Ordnung. - Nun fordern Sie beim Bezug von Arbeitslosengeld II einen Regelsatz von 420 Euro. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass bei einem Regelsatz von 420 Euro beim Arbeitslosen-geld II der Mindestlohn mindestens 7,80 Euro betragen müsste. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist doch bei euch genauso! Ihr habt doch genau das gleiche Problem!) - Könnten Sie vielleicht einmal die Luft anhalten? Sie ersticken ja fast. - Ich kann nur sagen: Jeder, der einen Mindestlohn unter 7,80 Euro verdient, ist logischerweise berechtigt, ergänzendes Arbeitslosengeld II zu beziehen, also Aufstocker zu sein. Das kann doch nicht sein. Sie können doch nicht Mindestlöhne fordern und gleichzeitig alle, die den Mindestlohn beziehen, ins Aufstocken treiben. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen eine Kommission!) Zur SPD muss ich sagen: Sie fordern 8,50 Euro. Sie wissen genauso gut wie ich, dass jemand mit einem Lohn von unter 9,46 Euro in der Stunde nach 45 Versicherungsjahren noch eine Grundsicherung im Alter bekommen muss, weil seine Rente zu niedrig ist. Deshalb sagen wir den Grünen: Jeder Lohn unter 7,80 Euro führt dazu, dass Sie die Leute zu Aufstockern machen und dass der Staat die Löhne zahlen muss, was Sie doch eigentlich hier bemängeln. Der SPD muss ich sagen: Jeder Lohn unter der Grenze von 9,46 Euro führt dazu, dass Sie die Menschen hinterher in die Altersarmut treiben. Deshalb sagen wir: Es ist schon richtig, dass wir 10 Euro fordern. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Wer bietet mehr? - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Arbeit, guter Lohn!) Im Übrigen kann ich nicht verstehen, warum sich SPD und Grüne in dieser Frage nicht am Ausland orientieren. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von 9,73 Euro, in Frankreich gibt es einen Mindestlohn von 9 Euro. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: In Rumänien sind es 96 Cent, in Bulgarien sind es 75 Cent!) Warum, bitte schön, machen Sie den billigen Jakob? Gehen Sie doch voran und machen Sie mehr als die anderen! Sie sollten nicht immer hinter den anderen herlaufen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen noch sagen, dass laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht immer den DGB beschimpfen!) 70 Prozent der Bürger auf die Frage, ob sie einen gesetzlichen Mindestlohn wollen, mit Ja geantwortet haben. Bei dem reichsten Fünftel der Gesellschaft waren es übrigens noch 57 Prozent, die sich für einen Mindestlohn ausgesprochen haben. Dass Ihnen Ihre Klientel davonläuft, haben Sie ja schon gemerkt. (Zuruf des Abg. Pascal Kober [FDP]) Wenn die Bürger dieses Landes in dieser Frage mehrheitlich eine klare Position einnehmen und einen Mindestlohn fordern, aber diese Regierung einen solchen verweigert, dann handelt diese Regierung gegen die Mehrheit der Bürger dieses Landes. Das ist der eigentliche Skandal. (Beifall bei der LINKEN - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist undemokratisch! - Zuruf von der FDP: So wird das nichts!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Heil, lieber Herr Ernst, liebe versammelte Gesellschaft der Zwischenfrager! Vielleicht gestatten Sie, dass ich an diesem Punkt der Debatte auf die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe eingehe. (Katja Mast [SPD]: Und auf die neun Monate!) Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegen Gesetzentwürfe vor. In beiden Gesetzentwürfen wird die Einrichtung einer Kommission gefordert, die einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bestimmen soll. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach dem Vorbild von England! - Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Guter Vorschlag!) Diese Kommission soll vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingerichtet werden. Das kann man, auch wenn man das Ziel an sich nicht teilt, noch nachvollziehen. Beide Gesetzentwürfe verweisen vollkommen zu Recht darauf, dass die Kommission die sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Mindestlohns bei der Fortschreibung berücksichtigen soll. Doch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, kommt der große Widerspruch in Ihren Gesetzentwürfen. Es ist nämlich überhaupt nicht nachvollziehbar, warum die Kommission, die Sie einsetzen wollen, nicht entscheiden darf, wie hoch der Ausgangsmindestlohn ist und ob zum Zeitpunkt der Einsetzung einer solchen Kommission ein Mindestlohn überhaupt sinnvoll ist. Es ist doch erstaunlich, dass Sie Ihrer eigenen Kommission von Anfang an, noch bevor sie überhaupt eingesetzt ist, misstrauen. Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Sie sind sich selbst nicht sicher, ob Sachverständige, wenn sie gefragt würden, überhaupt einen Mindestlohn befürworten würden, geschweige denn in der von Ihnen vorgeschlagenen Höhe von 8,50 Euro bei der SPD und 7,50 Euro bei den Grünen. Das zeigt, wie viel Vertrauen Sie in Ihre eigene Kommission, in Ihren eigenen Vorschlag haben, nämlich überhaupt nicht. Entweder sind Sie von der Idee einer unabhängig arbeitenden Kommission und von deren Sachverständigkeit überzeugt - dann müssen Sie sie unabhängig arbeiten lassen - oder Sie sind es eben nicht. So wie Sie es sich vorstellen, ist eine solche Kommission eine bloße Maskerade für politisch willkürlich festgesetzte und geschätzte Löhne. Ich möchte auf die von Ihnen stets mantraartig vorgetragene Begründung eingehen, dass Menschen, die einen Mindestlohn nach Ihren Vorstellungen bekommen, dann keine staatliche Unterstützung mehr benötigen würden. Dabei verkennen Sie die heute schon gültigen Fakten. Diese widerlegen Ihre Vorstellung sehr deutlich und für jeden nachvollziehbar. Sie wissen ganz genau, dass 98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten über ein existenzsicherndes Einkommen verfügen. Es sind nach Angaben der BA nur etwa 4 100 alleinstehende Arbeitnehmer, die trotz Vollzeitjob auf ergänzende staatliche Hilfen dauerhaft angewiesen sind. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann können wir ja so weitermachen!) Die Situation, dass der eigene Lohn nicht zum Leben ausreicht, ist heute in aller Regel nur für Alleinerziehende und für Paare mit mehreren Kindern zutreffend. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und das sind ganz wenige!) Um diese aber unabhängig von zusätzlichen staatlichen Leistungen zu machen - auch das wissen Sie -, würde es eines Stundenlohns von mindestens 13 Euro bedürfen; aber den fordert noch nicht einmal die Partei Die Linke. Sie werden das Aufstocken, das Sie hier immer diskreditieren und problematisieren, weder durch einen Mindestlohn von 8,50 Euro noch von 7,50 Euro verhindern können. Hören Sie deshalb endlich auf mit der Diskriminierung von Aufstockerinnen und Aufstockern. Es ist nichts Ehrenrühriges, seinen Lohn durch Arbeitslosen-geld II aufzustocken. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Viele wollen das aber nicht! - Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Fragen Sie mal die Leute, wie die das sehen!) Es ist auf jeden Fall besser, als arbeitslos zu sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aufstocken ist für viele ein erster Schritt zurück in ein Erwerbsleben ganz ohne Transferbezug. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Spätrömische Dekadenz! Das sagte Ihr Vorsitzender!) Im Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen werden die gleichen Fehler wie im SPD-Entwurf gemacht. Auch Sie bestimmen die Höhe des Mindestlohns erst einmal politisch selbst und lassen dann erst Ihre Kommission arbeiten. Auch Sie misstrauen Ihrem eigenen Vorschlag, auch Sie misstrauen der Sachverständigkeit Ihrer Kommission. Ich will auf die Löhne eingehen, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestlöhne!) die Sie vorschlagen: 7,50 Euro bei den Grünen - ich habe es bereits erwähnt -, 8,50 Euro bei der SPD, und die Linken schlagen 10 Euro vor. Wer von Ihnen hat denn nun recht? (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss die Kommission entscheiden!) Was ist die richtige Höhe des Mindestlohns? Vielleicht können mir die Grünen die Frage beantworten, weswegen sie nur 7,50 Euro fordern und nicht 8,50 Euro. Frau Pothmer, Sie sprechen nach mir, vielleicht können Sie das erklären. Wieso fordert die SPD eigentlich nicht 10 Euro, wenn die Linkspartei 10 Euro für richtig hält? (Katja Mast [SPD]: Wir wollen keine neun Monate!) Warum fordert die Partei Die Linke nicht 12 Euro, was der baden-württembergische Landesverband der Linken, wie ich von meinem Kollegen Herrn Schlecht erfahren habe, bundesweit für richtig hält? Warum folgen Sie nicht Ihren Kollegen aus Baden-Württemberg? Sie sehen: Offensichtlich ist die Höhe des Mindestlohns politisch nicht so leicht festzulegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich frage mich generell, warum Sie zum Beispiel nicht dem von Ihnen sonst immer so geschätzten Wirtschaftsweisen Peter Bofinger folgen, der sich zwar für einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, aber nur in Höhe von 5 Euro, weil - so sagt er - höhere Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten würden. Der Mindestlohn, wie Sie ihn sich vorstellen, wird nicht nur, sondern ist bereits zum politischen Spielball geworden. Ich bin mir sicher, dass die Grünen bis zur nächsten Bundestagswahl nicht bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro bleiben werden. Falls eine Partei mehr als 10 Euro fordern sollte, dann wird die Linke diese sofort überbieten. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wüssten gern, was die FDP möchte!) Aber wir sind hier nicht bei einer Auktion, sondern wir sollten nach einer verantwortungsvollen Politik streben, die die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht und nicht gefährdet. Wir als christlich-liberale Koalition setzen uns für diejenigen ein, die Arbeit suchen. Wir kümmern uns sowohl um die Menschen, die im Erwerbsleben sind, als auch um diejenigen, die dieses Glück gerade nicht haben. Wir bauen nicht mit Mindestlöhnen Mauern auf, sodass diese Menschen den Arbeitsmarkt nie betreten können, sondern wollen ihnen Brücken bauen und Möglichkeiten erhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat das Wort Brigitte Pothmer für Bündnis 90/ Die Grünen. Ihr wollen wir sehr herzlich danken, dass sie uns an ihrem Geburtstag mit einer Rede beehrt, und von Herzen gratulieren. (Beifall) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Was wäre schöner, als mit Ihnen allen meinen Geburtstag zu feiern? (Beifall im ganzen Hause - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Jetzt könnte eine nette Rede kommen! - Weitere Zurufe) - Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass Sie mir einmal zuhören, Frau Krellmann. "Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist", hat Victor Hugo gesagt. Eines kann ich Ihnen versichern: Der Mindestlohn ist so eine mächtige Idee. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]) Die Zeit des Mindestlohns ist längst gekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP und CDU/CSU, das können Sie schon daran erkennen, dass der Widerstand bröckelt und dass Sie zunehmend in die Defensive geraten. (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) Der Niedriglohnsektor hat sich immer weiter ausgebreitet. Herr Kober, Sie sprachen von einem logischen Denkfehler. Dazu will ich Ihnen einmal sagen: Wir haben nicht nur die im Blick, die alleinstehend sind und aufstocken; wir haben alle die im Blick, die Löhne von zum Beispiel unter 5 Euro die Stunde bekommen. Wegen dieser Menschen - das sind fast 2 Millionen in diesem Land - brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Pascal Kober [FDP]: Und in welcher Höhe?) Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit droht jetzt weitere Niedriglohnkonkurrenz. Deshalb brauchen wir einen ordnungspolitischen Rahmen, auch um den sozialen Frieden in diesem Land zu erhalten. Die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind wahrlich nicht fremdenfeindlich, aber wenn sie die Erfahrung machen müssen, dass die Polen, die Slowenen, die Litauer als Lohndrücker auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen, dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich die Fehler Ihrer Politik gegen die ausländischen Beschäftigten wenden, und das wollen wir verhindern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fordern inzwischen einen gesetzlichen Mindestlohn, aber mittlerweile, lieber Herr Kober, sind es auch die Führungskräfte in Deutschland, die eine gesetzliche Lohnuntergrenze wollen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau! - Pascal Kober [FDP]: Reden Sie doch mal zu Ihrem Antrag!) Mehr als ein Drittel der Topmanager sagt: Wir brauchen gerade wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine gesetzliche Lohnuntergrenze. (Pascal Kober [FDP]: Und wie hoch?) Sie müssen sich einmal fragen, für wen Sie eigentlich noch sprechen. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie die Interessen der 15 Prozent vertreten, die Sie, wenn auch irrtümlicherweise, einmal gewählt haben, oder wollen Sie nur noch die 4 Prozent in den Blick nehmen, die sich jetzt in den Umfragen für Sie entscheiden? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ihr Kollege Kauch hat das längst verstanden. Wo ist er eigentlich? Er hätte heute einmal reden sollen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Der muss sich ausruhen!) Er hat nämlich gesagt: Die ablehnende Haltung meiner Partei zum gesetzlichen Mindestlohn muss infrage gestellt werden. Wir müssen die Denkverbote bei der FDP aufheben. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Ihr sächsischer Wirtschaftsminister sagt: Die Ablehnung eines gesetzlichen Mindestlohns darf kein Dogma sein. - Lieber Herr Kober, was hat Herr Kauch, was hat Herr Morlok, was Sie nicht haben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Pascal Kober [FDP]: Ich habe zu Ihrem Antrag geredet!) Jetzt wende ich mich an Sie, die Kollegen von der CDU/CSU. Es ist doch Ihr Kollege Christian Bäumler, der stellvertretende Bundesvorsitzende Ihres Arbeitnehmerflügels, gewesen, der alle Hoffnung auf die Hartz-IV-Verhandlungen gesetzt und gesagt hat: Damit wollen wir den Einstieg in den gesetzlichen Mindestlohn schaffen. - Er ist jetzt genauso enttäuscht (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Von Ihnen ist er enttäuscht, Frau Pothmer!) wie ich, Herr Weiß, und zwar von Ihren Verhandlungsführerinnen und Verhandlungsführern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein! Sie haben Nein gesagt! - Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Zum Mindestlohn stand nichts im Verfassungsgerichtsurteil!) Es ist wirklich dreist und es ist "Out of Rosenheim", wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hätten lauter Mindestlöhne angeboten. Ich habe mir die Protokollnotiz zu dem Vorschlag der Einführung von Mindestlöhnen in der Weiterbildungsbranche und in der Sicherheitsbranche noch einmal angeschaut. In der Protokollnotiz für den Bundesrat beschreiben Sie nur den Prozess, wie man zur Erstreitung von Mindestlöhnen kommen könnte. Und dabei verschärfen Sie die Anforderungen an die Erstreckung von Mindestlöhnen noch zusätzlich. Es wäre gut, Herr Weiß, wenn Sie mir einmal zuhören würden; in Ihrer Protokollnotiz steht nämlich, dass der Tarifausschuss einstimmig darüber entscheiden muss. Das ist falsch. Davon steht überhaupt nichts im Gesetz. Das ist eine Verschärfung. Das zeigt auch, dass Sie Mindestlöhne in diesen Branchen gar nicht wollen. Da ist nichts, aber auch gar nichts in trockenen Tüchern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Über Ihren Vorschlag zu Mindestlöhnen in der Zeitarbeit ist hier schon geredet worden. Dazu brauche ich nicht mehr viel auszuführen. Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Sie vorgeschlagen haben, wird für die Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter nicht wirklich eine Lösung darstellen, weil nach Ihrem Vorschlag diejenigen, die in Niedriglohnbranchen arbeiten, weiterhin Hungerlöhne bekommen sollen. Der Placeboeffekt von Equal Pay ist hier auch schon thematisiert worden. Diese Politik der Anscheinserweckung hilft nun wirklich niemandem weiter. Jetzt wollen Sie das alles wieder an die Tarifparteien delegieren. Diese sollen es richten, und wenn sie es nicht schaffen, soll eine Kommission eingesetzt werden. Sie vertagen damit das Problem erstens auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Zweitens frage ich mich, Herr Kober, woher plötzlich Ihre Wertschätzung für die Tarifparteien kommt. (Pascal Kober [FDP]: War immer schon so! - Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Ich habe noch gut im Ohr, was Ihr Parteivorsitzender über die Gewerkschaften gesagt hat. Ich will es Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen. Es ist noch nicht lange her, da hat Ihr Parteivorsitzender gesagt: Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage in Deutschland. Er hat weiter behauptet, die Politik der Gewerkschaften koste mehr Jobs, als die Deutsche Bank jemals abbauen könnte. Das vor dem Hintergrund der Politik, die die Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise gemacht haben! (Pascal Kober [FDP]: Das war überhaupt nicht der Hintergrund!) Das vor dem Hintergrund des Beitrags, den sie geleistet haben, dass Arbeitsplätze erhalten werden konnten! Das ist wirklich eine Unverschämtheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Und das am Geburtstag!) Ihre neue Wertschätzung der Gewerkschaften nimmt Ihnen doch niemand mehr ab. Ihr sozialpolitisches Credo lautet doch: gegen mehr Mitbestimmung, immer gegen Arbeitnehmerrechte (Ulrike Flach [FDP]: Jetzt ist aber einmal gut!) und jetzt mit voller Kraft gegen den gesetzlichen Mindestlohn. Herr Kober, Sie haben ja noch einmal behauptet, Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze. (Pascal Kober [FDP]: Können Arbeitsplätze vernichten! - Bettina Hagedorn [SPD]: Angeblich!) - Also, angeblich. - Schauen Sie einmal auf die Homepage des BMAS. Ihr Ministerium ist da schon weiter. Dort heißt es ausdrücklich, dass es keine negativen Beschäftigungseffekte gibt, wenn Mindestlöhne sinnvoll eingeführt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Pascal Kober [FDP]: Nicht 10 Euro! - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Über den Sinn diskutieren!) Dazu machen wir Ihnen in unserem Gesetzentwurf einen Vorschlag. Wir wollen, dass eine Mindestlohnkommission eingesetzt wird, die sehr genau hinschaut, wie sich Mindestlöhne in einer bestimmten Branche auswirken, und entsprechende Anpassungen vornimmt. Das ist unser Vorschlag. Natürlich wollen wir, dass die Tarifparteien Mindestlöhne oberhalb dieser unteren Lohngrenze verabreden können. Das haben ja auch Sie, Herr Weiß, noch einmal in den Mittelpunkt gestellt. Ich kann mir also sicher sein, dass auch Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen werden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So nicht!) Ich sage Ihnen noch einmal - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin! Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -: Rüsten Sie ab in Sachen Mindestlohn! Nachdem ich Ihre Redebeiträge gehört habe, meine ich, zwischen den Zeilen lesen zu können, dass auch Sie einen gesetzlichen Mindestlohn wollen. Herr Weiß, geben Sie es doch zu! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ CSU]: Na, na!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Johann Wadephul hat sehr viel unternommen, um endlich mit Frau Pothmer gemeinsam Geburtstag zu feiern. Er hat dafür gesorgt, dass wir aus diesem Anlass eine Sitzung des Deutschen Bundestages durchführen. (Heiterkeit) Wir gratulieren auch Ihnen, Herr Wadephul, sehr herzlich und wünschen Ihnen Gottes Segen. (Beifall) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die charmante Begrüßung! (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir beide und Bertolt Brecht!) - Ja, wir beide und Bertolt Brecht. Darüber kann man philosophieren. Ich sehe, wie Frau Pothmer zu Tränen gerührt ist. Ich gratuliere auch ihr von Herzen. Gesundheit muss man ihr nach dieser vitalen Rede ja gar nicht mehr wünschen. Nachdem sie sich auch phänotypisch mit ihrer Kleidung der Union annähert, können wir vielleicht in Zukunft noch mehr Gemeinsamkeiten suchen, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Was sagen Sie zu Ihrer roten Krawatte?) Ich habe das erfreut zur Kenntnis gekommen. Ihre ohnehin vorhandene Attraktivität wird dadurch nochmals gesteigert. (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) - Herr Heil, machen Sie sich keine Hoffnungen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) Von den Sozialdemokraten haben wir in unserem vergangenen Lebensjahr, Frau Pothmer, schon einmal etwas Ähnliches in Form eines Antrags bekommen, der jetzt von den Juristen in Gesetzesform gebracht worden ist. Die Argumente dazu sind ausgetauscht, und man fragt sich, was der Gesetzentwurf heute eigentlich soll. Aber wer die Rede von Herrn Heil verfolgt hat, hat das schnell gemerkt: Er hat dieses Thema mit der Regelsatz-Debatte und mit der Blockade verknüpft, die Rot-Grün im Vermittlungsausschuss zulasten der Bedürftigen durchgeführt hat. Man erkennt: Hier soll Wahlkampf geführt werden. Es geht Ihnen nicht um die Bedürftigen und diejenigen Menschen, die - der Kollege Weiß hat darauf hingewiesen - in drei wichtigen Branchen einen Mindestlohn hätten bekommen können, sondern Sie brauchen Wahlkampfmunition. Angesichts Ihrer Umfragewerte verstehe ich das zwar, aber in Ordnung ist es nicht, Herr Kollege Heil. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Hamburg brauchen wohl Sie ein bisschen Munition, oder?) Wenn wir uns einmal Ihre Aussagen zur beschäftigungspolitischen Ausgangslage in Deutschland vor Augen führen, dann könnte man den Eindruck haben, als lebten wir in einem Land, in dem Armut und Not nur so grassierten. Wenn Sie aber die beschäftigungspolitische Situation und auch die Arbeitslosenstatistiken Deutschlands einmal innerhalb der Europäischen Union vergleichen, dann stellen Sie fest, dass wir gerade aufgrund der Entwicklung des vergangenen Jahres - insofern hätten Sie seit der Erstantragstellung vielleicht einmal darüber nachdenken müssen - an fünfter Stelle von allen 27 EU-Mitgliedstaaten stehen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und Äthiopien!) - Der Äthiopien-Vergleich leuchtet mir jetzt nicht unmittelbar ein. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Verglichen mit Äthiopien sind wir reich!) Dies ist ein Erfolg unserer Politik und einer ausgewogenen Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland, in die man, wenn man Erfolg haben will, nur dann eingreifen soll, wenn man wirklich ein besseres Regelwerk zu bieten hat. Aber das ist bei nüchterner Betrachtung der beiden Gesetzentwürfe und der Vorstellungen der Linken nicht der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen, dass das, was Sie hier vorschlagen, schon in sich nicht konsistent ist. Man kann einmal bei der Höhe der Sätze anfangen - Herr Kober hat sie schon aufgezählt -: 7,50 Euro, 8,50 Euro, 10 Euro. Man könnte im Grunde wie auf einer Versteigerung fragen: Wer bietet mehr? Wenn man Ihren Vorschlag für einen Mindestlohn, Herr Ernst, zugrunde legen und Ihre Regelsatzberechnungen dazunehmen würde, dann käme man zu dem Schluss, dass auch die von Ihnen geforderten 10 Euro nicht ausreichen würden. Insofern ist Ihre Berechnung noch nicht einmal in sich konsistent. Aber das alles muss am Schluss irgendjemand bezahlen, im Zweifel die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die zahlen das doch jetzt schon!) Bei der Haushaltslage in Deutschland ist das schlicht und ergreifend nicht verantwortbar. Deswegen, Herr Kollege Ernst, sind diese Vorstellungen - sowohl die Ihrigen als auch die Vorstellungen der Grünen und der SPD - zum jetzigen Zeitpunkt zurückzuweisen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, der Kollege Ernst würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ja, bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Klaus Ernst (DIE LINKE): Danke, Herr Kollege. - Sie haben gerade gesagt, wenn im Ergebnis ein Mindestlohn herauskäme, dann müsste im Zweifelsfall der Steuerzahler die Kosten tragen. Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass der Steuerzahler durch den nicht vorhandenen Mindestlohn und dadurch, dass er permanent die zu niedrigen Hungerlöhne aufstocken muss, schon jetzt belastet ist? Vorhin ist in der Debatte von 11 Milliarden Euro jährlich gesprochen worden. Zweitens. Würden Sie mir zustimmen, dass bei einer Erhöhung des Mindestlohns die notwendigen staatlichen Zuschüsse sinken könnten, der Steuerzahler also, entgegen Ihrer Auffassung, eher entlastet und nicht belastet würde? Drittens. Sie haben über die Frage einer Untergrenze diskutiert und in diesem Zusammenhang von einem Überbietungswettbewerb gesprochen. Sind Sie nicht der Auffassung - ganz einfach gefragt -, dass es auch zur Würde des Menschen gehört, dass er von dem Lohn für seine Vollzeitarbeit leben können muss, ohne der staatlichen Fürsorge anheimzufallen? (Beifall bei der LINKEN) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Kollege Ernst, zunächst einmal habe ich mich bei den Ausgaben, die den Steuerzahler treffen würden, auf die Regelsätze bezogen. Sie sind aus unserer Sicht nachvollziehbar berechnet. Wir haben übrigens keinen gegenläufigen Vorschlag von der Opposition zur Kenntnis nehmen können. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) Sie behaupten immer nur, Frau Kollegin Ferner, unsere Berechnung sei verfassungswidrig. Aber Sie haben keine konsistente Gegenberechnung vorgelegt; Sie sind sie uns bis zum heutigen Tage schuldig geblieben, auch in den Nachtsitzungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) Herr Kollege Ernst, ich finde es übrigens abenteuerlich, hier Frau von der Leyen vorzuwerfen, sie sei keine Nachtarbeit gewohnt. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt! Lesen Sie im Protokoll nach!) Sie liegen vollkommen falsch, wenn Sie glauben, Mütter seien keine Nachtarbeit gewohnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau von der Leyen hat wirklich eine Ahnung davon, was es bedeutet, nachts aktiv zu sein. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zuhören! Lesen Sie es bitte im Protokoll nach!) - Sie haben es vorhin so formuliert. Stellen Sie es gegebenenfalls richtig. Der zweite Punkt. Wir streiten doch nicht über die Frage, welches Mindesteinkommen ein Mensch braucht, um leben zu können. (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Doch! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Darüber streiten wir auch!) - Hören Sie jetzt vielleicht freundlicherweise zu! Auch ich habe einen Geburtstagswunsch; er ist identisch mit dem Wunsch der Kollegin Pothmer. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Einen haben Sie frei!) - Danke. - Wie gesagt, darüber streiten wir nicht. Die Frage ist doch, wie sich das Mindesteinkommen zusammensetzt und wie wir in einem ganz bestimmten Bereich Arbeit für Menschen generieren können. Es war Wolfgang Schäuble, der schon in den 90er-Jahren darüber nachgedacht hat, Kombilohnmodelle zu entwickeln. Herr Heil, die Regierung Schröder hat das dann erfolgreich umgesetzt. Man hatte damals die Idee: Wir müssen im Niedriglohnsektor Arbeit für Menschen generieren, weil es auch zur Menschenwürde gehört, dass man eine Aufgabe hat und für seine Arbeit eine Entlohnung bekommt. Wenn diese Entlohnung nicht ausreicht, um davon menschenwürdig zu leben, dann ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Staat hier ergänzend unterstützt und eingreift. Das ist im Kern ein richtiger Ansatz, zu dem wir weiterhin stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch Rot und Grün sollten eigentlich dazu stehen, denn gerade im Niedriglohnsektor haben wir außerordentlich viele Arbeitsplätze geschaffen. Natürlich soll es nicht bei diesen Arbeitsplätzen bleiben; das sind doch Einstiegsarbeitsverhältnisse, die eine Brücke zu solchen Arbeitsverhältnissen schlagen können, in denen mehr Einkommen erzielt werden kann, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das funktioniert doch nicht!) sodass keine ergänzende staatliche Unterstützung benötigt wird. Das ist doch der Kern. Wir haben hier vorhin eine Debatte über den Mittelstand geführt. Sie müssen einmal die Kehrseite der Medaille sehen: Wenn wir hier einen Mindestlohn festsetzen, dann müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber - das sind oftmals beispielsweise kleine Handwerksbetriebe, von denen in der vorangehenden Debatte die Rede gewesen ist - diesen Mindestlohn in der Folge erwirtschaften. Wir alle können immer mit dem berühmten Beispiel von der Friseuse kommen. Nur, schauen Sie sich einmal die wirtschaftliche Realität in Deutschland an: Viele Handwerksbetriebe haben Mühe, höhere Preise am Markt durchzusetzen. Da befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie im Lebensmittelbereich. Hier sagen alle immer: Lebensmittel müssen angemessen Geld kosten dürfen. Nur ist der Verbraucher nicht immer bereit, das dafür notwendige Geld auszugeben. Das ist nun einmal die Realität. Das finde ich persönlich nicht richtig - Sie wahrscheinlich auch nicht -, aber es ist die Realität. Insofern ist es wohlfeil, zu sagen: Ein Mindestlohn ist sozusagen das Patentrezept. Nein, ein Mindestlohn - das muss man ehrlicherweise sagen - birgt die Gefahr, dass reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor verschwinden und im Bereich der Schwarzarbeit landen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist die Kehrseite der Medaille. Das ist zwar nicht schön, aber man muss es an dieser Stelle ehrlicherweise ansprechen. Ich würde mich gerne den vermeintlich unabhängigen Kommissionen zur Festlegung des Mindestlohns widmen, die in beiden Gesetzentwürfen auftauchen. Dabei möchte ich zwei Aspekte beleuchten. Zum einen geht es um die Frage, wie unabhängig solche Kommissionen eigentlich sein können: Wie viel Unabhängigkeit trauen Sie ihnen zu? Das Ende der Unabhängigkeit beginnt, wenn Sie den Kommissionen vorschreiben würden, dass der Mindestlohn nicht unter 7,50 Euro bzw. 8,50 Euro pro Stunde liegen darf. Ich frage Sie nach Ihrer realistischen Einschätzung: Glauben Sie eigentlich wirklich, dass die entsprechende Zahl, wie auch immer sie festgesetzt würde, aus den politischen Auseinandersetzungen im Rahmen von Wahlkämpfen herausgehalten werden könnte? Ich glaube, nicht aus einem Wahlkampf. Frau Mast, die Grünen haben auch noch gesagt, wir müssten regionale Unterschiede machen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Die Kommission guckt sich das an!) Das heißt, wir müssten in den einzelnen Bundesländern eine unterschiedliche Mindestlohnhöhe definieren. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht die Kommission!) Dann würde jeder Landtagswahlkampf im Kern aus der Aussage bestehen: Ich biete mehr Mindestlohn, und deswegen wählt bitte meine Partei. Das wäre das Ende der Tarifautonomie und der Beginn der politischen Bestimmung des Mindestlohns. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ob wir den Menschen damit einen Gefallen tun würden, ist die große Frage. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den tun wir damit einen Gefallen!) Lange Rede, kurzer Sinn: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, sehr kurz!) Wir haben in Deutschland - das ist der Unterschied zu den wichtigsten europäischen Nachbarländern, mit denen Sie uns hier vergleichen - Tarifautonomie und stabile Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sind übrigens beteiligt, wenn vom Mindestarbeitsbedingungengesetz abgewichen wird. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die aber den Mindestlohn fordern! Verdi und DGB fordern den Mindestlohn!) Das machen nicht irgendwelche gruseligen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber allein. Die Gewerkschaften sind immer dabei, Herr Kollege Heil. Das sollten Sie nicht vergessen. Wir haben eine Tarifautonomie, die sich in über 60 Jahren bewährt hat. Sie sorgt dafür, dass wir auf schwierige wirtschaftliche Situationen, wie das 2009 der Fall war, flexibel reagieren können. Den wirtschaftlichen Aufschwung, den wir in Deutschland erlebt haben, das Jobwunder, das wir in Deutschland erlebt haben, (Zuruf von der LINKEN: 400-Euro-Job-Wunder!) haben wir kluger Politik zu verdanken. Wir haben nie verschwiegen, dass das mit der Agenda 2010 begonnen hat. Sie verschweigen das schamhaft, was ich tragisch finde. (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das stimmt ja gar nicht! Das hätten Sie gern!) Der Aufschwung hat aber auch damit zu tun, dass wir nachfolgend gute strukturpolitische Entscheidungen in Deutschland getroffen haben. Nicht zuletzt verdanken wir das Jobwunder aber der Intelligenz und dem Augenmaß der Tarifpartner. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die wollen doch den Mindestlohn! Haben Sie das noch nicht gemerkt? Tarifpartner sind für den Mindestlohn!) Die Tarifpartner haben unser Vertrauen. Wir sollten sie bei ihrer schwierigen Arbeit unterstützen und versuchen, politische Einmischung so weit wie möglich zu verhindern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr gut!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Ottmar Schreiner von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang möchte ich ein paar Bemerkungen zu meinen Vorrednern machen, um die Diskussion etwas zu beleben. Zunächst eine Bemerkung zu Herrn Weiß, dem Vertreter der Arbeitnehmerschaft in der CDU/CSU-Fraktion: (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!) Herr Weiß, bei allem Respekt, ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie die Frage, ob Sie eine Neunmonatsfrist, die von der FDP vorgeschlagen worden ist, als Voraussetzung für die Umsetzung des Anspruches "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" für angemessen halten, nicht beantwortet haben. Das ist nicht gerade ein Ausweis einer besonders mutigen Haltung. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vertretern der Arbeitnehmerschaft müsste es doch möglich sein, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um eine klassisch liberale Position handelt, die an Irrsinn kaum zu überbieten ist. Wir alle wissen, dass die Beschäftigungsverhältnisse in diesem Bereich in der Regel eine Laufzeit von neun Monaten unterschreiten. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!) Das zeigt, dass die vorgeschlagene Regelung sich nicht auf die Realität bezieht. Sie ist nicht für die Wirklichkeit gedacht, sondern für irgendetwas anderes. Vielleicht ist sie für die FDP-Wirklichkeit gedacht, aber nicht für die wirkliche Wirklichkeit. Es wäre angemessen, wenn auch der CDU/CSU-Vertreter der Arbeitnehmerschaft dazu eine klare Position formulieren würde, zumal es für die Koalition inzwischen peinlich wird. Heute Morgen habe ich in einer überregionalen Tageszeitung ein Interview mit dem Chef von Manpower gelesen. Manpower ist weltweit eine der größten Verleihfirmen. In diesem Interview wird Jeffrey Joerres, Chef des internationalen Personaldienstleisters Manpower, zitiert. Er "steht der derzeit diskutierten gleichen Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten (Equal Pay) offen gegenüber". (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind alle weiter als die FDP und die CDU!) Ein wörtliches Zitat aus dem Interview: "Wenn es so kommt, dann stellen wir uns darauf ein." Die sind alle viel weiter als die FDP und im Gefolge Herr Weiß und die Herren und Damen von der CDU/ CSU. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß zulassen? Ottmar Schreiner (SPD): Ja, sicher. Wir wollen ja die Debatte beleben. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Schreiner, ich finde es persönlich sehr erfreulich, dass der Chef einer großen Zeitarbeitsfirma eine solche Erklärung abgibt. Es ist aber auch diese Frage zu beantworten: Warum schließt Manpower nicht bereits morgen mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag ab, in dem festgelegt wird, dass für Zeitarbeitsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die über Manpower vermittelt werden, ab dem ersten Tag Equal Pay gezahlt und der Lohn nicht abgesenkt wird? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die stellen sich darauf ein! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hat sich doch schon rumgesprochen! Wie kann man denn so weltfremd sein?) - Herr Kollege Ernst, ich frage jetzt den Kollegen Schreiner. Sie haben damals im Bundestag das heute geltende Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mitbeschlossen, das vorsieht, dass eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter und Festangestellte gilt; es sei denn, per Tarifvertrag wird nach unten abgewichen. Es ist also jederzeit möglich, diese Abweichung per Tarifvertrag wieder aufzuheben und eine gleiche Bezahlung herzustellen. Dann soll doch Manpower diesen Tarifvertrag schließen, aber nicht uns, der Politik, dieses Thema zuspielen. Es liegt doch in erster Linie in der Verantwortung der Tarifpartner und nicht in der des Deutschen Bundestages, Equal Pay herzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ottmar Schreiner (SPD): Herr Kollege, Sie wissen doch selbst, dass das tarifliche Unterbieten der "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"-Regelung von einer Gewerkschaft angepackt worden ist, der die zuständigen Gerichte die Tarifmächtigkeit abgesprochen haben. Damit sind natürlich die anderen Gewerkschaften massiv unter Druck gesetzt worden mit dem Ergebnis, dass der Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" tariflich nicht mehr gehalten werden konnte. Das war die Lage in den vergangenen Jahren. Wenn das so ist, dann ist der Gesetzgeber aus Gemeinwohlgründen verpflichtet, Schlimmeres zu verhindern und seinerseits Regelungen zu treffen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das Problem ist doch jetzt weg!) - Ich weiß nicht, ob der Christliche Gewerkschaftsbund verschwunden ist oder ob es ihn noch irgendwo in Reserve gibt. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aber die Tarifgemeinschaft!) Dieser ist offenkundig in diesen tariflichen Fragen zu allem fähig und zu nichts wirklich nutze. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Der Chef von Manpower sagt weiter: Der Grundgedanke, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt wird, ist ja richtig - auch wenn es im Einzelfall nicht immer so einfach ist. Das ist okay. Das geht aber auch an die Adresse der FDP. Wenn die großen Leiharbeitsfirmen den Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" für richtig halten und sagen, dass sie sich damit arrangieren können, wenn der Gesetzgeber entsprechende Regelungen trifft, dann stellt sich die Frage, wessen Interessen Sie hier eigentlich noch vertreten. Wahrscheinlich vertreten Sie nur noch Ihre eigenen Interessen. Es gibt aber niemanden mehr, der sich von Ihnen vertreten fühlt. (Zuruf von der FDP: Sie werden doch zugeben, dass das alles Ihre Idee war!) Hier zeigt sich die Koalition schon relativ hilflos. Weiter weist Manpower darauf hin, auch ein Mindestlohn von 7,60 Euro für Ungelernte sei akzeptabel. Er sagt: ... das zahlen wir sowieso schon, und es würde der Branche guttun. Insofern stehen wir dem Mindestlohn offen gegenüber. Meine Güte, ich frage mich, wer in dieser Republik noch Ihre Position unterstützt. Lidl steigt an die Spitze des Klassenkampfes und fordert einen Mindestlohn von 10 Euro brutto pro Stunde. (Zuruf von der FDP: Warum sind Sie bei 8,50 Euro?) Man könnte die Palette der Einrichtungen, die das fordern, erweitern. Im Kern gibt es niemanden mehr, der die Position der Koalition bei dieser Frage unterstützt. Das ist die erste Bilanz, die man an dieser Stelle ziehen kann. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Weiß, Sie haben ferner mit Nachdruck darauf bestanden, dass zu Folgendem Stellung bezogen wird. Sie sagten, wenn der Gesetzgeber einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn festlege, dann entstehe ein Druck nach unten in Richtung dieses allgemeinen Mindestlohns. Sie fragten, wie man damit umgehen solle. Wenn das richtig wäre, müsste es entsprechende Erfahrungen aus dem Ausland geben. Sie wissen, dass in über 20 EU-Ländern ein gesetzlicher Mindestlohn gilt. Aus keinem dieser Länder wird berichtet, dass das eingetreten ist, was Sie befürchten. Im Übrigen gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe von sozialpolitischen Regelungen, wie etwa das Bundesurlaubsgesetz, die Arbeitszeitgesetzgebung usw., mit denen der Gesetzgeber Mindeststandards festgelegt hat. Diese Regelungen können jederzeit von den Tarifparteien verbessert werden. In der Realität werden sie auch verbessert. Von einer Sogwirkung nach unten kann also in keinem Fall die Rede sein. Ich habe nicht so richtig verstanden, worauf Herr Wadephul im Ernst hinauswollte. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ernst sitzt da drüben!) Herr Wadephul, unter anderem haben Sie gesagt, dass es Besorgnisse hinsichtlich der Beschäftigungseffekte gebe. Sie kommen aus Schleswig-Holstein. Laden Sie doch einmal die Low Pay Commission des britischen Parlaments nach Deutschland ein. Diese Kommission existiert schon seit etlichen Jahren und setzt sich zusammen aus Vertretern der Industrie, des Handwerks, der Gewerkschaften und der Wissenschaft. Auch uns schwebt eine solche Zusammensetzung einer solchen Kommission vor. Fragen Sie die Low Pay Commission aus Großbritannien nach ihren spezifischen Erfahrungen bezogen auf die Fragen, die Sie hier formuliert haben. Sie würden sich wundern und glauben, Sie hätten es mit einer sozialdemokratischen Vereinigung zu tun, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) und das ausgerechnet in Großbritannien, wo dies nicht unbedingt zu erwarten ist. Kein Vertreter der Koalition hat auch nur einen einzigen Satz zu den neuen Herausforderungen ab dem 1. Mai dieses Jahres gesagt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Was ist, wenn die uneingeschränkte Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, die seit 2004 EU-Mitglied sind, zum 1. Mai dieses Jahres in Kraft tritt? Was ist, wenn zum Beispiel polnische Arbeitgeber polnische Arbeitnehmer oder baltische Arbeitgeber baltische Arbeitnehmer zu in ihrer Heimat üblichen Preisen in Deutschland einsetzen? Wir Sozialdemokraten haben nichts gegen den Wettbewerb von Regionen und schon gar nichts gegen den Wettbewerb von Unternehmen, aber wir haben etwas gegen den Wettbewerb von Unternehmen, wenn er auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen wird. Das werden wir nicht akzeptieren. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist das ein für uns wesentlicher Punkt. Das bisherige Kernargument, die Beschäftigung sei gefährdet, ist anscheinend fallen gelassen worden. Wenn dieses Argument richtig wäre, müssten wir Anhaltspunkte dafür haben, dass es in den acht Branchen, in denen in der letzten Zeit die Allgemeinverbindlichkeit formuliert worden ist, zu entsprechenden negativen Beschäftigungseffekten gekommen wäre. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Nehmen Sie die jüngsten amerikanischen Studien; diese zeigen in die gleiche Richtung. Sie sind im Bereich der wissenschaftlichen Evaluation von Mindestlöhnen national und international hoffnungslos isoliert. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Der entscheidende Punkt, den ich Ihnen gar nicht mehr richtig darlegen kann, weil ich sehe, dass meine Redezeit gleich abläuft, betrifft die Frage nach den wesentlichen Antriebsgründen für die Forderung nach Mindestlöhnen. Sie sind nicht primär ökonomischer Art. Sie sind zwar auch ökonomischer Art - Stichwort: Binnennachfrage und dergleichen mehr -, aber sie sind im Wesentlichen eine Frage des Anstandes und der Fairness auf dem Arbeitsmarkt und eine Frage des Wertes der Arbeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da müssten die Christdemokraten Farbe bekennen. Es ist ein klassisch liberaler Grundsatz, dass in einer Marktwirtschaft die Preise und Löhne, die es auf dem Markt gibt, auf dem Markt gebildet werden. Demnach hätten wir es auf dem Arbeitsmarkt mit einer Art Kartoffelmarkt zu tun. Aber der Arbeitsmarkt ist mit einem Kartoffelmarkt nicht vergleichbar, weil wir es auf dem Arbeitsmarkt mit Menschen zu tun haben, und Menschen haben Würde. Daraus ergibt sich der Wert der Arbeit des Menschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das können Sie in vielen Dokumenten der katholischen Soziallehre und in den entsprechenden evangelischen Schriften nachlesen. In diesem Punkt unterscheiden wir uns fundamental von den Liberalen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende. Ottmar Schreiner (SPD): Ich bin eigentlich nicht am Ende, aber ich komme zum Ende. (Heiterkeit) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nur das war meine Bitte. Ottmar Schreiner (SPD): Die Kollegen, die hier immer betonen, dass sie christliche Politik machen, machen insoweit keine christliche Politik. Sie machen auf diesem Feld FDP-Politik. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Ottmar Schreiner (SPD): Hier wären Sie gut beraten, in sich zu gehen und sich vielleicht einmal etwas gründlicher mit der Lehre der christlichen Kirchen zum Thema Arbeit zu befassen. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und gute Besserung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Heil, Sie haben heute das gemacht, was wir auch im Vermittlungsausschuss erlebt haben. Sie haben sich über das Thema, um das es eigentlich geht - in diesem Fall Ihre Gesetzentwürfe zu gesetzlichen Mindestlöhnen -, hinaus geäußert. Deswegen möchte auch ich kurz auf ein anderes Thema, auf die Zeitarbeit, eingehen. Wissen Sie, der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, dass wir nicht leichtfertig wegwerfen wollen, was Sie einmal für dieses Land erreicht haben. Es gibt Unterschiede zwischen dem Modell der Zeitarbeit, das wir in Deutschland haben, und den Modellen, die es im Ausland gibt. In Deutschland ist die Zeitarbeit in den letzten Jahren ein Jobmotor gewesen, übrigens gerade für diejenigen, die aus der Arbeitslosigkeit kommen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Ausland gibt es sehr viel mehr Zeitarbeit! In Frankreich! In den Niederlanden! - Weiterer Zuruf) - Doch. - Zwei Drittel der Menschen in der Zeitarbeit kommen aus der Arbeitslosigkeit, und 40 Prozent derjenigen, die in der Zeitarbeit arbeiten, sind ohne Qualifikation, haben keinen Berufsabschluss. Für diese ist die Zeitarbeit der Weg in den Arbeitsmarkt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Immer mehr sind hochqualifiziert!) Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist, dass wir das nicht leichtfertig wegwerfen wollen. Dass Sie uns hier vorwerfen, wir wollten den Missbrauch bei der Zeitarbeit nicht verhindern - dies wollen wir natürlich machen -, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Neun Monate!) finde ich bemerkenswert. Diese Koalition hat doch die Schlecker-Klausel vorgelegt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die hilft doch nichts!) Es war diese Koalition, die schon letzten Sommer gesagt hat: Wir müssen uns für Equal Pay einsetzen, damit Stammarbeitskräfte nicht durch Zeitarbeiter ersetzt werden, weil man diesen einen niedrigeren Lohn zahlen kann. Das wollen wir. Deshalb schlagen wir eine Regelung zu Equal Pay vor. Allerdings wollen wir dies nach einer klugen Frist, Herr Heil, weil es unser Ziel ist, den Steg, den die Zeitarbeit laut IAB heute in den Arbeitsmarkt bildet, zu einer Brücke auszubauen, damit mehr Menschen darüber gehen können, und ihn nicht abzureißen, wie Sie es wollen; denn dies würde die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland erhöhen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kommen wir jetzt zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Tarifautonomie in Deutschland ist für uns - das, was uns Liberalen hier unterstellt wurde, ist falsch - ein hohes Gut. Wir glauben, dass die Lohnfindung bei Arbeitgebern und Gewerkschaften in guten Händen ist. Deshalb wollen wir sie dort belassen. Der Punkt ist: Das ist ein Erfolgsmodell. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber Ihr Vorsitzender lange nicht begriffen, Herr Vogel!) Das hat neben der starken mittelständischen Wirtschaft - liebe Frau Kollegin Pothmer, ich komme gleich zu Ihnen - (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er sagte: Die Gewerkschaften vernichten mehr Arbeitsplätze, als die Deutsche Bank je abgebaut hat!) und der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft übrigens entscheidend zum deutschen Jobwunder beigetragen. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir die niedrigste Arbeitslosenquote aller großen Länder in Europa und die niedrigste Jugendarbeitslosenquote überhaupt haben. Das wollen wir im Gegensatz zu Ihnen nicht wegwerfen. Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke sehr!) Alles Gute! Aber gerade weil Ihr Geburtstag eigentlich ein Tag der Freude für uns alle ist, ebenso wie der Geburtstag des Kollegen Wadephul, muss ich Ihnen sagen: Bei Ihnen habe ich mich gewundert, dass auch Sie heute das dunkle Bild der drohenden Gefahr aus dem Osten durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezeichnet haben. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir sagen: Der deutsche Arbeitsmarkt muss darauf vorbereitet werden!) Sie wissen doch so gut wie ich: Alle Untersuchungen haben gezeigt, dass die Länder, die ihre Arbeitsmärkte im Gegensatz zu Deutschland schon geöffnet hatten, keine Probleme hatten, dass dort kein Lohndumping entstanden ist, (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Anton Schaaf [SPD]: Die haben ja auch alle Mindestlöhne!) sondern dass ihre Volkswirtschaften - im Gegenteil - sogar gewachsen sind. Das gilt auch für die Länder, die keine gesetzlichen Mindestlöhne haben; (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Dänemark, Schweden, Norwegen - die haben doch alle einen Mindestlohn!) denken Sie nur an die Länder in Skandinavien, zum Beispiel an unseren nördlichen Nachbarn Dänemark. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Länder in Skandinavien haben einen quasigesetzlichen Mindestlohn!) Nun zu den Mindestlöhnen. Sie verweisen immer auf Großbritannien. Ich würde es mir nicht so leicht machen, zu sagen: In den Ländern, die einen Mindestlohn haben, ist alles gut. Wir sehen doch in Europa: Es funktioniert. - Wenn ich mir die Situation in Frankreich und Spanien anschaue, wo es sehr starre gesetzliche Mindestlöhne gibt, dann kann ich nur sagen: Das wünsche ich mir nicht. Eine dreimal bis fünfmal so hohe Jugendarbeitslosenquote, wie wir sie in Deutschland haben, wünsche ich mir nicht. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber nichts damit zu tun!) Wir können uns gerne die Situation in Großbritannien anschauen; Ihr Vorbild ist ja die Low Pay Commission. Wenn man das tut, muss man sich aber die Situation in Großbritannien insgesamt anschauen. Der Arbeitsmarkt ist nämlich ein Gesamtkunstwerk. Wenn er kein Gesamtkunstwerk ist, dann besteht die Gefahr, dass es umfassender Pfusch ist. Wir können gern über Großbritannien reden. Dann reden wir aber bitte auch darüber, dass es dort keinen Mindestlohn für unter 21-Jährige gibt, dann reden wir auch über den britischen Kündigungsschutz und über eine Commission, die zum Beispiel unabhängig von politischer Einflussnahme Löhne festsetzen kann. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das soll sie auch!) Wenn Sie in Deutschland einen Mindestlohn von umgerechnet 6,97 Euro haben wollen, können wir darüber reden. Aber genau das wollen Sie nicht, liebe Frau Kollegin Pothmer. In Großbritannien beträgt der Mindestlohn, umgerechnet in Euro, aktuell 6,97 Euro. Genau diesen Betrag hat die unabhängige wissenschaftliche Kommission festgelegt. Genau dies wollen Sie aber nicht. Sie bringen folgendes Kunststück fertig: Sie sagen auf der einen Seite: "Ja, wir wollen eine solche Kommission", sagen aber auf der anderen Seite: "Wir legen politisch die Untergrenze fest, eine Grenze, die sie nicht unterschreiten darf." Was wäre denn, wenn die Wissenschaftler herausfinden würden, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass der angemessene Mindestlohn 7 Euro beträgt? Dürften sie das dann gar nicht feststellen? Oder dürften sie das schon wissenschaftlich feststellen, aber die Politik würde dann etwas anderes machen? Indem Sie hier politischen Einfluss nehmen, tun Sie genau das, was wir im Zusammenhang mit gesetzlichen Mindestlöhnen immer als Horrorszenario bezeichnen, (Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) nämlich dass die Politik ein Lohndiktat ausspricht und dann in der Politik ein Überbietungswettbewerb einsetzt - ich lasse an dieser Stelle keine Zwischenfrage zu -, der Arbeitsplätze gefährdet. (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Dann sind wir schnell bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro, den die SPD schon fordert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie die Frage von Frau Hendricks zulassen? Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Nein, vielen Dank. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aha! Der Junge hat Angst! - Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) - Nein, das lasse ich mir nicht unterstellen. Bitte stellen Sie die Zwischenfrage. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das mit dem Antidiskriminierungsgesetz vereinbar ist. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säuglingsschutz!) - Frau Hendricks, bitte. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Kollege Vogel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die schon früher das Recht auf Freizügigkeit, in andere europäische Länder zu ziehen, hatten, zum Beispiel aus Polen nach Großbritannien, Irland, Schweden oder Norwegen, einem Land, das der Europäischen Union gar nicht angehört - ich will sie einmal Wanderarbeiter nennen -, in Länder gewandert sind, in denen es einen Mindestlohn gibt? Ist Ihnen auch bekannt, dass der von Ihnen gerade angesprochene Mindestlohn in Großbritannien von unter 7 Euro nur deswegen zurzeit unter 7 Euro liegt, weil das Pfund im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise im Verhältnis zum Euro deutlich verloren hat, dass der Mindestlohn vorher umgerechnet bei knapp 9 Euro lag (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) und dass wegen einer Pfund-Schwäche die Mieten oder das Brot in Großbritannien nicht teurer geworden sind, sondern dass es sich nur um eine Währungsrelation handelt? Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Liebe Frau Kollegin - erstens -, das ist mir bekannt. (Zurufe von der SPD: Aha! - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie das auch!) Zweitens. Sie müssen dann aber auch über die Länder reden, in denen es keinen Mindestlohn gibt und in die die Menschen trotzdem eingewandert sind; ich habe eben schon auf unseren nördlichen Nachbarn Dänemark verwiesen. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, zu sagen, Wanderung sei nur unschädlich, wenn es gesetzliche Mindestlöhne gebe. Das ist schlicht nicht zutreffend. Was das Beispiel Großbritannien angeht, so ist mein Punkt nicht die Lohnhöhe. Darüber können wir gerne reden, aber - das sagte ich schon - dann müssen wir auch über andere Konstellationen des Arbeitsmarkts reden. Nein, mein Punkt ist, dass Großbritannien eine unabhängige Kommission eingesetzt hat. Genau das wollen Sie nicht. Sie wollen eine unabhängige Kommission, aber die Untergrenze soll die Politik festsetzen. Dann kommt es zu einem Überbietungswettbewerb. 7,50 Euro fordern die Grünen. Die SPD macht sich gar nicht mehr die Mühe, Wissenschaftler in die Kommission einzuladen; das ist in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgesehen. Großbritannien sehe ich insofern nicht mehr als Ihr Vorbild. Sie sind dann schon bei 8,50 Euro. Nach langer Überlegung sind Sie zu dem Schluss gekommen, 8,50 Euro könnte die richtige Untergrenze sein. Überraschenderweise ist es genau die Untergrenze, die auch der DGB vorschlägt. Das ist gleichzeitig eine Reaktion auf die Linken, die 10 Euro fordern. Hier setzt also ein Überbietungswettbewerb in eine Richtung ein, die wir nicht wollen können. Deshalb geben wir dem Staat nicht das Lohndiktat in die Hand, sondern lassen die Lohnfindung dort, wo sie hingehört, nämlich bei Arbeitnehmern und Gewerkschaften. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da hat es der Junge der Alten aber ganz schön gezeigt!) - Vielen Dank, Herr Kollege. Auf ein letztes Argument möchte ich noch einmal eingehen. Uns wird Folgendes immer wieder vorgeworfen: Indem Sie die Lohnfindung bei Arbeitnehmern und Gewerkschaften lassen, lassen Sie in Deutschland Dumpinglöhne zu, was zur Folge hat, dass Menschen massenhaft auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind. Sie müssen aufstocken und dann Hartz IV beantragen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Was ja auch stimmt!) - Das ärgert mich, weil es eben nicht stimmt, Frau Kollegin. Sie behaupten immer wieder, dass 1,2 Millionen Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken müssten, weil - die Fachkollegen wissen das; und deswegen ärgert es mich, dass Sie dieses Argument wider besseres Wissen immer wieder bringen - die Lohnhöhe so niedrig sei. Das ist einfach nicht zutreffend. (Bettina Hagedorn [SPD]: Doch!) Drei Viertel der Aufstocker arbeiten Teilzeit. (Bettina Hagedorn [SPD]: 400 000 sind in Vollzeit!) Da ist nicht die Lohnhöhe, sondern die Arbeitszeit das Problem. Bei dem anderen Viertel ist die Größe der Bedarfsgemeinschaften entscheidend. In Deutschland erfährt man Unterstützung, auch wenn man eine große Familie hat. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die stocken weniger auf, wenn sie mehr Lohn bekommen! Das ist Mathematik!) Das ist auch gut. Das ist eine sozialpolitische Errungenschaft, die wir alle verteidigen wollen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist gut. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Man muss dann aber auch sagen: Wenn wir erreichen wollen, dass ein Alleinverdiener den Lebensunterhalt seiner vierköpfigen Familie mit seinem Lohn bestreiten kann, ohne auf Hartz IV angewiesen zu sein, dann liegen wir bei einem Äquivalenzlohn von 12 Euro. Das fordert noch nicht einmal die Linkspartei. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, jetzt wäre dann "gleich". Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Ich komme zum letzten Satz. - Die Wahrheit ist doch: In Deutschland - das zeigen die Aufstockerzahlen des IAB - müssen 36 000 Menschen aufgrund der Lohnhöhe aufstocken und Hartz IV beziehen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 330 000 Vollzeitbeschäftigte!) Wir können gerne darüber reden, dass das 36 000 Menschen zu viel sind. Diese Zahl ist aber weit entfernt von 1,2 Millionen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 330 000 Vollzeitbeschäftigte! Sie haben nicht einmal die richtigen Zahlen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Das heißt somit nicht, dass wir dem Staat die Lohnfindung in die Hand geben sollten. Vielmehr wollen wir sie dort belassen, wo sie hingehört, nämlich bei den Arbeitgebern und Gewerkschaften. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie kennen nicht einmal die richtigen Zahlen! 330 000 sind es!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ist eigentlich schon abgemachte Sache, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bei euch!) wenn man hört, was drei Viertel der Menschen hier in Deutschland sagen, und wenn man sich einig ist, dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze schafft, und wenn man registriert, dass mittlerweile sogar Arbeitgeber und ihre Gewerkschaften für Mindestlöhne sind und dass es in mehr als 20 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt. Ich persönlich würde unheimlich gerne über die Höhe eines Mindestlohns streiten und mich damit auseinandersetzen. Ich habe die Debatten sehr genau verfolgt. Der Gesetzentwurf der Grünen enthält einen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro. Der Gesetzentwurf der SPD enthält einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Linke fordert im Grunde 10 Euro. Heute Morgen habe ich Herrn Lindner gehört. Er sprach von 11 Euro. Herr Kober sprach von 13 Euro. Das nehmen wir gerne in unsere Überlegungen auf und diskutieren über die Höhe des Mindestlohns. Wir diskutieren allerdings nicht über das Ob des Mindestlohns. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Ich sage es noch einmal: Über diese Frage würde ich unheimlich gerne mit Ihnen streiten - aber nicht darüber, ob wir das einführen. Die Oppositionsparteien in diesem Deutschen Bundestag stehen auf der Seite der Menschen auf der Straße. Ich bitte Sie: Beachten Sie, wer in Deutschland die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns blockiert und wer sie nicht blockiert. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gestern haben Die Linke, Grüne und SPD blockiert! - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man eine Volksabstimmung über die Einführung eines Mindestlohns durchführen würde, dann würde - da bin ich mir sicher - sich das Volk für einen Mindestlohn aussprechen. Bei einer Abstimmung hier im Deutschen Bundestag würde es allerdings nicht zur Einführung eines Mindestlohns kommen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Antwort auf die Frage, wer in diesem Land eigentlich die Einführung flächendeckender Mindestlöhne blockiert, ist ganz klar: Das sind FDP und Union. Ich will gerne noch einmal drei Beispiele aufgreifen, die in der Diskussion hier auch schon eine Rolle gespielt haben. Erstes Beispiel. Es geht darum, was im Zusammenhang mit der Mindestlohn-Kommission passiert ist, die 2009 im Zuge der Reform des Mindestarbeitsbedingungengesetz unter der Großen Koalition wiederbelebt wurde. Deren Aufgabe ist es eigentlich, zu prüfen, ob in Branchen, in denen es kaum Tarifverträge gibt, ein Mindestlohn erforderlich ist. Das traurige Ergebnis nach eineinhalb Jahren ist gerade einmal eine Sitzung mit null Ergebnissen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Weil keine Gewerkschaft etwas beantragt hat!) Die Callcenterbranche wartet schon seit über einem Jahr auf eine Reaktion. Die Mindestlohn-Kommission hat nichts erreicht. Absoluter Stillstand! Zweites Beispiel. Die Einführung von Branchenmindestlöhnen. Vor der Wahl wurde den Beschäftigten in der Weiterbildungsbranche der Mindestlohn versprochen. Kaum ist das Ministerium unter der Fuchtel der CDU, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unter dem Fuchtel!) ist davon keine Rede mehr. Zwei Jahre nichts! (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wieso? Wir haben doch Mindestlöhne in Kraft gesetzt!) - Da ist nichts passiert. Ich sage: Das ist eine Schlamperei. Die Folgen davon tragen die Beschäftigten, Herr Weiß. (Beifall bei der LINKEN) Herr Weiß, das müssten Sie eigentlich ganz genau wissen: Wenn ein Betrieb so wie diese Bundesregierung oder dieses Ministerium arbeiten würde, dann wäre er schon fast in der Insolvenz, und wenn Beschäftigte sich so verhalten würden, dann hätten sie schon längst eine Kündigung oder Abmahnung bekommen. (Beifall bei der LINKEN - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das sagt die Linkspartei! Hör mir auf!) Ich hoffe, dass Ihnen die Menschen spätestens bei den nächsten Landtagswahlen die Quittung für dieses skandalöse Verhalten geben werden. Im Gegensatz zu der CDU versucht die FDP gar nicht erst, den Eindruck zu erwecken, dass sie Arbeitnehmerinteressen irgendwie für wichtig hält. Die Partei der sogenannten Liberalen besteht aus Mindestlohnblockierern erster Klasse. Die Taschen der Bosse werden gefüllt, und es wird dafür gesorgt, dass die Betriebe parallel dazu trotzdem Niedriglöhne für ihre Beschäftigten zahlen können. Es steckt nichts hinter Ihrer Aussage, Arbeit müsse sich wieder für alle lohnen. Arbeit muss sich lohnen, aber nur für einige Ihrer Freunde. Drittes Beispiel. Leiharbeitsbranche. Der einzige Bereich, für den wir keinen Mindestlohn brauchen, ist die Leiharbeitsbranche. Hier brauchen wir gleiches Geld für gleiche Arbeit - und das ab dem ersten Tag. (Beifall bei der LINKEN) Die einzige Ausnahme: Man muss hinschauen, was in der sogenannten verleihfreien Zeit passiert. Auch hier können Sie Ihre Interessen nicht wirklich verbergen. Ihr Kollege Kolb hat Equal Pay nach drei Monaten gefordert. Jetzt fordern Sie die gleiche Bezahlung nach neun Monaten. Neun Monate vereinbarte Ausbeutung: Das ist nichts anderes als ein öffentlicher Kniefall vor der Leiharbeitsbranche. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren von der FDP und der CDU, Sie sind die Parteien der Lobbyisten. Das Beispiel Mövenpick lässt im Zusammenhang mit der FDP tief blicken. (Pascal Kober [FDP]: Oh!) Jetzt gibt es die historische Chance zur Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen. Die Zahlen sind bekannt. Kein Mensch glaubt mehr das Märchen von der Jobvernichtung durch Mindestlöhne, da das in 20 Ländern wirklich einwandfrei funktioniert. Legen Sie endlich Ihre Verbohrtheit ab und retten Sie die soziale Absicherung der Beschäftigten in Deutschland. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 ist Grund genug. (Beifall bei der LINKEN) Es kann nicht sein, dass Deutschland in 79 Tagen dazu beiträgt, die Löhne in Europa weiter zu drücken. Hier hilft nur ein gesetzlicher Mindestlohn. Für die Linke ist klar: Branchenmindestlöhne alleine reichen nicht aus, um alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzusichern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Deswegen brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne, durch die alle Menschen davor geschützt werden, in den Niedriglohnbereich zu fallen. Nach unserer Auffassung ist dafür eine Höhe von 10 Euro notwendig. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Krellmann. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Letzter Satz. - Durch einen Mindestlohn von 10 Euro wird den arbeitenden Menschen von heute auch eine armutsfeste Rente von morgen gesichert. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Beate Müller-Gemmeke spricht jetzt für Bündnis 90/ Die Grünen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Letztes Jahr hat sich der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz in der Frankfurter Rundschau gegen Mindestlöhne ausgesprochen. Er hat darauf hingewiesen, dass all diejenigen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Öffnung der Arbeitsmärkte profitieren, die preisgünstigere Produkte favorisieren. Verlierer seien laut Franz die hiesigen Arbeitskräfte, die sich nicht anpassen könnten oder wollten. Das war meiner Ansicht nach eine unverantwortliche und ignorante Aussage, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) und zwar insbesondere aus Sicht der 21 Prozent der Beschäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und deshalb mit Existenzsorgen leben müssen. Für sie kann solch eine Aussage nur wie blanker Hohn klingen. Ich kann nur hoffen, dass diese Haltung und diese Sicht der Dinge in den Regierungsfraktionen nicht mehrheitsfähig sind. Aber Reden reicht nicht; es muss auch endlich gehandelt werden. Die Beschäftigten, und zwar die in- und ausländischen, erwarten von uns verantwortlichen Politikern, dass wir im Zuge der Freizügigkeit für Gerechtigkeit, angemessene Arbeitsbedingungen und faire Löhne sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Genau das bezwecken wir mit unserem Gesetzentwurf. Neben dem gesetzlichen Mindestlohn, der nur eine Untergrenze sein kann, fordern wir mehr branchenspezifische Mindestlöhne. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll endlich für alle Branchen geöffnet werden. Es ist allseits bekannt, dass die Tarifbindung durch die Tarifflucht der Betriebe immer weiter abnimmt. Dem darf man nicht tatenlos zuschauen. Übernehmen die Betriebe nicht mehr die notwendige gesellschaftliche Verantwortung, dann muss die Bundesregierung Verantwortung übernehmen und zumindest auch mit Blick auf die Freizügigkeit branchenspezifische Mindestlöhne ermöglichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Wir wollen auch den Tarifausschuss im Arbeitnehmer-Entsendegesetz abschaffen. Hier geht es um Mindestlöhne, die von den zuständigen Tarifpartnern zum Teil sehr hart verhandelt und ausgehandelt wurden. Zukünftig dürfen diese Mindestlöhne nicht mehr blockiert werden. Wir wollen den Entgeltbegriff verändern. Beschäftigte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssen endlich entsprechend der vertraglich festgelegten Arbeitszeit entlohnt und somit mit allen anderen Beschäftigten gleichgestellt werden. Das verhindert auch Wettbewerbsverzerrungen und stärkt die Betriebe, die dieses Schlupfloch nicht missbrauchen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe ich kein Verständnis mehr für die ideologische Blockade von Schwarz-Gelb. Ihre Blockade von Mindestlöhnen passt angesichts der hohen Lohnunterschiede zwischen alten und neuen EU-Staaten nicht mehr in die Zeit. Die Freiheiten des europäischen Binnenmarktes dürfen nicht dazu missbraucht werden, soziale Standards zu verschlechtern. Sie dürfen auch nicht dazu führen, dass tariftreue Arbeitgeber vom Markt verdrängt und immer mehr Beschäftigte in den Niedriglohnbereich getrieben werden. Öffnen Sie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz endlich für alle Branchen und machen Sie den Weg frei für einen gesetzlichen Mindestlohn! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Abermals diskutieren wir, diesmal auf Initiative der Grünen und der SPD, über die Einführung flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wir kommen auch noch mit einem Antrag!) - Auch von der Linken erwarte ich einen solchen Antrag in den nächsten Wochen. Das bringen Sie alle paar Wochen vor. Die Regierungskoalition ist nach wie vor der Auffassung - darauf haben wir schon mehrmals hingewiesen -, dass ein flächendeckender branchenübergreifender Mindestlohn die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Dadurch werden nämlich keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, meine Damen und Herren der SPD und der Grünen. Es ist ein einfacher Zusammenhang: Ist der festgesetzte Mindestlohn zu hoch, dann vernichtet er Arbeitsplätze und Chancen für arbeitswillige Arbeitslose mit allen negativen Wirkungen für die Betroffenen und die Sozialsysteme. Ist er zu niedrig, dann entfaltet er keine Wirkung. Von den Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen, dass ein Überbietungswettbewerb der einzelnen Parteien nicht nur in Wahlkampfzeiten einsetzen wird. Wie schnell das passieren kann, haben wir in dieser Debatte gemerkt. Vorhin hat Klaus Ernst von einem Mindestlohn von 9,73 Euro in Luxemburg gesprochen. Herr Ernst, Sie müssen mal Ihren Redenschreiber ins Gebet nehmen. Vielleicht sollte er mal genauer nachschauen. Seit 1. Januar liegt der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Luxemburg bei 10,17 Euro. Da sehen Sie, wie schnell einem bei der Mindestlohnspirale schwindelig werden kann. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sieht man, wie gut die Luxemburger sind!) - Oder wie schlecht die Recherche der Linkspartei ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, unser zentrales Ziel muss es sein, konsequent gegen unzumutbare Billiglöhne vorzugehen. Ab dem 1. Mai wird sich der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Mittel- und Osteuropa öffnen. Wie von den Vorrednern bereits ausgeführt, droht insbesondere in der Branche der Zeitarbeit ein Import ausländischer Billigtarifverträge nach Deutschland. Das ist richtig, da werden wir aufpassen müssen. Stundensätze von 3 bis 4 Euro würden die Lohnspirale deutlich nach unten drücken. Gerade die Situation für Geringverdiener würde dadurch erheblich erschwert. Deshalb streben wir eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit an. Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass bald im Vermittlungsausschuss doch noch ein Kompromiss für die Zeitarbeit gefunden werden wird. Ich hatte Mitte Dezember von diesem Pult aus an die Kolleginnen und Kollegen der SPD appelliert, noch mal mit ihren Ministerpräsidenten darüber zu reden, ob man dem Hartz-IV-Bildungspaket im Interesse der Betroffenen, der Familien, der Kinder nicht doch zustimmen könnte. Ich appelliere jetzt abermals von diesem Pult aus an Sie. Ich weiß, Frau Kollegin Lösekrug-Möller spricht nach mir; sie ist eine sehr weise Frau aus der Fraktion der SPD. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Anton Schaaf [SPD]: Stimmt!) Vielleicht können Sie diesbezüglich im Interesse der Betroffenen noch mal ernsthaft nachdenken. Es geht hier nicht um Machtkämpfe. Das verstehen die Mitbürgerinnen und Mitbürger weder an den Fernsehgeräten noch hier auf den Tribünen. Es geht darum, eine Lösung für bedürftige, für arme Kinder zu finden, es geht auch darum, eine Lösung für die Kommunalfinanzen zu finden. Auch das ist etwas, bei dem ich gespannt bin, (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es geht um den Regelsatz! Es geht um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts!) ob die Oberbürgermeister, die von der SPD gestellt werden, ihre Ministerpräsidenten vielleicht noch einmal ins Gebet nehmen und die dann sagen: Jawohl, wir bekommen im SGB-XII-Bereich eine merkliche Entlastung in Milliardenhöhe, ohne dass dies im Urteil des Bundesverfassungsgerichts explizit erwähnt worden ist. Auch das ist klar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Deshalb mein Appell: Denken Sie an die Betroffenen, denken Sie nicht an die nächsten Landtagswahlen, liebe Genossinnen und Genossen von der SPD! (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir denken an das Verfassungsgericht! Es gab keinen verfassungskonformen Vorschlag von der Regierung! Keinen! - Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Herr Ernst will eine Frage an mich richten. Ich würde sie erlauben, Frau Präsidentin. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Herrn Ernst wollen wir nicht stoppen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Den kann man nicht stoppen, glaube ich, so einen engagierten Gewerkschafter. Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Lehrieder, Sie haben gerade dargestellt, dass es nun an der SPD und an den Grünen im Vermittlungsausschuss liegen würde, wenn die drei Branchen nicht ins Entsendegesetz aufgenommen würden. Sie haben gesagt, im Interesse der Kinder müsste man das tun. Würden Sie mir zustimmen, dass die gegenwärtig regierende Bundesregierung das auch ohne die SPD beschließen kann, dass sie, wenn es ihr tatsächlich um die Kinder ginge, die SPD dafür überhaupt nicht brauchte? Sie könnte das als Regierung einfach machen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wir haben es doch beschlossen!) Sie könnte doch, ohne dass sie die SPD jetzt in irgendeiner Form um Zustimmung bitten muss, im Interesse der Kinder und der Betroffenen für diese drei Branchen das Entsendegesetz zur Anwendung bringen, oder ist das falsch, Herr Lehrieder? (Beifall bei der LINKEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Lieber Kollege Ernst, es geht hier nicht um die Aufnahme irgendwelcher Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach so!) Das ist Verhandlungsmasse, die die SPD verständlicherweise in den Vermittlungsausschuss mit hineingepackt hat. Herr Ernst, Sie wissen, dass wir im Bundesrat 34 Stimmen haben. Für eine Mehrheit brauchen wir 35 Stimmen. Ganz knapp reicht es nicht. Das heißt, für ein positives Vermittlungsergebnis wären wir der SPD für eine geneigte Mitwirkung sehr dankbar. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber das können Sie doch auch ohne die machen!) - Selbstverständlich können wir das selber machen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum machen Sie es denn nicht?) Wir werden sehen, inwieweit wir ab 1. Mai im Bereich der Leiharbeit entsprechende Verwerfungen haben werden oder nicht, und wir werden schauen, was tatsächlich an Zuwanderung kommt. Wir haben genau dieselbe Diskussion wegen der demografischen Entwicklung. Wir werden in manchen Branchen über die Zuwanderung nach Deutschland froh sein. Wir müssen erst mal abwarten - das war ja genau die Diskussion, die die Vorredner schon angesprochen haben -, wie viele Menschen aus den neuen Ländern zu uns kommen. Man hatte ja vor zehn Jahren 200 000 Menschen in der IT-Branche erwartet - bleiben Sie bitte stehen, Herr Ernst -, später erwartete man 70 000. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage war, ob Sie dies ohne die SPD können!) Die Erlaubnis wurde für 20 000 ausgestellt. Tatsächlich sind in den Jahren 2001/2002 gerade mal 2 500 bis 3 200 IT-Spezialisten nach Deutschland gekommen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber wir reden über die Kinder! Für die Kinder geht es doch auch ohne die SPD!) - Ich erkläre es Ihnen liebend gern noch einmal, Herr Ernst. Sie sollten mal in den Ausschuss kommen, Sie sollten sich als Mitglied für den Ausschuss benennen lassen. Dann kriegen Sie die Diskussion live mit. Für das Bildungspaket für die Kinder brauchen wir die Länder. Ich kann es Ihnen gern noch einmal erklären, ich kann es Ihnen nachher auch schriftlich geben, falls Sie dies wünschen. Aber wir brauchen für das Bedarfspaket für die Kinder schlicht und ergreifend die Mitwirkung der Bundesländer. Daran scheitert es. Das ist auch der Grund, warum wir im Vermittlungsausschuss in den letzten sechs, sieben Wochen zäh verhandelt haben und bedauerlicherweise noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Die drei Branchen sind Nebenkriegsschauplätze. Das ist ein Vermittlungsausschuss, und das wissen Sie so gut wie ich. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber dort könnten Sie es bestimmt beschließen?) - Wir werden es beobachten und schauen, was dann kommt. Okay? Sie dürfen sich jetzt setzen, Herr Ernst. - Noch eines, Herr Ernst: Es tut weh, gerade von einem Gewerkschafter immer wieder diese Rufe nach einem Gesetz für Mindestlohn zu hören. Immer wieder diese Bevormundung. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dummes Argument! - Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN) Sie haben offensichtlich zu wenig Respekt vor Ihrer eigenen Courage. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo waren Sie?) - Ich bin jetzt auf Seite 4, aber ich habe noch 14 Seiten. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, wie Sie ihn fordern, ist nicht zielführend. In der Dienstagsausgabe des Handelsblattes - hierauf hat die Kollegin Müller-Gemmeke von den Grünen zutreffend hingewiesen - legt der Wirtschaftsweise Professor Wolfgang Franz dar, warum ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn volkswirtschaftlich betrachtet falsch ist. Er führt aus, dass der Druck auf Löhne und Arbeitsplätze nicht nur entsteht, wenn beispielsweise ein polnischer Arbeiter zu niedrigen Arbeitskosten ein preiswertes Produkt auf deutschem Boden herstellt, sondern auch, wenn dasselbe Produkt in Polen produziert wird und dann nach Deutschland importiert wird. Letzteres gehört zu unserem Alltag. Franz argumentiert, dass die Wohlfahrt der Konsumenten dann am höchsten ist, wenn keine Reglementierungen getroffen werden und im Übrigen uneingeschränkte Mobilität ermöglicht wird. Selbst wenn Franz in der Ablehnung des flächendeckenden Mindestlohnes zuzustimmen ist, so gehört es dennoch zum Grundverständnis unseres Sozialstaats, Benachteiligungen auszugleichen. Es ist notwendig, Ausnahmen zu machen und in einzelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären, wie beispielsweise in der Pflegebranche, im Bauhauptgewerbe oder im Bereich der Gebäudereinigung. Es ist richtig, was der Kollege Schreiner vorhin ausgeführt hat: Wir müssen aufpassen, welche Branchen nach der Öffnung der Grenzen am 1. Mai dieses Jahres verstärkt nach Deutschland kommen werden. Reichen die bisherigen Regelungen aus, beispielsweise im Bauhauptgewerbe, in der Pflegebranche, wo wir bereits branchenspezifische Mindestlöhne einführen konnten? Müssen wir bei Verwerfungen unter Umständen weitere Branchen einbeziehen? Hier sind wir gesprächsoffen. Wir respektieren - anders als die Lin-ken - die gewerkschaftliche Tarifautonomie und das Selbstbestimmungsrecht der Gewerkschaften. Sie sind für die Lohnfindung zuständig, nicht der Bundestag, nicht die Politiker. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter können das allemal besser. Herr Ernst, ich erwarte, dass Sie Ihrer Verantwortung als Gewerkschafter auch in Zukunft gerecht werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Würden Sie die Zwischenfrage von Frau Krellmann zulassen? Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ja, ich warte darauf, dass Sie mich fragen. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Vielen Dank. - Ich frage Sie als Gewerkschafterin. Mir ist die Beschlusslage bekannt. Was glauben Sie eigentlich, warum der DGB beschlossen hat, dass es einen Mindestlohn von 8,50 Euro geben soll? Das geschieht doch nur deswegen, weil Gewerkschaften hinter einer Mindestlohnforderung stehen. Das ist nicht nur Thema der Grünen, der SPD und der Linken, das ist mittlerweile ein Thema aller Gewerkschaften. Haben Sie das registriert? Paul Lehrieder (CDU/CSU): Frau Krellmann, die Gewerkschaften hinken sogar den Mindestlohnforderungen der Linkspartei hinterher. Sie sind schon bei 10 Euro; damit haben Sie die Gewerkschaften um 1,50 Euro überholt. (Zurufe von den LINKEN) - Das stimmt doch, oder? Stimmt es nicht? 10 Euro ist Ihr aktueller Tarif; Herr Ernst bestätigt es. Die Linke ist bei 10 Euro, die Gewerkschaften sind bei 8,50 Euro, die SPD ist auch bei 8,50 Euro. Daran sehen Sie, dass die Tariffindung in politischer Hand nur suboptimal ist. Besser ist es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Aufgabe übernehmen. Frau Krellmann, auch von Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen, dass außer dem dbb bisher keine Gewerkschaft die Lohnfindungskommission angerufen hat und über diese Kommission in den letzten zwei Jahren etwaige Verwerfungen hat feststellen lassen. Herr Kollege Weiß hat darauf bereits völlig zutreffend hingewiesen. An dieser Stelle könnten Gewerkschaften, wenn sie tatsächlich der Auffassung sind, dass in manchen Branchen Verwerfungen vorhanden sind, etwas für die betroffenen Arbeitnehmer ins Feld führen. Das haben sie aber nicht gemacht. Man muss das Mitwirken der Gewerkschaften abwarten; denn sie sind nach meinem Verständnis von Vertragsfreiheit und Tarifautonomie allemal besser berufen, solche Konditionen - seien es Arbeitszeiten, Löhne, oder Urlaubsansprüche - auszuhandeln als wir Politiker. Hier müssen wir bescheiden sein und nicht so tun, als wüssten wir selber alles besser. Ziel ist es, allen Menschen in unserem Land die Möglichkeit zu geben, durch Arbeit - dabei ist die Qualifikation egal; auch darauf müssen wir aufpassen - genug Geld zu verdienen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen und am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Jedem Menschen in unserem Land wird ein Existenzminimum gewährt, den Geringverdienern, denen, die Arbeit suchen, und denen, die keiner Arbeit mehr nachgehen können. Was soll ein Mindestlohn von 7,50 Euro oder 8,50 Euro bringen? Zunächst einmal hat Deutschland schon jetzt eine Grundsicherung für Hartz-IV-Empfänger durch einen impliziten Mindestlohn. Betrachtet man beispielsweise die Hartz-IV-Sätze für eine vierköpfige Familie - es wurde schon darauf hingewiesen, aber man kann es gar nicht oft genug sagen -, so käme man auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Lehrieder, ich hätte noch eine Zwischenfrage der Kollegin Alpers anzubieten. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr gern, es ist noch früh am Tag. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Agnes Alpers (DIE LINKE): Lieber Herr Kollege Lehrieder, ich muss doch noch einmal nachfassen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Das dürfen Sie. Agnes Alpers (DIE LINKE): Sie sprachen von der Tarifautonomie, auf der die Gewerkschaften bestehen würden. Erstens habe ich folgende Nachfrage: Sie sagten, es sei nur der DGB, der einen gesetzlichen Mindestlohn fordere. Der DGB ist - vielleicht ist das noch nicht zu Ihrer Kenntnis gekommen - der Dachverband aller Einzelgewerkschaften. Deshalb hätte ich gerne, dass Sie mir das Wort "nur" erklären. Zweitens sprachen wir nicht über die Höhe des Mindestlohns, sondern wir haben uns prinzipiell für dessen Einführung ausgesprochen. Ich möchte wissen: Ist Ihnen bekannt, dass auch die meisten Einzelgewerkschaften dies fordern, nicht nur der DGB? Der Gewerkschaftsbund sagt ebenso wie wir, dass wir zur Mindestabsicherung einen Mindestlohn brauchen. Die Tarifautonomie wird dadurch nicht beeinträchtigt. Vielmehr können die einzelnen Branchen die jeweiligen Tarife aushandeln. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin, vielleicht habe ich mich etwas missverständlich ausgedrückt, vielleicht haben Sie auch die Buchstaben nicht verstanden, die ich gesagt habe. Nur der dbb, der Deutsche Beamtenbund, hat den Antrag auf Feststellung von Verwerfung gestellt. Dass natürlich eine Vielzahl von Gewerkschaften, darunter auch Verdi, Mindestlöhne fordert, ist mir nicht unbekannt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Ihre Forderung nach einem Mindestlohn von 10 Euro ist nicht gänzlich neu. Sie brauchen sich nicht zu verstecken und brauchen sich auch nicht dafür zu schämen. Diese Forderung ist bekannt. Wenn Sie sagen, Sie forderten nur einen Mindestlohn und ließen die Höhe offen - vielleicht tun Sie das in einem Antrag in einem Vierteljahr -, dann entgegne ich Ihnen: In Ihren Papieren steht ein Mindestlohn von 10 Euro. Punkt, aus. Sie brauchen sich deswegen nicht zu verstecken. (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht fordere! Das ist schon klar! - Gegenruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ich verstehe kein Wort hier hinten!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Zwischenfrage war gestellt. Sie ist jetzt beantwortet. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich möchte noch etwas zum dritten Teil der Frage sagen. Wie lautete der dritte Teil der Frage, Frau Kollegin? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich glaube, dass uns das jetzt nicht viel weiter führt. Möchten Sie den dritten Teil der Frage wiederholen? - Dann dürfen Sie das jetzt tun. Agnes Alpers (DIE LINKE): Sind wir uns einig, dass alle Gewerkschaften einschließlich des Dachverbandes einen gesetzlichen Mindestlohn fordern? Der Unterschied liegt nur in der Höhe. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Danke. Ich weiß Bescheid. - Sie sagen, wenn man 8,50 Euro als Basis nimmt, so ist es einem unbenommen, darüber hinaus noch einen höheren Lohn auszuhandeln. Dabei besteht aber das Risiko, dass die Löhne in den bis jetzt bestehenden Tarifverträgen, die etwas höher liegen, mit der Begründung gesenkt werden, man brauche nicht mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Es ist nicht automatisch so, dass der Mindestlohn eine Verbesserung ist, sondern er kann auch zu einer Verschlechterung der Bezahlung führen. Das ist also, mit Verlaub, Frau Kollegin, kein Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich hatte darauf hingewiesen, dass eine vierköpfige Hartz-IV-Familie auf einen Stundenlohn von 11,80 Euro käme. Das ist immer noch deutlich höher als der höchste europäische flächendeckende Mindestlohn, der in Lu-xemburg bei 10,16 Euro - ich wiederhole es gerne - liegt. Das ist auch höher als der von der SPD und den Grünen geforderte Betrag von 8,50 Euro bzw. 7,50 Euro. Das Argument, die sogenannten Aufstocker, also die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zusätzlich Hartz IV erhalten, gäbe es bei einem Mindestlohn nicht, ist ebenfalls falsch und wird durch Wiederholung auch nicht wahrer. Von den Aufstockern arbeiten rund 75 Pro-zent in Teilzeitarbeit. Ich glaube, es war der Kollege Vogel oder Pascal Kober, der darauf hingewiesen hat. Jeder weiß, dass man von Teilzeitarbeit alleine nicht leben kann. Das restliche Viertel hat im Prinzip auskömmliche Löhne. Wenn die Löhne nicht reichen, so liegt das meist daran, dass nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch seine Familie zu ernähren ist. Auch das ist ausgeführt worden. Hartz IV als ergänzende Sozialleistung unterliegt dem Sozialprinzip. Das heißt, es wird nicht nach der Arbeitsleistung des Erwerbstätigen gefördert, sondern der Bedarf der Familie wird gedeckt. Wenn es nicht reicht, so liegt dies meist daran, dass eine Familie zu ernähren ist, und nicht an der Höhe der Stundenlöhne. Nur circa 35 000 Personen - Sie, Herr Ernst, haben die Zahl in Zweifel gezogen - haben bei Vollzeit einen so geringen Lohn, dass sie ausschließlich davon nicht leben können. In Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind die Löhne für einfache Arbeit oft so weit angehoben worden, bis diese für viele Unternehmen schlicht zu teuer wurden. Oft bleiben dann die niedrigsten Tarifgruppen unbesetzt. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren in diesen Branchen Arbeitsplätze zum Teil gestrichen oder ins Ausland verlagert, von der Schaffung neuer Stellen ganz zu schweigen. Das von meinen Vorrednern ebenfalls bereits benannte Alternativangebot der Schwarzarbeit will ich gar nicht noch einmal bemühen. Ich gehe davon aus, dass sich jeder in Deutschland rechts-treu verhält. Dasselbe würde für einen gesetzlichen Mindestlohn auf hohem Niveau gelten: Er würde zwar ausländische Billigarbeitskräfte fernhalten, aber bei uns auch Beschäftigungschancen für Niedrigqualifzierte verringern. Den Rest meines Manuskripts will ich Ihnen ersparen. Ich darf aber die Gelegenheit nutzen, Frau Kollegin Pothmer, Herr Kollege Wadephul, auch von dieser Stelle aus zu Ihrem heutigen Geburtstag zu gratulieren. Ich wünsche ihnen weiterhin eine freudige Debatte und einen schönen Tag. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freudig?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Lösekrug-Möller das Wort. (Beifall bei der SPD) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir haben gleich einen Film in Überlänge hinter uns. Zurzeit läuft hier die Berlinale. Mein Eindruck ist, dass Teile des Hauses einen Film aufgeführt haben, der leider nicht nominiert wurde. Das finde ich sehr bedauerlich, aber ich verstehe es. Vielleicht hätten Sie diese Brillen gebraucht, die es möglich machen, 3D zu sehen. Das ist ja der Renner auf der Berlinale. (Beifall bei der SPD) Welcher Effekt ist das? Man sieht auf einmal räumlich und plastisch, was ist. Ich denke, diese Hilfe wäre nötig gewesen. Wir reden heute über zwei Gesetzentwürfe, von denen - dessen bin ich mir sicher - die meisten Menschen, die uns, wo auch immer, zuhören oder zuschauen, sagen: Dafür ist es allerhöchste Zeit. Auch will ich sagen: Wir haben auch Prominente auf unserer Seite. Mindestlöhne - sagt da jemand - sind weder ein Allheilmittel noch eine Katastrophe, sondern einfach ein Instrument. Ich bin - sagt diese Person - im Grundsatz der Überzeugung: Eine Person, die Vollzeit arbeitet, muss in der Lage sein, den Lebensunterhalt für sich selbst zu bestreiten. (Beifall bei der SPD) Jetzt klatschen doch bitte auf alle Fälle die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. Denn es war Ihre Ministerin von der Leyen, die dies am 21. Februar 2010, also vor einem Jahr, in einem Gespräch im Tagesspiegel genau so formuliert hat. Recht hat die Ministerin. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Weil sie nicht da ist, sage ich: Schöne Grüße. Was vor einem Jahr richtig war, ist auch heute noch zielführend. Worüber diskutieren wir hier? Wir diskutieren darüber, wie wir dieses erstrebenswerte Ziel erreichen können. Wir haben heute viele Redebeiträge gehört, die eigentlich eines bewiesen haben: Mit den kleinen Instrumenten, die wir derzeit haben, kommen wir der Lösung nicht näher. Es reicht nicht. Wir haben es erlebt, Branche für Branche. Ich nehme eine kleine Branche, nämlich die der beruflichen Weiterbildung, heraus. An ihr wird deutlich, warum das scheitert: weil im Prinzip gar nicht gewollt ist, dass es funktioniert. Ich finde, das muss man dann auch so sagen. Es ist offenkundig nicht gewollt. (Beifall bei der SPD - Max Straubinger [CDU/ CSU]: Das stimmt doch gar nicht Frau Lösekrug-Möller!) Ich halte mich aus dem Streit über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses heraus. Mir geht es so wie vielen hier im Plenarsaal. Wir sind nicht dabei gewesen; wir sind informiert worden. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sind offensichtlich falsch informiert worden! - Pascal Kober [FDP]: Von Herrn Heil?) Jede Seite sagt, sie habe gute Gründe für ihre Position gehabt. Das respektiere ich, Herr Kober. Aber was ist jetzt das Ergebnis? (Max Straubinger [CDU/CSU]: Dass die SPD wegen 6 Euro nicht zustimmen kann!) Ergebnis ist, dass Sie heute darum bitten, wir sollten Ja sagen zu einem Kompromiss, von dem die SPD sagt, er führe überhaupt nicht in die richtige Richtung. Wir wollen Bildungspakete und Infrastruktur und keine kleinen Päckchen, die in die Familien getragen werden. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir aufgebessert!) Wir wollen - Herr Kollege Weiß, das sind wir allen Arbeitnehmern schuldig - in Sachen Leiharbeit eine Regelung, die die Menschen, die in Leiharbeit sind, nicht veralbert, sondern mit ihren Anliegen wirklich ernst nimmt. (Beifall bei der SPD - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dann hätten Sie doch gestern zugestimmt! Stimmen Sie morgen zu!) Wenn man das, was auf dem Tisch liegt, betrachtet, dann stellt man fest, dass wir davon Lichtjahre entfernt sind. Deshalb sage ich: Es muss Schluss sein mit dem Anscheinerwecken von Emsigkeit. Die Menschen haben es nicht verdient, dass man so tut, als würde man ihnen helfen, und sie vertröstet und sozusagen mit kleinen Schritten in eine vermeintlich bessere Zukunft führt. Uns ist es doch hier im Haus gelungen, die finanziell und wirtschaftlich schwierige Krise durch einen starken Impuls so zu gestalten, dass Unternehmen gut aus der Krise herauskamen. Jetzt wird es Zeit, dass wir auch den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen helfen, und helfen können wir ihnen mit einem gesetzlichen Mindestlohn. Das muss die rote Linie sein, die in Deutschland nicht überschritten werden darf. (Beifall bei der SPD) Wir haben heute mehr als zehn Argumente für die Einführung des Mindestlohns gehört. Sie zieren sich wegen der unterschiedlichen Höhe von Mindestlöhnen - bei den Grünen ist sie etwas höher als bei uns, den Sozialdemokraten - und behaupten: Das kann man einer Kommission nicht zumuten. Ich habe genau zugehört und stelle fest: Das ist Ihr einziges Kriterium, warum Ihrer Meinung nach die Gesetzentwürfe nicht in Ordnung sind. Dann erwarte ich aber von Ihnen, dass Sie einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Einrichtung einer Kommission vorsieht, aber nicht vorgibt, wo sie anfängt. Einen solchen Gesetzentwurf kenne ich aber nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wenn wir auf die Deutschlandkarte blicken, dann stellen wir fest: Deutschland ist ein Niedriglohnland. Wir können sagen: Was wir an bestehenden Möglichkeiten haben, funktioniert so nicht. Schauen wir auf Baden-Württemberg, dann stellen wir fest: Die können zwar kein Hochdeutsch, aber dafür können sie Niedriglohn. Dort stockt jede dritte Alleinerziehende auf. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das erzählen Sie einmal Thüringen! - Pascal Kober [FDP]: 14 Prozent weniger Arbeitslosigkeit als im Bundesdurchschnitt!) - Ja, aber hören Sie mir doch erst einmal zu. Sie können die Zahlen aus Baden-Württemberg doch nicht sozusagen durch Einrede eliminieren. In Sachsen, Herr Weiß, ist jeder Vierte Geringverdiener. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Die haben Arbeitslosenzahlen fast so niedrig wie in Bayern!) In NRW - damit Sie mir keine parteipolitische Einseitigkeit vorwerfen - sind 23 Prozent der Aufstocker Vollzeit beschäftigt. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und haben Familie!) Das muss man sich vor Augen führen: Jeder Vierte rackert sich ab und schuftet, und am Ende des Monats muss er trotzdem Transferleistungen in Anspruch nehmen. Das finden wir nicht in Ordnung. Das hat mit der Würde von Arbeit nichts zu tun. (Beifall bei der SPD) Ich bin meinem Kollegen Ottmar Schreiner sehr dankbar; denn er hat auf den Punkt gebracht, worum es den Sozialdemokraten geht. Es geht darum, dass wir die Würde ernst nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich will allen Christen sagen: Das ist ein biblisches Maß. Lesen Sie bei Matthäus nach, ich glaube, es steht in Kapitel 20, 1-16: Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Das kann eine gute Hilfestellung sein, wenn man nicht mehr weiter weiß, wie man sich politisch orientieren soll. Ich finde, Sie könnten Größe zeigen und sagen: Es liegen zwei Gesetzentwürfe vor. Vielleicht finden wir sie nicht in jedem Punkt richtig, aber die Richtung stimmt. Paul, ich würde mich deshalb freuen, wenn du dich der Sache annehmen würdest. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Frankfurter Abgeordneter darf man bisweilen an den großen Sozialethiker und Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning erinnern, (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) der zu vielen Themen, die unsere Arbeitsgebiete betreffen, kluge Dinge gesagt hat, zum Beispiel zum Thema Lohnfindung in seinem 1960 erschienenen Buch Kapitalismus und gerechter Lohn. Dort heißt es, dass die menschliche Arbeitskraft keine Ware ist. Es sei historisch die große himmelschreiende Sünde einiger nationalökonomischer Theoretiker, die Lohnbildung allein den Marktgesetzen unterwerfen zu wollen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das einmal der FDP!) Nun haben das die klugen Stammväter des Liberalismus, allen voran Adam Smith, lieber Herr Heil, nie behauptet. Der Lohn, so Smith, müsse hinreichend sein, einem Menschen Unterhalt zu verschaffen und ihn in die Lage zu versetzen, seine Familie zu ernähren. Goldene Zeiten, in denen die Wirtschaftswissenschaft noch Teil der Moralphilosophie war! Unsere heutige Debatte dreht sich nicht um eine Differenz im Ziel, sondern um den richtigen Weg dorthin. Keiner von uns will die Lohnbildung allein dem Markt überlassen. Keiner von uns in der Koalition befürwortet einen Paläoliberalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn wir etwa im Koalitionsvertrag davon sprechen, das Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich festschreiben zu wollen, dann stellen wir gleichsam fest: Es gibt absolute Untergrenzen. - Auf die Sittenwidrigkeit will ich später zurückkommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Heil zulassen? Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen dürfen, und ich bin mir sicher, dass das Informationsbedürfnis des Kollegen Heil auf diese Art und Weise nachhaltig gestillt werden wird. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schauen wir mal!) Über viele Jahre war die Lohnfindung das Geschäft der Tarifpartner, ohne dass das hinterfragt worden ist. Das ist problematisch geworden - aus vielerlei Gründen. Wir haben in den vergangenen Jahren Instrumentarien entwickelt, damit umzugehen: die branchenbezogenen Mindestlöhne, das Entsendegesetz, das Mindestarbeitsbedingungengesetz und vieles mehr. Das war aus unserer Sicht richtig, weil es die Hauptverantwortung bei den Tarifpartnern beließ und erst dann, nämlich subsidiär, staatliches Handeln ins Spiel gebracht wurde. Nun sind auch und gerade im christlich-sozialen Bereich durchaus weiter gehende Forderungen erhoben worden, (Mechthild Rawert [SPD]: Genau!) die von einer gewissen Ungeduld zeugen. So sprechen sich sowohl die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung als auch das Kolpingwerk für gesetzliche Mindestlöhne aus. (Mechthild Rawert [SPD]: Recht haben sie! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!) Auch das gehört zum Gesamtbild der Lage, die wir heute diskutieren. Ich glaube aber nicht, dass es nur einen Weg gibt, zu einem gerechten Lohn zu kommen; mehr noch: Ich halte vieles von dem, was in den vorliegenden Gesetzentwürfen formuliert wird und auch von KAB und Kolpingwerk vorgeschlagen wird, auch und gerade aus christlich-sozialer Sicht für falsch. Wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn nachdenkt - ich will dieses Hohe Haus durchaus einmal als Ort des Nachdenkens und nicht nur des konfrontativen Debattierens nutzen -, dann darf man das Prinzip der Subsidiarität nicht aus dem Blick verlieren. Es müsste am Anfang aller Überlegungen zum gesetzlichen Mindestlohn stehen. Deswegen müsste aus christlich-sozialer Sicht ein gesetzlicher Mindestlohn die Möglichkeit einer tariflichen Öffnungsklausel enthalten. Tarifautonomie geht vor Gesetz, aber die Tarifautonomie dürfte nicht alles; denn eine gesetzliche Mindestlohngrenze erst gäbe der Möglichkeit Gestalt, eine einheitliche Höhe für die Sittenwidrigkeit der Löhne festzusetzen. Anderenfalls bliebe die Feststellung der Sittenwidrigkeit reines Richterrecht, abhängig von der Region, der Branche und vielem anderen. Umgekehrt: Wer eine solche Sittenwidrigkeit eindeutig festlegen wollte, bräuchte eine Bezugsgröße, und die lieferte nur ein Mindestlohn; er wäre eine normative Bezugsgröße für die Sittenwidrigkeit von Löhnen. Ich bin immer wieder überrascht von der Beliebigkeit, mit der über die Höhe eines Mindestlohns diskutiert wird. Ein wenig ins Blaue hinein wird da geschätzt und gewünscht - genauso wie bei den Hartz-IV-Regelsätzen. (Katja Kipping [DIE LINKE]: War das jetzt Selbstkritik?) Für mich könnte es aus christlich-sozialer Perspektive nur eine Erwägung geben, die die Höhe eines Mindestlohns definiert, und die wäre: Wer sein ganzes Berufsleben lang rechnerisch nur den Mindestlohn bekommen hat, muss am Ende eine Rentenanwartschaft verdient haben, die über der Grundsicherung liegt. Ein solches Abstandsgebot ist durch den Wert der Arbeit selbst geboten. Erst aus diesem Abstandsgebot und aus seiner Berechnung heraus ließe sich über die Höhe eines Mindestlohns reden. Mit anderen Worten: Die Höhe eines Mindestlohns müsste sich nach der Möglichkeit berechnen, eine Rentenanwartschaft über der Grundsicherung zu erwerben. Nach allem, was wir bisher wissen: Mit 7,50 Euro ist das nicht zu machen. Wenn ich aus christlich-sozialer Sicht über das Thema Mindestlohn nachdenke, würde ich auch keineswegs zu dem Vorschlag kommen, eine Kommission zur Festlegung des Mindestlohns einzurichten, wie es etwa im Entwurf der Grünen formuliert ist. Wie schwierig solche Diskussionen manchmal sein können, zeigt die Debatte um die Höhe der Regelsätze. Vor Wahlen wird dann regelmäßig eine Diskussion zu haben sein über die Höhe des Mindestlohns, darüber, nach welchen Kriterien er festgelegt wird, und das hielte ich für problematisch. Auch eine formal unabhängige Kommission könnte sich lautstark vorgetragenen politischen Begehrlichkeiten kaum verschließen. Eleganter fände ich dann doch den Weg, einen Mindestlohn an die Rentenentwicklung zu koppeln. Damit wäre zum einen das Abstandsgebot gewahrt, zum anderen wäre implizit auch die Mahnung der katholischen Soziallehre berücksichtigt, dass die gerechte Entlohnung natürlich immer mehrere Bestimmungsgründe hat. Es ist richtig: In der Politik entscheidet nicht das Wünschbare, sondern das politisch Mögliche. Aber ein wenig mehr Fantasie darf man auch entwickeln. Die Leitplanken, innerhalb derer sich die Fantasie entwickelt, sind durch die Begriffe "Subsidiarität", "Tarifautonomie" und "gerechter Lohn" vorgegeben. Die Gesetzentwürfe von SPD und Grünen scheinen mir eher davon geprägt zu sein, dass Subsidiarität und Tarifautonomie kaum eine Rolle spielen. Ordnungspolitisch halte ich das für falsch. Aber darüber zu streiten, wie wir einen gerechten Lohn verwirklichen, scheint mir richtig zu sein, weil wir uns im Ziel, die Arbeit nicht als Ware zu begreifen und die Lohnbildung nicht allein den Märkten zu überlassen, durchaus einig sind. Dass wir damit alle dazu beitragen, im Sinne von Oswald von Nell-Breuning die kapitalistische Wirtschaftsweise normativ zu veredeln, ist für mich ein versöhnliches Ende einer manchmal durch schrille Töne und tagespolitische Zuspitzungen getragenen Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heil das Wort. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Sehr geehrter Herr Dr. Zimmer, ich schätze Sie als reflektierenden, nachdenklichen Menschen. Allerdings - das muss ich Ihnen bei der ganzen Geschichte sagen -, die Menschen werden von warmen Worten nicht satt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deshalb möchte ich Ihnen einmal etwas zum Thema Subsidiarität und Lohnfindung erzählen. Wir sind für Tariflöhne. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, sind wir für den Vorrang branchenspezifischer Tariflöhne, der aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes festgeschrieben werden kann - und nichts anderes. Wir wissen aber auch, dass es inzwischen Branchen gibt, wo das so nicht mehr funktioniert, wo also ein gesetzlicher Mindestlohn notwendig ist. Jetzt will ich Ihnen eines sagen: Ich kann es nicht mehr ertragen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jedes Mal, wenn wir über das Thema sprechen, Sie, so sonor Sie es auch hier vortragen, als netten Menschen am Schluss reden lässt, (Pascal Kober [FDP]: Intelligenten Menschen!) Sie etwas herumphilosophieren, aber am Ende nichts herauskommt. Placebo-Mindestlöhne nützen den Menschen nichts. Herr Dr. Zimmer, was die Festlegung im Koalitionsvertrag, sittenwidrige Löhne gesetzlich als unterste Kante festzuschreiben, bedeutet, will ich Ihnen praktisch belegen. Ehe Löhne sittenwidrig werden, kann man heutzutage nach Richterrecht bis zu einem Drittel vom niedrigsten Tarif nach unten abweichen. Bezogen auf das Friseurhandwerk in Sachsen hieße das beispielsweise, dass erst bei 2,04 Euro Stundenlohn der Lohn sittenwidrig würde. Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass 2,04 Euro die unterste Kante sein soll? Anhand dieser Frage erkennen Sie, dass Sie nicht um einen gesetzlichen Mindestlohn herumkommen. Auch eine zweite Frage kann ich Ihnen als jemandem mit einem sozialen Herz, der sich hier auf Oswald von Nell-Breuning und die katholische Soziallehre, die mir auch als evangelischem Christen sehr sympathisch ist, bezieht, leider nicht ersparen: Ab welchem Zeitpunkt soll nach Ihrer Überzeugung, also Ihrer persönlichen, auch wenn sie im Gegensatz zu der Ihrer Kolleginnen und Kollegen steht, im Bereich der Zeit- und Leiharbeit der Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" unabweichbar gelten? Die FDP spricht von neun Monaten und hat die CDU/CSU in Geiselhaft genommen. Was ist Ihre Auffassung als Sozialexperte, ab welchem Zeitpunkt der Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gelten soll, Herr Zimmer? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Dr. Zimmer zur Erwiderung, bitte. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Danke schön, Herr Kollege Heil. Ich bin für die Frage sehr dankbar, obwohl sie in den argumentativen Zusammenhang der Punkte, die wir bei Mindestlöhnen diskutieren, nicht so recht hereinzupassen scheint; aber sei es drum. Ich glaube, ich würde mich zunächst einmal mit Ihnen und mit anderen, die damals in der rot-grünen Koalition die Möglichkeit geschaffen haben, von Equal Pay abzuweichen, zusammensetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Ihnen zusammen!) Ich würde dann Sie, lieber Herr Heil - da bitte ich als neuer Kollege um Verständnis; Sie sind ja schon sehr viel länger dabei -, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin viel älter als Sie!) doch einmal fragen: Gab es denn damals eigentlich gute Gründe, dies zu tun und ohne Fristen zuzulassen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) und sind diese guten Gründe noch valide? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht mehr!) Erst dann, wenn wir darüber gesprochen haben, würde ich eine zweite Frage anschließen, nämlich, was wir daran ändern müssen. Deswegen sehe ich mich heute außerstande, mich auf eine entsprechende Frist festzulegen, weil ich Ihre Argumente zu dieser Frage überhaupt nicht kenne. (Zurufe von der SPD) Der nächste Punkt: Wir sind hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Ich glaube schon, dass Argumente hier eine gewisse Rolle spielen, getreu dem Hegel'schen Motto: Ist das Reich der Ideen erst revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht stand. - Insofern habe ich, auch was meine Position zu Mindestlöhnen angeht, durchaus die Hoffnung, dass sich der zwanglose Zwang des besseren Arguments langfristig durchsetzen möge. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Katja Mast [SPD]: Neun Monate! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zu Deutsch: Nichts Genaues weiß man nicht!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/4665 und 17/4435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 f sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 f auf: 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 17/4144 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des BVL-Gesetzes - Drucksache 17/4381 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Digitalisierung vergriffener und verwaister Werke - Drucksache 17/4661 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen - Drucksache 17/4615 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheit hat Vorrang - Atomkraftwerk Grafenrheinfeld sofort abschalten - Drucksache 17/4688 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Rheintalbahn - Modellprojekt für anwohnerfreundlichen Schienenausbau - Drucksache 17/4689 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der "Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern" der Generalversammlung der Vereinten Nationen - Drucksache 17/4663 - Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot privater militärischer Dienstleistungen aus Deutschland - Drucksache 17/4673 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Brennelemente-Zwischenlager am Forschungszentrum Jülich ertüchtigen - Drucksache 17/4690 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen - Drucksache 17/4670 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg "Schienenbonus" abschaffen - Drucksache 17/4652 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren - Drucksache 17/4671 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a bis l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifikations-Gesetzes - Drucksache 17/3800 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) - Drucksache 17/4660 - Berichterstattung: Abgeordnete Kirsten Lühmann Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4660, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3800 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestätigenden Regelung verschiedener steuerlicher und verkehrsrechtlicher Vorschriften des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 - Drucksachen 17/3632, 17/3984 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/4597 - Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Lothar Binding (Heidelberg) Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4597, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3632 und 17/3984 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 28 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksachen 17/3960, 17/4146 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/4596 - Berichterstattung: Abgeorndete Patricia Lips Nicolette Kressl Dr. Birgit Reinemund Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4596, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3960 und 17/4146 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen der SPD und der Linken. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 28 d: Beratung der dritten Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009 - Drucksache 17/4600 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Michael Grosse-Brömer Bernhard Kaster Michael Hartmann (Wackernheim) Christian Lange (Backnang) Stephan Thomae Dr. Dagmar Enkelmann Josef Philip Winkler Hier liegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung nach § 31 GO der Kollegin Kathrin Vogler vor. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses möchte ich folgende Erklärung abgeben: Ich werde der vorliegenden Beschlussempfehlung nicht zustimmen, obwohl meine Fraktion, wie auch die anderen Fraktionen des Hauses, sie im Grundsatz mitträgt. Das finde ich erklärungsbedürftig. Die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses enthält in Anlage 47 den Einspruch eines Wählers aus meinem Wahlkreis 129, Steinfurt III, gegen das Ergebnis der Bundestagswahl in diesem Wahlkreis. Der Wähler führt dort unter anderem an, dass der Stimmzettel für die Wahl nicht korrekt gewesen sei, weil der Kandidat der CDU, Dieter Jasper, dort mit einem Doktortitel aufgeführt war, den er legal nicht hätte führen dürfen, weil dieser bei einer sogenannten Titelmühle in der Schweiz gekauft und nicht durch wissenschaftliche Tätigkeit erworben wurde. (Elke Ferner [SPD]: Was machen die denn da?) Der Wahlprüfungsausschuss stellt wohl richtig fest, dass der Einspruch dieses Bürgers wegen Fristablaufs nicht mehr zulässig sei. Die Frist zum Einspruch gegen das Wahlergebnis der Bundestagswahl beträgt zwei Monate nach Feststellung des amtlichen Endergebnisses. Im beschriebenen Fall war es aber so, dass der Tatbestand der Öffentlichkeit bis nach Ablauf der Frist gezielt verheimlicht wurde. Erst im Februar 2010 brachten Medienrecherchen den Skandal ans Licht. Zu diesem Zeitpunkt hätte nur noch der Präsident des Deutschen Bundestags die Wahl anfechten können. Ich habe damals den Präsidenten des Hauses angeschrieben und ihn gebeten, die Wahl im Wahlkreis 129 anzufechten und Neuwahlen zu veranlassen. Von vielen Wählerinnen und Wählern habe ich damals nämlich gehört, dass sie Herrn Jasper nicht gewählt hätten, wenn sie vorher von seinem Titelbetrug gewusst hätten. Da sein Vorsprung gegenüber dem Mitbewerber von der SPD, Dr. Reinhold Hemker, nicht einmal 2 Prozent der Stimmen betrug, wäre das Direktmandat möglicherweise nicht an Herrn Jasper gegangen, wäre den Wählerinnen und Wählern der Titelkauf vorher bekannt gewesen. Obwohl der Fristablauf eindeutig und nicht von der Hand zu weisen ist, habe ich den Eindruck, dass in diesem Fall der Ablauf der Einspruchsfrist bewusst oder zumindest fahrlässig herbeigeführt wurde. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Nach seinen eigenen Aussagen, zitiert in den Westfälischen Nachrichten, hat Dieter Jasper schon im Oktober 2009 gegenüber dem Bundestagspräsidium offengelegt, dass er den Titel nicht legal hätte führen dürfen. Ich gehe davon aus, dass auch die Führung der Unionsfraktion informiert gewesen sein muss. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Unglaublich, diese CDU! Unglaublich!) Wenn die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt über den Titelbetrug informiert worden wäre, hätte eine Beschwerde fristgerecht eingereicht werden können. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: In Landau gab es einen ähnlichen Fall!) Dass Bundestagspräsident Dr. Lammert diese Mauschelei seines Parteifreunds gedeckt hat, hat mich politisch und menschlich schwer enttäuscht. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Skandal!) Zumindest aber hätte der betroffene Kollege den Anstand besitzen können, sein auf Lug und Trug basierendes Mandat freiwillig zurückzugeben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD) Insgesamt stellt sich für mich die Frage, ob die absolute Frist für Wahleinsprüche, die der Rechtssicherheit dienen soll, letzten Endes nicht ein Klima der Vertuschung begünstigt, das für die Demokratie womöglich schädlicher ist als ein geringes Restrisiko an Rechtsunsicherheit. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind in der Politik unverzichtbar; sie sind in diesem Fall mit Füßen getreten worden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vermutlich könnte nur das Bundesverfassungsgericht diese Frage endgültig klären, es sei denn, wir als Gesetzgeber nehmen den Fall zum Anlass, das Bundeswahlgesetz zu ändern; dafür würde ich mich stark machen. Meine Unterstützung gilt in diesem Fall dem Einspruchsführer. Auch deswegen stimme ich gegen diese Beschlussempfehlung. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ihre Fraktion sieht das aber anders!) Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - (Zuruf von der CDU/CSU, an die LINKE gewandt: Ah! Erst klatschen, dann zustimmen! Das ist ja glaubwürdig!) Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei einigen Gegenstimmen aus der Fraktion Die Linke, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Mitglieder aller Fraktionen angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 28 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 210 zu Petitionen - Drucksache 17/4534 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 211 zu Petitionen - Drucksache 17/4535 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 211 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 212 zu Petitionen - Drucksache 17/4536 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 212 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 28 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 213 zu Petitionen - Drucksache 17/4537 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 213 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 214 zu Petitionen - Drucksache 17/4538 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 214 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 28 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 215 zu Petitionen - Drucksache 17/4539 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 215 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 28 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 216 zu Petitionen - Drucksache 17/4540 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 216 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktionen SPD und Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 28 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 217 zu Petitionen - Drucksache 17/4541 - Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 217 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Merkel, Dr. von der Leyen, Dr. Schröder - Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Caren Marks (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! "Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen. Sie bekommen nichts", so Simone de Beauvoir. So wird es kommen mit dieser schwarz-gelben Bundesregierung; denn diese Regierung unternimmt nichts, um die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. So sind Frauen in Führungspositionen immer noch mit der Lupe zu suchen. Aber anstatt entschlossen als Bundesregierung zu handeln, streiten sich erst einmal die Frauen- und die Arbeitsministerin in aller Öffentlichkeit. Während die zuständige Frauenministerin Schröder stur auf Freiwilligkeit der Unternehmen setzt, hat Frau von der Leyen ganz plötzlich die Notwendigkeit einer gesetzlichen Quote erkannt. (Elke Ferner [SPD]: Die ist noch nicht einmal zuständig!) Wirtschaftsminister Brüderle mischt sich auch noch in den Streit ein und springt Frau Schröder zur Seite. Er hat nicht begriffen, dass die Wirtschaft von mehr Frauen an der Spitze profitieren würde. Schade eigentlich, dass die Streithähne bei der Debatte heute nicht anwesend sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann kam das Machtwort der Kanzlerin: Mit ihr werde es keine Quote geben. Frau Merkel lässt die Frauen zum wiederholten Male im Stich. Dabei zeigen aktuelle Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der Frauen die Einführung einer Quote für richtig und notwendig hält. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Weil sie schlau sind!) Hier bleibt nur ein Schluss: Machterhalt durch verordneten Koalitionsfrieden steht für die Kanzlerin über erforderlichem Regierungshandeln. Das ist eine Klatsche ins Gesicht der Frauen in unserem Land. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, dass Frau von der Leyen wie bei so vielen sozialdemokratischen Forderungen auch in diesem Fall wieder einmal auf die Position der SPD geschwenkt ist. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert schon seit langem eine gesetzliche Frauenquote von mindestens 40 Prozent in Aufsichtsräten und Vorständen großer Unternehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In ihrer Zeit als Familienministerin und Frauenministerin haben wir von Frau von der Leyen eine solche Forderung nicht vernommen. Bereits damals hätte sie sich für eine gesetzliche Quote und somit für die Frauen in diesem Land starkmachen können. (Elke Ferner [SPD]: Hat sie aber abgelehnt!) Doch es geht der Ministerin nicht wirklich um die Frauen. Die Zeit ist günstig. Es geht ihr - wie so oft - vor allem um eine gute PR. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ganz aktuell hätte sie sich als Arbeitsministerin bei den Hartz-IV-Verhandlungen für einen gesetzlichen Mindestlohn starkmachen können, von dem vor allem Frauen profitiert hätten. Hat sie aber nicht, wie wir wissen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Weshalb Frauenministerin Schröder nach wie vor unbeirrt nur auf unverbindliche Selbstverpflichtungen der Unternehmen setzt, ist definitiv nicht nachzuvollziehen. Fakt ist, die vor zehn Jahren von der Bundesregierung mit der Wirtschaft geschlossene Vereinbarung hat keine Erfolge gebracht. Der Frauenanteil in Führungspositionen ist nach wie vor beschämend gering. Doch Frau Schröder zieht aus dieser Erfahrung keine entsprechenden Schlussfolgerungen. Das rigorose Nein der Kanzlerin zur Quote ist nicht nur eine Ohrfeige für Frau von der Leyen, sondern eine Ohrfeige für alle Frauen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auch die Kanzlerin hofft wohl darauf, dass die männerdominierten Chefetagen zukünftig lernfähig werden. Ich denke, diese Hoffnung ist alles andere als berechtigt. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Da bewegt sich nichts!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftliche Debatte über die Notwendigkeit einer Frauenquote wurde von Norwegen angestoßen. Norwegen hat als erstes Land eine Geschlechterquote von 40 Prozent für Aufsichtsräte eingeführt. Dies ist übrigens im Jahr 2003 geschehen. Heute ist eine Quote von 42 Prozent erreicht. Vor der Gesetzesverabschiedung lag die Quote bei 7 Prozent. Diese Erfahrungen in Norwegen machen doch mehr als deutlich: Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gesetzliche Quote; sanktionsbewehrt muss sie zudem sein. Die Quote ist in Norwegen akzeptiert. Sie funktioniert und löst keine Debatten mehr aus. In Spanien ist im Jahr 2007 eine Frauenquote eingeführt worden. Ganz aktuell, im Januar 2011, hat das französische Parlament die Einführung einer Frauenquote für die Wirtschaft beschlossen. Ein Frauenanteil von 40 Prozent in Vorstandsetagen muss binnen sechs Jahren erreicht werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Elke Ferner [SPD]: Es geht doch!) Was erleben wir aber gegenwärtig bei uns? Kabinettsmitglieder streiten sich untereinander. Die Kanzlerin versucht, die Diskussion zu ersticken. Doch es wird ihr nicht gelingen, diese Diskussion in der Gesellschaft zu ersticken. Im Kabinett hat sie das vielleicht für einen Moment geschafft, in der Gesellschaft wird ihr das aber nicht gelingen. Die Forderungen der Frauen werden zu Recht lauter. Die gesetzliche Quote wird kommen müssen, wenn nicht mit dieser Regierung, dann - so sage ich den Frauen im Land - spätestens im Jahr 2013 mit einer anderen Regierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein, ich mag die Quote nicht - eigentlich. Es müsste doch auch ohne gehen - eigentlich. Meine Altersgenossinnen und ich sind hervorragend ausgebildet, und es gibt doch Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Uns stehen doch alle Wege offen. Was sollte uns aufhalten? Eigentlich wissen die Firmen, dass gemischte Teams erfolgreicher sind. Sie wissen, dass sie Frauen auf allen Ebenen brauchen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Genau!) Es müsste doch eigentlich auch auf freiwilliger Basis gehen. - Es sollte, es müsste, eigentlich. Es sollte und müsste sich ohne Druck entwickeln. Das hat man schon 2001 gesagt. Dann wurde verkündet, dass man keine Quote brauche, weil sich von nun an alles gut entwickeln werde. Sogar eine freiwillige Selbstverpflichtung wurde abgeschlossen. So überzeugt war man davon, dass man den Anteil von Frauen in Führungspositionen alsbald erhöhen werde. Klare Ziele hat man nicht definiert. Sehr geehrte Frau Marks, weil Sie sich hier derart echauffieren: (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das macht sie immer!) Die Geschichten von damals, als Sie eine Frauenquote gefordert haben und Bundeskanzler Schröder mit seinen Bossen Sie zurückgepfiffen und die freiwillige Selbstverpflichtung präsentiert hat, sind legendär. (Caren Marks [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen haben wir gelernt!) Deshalb würde ich mich an Ihrer Stelle hier sehr zurückhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Fakt ist leider: Die Bilanz nach zehn Jahren ist ernüchternd. In den Vorständen sind nicht einmal 3 Prozent Frauen; in den Aufsichtsräten sieht es kaum besser aus. Eine gute Ausbildung und eine familienfreundliche Arbeitswelt hielt man auch in Norwegen und Frankreich lange Zeit für ausreichend. Die beiden Länder sind in dieser Hinsicht - das müssen wir zugeben - vorbildlich. (Caren Marks [SPD]: Ja, durch eine gesetzliche Quote!) Doch auch hier musste man erkennen: Das allein reicht nicht. Es gab trotzdem nicht mehr Frauen in Führungspositionen; es gab trotzdem eine gläserne Decke. Deshalb haben sich diese Länder entschlossen, zu strengeren Maßnahmen zu greifen. Damit sind sie, wie in Norwegen zu beobachten ist, sehr erfolgreich. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Dass das "es sollte", "es müsste", "eigentlich" und "es wird schon" nicht funktioniert, diese bittere Erfahrung haben nun schon genug andere vor uns machen müssen. Ausbildung ist wichtig, Coaching ist wichtig, Kinderbetreuung ist wichtig, auch der eigene Aufstiegswille ist wichtig, doch das alles führt nicht in die Chefetage. Das belegen zahlreiche Studien und die genannten Beispiele. Denn der Vorstand wird vom Aufsichtsrat gewählt, und wer für den Aufsichtsrat vorgeschlagen wird, das bestimmt der Aufsichtsrat selbst. Interessante Einblicke, wie das funktioniert, hat uns neulich das manager magazin ermöglicht. Man spielt zusammen Fußball, geht zusammen wandern und Ski fahren. Dabei wird dann überlegt, wer zu einem passt, wen man aufnehmen könnte. Dadurch bleibt man halt unter sich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das ist wahrscheinlich kein böser Wille; aber es ist die Realität. Es ist eine Realität, die 50 Prozent der Bevölkerung außen vor lässt. Solange keine Frauen in diesen Zirkeln vorkommen oder nur vereinzelt dort zu finden sind, so lange wird sich daran nichts ändern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Caren Marks [SPD]: Und die Schlussfolgerung? Wir brauchen eine Quote!) Um diese Strukturen aufzubrechen, braucht man klare Vorgaben. Ist erst einmal eine qualifizierte Größe, eine gewisse Anzahl an Frauen vorhanden, regelt sich der Rest von alleine. (Caren Marks [SPD]: Männer werden das ohne Qualifikation!) Auf dem Weg zu dieser qualifizierten Größe - damit ist nicht die Art der Qualifikation gemeint, sondern eine gewisse Mindestanzahl, liebe Kollegin Marks; dies sage ich nur zur Erläuterung - (Caren Marks [SPD]: Schon klar!) ist nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik gefragt. Wir können nicht weiter vor uns hin dümpeln. Wir brauchen konkrete und verbindliche Schritte mit klaren Zielen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Wir müssen dabei nicht alle über einen Kamm scheren. Eine feste Quote kann durchaus zu Schwierigkeiten führen. (Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah!) Jedes Unternehmen kann sich mit der Flexiquote seinen eigenen Fahrplan zurechtlegen; (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch! - Caren Marks [SPD]: Eine freiwillige Flexiquote! Es fing so gut an!) denn ein Automobilunternehmen - das werden wohl auch Sie wissen - ist von Natur aus eher männlich geprägt (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn?) als zum Beispiel eine Bank, die durchaus viele Juristinnen und BWLerinnen beschäftigt und eine Quote leichter und schneller erfüllen kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Klar ist aber: Wir müssen politisch und, wie ich meine, auch gesetzlich einfordern, dass in großen Konzernen in Gremien mit zum Beispiel zehn Mitgliedern sehr bald mindestens drei Stühle von Frauen besetzt werden. Das ist, denke ich, das Mindeste, das wir verlangen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will keine weiteren zehn Jahre darauf warten. Wir brauchen einen Stufenplan mit konkreten und verbindlichen Schritten, um dieses Ziel zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen in Norwegen und Frankreich haben gezeigt - das konnten wir auch in Deutschland beobachten -: Ohne diese konkreten, verbindlichen Schritte werden wir nicht vorankommen. Die Liste derjenigen, die schon immer gegen eine Quote waren, ist lang. Aber immer länger wird die Liste derjenigen, die feststellen: Es geht einfach nicht ohne. (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In der Titelgeschichte des Spiegel von vor zwei Wochen ist sehr deutlich geworden, dass sich diese Erkenntnis bei vielen durchgesetzt hat: Caren Miosga und Ilse Aigner - sie wurden bereits genannt -, (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren doch nicht nur zwei Leute!) die beiden Redakteurinnen, 73 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer sind mittlerweile für eine Quote für Führungspositionen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Caren Marks [SPD]: Ja! Und wo bleibt das Handeln?) Auch ich gehöre zu diesen 73 Prozent der Frauen. Ich habe mich dazu durchgerungen, eine Quote zu wollen; denn ich will nicht, dass meine Altersgenossinnen und ich die nächste Generation sind, die an der gläsernen Decke kleben bleibt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn die Frauenministerin heute? - Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Frauenministerin? Die Arbeitsministerin? Die Bundeskanzlerin?) Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war eine gute Argumentation, die deutlich gemacht hat, warum die CDU-Vorsitzende unrecht hat, (Caren Marks [SPD]: Ja! Allerdings!) wenn sie sagt, man brauche keine Quote, wie wir soeben von Frau Schön gehört haben. Es ist bedauerlich, dass es kein einziges der Regierungsmitglieder, die sich immer wieder zu diesem Thema geäußert haben, für notwendig hält, mit uns, dem Parlament, darüber zu diskutieren. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gab einmal eine Zeit, in der für die Mehrheit unvorstellbar war, dass Frauen wählen. Heute ist das Frauenwahlrecht Realität. Aber es lohnt, die Argumente, die damals ins Feld geführt wurden, um das Frauenwahlrecht aufzuhalten, zu studieren. Die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir gab in ihrem Klassiker Das andere Geschlecht einen sehr amüsanten Überblick über die Argumente, die damals galten. Es hieß, die Frau würde ihren Charme verlieren, wenn sie wähle. Sie beherrsche den Mann doch auch ohne Stimmzettel. Oder - ganz schlimm -: Politische Diskussionen würden zur Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten führen. Eine andere Aussage lautete: Die Hände von Frauen sind nicht bestimmt zum Falten von Stimmzetteln. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Marco Buschmann [FDP]: Zur Sache!) Heute rufen solche Argumente bei uns natürlich nur amüsiertes Lachen hervor. Überzeugen können die Argumente niemanden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass in naher Zukunft all die Argumente, die heute noch gegen eine Quote in Aufsichtsräten angeführt werden, dasselbe Schicksal erfahren: dass wir nur noch amüsiert über sie lachen und sagen, dass sie eher etwas fürs Museum sind, unter der Überschrift "Es war einmal ..." (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) All den Gegnerinnen und Gegnern der Frauenquote sei gesagt: Sie können den Fortschritt vielleicht verzögern; aber Sie können ihn nicht aufhalten. Sie kämpfen gegen die Zukunft. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Marco Buschmann [FDP]: Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!) Leider sind diese Argumente immer noch Realität. Insofern müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Ein klassisches Abwehrmuster besteht in der Unterstellung, es gebe nicht genügend kompetente Frauen. Das ist sehr bezeichnend. Auch als in Norwegen im Jahre 2006 die 40-Prozent-Quote eingeführt wurde, warnte manch einer vor einem Mangel an kompetenten Frauen. Die Praxis konnte diese Sorge ausräumen. Glauben Sie ernsthaft, dass all die Männer, die hochbezahlte Posten in Aufsichtsräten haben, nur aufgrund ihrer Kompetenz dort sitzen? (Mechthild Rawert [SPD]: Nein!) Glauben Sie ernsthaft, dass dabei nicht auch Vitamin B, also Beziehungen zu - ich sage es einmal so - eher männerlastigen Machtnetzwerken, eine Rolle gespielt hat? (Mechthild Rawert [SPD]: Ja! - Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Seilschaften!) Eine weitere Verzögerungstaktik besteht darin, auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft zu setzen. Das haben schon mehrere Regierungen hintereinander versucht. Das Ergebnis ist bekannt: Weniger als 1 Prozent der Vorstände in den 100 größten deutschen Unternehmen sind weiblich. Insgesamt, so sagt man, besetzen Frauen maximal 10 Prozent der Posten in Aufsichtsgremien. Die Bundeskanzlerin und Ministerin Schröder wollen trotzdem weiterhin auf die Freiwilligkeit der Wirtschaft setzen. Ich sage es einmal so: Im Vergleich dazu ist der Glaube an den Weihnachtsmann ein geradezu seriöses Projekt. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Linke meint: Wenn wir Geschlechtergerechtigkeit wollen, dann brauchen wir verbindliche Regelungen. Wir dürfen uns von der Wirtschaft nicht länger auf der Nase herumtanzen lassen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Frauenquote in Aufsichtsräten ist natürlich kein Allheilmittel zur Überwindung des Patriarchats. Dazu sind die Benachteiligungen von Frauen zu tief in unserer Gesellschaft verankert. So manches Gesetz verschärft sie sogar. Eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen, sind die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft bei Hartz IV. Das Wort "Bedarfsgemeinschaft" ist Behördendeutsch und bedeutet, dass Menschen, die länger als ein Jahr zusammenleben, automatisch unterstellt wird, sie hätten eine eheliche Gemeinschaft, sodass ihre Einkommen im Hinblick auf die Höhe von Sozialleistungen angerechnet werden. Kürzlich habe ich mich in meiner Funktion als Ausschussvorsitzende mit Frauenverbänden ganz unterschiedlicher politischer Couleur getroffen. Mir wurden sehr bewegende Fälle geschildert, die deutlich gemacht haben, dass die gesetzlichen Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft gerade Frauen in unerträgliche Situationen bringen. Zum Beispiel wird es Alleinerziehenden, die Teilzeit arbeiten und deswegen auf Hartz IV angewiesen sind, faktisch unmöglich gemacht, eine neue Beziehung einzugehen. Denn wenn sie einen neuen Partner finden und mit diesem zusammenziehen wollen, wird dessen Einkommen sofort beim Kind angerechnet. Auch das ist nicht im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit. (Beifall bei der LINKEN) Ich rufe all jenen Frauen und Männern, die sich heute so engagiert für Geschlechtergerechtigkeit auf den oberen Etagen einsetzen, zu: Sorgen wir dafür, dass Geschlechtergerechtigkeit auf allen Etagen der Einkommenshierarchie herrscht! Wir brauchen Geschlechtergerechtigkeit in den Chef- und Chefinnenetagen genauso wie im Erdgeschoss. Stellen wir endlich die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand! (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Linke meint, es bedarf beides: der Abschaffung der Bedarfsgemeinschaft sowie einer Quote für Aufsichtsräte. Dafür spricht vieles, unter anderem Folgendes: Je mehr Chefinnen es gibt, desto mehr wird unsere Vorstellung von guter Führung von ihren männlichen Prototypen losgelöst. Diese Vorbildwirkung auf die Berufswünsche von jungen Mädchen ist nicht zu unterschätzen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten einmal für den Fraktionsvorsitz kandidieren! Das wäre dann auch eine Frau!) Wir wollen schließlich, dass in Zukunft mehr junge Mädchen, die nach ihrem Berufswunsch gefragt werden, nicht "Balletttänzerin", sondern auch "Chefin" antworten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist reif für eine geschlechtergerechte Besetzung der Aufsichtsräte. Mindestens jeder zweite Aufsichtsposten gehört in Frauenhand. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es nach der SPD-Fraktion ginge, würde man die Gesetzeskeule herausholen, und alle Fragen wären gelöst. (Caren Marks [SPD]: Nein, nicht alle!) Erst einmal gibt es eine staatlich verordnete Frauenquote, und dann werden familienfreundliche Arbeitszeiten ganz einfach per Gesetz geregelt, wie es die SPD-Fraktion erst vor wenigen Tagen in einer Pressemitteilung gefordert hat. Die Wirtschaft an die Kandare zu nehmen und ihr vorzuschreiben, wen sie einstellen soll und wie Familienfreundlichkeit umzusetzen ist, ist ein Witz. Mit uns Liberalen ist das nicht zu machen. (Caren Marks [SPD]: Die Frauen stehen auf dem Abstellgleis bei den Liberalen!) Es steht außer Frage: Nach wie vor sind gerade einmal 3,2 Prozent der Vorstandsposten der 200 größten Unternehmen mit Frauen besetzt. Das ist nicht akzeptabel, und das muss sich ändern. Aber starre, gesetzlich verankerte Frauenquoten sind der falsche Weg. (Beifall bei der FDP - Dagmar Ziegler [SPD]: Was ist denn der richtige?) Ich bin froh, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel der Frauenquote eine Absage erteilt hat. Starre Quoten sind mit dem Grundgesetz ohnehin nicht vereinbar, wie der Verfassungsrechtler Ossenbühl dem Familienministerium gerade bescheinigt hat, (Caren Marks [SPD]: Gut, dass die Frauenministerin aufgrund einer Hessen-Quote ausgewählt wurde!) weil sie - ich zitiere - "nicht auf die Herstellung von Chancengleichheit, sondern der Ergebnisgleichheit gerichtet sind". Dieses Urteil bestätigt die Einschätzung der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Für uns ist eine starre Quote nichts anderes als Planwirtschaft. (Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Personalauswahl im Betrieb ist keine Sache des Staates. Dass die SPD und die Grünen in der Quote das Allheilmittel sehen, ist nicht neu. (Caren Marks [SPD]: Ein Mittel!) Warum unter rot-grüner Regierung hier nichts passiert ist, frage ich mich natürlich. (Miriam Gruß [FDP]: So ist es!) Ich frage mich aber auch, warum die Arbeitsministerin ausgerechnet jetzt, wo es endlich Signale für einen Wandel in der Wirtschaft gibt, eine starre Quote in der Verbindung mit Sanktionen einfordert. (Zurufe von der SPD und der LINKEN) Das steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, und dieser stellt für uns Liberale in dieser Legislaturperiode die Grundlage dar. Im Koalitionsvertrag haben wir einen Stufenplan verabschiedet, und dieser sieht als ersten Schritt die Berichtspflichten, also die Offenlegung der Unternehmen über die Besetzung ihrer Führungspositionen, vor. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben wir schon viele Jahre! - Caren Marks [SPD]: Das ist so was von verquast! Das hat die Ministerin selbst nicht verstanden, als sie es vorgestellt hat!) 2013 wollen wir evaluieren, und dann werden wir sehen, was zu tun ist. Wir Liberale setzen auf die Eigenverantwortung der Unternehmen. (Beifall bei der FDP - Zuruf von der LINKEN: Ah!) Selbstverpflichtung, wie es die Telekom vormacht, ist für die FDP-Fraktion zum jetzigen Zeitpunkt das Instrument, das wir von den Unternehmen erwarten. Die Wirtschaft ist also in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, damit Frauen auf dem Weg nach oben nicht länger ausgebremst werden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wenn sie es nicht macht?) Die FDP-Fraktion unterstützt die Kanzlerin in ihrem Appell, das nicht auf die lange Bank zu schieben. Für uns ist Diversity das Schlüsselwort. Dabei kann es aber nicht nur um das Geschlecht gehen, sondern es muss auch um Herkunft und Lebenserfahrung gehen. Die Mischung macht erfolgreich. Jeder feste Prozentsatz ist für mich eine Form der Diskriminierung, weil er bei der Personalauswahl unter Umständen Anforderungen an die Stelle überlagert. Außerdem degradiert eine Quote alle Frauen, die es auch so geschafft hätten. (Beifall bei der FDP - Widerspruch bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Meine Damen und Herren, wenn wir über zu wenige Frauen auf dem Chefsessel reden, dann haben wir meistens die Situation in großen Konzernen vor Augen. Wir sollten uns einmal an mittelständischen Unternehmen orientieren; denn hier sind Frauen in Führungspositionen längst keine Ausnahme mehr. (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]) Der Mittelstand praktiziert längst, worüber wir die ganze Zeit reden. Viele Unternehmen sind flexibel bei der Gestaltung von Arbeitszeiten; es gibt individuelle Lösungen. Die Grundhaltung ist dort häufig eine andere als in den Konzernen: Wer in seinem Beruf gut ist und Kinder hat, ist flexibel, pragmatisch, organisiert und belastbar. Familie ist längst keine Privatsache mehr. Viele Frauen verabschieden sich nach der Geburt eines Kindes nicht mehr für einige Jahre aus der Arbeitswelt - und das ist auch gut so. Jedes Jahr Auszeit aus dem Beruf heißt weniger Gehalt und weniger Rente. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen die Väter kein Problem mit langen Bürozeiten hatten. Viele Väter sind nicht länger bereit, ihren Nachwuchs nur am Wochenende zu erleben. Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sich nicht nur mit Kindern, sondern auch, wenn pflegebedürftige Angehörige zu versorgen sind. Dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft jetzt die Charta für familienbewusste Arbeitszeiten unterzeichnet hat, zeigt, dass Politiker und Wirtschaftsvertreter dieses Thema ernst nehmen. Langzeitkonten, Telearbeit, Teilzeit oder Gleitzeit sind die Stichworte, mit denen die Vereinbarkeit erleichtert wird. Familiengerechte Strukturen erfordern Kreativität und schaffen Win-win-Situationen. Das ist es, was wir wollen. (Beifall bei der FDP) Wir wollen keine einseitigen Lösungen, sondern Arbeitsbedingungen, die den Spagat zwischen Familie und Beruf für Frauen und Männer erleichtern. (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Das steigert nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter, sondern auch die Produktivität des Unternehmens. Berichtspflichten als erster Schritt des Stufenplans, die Selbstverpflichtung der Unternehmen und flexible Arbeitszeiten - das sind für mich im Moment die wichtigsten Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nach dem, was Sie heute hier ausgeführt haben, erstaunt es mich schon, dass es Ihnen in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen ist, gemeinsam mit der SPD den Stufenplan auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der FDP - Caren Marks [SPD]: War das eine Giftspitze in Richtung Union?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist nun die nächste Rednerin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dorothee Bär [CDU/CSU]: Die Wahlkämpferin!) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Damen! Meine Herren! Als wir im Dezember des letzten Jahres über den Antrag der Grünen diskutiert haben, eine Mindestquote für Frauen und Männer in den Aufsichtsräten von 40 Prozent einzuführen, war die Debatte durchaus kritischer als heute; das will ich durchaus konzedieren. Es könnte hier also einmal Morgenröte am Himmel entstehen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Rot sowieso nicht!) Trotzdem muss ich sagen, dass die Aufführung zu der Quote mit einer nicht zuständigen Arbeitsministerin, einer zuständigen Ministerin und einer Kanzlerin für mich doch irgendwie ganz großes Kino war. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind alle nicht da!) Ich finde es aber schade, dass dieser Film in den Medien aufpoppen darf, während es keine einzige der Vertreterinnen für nötig gehalten hat, hier zu erscheinen und mit uns darüber zu diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich verstehe die Zwischenrufe der Frauen zu einer früheren, anderen Regierungsbeteiligung. Ich will aber gar nicht nur Aufarbeitung betreiben. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Doch! Das wäre schon gut!) Ich zitiere einen Satz, der von mir kommen könnte, aber in dieser Variante nicht von mir kommt. Der Satz heißt: Es ist ein ziemlicher Skandal, dass in den 200 größten deutschen Unternehmen nur 3 bis 4 Prozent der Spitzenfunktionen mit Frauen besetzt sind. - Er stammt von Frau Merkel. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie hat recht!) Wer den Mund so spitzt, der muss aber auch pfeifen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wer die Richtlinienkompetenz hat, der sollte auch einen Vorschlag machen, der hier diskutiert wird. Gutes Zureden hilft hier nicht. Nach 60 Jahren Verfassung des Grundgesetzes und 10 Jahren Selbstverpflichtung müssen wir uns doch fragen: Wo ist eigentlich das Primat der Politik? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir müssen heute feststellen, dass die Frauen in diesem Land das nicht mehr akzeptieren. Unternehmerinnen haben den Verband FidAR gegründet, eine Initiative für mehr Frauen in die Aufsichtsräte. Der Deutsche Juristinnenbund setzt sich seit ewig und drei Tagen dafür ein. Der Verband deutscher Unternehmerinnen ist mittlerweile ganz dicht dran. Alle sagen: Wir wollen nicht mehr warten; wir wollen jetzt Taten sehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das spricht insbesondere uns Frauen im Bundestag an. Mit Verlaub, ein leichter Spott muss sein: Das Motto "Verpflichtung zur Selbstverpflichtung", das die Ministerin ausgegeben hat, erinnert mich an eine Übersetzung des Wortes "Schizophrenie" ins Deutsche: Spaltungsirresein. Sie will eine Verpflichtung zur Selbstverpflichtung - nach 60 Jahren Grundgesetz und 10 Jahren Selbstverpflichtung. Wir haben zudem nach der Wende einen Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz verankert. Denn schon das, was Elisabeth Selbert und andere Frauen seinerzeit im Parlamentarischen Rat erkämpft haben, wurde für zu eng empfunden und in einen aktiven Gleichstellungsauftrag umgewandelt. Der Staat muss für die Gleichstellung Sorge tragen. Nach alledem reicht uns die Verpflichtung zur Selbstverpflichtung nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn jetzt jemand sagt, eine Quote sei diskriminierend - tatsächlich wäre sie keine Frauenquote, sondern eine Mindestquote beider Geschlechter -, dann sollten wir zunächst einmal die jetzige Situation betrachten. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist diskriminierend!) Eine fast hundertprozentige Männerquote in den Vorständen und Aufsichtsräten ist die schärfste Diskriminierung. Dieser Zustand ist verfassungswidrig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Der aktive Gleichstellungsauftrag, dass Frauen überall vertreten zu sein haben, wird nicht ernst genommen und nicht realisiert. In Wahrheit geht es uns nicht darum, Privilegien für Frauen zu schaffen, sondern darum, diesen verfassungswidrigen Zustand endlich abzuschaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Frauen machen die Hälfte der Menschen des Landes aus. Nicht wir Frauen müssen begründen, warum wir wohin wollen, sondern die Männer müssen begründen, warum immer nur sie die Stühle besetzen. Das ist die Wahrheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wie erklären wir eigentlich den Abiturientinnen, deren Anteil 55 Prozent beträgt, diese Situation? Frau Schön hat vorhin gesagt, ihre Generation solle nicht auch noch warten müssen. Wie erklären wir den Hochschulabsolventinnen, deren Anteil 51 Prozent beträgt, dass sie warten sollen? Der Anteil der Absolventinnen der Wirtschaftswissenschaften beträgt bei besseren Abschlüssen als die männlichen Absolventen 55 Prozent. Wie erklären wir dem deutschen Unternehmerinnenverband mit seiner Datenbank für topqualifizierte Frauen, in der 400 Frauen geführt werden, die sofort in die Aufsichtsräte eintreten könnten, dass wir nicht endlich Maßnahmen ergreifen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich will nicht mit einem Zitat von Elisabeth Selbert schließen, die die SPD in den Parlamentarischen Rat entsandt hat, sondern mit einem Satz von Monika Grütters von der CDU, die gesagt hat, es wäre naiv, einfach so weiterzumachen. Lassen Sie mich von Herzen einen Wunsch an alle Männer, aber vor allem an alle Frauen des Deutschen Bundestags richten. Wer, wenn nicht wir Frauen, ist jetzt gefragt, zu sagen: "Das Recht nehmen wir uns auch raus"? Bei Themen wie Patientenverfügung oder PID nehmen sich oft Frauen, aber auch viele Männer mit Hinweis auf die Gewissensfreiheit das Recht heraus, eine Initiative aus der Mitte des Hauses vorzuschlagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. - Nachdem wir den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt und erkämpft haben, dass die Vergewaltigung in der Ehe genauso strafbar ist wie die Vergewaltigung außerhalb der Ehe, sage ich deutlich: Meine Fraktion ist bereit, den 40-Prozent-Antrag beiseitezuschieben und gemeinsam mit Ihnen die Initiative zu ergreifen. Darum werbe ich. Alle Frauen dieses Bundestages verfassen gemeinsam einen neuen Antrag. Lassen Sie uns mit dem Aufsichtsrat anfangen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Frauen müssen das jetzt beginnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Kollegin Dorothee Bär hat nun für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen hier heute nicht debattieren, was wäre, wenn hier vor zehn Jahren seriöse Politiker regiert hätten (Zurufe von der SPD: Oh!) und nicht Cohiba, Barolo und Brioni die Politik der Bundesrepublik Deutschland geprägt hätten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Sönke Rix [SPD]: Sie können es ja besser machen!) Man muss sich nur einmal alte Zeitungsartikel anschauen. Familienministerin Bergmann hat schon im September 2000 Eckpunkte für ein Gleichstellungsgesetz vorgelegt. Dann gab es, wie zu erwarten, Widerspruch von Hundt und Rogowski bei Bundeskanzler Schröder. Daraufhin hat Herr Uwe-Karsten Heye gesagt - Zitat in der Frankfurter Rundschau vom 13. Juni 2001 -: Es gibt auf beiden Seiten keine große Neigung, ein großes regulatives Gesetz zu machen. (Zuruf von der SPD: Und was wollen Sie?) Gleiches Zitat von Wirtschaftsminister Werner Müller: Wir brauchen eine Selbstverpflichtung. Auch bei den Grünen, Frau Margareta Wolf, Parlamentarische Staatssekretärin, heißt es: Wir setzen auf Eigeninitiative. Gesetzliche Verpflichtungen brauchen wir nicht. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Im Juli 2001 war es dann so perfide, dass die arme Frau Bergmann von Bundeskanzler Schröder gezwungen wurde, (Christel Humme [SPD]: Keine Krokodilstränen bitte!) auf Druck das Scheitern auch noch positiv darzulegen. Sie musste bejubeln, dass es quasi zu keinem Ergebnis gekommen war, und hat in einem langen Interview mit der Welt am 5. Juli 2001 gesagt: Wir haben etwas ganz Großartiges geleistet. Das wird die Republik verändern. (Dagmar Ziegler [SPD]: Schnee von gestern!) Ich darf sie noch einmal aus 2001 zitieren, als sie gesagt hat: Gute Kräfte werden knapp. Das Thema Chancengleichheit ist in Deutschland zu lange vernachlässigt worden. - Das spannendste Zitat, das man nicht nur 2001 glauben konnte, sondern das auch für 2011 angemessen wäre: Nach wie vor ist vielen hiesigen Arbeitgebern, im Vergleich zu den USA, noch nicht klar geworden, über welches Potenzial wir hier mit den gut qualifizierten Frauen verfügen, die wir in der nächsten Zeit dringend brauchen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, dass damals schon erkannt wurde, was sich eigentlich bis zum Jahr 2011 überhaupt nicht geändert hat. Jetzt gibt es eine Aktuelle Stunde mit dem Thema "Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zum Thema Frauenquote". (Mechthild Rawert [SPD]: Wo wir recht haben, haben wir recht!) Ich muss einmal sagen: Das Thema "Frauenquote" bzw. "Beteiligung von Frauen" ist in keiner anderen Regierung so angekommen wie in dieser Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Caren Marks [SPD]: Da müssen Sie doch selber lachen, Frau Bär!) Man kann es negativ sehen, so wie Sie, dass es unterschiedliche Auffassungen gibt. Man kann das aber auch positiv sehen. Ich sehe das positiv, weil es bedeutet, dass das Thema angekommen ist, dass sich in der Zielsetzung, dass wir mehr Frauen brauchen, alle einig sind, dass erkannt wurde, dass wir mehr Frauen in Führungspositionen brauchen und dass es jetzt um ein Ringen um die beste Lösung geht. (Caren Marks [SPD]: Frau Merkel ringt nicht!) Man kann machen, was vor zehn Jahren die rot-grüne Bundesregierung getan hat, sich nämlich mit erhobenem Zeigefinger hinstellen und den Unternehmen sagen: "Du, du, du! Wenn ihr jetzt nichts macht, dann passiert wieder nichts." (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum gehen Sie eigentlich nicht auf mein Angebot ein?) Man kann aber auch einmal überlegen, wie es weitergeht. Meine Kollegin Nadine Schön hat schon ausgeführt, dass es da etwas ganz Schlimmes gibt. Dieses schlimme Wort heißt Quote. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Schlimmste an der Quote das Wort "Quote" ist; denn wir haben das Problem, dass das ein verbranntes Wort ist. (Lachen bei der SPD - Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Das Problem ist, dass Sie durch Ihr Geschrei überhaupt nicht kapieren, was ich hier sage; aber das spricht natürlich auch eine deutliche Sprache. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht immer auch um das Qualitätsargument. Wenn Sie sich einmal den Bundestag mit seinen etwa 600 männlichen und weiblichen Abgeordneten anschauen, dann stellen sie fest, dass jeder zweite Abgeordnete und jede zweite Abgeordnete hier ein Quotenabgeordneter und eine Quotenabgeordnete ist. (Elke Ferner [SPD]: Ich bin keine Quotenabgeordnete!) Jeder Einzelne, der über die Liste gewählt wurde, ist ein Quotenabgeordneter, weil jeder auf der Landesliste gelandet ist, weil man eine Frau oder ein Mann ist, weil man aus einer bestimmten soziologischen Gruppe kommt, weil man aus Proporzgründen einen bestimmten Bereich seines jeweiligen Landes vertritt. Wenn es also immer nur bei Frauen heißt, es gehe um die Qualität, dann ist das mit uns nicht zu machen. Ich persönlich bin nicht bereit, das, was Rot-Grün vor zehn Jahren vermurkst hat, noch einmal zehn Jahre lang mitzumachen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen die Zustände jetzt ändern und keine leeren Drohungen mehr. Uns geht es nicht mehr um das Ob, es geht nur noch um das Wie. Deswegen bin ich unseren Ministerinnen sehr dankbar. Sowohl Frau von der Leyen als auch Frau Schröder haben sich klar dazu bekannt. Das ist wesentlich mehr, als Sie in zehn Jahren gemacht haben. Denjenigen, die behaupten, dass es dramatisch wäre, dass die Ministerinnen heute nicht anwesend sind (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben doch gar nichts gemacht!) - hören Sie mal zu, Frau Künast; nicht nur an Wahlkampf denken, sondern auch mal zuhören -, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre ja zu!) kann ich nur sagen: Es macht eine gute Chefin aus, so gut zu sein, dass sie sogar an ihren männlichen Staatssekretär delegieren kann. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war unterstes Niveau! Das ist doch das Mindeste, dass sie Weisungen durchsetzen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sigmar Gabriel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuallererst möchte ich den Vorschlag der Kollegin Künast für die SPD-Fraktion annehmen. Frau Künast, wir haben aber die Bitte, dass die Kerle auch unterschreiben dürfen, von mir aus hinten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ernsthaft gesprochen finde ich, dass wir uns bei diesem Thema ein gutes Maß an Souveränität nehmen dürfen. Wir dürfen doch sagen - das ist der berechtigte Vorwurf von CDU/CSU und FDP -, dass wir in unserer Regierungszeit die Quote nicht hinbekommen haben. Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt. Wir haben der Wirtschaft zu lange geglaubt, übrigens nicht nur da. Ich war einmal Umweltminister. Fragen Sie doch den jetzigen, wie viele Selbstverpflichtungserklärungen die deutsche Wirtschaft im Umweltschutz abgegeben hat: im Dutzend billiger. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist nur: Sie wollen denen immer noch glauben. Wir tun das nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich kenne Ausnahmen, die der Wirtschaft nicht glauben wollen. Eine sehe ich vor mir. Lassen Sie es uns nicht so schwer machen. Wir können zunächst mit dem Stufenplan anfangen. Es geht doch um Folgendes: Sie alle, auch die Vorrednerin, wissen besser als jeder männliche Kollege, der hier redet, dass die Sichtweise von Männern und Frauen auf den gleichen Alltag oftmals ganz unterschiedlich ist. Die Quote soll dazu dienen, dass die Sichtweise von Frauen in die Vorstands- und Führungsetagen von Unternehmen einkehrt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Darum geht es. Warum? Wieso sollten, wenn das nicht der Fall ist, die Männer, die da sitzen, bessere Arbeitszeiten organisieren? Die Männer haben diese Belastung zwischen Kindern und Beruf oder - noch konkreter - zwischen Karriere und Kindern überhaupt nicht. Das müssen doch in der Zeit ihre Frauen machen. Oder sie haben keine Kinder. Es geht doch darum, dass die Arbeitszeitmodelle verbessert werden, dass wir Arbeit und Leben wieder besser miteinander verbinden können, und das partnerschaftlich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In der Rushhour des Lebens, im Alter zwischen 20 und Ende 40, sollen wir alles machen: Karriere machen, Kinder bekommen und eine gute Partnerschaft führen. Das wird in Wahrheit nicht funktionieren, wenn nicht auch andere Modelle des Zusammenlebens und des Zusammenführens von Arbeiten und Leben möglich sind, zum Beispiel mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen. Das muss doch auch Ihr Interesse sein. Es geht darum, hier etwas voranzubringen, und nicht darum, hier einen Schaumstreit abzuhalten. Ihre Kanzlerin hat jetzt eine Ministerin in den Senkel gestellt und der anderen auch nicht richtig geholfen. Ich sage bei Flexiquoten und all solchem Quatsch nur eins: Es gibt einen alten Grundsatz: Mit Gänsen können Sie nicht über einen Weihnachtsbraten diskutieren. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das geht nicht, auch nicht, wenn es männliche Gänse sind; da schon gar nicht. Das funktioniert nicht. Lassen Sie es also sein. Am Ende möchte ich ein Beispiel nennen, wo wir im Alltag etwas nicht tun, was aber den Frauen richtig helfen könnte: Ich bin sehr für die Quote, aber ich will mir nicht mehr diktieren lassen, dass das nur für Redaktionsleitungen im Spiegel wichtig ist oder für die Vorstände der 30 DAX-Konzerne. Ich will, dass wir auch für die Frauen etwas machen, die davon lange Zeit nichts haben werden: für die Kassiererinnen im Einzelhandel, für die Beschäftigten im Handwerk und für andere. Für diese Gruppe müssen wir endlich durchsetzen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Darum geht es doch in Deutschland. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da fallen Sie den Frauen in den Rücken, Frau von der Leyen vorweg; denn das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" war Gegenstand der Hartz-IV-Verhandlungen. Dort haben Sie dagegen gestimmt. Die Mehrzahl der Leiharbeitnehmer sind Frauen. 70 Prozent der Frauen müssen für miserable Löhne arbeiten. Sie haben es in der Hand, für diese Frauen etwas zu tun: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Sie aber lassen alles laufen und kümmern sich nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) - Nein, es geht nicht um Veralbern. Es geht schon darum, dass du nicht nur abstrakte Debatten für einen Teil der Gesellschaft führst, es geht schon darum, dass du zeigst, dass du die im Blick hast, die ganz schlecht verdienen. Jedes Jahr werden wir von der Europäischen Kommission gemahnt, dass es in Deutschland, was die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen betrifft, am schlechtesten bestellt ist. Fast 25 Prozent weniger verdienen Frauen gegenüber Männern bei vergleichbaren Tätigkeiten. Im selben Betrieb, in derselben Altersstufe, im selben Beruf liegen die Frauenlöhne 12 Prozent unter denen ihrer Kollegen an der Werkbank oder im Einzelhandel nebenan. Das wird jedes Jahr angemahnt. Olaf Scholz hat als Arbeitsminister in der Großen Koalition dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Wer hat den denn gestoppt? Den hat unter anderem Frau von der Leyen im Kabinett gestoppt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) CDU und CSU waren nicht bereit, diesen Gesetzentwurf, der ein Schritt auf dem Weg zu gleichem Lohn für gleiche Arbeit war, ins Kabinett einzubringen, geschweige denn in den Deutschen Bundestag. Reden Sie also nicht ständig über etwas, was Sie im Alltag in Wahrheit nicht wollen, sondern setzen Sie sich als Parlamentarier und Parlamentarierinnen so durch, wie die Kollegin Künast es gesagt hat! Unsere Unterstützung haben Sie. Aber machen Sie das nicht nur für die DAX-Vorstände, sondern auch für die, die es verdammt schwer haben, für gute Arbeit endlich gutes Geld zu bekommen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Marco Buschmann (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts hat das Desinteresse von Herrn Gabriel am Thema so belegt wie diese Rede. Sie haben nicht zur Sache gesprochen, (Elke Ferner [SPD]: Was?) sondern Sie haben die Aktuelle Stunde missbräuchlich zum Forum für eine Wahlkampfrede gemacht, die zum Thema dieser Aktuellen Stunde nichts beigetragen hat. Nichts dokumentiert das Desinteresse mehr als dieser Beitrag. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jetzt kommen wir zurück zur Aktuellen Stunde, in der es eigentlich um zwei Themenbereiche geht. Der eine betrifft, wenn ich es so nennen darf, den Vorwurf der Vielstimmigkeit in der Bundesregierung, der andere betrifft die Frage, warum man nicht mit starren Quoten arbeitet. Auf beides möchte ich jetzt eingehen, weil ich das für ein wichtiges Thema halte. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tut man doch jetzt schon! 100 Prozent!) Frau Künast, es ist ganz interessant - den Ball nehme ich auf -, dass Sie der Bundesregierung den Vorwurf der Vielstimmigkeit machen. Ich kann erst einmal nicht erkennen, was ein Problem daran sein soll, mit unterschiedlichen Arbeitshypothesen in eine Diskussion zu gehen. Zu diskutieren, muss auch einer Bundesregierung möglich sein. Dass Sie, ausgerechnet die Grünen, der Bundesregierung Vielstimmigkeit vorwerfen, ist doch ein Treppenwitz. Ich darf Sie an eines erinnern: Ihre Parteivorsitzende Claudia Roth, die das Thema offensichtlich nicht ausreichend interessiert, um hier an der Debatte teilzunehmen, konnte es gar nicht abwarten, um sich auf Frau von der Leyen zu stürzen, als sie ihr Modell vorstellte. Sie hat dann den Vorwurf erhoben - ich darf die dpa vom 31. Januar zitieren -, das sei eine Mogelpackung, weil sich der Vorschlag nur auf die börsennotierten Unternehmen beziehe, also die großen Unternehmen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Plus mitbestimmungspflichtige!) Das sei das Schlechte an dem Vorschlag. Das Interessante ist, dass die grünen Fachleute, wenn sie hier Anträge stellen, genau das fordern. Zuletzt haben sie das in der Drucksache 17/3296 gefordert. Da heißt es wörtlich: Der Mindestquote unterfallen börsennotierte und der Mitbestimmung unterliegende Gesellschaften. Es sind also nur große Unternehmen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beide! Sie können nicht rechnen! Das ist ein Unterschied von 3 DAX-Unternehmen oder 5 000 Unternehmen!) Es ist doch ein Treppenwitz, dass Sie Frau von der Leyen ausgerechnet in dem Punkt einen Vorwurf machen, bei dem Gemeinsamkeiten mit den Grünen bestehen. Das zeigt: Frau Roth ging es überhaupt nicht um die Sache - sie hat sich damit überhaupt nicht vertraut gemacht -, sondern ihr ging es nur um Verhetzung eines Mitglieds der Bundesregierung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie hatte dabei so viel Schaum vorm Mund, dass sie gar nicht mehr erkennen konnte, was die eigenen Fachleute vortragen. Das ist eben auch eine Form von Misstrauen. Nun komme ich zur Frage der Quote und der Frage, warum wir uns in der Koalition und auch in der Regierung dagegen entschieden haben. Einmal ist aus gesellschaftsrechtlicher Sicht - ich stehe ja als Rechtspolitiker hier - darauf hinzuweisen, dass es Kollateralschäden auch in Norwegen gibt. Sie alle kennen die Beispiele: Rechtsformwechsel, Delistings, also die Rückgabe der Börsennotierung. Sie alle wissen auch, dass die Quote eben nicht über Nacht dazu geführt hat, dass mehr Frauen in Verantwortung kommen. Vielmehr konzentriert schlichtweg die gleiche Anzahl an Frauen mehr Mandate auf sich. Das hat in Norwegen zu dem ganz unangenehmen Effekt geführt, dass mittlerweile eine neue Diskriminierung umgeht. Es geht der Begriff der "Goldröcke" um. Man schaut eben nicht mehr auf die Leistungen der Frauen, sondern macht ihnen neue Vorwürfe. Das ist kein Vorteil für die Frauen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie verweigern sich auch einer fundierten Analyse. Frau Künast knüpft immer an die Berufsabschlüsse an und zieht dann den Rückschluss auf die berufliche Karriere. Das Entscheidende ist doch, was dazwischen passiert. Wenn wir in die Erwerbsbiografien schauen, stellen wir fest, dass der entscheidende Dreh für den Sprung in diese Führungspositionen irgendwo zwischen 35 und 40 Jahren gesetzt wird. Da kommt der große Swing. (Lachen bei der SPD - Caren Marks [SPD]: Der Mann hat wirklich Angst vor guten Frauen! Sie sind den Kinderschuhen nicht entwachsen!) Es ist auch hochinteressant, zu sehen, dass viele top ausgebildete, kluge und auch erfolgreiche Frauen genau in diese Zeit die Kinderphase legen. (Caren Marks [SPD]: Wann haben denn die Männer ihre Kinderphase? Sie sind immer noch in der Kinderphase! - Weitere Zurufe von der SPD) Das heißt doch, dass das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und nicht die Quote das Entscheidende ist. (Beifall bei der FDP) Ich sage Ihnen an einem Beispiel, wie das Frauen, die beruflich sehr erfolgreich sind, sehen. Ich möchte Daniela Weber-Ray, eine fantastische Frau, zitieren. Sie ist Partnerin einer internationalen Sozietät, und sie schrieb im Handelsblatt vor zwei Tagen: Wir brauchen Unterstützung des Staates nicht hinsichtlich einer gesetzlichen Quote, sondern um den Wandel der KKK-Kultur weg von Kinder, Küche, Kirche hin zu Kinder, Krippe, Karriere zu vollziehen. Das ist es, worum wir uns kümmern müssen. (Beifall bei der FDP - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann haben Sie denn Ihre Kinderphase?) Zuletzt möchte ich Sie noch an etwas erinnern. Sie tun immer so, als würde in Deutschland nichts passieren. Es ist eine ganze Menge passiert, seit diese Regierung im Amt ist. Insofern möchte ich der Kollegin Dorothee Bär beipflichten. Seit 2010 - nach der Regierungsübernahme - (Caren Marks [SPD]: Wurden wir Frauen permanent verschaukelt!) haben wir einen geänderten Corporate-Governance-Kodex, der jetzt auf mehr Diversity inklusive stärkerer Beteiligungen der Frauen setzt. (Zurufe von der SPD und der LINKEN: Oh!) Und siehe da: Wir haben eine zuständige und anwesende Ministerin, die die Wirtschaft in die Pflicht nimmt. Seitdem sehen wir doch, dass etwas passiert. Wir sehen es bei Eon und bei der Telekom. Daimler bringt Kandidatinnen ins Spiel, Karstadt bringt Kandidatinnen ins Spiel. (Zurufe von der SPD: Massenhaft!) Die extrem prominenten Personalmaklerinnen Christine Stimpel und Yvonne Beiertz sagen doch, sie kommen bei der Vermittlung weiblicher Führungskräfte der Nachfrage gar nicht mehr hinterher. Das mag noch zu langsam sein. Vielleicht können wir es uns schneller vorstellen. Aber man kann Strukturen, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte falsch eingependelt haben, nicht mit Gewalt über Nacht ändern. Wir gehen einen Weg, der zielgerichtet ist, und wir werden Erfolg haben. Im Ergebnis muss man Ihnen, Herr Gabriel und Frau Künast, sagen: Der Anlass dieser Aktuellen Stunde war nicht die Sache. Sie wollten hier Wahlkampf machen und mehr nicht. Das hat das Thema nicht verdient. Dafür ist es zu wichtig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Monika Lazar das Wort. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Buschmann, Sie waren leider wieder der Tiefpunkt der Debatte. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Caren Marks [SPD]: Der Tiefflieger!) Ich weiß ja nicht, wo die Männer die gebärfähige Phase setzen. Aber wenn Sie eins und eins zusammenzählen können, kommt vielleicht auch bei Ihnen an, dass die 30- bis 40-jährigen Frauen dort hineinfallen. Vielleicht sind Sie irgendwann lernfähig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir diskutieren hier ein Thema, und ich habe das Gefühl, wir kommen nur sehr mühsam voran. Es ist wirklich absurd, dass eine allgemein als wichtig anerkannte Maßnahme nicht umgesetzt wird. Sogar die FDP diskutiert wieder über eine parteiinterne Quote. Holen Sie sich eventuell bei der Kollegin Bär von der CSU Anregungen. Die haben das vor kurzem geschafft. Das Schauspiel, das die Koalition und die Bundesregierung zu diesem Thema aktuell liefern, befindet sich leider auf Boulevardniveau. Deutschlands Männer und Frauen schauen fassungslos auf das peinliche Stück. Dabei wäre es längst Zeit für Nägel mit Köpfen. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Noch nie wurde so viel über die Quote geschrieben!) Stattdessen haben wir das Machtwort der Kanzlerin, die der Frauenquote wieder einmal eine Absage erteilt. Sie trifft sich lieber gemeinsam mit Ministerin Schröder mit Vertretern der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Immerhin glauben Letztere nicht mehr, dass der Frauenanteil in Deutschlands Wirtschaft von alleine steigt. Arbeitgeberpräsident Hundt erklärt aber, dass mehr als 95 Pro-zent aller Unternehmen bereits Modelle zur Arbeitszeitflexibilisierung anbieten. Ich frage mich: Warum braucht es die x-te Charta dazu? Bezeichnend ist, dass die Charta wieder einmal von vier Männern unterzeichnet wurde. Erfrischend war auch, in den letzten Tagen zu hören, was Herr Ackermann dazu gesagt hat: Frauen in Führungspositionen machen das Leben "farbiger" und "schöner". Da ätzten selbst das Handelsblatt und Ministerin Aigner, das sei doch ein typischer Ackermann, nach dem Motto "Unser Vorstand soll schöner werden." Kanzlerin Merkel hat zumindest erkannt: Es ist ein "ziemlicher Skandal", dass wir kaum Frauen in Führungspositionen haben. Aber skandalöse Zustände ändert man doch nicht mit einer Charta oder einer Vereinbarung. Wir haben in den letzten zehn Jahren gemerkt, dass die Wirtschaft nichts von alleine macht. Die freiwillige Vereinbarung von 2001 wurde von Frau Bär schon breit zitiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wir sind alle etwas weitergekommen, und es hat sich herausgestellt, dass einfach nichts passiert. Von daher: Bitte keine weiteren freiwilligen Vereinbarungen und Chartas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ministerin Schröder spricht immer von der staatlichen Einheitsquote. Schauen Sie bitte über den Tellerrand - die Beispiele sind heute schon genannt worden - nach Frankreich, Spanien oder Norwegen. Überall hat man gemerkt: Ohne Quote geht es nicht. Wenn Ihnen das Wort Quote nicht gefällt, dann nehmen Sie bitte ein anderes Wort. Es ist uns völlig egal. Sie können "Frauenqualität" sagen oder was auch immer. Es kommt nicht auf das Wort an, sondern es kommt darauf an, dass sich in unserem Land etwas bewegt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) In Deutschland gibt es beispielsweise Unterschiede zwischen Ost und West. Die wenigen Frauen in den Führungspositionen finden sich häufiger im Osten unseres Landes. Das zeigt eine aktuelle Studie des IAB. Eine Ursache ist zum Beispiel die kürzere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Das liegt unter anderem an der besseren Kinderbetreuung im Osten. Eine weitere Komponente kommt hinzu: Im Osten war die Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen völlig normal und auch die Übernahme von Führungspositionen viel anerkannter, als es teilweise noch heute im Westen der Fall ist. Ich finde, das ist ein Beispiel, bei dem der Westen einmal etwas vom Osten lernen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ein weiteres Argument ist der gerade vorgestellte Gleichstellungsbericht des Familienministeriums. Auch dort heißt es: Die Quote ist erforderlich. - Ich frage mich wirklich: Welche Argumente brauchen Sie noch? Auch Frau Kollegin Grütters wurde heute schon zitiert. Sie sagt, es wäre naiv, weiter auf eine Selbstverpflichtung zu setzen. Es ist schön, dass die Justizministerin anwesend ist. Sie hat gestern eine Pressemitteilung herausgegeben. Ich zitiere kurz daraus: Dringender Handlungsbedarf besteht bei ... Frauen in Führungspositionen. Mehr Frauen in Spitzenpositionen sind nicht nur im Interesse der Gesellschaft, sondern gerade auch im Interesse der Wirtschaft. Das sehe ich genauso. Es ist ökonomisch völlig unsinnig, gut qualifizierte Frauen am Aufstieg zu hindern. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie macht doch gar nichts!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, macht endlich etwas und gebt nicht nur gute Pressemitteilungen heraus! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Über unseren Gesetzentwurf hat Renate Künast schon etwas gesagt. Im Mai wird es eine Anhörung im Rechtsausschuss geben. Herr Buschmann, ich hoffe, dass auch Sie dann endlich schlauer werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Begrüßenswert ist weiterhin, dass Nordrhein-Westfalen jetzt eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat. Zum Schluss meine Bitte: Lassen Sie uns endlich gemeinsam in unserem Lande handeln, damit wir von der Position eines gleichstellungspolitischen Entwicklungslandes herunterkommen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Wir diskutieren hier über die Äußerungen der Ministerinnen und der Kanzlerin. Ich stelle zunächst einmal fest: Diese Äußerungen haben dem Thema endlich die Bedeutung und die Aufmerksamkeit verschafft, die es braucht. (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein PR-Gag!) Machen wir uns nichts vor: Wir diskutieren seit Monaten über einen konkreten Gesetzesvorschlag der Grünen. Auch die Frauen in der Unionsfraktion haben Beschlüsse zum Thema gefasst und der Presse vorgestellt. Es gab auch den einen oder anderen Artikel im Handelsblatt und im Spiegel. Aber erst dieser Hintergrund, die Diskussion im Kabinett, gibt dem Thema jetzt die Aufmerksamkeit, die es verdient. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überzeugen Sie bitte auch Ihre Männer in der Fraktion!) Wir haben ganzseitige Anzeigen im Handelsblatt, in denen dazu aufgerufen wird: Macht es endlich freiwillig! Sonst kommt die Quote. - Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank - gerade schon genannt - meldet sich zu Wort. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber peinlich!) So manche Wortmeldung zeigt, dass diese Diskussion sehr nötig ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP]) Sie betonen vor allem die Unterschiede, die Uneinheitlichkeit in den Äußerungen der Ministerinnen und der Kanzlerin. Ich möchte zunächst einmal auf die Gemeinsamkeiten eingehen. Sie stimmen überein in dem Befund, dass der Status quo völlig unakzeptabel ist, dass es gesetzlichen Handlungsbedarf gibt und dass die Situation den Unternehmen schadet. Sie ist ungerecht für die Frauen, die den gleichen Zugang einfach nicht erhalten, obwohl sie die gleiche Qualifikation mitbringen. Übereinstimmung besteht auch darüber, dass wir über einen Mindestanteil in der Größenordnung von plus/minus 30 Prozent reden. Ich möchte die Gelegenheit dieser Diskussion nutzen, um noch einmal zu betonen: Die Quote oder eine größere Frauenbeteiligung nützt vor allem den Unternehmen, nicht deshalb, weil Frauen durchweg besser sind - es gibt auch gute Männer in diesen Gremien -, sondern deshalb, weil die Mischung unterschiedlicher Erfahrungen und Denkweisen zu besseren Ergebnissen führt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn zehn Leute in einem Gremium den gleichen Hintergrund haben, dann ist das schlichtweg zu schmalspurig. Jeder, der mit einer anderen Erfahrung dazukommt, ist eine Bereicherung. Das ist der Ansatz der Diversity. Dafür kämen auch andere Kriterien infrage, aber "Geschlecht" ist sicherlich das Kriterium, das sich als Erstes aufdrängt und das naheliegt. Das ist für diejenigen, die sich mit dem Thema beschäftigen, mittlerweile wirklich selbstverständlich. Wer das noch nicht mitbekommen hat, der kann sich gern einmal die Studien von McKinsey und von Catalyst ansehen. Nun müssen wir den Blick sicherlich auch auf die Unterschiede richten. Die Familienministerin hat einen Stufenplan vorgelegt, der positive Elemente enthält. (Caren Marks [SPD]: Was?) Er umfasst auch die Vorstände. (Elke Ferner [SPD]: Freiwillig, Frau Kollegin! Freiwillig!) Zum ersten Mal wird auch das operative Geschäft in den Blick genommen. Er hat ein flexibles Element; darüber lässt sich sicherlich diskutieren. Er verlangt transparente Angaben und Vergleichsmöglichkeiten. Ich bin davon überzeugt, dass schon allein das Wirkung zeigen wird. Ich kann mir hier eine Bemerkung nicht verkneifen: Wenn damals die Vereinbarung zwischen dem Boss der Bosse und der Wirtschaft (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hätten Sie gar nicht zugestimmt!) so konkret gewesen wäre wie die jetzige Vereinbarung, dann wären wir heute an einem anderen Punkt. (Caren Marks [SPD]: Was hindert Sie daran, jetzt etwas zu tun?) Ich kann mir auch nicht verkneifen, zu sagen, dass unsere Partei diejenige ist, die die höchste Führungsposition, die dieses Land zu vergeben hat, mit einer Frau besetzt hat; wir stellen die Kanzlerin. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch das ist sicherlich etwas, was für die Frauen in Deutschland Symbolwirkung hat. Aber ich will auch nicht darum herumreden: Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen den Konzepten, was die Verbindlichkeit angeht. Ich rede hier nicht zum ersten Mal zum Thema Quote. Ich sage ganz klar: Es ist aus meiner Sicht nicht ausreichend, wenn als schlimmste Sanktion, als Worst Case, die Pflicht zur Selbstverpflichtung kommt, ohne Zeitplan, ohne feste Zielvorgaben, ohne konkrete Sanktionen. Das kommt mir ein bisschen so vor, als würde man den Aufsichtsräten sagen: Ihr müsst jetzt hundertmal "Frauen in den Führungspositionen in meinem Unternehmen sind wichtig und gut" schreiben, und dann gehen wir wieder zur Tagesordnung über. (Caren Marks [SPD]: Ackermann muss es 500-mal schreiben!) Man muss auch sehen: Die nächsten Wahlen zu den Aufsichtsräten sind im Jahr 2013 und dann erst wieder 2018. Nun muss es eine Zeitschiene geben; das ist ganz klar. Aus meiner Sicht muss spätestens für 2018 wirklich verbindlich gesetzlich geregelt sein, was passiert. (Elke Ferner [SPD]: Mein Gott, was für eine Perspektive, Frau Kollegin!) Dafür brauchen wir diese gesetzliche Regelung schon jetzt. Das macht dann bereits für 2013 einen Unterschied. Wenn man weiß: "2018 gibt es keinen Weg mehr daran vorbei", dann wird man schon 2013 mit einer anderen Einstellung darangehen. (Elke Ferner [SPD]: Oh, wie ärmlich!) Wenn wir aber sagen: "Macht mal bis 2013, dann schauen wir, ob wir etwas anderes brauchen", dann ist die Dynamik aus der Sache heraus, und wir werden nicht entsprechend weiterkommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ohne verbindliche Regelungen am Horizont werden sich die Closed Shops nicht öffnen. Sie schließen qualifizierte Frauen aus; sie schließen aber auch gute Männer aus, die nicht ins Schema passen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wie fest da die Strukturen gefügt sind, das hat uns das manager magazin gerade noch einmal beschrieben. Wenn man das liest, dann stellt man fest, dass das nichts mit Bestenauslese zu tun hat, sondern dass es dabei um Dinge wie Männerfreundschaften, Bergtouren, Jagderlebnisse und dergleichen geht. Von VW wissen wir ja, was noch so infrage kommt, um die Gruppendynamik zu stärken. Ich habe nichts gegen Männerfreundschaften und Freizeit ohne Frauen, aber das kann nicht das Kriterium sein, wenn es um Führungspositionen in der deutschen Wirtschaft geht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb lautet mein Petitum: Wir brauchen einen Stufenplan. Wir müssen darüber im Gespräch bleiben, bei allen, die es brauchen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort die Kollegin Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dagmar Ziegler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie so oft in dieser Wahlperiode haben wir miterleben müssen, wie sich diese Koalition in Widersprüchen und gegensätzlichen Haltungen überbietet. Ob bei den Haushaltsdiskussionen, in der Steuerpolitik, bei Hartz IV oder in der Außenpolitik, immer gab es etwas anderes, aber leider nie etwas Besseres aus dem Regierungslager. Nun hat Frau Ministerin von der Leyen die Quote für Frauen in Führungspositionen für sich entdeckt, und das zu einem Zeitpunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo sie eigentlich ganz andere Sorgen umtreiben müssten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erinnern wir uns noch einmal kurz: Nach Monaten des Nichthandelns bzw. Nichtverhandelns nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht zum SGB II rettete sich Frau von der Leyen mit einer ziemlich sinnfreien Chipkartendiskussion öffentlichkeitswirksam über das Sommerloch, um uns danach vorzuwerfen, wir würden mit ihr nicht über die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils reden wollen. Nun entdeckt sie ihre ganz persönliche Betroffenheit und Sorge um die vielen Frauen in unserem Lande, die gut ausgebildet sind, aber nicht in führenden Positionen der Wirtschaft zu finden sind, und das wieder sehr öffentlichkeitswirksam. Da stört sie auch nicht ihre gegensätzliche Haltung zur Familienministerin, auch nicht ihre gegensätzliche Haltung zur Bundeskanzlerin. Nein, sie kocht ihr ganz persönliches Süppchen, um sich zu profilieren und wieder einmal von der Verhandlungsschwäche der Koalition im Vermittlungsausschuss abzulenken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Rita Pawelski [CDU/CSU]: Dass Sie sich dazu hergeben, ist wirklich schlimm! - Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) Die Bundeskanzlerin hat sie ja nun wieder ins Glied zurückgeschickt. Was kommt nun für die Frauen in unserem Land dabei heraus? Nichts, wieder einmal gar nichts. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Peinlich, peinlich!) Vorhin haben Sie mit vielen schrägen Argumenten einen Antrag zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns abgelehnt, wohl wissend, dass 70 Prozent der Beschäftigten in der Niedriglohnbranche Frauen sind. Es wurde auch schon dreimal festgestellt, dass weder eine Arbeitsministerin noch eine Familienministerin noch eine Bundeskanzlerin dafür Interesse zeigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frauen haben es einfach nicht verdient. Es ist wirklich eine Frechheit, dass ihre Interessen für Machtspielchen von drei Doktorinnen, die es in Führungspositionen geschafft haben - Frau Schröder im Übrigen auch durch die Hessen-Quote -, missbraucht werden. Sie, liebe Koalitionäre, haben jetzt wirklich die verdammte Pflicht - ich bin für viele Ihrer Redebeiträge sehr dankbar -, diesem Eindruck entgegenzutreten. Unterstützen Sie die Einführung einer gesetzlichen Quote nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im öffentlichen Dienst, auch in den Hochschulen und in der Wissenschaft! Unterstützen Sie gesetzliche Regelungen zur Entgeltgleichheit! Machen Sie auch wirklich deutlich, dass es Ihnen tatsächlich ernst ist mit Gleichstellung in unserem Lande! Diesen Beweis sind Sie uns noch schuldig. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ewa Klamt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ewa Klamt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Man kann die Zahlen nicht oft genug nennen: Frauen stellen 55,7 Prozent der Abiturienten in Deutschland, 51 Prozent der Hochschulabsolventen, rund 44 Prozent promovieren im Anschluss. Diese Zahlen zeigen das Potenzial junger, gut ausgebildeter Frauen in unserem Land auf. (Beifall bei der CDU/CSU) Wie es in den Aufsichtsräten aussieht, wissen wir: gerade einmal 10 Prozent Frauen. Nur 3,2 Prozent Frauen bekleiden Vorstandsposten. In den 30 DAX-Unternehmen sind von 182 Vorstandsposten gerade einmal 4 mit Frauen besetzt; das sind 2,2 Prozent. Wir müssen also feststellen: Irgendwo nach Abitur, Studium und Sprung in die Arbeitswelt verlieren wir viel Frauenpotenzial. Wir verlieren damit Arbeitskraft, Kreativität, Innovationsfähigkeit und Wissen. Wir verschenken viel unseres Potenzials, obwohl doch feststeht, dass wir im weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe stehen. Über das Problem besteht meines Erachtens Einigkeit; die Lösung ist jedoch strittig. Ich sage, dass man in dieser Frage durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann. Dass wir innerhalb unserer Fraktion debattieren, ist für mich kein Problem. Das ist vielmehr eine gute inhaltliche Auseinandersetzung, und die hat noch nie geschadet. (Beifall bei der CDU/CSU - Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss aber auch zu Ergebnissen kommen!) Das ist mir auf jeden Fall lieber als ein Bundeskanzler Schröder, der vor gut einem Jahrzehnt bei Wein und Zigarren der Wirtschaft versprochen hat, keine Maßnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in Spitzenpositionen zu ergreifen. (Elke Ferner [SPD]: Das will ja Frau Merkel fortsetzen!) Dass die Frage "Frauenquote in Unternehmen" äußerst unterschiedlich gesehen wird, zeigt auch die Diskussion innerhalb der verschiedenen Generationen von Frauen. Ich kann den Frust und den Ärger einer jeden jungen Frau verstehen, wenn sie - berechtigterweise - nach langer Ausbildung nach ihren Fähigkeiten und nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden möchte. Diese gut ausgebildeten Frauen sind jung, ungebunden, flexibel und meist noch ohne Kinder. Sie befinden sich am Beginn ihrer Karrieren, an einem Punkt, an dem in der Regel noch keine gläserne Decke zu spüren ist. Eine Frauenquote kommt aus ihrer Sicht einer Beleidigung gleich, unterstützt durch das unschöne wie auch unsinnige Wort der Quotenfrau, das reflexartig die Debatte begleitet. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie doch ein anderes Wort!) Dem halte ich entgegen: Quote und Qualifikation schließen sich nicht gegenseitig aus. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Im Gegenteil: Die Quote kann ein Instrument sein, der Qualifikation zur vollen Entwicklung zu verhelfen; (Zuruf von der SPD: Genau!) denn leider - das sage ich mit absoluter Ernüchterung - sind wir mit der freiwilligen Verpflichtung in den letzten zehn Jahren keinen Schritt weitergekommen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der FDP) An den nackten Zahlen hat sich seither wenig geändert. Liegt es also daran, dass, wie uns die Wirtschaft immer wieder gern erklärt, die Top-Positionen nur von den Besten eingenommen wurden? Ist es die männliche Exzellenz, die gesiegt hat? (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eher nicht!) Da sage ich etwas populistisch: Eine Weltwirtschaftskrise hätte es dann wohl ebenso wenig wie eine Bankenkrise geben dürfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, ich bin ernüchtert. Auch ich habe einmal zu jenen Frauen gehört, die glaubten, dass wir Frauen die Zukunft gleichberechtigt mit den Männern gestalten. (Dagmar Ziegler [SPD]: Ich auch!) Als ich 18 war, sprach kein Mensch über eine Quote. Im Gegenteil, mein Vater sagte mir mit großer Begeisterung: Du gehörst der Generation Frauen an, denen aufgrund von Bildung und guter Ausbildung alle Türen offenstehen. - Wenn mir damals jemand vorausgesagt hätte, dass ich fast 40 Jahre später im Deutschen Bundestag konstatieren muss, dass in Deutschland die Teilhabe von Frauen in den höchsten Positionen der Wirtschaft auf einer Stufe mit Indien steht und damit weltweit den letzten Platz einnimmt, hätte ich schallend gelacht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Heute sage ich: Wenn wir einer der leistungsstärksten Wirtschaftsräume der Welt bleiben wollen, können wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, auf das vorhandene Potenzial von Frauen zu verzichten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Kluge Unternehmer haben das selbst erkannt: Hochqualifizierte, kreative und motivierte Frauen sind nachweislich gut für den wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb erwarte ich, dass die Unternehmen bei der Neubesetzung der Aufsichtsräte im Jahr 2013 beweisen, dass sie Frauen in Führungspositionen wollen. Wenn nicht, müssen andere Mittel greifen. (Elke Ferner [SPD]: Sie haben so gut angefangen, Frau Kollegin!) Die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding gibt der Wirtschaft nur noch eine begrenzte Schonfrist. Wenn die Konzerne nicht selbst aktiv werden, will Brüssel rechtliche Vorgaben für eine Frauenquote in Aufsichtsräten machen. Das kann ich dann nur unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Christel Humme (SPD): Frau Klamt, Sie haben gut angefangen. Ich hatte gehofft, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden; aber Sie haben an dieser Stelle wieder einmal Ihre Chance verpasst. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ihr habt nicht einmal angefangen!) Ich bin die letzte Rednerin und habe die Chance, alles auf den Punkt zu bringen, was vorhin gesagt worden ist und was in den letzten drei Wochen passiert ist. Ich muss schon feststellen, dass die Bundesregierung so etwas wie Realsatire gezeigt hat. Denn was haben wir erlebt? Was ist passiert? Die Frauen in der Bundesregierung streiten über die gesetzliche Frauenquote; die Männer in der Wirtschaft reiben sich die Hände und behalten dank Frau Merkel erst einmal ihre Macht. Klassisch, oder? (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) Wir alle haben noch die Ratschläge der Kanzlerin und der Frauenministerin im Ohr. Sie haben den Frauen geraten: "Seid mutiger und tougher gegenüber euren Chefs, dann klappt es mit der Karriere und mit der Bezahlung." Dazu muss ich sagen: Die Frauen in der Bundesregierung waren wirklich ein sehr schlechtes Vorbild. Nach welchem Vorbild sollen sich die Frauen richten? Die Frauen in der Bundesregierung haben nämlich gezeigt, dass sie ohnmächtig sind; sie haben ihre Ohnmacht dokumentiert und erneut deutlich gemacht, wer in der Bundesrepublik eigentlich das Sagen hat. Auch hier zeigt sich wieder das Markenzeichen von Schwarz-Gelb, nämlich Klientel- und Lobbypolitik statt Politik für die Frauen. (Beifall bei der SPD - Rita Pawelski [CDU/ CSU]: Christel, du warst doch selber dabei, als Schröder euch gezeckt hat!) - Ja, keine Angst, Rita, ich komme gleich noch darauf. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Kanzlerin hat ein Machtwort gegen die Frauen gesprochen - das haben wir gehört -: Sie lehnt die gesetzliche Quote ab und setzt auf Freiwilligkeit. Dabei ist der Handlungsdruck - das wissen wir alle ganz genau - sehr groß. Frau Bracht-Bendt, Sie unterhalten sich gerade so nett. Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Bracht-Bendt von der FDP, gesagt haben, eine Frauenquote disqualifiziere die Frauen. Dann frage ich Sie allen Ernstes: Warum hat der Bundesvorstand der FDP kürzlich - er kommt auf die Spur - eine 30-Prozent-Frauenquote für die Parteigremien beschlossen? Warum hat der Frauenverband der FDP gesagt: "Das reicht uns nicht, wir brauchen eine 40-Prozent-Quote"? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Inwiefern ist das eine Disqualifizierung der Frauen? (Zuruf der Abg. Nicole Bracht-Bendt [FDP]) - Wir werden Ihren Bundesparteitag sehr gut beobachten. Der Handlungsdruck ist natürlich immens. Wir stehen im europäischen Vergleich nicht besonders gut da. Wir sind keineswegs ein Exportland, wenn es um Gleichstellung geht. Im Gegenteil: Wir sind hier ein Entwicklungsland; bei uns ist die auch heute viel zitierte gläserne Decke immer noch aus Panzerglas. Wir wissen auch, warum das so ist. Ja, wir haben 2001 eine freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaft geschlossen. Wir waren dabei: Frau Ferner, ich und andere. Wir wissen noch ganz genau, dass wir gesagt haben: Wenn die freiwillige Vereinbarung kein Ergebnis zeitigt, dann kommt ein Gesetz zur Verpflichtung der Privatwirtschaft. Das war die Ausgangssituation. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir hatten aber Pech: Es kam zu einer Großen Koalition, und wir mussten Koalitionsverhandlungen mit Frau von der Leyen führen. (Caren Marks [SPD]: Die war dagegen!) Das Thema einer gesetzlichen Frauenquote war in den Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht zu setzen; das muss man an dieser Stelle feststellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Insofern verstehe ich Sie, Frau Bär und Frau Schön, überhaupt nicht. Kritisieren Sie doch nicht dauernd die Freiwilligkeit! Was wollten wir damals erreichen? Wir wollten mehr Chancengleichheit für Frauen im Berufsleben. Wir wollten mehr familienfreundliche Betriebe. Wir wissen, die Bilanz ist ernüchternd. Aber was haben Sie daraus gelernt, Frau Bär? (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was war denn 2002 bis 2005?) - Sie können nur schreien! Hören Sie bitte zu! (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen zugehört!) Was haben Sie vor zwei Tagen gemacht? Sie haben die Wirtschaft eine Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten unterschreiben lassen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das hat doch überhaupt nichts mit dem Thema zu tun!) Was haben Sie genau getan? Sie haben einen Teil aus der freiwilligen Vereinbarung von 2001 herausgepickt und "Charta für familienfreundliche Arbeitszeiten" genannt. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ein zusätzlicher Baustein! Was war denn mit Renate Schmidt und Frau Bergmann?) Sie haben den Leuten suggeriert, dass Sie etwas Neues machen, (Caren Marks [SPD]: Alter Wein in neuen Schläuchen!) aber in Wirklichkeit führen Sie sie an der Nase herum, weil Sie nämlich gar nichts tun für familienfreundlichere Arbeitszeiten. Das ist das Schizophrene an der Situation. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Alle zehn Jahre neue Unterschriften sind kein Fortschritt für uns. Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Das wäre unserer Meinung nach ein Fortschritt. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was war denn 2002 bis 2005?) - Frau Bär, lassen Sie das doch einmal sein. Das Herumschreien bringt doch nichts. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sagen Sie das einmal Ihrer Fraktion!) Wir wollen - das ist ganz klar - eine Quote von 40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlich regeln. Dabei geht es uns nicht nur um die Topmanagerin - das wurde vorhin zwar schon gesagt, aber das möchte ich trotzdem noch einmal deutlich machen -, (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Um was geht es denn?) sondern es geht uns um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt insgesamt. Das ist das Entscheidende. Leider müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass zwar die Frauenerwerbsquote gestiegen, aber das Arbeitsvolumen gesunken ist. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer wird jetzt Kanzlerkandidatin der SPD? - Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Die Kanzlerin tut doch nichts!) Es hat eine Umverteilung der Arbeit unter Frauen stattgefunden. Die Frauen haben einen sehr hohen Preis dafür bezahlt. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Frau Nahles hat Angst, von ihrer eigenen Fraktion weggelobt zu werden! Das ist die Realität! Warum hat sie denn Angst vor ihrer eigenen Fraktion? Das ist ja ganz schlimm, was da vor sich geht! Frauenmobbing! Pfui!) Ein Großteil der Frauen ist trotz eigener Erwerbstätigkeit von einer eigenständigen Erwerbssicherung weit entfernt. Ich habe erwartet, dass die Frauenministerin und die Arbeitsministerin Schritte in Richtung eines gesetzlichen Mindestlohns einleiten; denn der hätte den Frauen, die häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, geholfen. (Beifall bei der SPD) Aber auch hier stelle ich fest: Nichts tun und Klientelpolitik, das sind Ihre Markenzeichen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden - Drucksachen 17/4193, 17/4651 - Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. h. c. Wolfgang Thierse Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dr. Lukrezia Jochimsen Claudia Roth (Augsburg) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte beiwohnen wollen, ihre Plätze einnehmen würden, wäre ich dankbar; denn dann können wir uns auf die Redner konzentrieren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen heute über den Antrag der Koalitionsfraktionen "60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden" abschließend beraten und entscheiden. Das Ziel unseres Antrags ist klar: Wir wollen an die in Stuttgart am 5. August 1950 erfolgte Proklamation der Charta der Heimatvertriebenen erinnern und anlässlich dieses Jubiläums erneut die Leistung der Heimatvertriebenen unterstreichen. Wir wollen erreichen, dass der Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und auf den Beitrag von Vizepräsident Wolfgang Thierse eingehen, den der Kollege Thierse als Gegner unseres Antrags bei der ersten Lesung am 16. Dezember 2010 hier zu Protokoll gegeben hat, auf den ich daher erst heute hier im Plenum Bezug nehmen kann. Verehrter Herr Kollege Thierse, Sie haben sich in Ihrer Rede erkennbar bemüht, den Erwartungen Ihrer Partei zu entsprechen, denen zufolge wie in einem Pawlow'schen Reflex alles abzulehnen ist, was irgendwie mit dem Bund der Vertriebenen zu tun hat. (Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Davon kann nicht die Rede sein! Sie haben sich dieser wenig schmückenden Aufgabe achtbar entledigt, obwohl es Ihnen stellenweise schwergefallen sein dürfte, dem in Wahrheit durchweg legitimen Ansinnen unseres Antrags zu widersprechen. So sprachen Sie etwa gleich einleitend von einer angeblich viel zu späten Vorlage des Antrags - Monate nach dem 5. August -, bewerteten aber den Antrag im nächsten Atemzug als Schnellschuss. Was soll es denn jetzt sein? Zu langsam oder zu schnell? Beides zusammen geht nicht. Zum 5. August 1950 möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Am 5. August 1950 ist mit der Charta der Heimatvertriebenen ein einzigartiges Dokument verabschiedet worden. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das kann man wohl sagen!) Wir unterstützen mit unserem Koalitionsantrag die heute in Stuttgart von dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus klar erhobene Forderung: Dieser Tag hätte es verdient, zu einem nationalen Gedenktag in Deutschland zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Thierse, inhaltlich gravierend waren einige Ausführungen von Ihnen an anderer Stelle, auf die ich eingehen muss. Als Sie den verdienstvollen Verzicht der Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung erwähnten, relativierten Sie diesen mit dem Hinweis, als Angehörige der Kriegsverursachernation Deutschland habe den Vertriebenen gar keine Rache zugestanden, und man könne es schlecht als Leistung betrachten, auf etwas zu verzichten, das man gar nicht beanspruchen dürfe. In der Ausschussberatung haben Sie sich verstiegen, zu sagen - nachzulesen auf Seite 5 der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien -, dies sei ein "moralisch skandalöser Satz". (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte Ihnen mit folgendem Zitat entgegnen: Die Charta der Heimatvertriebenen hat dabei - "an einem menschlichen und toleranten Deutschland" - eine wichtige Rolle gespielt. Zwei Punkte möchte ich daraus hervorheben, die auch in Zukunft nicht vergessen werden dürfen: Da ist zunächst der Verzicht auf Rache und Vergeltung. So Sigmar Gabriel, weiland Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und jetzt Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Brigitte Zypries [SPD]: Deshalb brauchen wir doch keinen Gedenktag!) Ist das ein moralisches Skandalon, Herr Kollege Thierse? Der Kollege Thierse kritisiert auch das Ziel unseres Antrags, dem Thema Vertreibung mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken. Herr Thierse, Sie halten die für die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" veranschlagten Forschungsgelder für zu hoch und wollen den postulierten Nachholbedarf in der Forschung nicht erkennen. So Ihre Ausführungen am 16. Dezember 2010 ausweislich Ihrer Protokollerklärung im Deutschen Bundestag. Gerade gegenwärtig mehren sich indessen die Stimmen von wissenschaftlicher Seite, dass die Aufarbeitung des Leids der deutschen Heimatvertriebenen zu den besonders drängenden Desideraten der Forschung gehört. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau! Richtig!) Das Hamburger Magazin Der Spiegel, das nicht gerade im Verdacht steht, das Hausblatt des Bundes der Vertriebenen zu sein, hat in diesen Tagen in seiner renommierten Historienreihe eine aktuelle Sonderausgabe zum Thema Vertreibung herausgebracht mit dem Titel: "Die Deutschen im Osten - Auf den Spuren einer verlorenen Zeit". Selbst Spiegel Online widmet sich dem Thema mit einem Beitrag mit dem Titel: "Damals in Ostpreußen". Ich zitiere von Seite 15 dieser Schrift, dass die Deutschen und ihr verlorener Osten ein noch immer nicht erledigtes Kapitel der deutschen Historiografie seien. Tatsächlich bietet die Vertreibung der Deutschen viel Stoff, der es verdient, bewahrt, aufgearbeitet und weitergegeben zu werden, gerade auch an die jüngere Generation. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jede Geschichte von Flucht und Vertreibung ist es wert, dass man sie hört. (Zuruf von der FDP: Richtig!) Das sagt im Übrigen der bekannte polnische Regisseur Jan Klata, dem das Thema sehr am Herzen liegt. Vertreibung, so Klata in der besagten Spiegel-Ausgabe, sei eine Geschichte von einem Menschheitstrauma, das sich täglich wiederholt: in Darfur, im Kosovo, in Bosnien. Ich finde, er hat recht. In der Tat kann man viel erfahren, wenn man sich dem Thema Vertreibung als Bestandteil der eigenen National-identität stellt und mehr über das in Erfahrung bringt, was die Ostgebiete für Deutschland einst bedeutet haben. Ich war zum Beispiel überrascht, im Heft des Spiegels von der deutschen Gemeinde Budakeszi zu erfahren. Budakeszi liegt bei Budapest und ist mir als ungarischer Partner der Stadt Neckarsulm bekannt, der größten Landkreisgemeinde in meinem Wahlkreis. Dass Budakeszi von Deutschen gegründet wurde, von Donau-schwaben, und noch heute viele Deutsche dort leben, darunter auch die Verwandten des hier im Hause nicht ganz unbekannten Grünenpolitikers Joschka Fischer, war mir neu. So lernt man immer dazu. Es gibt viele solche Informationen, die in Vergessenheit geraten sind, aber wiederbelebt werden sollten, weil sie zur Geschichte unseres Volkes gehören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Gute ist: Man kann dieses Wissen unschwer erwerben, wenn man die Forschung hinreichend unterstützt und das Thema Vertreibung ohne ideologische Scheuklappen angeht. Dies tut übrigens seit Jahren der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, zu dessen nach meiner Auffassung nicht geringsten Verdiensten gerechnet werden darf, dass er die jahrzehntelange Verdrängung des Themas Vertreibung als "bodenloses Versäumnis" erkannt hat. Er machte diese Verdrängung mithilfe eines Romans rückgängig und führte so das Thema Flucht und Vertreibung einer breiteren Öffentlichkeit zu. Grass dabei zu unterstützen, das von ihm erkannte und so benannte Versäumnis wiedergutzumachen, ist ein Zweck - und nicht der geringste - unseres Antrags. Nicht mehr und nicht weniger. Damit komme ich zum Schluss und plädiere in diesem Sinne erneut und eindringlich für die Zustimmung zu diesem Antrag. Wenn Sie von der Opposition diese Zustimmung nicht uns zuliebe gewähren wollen, so tun Sie es zumindest aus Respekt vor Günter Grass, der ja, wenn ich richtig informiert bin, seit Jahrzehnten ein engagiertes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist. (Zurufe von der LINKEN) Tun Sie es Ihrem Genossen zuliebe und dokumentieren Sie damit auch, dass Sie nicht zu systematischen Verdrängern und bodenlos Säumigen gehören wollen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse für die Fraktion der SPD. (Beifall bei der SPD) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruchnahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher entsetzt. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber sachlich ist es richtig! - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das können Sie alles nachlesen!) Kollege Strobl, darum geht es auch gar nicht. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Doch!) Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht und Vertreibung geschrieben werden muss und wir uns immer wieder neu mit ihr zu beschäftigen haben. Das ist unbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man das tut. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich, weshalb Sie sich ausgerechnet auf die Charta der deutschen Heimatvertriebenen berufen, wenn Sie doch - so steht es in Ihrem Antrag - Aussöhnung wollen. Die Charta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein zeitgenössisches Dokument, eine Stimme aus dem Jahr 1950. Vertriebene hatten viel Leid erfahren, große Not erduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrer neuen, kalten Heimat angekommen sein. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das sieht Ihr Bundesvorsitzender anders! Als Ministerpräsident hat er das anders gesehen!) So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, die ihn trägt. Die Charta mag zur Integration von Vertriebenen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rachegefühle und Vergeltungsverlangen. Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehrfach darauf hingewiesen - ich finde: sehr treffend -, dass man nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf man einen Anspruch hat. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonnenen Krieg und den von ihnen begangenen Verbrechen keinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf Rache. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch unbestritten!) Darin sind wir uns doch hoffentlich einig. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ja! Hoffentlich! - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Fragen Sie mal Ihren Bundesvorsitzenden!) Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, die heute, denke ich, als falsch erkannt sind und die niemand mehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese - ich zitiere -: Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Welch fatale moralische Anmaßung - als hätte es den Holocaust und zig Millionen Tote des Krieges nicht gegeben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lars Lindemann [FDP]: Das hat niemand gesagt!) Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und dem Abstand von 60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vollem Ernst auf diese Charta zu berufen, sie gewissermaßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch einzuordnen und sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutragen, wie Sie es tun, (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das macht doch gar keiner, Herr Thierse!) das ist weder moralisch noch politisch legitim. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt einen ehrlichen Dialog mit denjenigen voraus, mit denen man sich versöhnen will. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja!) Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbesondere unseren östlichen Nachbarn, nichts weniger als zutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nicht verschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die das bedeutete. Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor 70 Jahren wurden Polen - nur als ein Beispiel - als rassisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavt und entrechtet werden. Die Polen hatten einen längeren Weg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint es wie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heute noch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutschland sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehr die heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenenpolitiker durch zwiespältige Äußerungen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitik zu nehmen, geben Sie sich europäisch. Sie wollen sich, so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintes Europa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhaltbare Aussagen wie diese - ich zitiere wieder aus Ihrem Antrag -: Die Deutschen nehmen Vertreibungen ... mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren. Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Geschehen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv andere Völker vertrieben und unendliches Leid über sie gebracht haben und danach auch selbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte ist immer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung für jeden Fall zu benennen und korrekt einzuordnen, kann es auch kein Verständnis für die Umstände und Folgen geben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine Versöhnung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist das Grundproblem Ihres Antrags. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorieren, versäumen Sie es, das schon Erreichte zu würdigen. Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zunächst die enormen Integrationsleistungen der Bundesrepublik Deutschland - sie gehören zu ihrer Erfolgsgeschichte - und die großen Anstrengungen der Vertrie-benen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ihrer Herkunft bestand weiter. Unvergessen ist - ich nenne nur ein Beispiel -: Als 1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, unterstützten viele, auch Vertriebene, aktiv die Gewerkschaft Solidarnosc. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Im Gegensatz zur SPD! - Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genau! Die haben das damals nicht gemacht!) Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ich aus eigener Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertriebenen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trauernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in der Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zu schweigen. Umso größer ist heute meine Freude über die Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, die uns die Einigung Europas eröffnet hat. Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Einzelnen und der vielen Initiativen ehemals Vertriebener, die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öffentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte in die Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es gegeben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wie viele Partnerschaften und Freundschaften sind entstanden? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurierungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmälern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zur Verständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass für ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit. Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Begegnung, die in den letzten Jahrzehnten eine großartige Entwicklung genommen haben, erweist sich Ihr Antrag schlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der Forderungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wiederhole mich. So muss die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, vorangebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptionelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stiftung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt. Von einem Nachholbedarf bei der Forschung - Sie haben davon gesprochen - kann ebenfalls nicht die Rede sein. Die Bundesregierung hat ein akademisches Förderprogramm zur Erhaltung und Auswertung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt. Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenen Programm nicht erst einmal eine Chance geben? Trauen Sie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung dieses Programms nicht zu? Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht als bundesweiter Gedenktag für die Opfer von Vertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe, selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. Sowohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestagspräsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Gedenktag ausgesprochen. Die beiden haben recht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Koalition, aus Polen ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitaten aus einem gestern erschienenen Kommentar von Professor Dr. Krzysztof Ruchniewicz - er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" - belegen: Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und Angehörige anderer Nationen, die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und ermordet wurden, stellt das Dokument - die Charta - keine Grundlage für eine Versöhnung dar. Weiter: Es überrascht, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrer Verkündung so einseitig und reflexionslos betrachten können. Weiter: Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ... ist kein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die 1965 erschienene Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der im gleichen Jahr erschienene polnische Bischofsbrief an ihre deutschen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung." Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitisch das völlig falsche Signal. Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseiteschieben. Professor Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er ist ein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen Anstrengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibung und die Leiden und Opfer dieses Unrechts. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die Raison d'Être der Bundesrepublik Deutschland war und bleibt es, den demokratischen Staat, unseren demokratischen Staat, seine politische Praxis und seine politische Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheit zu begreifen. Das ist unser gemeinsames politisches Fundament, unser gemeinsames moralisches Fundament. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gewählt. Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt: Unsere, der Deutschen Sensibilität für die Leiden und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche andere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser doppelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhafte moralische Verpflichtung. Genau diesen, den entscheidenden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falsch und überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Lars Lindemann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lars Lindemann (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute ein für viele sehr emotionales Thema. Kaum war der Antrag eingeführt - ich erinnere mich an unsere Ausschussdebatte -, gab es nicht nur entrüstete Gesichter, sondern schwand vor allem auf den Oppositionsbänken die Fähigkeit, zuzuhören. Ich nehme sehr wohl wahr, dass das heute anders ist. Ich denke, wir haben genügend Grund, die Sache mit etwas mehr Bedacht zu diskutieren und uns gegenseitig zuzugestehen, dass wir alle lautere Motive haben, wenn wir das hier besprechen. Im Antrag der Koalition wird der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965 zitiert; Herr Thierse hat das eben auch getan. Darin heißt es: "Wir vergeben und bitten um Vergebung". Um Vergebung kann man für sich aber nur bitten, wenn man selbst bereit war und es auch bleibt, über die eigene Schuld offen zu sprechen, nicht zu leugnen und aufrichtig und glaubhaft auf denjenigen zuzugehen, an dem man sich vergangen hat. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben die katholischen Bischöfe ja getan!) Dies hat Deutschland getan. Wir alle als deutsche Parlamentarier stehen dafür ein, dass es Teil der Staatsräson ist und bleibt, dass wir zu der Schuld stehen, die im Namen unseres Volkes durch die Nationalsozialisten auf uns geladen wurde. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutschland hat aufrichtig um Vergebung gebeten. Ich erinnere hier an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Wir alle kennen das Bild, das hier gemeint ist. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das war aber nicht der Bund der Vertriebenen!) Wir setzen uns mit diesem Thema sehr bewusst auseinander, und Deutschland ist so heute ein für seine Aufrichtigkeit und Leistungen geachtetes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Durch diese unsere Einstellung - das will ich hier für meine Fraktion ganz ausdrücklich und ganz deutlich sagen - nehmen wir die eigene, bis in die meinige Generation hineinwirkende Vertreibungserfahrung von uns Deutschen als zentrales Element mit in die weiteren Bemühungen um die Versöhnung auf und geben wir dieser Erfahrung einen entsprechenden Platz, wie es im Antrag der Koalition geschehen ist. Die Vertreibungen beispielsweise aus Polen und Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg dürfen von den Betroffenen als Unrecht empfunden werden. All diejenigen, die den Verlust an Heimat zu beklagen haben, was an sich schon schlimm genug ist, oder die Gewalt gegen sich oder Angehörige ihrer Familie ertragen mussten, habe eine ganz persönliche Erfahrung, die in den Fokus der Überlegungen der Regierungskoalition gerückt wurde. Durch einen solchen Ansatz wird nicht relativiert, sondern versucht, die Erfahrungen der Betroffenen und eben nicht die Emotionen, die einige hier mit einbringen, aufzunehmen und verantwortungsvoll in die Überlegungen zu der weiteren Arbeit der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" nach innen und nach außen einzubeziehen. Darum werbe ich um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Luc Jochimsen für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten zusammen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und das von Ihnen! - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sagt die Linke!) Das habe ich am 16. Dezember vorigen Jahres hier an dieser Stelle gesagt. Dem habe ich heute nichts hinzuzufügen (Beifall bei der LINKEN) außer dem Bedauern, dass es der gesamten Opposition seitdem nicht gelungen ist, die Koalitionsfraktionen davon zu überzeugen, diesen Antrag zurückzunehmen. Keine Analyse, kein Appell, keine Kritik von Fachleuten hat irgendetwas genutzt. Das ist sehr zu bedauern. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Eine ordentliche Diskussion kann doch geführt werden!) So entsteht mit der heutigen Abstimmung über den Antrag, den Sie mit Ihrer Mehrheit kalt durchsetzen werden, großer Schaden für unser Parlament und seine Wirkung nach innen wie nach außen. Ja, Sie schädigen mit diesem Antrag das Ansehen dieses Hohen Hauses. Davon bin ich fest überzeugt. (Beifall bei der LINKEN) Allein mit Ihrem Ansinnen - das vertreten Sie in Ihrem Antrag -, dass sich anlässlich des 60. Jahrestages der Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenen der Deutsche Bundestag zu eigen machen soll, diese Charta als Gründungsdokument der Bundesrepublik zu betrachten, schädigen Sie das Ansehen des Parlaments. Die Fraktion Die Linke wird nie und nimmer in diesem Dokument ein Gründungsdokument der Bundesrepublik sehen. (Beifall bei der LINKEN) Sie schädigen das Ansehen des Parlaments auch mit Ihrem Ansinnen, den 5. August zum bundesweiten Gedenktag zu erheben, den Tag also, an dem die Charta vor 60 Jahren veröffentlicht wurde. Mitverfasser und Unterzeichner dieses Dokuments waren Rudolf Wagner, SS-Obersturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Paris, Belgrad und der besetzten Sowjetunion, SS-Sturmbannführer von Witzleben, Franz Hamm, Fraktionsführer des Blocks der deutschen NS-Reichstagsmitglieder Ungarns, Angehöriger der deutschen Volksgruppenführung, die im Sommer 1944 die Vernichtungsaktion an über 400 000 ungarischen Juden unterstützte und deren Eigentum mit verteilte, Alfred Gille, SA-Scharführer, Gebietskommissar in der Ukraine, SS-Hauptsturmführer Waldemar Kraft, Rudolf Lodgman von Auen, Mitbegründer der radikal antisemitischen Deutschen Nationalpartei in der CSR, der 1960 einen flammenden Protest gegen den Menschenraub an Adolf Eichmann auf argentinischem Boden und den Prozess in Israel veröffentlichte, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich! - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Tolle Vorbilder!) Axel de Fries, Umsiedlerfunktionär in Westpolen, Kreislandwirt und Sonderführer bei der Partisanenbekämpfung in Weißrussland. Wissen Sie das nicht, oder lässt Sie das tatsächlich völlig gleichgültig, dass das die Mitverfasser und Unterzeichner dieses Dokuments sind, zu dem Sie von uns im Jahr 2011 die Zustimmung dieses demokratischen Parlaments verlangen? Lässt Sie das völlig gleichgültig, oder sind Sie einfach unwissend? In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieses Parlament der Charta und ihren Verfassern Zustimmung im Namen der Aussöhnung ausspricht. Das nenne ich einen Skandal. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) "Es kann keine Aussöhnung geben, die auf einem ‚Verzicht auf Rache' beruht. Das ist völlig undenkbar." Dies schrieb gestern Professor Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wroclaw - Vizepräsident Thierse hat ihn vorhin schon zitiert - in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau. Am Ende der Charta heißt es: Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. Auch das ist schon zitiert worden. Hier wird die ganze Verkehrung der Geschichte und der Beginn einer gigantischen deutschen Opferzählung nach 1945 deutlich: Nicht mehr die 25 Millionen toten Sowjetbürger, nicht die 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, nein, die Heimatvertriebenen sind die vom "Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen". (Patrick Döring [FDP]: Verzerrte Darstellung!) Eine solche Form der Verkehrung von historischer Dimension, der Relativierung deutscher Schuld und der Verkehrung von Ursachen und Folgen war und ist typisch für die Geschichte der Vertriebenenverbände. Dass Union und FDP eine solche Geschichtssicht noch heute als verbindlich vom Bundestag preisen lassen wollen, ist ungeheuerlich. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Eltern, 1900 und 1901 geboren, haben Hitler nicht gewählt, waren nie Parteimitglieder, waren nicht dabei, als die deutschen Massenverbrechen an Juden, Polen, Tschechen, Slowaken und Russen verübt wurden. Aber in einer Bombennacht 1943 in Düsseldorf verloren sie ihr ganzes Hab und Gut. Meine Mutter und wir Kinder erlitten schwere Phosphorverbrennungen. Den Rest des Krieges erlebten wir in einer Notwohnung in Frankfurt: frierend, hungernd, in Todesangst. Nie wäre meinen Eltern in den Sinn gekommen, sie hätten ein Recht auf Rache und Vergeltung, auf das sie großmütig verzichten könnten - 1945 nicht, 1950 nicht, zu keiner Zeit. Wenn Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, an Aussöhnung wirklich gelegen ist, an Aussöhnung der Deutschen mit den Deutschen, an Aussöhnung mit all den Nachbarvölkern, dann ziehen Sie diesen Antrag zurück. Es ist noch nicht zu spät. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit in dieser Debatte geht nicht um die Frage, ob wir das Schicksal der Heimatvertriebenen anerkennen. Dieser Streit geht auch nicht um die Frage, ob wir die Geschichte der Vertreibung in ihrem historischen Kontext aufarbeiten wollen. Dieser Streit geht im Kern um die Frage, ob wir als Deutscher Bundestag uns auf das Dokument der Charta der Heimatvertriebenen positiv beziehen und das Ganze auch noch dadurch unterstreichen, dass wir den Tag ihrer Unterzeichnung zum Gedenktag der Bundesrepublik Deutschland machen. Dazu sage ich Nein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es das noch nicht gegeben, dass ein Antrag, in dem die Einführung eines Gedenktages verlangt wird, im Deutschen Bundestag mit knapper Koalitionsmehrheit durchgeprügelt wird. Der vorliegende Antrag enthält erst einmal nur einen Prüfauftrag. (Zuruf von der FDP: Eben!) Leider ist das Außenministerium auf der Regierungsbank nicht mehr vertreten; ansonsten hätte ich Frau Pieper gebeten, mit der FDP dafür zu sorgen, dass die Partei von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher verhindert, dass wir unsere osteuropäischen Nachbarn, die ehemaligen Kriegsgegner, die uns die Hand zur Versöhnung gereicht haben, einem solchen Affront aussetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Frau Steinbach, Krzysztof Ruchniewicz, Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" - der BdV hat sie durch eine Gesetzesänderung von der Bundesrepublik Deutschland praktisch gekapert -, schreibt Ihnen meines Erachtens sehr sensibel ins Stammbuch, wie man die Charta in ihrer Genese und in ihrem Sinngehalt verstehen kann. Er nennt sie das "Produkt einer traumatisierten Gruppe". Er schreibt: Relativierend kann man sagen, dass die Charta ein Kind ihrer Zeit war, das Produkt einer traumatisierten Gruppe, die sich bemühte, die eigene Lebenswelt neu aufzubauen, wobei sie sich in den Mythos des unschuldigen Opfers flüchtete. Aus diesem Grund wurde in den in diesen Kreisen geschriebenen Büchern und Materialien über die alte Heimat die Zeit des Nationalsozialismus fast völlig ausgeblendet. Man kann das historisch und psychologisch nachvollziehen, muss es aber nicht gutheißen. Gegenüber der historisch verständlichen Genese müssen wir nicht verurteilend auftreten. Wir können verstehen, woher diese Menschen kamen, dass sie sich neu zurechtfinden wollten und dass sie sich auch mit ihrer eigenen Genese ein bisschen selbst betrogen haben. Aber wir als Deutscher Bundestag können uns das nicht zu eigen machen - heute, über 60 Jahre danach, nach allem, was wir darüber wissen, was von deutscher Hand in den besetzen Gebieten, in den überfallenen Ländern und in unserem eigenen Land gegenüber vielen Opfern des Nationalsozialismus verbrochen wurde. Das darf nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir haben deshalb einen Änderungsantrag gestellt. Darin ist der ganze Feststellungsteil mit seiner ganzen historischen Wirrnis und Klitterung gestrichen. Wir beziehen uns auf die entsprechenden Forderungen zur historischen Aufarbeitung und zum Gedenken - ich meine, da müssen wir wirklich Klartext reden -, wenn wir feststellen: Über einen Gedenktag kann man mit uns reden; aber der 5. August kommt nicht infrage, weil das eine Akklamation der Aussagen der Charta der Vertriebenen bedeuten würde. Es würde anerkannt, dass die Vertriebenen diejenigen waren, die am meisten in dieser Zeit gelitten haben, dass man großzügig auf das Recht verzichtet, Vergeltung zu üben. Das sind Aussagen, die sich der Deutsche Bundestag nicht zu eigen machen darf, auch wenn er über ein solches Gedenken konstruktiv nachdenkt. Nehmen Sie diese Geste der Anerkenntnis als Ermahnung entgegen, hier nicht mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Warum nehmen wir als Gedenktag nicht den 20. Juni, den Weltflüchtlingstag? Die UN-Vollversammlung hat den 60. Jahrestag der Schaffung des Amtes des UNHCR zum Anlass genommen, diesen Tag zum Weltflüchtlingstag zu proklamieren. Der UNHCR ist für Vertriebene und Flüchtlinge gleichermaßen zuständig. Damit würden wir ein Zeichen setzen, dass wir die Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern wollen, dass wir denjenigen vergeben, die auch Deutschen gegenüber Unrecht verübt haben, und dass wir aus der Geschichte die Lehre ziehen, dass wir als Deutsche eine besondere Verantwortung für Vertriebene und Flüchtlinge haben, die es auf dieser Welt immer noch gibt, zum Beispiel in Darfur, im Kosovo und in anderen Gegenden dieser Erde. Wenn Sie sich von der Koalition mit so großer Verve gegen Vertreibung und Verfolgung, die zu Flucht führt, engagieren, dann ist es für uns umso unverständlicher, dass Sie noch immer die Aufnahme von weiteren iranischen Flüchtlingen aus der Türkei blockieren, dass Sie weiterhin Roma aus dem Kosovo abschieben lassen und dass Sie sogar traumatisierten Flüchtlingen einen jahrelangen schwierigen Prozess um die Anerkennung als Verfolgte aufbürden. Wenn es Ihnen mit dem ernst ist, was Sie hier so großspurig behaupten, nämlich dass wir angesichts unserer Geschichte besonders sensibilisiert sind, dann sind diese Fragen der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit Ihrer Aussage. Diese Ernsthaftigkeit kann ich leider nicht erkennen. Vielleicht führen aber die Überlegungen, wie wir dieses Thema historisch angemessen bearbeiten und wie wir dieses Themas angemessen gedenken, dazu, dass sich in unserer Gesellschaft etwas produktiv verändert. Ich bin durchaus für eine Ausstellung zum Thema Vertreibung. Allerdings bin ich dafür, sie auf andere Füße zu stellen. Zum einen sollte das ganze Haus mit seinen Gremien daran beteiligt werden. Zum anderen sollte der Einfluss des BdV zurückgefahren und dafür gesorgt werden, dass historische Wahrhaftigkeit und die Einordnung der Schicksale in den historischen Kontext auch dort Platz greifen kann. Ich möchte Ihnen als Kind einer Vertriebenenfamilie etwas erzählen. Das, was der polnische Wissenschaftler, der dem Wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" angehört, gesagt hat, ist wahr; das kenne ich aus der Geschichte meiner eigenen Familie. Meine Großeltern sind nach dem Ersten Weltkrieg aus Slowenien ins Sudetenland vertrieben worden. Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie - ich stamme aus einer österreichischen Offiziersfamilie - aus dem Sudetenland vertrieben. In unserer Familiengeschichte gab es die Sage, dass es mit den Tschechen vor dem Krieg irgendwie ganz schwierig war. Gleichzeitig hatte mein Großvater dem tschechischen Staat gegenüber das Angebot ausgeschlagen, als General in der tschechischen Armee zu dienen. So schlimm kann es mit der Diskriminierung der Deutschen im Vielvölkerstaat der Tschechoslowakei nicht gewesen sein. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Na, na, na!) Angeblich war auch niemand Nazi, niemand in der Sudetendeutschen Partei. Als ich kürzlich beim Umzug meiner Mutter Unterlagen aufgeräumt habe, habe ich herausgefunden, dass ein Teil der Narration der Geschichte unvollständig war: Natürlich war mein Vater in der Sudetendeutschen Partei. Als er 1939 ins Reich gegangen ist, war er auch Mitglied im Nationalsozialistischen Kraftfahrerbund. Er war zwar kein engagierter Nazi, kein SS-Offizier wie die Unterzeichner der Charta der Heimatvertriebenen; trotzdem hat man sich in die Tasche gelogen, wie man sich vor der Vertreibung gegenüber den ehemaligen tschechischen und slowakischen Nachbarn gebärdet hat, wie man sich politisch positioniert hat und dass man als österreichische Minderheit im tschechoslowakischen Staat nicht bereit war, sich zu integrieren und an diesem gemeinsamen Staat mitzuwirken, weil man in der Minderheit war. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, denken Sie an die Zeit. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese Geschichten - nicht nur das schwere Schicksal der Vertreibung, das nach diesem Kapitel folgte - müssen in einer solchen Ausstellung, wenn sie Wahrhaftigkeit und Aufarbeitung befördern soll, ebenfalls erzählt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus Brähmig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Klaus Brähmig (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer in diesen Tagen nach wahrer Versöhnung sucht, sollte nicht in ein Fernsehstudio nach Hamburg fahren, sondern das Edith-Stein-Haus in Breslau besuchen. Wer in der schlesischen Geburtsstadt von Teresia Benedicta vom Kreuz die Geschichte der heiliggesprochenen Ordensschwester studiert, erfährt, dass die Patronin Europas eine Frau war, die vorbildlich im Hinblick auf Versöhnung war. Das Geheimnis der Versöhnung heißt nämlich nicht Abrechnung, sondern Erinnerung. Das Thema "Flucht und Vertreibung" muss im 21. Jahrhundert in einen größeren, mitteleuropäischen Zusammenhang gestellt werden. Die deutschen Heimatvertriebenen leisten an der Basis echte Versöhnungsarbeit. Ich verweise nur auf zwei bemerkenswerte Beispiele. Zum einen fand im letzten Jahr das erste deutsch-polnische Heimattreffen in Kolberg statt. Zum anderen bedauerte der rumänische Innenminister auf dem Heimattag der Siebenbürger Sachsen 2010 die Aussiedlung der deutschen Minderheit und kündigte neue Beziehungen an. Hinter der Brückenfunktion steht eben keine leere Formel, sondern die Chance zu wahrer Aussöhnung. Nur aus der positiven Bewältigung der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte erwächst gegenseitiges Verständnis, aus dem sich vielleicht sogar ein Mehr an europäischer Solidarität ergibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Angesichts der aktuellen Entwicklung in Minsk und Kiew könnte ein neuer Zusammenhalt in Mitteleuropa eines Tages von zentraler Bedeutung sein. Das Thema des Antrags ist deshalb für Deutschland wie für Europa von großem Gewicht. Um die teils hysterische Debatte wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen, sind ein paar grundsätzliche reflektierende Äußerungen angebracht. Der Zweite Weltkrieg stellt bis heute den größten und verheerendsten Konflikt in der Menschheit dar. Tatsache ist - das findet sich im vorliegenden Antrag wieder -, dass die deutsche Kriegsschuld außer Frage steht - Punkt. Diesem Satz darf kein Aber folgen; sonst wäre er tatsächlich, lieber Kollege Thierse, ein Alibisatz. Neben dem jährlichen Holocaustgedenktag, der in diesem Hohen Haus stets begangen wird, gibt es laut einer Dokumentation der Bundeszentrale für politische Bildung bundesweit über 2 000 NS-Gedenkstätten, die täglich von Hunderten Schulklassen und Zigtausenden Besuchern besichtigt werden. Dieses Faktum widerlegt als konkretes Beispiel den diffusen Vorwurf, es gebe hierzulande Tendenzen, sich jetzt als Opfervolk zu stilisieren. Es gibt keine solche Geschichtspolitik, und Christdemokraten wie Liberale weisen dies mit aller Entschiedenheit zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kein Land weltweit hat sich mit seiner jüngsten Vergangenheit und Geschichte so intensiv auseinandergesetzt, wie wir es getan haben und wie wir es auch zukünftig tun werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer außerdem allen Ernstes eine neue Kollektivschulddebatte vom Zaun bricht, zeugt nicht gerade von Klugheit und Weitsicht. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!) Sollte sich dahinter schieres Misstrauen verbergen, hätte man tatsächlich nichts aus dem Kalten Krieg gelernt. Wohl aber gilt es, den Eindruck zu vermeiden, von den massenhaften Gräueln des Zweiten Weltkriegs seien lediglich zwei Gruppen, Juden und Deutsche, betroffen gewesen. Deshalb haben wir in unserem Antrag ausdrücklich festgehalten, dass mit Gedenkvorhaben des Bundes in Berlin auch die Aufgabe verbunden sein muss, an die Vertreibung von über 1 Million Polen aus den damaligen polnischen Ostgebieten und Hunderttausender Ukrainer im Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen Westverschiebung Polens zu erinnern. Bei allem Respekt vor berechtigter Kritik - ich habe alle Reden der ersten Lesung und die Wortbeiträge des Kulturausschusses gründlich analysiert -: Dabei ist die Opposition deutlich über das Ziel hinausgeschossen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!) Ich habe den Eindruck, Sie haben das Kernanliegen unseres Antrags nicht einmal ansatzweise erfasst. Ja, die Stuttgarter Charta ist ein Zeitdokument, dessen Sprache uns heute fremd erscheint und dessen Entstehung man aus den damaligen Umständen erklären muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dies ist nach wie vor eine Forschungslücke. Aber Sie verbeißen sich in der Textkritik, anstatt die historische Bedeutung des Dokuments zu erkennen, die gerade in der Absage an radikale Kräfte und in der Eigenverpflichtung zur Integration liegt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den SS-Leuten?) Natürlich erwähnt niemand von Ihnen das im Antrag wiedergegebene Zitat des ehemaligen Bundesinnenministers Schily. Er räumte auf dem Tag der Heimat 1999 in Berlin offen ein, dass die politische Linke zeitweise über die Vertreibungsverbrechen und das Leid der Vertriebenen hinweggesehen habe. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Oder ist Otto Schily nicht mehr Mitglied der SPD? Anstatt einen konstruktiven Beitrag zu leisten, hängen Sie sich lieber mit blindem Eifer an Personalien auf, die in dem Antrag überhaupt nicht zur Disposition stehen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht ein Mal kritisch reflektiert!) Weder haben Sie sich die Mühe gemacht, einen eigenen Antrag zu entwerfen, noch ist es Ihnen eingefallen, eine ausgewogene wissenschaftliche Befassung mit der Charta anzuregen. Meine Damen und Herren, es ist schon im persönlichen Bereich oft schwer genug, sich auszusöhnen. Wie soll da Versöhnung zwischen Völkern möglich sein, wenn es um millionenfaches Leid auf beiden Seiten geht? Muss es uns nicht wie ein Wunder anmuten, dass wir Deutsche gerade in den Ländern, in denen der Zweite Weltkrieg am Schlimmsten gewütet hat, heutzutage wieder freundlich aufgenommen werden? Das letzte Kapitel dieses Krieges ist jedoch noch nicht abgeschlossen, und dessen Aufarbeitung darf von unserer Nation nicht unterschätzt werden. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie die Aufarbeitung, oder meinen Sie das Kapitel selbst?) So wie der damalige Umzug der Regierung nach Berlin dazu diente, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, zielt unser Antrag zum Thema "Flucht und Vertreibung" in erster Linie auf die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst. Die nationale Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrieges muss endlich von der gesamten Gesellschaft als Teil der deutschen Geschichte begriffen werden. Daher ist ein Zeichen der Verbundenheit, ein nationaler Gedenktag mit den Vertriebenen und deren Nachkommen, notwendig, um die Versöhnung zu vollenden. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck? Klaus Brähmig (CDU/CSU): Nein. - Dies ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges, die wir ruhig, aber beharrlich angehen und auch meistern werden. An dieser Stelle danke ich meinen Kollegen Patrick Kurth und Wolfgang Börnsen besonders herzlich für die vertrauensvolle und ausgezeichnete Zusammenarbeit. Wir haben nicht nur in dieser Legislaturperiode gemeinsam noch viel vor. Meine Bitte ist: Stimmen Sie diesem Antrag zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Beck das Wort. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Brähmig, Sie haben mich gerade mit einer Aussage in Ihrer Rede etwas stutzen lassen. Sie haben gesagt, das Kapitel des Zweiten Weltkrieges sei nicht abgeschlossen. (Brigitte Zypries [SPD]: Genau!) Meinten Sie die Aufarbeitung, oder wollten Sie damit offene Rechtsfragen ansprechen, die sozusagen noch der Klärung bedürfen? Ich finde es wichtig, dass wir in dieser Debatte wissen, auf welcher Grundlage wir reden. Oder sehen Sie es wie Frau Steinbach, dass wir im Osten eine Grenze haben, die eigentlich nicht unsere Zustimmung finden sollte? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Brähmig, Sie haben Gelegenheit zur Antwort. - Keine Reaktion. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er möchte die Frage offenlassen! - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Antwort, das spricht für sich!) Dann erteile ich dem Kollegen Patrick Kurth für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Präsident! Ich bin dankbar dafür, dass Sie, Herr Thierse, heute hier reden konnten, obwohl Sie Dienst haben. Ich habe es bedauert, dass Sie beim letzten Mal nicht reden konnten. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie tief ist die FDP gesunken, diesen Antrag mitzutragen! Was würden Genscher und Scheel dazu sagen? Das ist unglaublich! Das ist peinlich!) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Jochimsen, die Vertriebenen haben sich nach dem Krieg Gott sei Dank nicht so benommen wie die SED nach der Wende. Sie verklären und relativieren die Geschichte, Sie drehen die Historie um. Das haben die Vertriebenen nicht getan. (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat denn keiner in den Antrag gesehen?) Keine Organisation in der Geschichte der Bundesrepublik hat derart die Geschichte verklärt, Verbrechen vertuscht, Gewalt verharmlost oder sich eines unanständigen Revanchismus und Relativismus bedient, wie Sie es getan haben. Sie haben kein Recht, so zu reden, (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Doch, das habe ich sehr wohl! - Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist die FDP! Sie verwehrt uns das Recht zu reden!) erst recht nicht, da in der jüngeren Geschichte Dr. Gregor Gysi von Ihrer Partei beim letzten Vertreibungsdiktator, Herrn Milosevic, in Serbien war und ihm den Hof gemacht hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Unfug!) Herr Beck, ich möchte kurz darauf hinweisen: Die Namen, die Sie nennen, sind verabscheuungswürdig. Das ist so. Aber mehr als zwei Drittel der Vertriebenen waren Frauen und Kinder. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. Das müssen Sie, wenn es um Fragen von Schuld und Ähnlichem geht, mit berücksichtigen. Ich hatte schon beim letzten Mal das Gefühl und habe es dieses Mal wieder, dass Sie hier einen persönlichen Igel bürsten wollen und dazu die Plenardebatte des Deutschen Bundestages nutzen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch unanständig!) Das können Sie zwar auf persönlichem Wege machen, aber nicht im Deutschen Bundestag angesichts eines solchen Themas. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jochimsen? Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Ja, bitte. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie mir absprechen, hier im Parlament das Wort ergreifen zu können? Ich möchte in diesem Zusammenhang - obwohl es eigentlich überflüssig ist - darauf hinweisen, dass ich nie Bürgerin der DDR war. Ich gehöre auch nicht zur Familie des früheren Präsidenten Milosevic. Ich sage das, weil Sie beides erwähnt haben. Aufgrund welcher Tatsachen wollen Sie mir das Recht absprechen, hier im Bundestag zu reden? (Zuruf von der CDU/CSU: Auch wenn Sie nicht in der DDR gelebt haben, Deutsche sind wir alle!) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Sie können über das Thema reden, aber ob Sie dabei die moralische Keule schwingen können, ist eine andere Frage. Angesichts der Tatsache, dass ein ehemaliger Vorsitzender Ihrer Partei bei Milosevic Hof gehalten hat, müssen Sie sich schon fragen, ob das in Ordnung war und ob Sie hier so reden können. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!) Außerdem: Ihre Vorsitzende hat eine Debatte losgetreten - in dieser Woche hat sie übrigens nachgelegt -, indem sie sinngemäß sagte, dass der Kommunismus von Stalin, Mao und Pol Pot nichts, aber auch gar nichts mit dem Kommunismus in der Theorie zu tun hat. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das hat mit dem Thema heute nichts zu tun!) Wenn Stalin nun nicht mehr als Kommunist durchgeht, dann rate ich Ihnen, sich mit den Stalinisten in Ihrer Partei zu unterhalten, was die davon halten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie können darüber reden - wir haben Sie auch ungestört reden lassen -, aber ich spreche Ihnen ab, die moralische Keule zu schwingen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein erbärmliches Niveau, Herr Kollege!) Der Zeitgeist bei der jüngeren Generation - darauf möchte ich verweisen - ist ein anderer als der, den Sie hier unterstellen. Es gibt ein neues und frisches Interesse an Geschichte. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Geschichtsklitterung! - Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Unglaublich!) Es gibt ein neues und frisches Interesse auch an den Gebieten. Es gibt einen intensiven Austausch mit Polen und Tschechien, der sehr gefragt ist, und es gibt entsprechende Literatur, zahlreiche Romane; Günter Grass wurde erwähnt. Das hat nichts mit irgendwelchen Trachtenzeiten oder Funktionärsinteressen zu tun. Es gibt bei den jungen Leuten ein unbefangenes Verhältnis, auf das man aufbauen möchte. Im Gegensatz dazu betreten Sie ausgetretene Pfade. Auch in der Diskussion werden die alten Fronten sichtbar. Sie machen den entscheidenden Fehler, die Charta als rückwärtsgewandtes Dokument zu sehen, das nur um der Aufarbeitung des Krieges willen geschrieben worden ist. Aus meiner Sicht ist es das nicht. Vor allen Dingen im Jahr 2011 kann man das so nicht sehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Charta war und ist wegweisend und der Zukunft zugewandt. Sie spricht von einem geeinten Europa. Sie spricht von der Ächtung der Vertreibung weltweit. Dass Vertreibung nach wie vor aktuelle und traurige Realität ist, das mag doch niemand bestreiten. Es wäre wünschenswert, dass sich die Vertriebenen, die es weltweit gibt, so verhalten würden wie die deutschen Vertriebenen. Das wäre ein gutes Zeichen. Das ist die Strahlkraft der Charta. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck? Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Bitte schön. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Offensichtlich halten Sie alle Oppositionsredner in dieser Debatte für unehrlich. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP - Sebastian Blumenthal [FDP]: Wann ist das denn gesagt worden?) - Das hat er mir gegenüber zum Ausdruck gebracht und auch gegenüber der Kollegin Jochimsen. Aber vielleicht kann er das klarstellen. (Zuruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]) - Herr Strobl, ich habe jetzt das Wort. Ich möchte eine Frage stellen. (Sebastian Blumenthal [FDP]: Es geht nicht immer um Sie!) - Herr Präsident, ich rede, sobald ich das Ohr des Hauses habe. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Beck, einfach durchhalten! Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin da ganz gelassen. (Lachen bei Abgeordneten der FDP) Wir haben vorhin aus einem Artikel der Frankfurter Rundschau zitiert. Es ging um einen Beitrag eines Mitglieds des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Dieser stellt eindeutig klar, wie die Charta und die Bezugnahme des Bundestages auf diese Charta in Polen verstanden wird. Mir ist auch schon zu Ohren gekommen, dass es in der polnischen Regierung bereits Irritationen darüber gibt, was heute hier beschlossen werden soll. Halten Sie ein solches Signal an Polen, an Tschechien, an die Slowakei wirklich für außenpolitisch angemessen? Sie von der FDP stellen den Außenminister. Sind Sie ernsthaft der Ansicht, dass die alle - wie wir in der Opposition - zu blöd sind, die Charta historisch richtig einzuordnen? Sie sollten einmal darüber nachdenken, welche eindeutige Botschaft die Charta für unsere Nachbarn hat: die Relativierung der deutschen Verbrechen und das Dramatisieren und Singularisieren des Leidens der deutschen Heimatvertriebenen. Das muss doch auch Ihnen als Liberale zu denken geben. Das vermute ich zumindest, wenn ich an die FDP von früher denke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Beck, ich weise mit aller Entschiedenheit zurück, dass ich - oder jemand anders aus der Regierungskoalition - der Opposition oder irgendjemandem in diesem Hause abspreche, sich hier äußern zu dürfen, oder dass ich jemandem unterstelle - Ihre Worte -, gänzlich blöd zu sein; (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben Sie vorhin gerade getan! Das war der Einstieg Ihrer Rede!) im Gegenteil. Ich weise aber darauf hin, dass einige hier sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie die moralische Keule schwingen. Ich sage Ihnen, dass das Dokument, die Charta, im Zeitzusammenhang gesehen werden muss. Damals war es so, dass alle Parteien erklärten - ich will eigentlich gar keine Namen nennen; Otto Grotewohl sprach von der Amputation des deutschen Reichsgebietes; denken Sie auch an Kurt Schumacher! -, dass man sich so mit dieser Abtrennung nicht abfinden werde. Inhaltlich stütze ich das überhaupt nicht; es ist überhaupt nicht mehr Komment. Es ist völlig klar, dass das heute niemand mehr in irgendeiner Weise unterstützen würde. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Warum feiert man die Charta dann?) Die Charta ist in einer Zeit entstanden, in der man überall hörte, auch von alliierter Seite: Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die polnische Reaktion! - Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das müssen Sie den Polen erklären!) Die Charta ist wegweisend und sagt: Wir als Betroffene mischen uns dort nicht ein. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!) Wir verzichten darauf. Wir überlassen diese politische Auseinandersetzung denen, die Politik machen. Nach dieser Charta werden wir das so nicht mitmachen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn! "Nationaler Gedenktag", deutlicher kann man sich nicht festlegen! - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich habe nach der Reaktion aus Polen gefragt!) Wenn wir an andere Gebiete heute denken, erkennen wir: Es wäre wirklich wichtig, dass Opfer sich in dieser Weise äußern. Es geht dabei nicht darum, Schuld auf sich zu nehmen, sondern um die Notwendigkeit, zu einer Einigung zu kommen. Zu den Reaktionen in Polen kann ich Ihnen sagen: Hier ist alle Vorsicht geboten. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jämmerlich für eine liberale Partei!) Irgendjemand hatte gefragt, warum der Charta-Antrag so spät kam. Wir haben auf alle möglichen internationalen Notwendigkeiten Rücksicht genommen. Wir haben sehr intensiv und lange daran gearbeitet. (Iris Gleicke [SPD]: Sie wissen, dass das Murks ist, und tragen das trotzdem hier vor!) Ich kann Ihnen auch sagen, dass es nicht nur die Regierungsfraktionen waren, die daran mitgearbeitet haben. Ich versichere Ihnen, dass es hier ausschließlich darum geht, die Charta in ihrer internationalen Verhältnismäßigkeit zu sehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sebastian Blumenthal [FDP]) Ich könnte das folgende Thema natürlich mit in die Beantwortung der Frage nehmen, aber ich will darauf verzichten. (Brigitte Zypries [SPD]: Ist nicht die Redezeit um?) Thema Gedenktag. Das ist ein Punkt, über den man sich im Moment streitet. Damit das hier ganz klar ist: Ein Gedenktag für Vertreibungen gilt nach unserer Vorstellung für alle Vertreibungen. Die Fokussierung auf die Vertreibung der Deutschen wäre wieder ein Rückgriff auf die Vergangenheit. Wir schauen nach vorn, und wir haben auch die Vertreibungen im Blick, die seit jener Zeit geschehen sind. Für uns gilt: Es geht um Vertreibungen, unabhängig von Ort, Zeit oder Umständen. Ähnlich ist es beim Thema Gedenkstätte. Es werden zum Teil Ängste geschürt, dass hier eine Gedenkstätte nur für die deutschen Opfer entstehen soll. Ich sage deutlich: Das ist falsch. Es soll über eine Gedenkmöglichkeit in der Dokumentationsstätte nachgedacht werden, die aber nicht nur für die deutschen Opfer da ist; nein, es geht - da wiederhole ich mich gern und so oft, wie Sie möchten - um Vertreibungen weltweit. Thema Rache. Ähnlich ist das mit der Begrifflichkeit des Wortes "Rache". Niemand hat das Recht auf Rache. Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg und für alle Seiten. Das ist ein Leitgedanke, der bei den aktuellen Konflikten heute viel zu selten eine Rolle spielt. Ich sage dazu auch deutlich: Verbrechen der Deutschen rechtfertigen nicht Verbrechen an Deutschen, aber Verbrechen der Deutschen werden eben auch nicht kleiner durch die Verbrechen an Deutschen. Schuld und Leid, das ist immer individuell. Ich möchte zusammenfassen: Wir sorgen mit dem Antrag dafür, dass die junge Generation diesem Thema gegenüber weiterhin aufgeschlossen bleibt, ohne ideologische Verblendungen, und dass über dieses Thema offen gesprochen wird - nach allen Seiten. Das ist notwendig. Wir tun das nicht nur, damit sich die Leute erinnern können, sondern auch - das ist das Entscheidende -, damit sie urteilsfähig bleiben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Man muss urteilsfähig bleiben, egal ob es das eigene Land oder eine andere Region betrifft. Wir wollen die internationale Aufgabe. Wir wollen nichts verklären. Es geht darum, dass wir friedlich mit unseren Nachbarn zusammenleben und über alles das reden, was in der Vergangenheit über uns gekommen ist - positiv, negativ. Ich bedanke mich recht herzlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Stephan Mayer für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Lassen Sie mich mit drei Zitaten beginnen. Das erste Zitat: 12 Millionen Vertriebene gründen keine militanten Freikorps, die sich an den Gefühlen der Gekränkten und Zukurzgekommenen mästen. Sie gründen auch keine Untergrundarmee. Sie wurden nicht zum sozialen Sprengstoff - wie Stalin es wollte -, sondern sie verzichteten früh auf Rache und wurden damit zu etwas wie sozialem Sauerteig. Sie beginnen sich Stück für Stück aus den Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den glücklicheren Einheimischen zu befreien, ringen denen einen Lastenausgleich ab, schlucken den Groll über die Alltagsdemütigungen herunter, vertrauen auf ihre eigene Kraft und werden damit zum eigentlichen Motor einer gewaltigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung ihrer ganzen Umgebung. Das zweite Zitat: Umso beeindruckender liest sich auch aus heutiger Perspektive die Charta, welche die deutschen Heimatvertriebenen gleichsam als ihr "Grundgesetz" verfassten. Unter Punkt eins heißt es da: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung." Und zweitens: "Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können." Ich denke, diesem Ziel sind wir heute - jedenfalls auf dem größeren Teil unseres Kontinents - näher als jemals in der Vergangenheit. Und nun das dritte Zitat: Alle, die in unserem Land leben - die Jungen und die Älteren, Frauen und Männer, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Deutsche und Ausländer, Vertreterinnen und Vertreter aus Bildung, Kirche, Kultur, Medien, Politik, Sport, Verbänden, Vereinen und Wissenschaft - haben daran mitgewirkt. An einem Deutschland mit Chancen für alle. An einem menschlichen und toleranten Deutschland. Die Charta der Heimatvertriebenen hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Diese Zitate stammen nicht von Vertretern des Bundes der Vertriebenen, sie stammen auch nicht von Vertretern der CDU, der CSU oder der FDP, diese drei Zitate stammen in der Folge von Frau Dr. Antje Vollmer, die damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war, vom Altbundeskanzler Gerhard Schröder aus dem September 2000 und vom derzeitigen Parteivorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, damals in seiner Funktion als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mich beschwert und traurig macht, ist nicht, wie Professor Ruchniewicz gestern in der Frankfurter Rundschau geschrieben hat, dass unser Antrag ein "Rückfall in Zeiten des Kalten Kriegs" sei, was mich wirklich traurig stimmt, ist, dass die Beiträge der Opposition einen Rückfall in Zeiten darstellen, von denen ich eigentlich glaubte, dass sie schon überwunden seien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte deshalb dringend an Sie appellieren: Besinnen Sie sich wieder der Auffassung und der Positionen, (Iris Gleicke [SPD]: Besinnen wäre angebracht! Besonders bei Ihnen!) die führende Vertreter Ihrer Parteien schon einmal vor mehreren Jahren vertreten haben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch einmal unseren Änderungsantrag! Was reden Sie an der Sache vorbei!) Man muss doch gar kein Anhänger und vielleicht auch gar kein Freund des Bundes der Vertriebenen sein, um anzuerkennen, dass die Charta der Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 ein historisch herausragendes Dokument ist, ein singuläres Dokument, ein Akt der Selbstüberwindung, wie es die Präsidentin des BdV, die Kollegin Erika Steinbach, genannt hat. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besonders wenn man sich die Autoren anschaut! - Weitere Zurufe des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und von der LINKEN) Ich möchte auch in aller Deutlichkeit betonen, dass wir uns davor hüten sollten, uns zu überheben - ich spreche da auch ganz bewusst den Herrn Kollegen Thierse an -, indem wir die Charta der Heimatvertriebenen jetzt, 60 Jahre später, hier im wohltemperierten Plenarsaal des Bundestages losgelöst von ihrem historischen Kontext bewerten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Charta der Heimatvertriebenen wurde verabschiedet von leidenden, gedemütigten, traumatisierten Menschen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wurde unterzeichnet von einer Phalanx von SS-Offizieren! Die anderen konnten doch nur noch zustimmen! Das ist doch Geschichtsklitterung!) Damals, 1950, lebten 49,5 Prozent der Heimatvertriebenen in Westdeutschland noch in Lagern, (Jan Korte [DIE LINKE]: SS-Offiziere als Opfer, oder was?) 34 Prozent der Heimatvertriebenen lebten in Notunterkünften. Ich bitte Sie wirklich eindringlich, dieses historisch herausragende Dokument, ein Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland, als das es der Bundestagspräsident bezeichnet hat, wirklich im historischen Kontext zu betrachten. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie das Grundgesetz?) Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, ich glaube wirklich, dass wir einen Fehler machen würden, wenn wir behaupten, man hätte den einen oder anderen Satz in der Charta anders formulieren können. Die Heimatvertriebenen konnten doch gar nicht auf Rache und Vergeltung verzichten, weil sie rechtlich gar keinen Anspruch darauf hatten. Die Charta der Heimatvertriebenen war kein rechtliches Gutachten. Sie war auch keine historische Abhandlung. Deswegen ist der Vorwurf verfehlt, zu sagen, die Heimatvertriebenen hätten in der Charta historisch plausibel zu wenig auf die Ursachen der Vertreibung Rücksicht genommen und seien zu wenig darauf eingegangen. Nein, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, alle Deutschen - egal ob sie Vertriebene sind oder nicht, egal ob sie einen Vertriebenenhintergrund haben oder nicht - können auf diese Charta stolz sein, (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der LINKEN: Nein!) und zwar ohne Schaum vor dem Mund und ohne Ideologie. Sie ist ein Zeichen der Kraft, der Zuversicht und der Aufbruchsstimmung. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Korte von der Fraktion Die Linke? Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr gerne. Jan Korte (DIE LINKE): Sehr geehrter Kollege Mayer, ich möchte auf die Frage zurückkommen - Sie haben sie gerade angesprochen -, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist. Möchten Sie wirklich behaupten, dass die von der Kollegin Jochimsen vorhin detailliert genannten ehemaligen Mitglieder der SS - das waren zum Teil ranghohe SS-Offiziere - Opfer gewesen sind? Ist das ernsthaft Ihre Position? Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Herr Kollege Korte, ich möchte eines in aller Deutlichkeit festhalten: Die Tatsache, ob jemand vertrieben wurde oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ihm persönliche Schuld nachgesagt werden kann oder nicht. (Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP]) Es sind Menschen vertrieben worden, die in das nationalsozialistische Unrechtsregime mit eingebunden waren. Es sind aber weitaus mehr - millionenfach - Menschen vertrieben worden, die vollkommen unschuldig waren. Herr Kollege Korte, der Umstand, ob man vertrieben wurde oder nicht, war nur darauf zurückzuführen, wo man lebte. Das war also ein zufälliger Aspekt. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: 60 Prozent Frauen und Kinder!) Viele Menschen in Westdeutschland, die vielleicht selbst große Schuld an den grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus gehabt haben, sind nicht vertrieben worden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Zweiten Weltkrieg sind aber weitaus mehr Menschen vertrieben worden, die vollkommen unschuldig waren. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden gerade über die Charta!) Deren Schicksal zu gedenken, dafür sind wir nach wie vor in vollem Umfang verantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Charta war und ist ein herausragendes Dokument, das für die weitere Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wegweisend war. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Von der SS unterzeichnete Papiere! Das ist nachgewiesen!) Wie schon erwähnt: Darauf können wir alle sehr stolz sein. Die Integrationsleistung von 12 Millionen Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist aus meiner Sicht eine der größten gesellschaftspolitischen Leistungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig!) Wir Deutsche haben den Auftrag, den wir nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen haben, meines Erachtens sehr stringent und auch sehr behände angenommen und auf politischer Seite dann 1952 mit dem Lastenausgleichsgesetz und 1953 mit dem Bundesvertriebenengesetz entsprechend begleitet. Ich finde, diesem historischen Dokument sind wir nach wie vor verantwortlich. Deswegen ist es richtig, dass der 5. August endlich zum nationalen Gedenktag erhoben wird, um dem schrecklichen Schicksal von 12 Millionen Heimatvertriebenen und 3 Millionen Menschen, die bei der Flucht ums Leben gekommen sind, weiterhin dauerhaft zu gedenken und um in die Zukunft gerichtet als Mahnung zu dienen. Damit wollen wir erreichen, dass sich Derartiges in Deutschland, aber auch auf dem ganzen Globus nie mehr wiederholt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) In diesem Sinne möchte ich abschließend dringend an Sie alle appellieren. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der Opposition darf ich die Haltung des früheren Bundesinnenministers Otto Schily, seines Zeichens SPD-Mitglied, in Erinnerung rufen, der 1999 selbstkritisch eingeräumt hat, dass es insbesondere aufseiten der Linken in Deutschland über Jahrzehnte hinweg eine Verharmlosung und eine Verniedlichung des Schicksals der Heimatvertriebenen gegeben hat. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Erika Steinbach. (Iris Gleicke [SPD]: Uns bleibt aber auch nichts erspart!) Erika Steinbach (CDU/CSU): Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Manches an den Beiträgen von der linken Seite war schon erschütternd; das muss ich wirklich sagen. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Vielleicht für Sie!) Ein Teil der Deutschen hat aufgrund des Wohnortes eine Kollektivstrafe über sich ergehen lassen müssen, obwohl sie an den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht mehr und nicht weniger schuld gewesen sind als ein Hamburger, ein Berliner oder ein Münchner. Obwohl - so sagt man - die "Hauptstadt der Bewegung" München gewesen ist, sind die Münchner nicht vertrieben worden. Die Deutschen, die in Ost- und Mitteleuropa gelebt haben, sind kollektiv einer Strafe unterzogen worden, die sie nicht mehr und nicht weniger als alle anderen verdient haben, nämlich gar nicht. Vertreibung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keiner hat die Vertreibung gelobt!) Jetzt muss man eines hinzufügen. Es wird immer gesagt, dass in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen steht: Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Es gibt kein Recht auf Rache und Vergeltung; aber in ganz vielen Menschen gibt es ein Gefühl, das auf Rache und Vergeltung beruht. Ich hätte mir gewünscht, dass jemand wie der frühere Außenminister Fischer - er hat in seinen Straßenkämpferzeiten Arafat, einen gewalttätigen Menschen, der Rache für das Schicksal der Palästinenser geübt hat, besucht - das Thema einmal anders betrachtet hätte. In der Charta kommt eine innere Überzeugung zum Ausdruck: Wir wollen das Gefühl der Rache nicht zulassen; wir wollen unseren Schicksalsgefährten mit auf den Weg geben, dass dieses Gefühl in uns nicht wachsen darf; wir wollen den Weg des Friedens, der Versöhnung und des Miteinanders gehen; wir wollen Europa in Frieden mit aufbauen, damit die Völker versöhnt miteinander leben können. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wo bleiben eigentlich die Opfer? - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können sie tun, indem sie sich auf das Grundgesetz beziehen! Da ist es geregelt!) Mit der Art und Weise, wie Sie heute überheblich auf all das schauen, was sich damals in den Menschen abgespielt hat, blenden Sie aus, dass die Verabschiedung eines solchen Dokuments in der damaligen Situation eine übermenschliche Handlung war: acht- und zehnjährige Jungen hatten erlebt, wie ihre Mütter vergewaltigt wurden; Frauen hatten gesehen, wie ihre Kinder erschlagen wurden; (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Wo bleiben eigentlich die Bombenopfer in den Großstädten?) viele haben noch 1955 hier in Berlin, im Gasometer, zu sechst auf 6 Quadratmetern gelebt, ohne Fenster, ohne alles. Das heute auszublenden, zeugt von wenig Mitgefühl für diejenigen, die ein Sonderschicksal erlitten haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel "60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4651, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck-sache 17/4193 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Grünen auf Drucksache 17/4693? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4651? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei gestalten - Drucksachen 17/3433, 17/4659 - Berichterstattung: Abgeordneter Sebastian Körber Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Gero Storjohann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der Ausschussberatung befassen wir uns heute abschließend mit dem Antrag der Linken "Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei gestalten". (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Guter Antrag!) - Ja. - Dieser Antrag, den wir schon im Ausschuss beraten haben, macht deutlich, dass die Linken in Deutschland bezüglich der Wohnungspolitik kein kompetenter Gesprächspartner sind. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wie kann man denn so einen Quatsch sagen?) Der Antrag zeigt, dass die Linke die tatsächliche Entwicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt vollkommen ignoriert. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 2 Prozent barrierefrei! Spitzenmäßig!) Wir Abgeordnete können den Wohnungsmarkt bei uns sehr wohl mit dem Wohnungsmarkt in anderen europäischen Ländern vergleichen. Ich finde, der Wohnungsmarkt in Deutschland ist vorbildlich. Dieser Antrag ist realitätsfremd und unsachlich. Ich möchte nur einen Punkt herausgreifen. In dem Antrag steht: Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Lieber nicht!) Diese Aussage ist durchweg falsch. Mir ist es wichtig, dass wir ein realistisches Bild von der Wohnungsmarktsituation in Deutschland zeichnen und die falschen Behauptungen der Linken korrigieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das Wichtigste vorweg: Die Wohnraumversorgung in Deutschland ist gut. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Über Wohnen hätten wir gestern in der Aktuellen Stunde sprechen können!) 2006 gab es in Deutschland 39,6 Millionen Wohnungen. Ich freue mich schon auf die Wohnraumerfassung; denn dann werden wir aktuellere Daten haben. Von diesen 39,6 Millionen Wohnungen waren knapp 24 Millionen Wohnungen Mietwohnungen. Das geht aus dem Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft des Bundesbauministeriums hervor. Von diesen 39,6 Millionen Wohnungen standen 2006 3,1 Millionen Wohnungen leer. Das sind 8 Prozent des kompletten Wohnungsbestandes. Selbstverständlich existieren regionale Unterschiede bei der Wohnraumversorgung. Dennoch haben wir keinen Wohnraummangel. Der Wohnungsmarkt entwickelt sich stabil. Das gilt auch für die Mietpreise. Die Nettomieten sind zwischen 1997 und 2007 jährlich um durchschnittlich 1,1 Prozent gestiegen. Die durchschnittliche Preissteigerungsrate in diesen Jahren lag mit 1,5 Prozent deutlich höher. Die von den Linken beschworene dramatische Preissteigerung bei den Mieten hat es nicht gegeben. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wo leben Sie denn?) - Und wo leben Sie? Ich spreche von den Nettomieten. Zwischen brutto und netto sollten Sie unterscheiden können. Das zu vertauschen, haben früher schon andere versucht. Auch die Linke sollte Statistiken zur Kenntnis nehmen. Richtig ist, dass der Wohnungsmarkt sich selbstverständlich geänderten Rahmenbedingungen anpassen muss. In einer sozialen Marktwirtschaft wird er das auch tun. In Deutschland ist ein Trend eindeutig feststellbar: Mehr und mehr Menschen zieht es in die Städte und in die Ballungsräume. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass die Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum weiter abnimmt. Insbesondere in den neuen Bundesländern ist diese Entwicklung deutlich spürbar. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu reagieren. In einer älter werdenden Gesellschaft müssen außerdem mehr Wohnungen barrierefrei ausgestaltet werden. Deshalb hat das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung das KfW-Programm "Altersgerecht Umbauen" aufgelegt. Hierdurch schaffen wir von der Politik Anreize zum barrierefreien Ausbau bestehender Wohnungen. Gleichzeitig müssen wir die CO2-Einsparpotenziale des Wohnungsbereichs möglichst optimal ausnutzen. Durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist es gelungen, in den Jahren 2006 bis 2008 rund 800 000 Wohnungen energetisch zu sanieren. Auch hier sind wir auf einem richtigen und guten Weg. Politisch wird das begleitet. Es wäre schön, wenn das auch ohne Anreizsysteme, aufgrund von Überzeugungen klappen würde. Grundsätzlich muss gewährleistet sein, dass alle Menschen in unserem Land, auch die sozial Schwächeren, angemessen und menschenwürdig wohnen können. In diesem Zusammenhang möchte ich das Wohngeld als gut funktionierendes Instrument herausstellen. Mithilfe des Wohngeldes können auch einkommensschwache Haushalte in einer angemessenen und familiengerechten Wohnung leben. Das Wohngeld wirkt dabei sehr zielgerichtet. Seine Höhe bemisst sich sowohl nach den regionalen Gegebenheiten am jeweiligen Wohnungsmarkt als auch nach den individuellen Bedürfnissen des Wohngeldempfängers. Es ist das flexible und treffsichere Instrument der Wohnungspolitik. (Sören Bartol [SPD]: Deswegen hättet ihr es aber nicht kürzen müssen!) Das sind nur einige der Maßnahmen, mit denen wir einen zunehmend barrierefreien, umweltfreundlichen und sozial ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutschland anregen. Vieles, was die Linke in ihrem Antrag fordert, ist bereits heute gängige Praxis. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was denn zum Beispiel?) Nun zur Forderung der Linken, ein Grundrecht auf Wohnen gesetzlich zu verankern. Das Sozialstaatsprinzip unseres Grundgesetzes verpflichtet den Staat bereits jetzt, die Versorgung der Bevölkerung mit angemessenem Wohnraum sicherzustellen. Der Staat hat die Aufgabe, Obdachlosigkeit, Wohnungsmangel und menschenunwürdiges Wohnen zu bekämpfen. Die Zahlen beweisen, dass diese Bundesregierung und frühere Bundesregierungen diese Aufgabe stets gut erfüllt haben. Ein von den Linken gefordertes in der Verfassung verankertes Grundrecht auf Wohnen würde an der Lebenswirklichkeit überhaupt nichts ändern. Wir als christlich-liberale Koalition sehen es stattdessen als unsere Aufgabe an, unseren ausgewogenen Wohnungsmarkt weiter zu optimieren. Dies wird insbesondere durch wohldosierte Neuregelungen im Mietrecht gelingen. Unser Mietrecht ist seit jeher Garant sozial ausgewogenen Wohnens in Deutschland. Das deutsche Mietrecht hatte stets beides im Blick, die Interessen der Vermieter, die natürlich ein Interesse an der Wirtschaftlichkeit ihrer Investition haben, und den Schutz der Mieter. Mietern und Vermietern sollte also über das Mietrecht die Möglichkeit gegeben werden, einen angemessenen Vertrag zu schließen, sodass beide wissen, woran sie sind, damit sie eine gute Investitionsentscheidung oder die Entscheidung treffen können, in diesem Haus zur Miete zu leben. CDU/CSU und FDP werden die Ausgewogenheit des deutschen Mietrechts weiter erhöhen. Insbesondere im Bereich der energetischen Sanierung sind Anpassungen dringend notwendig. Im Sinne des Klimaschutzes wollen wir verstärkt Anreize zur energetischen Sanierung schaffen. Gleichzeitig haben die Mieter ein berechtigtes Interesse daran, dass ihre Wohnsituation nicht über Gebühr durch Sanierungsmaßnahmen belastet wird. Auch hierbei streben wir eine sachgerechte Lösung an. Einen Rechtsanspruch auf die Durchführung energetischer Sanierungen, wie ihn die Linke fordert, lehnen wir strikt ab. CDU und CSU sind Mietern und Vermietern gleichermaßen verbunden. Wir suchen nach dem wunderbaren Mittelweg. Meine Damen und Herren, meine Kollegen werden weitere Aspekte dieses Antrags in die Debatte einführen. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Ausschuss noch über das Mietnomadentum debattieren werden. (Sören Bartol [SPD]: Die gibt es nicht! - Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 400 Mietnomaden! - Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) - Sie haben das wunderbar gelesen. Sie haben auch gelesen, dass das keine statistische Grundgesamtheit war, sondern dass das Fälle waren, anhand derer das Mietnomadentum in Deutschland untersucht wurde. Ich halte es für wichtig, dass wir uns dieser Problematik widmen und dass wir Vermieter vor solchen Fällen schützen. Das werden wir noch intensiv tun. (Sören Bartol [SPD]: Finger weg vom Mietrecht!) Grundsätzlich ist festzustellen, dass wir einen ausgewogenen Wohnungsmarkt in Deutschland haben. Dass das so ist, dafür ist allen Bundesregierungen der Vergangenheit zu danken. Wir bitten, der Beschlussempfehlung des Ausschusses zuzustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Bartol hat für die SPD-Fraktion das Wort. Sören Bartol (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Großen und Ganzen haben wir in Deutschland einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Das ist gut so; denn angemessener Wohnraum in einem lebenswerten Umfeld ist ein Grundbedürfnis, für dessen Befriedigung wir uns immer eingesetzt haben. Das ist eine zentrale Motivation sozialdemokratischer Bau-, Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik. Der Wohnungsmarkt stellt sich regional aber sehr unterschiedlich dar. Darauf weisen Sie zu Recht hin, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Leerstände in bestimmten Gebieten stehen steigenden Mieten zum Beispiel in Ballungszentren gegenüber. Es gibt also durchaus Herausforderungen, die es anzupacken gilt. Doch leider wird der vorliegende Antrag der Linksfraktion uns bei diesen Aufgaben überhaupt nicht voranbringen. Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlich machen. Erstens. Wohnungslosigkeit war Ende vergangenen Jahres Thema hier im Plenum. Wir sind gerade dabei, uns auf Berichterstatterebene intensiv damit zu beschäftigen. Ich finde es übrigens toll, dass sich die zuständigen Abgeordneten aus allen Fraktionen daran beteiligen. Wir werden uns morgen mit Experten treffen und darüber beraten, welche Maßnahmen auf Bundesebene vielleicht sinnvoll sein könnten. Wohnungslosigkeit konnten wir bisher zum Beispiel über Mietrecht und Wohngeld ganz gut begegnen. Die quantitative Entwicklung der Wohnungslosigkeit in den letzten 20 Jahren ist sehr positiv. Für Wohnraumpolitik sind seit der Föderalismusreform hauptsächlich die Länder zuständig. In einigen Landesverfassungen ist ein Grundrecht auf Wohnen verankert. Deshalb stellt sich die Frage, ob uns eine besondere bundesgesetzliche Regelung, wie sie die Linksfraktion fordert, an dieser Stelle wirklich weiterbringen würde. Die Länder bekommen für die soziale Wohnraumförderung Geld aus dem Bundeshaushalt. Hier haben wir einen Hebel, um den Wohnungsmarkt positiv zu beeinflussen. Ich fordere die Regierung auf, sicherzustellen, dass die Länder die Mittel sinnvoll einsetzen. (Patrick Döring [FDP]: Fangen wir damit mal in Berlin an!) Über 500 Millionen Euro pro Jahr sind kein Pappenstiel. Bei derartigen Beträgen ist eine strenge Erfolgskontrolle, lieber Kollege Döring, sehr wichtig. Zweitens. Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag eine deutliche Ausweitung des Wohngelds. Niemand, der unterdurchschnittlich verdient, solle mehr als 30 Prozent seines Einkommens für seine Wohnung, für Miete, Heizung, Wasser und Nebenkosten, ausgeben müssen. Der Rest soll vom Staat übernommen werden. Nun hat Schwarz-Gelb das Wohngeld gerade erst gekürzt. Die Heizkostenkomponente, lieber Kollege Storjohann, ist gerade abgeschafft worden. Sie war 2009 auf Betreiben der SPD eingeführt worden. Lieber Herr Kollege, als Sie von der Sinnhaftigkeit des Wohngeldes gesprochen haben, hätten Sie vielleicht kurz erwähnen sollen, dass es ein großer Fehler war, die Heizkostenkomponente abzuschaffen. (Beifall bei der SPD) Das Wohngeld kräftig aufzustocken, steht also leider im Moment nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr müssen wir gemeinsam versuchen, mühsam Erreichtes zu verteidigen und Abgeschafftes wieder einzufordern. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, ist - wie so oft in sozialpolitischen Angelegenheiten - leider völlig unrealistisch und in keiner Weise durchsetzbar. Die Kosten für Haushaltsenergie werden mittelfristig immer weiter steigen. Daran kann niemand ernsthaft zweifeln. So ist zum Beispiel Heizöl in den knapp zwei Jahren seit der Einführung der Heizkostenkomponente um über 20 Prozent teurer geworden. Die Regierung lässt Einkommensschwache, für die steigende Heizkosten besonders schwer zu verkraften sind, völlig alleine. So werden die Menschen in Arbeitslosengeld-II-Bezug und in die Grundsicherung gedrängt. Das ist zurzeit die Entwicklung. Eine solche Politik wird dafür sorgen, dass sich Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Wohngeld ist mehr als eine soziale Transferleistung, es trägt auch zu ausgewogenen Bevölkerungsstrukturen in den Stadtteilen und damit zur Lebendigkeit und Attraktivität der Städte bei. (Beifall des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD]) Schwarz-Gelb betreibt nicht nur unsoziale Rotstiftpolitik zulasten von Einkommensschwachen, Rentnern und Alleinerziehenden, sondern verschärft auch die soziale Spaltung in den Städten. Wir fordern von der Regierung, das Wohngeld als zielgerichtetes Instrument für eine angemessene Wohnraumversorgung wieder zu stärken. Die Einbeziehung der Heizkosten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Drittes und letztes Beispiel: die Städtebauförderung. Ich freue mich, dass wir von der Opposition uns darin einig sind, dass die Kürzungen der Mittel für die Städtebauförderung und insbesondere der Mittel für das Programm "Soziale Stadt" nicht hinnehmbar sind. Gemeinsam mit dem gerade gegründeten "Bündnis für eine Soziale Stadt" werden wir dafür eintreten, dass diese Kürzungen im Haushalt 2012 zurückgenommen werden. Dort, wo die Länder das Ausfallen der Bundesmittel für Gebiete der "Sozialen Stadt" nicht kompensieren - Berlin und Nordrhein-Westfalen tun dies -, sind viele Stadtteilprojekte ohne Zukunftsperspektiven. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihrer Verantwortung für eine sozial ausgewogene Entwicklung der Städte und Gemeinden wieder gerecht zu werden. (Beifall bei der SPD - Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, Herr Staatssekretär!) Die Forderung der Linken nach einer Zusammenlegung der Städtebauförderungsmittel in einem Topf halte ich für nicht hilfreich. (Patrick Döring [FDP]: Das könnte fast von mir sein!) Steuerungsmöglichkeiten des Bundes bei programmatischen Schwerpunktsetzungen und einen expliziten Problembezug der einzelnen Programme möchte ich nicht aufgeben. Die bisherige differenzierte Programmstruktur hat sich bewährt und sollte aufgrund der programmbegleitenden Evaluation im Dialog mit den Ländern, den Kommunen und den an der Programmumsetzung Beteiligten fortentwickelt werden. Im Oktober letzten Jahres fand die erste Lesung dieses Antrags statt. Ich kann mich nur an sehr wenige Anträge erinnern, die so kurzfristig vor der entsprechenden Plenarsitzung verteilt wurden. Anscheinend haben Sie ihn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, erst im letzten Moment fertiggestellt. Ich muss es leider sagen: Er wirkt an vielen Stellen wie mit der heißen Nadel gestrickt. (Jan Korte [DIE LINKE]: Alles geplant!) Unter dem Strich kann man sagen: Die Linksfraktion macht mit diesem Antrag eine ganze Reihe von Fässern auf, beschränkt die Begründung aber leider immer auf ein paar Sätze. So ist ihr Antrag keine Grundlage für eine zielführende Debatte. Das ist schade; denn angesichts der unökologischen und unsozialen Wohnungspolitik dieser Bundesregierung wären es einige Aspekte sicher wert gewesen, sich ernsthafter mit ihnen zu befassen. Wir brauchen eine gut ausgestattete Städtebauförderung, die sich nicht auf die Finanzierung von Beton beschränkt. Wir brauchen mehr energetisch sanierte Wohnungen, um sinnvolle Klimaschutzziele zu erreichen. Dabei muss unter anderem die Politik dafür sorgen, dass das Wohnen in den Innenstädten auch für Menschen mit kleinem Einkommen bezahlbar bleibt. Schwarz-Gelb macht bei all dem das Gegenteil. Die Regierung kürzt die Mittel und beschränkt so die Städtebauförderung, sie streicht die Mittel für die CO2-Gebäudesanierung zusammen, sie stellt Wohngeldempfänger schlechter, und - das haben wir gerade vom Kollegen Storjohann gehört - sie plant eine Mietrechtsnovelle, die die Rechte der Mieterinnen und Mieter noch weiter einschränken soll. (Christian Ahrendt [FDP]: Woher wissen Sie das denn?) Gegen diese Entwicklung stellt sich die SPD-Bundestagsfraktion. Ich würde mich freuen, wenn sich auch die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion auf vernünftige Art und Weise daran beteiligen würden. (Beifall bei der SPD - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir sind immer vernünftig!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Müller hat für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Petra Müller (Aachen) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema "Wohnen in Deutschland". Ich muss ganz ehrlich sagen: Etwas Zielführendes konnte ich, als ich den Antrag das erste Mal gelesen habe, nicht unbedingt erkennen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Linken. Ich glaube, wir sollten uns mit diesem Thema beschäftigen, weil dem Hohen Haus und uns allen bewusst ist, welch große Bedeutung das Thema "Wohnen in Deutschland" hat. Wir in der christlich-liberalen Koalition tun das mit unserer Politik der Städtebauförderung, (Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit sozialem Ausgleich, oder wie ist das? Das haben Sie vergessen!) des Wohngeldes, der CO2-Gebäudesanierung und der sozialen Wohnraumförderung. (Sören Bartol [SPD]: Der Hotels!) - Ich wusste noch gar nicht, dass Sie im Hotel wohnen, Herr Bartol. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Haben Sie denn wenigstens auch etwas davon, dass die Mehrwertsteuer für die Hotellerie gesenkt wurde? (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Eben nicht! Weil die Preise gar nicht runtergegangen sind! Der Lobbyismus bleibt an einem kleben, und das zu Recht! - Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Gewinne haben sich erhöht, die Zimmerpreise sind aber gleich geblieben!) Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, zu Ihrem Antrag. Darin beschreiben Sie, dass die Bundesregierung, alle wichtigen Fachverbände und der Fachausschuss unseres Hauses - ich zitiere - "ein weitgehend zutreffendes Bild der Situation des deutschen Wohnungsmarktes" zeichnen. Diese Bundesregierung und die Fachverbände, so schreiben Sie weiter, gehen davon aus, dass die Wohnungsversorgung in Deutschland gut ist. So weit, so gut. Nur einen Absatz weiter kommen Sie in Ihrem Antrag aber zu der absurden Behauptung - Zitat -: Nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland existiert ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Das meinen wir ernst!) Ich muss ehrlich sagen: Damit verblüffen Sie mich. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Mich verblüfft, was Sie dazu sagen!) Einerseits sagen Sie: Alle Beteiligten zeichnen ein zutreffendes Bild. Andererseits sagen Sie: Nirgendwo gibt es ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohnraum. Ich muss Sie wirklich fragen: Was wollen Sie eigentlich? (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Bedarfsgerechten Wohnraum!) Ich muss Sie noch etwas fragen: Ist das Ihre scharfsinnige Analyse des deutschen Wohnungsmarktes, auf der Sie Ihre politischen Forderungen aufbauen? Dann kann ich nur eines sagen: Das ist eine sehr ideologisch durchsetzte und untermauerte Analyse. (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Damit kennt ihr euch aus!) Die Versorgung mit Wohnraum in der Bundesrepublik Deutschland ist seit Jahren grundsätzlich sichergestellt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Für die natürlichen regionalen Unterschiede auf dem Wohnungsmarkt machen Sie die Immobilienbranche verantwortlich. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das sind ja Ihre Kumpel!) Die Immobilienbranche, zu der vorwiegend kleine und mittlere Unternehmen sowie Einzeleigentümer gehören, ist also Ihrer Meinung nach daran schuld. Richtig ist natürlich, dass es regionale Unterschiede gibt. In einigen Regionen gibt es ein Überangebot, und in den megaurbanen Ballungsräumen ist die Angebotslage ausbaufähig. Der Markt reguliert das von ganz alleine, (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, ja!) durch Angebot und Nachfrage. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, genau!) Sie aber fordern ein Diktat aus Berlin. Sie fordern indirekt sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist Marktideologie, was Sie da erzählen!) Was Menschen zu tun oder zu lassen haben, was Menschen denken oder nicht denken und bauen oder nicht bauen, das ist ihre eigene freie Entscheidung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Jan Korte [DIE LINKE]: Wie kann man nur so ideologisch sein? Ich verstehe so etwas nicht! Das ist unfassbar! - Gegenruf des Abg. Christian Ahrendt [FDP]: Herr Korte, lassen Sie sich das mal von Frau Müller erklären!) - Ich kann auch schreien. Wir leben in einer freiheitlich-sozialen Marktwirtschaft. Eigentum ist in diesem Land ein geschütztes Gut. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und es verpflichtet!) Jeder hat das Recht, seine Lebensziele zu bestimmen, seine Chancen zu suchen und zu nutzen. (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Die Betonung liegt auf "jeder"!) - Ja, jeder. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja! Nicht nur FDP-Wähler! Das ist der Unterschied! - Gegenruf von der CDU/CSU: So ein Blödsinn!) Die Immobilienwirtschaft, die hier ein wenig an den Pranger gestellt wird, ist von großer Bedeutung für die Volkswirtschaft. Rund eine halbe Million Erwerbstätige arbeitet in der Immobilienwirtschaft. Deshalb müssen wir kleine und mittlere Unternehmen, die privaten Eigentümer, die kommunalen und die gewerblichen Wohnungsbaugesellschaften unterstützen. Die unternehmerische Freiheit durch ein ideologisches Korsett einzuengen, kann nicht unser Anliegen sein. (Jan Korte [DIE LINKE]: Wie bei den Finanzmärkten!) Deutschland ist ein Mieterland. (Jan Korte [DIE LINKE]: Super Analyse!) Sechs von zehn Deutschen leben in einer Mietwohnung. (Sören Bartol [SPD]: Umso wichtiger, dass man nicht am Mietrecht rumfummelt!) Ziel muss es daher sein - und das war immer unser Anliegen -, die Wohneigentumsquote zu erhöhen. (Zurufe von der LINKEN) Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam die Bedeutung des Wohneigentums betont; denn es stärkt die regionale Verbundenheit und ist traditionelle Altersvorsorge. Das nenne ich bürgerliche Politik. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist keine Tradition! Das haben Sie gerade selber gesagt!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, was Sie vorschlagen, ist ein ganzer Katalog an Forderungen - mal sind es Forderungen, die in die Länderhoheit fallen, mal sind es Forderungen, die in der kommunalen Verantwortung liegen, und mal ist die Bundesebene zuständig. Ehrlich gesagt, so etwas ist Schaufensterpolitik. (Jan Korte [DIE LINKE]: Die FDP ist nur für die Villen zuständig!) Ich gehe auf die Punkte ein. Fakt ist - und da sind wir uns wahrscheinlich alle einig -: Die Gesellschaft wird älter. Wir erleben den demografischen Wandel. Wir möchten, dass ältere Menschen lange und selbstbestimmt in ihren eigenen vier Wänden, in ihren eigenen Wohnungen und in ihrem Quartier leben können. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nicht lange, sondern bis zuletzt!) Das ist es, was wir unterstützen. Wir unterstützen das mit dem KfW-Programm "Altersgerecht Umbauen". Wir unterstützen auch die Verbesserung der Energieeffizienz; diese steht bei uns ganz oben auf der Agenda. Mit dem Energieeffizienzgesetz ist es uns das erste Mal gelungen, die Finanzierung der Förderung alternativer Energien sicherzustellen, und wir reagieren mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Beide Maßnahmen setzen Investitionsanreize. Das ist ganz wichtig für die deutsche Wirtschaft, für die Eigentümer, für die Nutzer. Beide Programme sind überaus erfolgreich. Vielleicht noch ein Punkt - es wurde gerade angesprochen -: die Ausgleichszahlungen an die Länder. Diese belaufen sich auf 518 Millionen Euro; das ist richtig. 518 Millionen Euro werden für soziale Wohnraumförderung eingesetzt. Gefördert wird die Barrierereduzierung im Bestand. Gefördert wird Modernisierung. Gefördert werden Alten- und Pflegeheime und selbstverständlich auch der Neubau. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städtebau ist vielschichtig. Er muss differenziert betrachtet werden: nach Region und Eigentümerstruktur, nach ökonomischen und ökologischen Erfordernissen und natürlich nach sozialen Belangen. Genau das tun wir, und zwar zielführend und erfolgreich über die Städtebauförderung und KfW-Programme. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie fordern eine bedarfsgerechte Versorgung der Menschen mit Wohnraum. Sie stellen eingangs Ihres Antrags fest, dass die Wohnungsversorgung gut ist. Der Meinung sind wir auch, weil wir das leisten, und zwar durch ein soziales Mietrecht, durch Wohngeld, durch Wohnraumförderung der Länder. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das zeigt, wie sachlich wir argumentieren!) Was Sie fordern, ist ein Diktat aus Berlin. (Zurufe von der LINKEN: Nö!) Deshalb sagen wir Nein zu Ihrem Antrag. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Jan Korte [DIE LINKE]: Es sprach die villenpolitische Sprecherin! Einfach unfassbar!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Bluhm für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Jan Korte [DIE LINKE]: Jetzt kommt mal Substanz!) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen vor allem der Koalitionsfraktionen! Was wir von Ihnen immer wieder hören, ist Folgendes: Hartz IV ist gut. Die Wirtschaft ist gut. Auch der Wohnungsmarkt ist gut. Alles ist gut. - Sie haben die Möglichkeit, hier immer wieder zu verkünden: Alles, was Sie machen, ist gut. - Es gibt Gott sei Dank die Opposition, die Ihnen zeigt, dass es auch eine Kehrseite Ihrer Politik gibt, und das will ich hier heute versuchen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eines der Kernanliegen der Linken ist es, die sozialen Bedürfnisse der Menschen zu sozialen Rechten zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Die Realität sieht aber anders aus: Wohnungen werden immer mehr zur gewöhnlichen Handelsware - mittlerweile auch auf dem internationalen Parkett. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) Immobilien machen heute - und auch das sagt der Wohnungsbericht - mit rund 86 Prozent den herausragenden Anteil am deutschen Anlagevermögen, also nicht am Sozialvermögen des Staates, sondern am Anlagevermögen der Bürgerinnen und Bürger, aus. Die Regierungen der letzten 20 Jahre haben diesen Trend mit ihrer Politik stets befördert: mit Sonderabschreibungen für Anleger, mit der Förderung privaten Wohnungsbaus, durch die der soziale Wohnungsbau verdrängt wurde, oder gar mit der Riester-Rente, mit der suggeriert wird, dass man sich damit vor Altersarmut schützen kann. Damit zieht sich der Staat immer weiter aus der sozialen Verantwortung zurück: zum Beispiel durch weitere Privatisierungen und den Verkauf an institutionelle Anleger, zum Beispiel durch die Kürzung von Wohngeld im Haushaltsplan 2011, zum Beispiel durch die Abschaffung der Gemeinnützigkeit von Wohnungsgesellschaften. Kurzum: Jeder soll sich selber kümmern, der Markt soll das regeln. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, genau! Nicht die Abteilung Wohnraumlenkung!) Die Linke sieht das Wohnen als elementares menschliches Bedürfnis an. Das Recht, unter menschenwürdigen Bedingungen zu wohnen, gehört nach unserer Überzeugung zu den existenziellen sozialen Rechten eines jeden Menschen unseres Landes. (Beifall bei der LINKEN) Wohnen darf unter gar keinen Umständen zum Luxusgut oder zum Armutsrisiko unserer Bürgerinnen und Bürger werden. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Vier Jahre Arbeitszeit!) Genau auf diesem schlechten Weg ist die Bundesregierung mit ihrer Politik aber. Das gilt zum Beispiel für Hamburg. Hier herrscht massive Wohnungsnot. Derzeit fehlen über 40 000 Wohnungen. Die Mieten sind in den letzten Jahren deswegen regelrecht explodiert und im Durchschnitt um 28 Prozent gestiegen. Damit meine ich nicht die Wohnungen in den Luxusvillenvierteln. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) Tausende Menschen versuchen verzweifelt, irgendwo noch eine bezahlbare Wohnung zu finden. (Sebastian Körber [FDP]: Vor allem in Berlin!) Man fragt schon gar nicht mehr nach dem Zustand dieser Wohnung, sondern man ist froh, wenn man überhaupt eine bekommt. Viele Haushalte mit niedrigem Einkommen müssen schon jetzt mehr als die Hälfte ihres Monatsbudgets fürs Wohnen aufbringen - und das zum Teil für unsanierten Wohnraum. Der krasseste Fall, der uns bekannt ist, ist eine Steigerung der Miete nach energetischer Sanierung um 244 Prozent. (Sebastian Körber [FDP]: Das kann doch gar nicht sein!) Dadurch zeigt sich doch, dass der Markt hier, wo es um Grundbedürfnisse eines jeden Menschen geht, absolut versagt, wenn man es ihm alleine überlässt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In Hamburg sind 150 000 Haushalte auf staatliche Zuschüsse angewiesen, um die Miete noch irgendwie zahlen zu können. Weil diese Leute dank der verfehlten Regierungspolitik trotz Arbeit immer ärmer werden, hat inzwischen jede zweite Familie in Hamburg einen Anspruch auf eine Sozialwohnung und einen Wohnberechtigungsschein. Dieser nützt ihnen aber nichts; denn sie finden mit diesem Wohnberechtigungsschein keine Wohnung mehr in Hamburg. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herr Vaatz ist so ruhig geworden!) Auch in München, Köln, Düsseldorf und andernorts könnten Sie Ähnliches beobachten, wenn Sie einmal dorthin gingen, wo der größte Teil der Menschen lebt oder wenigstens versucht, zu leben. Die Kehrseite ist: gähnender Leerstand in schrumpfenden Regionen und abgehängte Quartiere mit verfallender Infrastruktur und zerstörten sozialen Beziehungen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sind die Fakten!) Einige Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause trösten sich mit dem Durchschnitt und sagen immer wieder tapfer: Die Wohnungsversorgung in Deutschland ist gut. Klar, Sie hätten recht, wenn diese Wohnungsuchenden in Hamburg, München, Köln oder Düsseldorf nach Schwerin, Eisenhüttenstadt, Bitterfeld oder Stendal ziehen könnten oder wollten. Die Linke will eine Wohnungs- und Städtebaupolitik, mit der die tiefgreifenden ökologischen, demografischen und wirtschaftlichen Veränderungen, vor denen diese Gesellschaft steht, konzeptionell und allumfassend betrachtet werden und auf die sich die Menschen in dieser und in den kommenden Generationen, die Länder und Kommunen, die Hauseigentümer, die Bauwirtschaft und die Mieterinnen und Mieter verlassen können, (Beifall bei der LINKEN) weil sie eben nicht der jeweiligen Kassenlage, den kurzfristigen Renditeerwartungen und irgendwelchen Klientelinteressen, sondern nur dem Grundgesetz und damit allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes verpflichtet ist. (Oliver Luksic [FDP]: Ein Grundgesetz der Linkspartei? Was für ein Grundgesetz ist das denn?) Wir wollen eine neue Objektförderung, die die Lasten gerecht auf alle Schultern verteilt, die die Mieterinnen und Mieter, aber auch die Wohnungseigentümer nicht überfordert, die langfristige Investitionsanreize für die Bauwirtschaft gibt und die die Länder und Kommunen entsprechend ihrer regionalen Erfordernisse mitbestimmen lässt. Wir wollen eine neue Subjektförderung, die es allen Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, moderne, familiengerechte, altersgerechte und dem Bedarf entsprechende barrierefreie Wohnungen zu bezahlbaren Mieten zu finden. (Oliver Luksic [FDP]: Wolkenkuckucksheim!) Wir werden diese ehrgeizigen Ziele nicht erreichen, wenn wir allein der jährlichen Kassenlage und den Haushaltsvorgaben folgen und die Fördermittel zusammenstreichen, bis sie ins Haushaltskonzept passen, und wenn wir die Bauwirtschaft sich ständig neu auf unberechenbare Marktbedingungen einstellen lassen, sodass sie zum Beispiel heute mit Konjunkturprogrammen rechnen kann, um sich schon morgen mit der Kürzung der Fördermittel auseinandersetzen zu müssen. Wohnen ist Daseinsvorsorge und damit vorrangig Aufgabe des Staates, der Länder und der Kommunen. Deshalb gehört das Wohnen ins Grundgesetz. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Daniela Wagner das Wort. Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Ein Merkmal der Wohnungspolitik ist, dass sie zwischen einer enormen Vielfalt an gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Interessen, Herausforderungen und Anforderungen vermitteln und abwägen muss. Das Spektrum der Akteure umfasst international agierende Investmentfonds oder Aktiengesellschaften, private oder kommunale Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften oder Kleinstbesitzer, Amateurvermieter, Kleinstvermieter und letztlich auch die Mieter. Dem Antrag der Fraktion Die Linke liegt eine weitgehend richtige und zutreffende Analyse der aktuellen Wohnungsmarktsituation in Deutschland zugrunde: genug Wohnungen, aber leider falsch verteilt. Die zwei zentralen Herausforderungen der Wohnungspolitik sind derzeit die energetische Gebäudesanierung und der altersgerechte Umbau: Allein 40 Prozent der deutschlandweit verbrauchten Endenergie wird im Gebäudebereich verbraucht. Bis 2013 brauchen wir nach Angaben der Expertenkommission "Wohnen im Alter" 2,5 Millionen altersgerechte Wohnungen zusätzlich. Diese Herausforderungen müssen so gemeistert werden, dass sie für Mieterinnen und Mieter sozialverträglich, aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer wirtschaftlich tragbar sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sören Bartol [SPD]) Wir brauchen neben dem ordnungs- und mietrechtlichen Rahmen auch entsprechende Anreize für die Kleineigentümer sowie für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft. Ihre Ansätze zur Objektförderung sind nicht rundweg abzulehnen. So halte ich zum Beispiel Ihren Vorschlag, die Förderung des Mietwohnungsbaus von der grünen Wiese verstärkt auf Innenstädte zu lenken und dort zu konzentrieren, durchaus für richtig. In einer schrumpfenden Gesellschaft muss man nicht ständig weitere Flächen im Außenbereich bzw. an den Stadträndern versiegeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sören Bartol [SPD]) Die im Antrag vorgeschlagene Zusammenlegung der Städtebauförderungsprogramme klingt in Kombination mit integrierten Stadtentwicklungskonzepten zwar interessant, birgt aber auch hohe Risiken wegen fehlender politischer Steuerungsmöglichkeiten. Zudem bedarf sie einer eingehenden rechtlichen Überprüfung, meine Damen und Herren von der Linken. Wichtiger wäre aus unserer Sicht vor allem eine massive Stärkung der Städtebauförderung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leider gehen Sie in Ihrem Antrag in keiner Weise auf die Möglichkeiten der Objektförderung im Rahmen der staatlichen Programme zur CO2-Gebäudesanierung und zum altersgerechten Umbau ein, obwohl gerade diese Programme erhebliche Potenziale der Objektförderung enthalten, wenn die Mittel dafür erhöht werden, statt sie zu kürzen, wie es zuletzt in den Etatberatungen der Fall war. Unter dem Punkt "Subjektförderung" schlagen Sie in Ihrem Antrag vor, das Recht auf eine menschenwürdige Wohnung und auf die Versorgung mit Wasser und Energie gesetzlich zu garantieren. Wenn Sie das in die Verfassung aufnehmen möchten, dann müssen Sie das auch deutlich formulieren. An der Stelle würde mir mehr Klarheit gefallen. Anzumerken ist auch, dass ein solchermaßen formuliertes Grundrecht maßlos Illusionen erzeugen und falsche Hoffnungen wecken kann. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es!) Das würde ich gerade für diejenigen, die am Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben, äußerst schade finden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Denn der garantierte Wohnraum muss auch zur Verfügung stehen, und zwar dort, wo er gebraucht wird. Ihre Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnen bleibt unserer Meinung nach ohne konkrete Hinterlegung materiell wirksamer Maßnahmen folgenlos. Sie dient auch nicht der Auseinandersetzung mit den bestehenden Interessenkonflikten und ist ein Luftschloss nach dem Motto "Wir schreiben alles, was wünschenswert ist, in die Verfassung, und dann wird es gut". So einfach ist es leider nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich glaube, dass das auch keine Antwort auf Gentrifizierungsprozesse und Segregation ist; es sind vielmehr Anreize für die Immobilienwirtschaft notwendig und möglich. Denn gerade diese muss bei angespannten Wohnungsmärkten zunehmend in den Neubau und sozial verträgliche Mietwohnungen investieren. Zusätzlich muss die Wohnungsbauförderung - aber das ist ja künftig vor allen Dingen Angelegenheit der Länder - so ausgestaltet werden, dass sie von der Wohnungswirtschaft auch abgerufen wird. Derzeit passiert das nämlich kaum. So sieht unserer Meinung nach auch aktiver Mieterschutz vor überhöhten Mietpreisen aus. Sie fordern außerdem, dass die Räumung von Wohnraum unzulässig sei, wenn kein zumutbarer Ersatzwohnraum zur Verfügung steht. Eine solche Regelung ist aus meiner Sicht nicht vertretbar; (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Sehr richtig!) denn sie würde die Hauseigentümer zu sehr in ihren Rechten einschränken. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!) Man muss sich von Mietparteien auch trennen können, wenn sie wirtschaftlich schädigen. Anders geht es nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wer kein Geld verdient, wird nicht investieren, wird nicht mal instand halten. Unser Mieterschutz ist im internationalen Vergleich durchaus hervorragend aufgestellt. Wir haben mithin die besten Mieterschutzrechte im europäischen Raum. Das werden Sie auch feststellen, wenn Sie sich mal im europäischen Ausland umschauen. Zum Schutz vor Obdachlosigkeit besteht übrigens schon jetzt das Wiedereinweisungsrecht durch die Kommunen. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: So ist es! Genau!) Sie können bei drohender Obdachlosigkeit wieder in die Wohnung einweisen und müssen für die Kosten aufkommen. (Peter Götz [CDU/CSU]: So ist es!) Deswegen sage ich, es würde schon ausreichen, wenn an der Stelle die Kommunen die präventiven Instrumente wie zum Beispiel die Wohnungssicherungsstellen ausbauen könnten. Ihre Forderung zur Neuausgestaltung des Wohngeldes ist meiner Meinung nach vor allen Dingen eine Vermietersubvention. Die hätten keinerlei Veranlassung mehr, preiswerten Wohnraum zu bauen, preisbewusst zu vermieten bzw. preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen, (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!) weil der Staat ja letztlich für jedwede Miethöhe einsteht. Wir Grünen wollen eine passgenaue und zielgerichtete Subjektförderung, wir wollen einen dynamischen Anpassungsmechanismus im Wohngeldrecht, und wir wollen vor allen Dingen auch die Einkommensgrenzen in den Blick nehmen. Schließlich wollen wir auch die Heizkostenkomponente, die Sie jetzt leider wieder abgeschafft haben, (Zuruf von der FDP: Weil sie nicht mehr nötig war!) zu einem Klimawohngeld weiterentwickeln, damit künftig das Bewohnen, das Anmieten einer energetisch hervorragend sanierten Wohnung aus Steuermitteln mit bezahlt oder zumindest subventioniert und unterstützt wird und nicht das Heizen zum Fenster hinaus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU) Das fände ich wichtiger, und das würde auch weiter den Anreiz erhöhen, energetisch zu sanieren und die Häuser in einen erstklassigen Zustand zu bringen, was mehr als überfällig ist. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Wir sind der Auffassung, man kann sich bei dem Antrag der Linken auf jeden Fall enthalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU - Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Nach der Rede aber nicht mehr!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Ludwig das Wort. Daniela Ludwig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wagner, Sie haben mir in ganz vielen Punkten sehr aus der Seele gesprochen. Das möchte ich an der Stelle sagen. Wenn Sie jetzt Ihre Rede damit abgeschlossen hätten, dass Sie gesagt hätten, wir können dem Antrag nicht zustimmen, wäre ich wesentlich zufriedener gewesen. Denn ich glaube, das hätte ihrem Inhalt deutlich mehr entsprochen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das spricht aber für den Antrag!) - Nein, das spricht nicht für den Antrag. Da würde ich mir mal keine falschen Hoffnungen machen. (Heiterkeit der Abg. Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich glaube, es gibt ein paar wichtige Punkte, in denen wir uns durchaus einig sind und die wir auch gern aufgreifen möchten. Wir haben zum einen über die energetische Gebäudesanierung im Bestand gesprochen. Da ist wirklich noch richtig Musik drin, wenn ich das an dieser Stelle mal sagen darf. Ich bin ganz der Auffassung vieler Kollegen, die hier schon gesprochen haben: Wir müssen hier von staatlicher Seite, auch wenn wir sonst nicht die ganz großen Fans von Subventionspolitik sind, Anreize für die Eigentümer schaffen, denn wir bekennen uns an dieser Stelle zunächst ganz klar zu einem privat dominierten Wohnungsmarkt. Ich finde es ausgesprochen wichtig, dass wir private Eigentümer haben, die vermieten. Ich kann hier überhaupt keinen Nachteil erkennen; denn auch ein privater Vermieter muss sich am Markt behaupten, muss sehen, was er anbieten und vermieten kann. Hier müssen wir eine Sensibilisierung herbeiführen, und zwar auf der Vermieterseite und auf der Mieterseite. Der Vermieter muss sehen, dass es sich lohnt, energetisch zu sanieren. Der Mieter muss merken - Frau Kollegin, Sie haben es völlig richtig ausgeführt -, dass es sich lohnt, eine Niedrigenergiewohnung - so nenne ich es mal - anzumieten, weil er dadurch letztlich Miete spart. Hier tritt neben den wirtschaftlichen Aspekt der ökologische, weil die Umwelt geschützt wird. Das ist ein staatliches Steuerungsargument, über das wir noch viel intensiver nachdenken müssen; denn es lohnt sich. Wir tun etwas für die Wirtschaft, wir tun etwas für die kleinen und mittelständischen Bauunternehmen, die davon profitieren. Wir tun etwas für die Umwelt und für die Mieter. Eine bessere Kombination gibt es an dieser Stelle fast nicht. Weiterhin ist mir etwas anderes sehr wichtig. Angebot und Nachfrage spielen auf dem Wohnungsmarkt natürlich eine ganz große Rolle. Ich kann die Menschen nicht zwingen, in verödende Gebiete zu ziehen, bloß weil dort die Wohnungen leer stehen, sondern ich muss mich nach den Bevölkerungsströmen richten, ob es mir passt oder nicht. Außerdem muss ich mich nach den gesellschaftlichen Entwicklungen richten. Heute haben wir schon viel über das Programm "Altersgerecht Umbauen" gehört. Ich möchte nicht nur vom altersgerechten Umbauen, sondern auch vom behindertengerechten Umbauen sprechen. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Deshalb reden wir von Barrierefreiheit!) Wir alle führen zunehmend die Diskussion über Integration und Inklusion behinderter Menschen in der Schule, im Kindergarten oder am Arbeitsplatz. Diese Diskussion umfasst auch die Inklusion behinderter Menschen am Mietmarkt. Wenn wir wollen, dass diese Menschen möglichst zügig in die Mitte unserer Gesellschaft rücken und daran so weit wie möglich teilnehmen, müssen wir ihnen auch ermöglichen, entsprechende Wohnungen zu bewohnen und sich dort so selbstständig wie möglich zu bewegen. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie können unserem Antrag zustimmen!) - Es ist doch okay, beruhigen Sie sich. - Deswegen müssen wir nicht nur altersgerecht, sondern auch behindertengerecht umbauen. Eine kleine Anmerkung am Rande: Wenn ein Rollstuhl durch die geöffnete Tür passt, ist das schön. Wenn ein Kinderwagen hindurchpasst, ist das auch sehr schön. Das heißt: Auch familiengerechte Wohnungen sind für die Zukunft wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind auf einem ausgesprochen guten Weg. Völlig richtig ist, dass der Bund nicht der Alleinhandelnde ist, ebenso wenig wie der Vermieter der Alleinhandelnde sein soll. Klar ist auch, dass wir sehr viel Verantwortung an die Länder abgegeben haben. Ebenso klar ist, dass die Kommunen darauf werden reagieren müssen. Trotz Sparzwangs möchte ich das neue Städtebauförderprogramm des Bundesverkehrsministeriums "Kleinere Städte und Gemeinden - überörtliche Zusammenarbeit und Netzwerke" erwähnen. Das halte ich für ausgesprochen wichtig. Warum? Viele kleine Kommunen sind solitär, für sich genommen, nicht in der Lage, eine Vielzahl an infrastrukturellen Herausforderungen allein zu stemmen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, solche Herausforderungen gemeinsam mit Dörfern und kleinen Gemeinden in der unmittelbaren Nachbarschaft zu bewältigen und entsprechende Angebote gemeinsam zu unterbreiten. Das schafft Synergieeffekte in vielerlei Hinsicht. Wenn das Städtebauförderprogramm, das Minister Ramsauer neu auflegt, in dieser Legislaturperiode genau diese Synergieeffekte zeitigt, können wir ausgesprochen zufrieden sein. Zum Mietrecht: Es ist schon gesagt worden, dass wir sicherlich eines der sozialsten Mietrechte der Welt haben. Seien Sie versichert, dass wir nicht vorhaben, daran etwas zu ändern. Wir haben aber vor, Missstände zu beseitigen. Einer der Missstände ist das Mietnomadentum. Man kann sich über die Quantität nunmehr trefflich streiten, aber die Qualität ist doch unbestritten. Wenn Wohnungen bewusst unter dem betrügerischen Vorsatz angemietet werden, den Mietzins nicht zu entrichten, die Wohnungen entweder zu vermüllen oder komplett zu zerstören und sie dann zu verlassen, dann kann man natürlich sagen, das seien bedauernswerte Einzelfälle. Aber was sagen Sie dem Vermieter, dessen Altersvorsorge vermüllt wurde? Ist das dann auch nur ein bedauernswerter Einzelfall? Ist es nicht vielmehr so, dass wir im Mietrecht da, wo wir die Möglichkeit haben, ohne überzuregulieren vernünftige Lösungen genau für diesen betroffenen Personenkreis schaffen müssen? (Sören Bartol [SPD]: Muss das im Mietrecht sein?) Das trifft dann sicherlich nicht die Falschen. Deswegen gilt: Der Schutz des Mieters ist selbstverständlich. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Diese Frage steht für uns nicht zur Debatte. Ebenso wichtig ist ein ausreichender Schutz des Vermieters. Beides gehört zwingend zusammen. Sonst bringe ich die Menschen nicht mehr dazu, in Wohnungen oder Häuser zu investieren und diese zu vermieten. Stattdessen zwinge ich sie dazu, zu sagen: Ich baue nur noch für den Eigenbedarf, und der Rest ist mir völlig egal. Das wollen wir alle nicht. Der Großteil der Vermieter - entgegen der unterschwelligen Darstellung im Antrag der Linken - ist anständig und hat anderes im Sinn, als nur die Mieter abzuzocken oder zu vertreiben. Die Vermieter wollen schlicht und ergreifend die ihnen zustehende Miete erhalten. Dann sind sie auch bereit, zu investieren und freuen sich über zuverlässige Mieter. Das ist der Normalfall in dieser Republik. Wir brauchen uns über gar nichts anderes zu unterhalten. Abschließend möchte ich sagen: Lieber Kollege Bartol, ich freue mich sehr auf unser morgiges Fachgespräch. Ich finde das ausgesprochen gut. Wir haben uns bisher gerne an den Gesprächen beteiligt und werden uns auch morgen gerne an dem Gespräch beteiligen; denn das Thema Wohnungslosigkeit ist immer mit menschlicher Tragik verbunden. Oft gibt es nicht nur finanzielle, sondern auch tiefergehende soziale Hintergründe. Denen wollen wir uns annähern. Ich denke, das ist ein wichtiges Ansinnen. Deswegen sind wir morgen gern dabei. Ich bin gespannt, zu welchem Ergebnis wir kommen werden. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Groß das Wort. Michael Groß (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ludwig, ich bin froh, dass Sie doch einige Kritikpunkte gefunden haben. Sie haben angesprochen, dass wir noch viel im Bereich Klimaschutz und Gebäudesanierung zu tun haben. Sie haben von Inklusion, von barrierefreiem Zugang zu Wohnungen und altersgerechtem Wohnen gesprochen. Bei der Rede Ihres Kollegen Storjohann habe ich gedacht, wir lebten in einer Welt der Idylle. Er sprach davon, dass der Wohnungsmarkt vorbildlich ist, wir uns keine Sorgen mehr zu machen brauchen und uns zurücklehnen können. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das eine schließt das andere nicht aus!) Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke - das hat Herr Bartol schon deutlich gemacht - stellt die richtigen Fragen. Auch die Analyse ist zum großen Teil richtig. Er hat aber auch deutlich gemacht, dass zum Teil die falschen Schlüsse gezogen und die falschen Antworten gegeben werden. In dem Antrag wurde auch darauf hingewiesen, dass eine bloße Zusammenlegung der Förderprogramme nicht weiterführend ist. Ein Teil der Programme ist sehr effektiv gewesen. Allerdings müssen wir dafür sorgen, dass die Programme evaluiert und letztendlich mit den Ländern und Gemeinden weiterentwickelt werden, damit sie zielgenau die Wirkungen entfalten, die wir beabsichtigen. Lassen Sie mich ergänzend auf vier Punkte und damit auch kurz auf meine Vorredner eingehen. Besonders in den Ballungsgebieten steigen die Mieten - das ist nicht abzustreiten - und die Preise für Wohneigentum. Im Durchschnitt bleiben die Ausgaben für das Wohnen der größte Einzelposten der Konsumausgaben, insbesondere auch durch die wachsenden Nebenkosten für Strom, Heizung und Warmwasser. Prognostisch werden diese Kosten weiter steigen. Zum Vergleich: 1991 betrugen die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Familieneinkommens. Ende des letzten Jahrzehnts waren es schon weit über 25 Prozent. Wir haben viel über die Wohngeldreform gehört, wir haben aber auch heute schon gehört, dass die Heizkostenpauschale von der jetzigen Bundesregierung zum 1. Januar 2011 wieder einkassiert wurde. Das geht natürlich zulasten der niedrigsten Einkommen. Das wird sicherlich dazu führen, dass die Menschen wiederum mehr auf ihren Geldbeutel achten müssen. War die Reform des Wohngeldes 2009 auch eine gute Nachricht, so ist damit doch verbunden, dass immer mehr Menschen dieses Wohngeld in Anspruch nehmen mussten, weil ihre Realeinkommen abgenommen haben, und zwar in den letzten zehn Jahren um 4 Prozent. Man spricht davon, dass es ein verlorenes Jahrzehnt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war. In Deutschland arbeiten zudem zu viele Menschen für wenig Geld. 2 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn von unter 6 Euro. Darauf gibt es eine richtige Antwort: Wir müssen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn einführen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage vom Januar 2011 wollen zwei Drittel der über 70-Jährigen im eigenen Wohnraum verbleiben. Dazu müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Barrierefreiheit war das Stichwort. Wir müssen dafür sorgen, dass sie Netzwerke haben und sich darauf verlassen können, in ihren eigenen vier Wänden verbleiben zu können. Nach Schätzungen werden bis 2025 über 2 Millionen senioren- und altersgerechte Wohnungen gebraucht. Der jetzige Bestand liegt nach Schätzungen bei 400 000 bis 500 000 Wohnungen. Nach Angaben der Befragten können Umbaumaßnahmen und Serviceleistungen durchschnittlich nur - ich betone: nur - im Umfang von monatlich 280 Euro mitgetragen werden. Ich halte das schon für sehr viel. Also, es gibt viel zu tun, um die Menschen zu begleiten und diesen Prozess sozialverträglich zu gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Entsprechende KfW-Programme wie "Altersgerecht Umbauen" müssen also unbedingt finanziell ausgebaut und fortgeführt werden. Wir müssen beim Thema Klima und Energie handeln. Zügiges und planvolles Handeln ist angezeigt, um die Klimaschutzziele zu erreichen und insbesondere die Verbraucher vor zu hohen Energiepreisen zu schützen. Beim Gebäudebestand besteht ein hohes Einsparpotenzial. Die Sanierungsrate und die Modernisierungsquote sind mit circa 1 Prozent pro Jahr viel zu niedrig. Nach Schätzungen von Experten benötigen wir 5 Milliarden Euro pro Jahr, um die Zielsetzung zu erreichen. Eigentümer und Vermieter müssen also insoweit motiviert werden, und wir müssen die hohen Sanierungskosten sozial abfedern. Haushaltskürzungen, wie von der Bundesregierung im Bereich der energetischen Gebäudesanierung und des Städtebauförderprogramms vorgenommen, sind kontraproduktiv und nicht zielführend. Der Antrag der Linken sieht vor, die Kommunen finanziell zu beteiligen. Ich befürchte, dass sie mit ihrer Forderung den Kommunen einen Bärendienst erweisen werden. Den Kommunen fehlt heute schon viel Geld, und tatsächlich brauchen sie mehr Geld, um den Anforderungen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu werden. Wir brauchen Lebensqualität in den Städten. Ich glaube nicht, dass dies durch eine weitere finanzielle Belastung der Kommunen, die letztlich nicht durch den Bund abgefedert wird, zu erreichen ist. Für uns Sozialdemokraten ist eine Abstimmung in und mit den Kommunen und Ländern und mit den Menschen vor Ort Dreh- und Angelpunkt des Erfolgs. (Beifall bei der SPD) Wir müssen Beteiligungsmodelle entwickeln und sowohl die Hauseigentümer als auch die Bewohnerinnen und Bewohner, die Gewerbetreibenden vor Ort und die Initiativen und Vereine mitnehmen. Städtebauliche Investitionen können durch die Einbeziehung aller Akteure die gelebte Demokratie voranbringen. Eine bloße Forderung nach mehr Rekommunalisierung reicht nicht aus. Die Kommunen brauchen mehr Geld, um die Entwicklung ihrer Städte, die Lebensqualität und gleichwertige Lebensverhältnisse zu sichern. Vielen Dank und Glück auf! (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat der Kollege Götz das Wort. Peter Götz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Antrag, den wir heute diskutieren, wollen sich die Linken im Deutschen Bundestag das Mäntelchen der Beschützer der Mieter umhängen. (Zurufe von der LINKEN: Nein, nein!) Es ist schon eine Frechheit. Der rot-rote Berliner Senat versuchte, locker über 38 000 kommunale Wohnungen, davon allein 20 000 in der Stadt Berlin, an einen arabischen Fonds zu verkaufen, und hier fordert die Linke, die Veräußerung kommunaler Wohnungsbestände zu verbieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch wenn der Milliardendeal in Berlin vorgestern gescheitert ist, macht dies die Widersprüchlichkeit zwischen dem Reden hier und dem Handeln dort, wo Verantwortung besteht, sehr deutlich. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wie immer!) Im Bundestag sozialistische Lehre in Reinkultur einzufordern und vor Ort mit dem Kapital zu verhandeln, das ist mehr als scheinheilig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man kann ja darüber diskutieren, ob eine Stadt wie Berlin so große Wohnungsbestände im Eigentum vorhalten muss. Diese Frage ist durchaus berechtigt, und diese will ich auch nicht kritisieren. Aber dann darf man hier nicht solche Anträge stellen. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Lassen Sie uns einmal über die Bankenkrise in Berlin reden, Herr Götz! Wer hat denn die Bankenkrise in Berlin ausgelöst? Das war doch Ihre Partei!) Wir sehen für die Einführung eines speziellen Grundrechts auf Wohnen auf der Bundesebene weder einen Bedarf noch halten wir ein solches Recht für geeignet, die Lebenssituation der von Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen zu verbessern. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich? Peter Götz (CDU/CSU): Ja, warum nicht? Bitte sehr. Stefan Liebich (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Kollege Götz, Sie haben auf die Politik hier im Land Berlin Bezug genommen. Sie haben recht, dass nach der Klage von CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen den rot-roten Landeshaushalt in der Wahlperiode 2002 eine große Wohnungsbaugesellschaft verkauft werden musste. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist doch keine Frage! Es muss eine Frage gestellt werden!) Das ist eine Entscheidung, die wir aus heutiger Sicht falsch finden. Aber ich will noch etwas zur gegenwärtigen Politik sagen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass es genau zwei Parteien gibt, die sich dafür einsetzen, dass der gesamte kommunale Wohnungsbestand in öffentlicher Hand verbleibt, und dass es genau drei Parteien gibt, die genau diese Position infrage stellen, nämlich CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Ist Ihnen das bekannt, und sind Sie bereit, dies in Ihre Argumentation mit einfließen zu lassen? (Beifall bei der LINKEN - Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das war ein Debattenbeitrag und keine Frage!) Peter Götz (CDU/CSU): Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem damit, darüber zu diskutieren, dass kommunale Wohnungsbestände verkauft werden. Das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist - hier verhalten Sie sich widersprüchlich -, dass Sie in Berlin, wo Sie im Senat Regierungsverantwortung tragen, die Wohnungsbestände verkaufen, aber hier den Eindruck erwecken wollen, als seien Sie die Retter der Mieter. Sie fordern die Aufnahme des Rechts auf Wohnung ins Grundgesetz, und gleichzeitig fordern Sie ein Verbot des Verkaufs von kommunalen Wohnungsbeständen. Auf diese Widersprüchlichkeit wollte ich aufmerksam machen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben in Deutschland durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 unseres Grundgesetzes und durch das in Art. 20 verankerte Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu schaffen. Dazu gehört auch eine Unterkunft. Deshalb gibt es seit Jahrzehnten den sozialen Wohnungsbau, die Absicherung der Mietkosten durch Wohngeld und die soziale Wohnraumförderung der Länder. In der heutigen Debatte haben wir einiges darüber gehört. Das sind Instrumente, die sich bewährt haben. Hinzu kommt auch die Unterbringung Obdachloser aufgrund der polizei- und ordnungsrechtlichen Vorschriften auf kommunaler Ebene. In Deutschland gibt es für jeden Wohnungssuchenden eine Bleibe. Einen anderen Eindruck zu erwecken, ist populistisch und unredlich. Vielleicht findet nicht jeder seine Traumwohnung, das mag wohl sein, aber niemand in Deutschland muss auf der Straße übernachten. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das stimmt!) Nach meiner festen Überzeugung sind Maßnahmen, die unmittelbar auf die Lebenssituation der von Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit betroffenen Personen Einfluss nehmen, wesentlich sinnvoller als symbolische Verfassungsänderungen. Insofern sind wir auf die Empfehlungen der Altkommunisten mit dem Erfahrungshorizont der DDR nicht zwingend angewiesen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Jan Korte [DIE LINKE]: Potz Blitz! Das war ein Angriff!) Insgesamt hat die Wohnungsversorgung in Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre einen Stand erreicht, bei dem breite Schichten der Bevölkerung gut bis sehr gut mit Wohnraum versorgt sind. Dies gilt insbesondere für einkommensschwache Haushalte. Deshalb haben wir, wie ich finde, zu Recht, im Jahr 2006 im Rahmen der Föderalismusreform die Zuständigkeit für die soziale Wohnraumförderung auf die Länder übertragen. Dafür geben wir ihnen jährlich zweckgebunden mehr als 500 Millionen Euro, sodass regional differenziert, gezielt und bedarfsgerecht gefördert werden kann. Das ist besser als Zentralismus aus Berlin. Die geforderte Beschränkung dieser Wohnungsbauförderung auf den öffentlichen Mietwohnungsbau ist eine klassische Ideologienummer der Linken. Für uns sind auch die privaten Vermieter zur Sicherung des Wohnens von großer Bedeutung. Besonders wichtig sind uns aber auch diejenigen, die sich den Wunsch nach den eigenen vier Wänden erfüllen wollen. Deshalb ist Wohneigentum eine der besten Möglichkeiten der Altersvorsorge. Wohneigentum schützt wesentlich vor Altersarmut. Die Stärkung des Wohneigentums sollte daher unser gemeinsames Ziel sein. Wir haben in unserem Land ein sehr ausgeprägtes und differenziertes System der sozialen Sicherung, gerade in der Wohnraumversorgung. So zählt nach dem Sozialgesetzbuch II die Übernahme der gesamten Kosten - ich betone: der gesamten - für Unterkunft und Heizung zu den Leistungen für Hartz-IV-Empfänger. Das wird bei der aktuellen Debatte über die Höhe der Regelsätze für diesen Personenkreis, die wir in diesen Tagen führen, gerne übersehen. Auch Erstausstattungen für die Wohnung, einschließlich Haushaltsgeräte, Wohnbeschaffungs- und Umzugskosten oder Mietkautionen, gehören zu dem Leistungskatalog für Hartz-IV-Empfänger. Zur Erinnerung: Der Bund beteiligte sich im vergangenen Jahr mit 3,4 Milliarden Euro an den Kosten der Unterkunft. Die Kommunen sind mit mehr als 10 Milliarden Euro dabei. Dieses Geld bringen die Menschen auf, die täglich zur Arbeit gehen und ihre Steuern zahlen. Natürlich gibt es bei der Wohnungspolitik noch Handlungsbedarf. Das ist unstrittig. Das Bessere war schon immer der Feind des Guten. So ist vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft dem Aspekt der Barrierefreiheit ein größerer Stellenwert einzuräumen. Auch die energetische Sanierung der Wohngebäude, von der vorhin gesprochen wurde, ist eine Herausforderung, die uns noch viele Jahre begleiten wird. Bei der Städtebauförderung ist es in einer großen Kraftanstrengung gelungen, die Haushaltsansätze, die erheblich heruntergefahren waren, wieder zu erhöhen. Wir sollten jedoch nicht, wie im vorliegenden Antrag gewollt, Einzelprogramme der Städtebauförderung abschaffen, sondern wir sollten die inhaltliche programmatische Schwerpunktsetzung neu definieren und die Programme optimieren und effizienter gestalten. Für alle in Ihrem Antrag aufgeworfenen Themen sind in Deutschland in vielen Jahren gute Instrumente - ob nun Förderprogramme oder gesetzliche Regelungen - entwickelt worden, die sich dem Grunde nach bewährt haben. Diese können und sollten wir gemäß den veränderten Rahmenbedingungen - die Themen "Klimaschutz", "Barrierefreiheit", "behindertengerechtes Wohnumfeld" und viele andere mehr sind angesprochen worden - gemeinsam maßvoll weiterentwickeln. Der kommunistische Rundumschlag, den Sie hier vorhaben, (Zurufe von der LINKEN: Buh!) würde viel Gutes zerstören. Wir lehnen in Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger diesen Antrag ab. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel "Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und barrierefrei gestalten". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4659, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3433 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b sowie den Zusatzpunkt 5 auf: 7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken - Drucksache 17/4685 - b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken - Drucksache 17/4667 - ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken - Drucksache 17/4686 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 19. Dezember 2010, also am Abend der Präsidentschaftswahl in Belarus, hat das Regime von Alexander Lukaschenko sein wahres Gesicht gezeigt. Obwohl dieser im Vorfeld die Legitimität der Wahl als wichtig bezeichnet hatte, sah die Realität am Wahlabend ganz anders aus. Politische Reformen - das wissen wir heute - waren dort nie geplant. Lukaschenko brauchte die EU und brauchte Russland, um die größtmöglichen Vorteile für sein marodes Wirtschaftssystem zu erreichen. Wir hatten aufgrund der langsamen Annäherung von Belarus an die EU die berechtigte Hoffnung auf eine Öffnung des Landes, die berechtigte Hoffnung auf eine Demokratisierung. Doch die Realität hat mit erschreckender Härte gezeigt: Ein demokratisches Belarus wird es nur ohne Alexander Lukaschenko geben können. Noch am Wahlabend setzte er auf die Sprache der Gewalt. Über 600 Personen wurden seitdem inhaftiert. Menschenrechtsorganisationen und Medien müssen Angst haben vor der Gewalt des Staates. Elementare Menschenrechte werden vom Staat und von Sicherheitsorganen mit Füßen getreten. Doch auf Lukaschenkos Tricks lassen wir uns nicht mehr ein; in diesem Punkt sind sich alle Demokraten in diesem Hause einig. Wir erkennen im Deutschen Bundestag die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nicht an. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie waren nicht frei. Sie waren nicht fair. Sie waren manipuliert und hatten mit demokratischen Wahlen nichts zu tun. Wir fordern daher die Regierung Lukaschenko auf, sofort alle politischen Gefangenen freizulassen. Wir fordern die Regierung in Belarus auf, sofort alle Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unabhängige Medien zu beenden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die völlige Missachtung europäischer Werte und Regeln, die völlige Missachtung elementarer Menschenrechte durch die Regierung Lukaschenko können und werden wir nicht hinnehmen. Deshalb haben wir eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen entwickelt, mit denen wir die Bundesregierung unterstützen wollen, die sich bisher schon vorbildlich eingesetzt hat. Dabei stehen die Freilassung politischer Gefangener und die Hilfe für die Opfer von Repression und Gewalt im Vordergrund. Wir brauchen weitere Programme zur Unterstützung von Studierenden und Jugendlichen, deren Wertesystem sich nicht am Diktator orientiert, sondern an Demokratie, an Freiheit und an Europa. Das müssen wir verstärkt fördern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir begrüßen das Engagement des Europarates zur Stärkung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung. Das muss weiter so vorbildlich fortgeführt werden. Wir begrüßen auch die Entscheidung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, Reisebeschränkungen und Sanktionen zu veranlassen für Präsident Lukaschenko und diejenigen, die für Gewaltaktionen, für politische Repressionen und für die Fälschung der Wahlergebnisse verantwortlich sind. Die EU muss weiter den Menschen in Belarus den Rücken stärken. Dazu gehört natürlich, weiterhin eine europäische Perspektive für Belarus offenzuhalten. Dazu gehört aber zunächst auch, dass die EU an den Sanktionen gegen die Führung des Regimes festhält, und zwar so lange, bis diese den Weg für einen demokratischen Wandel freigibt. Dazu gehört jetzt auch, dass die EU an Russland herantritt, um es zu gemeinsamen Handlungen gegenüber dem Regime in Belarus zu bewegen. Russland erhebt den Anspruch, mit der EU dieselben Ideen und Wertvorstellungen über Europas Identität und Zukunft zu teilen. Es sollte jetzt nicht wieder seine schützende Hand über den belarussischen Präsidenten halten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Als Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ist mir wichtig, auch dort das Thema weiter zu begleiten. Das OSZE-Büro in Minsk und der Medienbeauftragte müssen ebenso ungehindert wieder arbeiten können wie das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte. Die OSZE sollte eine unabhängige internationale Kommission einsetzen, um die Vorgänge vom 19. und 20. Dezember 2010 untersuchen zu lassen. Dabei ist es auch wichtig, ein genaues Bild über die Situation der Menschenrechte zu bekommen. Am Abend des 19. Dezember wurde in Belarus eines klar: Die Autorität Lukaschenkos bröckelt. Er wird sie auch nicht durch Schlagstöcke und durch Repressionen wiedererlangen können. Wir sagen deutlich: Wir stehen auf der Seite der Demokratie. Wir stehen auf der Seite der Zivilbevölkerung, die den demokratischen Wandel will. Und: Wir müssen hart bleiben, bis dieser Weg eingeschlagen wird. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion. Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der eine oder andere, der gut aufgepasst hat, denkt vielleicht, wir alle sind ein bisschen meschugge, da wir drei fast gleichlautende Anträge vorgelegt haben. Ich sage aber: Das bedeutet, dass wir uns fast einig sind. Vielleicht schaffen wir es auch noch, uns ganz zu einigen. Ansonsten müssen wir vielleicht einen anderen Weg beschreiten. Der Antrag der Grünen unterscheidet sich von den beiden anderen Anträgen, von dem der SPD und von dem der Koalition, durch einen Vorschlag, der in Bezug auf die Erteilung von Schengen-Visa in näherer Zukunft etwas vorprescht. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist unsere Aufgabe, Frau Kollegin!) - Ja, ich habe das ja auch begriffen. - Ich glaube nur, wir müssen jetzt handeln, und zwar, ehe der ganze Prozess bezüglich Rückführungsabkommen etc. zum Abschluss gebracht worden ist. Wir wissen nämlich noch nicht einmal, ob Herr Lukaschenko dabei mitmachen würde. Insofern sollte man loben, was die Bundesrepublik Deutschland am Dienstag gemacht hat, indem eine Visa-Regelung eingeführt wurde, die wir in diesem Hohen Hause im Übrigen schon einmal beschlossen hatten. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Eben! Ein Schritt weiter als das, was wir schon gemacht haben!) Diese erleichtert in der Tat einer ganzen Reihe von Menschen das Leben, indem der Zugang zu Visa vereinfacht wird und dafür nicht mehr so viel oder sogar gar nichts bezahlt werden muss. Ich denke, hier sind wir uns einig. Es gibt einen zweiten Punkt, von dem wir erst heute beim Treffen der OSZE-Parlamentariergruppe Kenntnis erlangt haben. Es geht um Punkt 10, der ja auch auf eine Diskussion, die wir hier schon geführt haben, zurückgeht. Mein Vorschlag, den Moskauer Mechanismus anzuwenden, ist von unserem Auswärtigen Amt aufgenommen worden; es hat uns aber zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass wir ein bisschen zu kurz springen. Denn wir haben ja nicht gesagt, dass die Gruppe, die aufgrund dieses Mechanismus eingesetzt wird, eigentlich mehr tun soll, als nur die Geschehnisse am 19. und 20. Dezember aufzuklären. Darüber hinaus sollte sie sich nämlich auch ein Bild von der Lage der Menschenrechte und der Grundfreiheiten in Belarus machen können. Sie müsste auch Gefangene besuchen und Prozesse beobachten können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Deshalb bin ich dafür, dass wir uns überlegen, ob wir nicht in einem Schnellverfahren in der nächsten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses die Punkte 3 und 10 überarbeiten, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen; denn sonst wäre das Resultat Stückwerk. Dann müsste nämlich jeder seinem eigenen Antrag zustimmen oder sich enthalten. In einem Nachklapp müssten wir dann versuchen, einen Antrag zu diesem Moskau-Mechanismus zustande zu bekommen. Aber auch das würde sehr kurzfristig sein. Ich stelle anheim, ob wir im Laufe dieser Debatte vielleicht eine gemeinsame Linie finden können, entweder durch Überweisung oder mit einem Abstimmungsverfahren, das vielleicht merkwürdig aussieht. Wir alle wollen prinzipiell das Gleiche. Wir wollen, dass die Situation in Belarus, wie sie jetzt besteht, aufhört. Ich finde ganz erstaunlich, was ich heute in BelaPAN gefunden habe, nämlich dass Herr Lawrow, der Außenminister Russlands, gegenüber der belarussischen Regierung zum Ausdruck gebracht hat, dass das, was geschehen sei, absolut unnötig und unakzeptabel sei. Alle inhaftierten Journalisten, die Kandidaten und die Human Rights Defenders sollten entlassen und die Anklagen sollten fallen gelassen werden. Er hat das mit großem Nachdruck gesagt. Ich muss bezüglich einer Diskussion vom letzten Mal Abbitte tun. Hier geht es um den Punkt, wie weit man Moskau einbezieht. Herr Mißfelder hat das damals mit großem Nachdruck gesagt. Ich habe allerdings ein bisschen davor gewarnt, weil mein Eindruck war, dass Moskau nicht unbedingt wild darauf ist, Lukaschenko zu einem demokratischen Europäer zu erziehen. Aber vielleicht kann man das, was Lawrow jetzt in dieser Stellungnahme gesagt hat, tatsächlich als einen Ansatzpunkt nehmen, um mit Russland zusammen etwas zu bewirken. Wir wollen auch eine Unterstützung für die zivile Gesellschaft und für die Opposition. Gerade hat es eine Geberkonferenz gegeben, auf der viele eine ganze Menge Geld zur Verfügung gestellt haben. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir Wege finden, um sowohl die Opposition, die zwar leider zersplittert, aber dennoch demokratisch orientiert ist, als auch Menschenrechtler und Rechtsanwälte zu unterstützen, die im Moment sogar davon abgehalten werden, die Präsidentschaftsprätendenten, also die Herausforderer von Lukaschenko, zu verteidigen. Darüber hinaus müssen wir aber auch Gewerkschafter, Journalisten und Studenten unterstützen. Mittlerweile sind 42 Menschen dafür angeklagt, dass sie Aufstände angefacht hätten. Ihnen droht bis zu 15 Jahre Gefängnis. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir auch für sie sehr stark eintreten. Soweit meine Kenntnisse reichen, sind zwei der Kandidaten, nämlich Statkevich und Lebedko, wobei ich beim Letztgenannten nicht so ganz sicher bin, noch im Hungerstreik. Das muss man sich einmal vorstellen. Das wird langsam dramatisch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Zwar sind zwei der Angeklagten in den Hausarrest entlassen worden. Aber wenn man sich einmal anguckt, was für eine Art von Hausarrest das ist, dann kann einem das Grausen kommen. Da sitzen zwei Geheimdienstler, KGB-Leute, mit in der Wohnung. Das sind nicht so große Wohnungen, wie man sie bei uns hat, sondern das sind nur zwei Zimmer. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist psychische Folter!) Sie dürfen nicht telefonieren, nicht zum Fenster hinausgucken, kein Internet benutzen und nur mit der eigenen Frau reden, wenn es hochkommt. Das sind Irina Chalip, die Ehefrau von Sannikow, und Nekljajew. Wir haben unsere Forderungen formuliert. Die Bundesregierung hat zur Unterstützung von solchen Maßnahmen bereits Geld zur Verfügung gestellt. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich; ich finde das sehr gut. Wir haben schon in der Vergangenheit immer solche Gruppen bilateral unterstützt. Damals wurden die entsprechenden Gelder vor allen Dingen vom BMZ vergeben. Damit haben wir die Projekte des IBB unterstützt, die alle auf die zivile Gesellschaft gemünzt waren. Ich bin froh, dass die Bundesrepublik sowohl in Bezug auf die Visa als auch bei der Bereitstellung von Geldern gehandelt hat. Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen: die Situation der Studenten in Belarus. Bei der letzten Wahl im Jahr 2006 gab es ja auch widerspenstige Studenten; das hat uns sehr erfreut. Damals sind 600 Studenten ihrer Unis verwiesen worden. Im Moment scheint es eine kleinere Zahl zu sein. Der Rektor einer Uni hat gesagt: Nein, nein, keiner wird relegiert. - Tatsächlich sind aber schon 8 Studenten relegiert worden, 60 weiteren wurde angedroht, dass ihnen dasselbe blüht. Deshalb noch einmal die Bitte, insbesondere bei dieser Gruppe das zu tun, was andere Länder auch tun, nämlich ihnen Stipendien und Studienplätze zu verschaffen. Wir haben damals nur eine sehr kleine Zahl von Studienplätzen vergeben. Ich glaube, das ist eine lohnende Aufgabe. Es gab einen Artikel mit dem Titel: "Weißrusslands Wutstudenten". Alle Welt beruft sich im Moment auf die Wut. Ich glaube, das sind keine "Wutstudenten", sondern ganz wache, bewusste Bürger, die ein besseres, demokratisches Land haben wollen und große Solidarität mit ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zeigen. Sie verdienen unsere Solidarität. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rat der Außenminister hat Ende Januar harte Sanktionen gegen Belarus beschlossen. Wir werden heute einen Antrag beschließen, in dem diese Sanktionen begrüßt und weiter gehende Forderungen gegenüber Minsk erhoben werden. Uns wird immer die Frage gestellt: Warum engagieren wir uns bei Belarus mehr als bei anderen Staaten, in denen die Situation der Menschenrechte unbefriedigend ist? Die Antwort ist leicht: Belarus gehört zu Europa, ebenso übrigens Russland. Wolfgang Ischinger hat gerade gesagt: Belarus ist ein europäisches Land mit einer europäischen Mission und einer europäischen Sprache. - Recht hat er. Im allergrößten Teil Europas sind die universellen Werte - Menschenrechte, Demokratie - umgesetzt. Insofern können wir es nicht akzeptieren, dass die Regierung eines europäischen Landes diese Werte sich selbst und der Bevölkerung verweigert. Das behindert die Entwicklung und den Wohlstand in dem Land; es enthält den Menschen, die dort leben, eine gute Entwicklung vor. Die Menschenrechtslage in Weißrussland bleibt weit hinter dem europäischen Standard zurück, übrigens auch weit hinter dem, was Lukaschenko selbst erst im Dezember in Astana unterschrieben hat. Nicht nur die Menschenrechtslage, sondern auch die ökonomische Lage ist angespannt; Lukaschenko braucht Geld und Kredite. Er glaubt bisher, er könne mit einer Politik des Lavierens zwischen Ost und West weiterkommen. Wenn ich mir die russische Wirtschaft und Industrie ansehe - das Fehlen von innovativen Industrien, Korruption, Rückgang der Auslandsinvestitionen -, dann komme ich zu dem Schluss: Es ist nicht Russland, das eine blühende Entwicklung der belarussischen Wirtschaft versprechen kann. Ganz objektiv betrachtet, ist also eine stärkere Öffnung gegenüber der EU die einzige Chance für Belarus. Ich danke ganz besonders dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Er hat sehr klare Worte dafür gefunden, dass die gegenwärtige Menschenrechtssituation in Belarus weitere Fortschritte im ökonomischen Bereich verhindert. Im 21. Jahrhundert und in einer globalisierten Welt kann man ein Land nicht wie eine Kolchose führen. Das führt politisch und ökonomisch ins Nirwana, und wo das hinführt, kann man gerade auf den Straßen Tunesiens und Ägyptens studieren. Meine Damen und Herren, wir wollen den Dialog mit Minsk nicht abwürgen. Aber es ist jetzt ausschließlich Sache der dortigen Regierung, die Voraussetzungen für ein erneutes Gespräch, eine erneute Kooperation zu schaffen. Ohne eine Verbesserung der Menschenrechtslage wird hier nichts gehen, ohne eine sofortige Freilassung der politischen Gefangenen sowieso nicht. Die Reaktion dieses Regimes - darauf sollten wir immer wieder hinweisen - ist in erster Linie ein Zeichen der Schwäche. Wir wissen, dass die politische Opposition in Minsk nicht besonders gut und stark aufgestellt war und es keine revolutionäre Stimmung im Land gab. Wer auf eine so schwache Organisation einprügelt, wie Lukaschenko das getan hat, zeigt nur Schwäche. "Angstbeißen" nennt man es, wenn ein Tier aus Angst aggressiv wird. Brasilien hat kürzlich 14 Tage lang gefeiert und Samba getanzt, als Frau Rousseff mit 56 Prozent zur Präsidentin gewählt wurde. Lukaschenko ist angeblich mit 80 Prozent gewählt worden. Die Reaktion in Belarus ist: Friedhofsruhe. Das ist der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur. - Jetzt könnt ihr ruhig einmal klatschen. Das wäre gut für das Protokoll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Und Samba tanzen!) - Samba geht auch, Herr Kollege, gerne. Wir müssen die Zivilgesellschaft nicht nur unterstützen, sondern wir müssen den Menschen auch mehr Gelegenheiten geben, zu uns zu kommen. Ich sage hier: Das Visa-Regime darf die Spaltung Europas nicht vertiefen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr davon! - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tut es!) Wir können nichts Besseres tun, als möglichst viele junge Leute, Schüler und Studenten, hierherzuholen und ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Way of Life kennenzulernen. Das ist das Beste, was wir tun können. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Visa-Freiheit! Es geht noch besser!) Herr Staatsminister Hoyer, ich freue mich sehr, dass die Bundesregierung bereits viel getan hat. Schon jetzt werden Visa insbesondere an Schüler und Studenten, die länger als sechs Monate bleiben, kostenfrei erteilt. Ich habe beeindruckende Zahlen vorliegen: über 23 000 gebührenfreie Schengen-Visa. Machen Sie weiter so! Das ist der richtige Weg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Auftrag haben wir als Parlament erteilt!) Jetzt kommen wir einmal zu den Anträgen. Die Grünen haben unter Ziffer 3 beantragt, die Visumpflicht aufzuheben. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie sich damit einhandeln. Dann hätten Herr Lukaschenko und seine Freunde Gelegenheit, nach Europa einzureisen. Wenn kein Visum erforderlich ist, kann er einreisen. Ich weiß nicht, ob Sie das bedacht haben. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir haben nicht gesagt, dass die Pässe nicht mehr kontrolliert werden sollen, Herr Kollege! - Stefan Liebich [DIE LINKE]: Mit der Begründung sperren Sie Tausende aus!) - Herr Liebich, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Habe ich!) hätten Sie festgestellt, dass wir, übrigens in Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, insbesondere für Schüler und Studenten mehr Liberalisierung haben wollen. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Die Sozialdemokraten gehen da einen Schritt weiter als Sie!) Jetzt haben wir zwei praktisch gleichlautende Anträge. Liebe Frau Zapf, ich habe mir das noch einmal genau angeschaut. Ihr Antrag enthält drei Worte mehr als unserer. Ich schlage vor, dass Sie auf diese drei Worte unter Ziffer 3 verzichten (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch kein Vorschlag! - Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann übernehmen Sie doch die drei Worte!) und wir dem Antrag dann gemeinsam zustimmen. Wir brauchen ein starkes Signal. Eine breite Mehrheit wäre ein solches Signal. Ende des Monats tagt die Parlamentarische Versammlung der OSZE. Wir wollen einen Beschluss nach Wien mitnehmen. Es wäre schön, wenn sich der Deutsche Bundestag mit möglichst breiter Mehrheit entscheiden könnte. Meiner Fraktion und mir ist nicht nur wichtig, dass wir Visa-Erleichterungen vornehmen, womit die Bundesregierung schon angefangen hat, sondern auch, dass wir dies mit zusätzlichen Maßnahmen flankieren. Die Bundesregierung hat ihre Hilfe für die Zivilgesellschaft in Belarus um 6,6 Millionen Euro aufgestockt. Die Geberkonferenz in Warschau hat die Mittel für Belarus gerade vervierfacht. Herr Hoyer, es ist wichtig, dass die Gelder jetzt schnell in konkrete Programme fließen, damit die Betroffenen schnell davon profitieren, also Schüler und Studenten. Herr Hoyer, koordinieren Sie bitte die Arbeit der Verantwortlichen in Ihrer Behörde, in der EU und in den Bundesländern. Die Haushälter, die Bildungspolitiker und die Hochschulen müssen sich auf den Weg machen, damit wir möglichst bald eine große Gruppe belarussischer Studenten bei uns begrüßen können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit unserer letzten Debatte hier zum Thema Belarus hat sich die Lage vor Ort wenig verbessert. Präsident Lukaschenko hat seit seinen Repressionen gegen seine Gegenkandidaten und seit seinem Agieren gegenüber Demonstranten wenig Milde gezeigt. Er hat kein Einlenken erkennen lassen. Auch die Freilassung einiger Inhaftierter - darunter waren der Kandidat Wladimir Nekljajew und die Journalistin Irina Chalip - ist kürzlich nur aufgrund des massiven internationalen Drucks erfolgt. Aber immer noch laufen Verfahren weiter. Immer noch gibt es eine Beobachtung durch den Geheimdienst. Und immer noch gibt es politische Gefangene. Das werden wir nicht unwidersprochen hinnehmen. Präsident Lukaschenko darf nicht darauf hoffen, dass wir wegen der dramatischen Entwicklung im Norden Afrikas unsere europäischen Nachbarn vergessen. Wir stehen auch in Belarus weiter an der Seite derjenigen, die für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eintreten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gerade eben - die Vorredner haben darauf hingewie-sen - haben wir die nächste Beratung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE in Wien vorbereitet. Sie dürfen sicher sein, dass die Delegation des Deutschen Bundestages parteiübergreifend und gemeinsam die Kritik, die wir hier formulieren, auch bei der OSZE-Parlamentarierversammlung vortragen wird. Der Vorschlag, der uns heute vom Auswärtigen Amt unterbreitet wurde, eine weitere Konkretisierung zum Thema Moskau-Mechanismus vorzunehmen, ist sehr gut. Ich finde, wir sollten nach einem vernünftigen Weg suchen, diesen sehr guten Vorschlag möglichst in einen gemeinsamen Antrag einfließen zu lassen. Herr Kollege Wellmann, das funktioniert natürlich nicht so, wie Sie es gerade vorgeschlagen haben. (Beifall bei der LINKEN) Klar ist - das ist bisher von allen Rednern gesagt wor-den -, dass wir bei 90 Prozent der Fragen, die hier diskutiert werden, einen Konsens haben. Wenn alle Seiten guten Willen zeigen würden, dann bekäme man auch einen Antrag aller Fraktionen hin. Allerdings gibt es schon eine ernste Differenz. Diese dürfen Sie auch nicht wegreden, Herr Wellmann, oder den Kollegen von der Sozialdemokratie vorschlagen, dass diese Differenz dadurch gelöst wird, dass Ihre Position übernommen wird. Es gibt doch eine Differenz innerhalb der CDU/CSU-Fraktion: Sie haben selbst beim letzten Mal zum Ausdruck gebracht, dass Sie für eine viel stärkere Visa-Freiheit sind als Ihre Kolleginnen und Kollegen Innenpolitiker. Das ist die Differenz. Deshalb unterscheiden sich auch die Anträge so sehr. Zwischen der rechten Seite und der linken Seite dieses Hauses besteht die Differenz darin, wie viel Freiheit man den Menschen in Belarus tatsächlich gewähren möchte. Darum können Sie hier nicht herumreden. Ich muss Ihnen sagen: Ihre Freiheitsreden würden dann besser klingen, wenn Sie den Leuten dort wirklich helfen würden. (Beifall bei der LINKEN) Ich darf den Sacharow-Preisträger und Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch zitieren. Dieser hat nicht Wirtschaftssanktionen gefordert. Vielmehr hat er gesagt, dass wir unsere Tore für die Weißrussen öffnen sollen. Die Bundesregierung überhört diesen Wunsch, und beide Regierungsfraktionen überhören diesen Wunsch. Die Tore bleiben geschlossen. Das ist genau das falsche Signal, das Sie aussenden. (Beifall bei der LINKEN) Wenn es die Möglichkeit gibt, den Antrag von Ihnen und die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an den Auswärtigen Ausschuss zurückzuüberweisen, dann sollten wir das tun. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Stimmt ihr unserem Antrag zu?) - Ich komme noch zu unserem Abstimmungsverhalten. Wir sollten in Ruhe über einen gemeinsamen Antrag reden. Sie haben hier aber zum Ausdruck gebracht, dass Sie das nicht wollen. Sie wollen an dieser Differenz festhalten. Die Tore sollen geschlossen bleiben. Dem kann man definitiv nicht zustimmen. Jetzt zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, nein! Wir haben unseren eigenen Antrag!) - Ja. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und zum Antrag von der SPD-Fraktion. Sie beziehen sich in Ihren beiden Anträgen auf die Beschlussfassung des Europäischen Parlaments und heißen sie gut. In dieser Beschlussfassung des Europäischen Parlaments wird leider auch zu nicht näher spezifizierten Wirtschaftssanktionen und zum Einfrieren aller makrofinanziellen Hilfen und IWF-Darlehen aufgerufen. Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Das habe ich hier im Plenum bereits beim letzten Mal gesagt. Wenn wir diesen Passus beiseitelassen könnten und die Punkte nehmen würden, auf die wir uns einigen könnten, dann würden wir auch einen gemeinsamen Antrag hinbekommen. Dieser Formulierung des Europäischen Parlaments können wir allerdings nicht zustimmen. Aber die Forderungen an die Regierung Lukaschenko, umgehend alle inhaftierten politischen Gefangenen freizulassen, die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unabhängige Medien zu beenden, das ist doch eine Position, die alle Fraktionen dieses Hauses vertreten. Ich verstehe nicht, warum wir es nicht schaffen, diese Position hier zur Abstimmung zu stellen und so zu einer gemeinsamen Beschlussfassung des ganzen Hauses zu kommen. Ich danke Ihnen recht herzlich. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ein bisschen in Sorge, seitdem sich die öffentliche Aufmerksamkeit von Belarus nach Ägypten orientiert hat. Ich hoffe, dass wir Alexander Lukaschenko nicht die Gelegenheit geben, die Gunst der Stunde zu nutzen und die Opposition noch weiter zu zerschlagen, als er es bisher schon getan hat. Wir brauchen - da sind wir uns einig - eine sehr entschiedene und sehr standhafte Politik gegenüber dem Regime Lukaschenko. Ich will nicht darüber hinwegreden, dass es im Umgang mit solchen autokratischen Regimen immer eine schwierige Abwägung zwischen Dialog und Isolierung gibt, wobei wir uns, glaube ich, nach wie vor einig sind, dass die Dialogpolitik mit Weißrussland zwar durchaus positive Seiten entfacht hat, zum Beispiel das Aufblühen der Zivilgesellschaft, dass sich Lukaschenko aber nach dieser dramatischen Verletzung der Geschäftsgrundlage selbst in die Isolierung getrieben hat. Mir ist sehr wichtig, dass wir den Blick noch einmal auf Russland richten; Kollegin Zapf hat das eben angesprochen. Tatsächlich hat sich Außenminister Lawrow sehr deutlich geäußert, nachdem der Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte am 1. Februar dieses Jahres über Präsident Medwedew sehr stark Druck gemacht und gefordert hat, dass sich Russland deutlich für die Einhaltung der Menschenrechte ausspricht. Wir müssen der russischen Seite sagen, dass sie, die sie in einer politischen Union mit Weißrussland ist - - (Unruhe) Herr Präsident, es ist ein bisschen schwierig, hier zu sprechen. Können Sie die Kollegen bitten, ihre Verhandlungen außerhalb des Saales zu führen? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es geht um das anschließende Abstimmungsverfahren. - Können wir die Debatte fortführen, Frau Zapf? Dann müssen wir die Sitzung vor der Abstimmung kurz unterbrechen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Uhr ist übrigens weitergelaufen; das finde ich nicht in Ordnung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich lasse die Uhr gleich ein bisschen länger laufen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Ordnung. Wir müssen sehr deutlich machen, dass Russland für die Menschen, die in KGB-Haft sind, Verantwortung hat. Auch Präsidentschaftskandidaten, die von russischer Seite aufgebaut worden sind, sind unter den Gefangenen. Wir müssen bei ihnen Angst um Leib und Leben haben. Sannikow hatte seit dem 27. Januar keinen Außenkontakt. Hier ist Russland ganz deutlich gefragt. Das sage ich auch in Richtung des Auswärtigen Amtes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir sind uns in sehr vielen Fragen einig, dass sich Lukaschenko selbst isoliert hat, dass es keine anti-belarussische Sanktionspolitik geben kann, aber eine deutliche Isolation des Regimes Lukaschenko. Damit sind wir bei dem Juckepunkt unserer Debatte, bei der Frage, wie wir es mit den Visa halten. Es ist manchen nicht ganz klar, dass wir mit der Einbeziehung von Polen und dem Baltikum in den Schengen-Raum von unserer Seite die Mauer in Europa wieder errichtet haben. Die jungen Menschen aus Weißrussland konnten im kleinen Grenzverkehr vollkommen unproblematisch für 5 Euro pro Visum nach Polen und in das Baltikum reisen. Das heißt, sie waren quasi Teil unseres europäischen Hauses. Mit der Verlagerung des Schengen-Raums an die polnische Außengrenze haben wir den jungen weißrussischen Menschen den Weg versperrt. Herr Kollege Wellmann, erzählen Sie keinen Unsinn, um Ihr schlechtes Gewissen zu verdecken. Es ist Unfug, zu sagen, dass wir, wenn es Visumsfreiheit gebe, keine Einreisen mehr verhindern könnten, zum Beispiel gegenüber Lukaschenko. Auch er müsste seinen Pass vorweisen; auch ihn könnte man an der Grenze abweisen. Dass wir uns jetzt in diesem Punkt, der die größte Hilfe für die weißrussische Zivilgesellschaft bedeuten würde, durch die Schengen-Politik die Hände binden lassen, ist nicht richtig. Deswegen lautet unser klar formulierter Vorschlag, im Rahmen der Schengen-Politik in der EU dafür zu sorgen, dass unsere notwendige außenpolitische Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Wir müssen in der Lage sein, das zu tun, was unter den Gesichtspunkten der Demokratie und der Menschenrechte außenpolitisch notwendig ist. Es geht um nicht mehr und nicht weniger. Deswegen sollten Sie hier keine Camouflage machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Ich war mit dem Kollegen Vaatz vergangene Woche bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herr Milinkewitsch und die jungen Leute dort - gestern habe ich mit Lawon Wolski, der Popikone der belarussischen Jugend, gesprochen - sagen: Es ist schwierig, zu entscheiden, was man jetzt machen soll. Aber eines wissen wir: Ein wirksames Instrument wäre die Reisefreiheit. - Deswegen müssen wir uns hier die Freiheit nehmen, das auszusprechen, was notwendig ist; darauf sollten wir dann auch hinarbeiten. Wir dürfen den Innenpolitikern nicht die Außenpolitik überlassen. Das führt in die Irre. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun das Wort der Kollege Michael Frieser von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Michael Frieser (CDU/CSU): Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Parlamentarismus hat tatsächlich etwas sehr Lebendiges. Es geht um die Frage, ob man in einer vorgegebenen Redezeit in der Lage ist, ein gemeinsames Abstimmungsverfahren herbeizuführen. Ich bin sehr dankbar, dass wir heute eines deutlich machen können: Die Kritik am Regime Lukaschenko und der Protest gegen das, was er Weißrussland antut, einen dieses Haus, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ach ja? Wo denn?) von einigen Ausfällen abgesehen. Wir haben mit einer gewissen Hoffnung auf dieses Land geblickt. Es gab Anhaltspunkte, insbesondere wirtschaftliche Blüten, die diese Hoffnung in den letzten Jahren genährt haben. Am Wahltag, am 19. Dezember 2010, wurden wir aber in unserer Gewissheit bestärkt: Wir erleben ein Regime, das wir Europäer mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, bekämpfen müssen. Voller Schamlosigkeit wurde deutlich gemacht, dass internationaler Protest das Regime nicht irritiert. Ich bin dem Kollegen Klimke, der als Wahlbeobachter dort war, dankbar; ich glaube, auch Frau Kollegin Beck war mit von der Partie. Wer dort war, konnte beobachten, dass es in Belarus eine Art Schaufenster gab. Man hat so getan, als seien es tatsächlich demokratische Wahlen gewesen. Das Gegenteil war der Fall. Heute geht es darum, dass wir uns möglichst effektiv und möglichst schnell in die richtige Richtung bewe-gen. - Wie Sie sehen, laufen manche Kollegen immer noch eifrig hin und her. Sie unternehmen den Versuch, einen gemeinsamen Antrag zu erreichen. Worum geht es? Es geht um effektive, schnelle und konkrete Hilfe. Wir wollen deutlich machen, dass wir den mutigen Menschen in Belarus helfen wollen: den mutigen Journalisten, den Politikern, den Vertretern der Zivilgesellschaft und den mutigen Anwälten, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Wir wollen dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, auch außerhalb von Belarus für ihre Anliegen und die Menschen zu kämpfen. Im Hinblick auf unsere weitreichenden Forderungen an die Bundesregierung müssen wir versuchen, in der zentralen Frage: "Wie können wir den Menschen in Weißrussland möglichst schnell den Weg nach Europa ebnen?" den effektivsten Weg zu gehen. Unserer Auffassung nach - dafür werden Sie Verständnis haben, Frau Kollegin Beck - muss dieser Weg wirksam sein, er muss sofort umsetzbar sein, und er muss effektiv sein. Es ist ein sehr wichtiges politisches Signal, an die Behörden zu appellieren: Bitte erhebt nach Möglichkeit keine Gebühren und geht so unbürokratisch wie möglich vor, aber natürlich im Rahmen der bestehenden Gesetze. - Dann gibt es, wie ich glaube, keine Unsicherheiten, und wir können effektiv arbeiten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck? Michael Frieser (CDU/CSU): Selbstverständlich, wenn ich diesen Satz noch beenden darf. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, ja. Michael Frieser (CDU/CSU): Frau Kollegin Beck, man muss fast folgenden Eindruck haben: Man muss sich am Rande Europas und der EU nur so aufführen wie Herr Lukaschenko, man muss also nur so tun, als lebe man tatsächlich in einer Demokratie, obwohl man eigentlich eine Form der Diktatur errichtet, und schon sind wir bereit, die Visumsfreiheit auszudehnen. Diesen Fehler dürfen wir nicht begehen. (Beifall des Abg. Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]) Jetzt zu Ihrer Zwischenfrage. - Bitte schön. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Frieser, ich danke Ihnen für dieses Stichwort. Zum Ersten möchte ich Sie fragen, ob Sie die Haltung der EU-Kommission teilen, die die Absenkung der Visumsgebühren, wie sie im Fall der Ukraine und anderer Länder gewährt wurde, gegenüber Weißrussland abgelehnt hat mit der Begründung: Solange Weißrussland einen Diktator hat, kann man die Visumsgebühren nicht absenken. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir dem Diktator dabei helfen, das Reisen für die Menschen möglichst schwer und teuer zu machen. Zum Zweiten möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bewusst ist, dass wir in diesem Hause vor etwa drei Jahren schon einmal in genau derselben Weise über die Notwendigkeit einer Visumsliberalisierung im Hinblick auf Weißrussland gesprochen haben, dass damals Anträge vorgelegen haben, über die abgestimmt worden ist, verbunden mit der Aufforderung an das Auswärtige Amt, in der Visumsfrage liberal zu sein, und dass Sie mit Ihrem heutigen Antrag keinen Schritt weiter gehen, als wir es vor drei Jahren getan haben. (Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) Michael Frieser (CDU/CSU): Frau Kollegin Beck, ich glaube, das hieße, die Geschichte aus dem Auge zu verlieren. Die Debatte von damals ist mir sehr wohl bewusst. Das Thema hat aber durch den Wahltag, den 19. Dezember 2010, so an Schärfe gewonnen, dass wir die Situationen nicht miteinander vergleichen können. Ich will Sie aber trotzdem auf den Widerspruch in dieser Darstellung hinweisen. Natürlich hat es Signalwirkung, dass von den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bisher nur Estland, Lettland und Litauen tatsächlich eine Visumsfreiheit erlangt haben. Wenn wir jetzt im Fall Weißrussland die Visumspflicht fallen ließen, sähe dies wie ein Gnadenakt aus, würde aber nicht aus der Überzeugung eines sich öffnenden Europas heraus erfolgen. Ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie sich dafür einsetzen; denn Sie handeln aus dem Impetus heraus, zu helfen. Aber im Ergebnis liefe es meines Erachtens tatsächlich in die falsche Richtung. Die Frage, warum sich auch andere dieses Themas annehmen, hat auch etwas mit der Diskussion über die Gebührenhöhe der Visa zu tun. Deshalb ist es unserer Meinung nach notwendig, dass wir alles unternehmen, was auf diplomatischem Weg möglich ist, damit die Visa so unbürokratisch wie irgend möglich erteilt werden. Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir dieses Signal aussenden, und zwar in einer möglichst einheitlichen Art und Weise. Aus dem eifrigen Umherlaufen hier im Plenarsaal schließe ich, dass wir uns vielleicht auf einen gemeinsamen Antrag zubewegen. Insofern bedanke ich mich herzlich bei den Kollegen der SPD. Wenn wir diese Frage inhaltlich so beantworten können, dass wir uns nicht gegenseitig niederstimmen müssen, dann ist dies mit Sicherheit ein Beleg dafür, dass die große Mehrheit dieses Hauses ein starkes Signal nach Belarus sendet. Wir müssen Herrn Lukaschenko deutlich machen, dass wir es weder akzeptieren noch tolerieren, dass er Menschen in seinem Land verfolgt und nach wie vor so tut, als errichte er eine Demokratie, obwohl er eine Diktatur befehligt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Ich darf Ihnen mitteilen, dass mir von einigen Kolleginnen und Kollegen persönliche Erklärungen zu Tagesordnungspunkt 7 vorliegen. Diese nehmen wir zu Protokoll.1 Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich die Geschäftsführer zu mir bitten. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über drei Anträge mit dem gleichlautenden Titel "Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken", und zwar zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 17/4685. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der Grünen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4667. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der SPD-Fraktion und Enthaltungen der Fraktion Die Linke und der Grünen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4686. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der Grünen, Enthaltung der SPD und der Linken und Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Evaluierung von Sicherheitsgesetzen - Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren - Drucksache 17/3687 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Wolfgang Wieland von Bündnis 90/ Die Grünen das Wort. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem ist diese Koalition bisher eigentlich unschlagbar: im Ankündigen von Überprüfungen und Evaluierungen. (Gisela Piltz [FDP]: Danke für die Erkenntnis! Wunderbar!) Das fängt mit der Koalitionsvereinbarung an. Im Bereich der Innenpolitik, Frau Kollegin Piltz, sollen zum Beispiel die Telefonüberwachung, der Datenschutz, das Waffenrecht und die Internetsperren überprüft werden. Bisher kannte man den schönen Satz: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Bei Ihnen kommt hinzu: Wenn ich gar nicht einig bin, Evaluierung ist immer noch drin. - Danach handeln Sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: An dem Zweizeiler haben Sie aber lange gearbeitet!) Darin sind Sie ja Spezialist. Schwarz-Gelb haben wir netto seit einem Jahr - brutto noch länger -, und noch kein einziges dieser Evaluierungsergebnisse liegt vor. Im Gegenteil: Sie streiten sich jetzt sogar darüber, ob vorliegende Ergebnisse präsentiert werden sollen - siehe Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz. Erst haben Sie also Angst vor dem gemeinsamen Handeln, weswegen eine Evaluierung durchgeführt wird, und dann haben Sie Angst davor, das Ergebnis dieser Evaluierung vorzulegen. Sie machen aus einem an sich guten Instrument ein Verzögerungsinstrument. Sie machen aus einer guten Idee ein innerkoalitionäres Verzögerungsmittel bzw. - ich sage es anders - eine schlechte Ausrede in Ihrer Koalition. Das ist einfach nicht akzeptabel. Deswegen leisten wir heute Hilfestellung, indem wir diesen Antrag vorlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich gebe zu: Das ist unsere Idealvorstellung. Man kann hier anderer Meinung sein und sagen: Ein solches Gremium wollen wir nicht. Darüber wollen wir ja reden. Deswegen machen wir diesen Vorschlag. Was man aber nicht machen kann, ist, zu sagen: Es soll alles so bleiben. Den schlechten Zustand, den wir jetzt haben und der weitestgehend eine Selbstevaluierung der Exekutive bedeutet, verändern wir nicht. - Das geht auf gar keinen Fall. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD]) Eine Evaluierung ist bisher völlig unsystematisch vorgesehen: einmal hier, einmal da und dann wieder gar nicht. Deswegen sagen wir erstens: Alle Gesetze, die in die Grundrechte eingreifen und die dem Zitiergebot unterliegen, müssen eine Evaluierungsklausel und eine Evaluierungsfrist enthalten. Zweitens kann es doch nicht sein, dass sich die Exekutive selber evaluiert, wie bei dem sogenannten Terrorismusbekämpfungsgesetz. Da hat sich die Innenverwaltung selber aufgeschrieben, wie toll sie ist. Das hat sie dann auch noch VS-Vertraulich gestempelt und geschlussfolgert: Selbst Befugnisse, die nie angewendet wurden, behalten wir bei. Man weiß ja nie, was kommt. - Das ist so sinnvoll, als würde man die Evaluierung staatlicher Schauspielbühnen an die Intendanten übertragen. Jeder weiß, welches Ergebnis dann herauskommen würde. Niemand würde diesen Irrsinn machen; aber im Bereich der inneren Sicherheit war er bisher Methode. Das muss aufhören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bei Peymann weiß man nie, was dabei herauskommt) - Herr Grindel, wir werden sehen, was dabei herauskommt, wenn man es richtig macht. Wir als Gesetzgeber müssen bei der Evaluierung den Hut aufhaben. Wir müssen das in die Hand nehmen; es sind unsere Gesetze. Dieses Pingpongspiel mit Karlsruhe, dass hier Gesetze gemacht werden und uns dann eine permanente verfassungsgerichtliche Nachhilfe erteilt wird, wie es Jutta Limbach einmal gesagt hat, muss aufhören. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die brauchen wir nicht!) Wir müssen in die Lage versetzt werden, durch eine Evaluierung der Wirkung unserer Gesetze selber zu einer Korrektur zu kommen. Um dieses Stück Autonomie des Gesetzgebers geht es hier. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist schwierig; das wissen wir. Aber eine Evaluierung kann dabei helfen. Wir schlagen eine Evaluierung auf hohem Niveau vor, und wir erwarten, dass Sie sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Franz Josef Jung von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wieland, ich denke, Ihr Antrag, den wir heute beraten, geht völlig an der Sache vorbei. Er ist aus meiner Sicht einer Behandlung im Rahmen einer Plenardebatte unwürdig und überflüssig wie ein Kropf. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber werden Sie jetzt zwölf Minuten reden! Da sind wir gespannt! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein sehr kollegialer Einstieg!) In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat keine Bundesregierung so viel für die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen getan wie die Bundesregierung unter christlich-liberaler Verantwortung. Deshalb ist Ihr Antrag abzulehnen, Herr Wieland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hören Sie doch auf mit Ihrer Rede! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sollen wir gehen, oder gehen Sie?) Es stimmt: Freiheit ist ohne Sicherheit nicht möglich. Aber Sicherheitsgesetze müssen den Grundrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Deshalb ist es, denke ich, auch richtig, dass die Sicherheitsgesetze evaluiert bzw., auf Deutsch, überprüft und entsprechend bewertet werden und dass auch die Behördenstrukturen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie haben es angesprochen: Beim Terrorismusbekämpfungsgesetz und bei der Antiterrordatei ist die Evaluierung bereits gesetzlich vorgesehen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das Ergebnis?) Sie sollten übrigens hinzufügen, dass im Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz, das im Oktober 2006 in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, eine Evaluierungsklausel mit Parlamentsbeteiligung vorgesehen ist. Das war in rot-grüner Regierungszeit gerade nicht der Fall. Ich halte es für richtig, dass der Gesetzgeber, der die Verantwortung für die Gesetze trägt, an einem solchen Prozess beteiligt ist. Damit hat die christlich-liberale Koalition den richtigen Schritt unternommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kann noch ein bisschen weiter gehen! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2006 gab es doch keine christlich-liberale Koalition!) Die Antiterrordatei soll bis Ende dieses Jahres evaluiert werden. Es soll eine umfassende Analyse und Bewertung des Instruments der Antiterrordatei im Hinblick auf seine gesetzlich definierte Zielsetzung erfolgen. Ob die Antiterrordatei die Zusammenarbeit der Teilnehmer effektiv unterstützt und damit einen erfolgreichen Beitrag zur Terrorismusbekämpfung leistet, ist ein weiterer entscheidender Punkt, der im Rahmen der Evaluierung zu prüfen ist. Hinzuzufügen ist auch - das haben Sie ebenfalls nicht erwähnt, Kollege Wieland -, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur ein Drittel Ihrer Redezeit, Herr Kollege Jung! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll er denn in vier Minuten alles erzählen?) dass die Evaluierungsregelungen im Gemeinsame-Dateien-Gesetz die Einbeziehung eines Sachverständigen erfordern, und zwar im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag und unter Wahrung von Objektivität und Neutralität des Sachverständigen. Eines muss aber immer klar sein: Bei der gesamten Überprüfung und Bewertung durch eine derartige Evaluierung von Sicherheitsgesetzen liegt letztlich die Verantwortung bei der Bundesregierung (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Beim Bundestag!) respektive beim Deutschen Bundestag. Sie darf nicht in irgendwelche Experimentierzirkel abgeschoben werden und zu "Gutachteritis" führen; hier ist vielmehr die Verantwortung des Verfassungsorgans gegeben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Herrn de Maizière!) Deshalb muss die Verantwortung beim Verfassungsorgan bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In diesem Licht werden wir jetzt die Werthebach-Kommission betrachten!) Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt - darauf haben Sie hingewiesen -, dass die Sicherheitsdaten und die gemeinsamen Zentren, die Telekommunikationsüberwachung und das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten zu überprüfen sind. Die Arbeiten daran sind ebenfalls in Gang. Hinzu kommt - das haben Sie nicht erwähnt -, dass selbstverständlich auch die Schnittstellen der zivilen Sicherheitsbehörden, nämlich Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Zollverwaltung, entsprechend überprüft werden. Dazu hat die Werthebach-Kommission (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch so ein Zirkel, den Sie nicht mögen!) jetzt ihre Arbeiten vorgelegt. Das Ministerium wertet gerade die Ergebnisse aus. Wir haben das bereits im Innenausschuss diskutiert. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: "Gutachteritis" kann ich nur sagen!) Ich finde die Ziele richtig, zu mehr Effektivität zu kommen, Überschneidungen zu vermeiden, Aufgabenbündelungen vorzunehmen und Synergieeffekte zu erzielen. Eines ist aber klar: Es darf keine Funktion, die zur Eingliederung von Institutionen führt, in Betracht kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben in Ihrem Antrag die Hinzuziehung von Sachverständigen im Zusammenhang mit der Evaluierung angesprochen. Hier, denke ich, sind die Kriterien klar. Die Unabhängigkeit muss gewahrt werden. Der derzeitigen Auswahl hat der Deutsche Bundestag zugestimmt. Das haben Sie hier ebenfalls nicht erwähnt, Kollege Wieland. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage es noch einmal: Ich hatte ein Drittel Ihrer Redezeit! Geben Sie mir das nächste Mal etwas ab! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann hier nicht die ganze Bibel vortragen!) Ebenfalls zu ergänzen ist, dass das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz vorsieht, dass ein Staatsrechtler beauftragt wird, der, lieber Kollege Wieland, auch auf grundrechtliche Fragestellungen den Fokus legt. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Ich bin und bleibe der Auffassung, dass die Verantwortlichkeit beim Verfassungsorgan bleiben muss und nicht an ein Expertengremium abgegeben werden kann. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir auch so! - Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Jawohl!) Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt im Zusammenhang mit derartigen Überprüfungen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag drin!) Es liegt in der Verantwortung des Deutschen Bundestages, die Sicherheitsgesetze einer verantwortlichen Evaluierung zuzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag genau so drin!) Der Forderung nach einer, wie Sie es in Ihrem Antrag formuliert haben, umfassenden, transparenten und ernsthaften Evaluierung wird von der Bundesregierung bereits Rechnung getragen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Transparent? - Na ja!) Ich habe gerade gesagt: Noch keine Regierung hat dies in einem derartigen Ausmaß durchgeführt. Die Forderung nach einem institutionalisierten Expertengremium halte ich für falsch, weil ich der Auffassung bin, dass hier die Verantwortung des Verfassungsorgans gegeben sein muss. Aus all diesen Gründen ist Ihr Antrag abzulehnen. Besten Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann von der SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema "Evaluierung von Sicherheitsgesetzen" liegt mir seit langem am Herzen und ist für den Rechtsstaat von herausragender Bedeutung. Insofern rennen die Grünen bei mir und bei uns offene Türen ein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen ist eine Großbaustelle, bei der noch viel zu tun ist. Die Materie ist wissenschaftlich noch nicht völlig durchdrungen. Gute Ansätze sehe ich zum Beispiel bei Marion Albers, die zur grundrechtsbezogenen Evaluierung gearbeitet hat, und bei Gusy aus Bielefeld, der zur Telefonüberwachung evaluiert hat. Aber auch das Max-Planck-Institut hat schon beachtliche Ergebnisse geliefert. Fest steht für mich und für uns: Die Politik muss sich an der Entwicklung und Gestaltung von Evaluierungskonzepten beteiligen und muss diese vorantreiben. Das Innenministerium hat in 2010 Vorschläge zur Evaluierung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes und des Gemeinsame-Dateien-Gesetzes vorgelegt. Wir alle haben die Entwürfe gesehen. Darin sehe ich misslungene Versuche. Herr Jung, Sie haben gesagt, keine Bundesregierung habe für die Evaluierung mehr getan, und die Parlamentsbeteiligung hervorgehoben. Ich kann Ihnen nur sagen: Herr Benneter und ich waren es, die dies bei diesen Gesetzen durchgesetzt haben, und zwar gegen großen Widerstand aus Ihrer Fraktion. Wenn ich mir jetzt anschaue, was aus dem Ministerium kommt, dann habe ich den Eindruck, es sieht dies als eine lästige Pflichtübung, nicht als Evaluierung. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Ich sehe keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu vorangegangenen sogenannten Evaluierungen. Die Hinzuziehung einer externen Beratungsfirma ist eine Farce, wenn sie keinen rechtsstaatlichen Mehrwert darstellt - und sie stellt in diesem Zusammenhang keinen rechtsstaatlichen Mehrwert dar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kirsten Lühmann [SPD] und Jan Korte [DIE LINKE]) Schauen Sie sich es einmal genau an: Das Innenministerium will autonom die Forschungsfragen der Evaluierung festlegen und die Auswertung und Bewertung alleine durchführen; es braucht den Sachverständigen lediglich als Methodenberater. Das ist mir entschieden zu wenig. Damit kann das BMI den gesamten Prozess und auch das Ergebnis steuern. Ungewollte und kritische Anmerkungen von Sachverständigen können so wirkungsvoll verhindert werden. Ich nenne das "Scheinevaluierung". Die Regierungskoalitionen haben sich im Koalitionsvertrag die Evaluierung des Sicherheitsgesetzes auf die Fahne geschrieben. Aber in der Verwaltung, in der Spitze der Ministerien, gelten weiterhin die alten Verwaltungsgrundsätze: "Das haben wir schon immer so gemacht", "Das haben wir noch nie so gemacht" und "Da könnte ja jeder kommen". Ich erwarte eine unabhängige, ergebnisoffene Begutachtung und Bewertung von Gesetzen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. Herr Jung, das ist bei Ihnen auch deutlich geworden. Für Sie liegt das Schwergewicht auf Praxistauglichkeit und auf Effektivität. Das sind nur zwei wichtige Aspekte. Für Sie sind es jedoch die einzigen Punkte. Das ist falsch. Ich denke zurück an die Evaluierung im Zusammenhang mit der Bundespolizeireform. Dieser Evaluierungsbericht ist kräftig in die Hose gegangen. Das Innenministerium hat sich ein passendes Ergebnis gebastelt, und die Realität sah ganz anders aus. Deshalb ist auch eine Anhörung durch den Innenausschuss durchgeführt worden. Die Kritik der Sachverständigen und der Betroffenen war vernichtend. Evaluierungen sind eben keine Schönwetterberichte. Eine rechtsstaatsorientierte Evaluierung von Sicherheitsgesetzen darf nicht allein die Effektivität der Verwaltungstätigkeit zum zentralen Maßstab haben. Die entscheidenden Fragen müssen lauten: Welche Grundrechte sind berührt? Wie tief und wie häufig sind die Eingriffe? Sind die Rechtsstaatsprinzipien gewahrt? Nun zum Vorschlag der Grünen. Sie schlagen ein institutionalisiertes Expertengremium vor. Damit würde ich vorsichtig umgehen. Institutionen mit festen Organisationsstrukturen entwickeln immer ein Eigenleben. Wir brauchen die Unabhängigkeit der Sachverständigen, die selbstständig eine Bewertung vornehmen und die sich auch dem wissenschaftlichen Wettbewerb stellen. Über diese Punkte müssen wir noch reden. Einheitlich festgelegte Kriterien sind nicht sinnvoll. Es gibt in diesem Bereich nicht so etwas wie ein Jackett von der Stange, das für alle Gesetze gleichermaßen passt. Jedes Gesetz benötigt seinen eigenen Maßanzug. Deshalb bin ich skeptisch. Wir müssen auch noch über den Zeitpunkt reden. Wenn der wissenschaftliche Sachverständige erst im späteren Stadium hinzukommt, dann fehlen schon alle Voraussetzungen, um richtige Statistiken führen zu können. Ich halte es für wichtig, dass er bereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Prozess eingebunden wird. Es gibt noch eine Menge zu tun. Die SPD-Fraktion will hierzu einen konstruktiven Beitrag leisten. Wir werden morgen eine renommierte Expertin auf dem Gebiet der Gesetzesevaluierung in unserer Arbeitsgruppe hören. Sie wird uns mit ihrem Know-how unterstützen. Die Bundesregierung sollte diesem Beispiel folgen und bei Evaluierungsfragen auch unabhängigen externen Sachverstand mit ins Boot holen. Deshalb wünsche ich mir, dass das BMI selbstständig ohne gesetzlichen Zwang die Sicherheitsgesetze auch wissenschaftlich evaluieren lässt. Damit wäre es auf der Höhe der Zeit. Nur so kann der Gesetzgeber seiner permanenten Verfassungsbindung genügen und gegebenenfalls Nachbesserungen am Gesetz vornehmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gisela Piltz (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von den Grünen, bei der Lektüre Ihres Antrages war ich mir nicht sicher, ob ich nun erfreut oder erstaunt sein sollte. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beides!) Erfreut, weil ich zur Kenntnis nehmen konnte, dass es in Ihrer Fraktion zu früheren Zeiten einen Lernprozess gegeben hat, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann Ihnen nicht passieren!) oder erstaunt über die Dreistigkeit, uns diesen Antrag vorzulegen. Da schreiben Sie doch tatsächlich, dass Sie in Ihrer - da war es nämlich - rot-grünen Regierungszeit etwas Tolles, nämlich eine unabhängige Evaluierung eingeführt hätten. Im nächsten Satz beklagen Sie sich dann, dass der Gesetzgeber dies aber nicht umgesetzt habe. Sie schreiben da: Deshalb hat die rot-grüne Koalition ... das Instrument einer gesetzlich vorgesehenen Evaluierungspflicht eingeführt. (Zuruf von der FDP: Das Wort habe ich vorhin schon mal gehört!) Evaluierung wurde dabei als unabhängige Überprüfung der Grundrechtsverträglichkeit und Verhältnismäßigkeit verstanden. Jetzt kommt mein Lieblingssatz: Dies wurde allerdings nicht so vom Gesetzgeber ausformuliert. Da muss ich doch einmal fragen: Wer war denn damals Gesetzgeber? Warum haben Sie das denn nicht geschafft, wenn Sie das alles so toll finden? Warum steht das nicht direkt im Gesetz? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Herr Wieland noch nicht im Parlament war!) Weil Sie es damals nicht für nötig gehalten haben oder sich nicht durchsetzen konnten? Waren Sie - ich könnte auch direkt fragen - nicht eigentlich selbst der Gesetzgeber, der es verbockt hat? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, war er nicht!) Das ist nämlich genau das Problem. Sie haben es damals nicht richtig gemacht und wollen uns das jetzt anhängen. Das ist nicht redlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen es jetzt verbessern!) Dazu kann ich eines sagen: Inhaltlich sind wir gar nicht so weit auseinander. Wir sind der Auffassung, dass Evaluierung richtig ist. Sie muss zwingend die Verhältnismäßigkeit in den Blick nehmen. Sie darf sich vor allen Dingen nicht auf die Praktikabilität der ausführenden Behörde beschränken, (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sehr gut!) und sie soll auch nicht nur von den Betroffenen durchgeführt werden. Der Satz, dass die Frösche nicht ihren eigenen Teich trockenlegen würden, ist hier schon oft zitiert worden. Er trifft auch hierauf zu. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Frösche sind grün!) Wenn hier gesagt wird, wir täten gar nichts, was Evaluierung angeht, dann muss ich fragen, wo Sie eigentlich waren, als es im Innenausschuss um das Informationsfreiheitsgesetz ging. Wir sind gesetzlich nicht verpflichtet, dieses zu evaluieren, wir tun es aber. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die Frist fehlt! Im Gesetz steht die Evaluierungspflicht!) - Wir sind in dieser Legislaturperiode nicht verpflichtet, das zu machen. - Wir beauftragen einen Externen, das Informationsfreiheitsgesetz zu evaluieren. Das ist mehr, als Sie geschafft haben. Daher ist Ihr Verhalten nicht richtig. (Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Wenn er möchte. Dann habe ich Spaß. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich höre, dass Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland zulassen. Gisela Piltz (FDP): Ja. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schön. - Bitte, Herr Wieland. Gisela Piltz (FDP): Mir würde sonst etwas fehlen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Frau Kollegin Piltz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir durchaus gelernt haben, dass die Pflicht zur Evaluierung in das Terrorismusbekämpfungsgesetz geschrieben wurde, im Übrigen auch in das Informationsfreiheitsgesetz? Sie liegen mit Ihrer Meinung falsch. Es wurde nur versäumt, eine Frist festzusetzen. Die Evaluierungspflicht aber steht im Informationsfreiheitsgesetz. Aufgrund des Lernprozesses, dass dabei eine Selbst-evaluierung der Exekutive herauskam, haben wir gesagt: So geht es nicht weiter. - Den ersten Schritt, den der Kollege Hofmann genau geschildert hat, nämlich dass in einem Gesetz steht, dass ein Externer hinzugezogen werden muss, finden wir unzureichend, weil es sich um eine Gesellschaft handelt, die nur methodische Vorschläge unterbreitet, ansonsten aber Managementberatung oder dieses und jenes macht. Alles dies hat dazu geführt, sich abstrakt in Form eines Antrags zu überlegen, wie eine bessere Evaluierung aussehen kann. Wäre es nicht besser, statt immer nur Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, uns zu sagen, ob Sie wie der Kollege Jung schroff sagen: "Abgelehnt!", ob Herr Jung auch in Ihrem Namen die Ablehnung ausgesprochen hat oder wie Sie sich hierzu verhalten wollen? Gisela Piltz (FDP): Eigentlich kann ich den Rest meiner Rede auf Ihre Kosten halten und noch ganz lange weiter reden; denn das alles hätte ich noch gesagt. Herr Kollege Wieland, erstens waren wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht verpflichtet, die Evaluierung des Informationsfreiheitsgesetzes vorzunehmen. Wir tun es aber trotzdem. Das widerspricht dem, was Sie und Ihre Kollegen hier gesagt haben, nämlich dass wir so etwas nicht tun würden. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das ist kein Sicherheitsgesetz! Hier geht es um Sicherheitsgesetze!) - Die Aussage war, dass wir überhaupt keine Evaluierung vornehmen. Das habe ich eben widerlegt. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass Sie kein Ergebnis bisher haben!) Zweitens haben wir uns im Zusammenhang mit den anderen Gesetzen auf ein Verfahren verständigt, dass externer Sachverstand hinzugezogen wird, der sich natürlich auch der Frage der Verhältnismäßigkeit widmen soll. Die Koalitionsfraktionen werden das sehr genau verfolgen und natürlich mit evaluieren. Insofern gebe ich meinem Kollegen Jung - das wird Sie jetzt erstaunen und ihn vielleicht erfreuen - völlig recht. Wir sind uns völlig einig, dass Ihr Antrag abzulehnen ist, weil in ihm etwas gefordert wird, was wir ohnehin schon tun. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir tun das, und wir werden mehr tun, als Sie getan haben; denn Sie waren nicht in der Lage, das in das Gesetz zu schreiben. Wir setzen jetzt um, was Sie nicht ins Gesetz geschrieben haben. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Mit Evaluierungsklauseln - das möchte ich auch sagen - kann sich Politik auch nicht reinwaschen. Man kann nicht sagen: Wir greifen jetzt einmal in die Grundrechte ein, aber wir haben am Ende eine Evaluierung und schauen, wie schlimm es ist. - Auch das ist unredlich. So gesehen muss ich auch noch einmal daran erinnern, dass sich die Kollegen der SPD durchaus damit geschmückt haben, eine Evaluierung vorzunehmen. Dies ist aber kein Trostpflaster dafür, dass Sie die Grundrechte mit dem BKA-Gesetz eingeschränkt haben. Wir werden das anders machen. Das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium sind sich beim TBEG und bei der Antiterrordatei einig, welches Verfahren angewendet wird. Wir legen damit die Grundlage für eine echte Evaluierung. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das ist das Verfahren, das schon vorliegt? Das ist keine Evaluierung! Das ist eine Farce!) - Wissen Sie, was ich eine Farce finde, Herr Kollege? (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie werden es mir sagen!) Dass Sie nicht in der Lage waren, mit Grün, mit anderen Koalitionspartnern eine ordentliche Evaluierung ins Gesetz zu schreiben. Wenn wir es jetzt besser machen als Sie, dann ist es ein Erfolg. Eine Farce ist Ihre Gesetzgebung und nicht unsere Evaluierung. Das muss ich hier deutlich sagen. Man muss auch einmal in die Geschichte schauen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie wissen genau, dass sich die Evaluierung in der Wissenschaft erst langsam durchsetzt und dass es sie vor zehn Jahren noch nicht gab!) - Jetzt ist es auch einmal gut. Wenn Sie eine Frage haben, dann stellen Sie sie ordentlich, so wie der Kollege Wieland. Stellen Sie sich meiner Antwort, und quaken Sie hier nicht andauernd dazwischen! (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ich mache das, wie ich es für richtig halte!) - Jetzt ist es aber auch gut. Eines muss man auch sagen: Wenn Sie den Koalitionsvertrag einmal anschauen, dann werden Sie sehen, dass wir keine Verschärfung von Sicherheitsgesetzen planen. Ganz gleich, was Sie uns vorwerfen, wir planen das nicht. Das muss man hier auch deutlich sagen. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ein Teil plant das!) Das heißt auch, dass wir bei allen Gesetzesvorhaben die Verhältnismäßigkeit lieber direkt prüfen und dies nicht auf nachfolgende, möglicherweise andere Mehrheiten verschieben. Wir stellen uns bei den Grundrechten der Verantwortung und lassen nicht hinterher jemand anderen prüfen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich mich schon darauf freue, mit Ihnen darüber zu diskutieren, ob Maßnahmen, die Sie den Sicherheitsbehörden überhaupt erst ins Gesetz geschrieben haben, verlängert werden sollten oder nicht. Ich meine eine Diskussion auf der Grundlage der von der schwarz-gelben Koalition in Auftrag gegebenen Evaluation mit Blick auf Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Ich freue mich auf eine ernsthafte Diskussion mit der Opposition, und ich hoffe, sie gerät nicht zur Farce. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Jan Korte von der Fraktion Die Linke das Wort. Jan Korte (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, was heute aus den Reihen der Koalition so alles geboten wird. Ich muss sagen, der gestellte Antrag ist in der Tat sehr sinnvoll. Ich glaube, das kann man erst dann richtig würdigen, wenn man sich anschaut, welche Eingriffe in die Bürgerrechte in den letzten Jahren stattgefunden haben. Die Gesamtsumme der Eingriffe zeigt in der Tat, dass wir dringend eine Evaluierung brauchen, weil Evaluierung immer auch ein Stück weit Selbstkorrektur - man könnte auch sagen, Selbstkritik; wie auch immer - bedeutet. Wir brauchen nämlich eine Abrüstung nach innen und außen. Das ist angemessen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Kollege Wieland hat das Beispiel schon genannt. Es ist ein relativ lustiger Vorgang, dass, ich sage einmal, die härtesten Innenpolitiker ihre härtesten innenpolitischen Gesetze evaluieren, überprüfen und - potz Blitz! - zu der Erkenntnis kommen, dass die Ergebnisse spitze sind und man sogar noch viele neue braucht. Das ist in etwa so, als sollte sich die CDU/CSU-Fraktion in der Öffentlichkeit selbst im Hinblick darauf evaluieren, wie ihre Politik ist. Sie ist natürlich nachweislich schlecht, aber Sie werden logischerweise sagen, dass sie gut ist. So kann man nicht seriös evaluieren. Das muss unabhängig geschehen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel dafür nennen, dass man schon von hier aus evaluieren kann. Wir erinnern uns an die harten Debatten, die wir zur Befugnis der Onlinedurchsuchung im BKA-Gesetz geführt haben. Das ist nun recht interessant. Wir wollten konkret evaluieren und haben eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Nachdem die Onlinedurchsuchung in das BKA-Gesetz aufgenommen worden ist, wollten wir wissen: Wie oft hat das BKA eigentlich eine Onlinedurchsuchung durchgeführt? Von der Bundesregierung haben wir die Antwort bekommen - das ist wirklich toll -:In der Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 21. Mai 2010, also rund ein Jahr, wurde keine einzige Onlinedurchsuchung durchgeführt. - Keine einzige! Wenn man eine seriöse Evaluierung durchführen würde, käme man zu folgendem Schluss: Das müssen wir streichen. Weg mit der Onlinedurchsuchung. Man braucht sie gar nicht. Sie gefährdet die Bürgerrechte. - Das wäre die richtige Schlussfolgerung. Davor drücken Sie sich aber. Das ist der Grund, weswegen Sie diesen Antrag nicht wollen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Weshalb wollen Sie diesen Antrag nicht? Diese Frage ist in der Tat sehr interessant. Wir brauchen eine Evaluierung der beiden Pole Freiheit und Sicherheit. Sind sie noch im Lot? Eine solche Evaluierung muss vor allem unabhängig sein. Wir brauchen keine harten Sheriffs aus Ihren Reihen, die die Gesetze überprüfen, sondern Bürgerrechtler, unabhängige Rechtsanwälte, Journalisten und viele andere. Die Bürger- und Persönlichkeitsrechte müssen ebenfalls evaluiert werden, um herauszufinden, inwieweit sie in Mitleidenschaft gezogen worden sind (Zuruf von der CDU/CSU: Kein einziges Mal! Das haben Sie doch eben gesagt!) bzw. nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind; auch das ist möglich. Ganz sicher ist das - das haben wir jetzt mehrfach gehört; das richtet sich auch an diejenigen, die im Innenausschuss sitzen -: Wir müssen evaluieren, wie die Sicherheitslage in der Innenpolitik aussieht; denn darauf fußt eine seriöse Gesetzgebung. Wir bekommen ständig Terrorwarnungen. Zum Glück ist dies seltener geworden. Es war dennoch erst kürzlich der Fall. Das Problem ist, dass man nicht überprüfen kann, wie groß die Gefahr wirklich ist. Wie will man da sachlich über solche Gesetzesvorhaben reden? Deswegen sind Sie in der Pflicht, endlich offenzulegen, wie die Sicherheitslage ist. Erst dann kann man solche Gesetzesvorhaben seriös behandeln. (Beifall bei der LINKEN) Natürlich werden wir diesen Antrag unterstützen. Eines will ich den Grünen aber noch mit auf den Weg geben. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da würde auch was fehlen!) Noch besser, Kollege Wieland, als Evaluierungsdebatten zu führen, wäre es für die Grünen, solch schlechten Gesetzesvorhaben erst gar nicht zuzustimmen. Dann brauchen wir sie nämlich nicht zu evaluieren. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bräuchten Sie auch keine Evaluierung!) Die Linke stimmt so etwas niemals zu. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3687 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf: Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 17/4680 - Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4680, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien andererseits - Drucksache 17/3963 - Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) - Drucksache 17/4500 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Beyer Günter Gloser Dr. Rainer Stinner Sevim Daðdelen Marieluise Beck (Bremen) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte am 8. Oktober 2010 hat sich der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend für eine Weiterleitung des serbischen EU-Beitrittsantrags an die Europäische Kommission ausgesprochen. Damit wurde das bekräftigt, was unserer europäischen Überzeugung entspricht: Wir wollen die Überwindung der Teilung Europas vollenden. Dazu gehört die EU-Perspektive für die Länder des westlichen Balkan. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das gilt natürlich auch für Serbien. Es steht außer Frage, dass ein rechtsstaatliches und demokratisches Serbien seinen Platz in der europäischen Familie hat. Heute steht im Bundestag die Entscheidung über einen weiteren wesentlichen Zwischenschritt auf diesem Weg nach Europa an. Es geht um die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Dieses Abkommen ist ein wesentlicher Bestandteil des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses. Das ist ein Prozess, den die Europäische Union nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen hat. Dieser Prozess bildet nach wie vor den Kompass für Stabilität und nachhaltige Reformen in der Region, gerade weil er eine nachhaltige Perspektive beinhaltet. Serbien bekennt sich in dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zu den europäischen Werten: Menschenwürde, Demokratie, Schutz von Minderheiten, Rückkehrrecht der Flüchtlinge, uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen. Das sind große, das sind gewichtige Worte, wenn man an die Geschichte dieser geschundenen Region Europas denkt. Das alles in die Realität umzusetzen, wird kein Selbstläufer sein; das ist noch ein langer Weg. Das Abkommen bietet die Grundlage für eine schrittweise Angleichung des serbischen Rechts an den EU-Acquis. Es eröffnet in vielen Bereichen eine intensive und umfassende Zusammenarbeit zwischen Serbien und der EU, auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Nach erfolgreicher Umsetzung des Abkommens wird Serbien einen erheblichen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes der Europäischen Union übernommen haben. Das ist eine notwendige, wenngleich noch längst nicht hinreichende Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäischen Union. Die europäische Perspektive bleibt der wirksamste Hebel für unumkehrbare Reformen in Serbien und der gesamten Region. Die Europäische Union steht zu ihren eingegangenen Verpflichtungen und erwartet umgekehrt, dass Serbien vor einem Beitritt zur Europäischen Union alle Kriterien für eine Mitgliedschaft uneingeschränkt erfüllt. Meine Damen und Herren, da dürfen wir uns nichts vormachen: Das ist noch ein längerer Weg. Wir müssen aus der Geschichte der europäischen Erweiterungspolitik lernen und auf der Einhaltung der klar formulierten Erwartungen an einen Beitrittskandidaten bestehen. Serbien muss unter Beweis stellen, dass es nicht nur anspruchsvolle Reformagenden abhandeln kann, sondern auch die Werte der Europäischen Union in vollem Umfang teilt und dafür eintritt, übrigens nicht nur zum Zeitpunkt des Beitritts, sondern auch danach, wenn man in das europäische Haus eingezogen ist. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hierzu gehören auch - das ist ganz zentral - das Eintreten für Versöhnung, regionale Zusammenarbeit und gutnachbarliche Beziehungen. Hierauf werden wir und wird die Kommission ein waches Auge richten müssen. Um im Prozess der Versöhnung auch in Bezug auf Kosovo weiterzukommen, erwarten wir, dass der Dialog zwischen Belgrad und Pristina über praktische Fragen so bald wie möglich beginnt und konstruktiv geführt wird. Auch bei den Beziehungen zu einem anderen Nachbarstaat, nämlich Bosnien und Herzegowina, muss Serbien deutlich zeigen, dass es die konstruktiven und kompromissorientierten Kräfte unterstützt und sich unzweideutig für die europäische Zukunft eines ungeteilten Bosnien und Herzegowina einsetzt. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Grenzen auf dem Balkan sind endgültig gezogen. Der Internationale Gerichtshof hat im letzten Jahr bestätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen Völkerrecht verstoßen hat. Auch Kosovo hat eine europäische Perspektive. Diese müssen wir ebenfalls voranbringen, soll das Land kein Hort der Instabilität in Europa werden. Ich sage klar: Wir erwarten von Serbien, dass es diese Perspektive, so schwierig sie sein mag, nicht blockiert. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Offene bilaterale Fragen dürfen nicht erneut in die Europäische Union importiert werden, will die Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit bewahren. Auch hier haben wir aus den Erfahrungen gelernt. Serbien hat den richtigen Weg eingeschlagen. Nicht zuletzt in New York im letzten Herbst ist es mit großem persönlichen Engagement auch von europäischen Außenministern wie William Hague, Guido Westerwelle und Cathy Ashton gelungen, eine gemeinsame Resolution auf den Weg zu bringen, die nicht neue Gräben aufreißt. Auch die jüngsten Gesten zwischen dem serbischen und dem kroatischen Staatspräsidenten stimmen hoffnungsfroh. Der Besuch von Präsident Tadic in Vukovar, die Resolution des serbischen Parlaments zu Srebrenica und das serbische Bekenntnis zur territorialen Integrität Bosniens zeigen, dass der Weg zur Versöhnung begangen werden kann. Serbien - allen voran Präsident Tadic - hat den Mut bewiesen, diese Schritte zu gehen. Dass das innenpolitisch nicht leicht war, ist uns allen bewusst. Nun müssen weitere mutige Schritte folgen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion. Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Ratifizierung des vorliegenden Abkommens, die wir gleich vornehmen, kommt Serbien einen Schritt näher an die EU heran. Ich denke, das ist für Serbien gerade in der augenblicklichen Situation ein ganz wichtiges Zeichen der Ermutigung. Die Situation in Serbien ist ja nun weiß Gott nicht goldig. Serbien wurde sehr stark von der Wirtschaftskrise getroffen. Die Arbeitslosigkeit beträgt 26,7 Prozent, die Löhne sinken, und der IMF verlangt sogar noch weitere schmerzliche Reformen, auch und besonders in Form von Einsparungen im öffentlichen Dienst, was wiederum sinkende Löhne mit sich bringt. Die Ärzte und das Klinikpersonal streiken, sie gehen auf die Straße und drohen mit weiterem Ausstand, weil ihr Verdienst nicht ausreicht, um einen anständigen Lebensunterhalt zu sichern. Es ist ja verständlich, dass man sich, wenn sich die Zukunftsperspektiven verschlechtern, große Sorgen macht. Darum ist es wichtig, jetzt zu schauen, wie eine positive Stimmung entstehen kann. Dass es dazu kommt, ist, wie ich glaube, dringend notwendig. Gerade in den letzten Tagen sind, wie wir aus einigen Informationsquellen entnehmen konnten, 70 000 Nationalisten unter Führung von Tomislav Nikolic auf die Straße gegangen und haben Neuwahlen verlangt. Sie fordern: "Change!", und werfen der Regierung Unfähigkeit und Korruption vor. Nun wissen wir, dass Korruption in Serbien in der Tat ein Problem ist. Wir hatten heute ein Gespräch mit dem serbischen Botschafter, der gesagt hat: Korruption ist eines unserer größten Probleme, aber Präsident Tadic nimmt es sehr ernst. Es gibt eine Antikorruptionsbehörde, die aber zu wenig Befugnisse und zu wenig Instrumente hat. Der Präsident selbst hat allerdings den Arzt seiner Kinder, nachdem er gemerkt hat, dass dieser korrupt ist und Bestechungsgeld nimmt - weil er zu wenig verdient, aber auch leben möchte -, vor Gericht gebracht. - Man ist also davon überzeugt, dass es nötig ist, diese Korruption zu bekämpfen, und bemüht sich glaubhaft darum. Ich denke, es ist in diesem Fall nicht angebracht, immerfort nur auf Tunesien und Ägypten zu verweisen, wie es Herr Nikolic gemacht hat. Er bedient sich bei seiner Forderung nach Neuwahlen des Vorwurfs, dass trotz proeuropäischer Einstellung der Regierung die Anbindung an die EU nur schleppend vorangehe. Auch unter diesem Gesichtspunkt wäre es jetzt an der Zeit, die pro-europäischen Maßnahmen durch einen entsprechenden Schritt zu honorieren. Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission werden die Fortschritte Serbiens auf dem Weg zur EU hervorgehoben. Laut der Schlussfolgerungen des Rates vom 25. Oktober 2010 hat die Kommission mit den Vorbereitungen einer Stellungnahme zum Beitrittsantrag Serbiens begonnen, die 2011 veröffentlicht werden soll. Der Botschafter hat heute sehr deutlich signalisiert, dass man nicht nur hofft, dass die Stellungnahme positiv ausfällt, sondern auch, dass ein Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt wird. Ich denke, dies wäre eine sehr große Ermutigung in einer doch schwierigen Lage, die sich wohl nicht so schnell bessert. Trotz der Bescheinigung, dass Serbien Fortschritte bei der Erfüllung der politischen Kriterien gemacht hat, bleibt in wichtigen Feldern natürlich noch viel zu tun. Ich habe die Bekämpfung von Korruption schon erwähnt. Weiterhin ist eine Justizreform umzusetzen; eine Reform der öffentlichen Verwaltung ist auf den Weg zu bringen; es muss die organisierte Kriminalität bekämpft werden usw. Die serbische Regierung hat aber schon einen entsprechenden Aktionsplan beschlossen und diesen auch in Brüssel vorgelegt. Dieser ist sehr umfangreich und geht auf alle Erfordernisse ein. So kann man in der Tat sagen: Es gibt ein ernsthaftes, aufrichtiges Bestreben dieser Regierung. Nikolic dagegen, der bei Wahlen immer noch gute Ergebnisse erzielt, allerdings keine Koalitionspartner findet, versucht, diese schwierige Situation als Hebel zu benutzen, um die Regierung zu stürzen. Für die Serben kann der Weg nicht sein, in eine wirklich unübersichtliche Situation zu kommen. Was noch aussteht, ist die sichtbare Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof; das wurde schon erwähnt. Noch immer sind Ratko Mladic und Goran Hadzic auf freiem Fuß. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn man endgültig über Beitrittsverhandlungen entscheidet. Aber das wissen die Serben selbst, und es bleibt die Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Probleme überwunden werden, bleibt auch in einem anderen schwierigen Punkt, nämlich in der Frage des Kosovo, der Gerichtsentscheidung und der Akzeptanz der Resolution, die nach etwas schwierigem Ringen gelungen ist. Das, was vereinbart wurde, kommt jetzt auf den Weg. Ich hoffe, dass die Gespräche mit dem Kosovo bald beginnen werden. Es gab jedenfalls Meldungen, dass sich die Gruppe jetzt formiert hat. Herr Füle hat mit Recht Folgendes gesagt, als die EU-Kommission den Bericht angenommen hat: Serbien hat seinen Platz in der EU. Die Tür ist offen, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. ... Wir messen Serbien eine zentrale Rolle für den Aussöhnungsprozess und eine positive regionale Zusammenarbeit im Westlichen Balkan bei. Aber sie werden das nicht ganz alleine schaffen können. Ich finde, wir müssen auch einen Blick auf die Europäische Union werfen, die verschlungen ist in Diskussionen über den Euro, über die Finanzkrise und über ihre Orientierung und die vergessen hat, dass die Europäische Union insgesamt ein Projekt des Friedens, ein Projekt der Stabilität und ein Projekt der Reformen zur Demokratisierung, zur Kooperation, zur Aussöhnung ist. Wir haben das den Westbalkanländern 2003 in Thessaloniki angeboten und haben es immer wieder bestätigt. Aber es ist doch kontraproduktiv, wenn dann die CDU in ihr Programm schreibt: Kroatien wird selbstverständlich noch aufgenommen, aber dann ist Schluss. - Das kann nicht sein. Damit ermutigen wir niemanden. Damit ermutigen wir Serbien nicht. Damit ermutigen wir aber auch andere Länder nicht, die im Moment in ihrem Inneren jede Menge Schwierigkeiten haben, diese Perspektive als Anreiz für die Entwicklung weiterer Reformen und zum weiteren Fortschreiten in Demokratisierungsprozessen zu nehmen. Wir haben schwere Probleme in Mazedonien, nicht nur weil die Griechen im Namensstreit stur sind, sondern weil auch die Mazedonier stur sind und eher auf nationalistische Töne ausweichen, als sich im Reformprozess tatsächlich einmal weiterzubewegen. Auch Montenegro, das von der Europäischen Kommission eine gute Beurteilung bekommen hat, ist meiner Ansicht nach schwer reformbedürftig, was zum Beispiel die Behandlung der Presse, die Frage der Korruption und die Frage der organisierten Kriminalität, die bis in die obersten Etagen der politischen Elite reicht, betrifft. Wir haben sehr viel zu tun. Aber wenn wir diesen Entmutigungsprozess gerade in den eigenen Reihen, in der Europäischen Union nicht aufhalten, dann haben wir vergessen, wozu die Europäische Union eigentlich gegründet worden ist und welche positiven Effekte es für uns und auch für andere gegeben hat und dass es Zeit ist, dass sich die Europäische Union wieder auf ihre Glaubwürdigkeit besinnt, um das Friedensprojekt wirklich stabil weiterzuführen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Beyer von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Beyer (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor sieben Wochen haben wir in erster Lesung unsere Reden zu Protokoll gegeben. Ich halte es für eine gute Sache - es ist an der Zeit -, dass wir heute über den Tagesordnungspunkt debattieren. Die Beziehungen zu Serbien, einem Schlüsselstaat des Balkans, sind von herausgehobener Bedeutung. Die gemeinsame deutsch-serbische Vergangenheit war nicht immer einfach. Insbesondere im kulturellen Bereich aber sind die Beziehungen mit einer langen Tradition versehen. Beispielsweise haben im vergangenen Herbst in Belgrad die Deutschen Tage stattgefunden. Im Rahmen der Deutschen Tage wurden rund 90 Veranstaltungen aus den Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft und Jugend angeboten. Im nächsten Monat, im März, ist Serbien sogar Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse. Mehr und mehr Literatur und Buchtitel werden aus dem Serbischen übersetzt; das sorgt hierzulande für einen steigenden Bekanntheitsgrad. Es tut sich also etwas. Meine Damen und Herren, es muss sich auch etwas tun; denn die Situation in Serbien ist, wie Frau Kollegin Zapf so treffend formuliert hat, "weiß Gott nicht goldig". Die Finanznot ist groß; die Regierung muss tagtäglich einen Balanceakt am Rande eines Staatsbankrotts hinbekommen. Viele Menschen in Serbien leben an der Grenze zum Existenzminimum. Circa 1 Million Menschen hat keine Arbeit bzw. kann von der Arbeit, die sie ausüben, nicht in Würde leben. Es war mithin nur eine Frage der Zeit, bis auch der geduldige Bürger auf die Straße gegangen ist. So geschah es am vergangenen Samstag: Zehntausende Demonstranten sind durch Belgrads Innenstadt gezogen. Es war die größte Oppositionskundgebung seit vielen Jahren, ein lautstarker Protest gegen Arbeitslosigkeit und soziale Missstände im Lande. Die Demonstranten zogen sodann vor das Parlamentsgebäude, übten dort heftige Kritik an der eigentlich proeuropäischen Regierung und verlangten Neuwahlen. Es ist bemerkenswert, dass bei alldem keine Kritik am Kurs der Annäherung Serbiens an die EU zu vernehmen war. Das belegen auch die Umfragen in Serbien: Über 50 Prozent der Bevölkerung unterstützen den angepeilten Beitrittsprozess. Dabei ist es insbesondere erfreulich, dass gerade die junge Generation im Prozess der Annäherung an die EU eine Chance für die Zukunft sieht. An allem, was man beobachten kann, erkennt man, dass die serbische Regierung mit Hochdruck an der Umsetzung des EU-Fahrplans für ihr Land arbeitet. Erst vor wenigen Tagen - auch meine Vorredner wiesen darauf hin - hat das Land die Antworten auf die Fragen des umfangreichen Fragebogens zur Beitrittsbereitschaft des Landes an die Europäische Kommission übersandt. So werden Vertreter der Kommission, ebenso Parlamentarier aus unseren Reihen in den nächsten Wochen nach Serbien reisen und sich vor Ort informieren. Die Stellungnahme der Kommission wird für den Herbst dieses Jahres erwartet. Dabei ist schon jetzt klar: Der Weg Serbiens in die EU ist noch lang. Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission hat die Palette der Problemfelder klar benannt: Korruption, organisierte Kriminalität, mangelnde Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen, ausstehende Klärung von Eigentumsrechten, ungeklärter Status von Flüchtlingen, unzureichende Bekämpfung des Schwarzmarktes. Das ist nur eine Auswahl. Ich benenne ausdrücklich zwei weitere Punkte. Erstens. Die uneingeschränkte Kooperation Serbiens mit dem Internationalen Strafgerichtshof ist einzufordern. Serbien arbeitet wahrnehmbar an der historischen Aufarbeitung der Rolle, die das Land beim Auseinanderfallen des jugoslawischen Staates gespielt hat. Präsident Boris Tadic hat Ende letzten Jahres nicht nur Zagreb besucht, sondern auch Vukovar, zusammen mit seinem kroatischen Amtskollegen Ivo Josipovic. Das ist ein starkes Signal der Versöhnung an dem Ort, der so sehr für die Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländern steht. Auch in Srebrenica hat Tadic Verantwortung übernommen. All das wird auch auf internationalem Parkett sehr wohl registriert. Dennoch müssen wir auch mit Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof endlich konkrete Schritte einfordern, die sodann folgen müssen. Zweitens. Ich nenne die Regelung der Beziehungen zum Kosovo. Der ungelöste Konflikt ist auch für Serbien eine Belastung. Schwierige bilaterale Fragen sind zu lösen: die Frage des Wirtschaftsverkehrs, aber auch die Frage der Klöster. Diese Fragen, so schwierig sie auch immer sein mögen, müssen gelöst werden. Sie können aber nur dann gelöst werden, wenn das gegenseitige Vertrauen zwischen Serbien und Kosovo erheblich wächst. Meines Wissens sind direkte Gespräche zwischen Belgrad und Pristina in der konkreten Planung. Jedenfalls hat die serbische Regierung mit Borislaw Stefanovic erst kürzlich ihren Delegationsleiter benannt. All dies lässt hoffen. Aber auch Serbien muss wissen, dass es eine Lösung ohne Zugeständnisse, ja, auch ohne schmerzhafte Zugeständnisse nicht geben kann. Serbien wartet auf eine konkrete zeitliche Perspektive für den EU-Beitrittsprozess. Das ist legitim. So weit ist Serbien im Moment aber noch nicht. Die skizzierten Probleme, die ich ansprach, müssen vor einem Beitritt geklärt und gelöst werden. Das ist schon allein deshalb nötig, um die für eine neuerliche EU-Erweiterung wichtige Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu sichern. Die Vorgeschichte und der Beitrittszeitpunkt Bulgariens und Rumäniens können bei all dem jedenfalls nicht als Vorbild dienen. Am Ende des Tages gelten für Serbien wie übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien. Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei strikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien. Das ist Voraussetzung. Es muss das Motto gelten: Wer beitritt, muss beitragen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Sevim Daðdelen von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der ersten Beratung am 16. Dezember 2010 haben alle Fraktionen bis auf die Linke das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen mit Serbien als wichtigen Schritt und große Chance für Serbien bezeichnet. (Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP] - Zuruf von der LINKEN, an den Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP] gewandt: Klatschen Sie nicht zu früh!) Ein wichtiger Schritt wohin, Herr Stinner, und eine große Chance für wen? Die Linke sagt Ihnen, was für ein Schritt das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen ist. Es bedeutet schlicht eine Unterstützung von Liberalisierung, Deregulierung und auch Privatisierung. Das Abkommen ist Ausdruck einer Politik, die die Europäische Union und zahlreiche ihrer Mitgliedstaaten in eine schwere Krise geführt hat. Die Lage für die serbische Bevölkerung ist bereits jetzt desaströs. Infolge eines noch schärferen Liberalisierungskurses werden sich die Massenarmut und die Massenarbeitslosigkeit in Serbien aber noch weiter vergrößern. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert deshalb eine Abkehr von diesem Crashkurs. Was sich in der EU als falsch erwiesen hat, können wir nicht ernsthaft exportieren wollen. (Beifall bei der LINKEN) Das Abkommen sei eine Chance für Serbien, heißt es bei Ihnen. Eine Chance für wen? Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Serbien können damit jedenfalls nicht gemeint sein. Ihre Lage ist schon jetzt katastrophal. Das gilt insbesondere für diejenigen, die in deutschen Unternehmen beschäftigt sind, zum Beispiel für die Mitarbeiter des deutschen Unternehmens Dräxlmaier in der Vojvodina. Sie beklagen in dem Betrieb, der Kabel unter anderem für Audi, Mercedes-Benz, BMW und VW herstellt, schlimmste Arbeitsbedingungen. Die Unternehmensleitung geht mit üblen Methoden gegen die gewerkschaftlich aktiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor. So wurde zum Beispiel eine sogenannte gelbe Gewerkschaft installiert, um den gewerkschaftlichen Kampf der Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen zu behindern. In einem Schreiben wandte sich der zweitgrößte Gewerkschaftsdachverband Serbiens - SLOGA - an die deutschen Kollegen von IG Metall und BMW. Sie forderten Solidarität gegen - ich zitiere - "Willkür, Überheblichkeit, Arroganz und Verstoß gegen Gesetze" ein. Ich frage mich: Warum unternimmt die Bundesregierung nichts dagegen? (Beifall bei der LINKEN) Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn deutsche Unternehmen die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und gewerkschaftliche Rechte mit Füßen treten, auch nicht, wenn das in Serbien der Fall ist. Deshalb steht die Linke auch an der Seite der Beschäftigten in Serbien. (Beifall bei der LINKEN - Peter Beyer [CDU/ CSU]: Zum Thema!) Derzeit wird Druck von IWF, EU und Deutschland gemacht für ein Gesetz zur Privatisierung kommunaler Betriebe in Serbien. Dieser Druck soll jetzt noch weiter erhöht werden. Meine Damen und Herren, das ist eine falsche Politik. Bereits bis zum 31. März 2011 soll die serbische Telekom an einen ausländischen Investor verkauft werden. Die Deutsche Telekom AG nimmt an diesem Privatisierungsverfahren teil und wird als möglicher Käufer gehandelt. (Peter Beyer [CDU/CSU]: Das ist eine gute Sache! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!) - Sie sagen "bravo". Das zeigt, was Sie für einen volkswirtschaftlichen Sachverstand haben. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der FDP: Fahren Sie mal hin!) Die serbische Telekom ist das erfolgreichste Unternehmen in Serbien und erwirtschaftet jedes Jahr Gewinne. 2009 waren es 197 Millionen Euro. Für wen ist das also eine Chance? Das ist mit Sicherheit keine Chance für diejenigen, die infolge dieser Privatisierungen ihren Job verlieren werden und schlechtere Arbeitsbedingungen hinnehmen sollen. Deshalb denken wir, dass das, was schon bisher geschehen ist, eine falsche Politik ist. Dieses Abkommen, das mehr Privatisierung, mehr Deregulierung und mehr Liberalisierung beinhaltet, ist eine Fortsetzung dieser falschen Politik. Deshalb fordern wir eine Umkehr. (Beifall bei der LINKEN) In diesem Zusammenhang ist es völlig inakzeptabel, dass Druck auf Serbien hinsichtlich der Statusfrage des Kosovo ausgeübt werden soll. Das zeigt, wes Geistes Kind die Bundesregierung ist. Sie hat sich zum Führer der sogenannten Kosovo-Regierung, Hashim Thaci, bisher nicht klar geäußert. Thaci wird in einem Bericht des Europarats schwerster Kriegsverbrechen und krimineller Machenschaften beschuldigt. Warum ignoriert die Bundesregierung diesen Bericht, der von einem Schweizer Liberalen, von Dick Marty, stammt, der auch schon den Bericht zu den CIA-Folterflügen angefertigt hat? Wir können den Grund nur vermuten. (Peter Beyer [CDU/CSU]: Sitzt in Ihrer Rede nur Deutschland auf der Anklagebank?) Man steht in Nibelungentreue zu diesem Mann, der einem auch während des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien gute Dienste geleistet hat. Frau Beck, auch von Ihnen höre ich nichts. In Ihrer Haltung zu Thaci zeigt sich, dass sowohl die schwarz-gelbe Koalition als auch Rot-Grün weiter nicht bereit sind, über die Leichen im Keller der deutschen Außenpolitik zu sprechen. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke ist der Meinung, dass das inakzeptabel ist. Es ist Zeit für eine demokratische, friedliche und auch soziale Außenpolitik. Das ist möglich, meine Damen und Herren, auch wenn es der Umkehr sowohl der Bundesregierung als auch der SPD und insbesondere der Grünen bedarf. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich abschließend meine Freude über die Meldung ausdrücken, dass der Rücktritt von Mubarak heute anstehen wird. Ich hoffe, das wird so geschehen. Meine Damen und Herren, Mubarak ist ein Mann, den Sie jahrzehntelang unterstützt haben. Ich denke, eine andere Außenpolitik ist mehr als nötig. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte für die Bürgerinnen und Bürger in Serbien kurz festhalten: Die Linke ist der Meinung, dass sie es besser weiß als weite Teile der serbischen Bevölkerung; die serbische Bevölkerung sei im Irrtum, wenn sie in die Europäische Union möchte. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Das haben wir nicht gesagt, Frau Beck! Wir arbeiten nur nicht wie Sie mit Kriegsverbrechern zusammen!) Sie sorgen dafür, dass sie draußen bleiben. Dass Sie sich damit immer an der Seite von nationalistischen Kräften befinden, ist allerdings ein Problem Ihrer Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP - Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Sie sind an der Seite von Kriegsverbrechern! Was sagen Sie zu Herrn Thaci?) Wir Grünen unterstützen die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziationsabkommens für Serbien. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Nichts! Schweigen im Walde!) Allerdings sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass Serbien in der Tat noch einen sehr langen Weg vor sich hat und sich zudem in einer sehr schwierigen innenpolitischen Lage befindet. Die serbische Regierung tut sehr viel zu Respektierendes. Sie bekennt sich zur EU-Perspektive. Sie bekennt sich zu einer konstruktiven Rolle in der Region. Da ich sowohl 2005 als auch 2010, als Präsident Tadic in Potocari an der Gedenkstätte am 11. Juli aufgetreten ist, dabei war, kann ich sagen, dass das ein sehr bewegender Moment war und dass das für die Menschen und die Opfer von Srebrenica überaus wichtig war. Es gibt aber eine Spaltung in der serbischen Gesellschaft. Insofern ist Präsident Tadic immer auch geneigt, Konzessionen zu machen, die hochproblematisch sind. Dazu gehört die schwer nachvollziehbare Entscheidung, mit Präsident Dodik gemeinsam Wahlkampf zu machen und sich gemeinsam mit Biljana Plavsic abbilden zu lassen, die die rechte Hand von Radovan Karadzic gewesen ist. Auch in der Kosovo-Frage ist die serbische Politik nicht eindeutig. Offensichtlich ist der Amputationsschmerz immer noch sehr groß. Viele serbische Menschen sagen, dass es immer noch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte geht und um das Verständnis, dass nicht Serbien das Kosovo verspielt hat, sondern dass es Milosevic war, der aggressiv gegen den kosovo-albanischen Teil der Bevölkerung aufgetreten ist und ihnen die Autonomie genommen hat. Dramatische Menschenrechtsverletzungen und eine Apartheidspolitik - all das hat dazu geführt, dass sich das Kosovo letztlich nicht mehr unter das Dach eines gemeinsamen Staates drängen lassen wollte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die ökonomische Situation in Serbien ist unter anderem deswegen so schwer, weil das Milosevic-Erbe auch in ökonomischer Hinsicht noch nicht überwunden ist. Es gibt nach wie vor seine Tycoons, die in der serbischen Wirtschaft deutlich mitmischen. Sie sind es übrigens, die die Wettbewerber aus dem Ausland abwehren, verehrte Frau Kollegin. Diese Tycoons spielen nach wie vor eine zu große Rolle. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie lieber einmal etwas zu Herrn Thaci! Da schweigen Sie!) Dass die Korruption in Serbien - wie in vielen anderen Ländern des Balkans leider auch - geradezu endemisch ist, hat Präsident Tadic vor kurzem im Europarat selber sehr deutlich betont. Dass der Populist Nikolic das nun für sich zu nutzen weiß, muss uns sehr sorgenvoll machen. Denn er ist, auch wenn er das jetzt behauptet, nicht proeuropäisch. Dass er so deutlich sagt, die Telekom dürfe nicht verkauft werden, weil dann die Österreicher kommen würden, legt den antieuropäischen Geist offen. Er ist und bleibt ein Nationalist. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Weil er gegen Privatisierungen ist? Gegen Ihre Neoliberalisierung?) Wie gesagt, er findet sich logischerweise auf der Seite Ihrer Argumentation wieder. Noch ein Punkt, was die Frage der Konditionierung der Beitrittsperspektive anlangt. Wir sollten nicht darauf hoffen, dass es eine biologische Lösung für General Mladic und für Hadzic gibt. (Beifall der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Wir haben sehr deutlich gesagt, dass Serbien hier eine Bringschuld hat. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass diese beiden Verbrecher in diesem vergleichsweise kleinen Land angeblich nicht zu finden sind. Dass wir immer wieder Angst vor unseren eigenen Konditionen bekommen und, wenn es ernst wird, unter ihnen wegtauchen, halte ich für heikel. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Herrn Kriegsverbrecher Thaci!) Darüber müssen wir wirklich noch einmal sprechen. Es geht auch um einen aufrechten Gang für unsere Werte. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Aufrecht mit Kriegsverbrechern!) Entweder man setzt Konditionen oder keine; aber dieses verschwiemelte Wegtauchen ist kein guter Ausweis für unsere EU-Politik. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP - Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Warum sagen Sie nichts zu Herrn Thaci?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Roderich Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass der Botschafter der Republik Serbien heute der Debatte beiwohnt. Ich denke, das zeigt, mit welch hohem Interesse die Republik Serbien die heutige Debatte bei uns im Bundestag verfolgt. (Beifall im ganzen Hause) Zweitens möchte ich auf den jugoslawischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andric verweisen. Er hat vor über 50 Jahren geschrieben: Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken. Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess ist eine solche Brücke. Nach dem, was vor 20 Jahren auf dem Balkan passiert ist, reichen wir damit der Republik Serbien die Hand. Das ist ein wunderbares Zeichen der beginnenden Aussöhnung. Wir helfen, diese Brücke zu bauen, aber wir sagen: Wer beitritt, muss auch beitragen. Wir fordern deshalb die Erfüllung aller Beitrittskriterien: Rechtsstaatlichkeit, Kriminalitätsbekämpfung, funktionierendes Justizwesen und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Aufgrund der Erfahrungen früherer Beitrittsverhandlungen sagen wir, dass das vor dem Beitritt geschehen muss. Wir machen das vor Ort deutlich. Erst vor kurzem war eine Delegation der Arbeitsgruppe Europa dort; Michael Stübgen hat das angesprochen. Heute entscheiden wir darüber, ob Deutschland dieser vertraglichen Bindung zwischen Serbien und der EU zustimmt. Ganz nebenbei: In unserem Land leben 700 000 Menschen aus Serbien; über die Hälfte davon hat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Umfragen, die der Kollege Beyer vorhin angesprochen hat, beinhalten einen weiteren Aspekt: Über 70 Prozent der jungen Generation in Serbien wünschen den EU-Beitritt. Ich glaube, auch das ist ein wichtiges Zeichen. Lassen Sie uns doch die Demonstrationen, die letzte Woche Samstag in Belgrad stattfanden, auch als Zeichen des Reformwillens und der erstarkenden Demokratiebewegung sehen. Es sind notwendige Reformen. Ich glaube, seit der Debatte am 8. Oktober letzten Jahres haben auch wir etliche Fortschritte zu verzeichnen. Ich möchte einige nennen. Erstens gibt es den Aktionsplan, mit dessen Umsetzung die Republik Serbien im Dezember letzten Jahres begonnen hat. Zweitens liegt der Bericht der staatlichen Antikorruptionsbehörde vom letzten Monat vor. Diese Behörde, die unabhängig ist, prangert systematische Korruption in Serbien an. Die Regierung hat zum Beispiel die Gehälter der Richter erhöht, damit sie unabhängig werden, und festgestellt, dass Bildung, Gesundheitswesen, Polizei und auch das Gerichtswesen intensiver Arbeit und Nachsorge bedürfen; das hat auch Präsident Tadic erkannt. Es ist gut, dass das offen angesprochen werden kann. Ein dritter Punkt ist - auch als Folge der Stellungnahme von Herrn Brammertz -, dass Präsident Tadic im Januar dieses Jahres vor dem Europarat noch einmal die Zusage gegeben hat, mit dem Internationalen Strafgerichtshof intensiver zusammenzuarbeiten. Ich glaube, das ist das klare politische Signal, das der UN-Chefankläger gefordert hat. Noch ein weiterer Punkt lässt hoffen: Die Republik Serbien hat der Europäischen Kommission innerhalb kürzester Zeit, nämlich von November letzten Jahres bis Ende Januar dieses Jahres, 2 480 Fragen beantwortet. Die ersten Signale aus Brüssel sind erfreulich. Ich möchte auf zwei weitere Aspekte eingehen, die in dieser Debatte bisher nicht erwähnt worden sind. Die Mittel, die die Republik Serbien als Instrument für die Heranführungshilfe von der EU erhält, umfassen etwa 200 Millionen Euro. Von 2007 bis zum Jahr 2012 sind das rund 1,2 Milliarden Euro, mit denen die EU diesen Prozess unterstützt. In diesem Jahr sind es 190 Millionen Euro. Als potenzieller Kandidat, also jetzt, kann Serbien diese Mittel nur für den Aufbau der Verwaltung und für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit einsetzen; dass sie wichtig ist, wurde bereits vorhin eindrucksvoll dargelegt. Aber entscheidend ist: Wenn Serbien einen Kandidatenstatus hat, dann sind die Mittel umfassender einsetzbar. Es gibt zwar nicht mehr Mittel, aber sie können wesentlich flexibler eingesetzt werden: für regionale Entwicklung, für Umweltschutz und, wie auch die Demonstrationen gezeigt haben, für sozialen Zusammenhalt. Dann können die Gelder auch gezielt in Gesellschaft und Wirtschaft eingesetzt werden. Natürlich brauchen wir eine konstruktive Nachbarschaftspolitik; Staatsminister Hoyer hat es angesprochen. Ich finde es schade, Frau Daðdelen, dass Sie sich die Erklärung des Staatsministers nicht angehört haben, sondern erst zu Ihrer Rede gekommen sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat Sorgfalt bei der Umsetzung der Reformen und bei der Erfüllung der EU-Kriterien oberste Priorität. Unsere Absicht ist, dass wir weiter auf die Umsetzung der Reformen drängen, insbesondere bei Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Investitionssicherheit. Ich möchte an dieser Stelle auch einen Appell an die EU-Staaten, die das Abkommen noch nicht ratifiziert haben, richten - es gibt noch 15 Länder, die es nicht ratifiziert haben, wenn wir heute zustimmen -: Stimmen Sie zu! Erleichtern Sie Serbien den Weg in die Europäische Union! Wir in Deutschland jedenfalls werden den Prozess mit Augenmerk und Aufmerksamkeit begleiten und für die Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen stimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur zweiten Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien andererseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4500, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3963 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, sondern fördern - Bestätigungserklärung im Bundesprogramm "TOLERANZ FÖRDERN - KOMPETENZ STÄRKEN" streichen - Drucksache 17/4551 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen - Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen - Drucksache 17/4664 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Wolfgang Thierse von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2002 fördert die Bundesregierung eine mittlerweile vielfältige, bunte und lebendige Landschaft zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projektträger, die sich in ihren Städten und Gemeinden für eine Stärkung der demokratischen Kultur einsetzen. Diese Bundesförderung war von Anfang an vor allem von einem Grundgedanken getragen: dem Gedanken des Vertrauens. Der Bund stellte Fördermittel für zivilgesellschaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass sie selbst am besten wissen, welche lokalen Handlungsstrategien den demokratischen Gemeinsinn am ehesten aktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebieten können. Unsere Demokratie bedarf gerade in der Auseinandersetzung mit dem Extremismus des alltäglichen Engagements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es geradezu absurd, dass das Bundesfamilienministerium den Leitgedanken der bisherigen Programme - ich wiederhole: Vertrauen in das demokratische Engagement der Bürger - nun ins Gegenteil verkehrt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Familienministerium verlangt von den Antragstellern, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das ist doch selbstverständlich! Das ist doch wohl klar!) und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auch für eventuelle Kooperationspartner gilt. Sie sollen also für die Gesinnung Dritter haften. Wer die entsprechende Erklärung nicht unterschreibe, erhalte keine Förderung. Dieses Vorgehen ist, so finde ich, demokratiepolitisch fatal. Es ist kontraproduktiv. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung. Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht hier nicht um das routinierte, gewissermaßen banale Verwaltungshandeln einer Behörde, um das Kleingedruckte in Bescheiden, um Detailbestimmungen in Auflagen. Diese Extremismusklausel berührt elementare Fragen der Demokratie. (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das ist das Bekenntnis zum Grundgesetz! Nichts anderes!) Was darf der Staat von seinen Bürgern eigentlich verlangen? Darf er ihnen ein Bekenntnis - und sei es ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung - abringen? Oder muss er dies nicht vielmehr aus Respekt vor dem Bürger voraussetzen? (Sönke Rix [SPD]: Genau!) Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfung unterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ihrer Mitbürger zu überprüfen? (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Ein Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages findet auf diese Fragen folgende Antworten - ich referiere den Befund -: Erstens. Der Staat missachte die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits bei der bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Bekenntnis zwinge. Zweitens. Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zur Gesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu verpflichten. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) Auch im Zuwendungsrecht sei der Staat an die objektive Werteordnung des Grundgesetzes gebunden. (Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!) So der Befund. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum, über die Gefahren des Linksextremismus naiv und blauäugig hinwegzusehen. Die Kritik richtet sich auch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstützung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das ist legitim und geboten. Doch ein so deutliches und prinzipielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriums gegenüber potenziell allen Bürgern können und wollen sich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]) Welche bizarren Blüten, Kollege Geis, das Vorgehen des Ministeriums treibt, zeigt ein Fall aus Sachsen. Hier wurde selbst der Stadt Riesa im Gegenzug für Fördermittel ein Demokratiebekenntnis abverlangt. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der Bürgermeister der Stadt unterschrieb mit großen Bauchschmerzen, erklärte aber zugleich, er könne und wolle mit seiner Unterschrift keinesfalls für die beiden NPD-Abgeordneten in seinem Stadtrat bürgen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch absurd!) So können Sie es in der Sächsischen Zeitung vom 12. Januar dieses Jahres nachlesen. Man fragt sich bei dieser Sachlage, warum die liberale Justizministerin und ihr Staatssekretär, warum Bürgerrechtsliberale, wenn es sie denn noch gibt, dies alles stillschweigend ertragen, ja, mittragen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Reaktionen sind - nicht nur bei den Betroffenen - sehr eindeutig. Die Kritik kommt von allen Seiten. Nur ein Beispiel: Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, erklärte gestern in der Bundespressekonferenz - ich zitiere -: Die Extremismusklausel der Bundesregierung ist ein Symbol für den Überprüfungswahn, die Bürokratisierung und schließlich das Misstrauen dieser Regierung und damit von Teilen der konservativ-liberalen Politik in die eigenen Bürger. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kramer hat recht!) Frau Schröder verlangt ein Bekenntnis zum Grundgesetz und verliert dabei das Wesentliche aus dem Blick. (Florian Bernschneider [FDP]: So ein Quatsch!) Die Tatsache, dass so viele Menschen in unserem Lande aufstehen und sich gegen Nazis und Rechtsextremisten engagieren, ist das deutlichste und emotionalste Bekenntnis zum Grundgesetz und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, was es überhaupt nur geben kann. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kramer sagte weiter: Wer das nicht sieht, wem das nicht Bekenntnis genug ist, der hat wirklich nicht verstanden, was Bürgergesellschaft und Demokratie ausmacht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Kramer hat vollständig recht. Das ist nur ein Beispiel von vielen für die Kritik an dem, was Sie hier vorhaben. Ich sage das im Hinblick auf viele, die sich mit ihrem oft ehrenamtlichen Engagement für die Demokratie als mögliche Verfassungsfeinde verdächtigt sehen. Demokratie muss sich verteidigen. Wer würde diese Lehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen? (Norbert Geis [CDU/CSU]: Richtig!) Zunächst einmal beruht Demokratie aber auf Vertrauen. Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokratische Kultur, also für die Grundlagen des demokratischen Staates, eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgern nicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Wer den Initiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für die demokratische Gesinnung ihrer Mitglieder übertragen will, der sät eine Kultur des Misstrauens und der erzeugt ein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nicht gestärkt, sondern gebremst werden. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das steht aber nicht in diesem Programm!) Wer Demokratie stärken will, der sollte gerade junge Menschen einladen, sich in ihr und für sie zu engagieren, und sie nicht unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Norbert Geis [CDU/CSU]: Das tut doch keiner!) Es geht um eine Kultur der Anerkennung von Engagement, um Vertrauen statt Misstrauen und um Ermunterung statt Kontrolle. Verzichten Sie auf diese Erklärung, bevor das Verfassungsgericht Sie dazu zwingen muss. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die aktuelle Diskussion, weil dadurch Gelegenheit gegeben wird, einiges klarzustellen. Ich will ausdrücklich sagen: Es geht nicht um Ächtung, es geht um Förderung. Diejenigen, die sich teilweise seit Jahren in Beratungsnetzwerken gegen Extremismus jeglicher Art, von rechts, aber auch von links, engagieren und die da, wo es nicht erwartet wird, Zivilcourage zeigen, haben - auch das sage ich ausdrücklich - Dank und Anerkennung verdient. Das ist auch die Meinung des Ministeriums. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja ein toller Satz! - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Warum merkt man nichts davon? Misstrauen ist kein Dank! - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denken Sie eigentlich von Schwarz-Gelb?) - Warten Sie einmal ab. Es ist auch völlig klar, dass der Staat, wenn er Programme gegen Extremismus auflegt, darauf achtet, dass nicht gerade diejenigen gefördert werden, die selbst in extremistischen Kategorien denken und danach handeln. (Sönke Rix [SPD]: Was hat Frau von der Leyen eigentlich falsch gemacht? - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das haben Sie bisher doch auch gemacht!) Das ist der entscheidende Punkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen ist das auch kein ungewöhnliches und unseriöses Anliegen. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wo sind denn die Beispiele?) Ich meine: Wenn der demokratische Staat so etwas macht, dann ist das eine Selbstverständlichkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist absurd, was Sie da erzählen!) Wir sorgen dafür, dass jemand aktiv bestätigen muss, dass er und seine Projektpartner auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, und zwar nicht nur bei Projekten gegen Rechtsextremismus, sondern auch bei Projekten gegen Linksextremismus. Jetzt sage ich etwas zur Entstehungsgeschichte der Demokratieerklärung. Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bockhahn? Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Im Moment nicht. Er kann sie gleich oder später stellen. - Im Jahr 2004 ist vom damals sozialdemokratisch geführten Bundesinnenministerium - der Minister hieß Otto Schily - diese Initiative ausgegangen. Es wurde gesagt, dass niemand materielle oder immaterielle Leistungen erhalten könne, der sich nicht zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekenne, und dass jeder Anschein einer Tolerierung extremistischer Auffassungen, zum Beispiel durch offizielle Einbindung extremistischer Positionen oder Institutionen in Veranstaltungen, vermieden werden müsse. So weit das von Otto Schily geführte Ministerium. (Sönke Rix [SPD]: Und was hat er gemacht?) Seit 2005 ist das in den Bescheiden enthalten. Daran knüpft die Demokratieerklärung an. Es gibt einen einzigen Unterschied, nämlich dass die Erklärung jetzt ausdrücklich unterzeichnet werden muss, statt sie nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn man den Zuwendungsbescheid empfängt. Ich wiederhole: Man muss sie ausdrücklich unterzeichnen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ging doch vorher auch ohne! Welche Extremistengruppen sind bisher gefördert worden, dass das sinnvoll sein soll? - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber warum denn?) Es gibt verschiedene Untersuchungen. Herr Thierse hat eben eine Expertise erläutert. Sie wissen, wer sie erstellt hat. Wenn Sie sie genau lesen, dann wird deutlich, dass eine Demokratieerklärung eine Möglichkeit neben anderen ist. Sie ist nicht zwingend vorgeschrieben. Meinetwegen kann man darüber streiten. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Dann machen Sie doch was anderes, was Vernünftiges!) Ich will Ihnen etwas berichten, damit Sie ein Gefühl für das Maß bekommen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es seit dem 20. Juli 2010, also seit gut einem halben Jahr, im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kindertageseinrichtungen einen Erlass des Ministeriums für Soziales und Gesundheit - die Ministerin ist uns allen bekannt -, nach dem nur diejenigen eine Betriebserlaubnis erhalten, die eine gesonderte Selbsterklärung unterschreiben. (Florian Bernschneider [FDP]: Hört! Hört!) Jeder Träger muss dort ausdrücklich versichern, dass er in keiner Weise Bestrebungen unterstützt, deren Ziele gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder gegen eines ihrer grundlegenden Prinzipien gerichtet sind. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das ist etwas anderes! - Lachen bei der CDU/CSU) Wenn ein Träger diese Unterschrift verweigert, dann besteht laut Erlass "begründet Zweifel, ob der Träger die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet", wie es in dem Erlass weiter heißt. Deutlicher geht es nicht. In dem Erlass wird unter anderem festgestellt, wann die Betriebserlaubnis zu versagen ist. Das hatte in Mecklenburg-Vorpommern den Hintergrund - darauf will ich ausdrücklich hinweisen, Herr Thierse -, dass dort NPD-Kreise versucht haben, sich unter interessanten Namen in die Trägerschaft von Kindertageseinrichtungen einzuschleichen. Genau das wollen wir mit unserem Programm gegen Extremismus verhindern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist ein ganz anderer Zusammenhang! Machen Sie sich erst kundig, bevor Sie so etwas erzählen! - Sönke Rix [SPD]: Das ist ein anderer Zusammenhang!) - Sie kennen den Zusammenhang genau. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Genau! Deswegen!) Sie wissen, dass es in den vergangenen Jahren - ich weiß nicht, wie lange Sie schon dabei sind - mehrfach Anfragen auch aus dem parlamentarischen Raum gegeben hat und dass viele Träger geklagt haben, dass extremistische Gruppen versuchen, ihre Organisation zu unterwandern. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nennen Sie uns die mal, bitte! - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sind die, bitte? Nennen Sie Beispiele!) Der Innenminister von Sachsen-Anhalt hat gestern in einer Pressekonferenz zugegeben - das haben Sie nicht berichtet -, dass etwa die NPD immer wieder versucht, Vereine zu unterwandern. So viel zur Bekämpfung des Extremismus. Was Extremismus betrifft, geht es um den Kampf gegen rechts, aber auch gegen links. Links ist ebenso wie rechts eine legitime Kategorie. Problematisch wird es dann, wenn es extrem wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Wortmeldung zu einer Zwischenfrage, und zwar von dem Kollegen Rix. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bitte sehr. Sönke Rix (SPD): Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Bei der "Extremismusklausel", wenn Sie es so nennen wollen, in Mecklenburg-Vorpommern geht es um Kindergärten. Hier geht es um die Förderung von Demokratie und Toleranz. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist der Unterschied? - Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Extremismus ist Extremismus!) Das ist ein grundlegender Unterschied. Sind Sie bereit, das anzuerkennen? Ein weiterer Unterschied zu Mecklenburg-Vorpommern ist, dass in dieser Extremismuserklärung mit unterschrieben werden soll, dass alle weiteren Partner der Projekte ebenfalls auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Das wird von den Trägern in erster Linie kritisiert, weil Sie damit einen Keil in die Zivilgesellschaft treiben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Der Erlass in Mecklenburg-Vorpommern ist sehr detailliert formuliert. Man wundert sich vielleicht sogar manchmal darüber. Es muss ausdrücklich auch darauf hingewiesen werden, dass man bei seinen Partnern darauf hinwirkt, dass sie sich an demokratische Prinzipien zu halten haben. (Sönke Rix [SPD]: Man soll nicht dafür einstehen! Das ist etwas anderes!) Sie müssen insofern auch dafür einstehen, als man davon die Förderung abhängig machen kann. (Sönke Rix [SPD]: Es ist nicht dafür einzustehen!) Aber ein Partner, der das nicht ausdrücklich tut - so heißt es in Mecklenburg-Vorpommern -, der kann keine Betriebserlaubnis bekommen, weil dann Zweifel daran begründet sind, dass er die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bietet. Ich finde, wir sollten uns abgewöhnen, auf einem Auge blind zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gucken Sie doch mal in die Mitte der Gesellschaft!) Das gilt für das rechte Auge genauso wie für das linke Auge. Wir haben hier an einem der letzten Freitage eine sehr heftige Debatte über die Aussagen von Frau Lötzsch über den Kommunismus geführt. Da waren wir uns größtenteils einig. Wir haben gesagt: Diese Staatsform wollen wir unter gar keinen Umständen. Da ist sehr engagiert diskutiert worden. Auf der ganz linken Seite war da sehr viel Ruhe; da wurde keine Position bezogen. Ich finde, wenn man sich für Demokratie einsetzt, dann muss man sich gegen Rechtsextreme genauso wie gegen Linksextreme und gegen Islamisten wehren. Das ist einfach die Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Extremismus der Mitte? Den gibt es auch!) Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Staatssekretär, ich habe weitere zwei Meldungen zu Zwischenfragen. Ich frage, ob Sie der Kollegin Wolff und dem Kollegen Bockhahn noch die Gelegenheit geben wollen oder nicht. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Von mir aus sollen sie gerne fragen. Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Wolff ist zunächst an der Reihe. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass es in Sachsen-Anhalt - das ist mein Bundesland -, dessen Innenminister Sie eben angesprochen haben, eine große zivilgesellschaftliche Gruppierung gibt, die sich gegen Rechtsextremismus wendet? Sind Sie auch bereit, hier Ihre Aussage gegenüber Herrn Hövelmann zurückzunehmen? In Bezug auf diese Extremismusklausel hat sich dieser Innenminister nämlich sehr kritisch geäußert. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der FDP: Das ist ja gar nicht angesprochen worden!) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Ihr Innenminister hat sich zur Extremismusklausel geäußert. Dazu hat sich manch einer in den letzten Tagen geäußert. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle kritisch!) Ich glaube, dass er sich mit dem Sachverhalt aber nicht immer intensiv beschäftigt hat. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat sich der Zentralrat der Juden nicht richtig mit der Sache beschäftigt, oder wie?) Es ist jedenfalls so, dass Herr Hövelmann in der Bundespressekonferenz zugeben musste - das hatte er zuvor nämlich nicht erwähnt -, dass es darum ging, die NPD zu verhindern. Das war der entscheidende Punkt. Darum geht es hauptsächlich auch in Mecklenburg-Vorpommern. Man muss natürlich kritisch bleiben und sich gegen Rechtsextremismus engagieren. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie mal auf das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages bezüglich der Klausel ein!) Aber es kann nicht sein, dass Rechtsextreme Linksextremismus bekämpfen und umgekehrt. Das ist das, was wir ausdrücklich nicht wollen. Da sind wir uns völlig einig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Können wir jetzt noch zur Frage des Kollegen Bockhahn kommen? Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, okay. Vizepräsidentin Petra Pau: Weitere Zwischenfragen zu diesem Beitrag lasse ich dann aber nicht zu. Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Herr Dr. Kues, bezugnehmend auf Mecklenburg-Vorpommern: Ich denke schon, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Aufforderung, seine Projektpartner auf die Notwendigkeit der Verfassungstreue hinzuweisen, und der jetzt durch Ihr Haus angeforderten Erklärung, verpflichtend zu garantieren, dass bei Partnern eine Verfassungstreue besteht, soweit man selbst in der Lage ist, dies nachzuweisen. Das Problem sind natürlich die Ausführungsbestimmungen, die so schwammig sind, dass kein Träger ernsthaft garantieren kann, ob er das gemacht hat, was Ihnen recht ist oder auch nicht. Das ist der eine Punkt. Zweitens. Eingangs Ihrer Rede haben Sie darauf hingewiesen, dass es schon seit Jahren den Hinweis an die Projektpartner gibt, dass sie ihre Verfassungstreue garantieren sollen. Aber bisher war es ein Hinweis. Das Ganze wurde nicht zur Verpflichtung, zur Bedingung, zur unbedingten Notwendigkeit für den Erhalt einer Förderung gemacht. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen einem Hinweis, etwas zu tun, und dem Zwang gibt, etwas zu garantieren, wofür man im Zweifel nicht einstehen kann? Können Sie sich vorstellen, dass es bei Projektträgern durchaus Misstrauen geben kann? (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Das soll auch qualitativ unterschiedlich sein! - Zuruf von der FDP: Er hat es erkannt! Genau deshalb machen wir das!) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich glaube nicht, dass in der Breite Misstrauen herrscht. Der infrage kommende Bereich ist relativ überschaubar. Es ist auch gesagt worden, es gebe eine große Kampagne. Wir haben 750 E-Mails bekommen. Wenn es eine Massenbewegung über das Internet gibt, dann erhält man ganz schnell zehntausend E-Mails; das will ich ausdrücklich sagen. (Sönke Rix [SPD]: Wie viele Trägerorganisationen sind das denn? - Weiterer Zuruf) - Lassen Sie es bitte sein. Die müssen wir dann alle bearbeiten. Das muss nicht unbedingt sein. Im Kern ist es kein Unterschied. Ich gebe zu: Dieses ausdrückliche Unterschreiben ist eine Präzisierung. Man kann meinetwegen rechtlich und politisch darüber streiten, ob das notwendig ist. In dem Gutachten, das Herr Thierse zitiert hat, wird sogar festgestellt, das könnte durchaus ein Weg sein. Der Grundansatz ist der gleiche: Wir wollen verhindern, dass sich Extremisten einschleichen. Das gilt für die Kindertagesbetreuung ebenso wie für die politische Bildungsarbeit. (Sönke Rix [SPD]: Und auch beim Bund der Vertriebenen?) Das halte ich für richtig. Wir hatten dazu in den vergangenen Jahren - Sie wissen es doch ganz genau - immer wieder Anfragen aus dem parlamentarischen Raum. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn da geantwortet?) Darin hieß es: Diese oder jene Initiative wird gefördert. Wir erwarten die Mithilfe derjenigen, die gefördert werden. Ihnen ist der Kinder- und Jugendplan gut bekannt. Wenn Sie in diesem Bereich einen Zuwendungsbescheid erhalten, müssen Sie unterschreiben, dass sich die Verwendung der Zuwendung im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt. An dieser Stelle haben wir uns entschieden, ein kleines Informationsblatt zur Kenntnisnahme hinzuzufügen, sodass man nicht sagen kann: Ich habe es übersehen. Im Übrigen - das sei zur Beruhigung gesagt - haben wir jede Menge Verfügungen erlassen, darunter auch viele Zuwendungsbescheide. In keinem Fall hat ein Träger die Unterschrift verweigert. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Erpressung, was Sie machen! - Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Weil er sonst kein Geld kriegt!) - Sie können sagen: Sonst bekommt man kein Geld. Ich sage Ihnen - das wurde auch von Herrn Thierse angesprochen -: Das Anne-Frank-Zentrum in Berlin, die Jüdische Gemeinde, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden haben ebenfalls Zuwendungsbescheide bekommen und haben die Zuwendungsvoraussetzungen wie selbstverständlich unterschrieben. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, sie würden sonst kein Geld bekommen!) Diese Einrichtungen haben damit keine Probleme. Probleme bekommen sie nur dann, wenn sie falsch informiert werden. Das Land Berlin beispielsweise hat gesagt, man habe dagegen geklagt. (Beifall bei der LINKEN) - Sie hören gleich auf, zu klatschen. - Länder und kommunale Körperschaften müssen diese Erklärung gar nicht unterschreiben, weil wir davon ausgehen - das ist auch meine Gedankenwelt -, dass sie selbstverständlich keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgen. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die machen es teilweise!) Das setzen wir auch für das Land Berlin voraus. (Sönke Rix [SPD]: Aber bei der Aktion Sühnezeichen geht man nicht davon aus!) Wir führen hier eine politische Debatte. Das ist legitim. Sie sollten aber nicht so tun, als gehe es hier um komplizierte rechtliche Fragen und um den hohen moralischen Anspruch, wie Sie ihn formuliert haben, Herr Thierse. In der Demokratie geht es auch um Vertrauen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der Demokratie geht es darüber hinaus um Regeln, an die sich alle zu halten haben. Wer diese Regeln bewusst verletzt, indem er beispielsweise gewalttätige Auseinandersetzungen bei Veranstaltungen fördert, muss sich sagen lassen, dass er nicht zugleich öffentliche Mittel für die Bekämpfung des Extremismus in Anspruch nehmen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber wann hat es denn das gegeben? Beispiele! Nur eins!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder, der in diesem Land gegen Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus kämpft, verdient unsere größte Anerkennung. Das muss man zu der gesamten Debatte erst einmal sagen. (Beifall bei der LINKEN) Die Extremismusklausel, die den aktiven Projekten gegen rechts nun abgepresst werden soll, droht jedoch kaputtzumachen, was in jahrelanger Arbeit aufgebaut wurde. Die Regierung will - so hat sie auf eine Anfrage der Linken geantwortet - die Projekte gegen rechts zu - Zitat - "Verantwortung und Sensibilität" gegen Extremismus erziehen. Wenn jemand sensibilisiert ist, dann sind es diese Projekte gegen rechts, die seit Jahren durchgeführt werden und die garantiert keinen Nachhilfeunterricht von Ihnen brauchen. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung tut so, als seien diese Projekte gegen Rechtsextremismus scharf darauf, mit ausgemachten Verfassungsfeinden zu kungeln. Die Regierung verlangt den Trägern ab, Berichte des Verfassungsschutzes aus Bund und Ländern zu lesen, dazu Referenzen über mögliche Bündnispartner einzuholen sowie Medienberichte und Literatur zu diesem Bereich zu studieren. Den Projekten wird ein Wust von Schnüffeldiensten abverlangt. Wir sind froh, dass es Landesregierungen wie Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt gibt, die ganz klar kritisieren, dass diese Vorgehensweise Misstrauen und Verunsicherung sät und dass dadurch der Kampf gegen die Rechtsextremisten sabotiert wird. Man muss wirklich sagen: Die Einzigen, die sich zurzeit darüber freuen, sind die Neonazis selbst. (Beifall bei der LINKEN) Ihnen, liebe Kollegen von der Union und der FDP, wird sicherlich nicht entgangen sein, dass auch der Zentralrat der Juden und der Zentralrat der Muslime die Extremismusklausel ablehnen - wir haben es schon gehört -, weil dadurch couragierte und engagierte Menschen unter Generalverdacht gestellt werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang die 1 500 Persönlichkeiten und Organisationen erwähnen, die eine entsprechende Protesterklärung unterzeichnet haben. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wegen "kleine Gruppe"!) Diese Klausel erhebt den Verfassungsschutz zur unfehlbaren Messlatte. (Zuruf von der FDP: Ich kann mir vorstellen, dass Sie das stört!) Ich nenne drei Beispiele für das Handeln des Verfassungsschutzes. Erstes Beispiel. Erst letzte Woche hat das Verwaltungsgericht Köln bestätigt, dass der Rechtsanwalt und Menschenrechtler Rolf Gössner 40 Jahre zu Unrecht vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Zweites Beispiel. Der bayerische Verfassungsschutz hat die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München, a.i.d.a., ebenfalls zu Unrecht als extremistisch diffamiert, wie ein Gericht klarstellte. Drittes Beispiel. Ich will daran erinnern, dass der Verfassungsschutz nicht gerade sehr hilfreich bei dem Verbotsverfahren gegen die NPD war. Auch hier haben wir gesehen, dass das Ganze überhaupt nichts gebracht hat. Mit der Extremismusklausel sollen missliebige linke Organisationen an den Pranger gestellt werden, etwa die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die Rassismus und Demokratiefeindlichkeit auch in der Mitte dieser Gesellschaft, in den etablierten Parteien und in den Medien immer wieder kritisiert. Doch das passt nicht in das schlichte und falsche Extremismusbild der Union und der FDP. Deswegen wollen Sie aus den Projekten gegen rechts extreme Vorfeldorganisationen des Verfassungsschutzes machen. Dabei werden sowohl die Organisationen als auch wir nicht mitmachen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte Sie zum Schluss auffordern: Ziehen Sie diese schädliche Extremismusklausel zurück. Sie dient nicht der Demokratie, und sie dient vor allen Dingen nicht dem Vertrauen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sönke Rix [SPD] und Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich möchte Sie alle auffordern, am übernächsten Samstag in Dresden zur Demonstration zu kommen und zu verhindern, dass Nazis wieder durch Dresden marschieren. Blockieren Sie zusammen mit uns und den vielen Tausend antifaschistischen Organisationen und Menschen. Da können Sie wirklich etwas Sinnvolles tun. Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Bernschneider (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen und der andere von der Linken. Lassen Sie mich kurz einen Satz zum Antrag der Linksfraktion sagen. Wer die sogenannte Extremismusklausel mit dem Radikalenerlass der 1970er-Jahre vergleicht, hat meiner Meinung nach in dieser Debatte jedweden Anspruch verloren, ernst genommen zu werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber auch die Vergleiche von SPD und Grünen sind an dieser Stelle nicht wesentlich erträglicher. Ich möchte Sie daran erinnern, worum es hier geht. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um Misstrauen geht es!) Es geht darum, dass sich Träger von Maßnahmen gegen Extremismus, die vom Bund gefördert werden, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen müssen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber warum denn?) Ich nenne das eine Selbstverständlichkeit. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Frau Roth spricht vom kruden Weltbild dieser Koalition. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das stimmt ja auch!) Dass sich Perspektiven ändern, wenn man von der Regierungsbank auf die Oppositionsbank wechselt, kann man sich vorstellen; aber dass sich gleich ganze Weltanschauungen ändern, finde ich schon merkwürdig. Dass Sie so tun, als ob diese Extremismusklausel eine Erfindung von Frau Schröder oder Schwarz-Gelb wäre, ist abenteuerlich. Herr Kues hat es bereits gesagt; aber ich möchte es wiederholen, damit es bei Ihnen wirklich ankommt. Lutz Diwell, SPD-Staatssekretär im Innenministerium, schrieb in einem Brief an alle Ministerien am 4. März 2004 - Sie können es gerne nachlesen -, dass die missbräuchliche Inanspruchnahme von Förderprogrammen durch Organisationen mit rechts-, links- und ausländerextremistischem einschließlich islamistischem Hintergrund auf jeden Fall zu verhindern sei. Mich überrascht schon der breite Ansatz im Kampf gegen den Extremismus, den es heute leider nicht mehr in der SPD gibt. Herr Diwell bietet sogar an, dass bei der Überprüfung der Maßnahmen gerne das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig wird. So viel zum Thema Schnüffelstaat. Daraufhin prüfte das Familienministerium, wie man mit dem Diwell-Erlass umgehen sollte. Es schrieb - zur rot-grünen Regierungszeit - an alle Träger von Maßnahmen gegen Extremismus Folgendes: Für die Bundesregierung ist klar: Personen oder Organisationen, die nicht die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten, dürfen weder direkt noch indirekt durch Bundesbehörden gefördert werden. (Beifall bei FDP und CDU/CSU - Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) Am Ende dieses Briefes hieß es: Der Träger der geförderten Maßnahme hat im Rahmen seiner Möglichkeiten (Literatur, Kontakte zu anderen Trägern ...) die Unbedenklichkeit der als Partner ausgewählten Organisationen, Referenten etc. ... zu prüfen. Dieser Satz kommt Ihnen bekannt vor, weil es genau der gleiche Satz ist, der jetzt in der angeblich so neuen Extremismusklausel von Frau Schröder steht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Bernschneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kolbe? Florian Bernschneider (FDP): Nein. - In der aktuellen hektischen Debatte wird auch über Gutachten gesprochen. Wir können gern fachpolitisch darüber diskutieren, ob wir diesen Satz nachschleifen sollen, damit er für die Träger vor Ort deutlicher wird. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das haben Sie doch abgelehnt!) Darum geht es Ihnen heute aber nicht. Sie wollen sofort abstimmen. Sie wollen in den Ausschüssen nicht auf fachlicher Ebene darüber sprechen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir diskutieren seit Monaten!) Das zeigt, worum es geht: Es geht Ihnen bei diesem Thema, das Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht anders gesehen haben, um Wahlkampf. Damit gewinnt man alles, aber keine Wahlkämpfe und erst recht nicht unsere Zustimmung. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur Misstrauen gegen unsere Zivilgesellschaft!) Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Kolbe das Wort. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte jetzt gar nichts mehr zu dem schon hinlänglich bekannten Skandal sagen, dass die Bundesregierung den Initiativen, die sich mit all ihrer Macht für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen, das Misstrauen ausspricht. Ich möchte vielmehr bei der rechtlichen Positionierung nachhaken. Wir sind uns ja im Ziel einig - zumindest unterstelle ich das -, dass Verfassungsfeinden kein staatliches Geld zufließt. Unsere Position ist, dass schon jetzt ausreichend Möglichkeiten bestehen, etwaige Geldflüsse zu unterbinden. Da dies bisher nicht der Fall war, sprechen Sie den Initiativen ohne Anlass Ihr Misstrauen aus. Herr Bernschneider, Sie und Ihre Partei halten die Bürgerrechte und sicherlich auch das Grundgesetz hoch. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war einmal! - Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das ist lange vorbei!) Nehmen Sie zur Kenntnis, dass in mehreren Gutachten Bedenken geäußert werden, ob diese Klausel wirklich verfassungsrechtlich legitim ist und ein legitimes Mittel darstellt, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen Sie des Weiteren zur Kenntnis, dass selbst die schwarz-gelbe Landesregierung im Land Sachsen die bislang geplante Demokratieerklärung oder Extremismusklausel abgeschwächt hat. Aus meiner Sicht ist sie damit zwar immer noch nicht ganz verfassungskonform. Aber selbst die schwarz-gelbe Landesregierung hat gesagt, die Extremismusklausel, wie Sie sie hier fordern, sei in dieser Weise nicht legitim. (Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Minuten! Jetzt ist es genug!) Mich interessiert, was die FDP dazu sagt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte sehr, Herr Kollege. Florian Bernschneider (FDP): Frau Kollegin, ich habe gerade versucht, Ihnen zu erklären, dass es Gutachten gibt, die besagen, dass die Sätze 2 und 3 durchaus kritisch gesehen werden können. Es gibt auch zahlreiche Gutachten, die besagen, es gebe überhaupt kein Problem. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche sind denn das? Das wäre interessant!) Um auch das einmal klarzustellen: Kein Gutachten bezweifelt, dass es richtig ist, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen. Das bezweifelt nicht ein Gutachter. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sönke Rix [SPD]: Das bezweifeln wir auch nicht! Unterstellen Sie doch nicht, dass wir das bezweifeln - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Niemand bezweifelt das!) Nicht ein Gutachten bezweifelt, dass man das unterschreiben kann. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau dieser Satz, der in einigen Gutachten kritisch gesehen wird, nicht von uns stammt, sondern von einem Ihrer Staatssekretäre während Ihrer Regierungszeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sönke Rix [SPD]: Wo musste das denn bei uns unterschrieben werden? - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wo bleibt Ihre Antwort?) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Lazar das Wort. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um die sogenannte Extremismusklausel hat in den letzten Tagen und Wochen richtig Fahrt aufgenommen. Allerdings, Kollege Bernschneider, diskutieren wir über diese Klausel schon seit mehreren Monaten, unter anderem im Ausschuss. Es gibt sehr wohl viel Kritik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Da Sie den heute von uns vorgelegten Anträgen nicht zustimmen, werde ich jetzt etwas ausholen und Ihnen erklären, welche Argumente es noch von anderen gibt: Das von Professor Battis angefertigte Gutachten besagt, dass weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch dem Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen wird. (Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!) Die Fragen, welche Mittel der Überprüfung angewandt werden sollen, welcher Verdachtsgrund die Ablehnung einer Gruppe oder Person als Partner rechtfertigt und welche Rechtsfolgen drohen, werden nicht beantwortet. Sie werden auch in den nachgereichten Hinweisen zur "Erklärung für Demokratie", die den Trägern zur Verfügung gestellt wurden, nicht beantwortet. Der Tipp der Ministerin, die potenziellen Partner einfach zu googlen - das hat sie im Ausschuss gesagt -, empfinde ich als Hohn. Es ist peinlich und höhnisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirklich peinlich!) Ich hatte heute früh mit einer Amerikanerin zu tun, die zu mir gesagt hat, all das erinnere sie an die McCarthy-Ära. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern von einer Amerikanerin, die hier in Deutschland lebt. Inzwischen liegt auch das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vor; Kollege Thierse hat dazu schon einige Ausführungen gemacht. Das eigene Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist nicht das Problem; das haben wir heute bereits festgestellt. Das Problem ist die Gesinnungsschnüffelei bei potenziellen Partnern. Die Träger fühlen sich in ihrer Existenz bedroht; denn im Falle der falschen Partnerwahl kann es zur Rückforderung von Fördermitteln kommen. (Patrick Döring [FDP]: Ja! Ist doch gut!) So bleibt die ohnehin vorhandene Unsicherheit selbst nach einem positiven Fördermittelbescheid erhalten. (Patrick Döring [FDP]: Ja! Dann muss man sich kümmern!) Der Parlamentarische Staatssekretär Bergner sprach von einer "heilsamen Wirkung" der Erklärung, da die Zuwendungsempfänger zum Nachdenken angeregt würden. Er bemühte sogar den Vergleich mit der Anti-Doping-Erklärung, um die Extremismusklausel als im Zuwendungsrecht etwas völlig Normales darzustellen. Ich finde, das war eine sehr fantasievolle Begründung. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird immer lächerlicher!) Die zivilgesellschaftlichen Initiativen wehren sich zu Recht gegen ein Klima des Misstrauens. Im Rahmen des Aktionstages "Extreme Zeiten" am 1. Februar 2011 gab es sehr viele Protestschreiben, die das Ministerium erreicht haben. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - das wurde heute schon gesagt - ist nicht ein Problem vermeintlich extremer Ränder, sondern ein Problem der Mitte. Damit hat diese Erklärung leider gar nichts zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es gibt weitere prominente Leute, die sich kritisch geäußert haben - ich weiß nicht, wer sich positiv geäußert hat; Herr Kues, vielleicht können Sie uns diese Information noch zur Verfügung stellen -: Anetta Kahane, Leiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung, DGB-Chef Michael Sommer sowie Gesine Schwan, die im Rahmen der Verleihung des Sächsischen Demokratiepreises in Dresden sehr kritische Worte gefunden hat. Sogar die Bundesarbeitsgemeinschaft "Kirche für Demokratie - gegen Rechtsextremismus" - liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hören Sie jetzt zu - wendet sich gegen das Druckmittel der eingeforderten Unterschriftserklärung. Auch in den Ländern ist einiges in Bewegung geraten. Die Sächsische Staatsregierung erklärte auf Nachfrage meines Landtagskollegen Miro Jennerjahn, dass es unter den zwischen 2005 und 2010 im Landesprogramm "Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz" geförderten Projekten keine gibt, die unter Extremismusverdacht stehen. Damit müsste die Anti-Extremismus-Erklärung für das Land Sachsen doch eigentlich hinfällig sein. Stattdessen hat Innenminister Ulbig die Klausel weiter verschärft. Jetzt müssen auch die Kooperationspartner noch unterschreiben. Die verschiedenen Bundesländer, die Protest eingelegt haben, wurden schon genannt: Berlin, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen. Die gemeinsame Pressekonferenz vom Zentralrat der Juden und Zentralrat der Muslime, die gestern stattgefunden hat, sollte Ihnen auch zu denken geben. Auch sie haben sich explizit und mit sehr scharfen Worten dagegen gewandt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das sollte Ihnen zu denken geben!) Zum Schluss möchte ich noch ein Wort an die FDP richten: Der Kollege Ruppert hat sich ebenfalls kritisch geäußert. Er wird nachher noch reden. Ich hoffe, Sie können auf Ihre Koalition dahin gehend einwirken, dass sie die Erklärung vielleicht doch noch zurücknimmt bzw. sie zumindest so gestaltet, dass sie der Verfassung entspricht. Ganz zum Schluss mein Wunsch: Demokratinnen und Demokraten sollten vertrauensvoll zusammenarbeiten und sich nicht gegenseitig des Extremismus verdächtigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Uns liegen heute die entsprechenden Anträge vor. Wir haben in den letzten Wochen sehr viel diskutiert. Deshalb meine Bitte: Stimmen Sie diesen Anträgen zu und nehmen Sie diese unsägliche Extremismusklausel heute endgültig zurück! Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Geis hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Norbert Geis (CDU/CSU): Verehrte Frau Lazar, es geht nicht darum, dass wir uns gegenseitig des Extremismus verdächtigen, sondern es geht darum, dass wir den Staat vor Extremisten schützen. Darum geht es auch in der Bestätigung, die zu unterschreiben ist. Ich weiß nicht, was daran so fatal ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verehrter Herr Thierse, ich stimme mit Ihnen darin überein, dass der Staat wehrhaft sein muss. Das Prinzip der Wehrhaftigkeit der Demokratie steht neben dem Prinzip der Sozialstaatlichkeit, neben dem Prinzip der Demokratiestaatlichkeit und neben dem Prinzip, dass unsere Grundrechte justiziabel sind. Die wehrhafte Demokratie ist eines der Grundprinzipien unserer Verfassung. Wir haben immer darin übereingestimmt. Sie haben das vorhin auch selber erklärt. Die Wehrhaftigkeit steht dabei neben der Rechtsstaatlichkeit, der föderativen Grundordnung und der sozialen Ordnung. Diese Begriffe markieren jeweils eine besondere Ausgestaltung unserer Verfassung. Das Prinzip der wehrhaften Demokratie ist ein Verfassungsprinzip, das eigenständige Bedeutung gewonnen hat. Die Idee der wehrhaften Demokratie kam in unsere Verfassung, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes in der Weimarer Zeit schlechte Erfahrungen gemacht haben. In der Weimarer Zeit galt das Prinzip der Toleranz, was an sich ein gutes Prinzip ist. Aber damals war es Toleranz im Sinne von Werterelativismus. Was wir an dieser Verfassung heute als Mangel sehen, war damals eine Tugend, nämlich dass man alle möglichen politischen Ideen, Gestaltungen und Überlegungen zugelassen hat, ohne sie bekämpfen zu können. Deshalb war die Demokratie der Weimarer Republik in sich brüchig. Sie ist deswegen zugrunde gegangen. Sie war nicht in der Lage, sich gegen innere und äußere Feinde zu wehren. Deswegen haben wir heute das Prinzip der wehrhaften Demokratie. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe der Abg. Sönke Rix [SPD] und Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) - Ich komme zum Thema. Mit dieser Vorbemerkung wollte ich das aufnehmen, was Ihr Kollege Thierse vorhin gesagt hat, nämlich dass wir eine wehrhafte Demokratie brauchen. Unser Verfassungsgericht hat das Prinzip der wehrhaften Demokratie in seinen Entscheidungen ausgestaltet. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte mal zur Sache!) Denken wir an die berühmte Entscheidung zum Verbot der KPD, denken wir aber auch daran, dass die Bemühungen um das Verbot der NPD bislang nicht zum Erfolg geführt haben, was ich bedauere. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber warum? - Sven-Christian Kindler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen Verfassungsschutz und V-Leuten!) - Fragen Sie bitte das Verfassungsgericht! (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren die V-Leute! - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verfassungsschutz und V-Leute waren das Problem!) - Das ist nicht mein Problem. Vielleicht waren die damals eingereichten Klagen auch nicht so beschaffen, dass man darauf ein Verbot wirklich hätte stützen können. Mit den beiden Programmen, dem Programm "Toleranz fördern - Kompetenz stärken" gegen den Rechtsextremismus und der Initiative "Demokratie stärken" gegen den Linksextremismus und den islamistischen Extremismus, kommt das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dieser Verpflichtung zur wehrhaften Demokratie nach. Diese Programme sehen nicht direkt staatliches Handeln vor, sondern richten sich an Bürgerinitiativen und an Organisationen, die aus der Gesellschaft kommen, also bürgerschaftliche Organisationen sind. Nicht Beamte sind dort tätig, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir, Herr Geis! Wir reden auch mit Organisationen!) sondern Bürger aus der Gesellschaft können die Initiative ergreifen. Ich halte das für richtig und für gut. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja, wir auch!) Das hat vielleicht sogar noch eine größere Wirkung, (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja! - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat es auch, aber die Klausel verhindert Engagement!) als wenn wir es über Beamte, also auf staatlichem Wege, machen würden. (Zuruf: Nun zur Erklärung!) Wenn das so ist, dann kann es doch nicht falsch sein - im Übrigen sagt auch Battis nicht, dass das falsch ist -, dass wir das von denen verlangen, die sich darum bemühen, dass die Demokratie in unserem Volk verwurzelt bleibt, dass die demokratischen Grundsätze bei uns ins Bewusstsein übergehen, und zwar jeden Tag. Mit Recht sagt Herr Thierse, dass die Demokratie von Zustimmung lebt. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sollten dankbar sein und nicht misstrauen!) Wir brauchen die Gemeinsamkeit der Demokraten. Diese Institutionen und Organisationen können dabei mithelfen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben! Das machen die seit Jahren!) Aber es kann doch nicht verkehrt sein, dass wir von diesen Organisationen eine Bestätigung verlangen, dass sie sich tatsächlich für die demokratische Grundordnung einsetzen. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Doch! Sie misstrauen ihnen!) Warum soll denn das unmöglich sein? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sie misstrauen ihnen!) - Das ist doch kein Misstrauen. Wir verlangen nur diese Bestätigung. (Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]) - Sie können noch so laut schreien. Es ist nichts anderes als ein klares Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Was war denn in den letzten Jahren schiefgelaufen?) Sie gehen davon aus, dass demokratisches Grundverständnis überall vorhanden ist. Wenn das der Fall wäre, brauchten wir solche Organisationen nicht, dann brauchten wir solche Initiativen nicht. Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Kollege Geis, möchten Sie noch eine Frage beantworten kurz vor Ablauf Ihrer Redezeit? Norbert Geis (CDU/CSU): Ich beantworte nachher die Frage, aber ich möchte erst meinen Gedanken zu Ende führen. Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben leider nur noch 34 Sekunden. Norbert Geis (CDU/CSU): Na gut, dann werde ich die Frage jetzt zulassen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Rix. Sönke Rix (SPD): Herr Geis, ich will mal nicht so sein und Ihnen noch ein bis zwei Minuten zusätzliche Redezeit geben. Können Sie mir erklären, was sich in den Jahren, seitdem die Programme aufgelegt wurden, bis zu dem Zeitpunkt, wo die Extremismusklausel eingeführt wurde, verändert hat? Können Sie mir also erklären, was Frau von der Leyen falsch gemacht und Frau Schröder jetzt wohl richtig macht? Bitte erklären Sie mir auch noch ein Zweites: Warum müssen Organisationen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen, diese Erklärung unterschreiben, während andere Organisationen, die staatliche Mittel aus dem Jugendetat des Ministeriums oder anderswoher erhalten, solche Klauseln nicht zu unterschreiben brauchen? Wo liegt da der Unterschied? Diese beiden Fragen hätte ich gerne noch beantwortet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Norbert Geis (CDU/CSU): Wenn Organisationen dazu da sind, die verfassungsrechtliche Grundordnung ins Volk hereinzutragen, dann haben sie nach dem, was jetzt vorliegt und zur Debatte steht, genau das Gleiche zu unterschreiben wie jene Organisationen, die ich eben genannt habe. Wir können nicht von vornherein davon ausgehen, dass in all diesen Organisationen demokratische Grundsätze völlig gleichmäßig verwurzelt sind. Wir wollen durch diese Bestätigung eben erreichen, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt diese Programme schon jahrelang! Es gab nie Probleme!) dass sie unsere Demokratie anerkennen und sich auf ihre Grundsätze verpflichten. Im Übrigen sagt Battis, den Sie als Gutachter ausgewählt haben (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren die Initiativen, Herr Geis!) und den ich im Übrigen auch schätze, in dem von ihm erstellten Gutachten genau das Gleiche. Er sagt, es ist möglich, dass von diesen Organisationen diese Bestätigung verlangt wird. Jetzt kommt der zweite Punkt: Diese Organisationen müssen eine entsprechende Bestätigung natürlich auch von denen verlangen, die sie als Mithelfer, als Unterstützer ihrer Bemühungen heranziehen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Redezeit! - Sönke Rix [SPD]: Schneeballsystem!) Wenn sie selbst diese Bestätigung abgeben müssen, dann ist es doch logisch und richtig, dass auch die Partner, die ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mithelfen, ebenfalls diese Bestätigung abgeben. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt Battis aber nicht! Battis sagt, das sei verfassungswidrig!) - Da unterscheide ich mich von Battis. - Ich bin der Meinung, dass dieses nicht mehr als recht und billig ist. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Rede ist billig!) Es kann doch nicht sein, dass sich unter Umständen links- oder rechtsextremistische Kreise engagieren lassen, um angeblich für die demokratische Grundordnung einzutreten, und dafür Geld bekommen, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! - Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn, Herr Geis! - Weiterer Zuruf des Abg. Sönke Rix [SPD]) obwohl sie diesen Staat im Grunde genommen ablehnen und zugrunde richten wollen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie einmal mit denen! Gehen Sie einmal vor Ort!) Wir können doch nicht Steuergeld zur Verfügung stellen, um diese Leute auch noch zu unterstützen. Da denke ich wirklich an Lenin: "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." Das kann es doch nicht sein, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lenin hat auch gesagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!) Der Staat macht zwar viele Fehler, aber er darf einen Fehler bestimmt nicht machen: Er darf nicht zulassen, dass er lächerlich gemacht wird. Der größte Fehler wäre jedoch, wenn er sich selbst lächerlich macht. Dass man von Menschen bzw. bürgerschaftlichen Gruppierungen, die sich im Rahmen von Initiativen, die vom Ministerium ausgehen, darum bemühen sollen, in der Bevölkerung des Landes ein demokratisches Bewusstsein zu verwurzeln, entsprechende Verpflichtungserklärungen verlangt, kann doch nicht dazu führen, dass bei Ihnen so ein starker Widerspruch entsteht, wie das jetzt der Fall ist. Ich bedauere das sehr. Im Grunde genommen handelt es sich um eine sehr vernünftige Sache. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Sönke Rix [SPD]: Was hat Frau Schröder jetzt richtig gemacht und Frau von der Leyen falsch?) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer wie ich häufiger zu Fragen des Extremismus und seiner Bekämpfung spricht, der erlebt leider immer wieder die gleiche Dramaturgie. Ich erinnere an den Koalitionsvertrag. Darin haben wir die Bekämpfung des Linksextremismus und den Islamismus aufgenommen. Damals haben Sie uns vorgeworfen, wir würden von nun an den Rechtsextremismus nicht mehr bekämpfen wollen. Dann haben Sie gesagt, wir würden im Haushalt sicherlich die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus streichen wollen, weil wir unsere Aufmerksamkeit einseitig dem Linksextremismus zuwenden würden. Auch das war nicht richtig. Jetzt sagen Sie: Es ist unzumutbar - das haben Sie in der Vergangenheit selbst gemacht -, von Trägern, die solche Aufgaben wahrnehmen, ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verlangen. Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle einmal über das Ob und das Wie unterhalten. Ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie anfangen, über die Frage des Ob, also über die Frage, ob es für einen Träger zumutbar ist, zu erklären, dass er selbst auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, zu diskutieren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Natürlich ist das jedem zumutbar. Sie sagen, darum gehe es nicht. Aber sogar das von Herrn Thierse zitierte Gutachten aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages besagt: Die Befürchtungen des zuständigen Ministeriums, dass durch Projektmittel auch unerwünschte Organisatoren gefördert werden, ist damit nicht von der Hand zu weisen. - Insofern ist es sicherlich richtig und sinnvoll, dass wir hier sagen: Dieses Ob muss außerhalb jeder Diskussion stehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sönke Rix [SPD]: Und warum nicht alle?) Leider kommen wir wegen dieser Debatten niemals dazu, sauber zu klären, welchen Extremismusbegriff wir in Deutschland eigentlich zugrunde legen. Meiner Meinung nach haben wir auf der linken Seite dieses Hauses immer das Problem, dass es von Ihnen eine Art konzedierten vermeintlichen moralischen Rabatt für den Linksextremismus gibt, während Sie engagiert und mit großem Einsatz - das will ich gar nicht verkennen - gegen den Rechtsextremismus vorgehen. Es ist an der Zeit, diese Unausgewogenheit endlich einmal abzulegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: So ein Unsinn! Sie haben keine Kenntnis von diesem Bereich!) - Das mögen Sie behaupten. Ich habe als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht das NPD-Verbotsverfahren betreut. Ich kann also sicherlich über einige Jahre der Auseinandersetzung mit Extremismus in Deutschland reden. Man könnte viel darüber sagen, was dabei schiefgelaufen ist. (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sagen Sie es mal!) Aber eines ist aus meiner Sicht unerträglich - das sage ich als jemand, dessen Wahlkreisbüro schon Ziel autonomer Gewalt geworden ist, weil ich für den Ausbau des Frankfurter Flughafens bin oder weil ich dem Energiekonsens zugestimmt habe -, nämlich dass Sie mit dem linken Auge nicht hinschauen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Menschen sind von den Neonazis ermordet worden?) Jetzt habe ich relativ viel Zeit meiner Rede damit zugebracht, mich mit der aus meiner Sicht leider wieder verpassten Chance von Ihrer Seite zu befassen. Ich will am Ende nicht verhehlen, dass der positivistische Verfassungsjurist in mir mit Satz 2 durchaus nicht glücklich ist, was die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit angeht. (Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD]) Ich halte das zwar nicht für verfassungswidrig, wie von Ihnen unterstellt. Aber ich finde, dass die vom betreffenden sächsischen Ministerium gewählte Formulierung - wie wir alle wissen, ist Sachsen ein sehr gut regiertes Bundesland - (Beifall bei der FDP - Widerspruch bei der SPD) eindeutig praktikabler und sachlicher ist. Aber um die Frage, ob es so oder so besser ist, ging es Ihnen heute gar nicht. Ihnen ging es heute leider wiederholt nur um die Feststellung, dass wir nicht bereit sind, den Extremismus auf rechter Seite zu bekämpfen. Das ist schlicht Unsinn. Insofern können wir Ihre Anträge nur ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4551 mit dem Titel "Demokratieinitiativen nicht verdächtigen, sondern fördern - Bestätigungserklärung im Bundesprogramm ‚Toleranz fördern - Kompetenz stärken' streichen". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen. Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4664 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft - Drucksache 17/4558 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Marlene Mortler (CDU/CSU): Ein erfolgreiches Instrument für die deutsche Agrar- und Ernährungswirtschaft neigt sich dem Ende zu. Der Absatzfonds wird abgewickelt. Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. Februar 2009 das Urteil dazu gesprochen. Die Kläger haben recht bekommen. Mit Beschluss vom 12. Mai 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die gesetzliche Aufgabenstellung des Holzabsatzfonds sowie dessen Finanzierung über die Sonderabgabe ebenfalls für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Ich persönlich bedaure diese Entwicklung sehr, ist doch gerade unser Bundesland Bayern auf überregionale Märkte und den heimischen Absatz angewiesen. Wenn ich den Selbstversorgungsgrad bei Milch von mehr als 170 Prozent und bei Rindfleisch von mehr als 200 Prozent sehe, dann hat diese Förderung immer wieder für Absatz im Ausland gesorgt. Das heißt, wir waren dank des Absatzfondsgesetzes und der Arbeit der CMA sehr erfolgreich im Exportgeschäft und ein konjunkturstabiler Faktor, was in Zeiten von Finanzmarktkrisen und Wirtschaftsrezession hoch einzuschätzen war und ist. Das Gesetz zur Auflösung und Abwicklung der beiden Fonds ist deshalb notwendig, weil sowohl der Absatzfonds als auch der Holzabsatzfonds durch Gesetz als rechtsfähige Anstalt des Öffentlichen Rechts errichtet wurden. Von den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind bestimmte Vorschriften des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes unberührt geblieben. Sie sind auch aufzuheben. Das Nähere über die Erhebung der Beiträge ist jeweils in der Verordnung über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz und der Holzabsatzfondsverordnung geregelt, die ebenfalls aufzuheben sind. Für den Fall, dass beim Absatzfonds oder beim Holzabsatzfonds zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Arbeit Vermögensüberschüsse verbleiben, bedarf es außerdem einer Regelung über deren Verwendung. Vielen Wirtschaftsbeteiligten ist erst im Nachhinein deutlich geworden, wie wichtig eine zentrale Absatzförderung ist und welche gute Arbeit CMA und ZMP geleistet haben; über Einzelheiten kann man streiten. Zwischenzeitlich sind auf Initiative der Wirtschaft sowohl in der Ernährungsbranche als auch im Holzbereich Nachfolgeorganisationen gegründet worden. Fakt ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Vorschriften zur Beitragserhebung für nichtig erklärt hat, sondern auch die Vorschriften zur Aufgabenstellung der Fonds. Nach Anhörung der Verbände leitete das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten daraus ab, dass eine Verwendung etwaiger Überschüsse zugunsten der ursprünglichen Beitragszahler rechtlich nicht geboten ist. Dennoch werden wir uns als Unionsfraktion im Deutschen Bundestag im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens dafür einsetzen, die rechtlichen Möglichkeiten auszunutzen, um die Verwendung der Restmittel im Sinne der ursprünglichen Beitragszahler zu ermöglichen. Auch der Bundesrat hat sich im Dezember letzten Jahres dafür ausgesprochen, etwaige Überschüsse, die nach Abwicklung des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben, zugunsten der Land- und Forstwirtschaft zu verwenden. In ihrer Stellungnahme zu dem vorliegenden Gesetzentwurf sprach sich die Länderkammer damit gegen die Absicht der Bundesregierung aus, die Mittel ohne Zweckbindung dem Bundeshaushalt zuzuführen. Die Sonderabgabe sei von den Betrieben der Land- und Ernährungswirtschaft sowie der Holz- und Forstwirtschaft erbracht worden. Daher müssten die Restmittel auch diesen Betrieben wieder zugutekommen. Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtigkeit der Sonderabgabe lasse sich nicht ableiten, dass diese in den allgemeinen Bundeshaushalt eingehen müssten. Stattdessen müsse es ermöglicht werden, dass Restmittel in der Land- und Ernährungswirtschaft beispielsweise für Messebeteiligungen, Präsentationen, Marktstudien sowie Markterschließungsmaßnahmen ein-gesetzt werden. Von den übrig bleibenden Holzabsatzfondsmitteln müssten wieder Forstbetriebe, Waldbesitzer und Unternehmen der Holzwirtschaft profitieren. Diese Meinung teile ich ausdrücklich. Das heißt, sollten nach vollständiger Abwicklung Restmittel zur Verfügung stehen, können diese in den Haushalt zurückfließen. Wir Abgeordnete haben es dann als Haushalts-gesetzgeber in der Hand, das verfügbare Geld im Sinne der Beitragszahler einzusetzen. Den entscheidenden Zeitpunkt werden wir im Auge behalten. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute debattieren wir über die Restmittel zweier Fonds, die seitens der Wirtschaft seit 1969 mit Abgaben gefüllt wurden. Diese gesetzlich auferlegten Abgaben waren nie besonders beliebt. Jahrelang wurde in Deutschland über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von Zwangsabgaben für das land- und forstwirtschaftliche Gemeinschaftsmarketing gestritten. Und tatsächlich: Ihre ursprüngliche Zielsetzung haben die Abgaben schon seit langem verloren. Im Jahr 2009 rügte der Bundesrechnungshof äußerst deutlich, dass die Marketing-gesellschaft für Agrarwirtschaft, CMA, Beiträge verschwende und ihre Aufgabe verfehle. Nach dem internen Bericht des Bundesrechnungshofes habe die Absatzorganisation viele Marketingmaßnahmen bezahlt, die "gegen interne Vorgaben verstießen, unwirtschaftlich oder weitgehend wirkungslos waren". Der Bundesrechnungshof untermauerte damit die Kritik vieler Land- und Forstwirte. Schlussendlich hat das Bundesverfassungsgericht Anfang 2009 ein klares Urteil gesprochen, Az.: 2 BvL 54/06 vom 3. Februar 2009. Die millionenschwere Zwangsabgabe ist seit 2002 als rechtswidrig anzusehen. Damit konnten die deutschen Land- und Forstwirte die Zahlungen für die zentrale Vermarktung ihrer Produkte einstellen. Zuletzt waren im Schnitt in die Fonds jährlich fast 88 Millionen Euro geflossen. Mit durchschnittlich 0,4 Prozent wurde der jeweilige Warenwert belastet. Werner Hilse, der Präsident des niedersächsischen Landvolkverbandes, hat ja kurz nach Bekanntgabe des Urteils diese hochrichterliche Entscheidung als "Konjunkturbremse und nicht passend in die derzeitige Wirtschaftslage" bezeichnet. Nach anfänglicher Schwarzmalerei sind der Berufsstand und die Agrar- und Ernährungswirtschaft dann doch sehr schnell aktiv geworden. Zusammen mit der Politik hat die Wirtschaft neue Konzepte und Finanzierungsmodelle für die Absatzförderung entwickelt. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, siehe da: Es funktioniert, auch ganz ohne Zwangsabgabe. Wir müssen aber auch feststellen, dass wir die auf EU-Ebene bereitgestellten Mittel für das Absatzmarketing nicht in dem Umfang abrufen, wie das wünschenswert wäre. Hier müssen die einzelnen Branchenorganisationen mehr über ihren Tellerrand schauen. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie, um unsere heimische Agrar- und Ernährungswirtschaft voranzubringen. Heute geht es um die Verwendung der vorhandenen Restmittel aus den Absatzfonds. Und dabei muss nach meiner Überzeugung ganz klar der Grundsatz gelten: Die Restmittel müssen so verwendet werden, dass diejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon profitieren. Daher halte ich das jetzt vorgesehene Verfahren der schwarz-gelben Koalition in der Sache für nicht tragbar. Die Absatzfondsmittel sind vorrangig von den land- und forstwirtschaftlichen Betrieben aufgebracht worden. Folgerichtig müssen die vorhandenen Restmittel zweckgebunden ausgegeben werden. Klar ist, dass wir nicht die Restmittel im Umfang von ein paar Euro und dann noch auf den Cent gerundet den Abgabenzahlern zurückzahlen können. Der bürokratische Aufwand wäre viel zu groß. Die SPD lehnt es aber ab, dass der Vermögensüberschuss nach Abwicklung in den Bundeshaushalt überführt wird. Dieser muss den früheren Abgabenzahlern zugutekommen. Meine Vorschläge dazu: Legen Sie ein einmaliges und auf zwei Jahre befristetes Fortbildungsprogramm für Landwirte auf. Aus einem breitgefächerten Angebot mit dem Schwerpunkt Unternehmensmanagement könnten sich die Betriebsleiter dann kostenfrei die Module aussuchen, die sie für die Weiterentwicklung ihrer Höfe benötigen. Die Vermögensüberschüsse aus dem Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft sollten dazu genutzt werden, die Nachfrage nach hochwertigem und nachhaltig zertifiziertem Holz mit den Labels FSC, Naturland oder PEFC zu steigern. Die SPD lehnt den Gesetzentwurf der Regierungskoalition mit der jetzigen Zweckbestimmung ab. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Sommer 2009 entschieden, dass die verpflichtende Erhebung einer Sonderabgabe zur Finanzierung einer zentralen Einrichtung der Wirtschaft und deren Aufgaben verfassungswidrig ist. Bereits die im Jahr 2007 im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz durchgeführte Anhörung zum Absatzfonds hatte gezeigt, dass die damit verbundene Zwangsabgabe nicht verfassungskonform ist. Das Gerichtsurteil war somit vorhersehbar. Solche Zwangssysteme müssen sich in einem Rechtsstaat rechtfertigen und zeigen, dass sie nicht durch freiwillige Lösungen ersetzt werden können. Bereits im Jahr 2002 hatte der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass eine Werbung allein für deutsche landwirtschaftliche Produkte europäischem Recht widerspricht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt musste über die vorhandenen Strukturen nachgedacht werden. Warum sollte ein deutscher Obstbauer mit seiner Abgabe den Absatz von Obst ganz allgemein fördern? Im Übrigen war nie einzusehen, dass die Landwirtschaft für die Exportförderung eigene Mittel aufbringt, während in den übrigen Wirtschaftsbereichen die Exportförderung Aufgabe des Wirtschaftsministeriums ist. Die nun unter christlich-liberaler Regierung betriebene Exportförderung für landwirtschaftliche Produkte hat dazu beigetragen, die Land- und Ernährungswirtschaft zu stärken, und ist daher ein wesentlicher Beitrag für die Strukturförderung des ländlichen Raumes. Jetzt legt die Bundesregierung den Gesetzentwurf vor, mit dem die Auflösung und Abwicklung der Anstalt "Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft" und der Anstalt "Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft" geregelt werden soll. Schon im Vorfeld hat die FDP wie nun auch der Bundesrat gefordert, das Restvermögen beider Anstalten gruppenspezifisch zu verwenden. Der Zentralausschuss der Deutschen Landwirtschaft wie auch die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Waldbesitzerverbände - um nur die beiden größten Verbände zu nennen - haben ebenfalls diese Forderung erhoben. Die Sonderabgabe ist von Unternehmen der Land- und Ernährungswirtschaft wie auch der Forst- und Holzwirtschaft geleistet worden. Die Verwendung dieser Mittel sollte daher auch im Interesse derer, die sie erbracht haben, erfolgen. Das von der Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf verfolgte Ziel, die Restmittel ohne Zweckbindung dem allgemeinen Haushalt zuzuführen, wird von der FDP abgelehnt. Es mag, wie in der Begründung ausgeführt, rechtlich nicht geboten sein, die Mittel gruppennützig zu verwenden. Im Sinne des Vertrauensschutzes ist dies jedoch politisch geboten. Um die Beitragszahler und die Steuerzahler nicht zu belasten, sind die Kosten der Abwicklung selbst zunächst aus dem Restvermögen zu tragen. Nach der Bekanntgabe des Gerichtsbeschlusses gab es zahlreiche Klagen gegen die monatlichen Beitragsbescheide. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurden diese für erledigt erklärt, die zu Unrecht eingezogenen Beiträge an die klagenden Betriebe zurückgezahlt. Es muss über die Forderung der Länder entschieden werden, dass die Prozesskosten der anhängigen Klagen vom Bund getragen werden. Es gibt bereits verschiedene Ideen, in welcher Weise das Restvermögen der beiden Anstalten verwendet werden kann, zum Beispiel Einbringen in eine Stiftung oder die Unterstützung bestehender Vermarktungsstrukturen, die sich in der Nachfolge der beiden Anstalten gegründet haben. In jedem Fall muss sichergestellt sein, dass diejenigen, die die Mittel aufgebracht haben, davon einen Nutzen haben. Unser Grundgesetz fordert von uns, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet zu gewährleisten. Die Diskussion um Glasfasernetze zeigt, dass der ländliche Raum mit dem Problem der Errichtung einer gleichwertigen Infrastruktur zu kämpfen hat. Vor diesem Hintergrund ist es politisch kaum vertretbar, von Betrieben des ländlichen Raumes aufgewandte Mittel in den allgemeinen Haushalt fließen zu lassen, statt sie dort zu verwenden, woher sie kommen und wo sie auch gebraucht werden, nämlich im ländlichen Raum. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht aus Sicht vieler Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber auch vieler Beschäftigter der Absatzfonds ein unrühmliches Kapitel politischen Versagens zu Ende. Viele Jahre haben sich vor allem Teile der Agrarwirtschaft gegen die Zwangsbeiträge zur Finanzierung von Absatzförderung über Werbemaßnahmen der CMA gewehrt. Die teilweise sexistischen Kampagnen der obersten Lebensmittelwerbeagentur Deutschlands hatte auch die Linke seit langem kritisiert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die unrühmlichen Werbespots wie "Kleine Schweinerei gefällig?" oder "Und ewig lockt das Fleisch". Auch an der Verfassungsmäßigkeit dieses Geschäftsmodells hatten nicht nur wir Zweifel. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar 2009 war nur folgerichtig und wurde durch uns begrüßt, auch wenn damit gleichzeitig sehr sinnvolle Einrichtungen wie die ZMP zur Disposition gestellt wurden. Ihre Markt- und Preisberichterstattung war sehr bedeutsam, und die Linke hatte gefordert, dies auch nach Abwicklung des Absatzfonds als öffentliche Aufgabe fortzuführen. Stattdessen wurde diese Aufgabe privatisiert und die Agrarmarkt Informations-GmbH, AMI, als Nachfolgerin der ZMP gegründet. Sie verkauft nun die Informationen. Sie erstellt natürlich vor allem Daten, die sich gut verkaufen lassen. Öffentlich finanzierte Daten hätten dagegen auch öffentlich und unentgeltlich zugänglich gemacht werden können. Damit wären Daten vorhanden, die vielleicht nicht wirtschaftlich verwertbar, aber dafür für die gesamte Gesellschaft wichtig sind. Diese Chance wurde bewusst vertan. Das ist eine der Kehrseiten der Absatzfondshistorie. Als weitere Kehrseite erweist sich die von der Bundesregierung vorgeschlagene Verwendung der Restmittel, die nach Bezahlung aller noch offenen Rechnungen des Absatzfonds und des Holzabsatzfonds verbleiben. Diese Reste nicht verfassungsgemäß eingetriebener Gelder sollen aber nicht den Zahlenden, sondern dem Bundeshaushalt zugutekommen. Das ist widersinnig. Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 17. Dezember 2010 betont, dass die überschüssigen Gelder einer "gruppennützigen Verwendung" zugeführt werden sollten. "Gruppennützig" kann für die Linke nur eines bedeuten: Landwirtinnen und Landwirte bzw. die Forstwirtschaft müssen von den Restgeldern profitieren, statt dass damit politisch geschaffene Löcher im Bundeshaushalt gestopft werden. Dabei geht es nicht um die berühmten Peanuts. Der hessische Landesverband des Bundes Deutscher Forstleute, BDF, geht davon aus, dass allein beim Holzabsatzfonds nach Abzug aller offenen Rechnungen und Gerichtskosten noch 2,8 Millionen Euro übrig bleiben. Der Vorschlag des BDF, diese Gelder an die "Zukunft Holz GmbH" zu übergeben, könnte die Gelder im Interesse der in der Branche Beschäftigten sichern. Im Bundeshaushalt ist das höchst unsicher, erst recht nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen. Die Linke thematisiert schon sehr lange, dass gerade in der regionalen Absatzförderung große Potenziale für Wertschöpfung und Arbeitsplätze ungenutzt sind. Deshalb könnten wir uns gut vorstellen, dass die Restgelder nach der Abwicklung der beiden Fonds gerade dafür verwendet werden. Die Nutzung der Gelder zur Stärkung von Agrarfördergesellschaften würde auch in meinem Heimatbundesland Brandenburg den Verband "pro agro" unterstützen. Leider ist die Bundesregierung auf solche Vorschläge bisher nicht eingegangen. Auch die Kritik des Bundesrates wurde beiseite gewischt, weil das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Zwangsgelder, sondern auch die gesetzliche Aufgabenstellung der Fonds für verfassungswidrig erklärt hätte. Die Linke fordert, ernsthaft nach einer verfassungskonformen Lösung zu suchen, damit Land- und Forstwirtschaft zumindest noch indirekt von den verfassungswidrig eingezogenen Geldern profitieren können. Noch fairer wäre sicher die direkte Rückzahlung an die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber dies wird organisatorisch kaum zu leisten sein. Entsetzt bin ich nach wie vor darüber, dass sich die Bundesregierung und die damalige schwarz-rote Koalition vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts überraschen lassen haben. Seriöse, vorausschauende Politik sieht anders aus. Dabei hatte sich in der Anhörung im Agrarausschuss des Bundestages am 7. März 2007 der Verdacht der Verfassungswidrigkeit sogar noch erhärtet. Das habe ich der Bundesregierung auch klar gesagt. Aber sie hat bedingungslos am Zwangswerbebeglückungsinstrument festgehalten, statt rechtzeitig einen Plan B zu erarbeiten. Insbesondere gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtungen war das grob fahrlässig. Die Fürsorgepflicht hätte verlangt, sich rechtzeitig gemeinsam über Alternativen Gedanken zu machen. Heute stehen wir vor einem weiteren Scherbenhaufen einer eitlen und ignoranten Regierungspolitik. Denn das Werbekonzept des Absatzfonds wurde nicht nur verfassungswidrig finanziert, sondern es war unnütz. Der von der Linken benannte Sachverständige Professor Dr. Tilman Becker vom Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre der Universität Hohenheim brachte es bei der Anhörung auf den Punkt. Die Arbeit der CMA sei herausgeworfenes Geld, unnütz und gehöre abgeschafft. Die beiden Fonds sind nun - fast - Geschichte. Das ist im Grunde auch gut so. Leidtragende sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von CMA, ZMP und Holzabsatzfonds. Ich hoffe sehr, dass sie ihr Fachwissen und ihre Fähigkeiten nun sinnvoll an anderer Stelle zum Wohle unserer Land- und Forstwirtschaft werden einsetzen können. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am 3. Februar 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Zwangsabgabe der Land- und Forstbetriebe zum Absatzfonds endlich für verfassungswidrig erklärt. Jahrelang wurden Bäuerinnen und Bauern zu Unrecht gezwungen, die unsinnigen und allzu oft geschmacklosen und frauenfeindlichen Werbemaßnahmen der CMA sowie deren üppig ausgestatteten Apparat samt Funktionären zu finanzieren. Nach der Abwicklung werden aus dem Absatzfonds voraussichtlich etwa 13,4 Millionen Euro und aus dem Holzabsatzfonds 2,8 Millionen Euro verbleiben - Geld, das von den Bauern zu Unrecht eingezogen wurde. Um das Unrecht komplett zu machen, will die Bundesregierung dieses restliche Geld im Bundeshaushalt verschwinden lassen. Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert, ihren Gesetzentwurf zu ändern und die Gelder gruppennützig zu verwenden. Die Bundesregierung hat dies zurückgewiesen. Sie zeigt keinerlei Bereitschaft, die Gelder im Sinne derer zu verwenden, die sie bezahlt haben. Wir begrüßen die Forderung des Bundesrates nach einem gruppennützigen Einsatz der verbleibenden Absatzfonds- und Holzabsatzfondsgelder. Gruppennützig kann für uns aber nur heißen: Verwendung im Sinne des landwirtschaftlichen Gemeinwohls. Die Mittel müssen der Landwirtschaft insgesamt zugutekommen und dem dauerhaften Wohl der Landwirtschaft und des Waldes dienen. Wir schlagen daher zur Verwendung der verbleibenden Mittel aus dem Absatzfonds und dem Holzabsatzfonds die Einrichtung einer Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft vor. Ziel der Stiftung sollte es sein, notwendige gemeinnützige Leistungen für die Land- und Forstwirtschaft zu fördern, die heute weder von der Privatwirtschaft noch vom Staat in ausreichendem Maße geleistet werden. Die vom Bundesrat geforderte Gruppennützigkeit besteht im höchsten Maße da, wo es um die Erbringung landwirtschaftlicher Gemeingüter geht und wo dem langfristigen landwirtschaftlichen Gemeinwohl gedient wird. Die Land- und Forstwirtschaft lebt wie kein anderer Wirtschaftsbereich von den Vorleistungen vergangener Generationen: Ohne die jahrhundertelange Züchtungsarbeit stünden die heutigen Kulturpflanzen und Nutztierrassen nicht zur Verfügung. Ohne den Aufbau der Bodenfruchtbarkeit über Generationen wären die heutigen Erträge in der Landwirtschaft nicht möglich. Nicht ohne Grund stammt der Begriff der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft, denn wie nirgendwo sonst arbeitet im Forst eine Generation für die nächste, ernten wir heute, was unsere Vorgänger uns hinterlassen haben. Der enorme ökonomische Druck in der Land- und Forstwirtschaft führt heute dazu, dass diese elementaren Gemeinleistungen immer weniger erbracht werden und dass die Nachhaltigkeit allzu oft dem kurzfristigen Profit untergeordnet wird. Am Beispiel der Eiweißpflanzen erleben wir heute, was passiert, wenn landwirtschaftliche Gemeingüter wie die langfristige Züchtungsarbeit nicht mehr erbracht werden. Züchtung findet heute nur noch da statt, wo ein großer Markt besteht. Kleinere, nur regional angebaute Sorten sind für Züchtungsunternehmen wirtschaftlich uninteressant. Das führt dazu, dass die Züchtungs- und Vermehrungsarbeit an vielen wichtigen Kulturpflanzen, etwa bei den Leguminosen, vernachlässigt wird. Ein wesentlicher Grund für den dramatischen Rückgang des Eiweißpflanzenanbaus ist die brachliegende Züchtung. Die Stiftung Bäuerliche Landwirtschaft soll Pionierarbeit von Bäuerinnen und Bauern, Waldbäuerinnen und Waldbauern fördern, die dem langfristigen Wohl der Land- und Waldwirtschaft dient. Nicht die Industrie, sondern die Pioniere, die insbesondere in der nachhaltigen Züchtungs- und Erhaltungsforschung, beim Aufbau der Bodenfruchtbarkeit und in der nachhaltigen Waldbewirtschaftung wertvolle gemeinnützige Entwicklungsarbeit leisten, sollten durch eine solche Stiftung unterstützt werden. Den Einsatz der Restgelder zur Exportförderung lehnen wir ab. Die Exportförderung dient allein kurzfristigen Einzelinteressen der Ernährungsindustrie und ist nicht im Interesse der Landwirtschaft insgesamt. Wir fordern die Koalition auf, sich mit uns gemeinsam für die Nutzung der Absatzfondsgelder im Sinne des landwirtschaftlichen Gemeinwohls einzusetzen und zu verhindern, dass die Gelder der Bäuerinnen und Bauern im Bundeshaushalt verschwinden. Nachdem über die Jahre Hunderte von Millionen Euro mit Unterstützung der Politik zu Unrecht eingezogen und in unsinnigen Kampagnen verschwendet wurden, müssen wenigstens die Restmittel im Sinne der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft verwendet werden. Das ist das Mindeste, was wir den Bäuerinnen und Bauern schuldig sind. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gorleben - Echter Dialog statt Enteignung - Drucksache 17/4678 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 14. Februar wird der Bundesumweltminister eine weitere Offensive in Gorleben starten; er ruft zu einem sogenannten Dialog auf. Wahrscheinlich bereitet er seinen Dialog gerade vor, sodass er der heutigen Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt leider nicht beiwohnen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, Sie haben heute die Chance, ein Zeichen zu setzen, damit am 14. Februar keine Alibiveranstaltung stattfindet. Sie haben heute Abend die Gelegenheit, hier zu beweisen, dass es nicht um eine Art Pseudodialog geht, auch nicht um ein Handeln nach dem Motto "Diktat statt Dialog" geht, wie Sie es in den letzten Monaten vorgemacht haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben Sie hier all die Monate gemacht? Sie haben Fakten geschaffen. Sie haben dafür gestimmt, mehr Atommüll zu produzieren. Sie haben still und heimlich die Weichen dafür gestellt, dass Sachverständige aus alten Zeiten mittlerweile wieder Sicherheitsanalysen in Gorleben durchführen. Das geht so nicht. Wenn Sie es mit dem Dialog ernst meinen, dann sollten Sie - dazu rufen wir Sie heute auf - unserem Antrag zustimmen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Worum geht es? Wir machen Ihnen, um in der Sozialarbeitersprache zu reden, ein niedrigschwelliges Angebot. (Heiterkeit bei der SPD) Wir könnten viel mehr fordern, aber wir verlangen eigentlich nur zwei kleine Signale. Ich denke, wenn man es ernst meinen würde, dann könnte man den beiden Punkten zustimmen. Worum geht es? Erstens. Nehmen Sie das sogenannte Enteignungsgesetz zurück. Sie setzen das schärfste Schwert des Grundgesetzes ein und wollen dann einen Dialog führen. Das passt nicht zusammen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hätten Sie auch gemacht! Fragen Sie mal Ihren ehemaligen Staatssekretär Machnig, was der in der Pipeline hatte!) Zweitens. Sie sind Parlamentarier. Herr Grindel, nehmen Sie Ihr Parlamentsrecht ernst und stimmen Sie heute mit uns dafür, zumindest die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses abzuwarten und bis dahin ein Moratorium für die Erkundung in Gorleben zu beschließen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Signale würden auch in Gorleben ankommen. Der Bundesumweltminister hat gegenüber der Hannoverschen Presse erklärt, die Gegner seien feige und er mutig. Ich frage: Was ist das für ein Mut, wenn man nach dem Motto "Mit dem Kopf durch die Wand" handelt? Was ist das für ein Mut, wenn man sagt: "Wir gehen da rein. Es gibt keine Alternativen. Es ist egal, was wir im Untersuchungsausschuss festgestellt haben und wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind"? Inwiefern beweist der Bundesumweltminister Mut, wenn er nach Gorleben geht, um die Entscheidung zu vertreten? Die Folgen dieser Entscheidung müssen letztlich andere ausbaden. Wenn sich herausstellt, dass Gorleben alles andere als geeignet ist, ist der Bundesumweltminister garantiert nicht mehr in dieser Verantwortung, sondern bestenfalls Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!) Ich glaube, es ist an der Zeit, zu erkennen, dass man mit diesem Thema sehr sorgfältig umgehen und Alternativen in Betracht ziehen muss. Der Umweltminister sagt, Gorleben bzw. die Endlagersuche sei eine nationale Herausforderung. Ich frage Sie: Warum wird diese nationale Herausforderung nur in Gorleben gesucht? Das kann doch nicht die wahre Antwort sein. Uns liegen inzwischen Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen vor - Stichwort: Gasvorkommen -, durch die - und die Asse beweist das - massive Zweifel an der Eignung von Salzformationen geweckt werden. Ich glaube, die überparteiliche Initiative, deren ganzseitige Anzeige wir heute in der Elbe-Jeetzel-Zeitung lesen können, hat recht. Es geht darum, dass man Verantwortung ernst nimmt, dass man die Risiken ernst nimmt. Wir müssen für nachfolgende Generationen eine gute Lösung finden. Wir dürfen nicht in zehn Jahren plötzlich vor dem Dilemma einer fehlenden Alternative stehen, weil wir diese Frage nicht beantwortet haben. Die Anzeige schließt mit den Worten: Reden Sie nicht von Verantwortung - handeln Sie verantwortlich! Dass Sie verantwortlich handeln wollen, können Sie heute beweisen. Das wäre ein erstes Zeichen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP. Wir sind gespannt, wie Sie sich verhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend geht es mal wieder um Gorleben. Nachdem man sich in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts im Konsens aller damals agierenden Parteien für die friedliche Nutzung der Kernenergie entschieden hat, lagert inzwischen der gesamte Müll in oberirdischen Zwischenlagern, verteilt über die ganze Republik. Das entspricht tatsächlich keinen guten Sicherheitsstandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Bundesminister Röttgen den Erkundungsstopp, der vor zehn Jahren von Rot-Grün beschlossen wurde, aufgehoben hat und der Salzstock in Gorleben seit Oktober 2010 wieder ergebnisoffen erkundet wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Ihrem heute zu diskutierenden Antrag, liebe Kollegen von der SPD, wiederholen Sie schon oft vorgetragene Argumente, die durch Wiederholung nicht besser werden. (Ulrich Kelber [SPD]: Müssen sie auch nicht! Sie waren schon vorher gut!) Die Weitererkundung sei schon deshalb abzulehnen, weil nach Bergrecht vorgegangen werde. (Ulrich Kelber [SPD]: Veraltetes Bergrecht!) Dass die Erkundung auf Grundlage des Bergrechts sowohl rechtens als auch angemessen ist, ist bereits zweimal, 1990 und 1995, höchstrichterlich bestätigt worden. (Ulrich Kelber [SPD]: Nicht mehr gültiges Bergrecht! - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da muss man Jurist sein und nicht Sozialarbeiter, um das zu verstehen, Herr Miersch! - Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen bin ich das sogar!) Ich zitiere aus dem Urteil. Dort steht ausdrücklich, dass die untertägige Erkundung eines Standorts noch nicht der Beginn der Errichtung einer entsprechenden Anlage sei und deshalb auch die Planfeststellung nach Atomrecht nicht notwendig und auch nicht sinnvoll sei, weil noch offen gelassen werden müsse, ob denn an diesem Standort eine solche Anlage tatsächlich errichtet werden könne oder nicht. Es gehört einfach zur politischen Kultur in einer Demokratie und einem Rechtsstaat, (Ulrich Kelber [SPD]: Aktuelles Recht zu verwenden!) dass man höchstrichterliche Urteile auch dann akzeptiert, wenn sie einem nicht passen. Der Minister hat mehrfach zugesagt: Die Erkundungsarbeiten sollen ergebnisoffen sein. Sie sollen unter Beteiligung der Öffentlichkeit, der kommunalen Mandatsträger und der Bürgerinitiativen vorgenommen werden. (Ulrich Kelber [SPD]: Warum macht man das dann ohne Bürgerbeteiligung?) Zusätzlich soll es im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens eine Überprüfung durch internationale Experten geben. Erst danach findet gegebenenfalls eine Planfeststellung nach Atomrecht statt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erklären Sie doch einmal, warum man das alte Bergrecht nimmt!) Jetzt geht es zunächst um die Zusammenfassung und Bewertung der bislang erhobenen Daten aus der Erkundung im Rahmen einer vorläufigen Langzeitsicherheitsanalyse. Ich kann nachfühlen, dass die Seriosität der Sicherheitsanalyse von Gorleben-Kritikern in Zweifel gezogen werden kann und dass sie sagen: Es sind möglicherweise nicht die richtigen Experten, nicht die richtigen Fragen, die letztendlich auf den Tisch kommen. Herr Röttgen bietet ganz konkret die Einbeziehung der Kritiker an, um tatsächlich alle stritten Fragen zu betrachten und um kritische Experten mit einzubeziehen. Das wird der Minister sicherlich bei seinem Besuch in Lüchow-Dannenberg am 14. Februar konkretisieren. Meine Damen und Herren, ich kann Menschen verstehen, (Ulrich Kelber [SPD]: Die auf aktuellem Recht bestehen!) die die friedliche Nutzung von Kernenergie zur Stromerzeugung für nicht verantwortbar halten. Ich akzeptiere aber nicht, dass versucht wird, mit der Verzögerung der Endlagersuche die Nutzung von Kernenergie zu diskreditieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verzögern!) Deshalb ist die Forderung der SPD, einen Erkundungsstopp zu veranlassen, um das Ergebnis des Untersuchungsausschusses abzuwarten, nichts anderes als ein weiterer untauglicher Versuch, zu verzögern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn die rot-grüne Bundesregierung im Juni 2000 in der sogenannten Ausstiegsvereinbarung schriftlich die Eignungshöffigkeit des Standortes bescheinigt - ich zitiere: "Somit stehen die bisher gewonnenen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstocks Gorleben ... nicht entgegen." -, dann verstehe ich einfach nicht, (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist keine Bescheinigung! Das wissen Sie auch!) warum jetzt nicht weiter untersucht werden kann, ob sich diese Eignungshöffigkeit tatsächlich verifizieren lässt. Ich frage mich auch, warum gerade in dieser Woche eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie veröffentlicht wird, die angeblich die Untauglichkeit des Salzstocks zur Endlagerung wegen des Vorkommens von Kondensaten, Öl und Gas nachweist. Ich stelle dazu fest: Erstens. Die Erkundungsbefunde, die dieser Studie zugrunde liegen, sind mindestens zehn Jahre alt. Zweitens. Die Weiteruntersuchung dieser Fragestellung wurde durch das Moratorium verhindert. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Voß? Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Aber sehr gern, aber erst dann, wenn ich diese Passage beendet habe. Drittens. Die Daten sind öffentlich zugänglich; denn sonst hätte Greenpeace sie letztendlich nicht bewerten lassen können. Viertens. Warum wurde denn dann diese Studie nicht schon viel früher vorgelegt? (Ulrich Kelber [SPD]: Das Öl wird nicht versickert sein!) Sie hatten eigens dazu eine zehnjährige Denkpause eingeschoben. Ich denke, es war keine Pause vom Denken, sondern eine Pause zum Denken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie aber Greenpeace fragen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin Voß, bitte. Johanna Voß (DIE LINKE): Frau Flachsbarth, wir waren heute im gleichen Untersuchungsausschuss. Es ist zum wiederholten Male erklärt worden, dass das Wort "eignungshöffig" nicht geeignet ist, um im Zusammenhang mit der Eignung von Gorleben als Endlager für radioaktiven Müll benutzt zu werden. Die Eignungshöffigkeit ist ein Begriff aus dem Bergbau. Ich sage es Ihnen gerne noch einmal. Diesen Begriff können wir verwenden, wenn ein Bergwerk aufgefahren wird und erkundet werden soll, ob es dafür taugt, dass Bodenschätze gefördert werden. Wenn erwartet werden kann, dass genügend Bodenschätze zutage treten, spricht man von Eignungshöffigkeit. Wenn Atommüll, der nichts mehr wert ist und bei dem es sich nicht um einen Wertstoff handelt, eingelagert werden soll - darüber sagt das Bergrecht überhaupt nichts aus -, sagt das Wort "eignungshöffig" gar nichts, aber auch gar nichts aus. Ebenso wenig kann nach dem veralteten Bergrecht darüber geurteilt werden, ob Gorleben ein geeigneter Standort für ein unterirdisches Atommülllager sein kann. Ich möchte wissen, ob das bei Ihnen nicht angekommen ist, ob Sie das nicht wissen wollen und warum Sie so hartnäckig dieses Wort, das nicht zutreffend ist, verwenden. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Voß, ich schlage vor, dass Sie zunächst einmal die rot-grünen Kollegen fragen, wie das Wort "eignungshöffig" in diese Ausstiegsvereinbarung geraten ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn es sich um eine völlig unzutreffende Vokabel handeln sollte, dann verstehe ich nicht, warum Politikergenerationen vor uns diese Vokabel benutzt haben. Wir nutzen Sie vielleicht noch zum historischen Andenken. (Ulrich Kelber [SPD]: In der Ausstiegsvereinbarung hat es keine Bedeutung!) Außerdem kommt das Bergrecht lediglich hinsichtlich der Untersuchung dieses Salzstocks zur Anwendung, um festzustellen, ob sich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren lohnt. Genau das hat uns das Bundesverwaltungsgericht in den Jahren 1990 und 1995 bestätigt. Es hat gesagt, dass es überhaupt nicht zulässig ist, bei der Untersuchung eines Salzstocks das Atomrecht zugrunde zu legen, weil die erforderlichen Daten noch gar nicht vorhanden sind. (Ulrich Kelber [SPD]: Aber wenigstens das aktuelle Bergrecht!) Diese müssen erst im Rahmen eines bergrechtlichen Verfahrens erarbeitet werden. Danach findet selbstverständlich ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren statt. Man kann in einer Demokratie nicht mehr machen, als politische Entscheidungen und Verwaltungsentscheidungen höchstrichterlich überprüfen zu lassen. Wenn sie überprüft sind, dann muss man diese Urteile akzeptieren. Denn sonst lässt sich Rechtsfrieden, der für eine zukunftsfähige Politik dringend notwendig ist, nicht erzielen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich frage mich: Warum versucht man mit allen Mitteln, die Weitererkundung in Gorleben zu verhindern, die unter Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung, der kommunalen Mandatsträger, der Kirchen, der Bürgerinitiativen, kritischer Wissenschaftler und unabhängiger ausländischer Wissenschaftler in einem transparenten Verfahren erfolgt? (Patrick Döring [FDP]: Weil man weiß, dass es geeignet ist!) Ich frage mich: Warum hat die Opposition eigentlich solche Angst vor der Wahrheit in Gorleben? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind derartig dreist frech!) Deutschland hat in einem demokratisch legitimierten Entscheidungsprozess und im großen gesellschaftlichen Konsens vor circa 50 Jahren mit der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung begonnen. Wir sind jetzt aufgefordert - dies ergibt sich aus der Verantwortung von Demokraten für das Gemeinwesen, die auch für Konsequenzen aus dem Handeln und Entscheiden in der Vergangenheit einstehen müssen -, uns ernsthaft und zielorientiert der Aufgabe der Entsorgung zu stellen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, auch Herr Kelber hat den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das ist fantastisch. Dann habe ich noch mehr Redezeit; das ist klasse. Ulrich Kelber (SPD): Wenn die längere Redezeit hilft, die Sachlage aufzuklären, ist das in Ordnung. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Genau, Herr Kelber. Ulrich Kelber (SPD): Sie versuchen in jeder Rede, immer und immer wieder mit den gleichen Worten die Behauptung aufzustellen, die Opposition hätte Angst vor dem klaren transparenten Verfahren, das Schwarz-Gelb gewählt hat. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) - Ja, gröhl, gröhl, gröhl, das geht wunderbar. - Warum verwenden Sie zwar das Bergrecht - darauf bestehen Sie; gerade haben Sie sich zum Atomrecht geäußert -, nehmen aber das veraltete Bergrecht, das weder den Expertinnen und Experten noch den Bürgerinnen und Bürgern die Beteiligung rechtlich zusichert, und nicht etwa das vor einigen Jahrzehnten novellierte Bergrecht, in dem diese Rechte verbrieft sind und nicht vom Minister je nach Gusto eingezogen und erteilt werden können? Glauben Sie nicht, dass die Bürger Sie ernster nehmen würden, wenn sie das Recht hätten, das seit zwei Jahrzehnten jeder andere Bürger in dieser Republik hat, wenn etwas nach Bergrecht geplant wird? Warum trauen Sie sich da nicht? Sie können nicht daran vorbeireden. (Michael Kauch [FDP]: Lassen Sie sich auf die Rednerliste setzen! Dann müssen wir nicht länger machen!) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Weil wir, ehrlich gesagt, Herr Kelber, mitten im Verfahren sind, eigentlich auf den letzten Metern eines 100-Meter-Laufes, die wir jetzt hinter uns bringen wollen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber abenteuerlich!) um so zügig wie möglich endlich herauszufinden, ob dieser Salzstock in Gorleben geeignet sein könnte oder nicht. (Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen sollen die Bürger nicht stören?) Minister Röttgen hat ausdrücklich angeboten, dass es Beteiligung geben wird, sowohl in Bezug auf die Benennung der Expertinnen und Experten im Rahmen der Langzeitsicherheitsanalyse als auch in Bezug auf das Stellen eigener Fragen zu kritischen Punkten bezüglich des Salzstocks Gorleben. Ich nenne die Gorlebener Rinne und Kondensatvorkommen. Hier ist es ohne Zweifel so, dass Experten von außen mithelfen sollen, diese Punkte zu verifizieren oder zu falsifizieren. Auf jeden Fall wollen wir jetzt zügig Klarheit darüber bekommen, ob dieser Salzstock als Endlager geeignet ist oder nicht, ob dort ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren eröffnet werden sollte oder nicht. Herr Kelber, ich kann die Behauptung, dass dieses Verfahren die Interessen der Menschen vor Ort nicht vollumfänglich mit berücksichtigt, nicht nachvollziehen. (Ulrich Kelber [SPD]: Das war nicht meine Frage!) Ich kann nicht erkennen, Herr Kelber, dass das Insistieren auf den Wortlaut aktualisierter Gesetze die Situation wirklich verbessert. Hier verweise ich auf Stuttgart 21, wo tatsächlich alles an öffentlicher Beteiligung, so wie die Gesetze es vorschreiben, und an parlamentarischen Entscheidungsprozessen, so wie die Gesetze es vorschreiben, erfolgt ist, aber dennoch keine öffentliche Akzeptanz erzielt worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Menschen vor Ort, die Bürgerinitiativen, die Kirchen, die Gewerkschaften, die kommunalen Vertreter, jeder, der ein berechtigtes Interesse hat, in diesen Prozess einbezogen werden. (Ulrich Kelber [SPD]: Danke, das war erhellend! - Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bitte schön! Dann ist ja gut!) - Wenn das so ist, freue ich mich ganz besonders. (Ulrich Kelber [SPD]: Das war erhellend in Bezug auf Ihre Motivation!) Wir bieten Ihnen an, an diesem Dialogprozess mitzuwirken. Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Dialogprozess unterstützen würden, sodass wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung für diesen Standort, aber auch für die Entsorgung von hochradioaktiven Abfällen gemeinsam nachkommen können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dorothee Menzner (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es der Bundesregierung um einen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern des Wendlands gegangen wäre, dann hätte sie nicht ein Dreivierteljahr verstreichen lassen, nachdem die Bürgerinitiativen, die örtlichen Initiativen und der Kreistag um ein Gespräch gebeten haben. Darum wurde letztes Jahr im Frühjahr oder Frühsommer gebeten. Aber nein, erst jetzt hat der Minister Zeit: erst jetzt, nachdem das Atomrecht verändert wurde, erst jetzt, nachdem die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert wurden. (Patrick Döring [FDP]: Sagen Sie doch mal, wie oft andere Umweltminister da waren! Gar nicht!) Was bedeutet die Laufzeitverlängerung? Die Laufzeitverlängerung bedeutet circa 500 weitere Castoren mit hochradioaktivem Müll. (Patrick Döring [FDP]: Das debattieren wir jetzt aber nicht!) Die Änderung des Atomgesetzes - sie wurde angesprochen - bedeutet unter anderem, dass Enteignungsmöglichkeiten geschaffen wurden, um Gorleben - so nennt man es - weiter zu erkunden. Dass jetzt ein Gespräch stattfinden soll, das müssen die Bürgerinnen und Bürger, das muss der Kreistag als Alibiveranstaltung verstehen. Sehr deutlich formuliert er dies in einem offenen Brief, der von allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen und fast allen Fraktionen im Kreistag unterschrieben ist, übrigens auch von der FDP-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ute Vogt [SPD]: Hört! Hört! - Patrick Döring [FDP]: Wir sind hier aber im Bundestag und nicht im Kreistag! - Gegenruf des Abg. Frank Schwabe [SPD]: Aber Sie benehmen sich, als wären Sie in einem Kreistag!) Wie ich höre, ist auch die CDU-Fraktion nicht besonders glücklich über das Vorgehen. Ich möchte zwei Stellen aus diesem offenen Brief zitieren. Sie aber - so dieser offene Brief - bieten uns lediglich einen "Dialog" an, der "die Arbeiten im Salzstock Gorleben begleiten" soll. Während dort die Baumaschinen bereits Fakten schaffen. Es wird deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger betrachten das als eine Alibiveranstaltung und haben das Gefühl, es werden Tatsachen geschaffen, wie seit 30 Jahren Tatsachen geschaffen werden, ohne dass sie wirklich gehört und ihre Ängste und Bedenken wahrgenommen werden. Weiter heißt es: Herr Bundesumweltminister, wir wollen eine offene und transparente Debatte über das Atommüllproblem. In ganz Deutschland. Keinen regionalen Scheindialog. Recht haben die Bürgerinnen und Bürger; das wird Woche für Woche auch im Untersuchungsausschuss deutlich. Es wird in diesem Land nicht über die Frage diskutiert: Wohin mit dem Müll, den wir seit 50 Jahren produzieren? Es wird weiter in Gorleben erkundet, obwohl seit 30 Jahren klar ist, dass es zumindest sehr große Zweifel an der Eignung dieses Salzstockes gibt. Es wird weiter erkundet, weil dieser Salzstock der Entsorgungsnachweis für die in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke ist. In dem Moment, in dem klar wäre, dass Gorleben ungeeignet ist, müssten die Betriebsgenehmigungen zurückgenommen werden. Dass das im Moment politisch nicht passt, ist vollkommen klar. Aber daran wird deutlich, dass im Moment, genau wie in den letzten 30 Jahren, nicht die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, nicht der Stand von Wissenschaft und Technik und nicht die Sorge um zukünftige Generationen im Fokus Ihrer Betrachtungen stehen, sondern nur der Weiterbetrieb und die Möglichkeit, den Konzernen weiterhin Geld zuzuschustern. Das hören wir Woche für Woche von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Schließen möchte ich mit einem Zitat aus der heutigen Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der ein mit der Erkundung befasster Ingenieur sagte: (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!) Selbst mit den besten technischen Bauwerken - die man bei Brücken oder Tunneln vielleicht verantworten kann, die man bei Zeiträumen von 1 Million Jahre aber nicht verantworten kann, weil man die Havarie unter Umständen nicht mehr feststellen wird - und unterirdischen Maßnahmen wird man aus einem maroden Kübelwagen keinen Mercedes machen. - Genau darum geht es. Es ist längst widerlegt, dass die Grundvoraussetzungen, die Sie am Anfang immer eingefordert haben, zum Beispiel ein intaktes Deckgebirge, erfüllt sind. Sie versuchen weiterhin, Möglichkeiten zu finden, um diesen Salzstock zu rechtfertigen, obwohl längst deutlich ist: Die Eignung ist nicht gegeben. Ich danke. (Beifall bei der LINKEN und der SPD - Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Angelika Brunkhorst ist nun die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Angelika Brunkhorst (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD nimmt das Angebot des Bundesumweltministers zum offenen Dialog mit den Bürgern vor Ort heute zum Anlass, um erneut die Unterbrechung der Erkundungsarbeiten für die Dauer des Untersuchungsausschusses zu fordern. Das haben Sie schon mehrfach versucht. Sie wissen ganz genau, dass das unsinnig ist; (Ute Vogt [SPD]: Weil Sie sich nicht trauen!) denn im Untersuchungsausschuss zu Gorleben wird das Regierungshandeln der Vergangenheit untersucht, nicht aber die Eignung bzw. Nichteignung (Ute Vogt [SPD]: Das wirkt doch bis heute nach!) des Salzstockes Gorleben festgestellt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das sollten wir hier doch noch einmal festhalten. Ihre Forderung ist entlarvend; das hat meine Vorrednerin, Frau Flachsbarth, auch schon gesagt. Es geht Ihnen nicht um Aufklärung, um zu wissen, was mit dem Salzstock ist, sondern es geht Ihnen darum, die Entscheidung über die Endlagerfrage weiter zu verzögen. Ich kann Ihnen sagen: Das machen wir so nicht mit. Denn dem Bund obliegt die Aufgabe, die Endlagersuche voranzutreiben. Die christlich-liberale Koalition stellt sich dieser Verantwortung, und wir werden diesen Standort auch weiterhin ergebnisoffen erkunden lassen. Das heißt, wenn er nicht geeignet ist, dann wird dort auch kein Endlager gebaut. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jahre verloren!) Ich muss an dieser Stelle noch einmal sagen: In den rund zehn Jahren, in denen die SPD mit an der Regierung war - ich betone dies natürlich immer wieder gerne -, sind wir keinen Schritt weitergekommen. Damals wurde der Ausstiegskonsens mit dem Hinweis bestätigt, dass die geologischen Befunde nicht gegen eine Eignungshöffigkeit des Standorts Gorleben sprechen. Darüber kann man sich ja streiten, aber ich frage Sie: Warum haben Sie diese zehn Jahre verdammt noch mal nicht genutzt? - Sie hätten vieles auf den Weg bringen können. Es ist aber nichts passiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir finden in Ihrem Antrag das große Wehgeschrei darüber, dass die Erkundung nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Die Arbeiten im Rahmen der Erkundung betreffen die Natur; es sind bergmännische Tätigkeiten. Es geht um Fragen der Geologie und Hydrologie. Diese Aspekte finden natürlich im Bergrecht ihren Niederschlag. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum dann altes Bergrecht?) Das Atomrecht kümmert sich um Strahlenschutz. Im Moment gibt es im oder um den Berg herum allerdings noch keine strahlenden Abfälle. Deswegen ist das Atomrecht im Moment nicht relevant. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich, am Berg! Zwischenlager!) - Die Zwischenlager sind auf Initiative des damaligen Umweltministers Trittin eingerichtet worden, Frau Kotting-Uhl. Bitte erinnern Sie sich doch einmal. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber reden Sie nicht so einen Mist, da sei kein hochgradig strahlender Müll in der Nähe!) Im Untersuchungsausschuss ist auch klar geworden, dass es bereits in der Vergangenheit Öffentlichkeitsbeteiligung, Aufklärung und Informationen gab. (Ute Vogt [SPD]: Ja, bei der sozial-liberalen Koalition, als Sie noch liberal waren!) Es sind viele Fachvorträge gehalten worden. Es sind Bohrergebnisse veröffentlicht worden, und es ist natürlich auch die Gorleben-Kommission zur Information der Kommunalpolitiker und Verbände eingerichtet worden. Letztendlich hat es auch das Informationszentrum gegeben. Insofern können wir uns überhaupt nicht darum herumdrücken. Die Erkundungen werden fortgeführt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden scheitern!) - Warten Sie es doch ab. Darüber hinaus wollen Sie, dass wir die Möglichkeit der Enteignung zurücknehmen. Es gibt zwei Gründe, weswegen wir das nicht machen werden. Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf. Da muss ich Ihnen sagen: Über Gesetzesänderungen entscheiden immer noch wir im Parlament, also der Deutsche Bundestag. Insofern ist die Bundesregierung der falsche Adressat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zweitens. Die Möglichkeit der Enteignung ist das allerletzte Mittel zur Sicherstellung der Endlagerung. Das Grundgesetz und auch viele Fachgesetze sehen die Enteignung als Ultima Ratio für Großprojekte ausdrücklich vor. Sie wird natürlich nur dann zur Anwendung kommen, wenn es absolut unumgänglich ist. Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dass die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags des Bundes, eine Endlagereinrichtung zu erkunden und einzurichten, durch die Weigerung eines einzigen Eigentümers gestoppt werden kann. Die Rechte und Möglichkeiten des Eigentümers, das Land zu nutzen, um weiterhin Land- und Forstwirtschaft zu betreiben, werden noch nicht einmal beeinträchtigt. Vielmehr geht es darum, im tiefen Untergrund Schächte auffahren zu können, um Erkundungen vorzunehmen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl nicht wahr, was Sie uns jetzt erzählen!) - Doch, das ist wahr. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Bereits von 1998 bis 2002 war die Enteignungsmöglichkeit Bestandteil des Atomgesetzes. Wenn Sie von der SPD oder vielleicht auch andere hier im Raum daran glauben, (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Ihre eigene Kreistagsfraktion doch auch!) dass man solche Großprojekte konsensual durchsetzen kann, dann bewundere ich Sie für Ihre Träume. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Vertrauen Sie den Bürgern nicht? - Ute Vogt [SPD]: Schauen Sie in die Schweiz!) - Auch dort wird es Proteste geben, wenn es letztlich zur Umsetzung kommt. Ich möchte hier an dieser Stelle noch einmal zwei Zitate bringen: Es hat 2001 ja eine Anhörung zum Atomkonsens gegeben. Das BfS hat dort damals gesagt - ich zitiere -: Die Enteignungsvorschriften werden zwar zurzeit nicht benötigt, müssen aber zum gegebenen Zeitpunkt im Atomgesetz vorhanden sein. In das gleiche Horn hat damals die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie gestoßen: Die jetzige Aufhebung dieser Bestimmungen wird alles andere als hilfreich sein, wenn die zügige Errichtung von Anlagen zur Endlagerung notwendig ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass die FDP die IG BCE zitiert, habe ich auch noch nicht erlebt!) Derzeit gibt es weder im Bergrecht noch im Atomrecht Möglichkeiten der Enteignung zum Zwecke der Erkundung. Deswegen haben wir das in den § 9 d ff. des Atomgesetzes wieder eingeführt. Ein weiterer Sachverständiger, Herr Professor Georg Hermes - er ist Professor für Öffentliches Recht -, hat in dieser Anhörung damals gesagt - ich zitiere -: Die Aufhebung von den Enteignungsvorschriften ... kann nur so verstanden werden, dass ein Endlager nicht ernsthaft verwirklicht werden soll. Wollen Sie sich anheften lassen, dass Sie gar kein Endlager wollen? Sie waren ja auch dafür, das Moratorium bis in alle Ewigkeiten fortzuführen. Man muss Ihnen wirklich unterstellen, dass Sie am Endlager nicht wirklich interessiert sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich sehe die 12. Atomgesetz-Novelle als richtige Voraussetzung an. Sie wird uns handlungsfähig machen. Jeder Eigentümer kann die Rechtmäßigkeit der Enteignung natürlich auch gerichtlich überprüfen lassen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. Angelika Brunkhorst (FDP): Ja. - Ich möchte gerne noch Frau Menzner ganz kurz ansprechen. Sie haben gesagt. Wenn Gorleben als möglicher Standort entfällt, dann ist die Laufzeitverlängerung nicht mehr legitimiert. - Ich muss Ihnen sagen: Auch unter Rot-Grün sind die Kernkraftwerke gelaufen. Auch damals hatte man Zwischenlager. Wir haben diese Zwischenlager weiterhin. Die Zwischenlager waren und sind Legitimation dafür, dass die Laufzeiten auch verlängert werden können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Matthias Miersch [SPD]: Dann können Sie das jetzt ja erst einmal stoppen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was hat die Koalition in Bezug auf Gorleben als Erstes getan? Sie hat die Wiederaufnahme der Arbeiten an Gorleben beschlossen, anstatt das Instrumentarium, das nach der Zeit von Rot-Grün endlich vorlag, zu nutzen, um eine transparente, ergebnisoffene Endlagersuche vorzunehmen. Warum sie das getan hat, ergibt sich logischerweise aus der geplanten und dann auch beschlossenen Laufzeitverlängerung. Es ging wieder einmal um den Entsorgungsvorsorgenachweis, den man dringend brauchte, und man konnte sich wieder einmal keine Verzögerung leisten. Das kennen wir ja spätestens aus dem Untersuchungsausschuss zu Gorleben. Es geht immer darum, dass die Zeit drängt und dass man vorankommen will, weil man ein Atomprogramm im Kopf hat. So fügt sich eines zum anderen. Als Nächstes haben Sie dann den § 9 d ins Atomgesetz eingefügt. Sie wollen nach Atomrecht enteignen, um dann nach Bergrecht weiterzubauen, und zwar nach einem uralten Rahmenbetriebsplan von 1983, der in keiner Weise etwas mit dem zu tun hat, was dort seitdem gebaut wurde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Schächte stimmen nicht, die Erkundungsbereiche stimmen nicht, und die Richtstrecken gehen nach Norden statt nach Süden. Nichts stimmt mit diesem alten Rahmenbetriebsplan überein. Warum nehmen Sie den? Auch das liegt völlig auf der Hand: Sie wollen keine Öffentlichkeitsbeteiligung, es geht ausschließlich nach altem Bergrecht. Das ist der einzige Grund dafür, dass Sie das machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Ulrich Kelber [SPD]: Auf den letzten Metern des 100-Meter-Laufs dürfen die Bürger nicht mehr stören!) Jetzt bieten Sie großzügig den Dialog an. Ich habe diese schöne große Anzeige, mit der hier geworben wird, einmal mitgenommen und möchte einfach einmal ein paar Stellen daraus zitieren. Sie werben: Sollte sich der Salzstock als ungeeignet erweisen, müssen wir neue Wege finden. Worauf warten Sie denn? Sie sind offensichtlich davon überzeugt - das stelle ich Ihnen anheim; Sie haben ja manchmal eigenartige Vorstellungen -, dass dieser Salzstock trotz allem, was gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Untersuchungsausschuss hören, geologisch geeignet ist. In Ihren Augen ist das so. Er ist aber gesellschaftspolitisch nicht geeignet. Wie wollen Sie denn heilen, dass dort kein sozialer Prozess stattgefunden hat? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist etwas anderes! Dann sagen Sie mir einen gesellschaftlich akzeptierten Standort! Was ist denn das für eine Argumentation? Wo ist denn der gesellschaftlich akzeptierte Standort? In Baden-Württemberg?) - Mit Ihnen rede ich im Moment gar nicht. Ich zitiere eine Zeugin aus dem Untersuchungsausschuss. Sie sagte: "Ich habe mein Vertrauen in Politiker verloren." Marianne Fritzen, eine konservative alte Dame, ist die Begründerin der BI Lüchow-Dannenberg. Sie hat uns im Untersuchungsausschuss berichtet, dass sie sich beobachtet, bedroht und mit ihren Fragen nicht ernst genommen gefühlt hat und dass sie sich den Zugang zur Gorleben-Kommission erschleichen musste, wenn sie an dem damaligen Dialogangebot teilnehmen wollte. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Die glatte Unwahrheit! Wenn sie teilnehmen wollte, konnte sie teilnehmen!) - Das ist die Wahrheit, Herr Grindel. Sie dürfen gerne eine Zwischenfrage stellen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein! Dann dürfen meine Kollegen das noch länger anhören!) Dann gehe ich gerne darauf ein. Aber auf Ihre dummen Zwischenrufe, die ich schon aus dem PUA kenne, reagiere ich nicht. (Michael Kauch [FDP]: Sie haben doch schon reagiert!) Ich mache weiter und zitiere noch einmal aus der schönen Anzeige: Sicherheit steht für uns kompromisslos an allererster Stelle. Warum ignorieren Sie dann das nicht intakte Deckgebirge, die Nähe zum Anhydrit und die Gasvorkommen? Warum werden warnende Wissenschaftler diskreditiert? Warum das alles, wenn Sicherheit kompromisslos an erster Stelle steht? Das glauben Ihnen die Menschen vor Ort nicht mehr, und zwar zu Recht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Anschließend soll ein Peer Review das Ganze heilen. Wer aber hat denn weltweit Erfahrungen mit Salz? Kein Land außer Deutschland versucht Endlagerung im Salz. Wir haben die Erfahrungen in Asse und Morsleben. Das sind die Erfahrungen mit Salz, die es gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich zitiere weiter: Zur Unterstützung des Dialogs werden finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt - zum Beispiel für die Hinzuziehung von Experten, für Weiterbildungsmaßnahmen oder auch für geeignete Räumlichkeiten für Veranstaltungen. Wir stellen uns vor, in regelmäßigen Diskussionsveranstaltungen gemeinsam über die Ergebnisse zu beraten. Außerdem muss es umfangreiche Möglichkeiten für Besucherinnen und Besucher geben, sich selbst ein Bild vom Erkundungsbergwerk Gorleben zu machen. Das sagt ein Minister, der bis zum Beschluss der AtG-Novelle den Salzstock Gorleben noch nie von innen gesehen hatte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Sie haben eine Menge Fehler gemacht. Sie haben ohne Not die Laufzeitverlängerung und die Vermehrung des Atommülls beschlossen. Sie halten trotz aller Zweifel an Gorleben fest und machen da weiter, wo Merkel und Kohl 1998 gestoppt wurden. Als letzte vertrauensbildende Maßnahme schreiben Sie die Enteignung im Atomgesetz fest. Jetzt kommen Sie mit einem vergifteten Dialogangebot. Wundern Sie sich nicht, dass die Menschen vor Ort das nicht annehmen. Es ist höchste Zeit, mit Menschen, die ernst genommen werden müssen, anders umzugehen. Lernen Sie das! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Eckhard Pols (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ergebnisoffen und transparent soll der Salzstock Gorleben zu Ende erkundet werden. Dies war nicht nur ein Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf 2009, sondern es wird von Minister Norbert Röttgen mit der Vorstellung des Dialoges auch eingelöst. Das Dialogkonzept wird, wie bereits gesagt wurde, am kommenden Montag im Kreistag von Lüchow-Dannenberg in Hitzacker präsentiert. Ich finde es sehr interessant, Herr Dr. Miersch, dass Sie das Konzept schon im Vorfeld als Pseudodialog und Makulatur verurteilen. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Wenn Sie heute nicht mitmachen! Dann ja!) - Sie kennen es doch gar nicht. Nun warten Sie erst einmal ab, was kommt. Die christlich-liberale Koalition wird die Menschen umfassend über jeden einzelnen Schritt der Sicherheitsanalyse, der Erkundungsmaßnahmen und auch des Peer Reviews umfassend informieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch schon Anzeigen! Da steht doch schon alles drin! - Ulrich Kelber [SPD]: Informieren ist keine Bürgerbeteiligung!) - Hören Sie zu! - Zudem werden die Menschen in der Region die Möglichkeit haben, sich bei der Gestaltung des Dialoges einzubringen. (Ulrich Kelber [SPD]: Sie kommen Ihrer Aufgabe als Wahlkreisabgeordneter nicht nach! Geben Sie Ihr Mandat zurück!) Wir haben doch selbst ein großes Interesse daran, dass alle Argumente, egal ob für oder wider die Eignung Gorlebens, auf den Tisch kommen. Ich kann Sie daher nur alle einladen, meine Damen und Herren von der Opposition, die ausgestreckte Hand des Ministers zu ergreifen und sich an dem Dialog zu beteiligen. Als direkt gewählter Abgeordneter dieses Wahlkreises habe ich auch laufend mit dem Thema Gorleben zu tun. Die Menschen in der Region Gorleben und in der Samtgemeinde Gartow sehnen sich nach einer Antwort, ob der Salzstock Gorleben geeignet ist oder nicht. (Johanna Voß [DIE LINKE]: Sie fragen nicht in Gorleben!) Sie argumentieren, wir hätten die Entscheidung zur Erkundung getroffen, ohne die Bürger zu beteiligen. Rot-Grün hat das Moratorium auf maximal zehn Jahre begrenzt. Dieses Moratorium ist jetzt ausgelaufen, und die logische Konsequenz ist ja dann, dass die von Ihnen festgelegten zehn Jahre vorbei sind, sodass ergebnisoffen weiter erkundet wird. (Zuruf von der SPD) Es muss nun endlich Schluss sein! Zehn Jahre lang haben Sie diese Region und ihre Menschen in Geiselhaft genommen, zehn Jahre lang haben Sie die Suche nach einem Endlager nicht vorangetrieben, auch anderswo nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch bis heute ist nicht klar, wie die SPD mit der Problematik hochradioaktiver Abfälle umgehen will. Bringen Sie doch erst einmal vernünftige, konkrete Konzepte! Sie stellen sich überall auf die Marktplätze und tönen herum, der Salzstock Gorleben sei ungeeignet und darüber hinaus sowieso ein Schwarzbau. Aber während Ihrer Regierungszeit haben Sie es auch nicht fertiggebracht, das Projekt Gorleben einfach zu beerdigen. (Zuruf von der LINKEN: Dann mach es doch besser!) Den sogenannten Schwarzbau haben Trittin und Gabriel jahrelang munter geduldet. Warum hat Rot-Grün denn nicht den Deckel auf das Erkundungsbergwerk gelegt? Erstens, weil Sie dann die Frage nach einem anderen möglichen Standort hätten beantworten müssen. - Frau Vogt, in Baden-Württemberg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens, weil die Herren Trittin und Schröder am 14. Juni - wir haben es schon gehört - die Äußerung unterschrieben haben, dass die bisher gewonnenen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit, Frau Voß, des Salzstocks Gorleben - dieser Ausdruck kommt ja auch aus den Reihen von Rot-Grün - nicht entgegenstehen. Das haben sie unterschrieben. Ferner bemängeln Sie erneut, dass die Erkundung nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. Wir haben das schon gehört. Bloß, die Erkundung kann ja nur nach Bergrecht erfolgen, weil es sich um ein Erkundungsbergwerk und nicht um eine nukleare Anlage handelt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Pols, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Kelber? Eckhard Pols (CDU/CSU): Herr Kelber. (Patrick Döring [FDP]: Der soll sich von seiner Fraktion auf die Rednerliste setzen lassen!) Ulrich Kelber (SPD): Je häufiger Sie Nein schreien, desto mehr Spaß macht es mir ja. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir kein Verfahren begonnen hätten, um auch mögliche andere Standorte zu finden. Sie sind ja seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Haben Ihre Kolleginnen und Kollegen, die schon länger Mitglied sind, Sie nicht darüber informiert, dass die Fraktion der CDU/CSU im Jahr 2006 einen Entwurf für ein Endlagersuchgesetz in der Großen Koalition abgelehnt hat? (Beifall bei der SPD) Eckhard Pols (CDU/CSU): Ja, darüber haben sie mich informiert, aber die Kollegen haben gleichzeitig gesagt, dass wir Gorleben zu Ende erkunden wollen. Wir wollen die Erkundung von Gorleben nicht abbrechen; denn wir wollen wissen, was in Gorleben möglich ist. Ist Gorleben geeignet oder nicht? Das ist die ganz einfache Frage, die wir beantworten wollen, und nichts anderes, Herr Kelber. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf der Abg. Dorothee Menzner [DIE LINKE]) Frau Menzner, auch die Behauptung, das Angebot des Dialogs komme zu spät, ist ein sehr schwaches Argument. Denn bereits im Mai 2010, also ein gutes halbes Jahr nach der Bundestagswahl, hat sich Minister Röttgen gemeinsam mit gewählten Vertretern der Standortkommunen - und das auch unter Beteiligung der örtlichen SPD - darüber unterhalten, wie ein Dialog aussehen könnte. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja, sehen Sie mal!) Also ist dieses Argument auch nur ein Scheinargument. Wir haben auch gegenüber den nachfolgenden Generationen die Pflicht, dieses Entsorgungsproblem zu lösen. Denn unsere Generation hat die Kernenergie genutzt, wir haben davon profitiert. Zudem brauchen wir ja auch eine Lösung für die Zeit - das ist ja das, was Sie auch wollen -, wenn die Kernkraftwerke zurückgebaut werden. Dann müssen die kontaminierten Bauteile ja auch irgendwo gelagert werden. Auch darüber muss man sich dann mal Gedanken machen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht im Salzstock von Gorleben! Sie haben ja keine Ahnung! - Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben überhaupt keine Ahnung!) Dann noch mal zur Forderung, die Möglichkeit zur Enteignung zurückzunehmen. In der Diskussion wird immer wieder der Eindruck erweckt, wir würden dem Grafen Bernstorff seinen Wald wegnehmen. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wir wollen auch keine Bürger aus ihren Häusern vertreiben. Es geht hier tatsächlich um Salzrechte in Tausenden von Metern Tiefe, die wir gegebenenfalls mal erkunden wollen. (Zurufe von der SPD und der LINKEN) Die Möglichkeit zur Enteignung ist im Übrigen bei Infrastrukturmaßnahmen natürlich eine ganz normale rechtliche Regelung - Frau Brunkhorst hat das schon angesprochen -, (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die wir im Bundesbaugesetzbuch finden. Die Allgemeinheit muss also die Möglichkeit haben, sich bei national bedeutsamen Maßnahmen auch über den Weg der Enteignung und der damit verbundenen Entschädigung die entsprechenden Flächen - in diesem Falle die Salzrechte in Gorleben - zu sichern. Rot-Grün hat mit dem Moratorium die Region in eine über zehnjährige Ungewissheit gestürzt. Ich finde es schon sehr anmaßend, dass ausgerechnet Sie glauben, zu wissen, wie die Bürgerinnen und Bürger das Dialogkonzept bewerten, zumal es ja noch gar nicht bekannt ist, wie ich am Anfang auch schon ausführte. Ich frage Sie: Wo war die Bürgerbeteiligung unter Trittin, und wo war sie unter Gabriel? Die gab es gar nicht. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bürger beschweren sich jetzt! - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, außer Ihrem Dagegensein präsentieren Sie leider wieder einmal gar nichts. Nehmen Sie doch lieber die Chance zum Dialog wahr, die wir Ihnen anbieten. Beteiligen Sie sich mit naturwissenschaftlich fundierter Kritik an diesem Dialog zum Erkundungsprozess, und präsentieren Sie uns Vorschläge, wie wir mit dem Problem dieser hochradioaktiven Abfälle verfahren sollen. (Zuruf von der SPD: Ich dachte, Sie wüssten, dass es ein Endlager ist!) Dann nehmen wir Ihre Anträge wieder ernst. Ihr Antrag ist viel zu dünn. Sie haben es gerade einmal auf eine DIN-A4-Seite gebracht. Das ist angesichts dieses hochbrisanten Themas von nationalem Interesse sehr schwach. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ute Vogt (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Umweltminister zitieren. Er sagt: Da geht es nicht nur um Information und Transparenz. Das ist das Angebot einer aktiven Teilhabe, das es so noch nicht gegeben hat. (Beifall bei der SPD) Nachdem im Deutschen Bundestag im Herbst letzten Jahres ein Gesetz verabschiedet worden ist, das die Müllmenge beim atomar strahlenden Müll um mehrere Tausend Tonnen zusätzlich erhöht, das für Gorleben mehrere hundert Castoren zusätzlich bedeutet, nachdem Sie im Herbst 2010 beschlossen haben, dass in Gorleben Enteignungen stattfinden sollen und es zur Neuerkundung des Bergwerks kommt, stellt sich der Minister hin und erzählt etwas von einem Dialog. Das ist kein Dialog. So, wie der Minister es vorbringt, ist es ein Pseudodialog, der die Menschen im Wendland verhöhnt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ein Dialog hat dann einen Sinn, wenn mitgeredet werden kann und noch die Möglichkeit zu einer Entscheidung besteht. Ein Dialog, der nur noch dazu dient, die eigenen Entscheidungen zu rechtfertigen, hat nichts mehr mit einem Gespräch zu tun. Es ist vielmehr der Versuch, zu beschönigen und Publizität zu erlangen. Das geschieht in einer Atmosphäre, in der man die Menschen vor vollendete Tatsachen stellt. (Zuruf der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ CSU]) - Frau Flachsbarth, wenn Sie sagen, in dem Gorleben-Untersuchungsausschuss gehe es nur um Regierungshandeln in der Vergangenheit, (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist so! Das ist der Auftrag!) dann haben Sie insofern recht, als das der Untersuchungsgegenstand ist. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Absolut!) Ich bitte aber die Kolleginnen und Kollegen aus dem Untersuchungsausschuss, deutlich wahrzunehmen, dass das Regierungshandeln aus der Vergangenheit für die Menschen im Wendland heute handfeste und spürbare Folgen nach sich zieht. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Natürlich!) Ihr Verhalten können wir nicht akzeptieren. Wir kommen mehr und mehr zu dem Ergebnis, dass es damals nicht mit rechten Dingen zuging, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zum Tragen gekommen sind, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist die glatte Unwahrheit!) dass man noch nicht einmal die Empfehlungen zu alternativen Standortuntersuchungen wahrgenommen hat, dass der Stand von Wissenschaft und Technik nicht berücksichtigt worden ist. Das haben wir heute Morgen erst gehört. In einer solchen Situation sagen Sie: Wir machen weiter wie bisher, das, was in der Vergangenheit war, interessiert uns nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Das ist die Unwahrheit!) Was in der Vergangenheit rechtswidrig war, kann doch nicht heute plötzlich rechtmäßig sein, nur weil es 20 oder 30 Jahre her ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das ist ein falsches Rechtsverständnis, das Sie hier an den Tag legen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es war interessant, dass Sie vorhin selbst gesagt haben - das fand ich bemerkenswert, liebe Frau Flachsbarth -, es gehe bei Gorleben um die letzten Meter. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Natürlich!) Da habe ich in der Tat aufgemerkt. Nach der Maßgabe des Ministers geht es doch eigentlich gar nicht um die letzten Meter. Der Minister erzählt uns immer, er wolle alles ergebnisoffen gestalten. Sie haben die Wahrheit gesagt: Es sind die letzten Schritte, weil Sie Gorleben brauchen. Gorleben ist für Sie notwendig, um die Atomkraft überhaupt noch rechtfertigen zu können. Ohne dieses Lager könnten die Laufzeiten nicht verlängert werden, und die Atomkraftwerke müssten schon längst geschlossen sein. Während der rot-grünen Regierungszeit haben wir es in unserem Moratorium geschafft, ein Verfahren für eine alternative Standortsuche zu entwickeln, bei der die Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden. Wenn Sie wissen möchten, wie das funktioniert, dann empfehle ich Ihnen einen Blick in die Schweiz. Dort werden sogar Bürgermeister Ihrer Partei, die in Südbaden leben, in die Verfahren einbezogen. Man redet von Anfang an mit den Menschen, und Alternativen werden geprüft, um die beste Lösung zu finden. Das ist das Verfahren, das Rot-Grün entwickelt hat. Sie haben 2006 verhindert, dass dieses Verfahren in Deutschland zur Anwendung kommt. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Machen Sie sich doch nicht lächerlich!) Das hätte Akzeptanz geschaffen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) aber nicht Ihre Beschlüsse und die Politik der vollendeten Tatsachen, die Sie hinterher mit einem Pseudodialog rechtfertigen wollen. Sie haben nur noch die folgende Möglichkeit: Nehmen Sie unser niederschwelliges Angebot an. Stimmen Sie dem Antrag zu. Dann können Sie wenigstens ein bisschen von der Dialogbereitschaft retten und zeigen, dass es Ihnen ernst damit ist, die Menschen mitzunehmen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Patrick Döring [FDP]: Ihre Rede war auch kein Beitrag zur Dialogbereitschaft!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4678 mit dem Titel "Gorleben - Echter Dialog statt Enteignung". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 17/4231 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) - Drucksache 17/4720 - Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Undine Kurth (Quedlinburg) Interfraktionell wurde vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden, sodass wir gleich zur Abstimmung kommen.2 Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4720, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbieten - Drucksache 17/4677 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Jan van Aken (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Abend geht es um Maschinenpistolen und um Sturmgewehre, es geht um einen deutschen Waffenhersteller, der möglicherweise solche Waffen illegal exportiert hat, und es geht darum, dass die Bundesregierung darauf bis heute überhaupt nicht angemessen reagiert hat. Wir von den Linken finden es grundsätzlich falsch, dass Deutschland überhaupt Geld damit verdient, Waffen in alle Welt zu exportieren. Das ist schmutziges Geld, (Beifall bei der LINKEN) weil alle diese Waffen irgendwann irgendwo im Krieg landen. Das gilt vor allem für Kleinwaffen. Kleinwaf-fen - das hört sich immer so niedlich an, aber Kleinwaffen sind Maschinenpistolen, Sturmgewehre und Kalaschnikows und wie sie alle heißen. In den Kriegen dieser Welt sterben mehr Menschen durch Kleinwaffen als durch alle anderen Waffensysteme zusammengenommen. Es gibt eine Zahl von UNICEF, die wirklich beeindruckend ist. Jeden Tag werden über 1 300 Menschen mit Kleinwaffen erschossen, in jeder einzelnen Minute gibt es einen Toten durch Kleinwaffen. Einer der größten Exporteure für Kleinwaffen ist der deutsche Hersteller Heckler & Koch aus Baden-Württemberg. Es gibt Schätzungen, dass Heckler & Koch mittlerweile 7 Millionen bis 10 Millionen Waffen weltweit im Umlauf hat. Es gibt keinen einzigen Konflikt auf der Welt, in dem nicht auch eine Waffe von Heckler & Koch dabei ist. Ob das ein Volksaufstand in Thailand ist, ob das in Ägypten ist oder in Saudi Arabien - überall finden Sie diese Waffen. Das zeigt vor allem eines: dass die deutsche Rüstungsexportkontrolle praktisch nicht existiert. Sie ist löcherig wie ein Schweizer Käse; denn es gibt fast keine Waffe, die nicht in fast alle Länder dieser Welt exportiert werden darf. Es wird fast alles erlaubt. Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen betraf Heckler & Koch. Damit sind wir bei dem Fall, um den es geht. Heckler & Koch hatte die Genehmigung, Sturmgewehre nach Mexiko zu liefern. Die Bundesregierung hat aber die Auflage erteilt, dass Heckler & Koch in vier Provinzen von Mexiko nicht liefern darf, weil es dort blutige Unruhen gibt. Seit Jahren kämpfen dort Drogenbarone gegen die Polizei. Das sind Unruheprovinzen. Die Bundesregierung hat gesagt: dorthin nicht. Es gab eine Strafanzeige, es gibt Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, weil der dringende Tatverdacht besteht, dass Heckler & Koch trotzdem auch in diese vier Provinzen Sturmgewehre geliefert hat. Das Verfahren läuft noch. Aber was macht die Bundesregierung? Sie hat eine Entscheidung getroffen, die absolut unlogisch und unverständlich ist. Das muss man sich einmal vorstellen. Sie sagt: Okay, es gibt ein staatsanwaltschaftliches Verfahren, deswegen werden die Genehmigungen für Heckler-&-Koch-Exporte nach Mexiko ausgesetzt. Das müssen Sie mir einmal erklären. Entweder ist diese Firma zuverlässig. Dann darf sie überall hin exportieren. Oder man sagt: Nein, es besteht ein dringender Tatverdacht, es wird eine kriminelle Machenschaft vermutet. Dann ist die Firma insgesamt unzuverlässig, und dann darf sie nicht nur nicht nach Mexiko, sondern in die ganze Welt nicht exportieren. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Gibt es jetzt ein staatsanwaltschaftliches Verfahren, oder nicht?) Wir fordern heute als Einziges, dass Heckler & Koch bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung überhaupt nichts mehr exportieren darf. Ich finde das nur logisch. Mir muss bitte irgendjemand von der FDP, von der CDU oder von der CSU erklären, wieso Sie dieser Firma, bei der im letzten Dezember eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat, immer noch erlauben wollen, dass sie ihre Kleinwaffen in die ganze Welt außer nach Mexiko liefern darf. Das ist einfach nur unlogisch. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU/ CSU) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte, und ich finde, es ist eine richtig gute Idee, bei den tödlichsten aller Waffen, bei den Kleinwaffen, damit anzufangen. Ich danke Ihnen. (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Da sagt man einmal: "Verdacht", und dann wird man verhaftet! Das ist Kommunismus! - Gegenruf des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist alles Kommunismus?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Kollegen Fritz, Hempelmann und Breil haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,3 sodass nun als letzte Rednerin in dieser Debatte die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort hat. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Wort für heute wollte ich nun doch nicht der Linksfraktion überlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die im Raum stehenden Vorwürfe gegen Heckler & Koch wiegen schwer. Dem Rüstungsunternehmen werden Verstöße gegen das Waffen-, das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. Im Raum steht die bewusste Missachtung von Auflagen und die Täuschung der Bundesregierung. Im Sommer 2006 wurde die Ausfuhr von G-36-Gewehren nach Mexiko mit Einschränkungen genehmigt. Vier Unruheprovinzen sollten wegen der dort herrschenden Menschenrechtslage explizit nicht beliefert werden. Im Norden Mexikos herrscht seit fünf Jahren ein erbitterter Krieg zwischen Polizei, Militär und Drogenkartellen, dem bereits mehr als 30 000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, und regelmäßig werden neue Massengräber entdeckt. Die Bundesregierung ließ sich die Einhaltung der Auflagen per Endverbleibserklärung versichern. Dennoch tauchten kurze Zeit später die Gewehre genau in den verbotenen Provinzen auf. 2007 beantragte Heckler & Koch sogar die Genehmigung für die Ausfuhr von Ersatzteilen in ebenjene Regionen, in denen die Gewehre eigentlich gar nicht hätten in Umlauf sein dürfen. Dokumente und Aussagen ehemaliger Mitarbeiter legen den Verdacht nahe, dass das Unternehmen eine weitaus aktivere Rolle eingenommen hat, als stets behauptet wird. Reiseunterlagen und Dankesschreiben mexikanischer Stellen deuten auf Ausbildungsmaßnahmen hin, die Heckler & Koch in den Unruheprovinzen durchgeführt haben soll. Von Bestechung und Täuschung ist die Rede. Ich teile daher die Einschätzung der Bundesregierung, dass die erforderliche Zuverlässigkeit für die Genehmigung von Waffenexporten durch diese Firma nicht mehr vorausgesetzt werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Daher war es konsequent, die laufenden Ausfuhranträge auszusetzen. Nicht konsequent war es aber, die Ausfuhranträge nur in Bezug auf Mexiko auszusetzen. Denn das Kriterium der Unzuverlässigkeit bezieht sich auf den Absender und nicht auf das Empfängerland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sollten sich die Vorwürfe im Rahmen der Ermittlungen bestätigen, wären aufgrund der erwiesenen Unzuverlässigkeit keine Waffenexporte mehr zu genehmigen, nicht nach Mexiko und nicht sonst wohin in der Welt. Der Fall macht deutlich, wie sehr das deutsche Rüstungskontrollsystem derzeit allein auf die Verlässlichkeit und das Vertrauen in die Rüstungsexportunternehmen angewiesen ist. Genehmigt wird der Export nur bei Vorlage einer Endverbleibserklärung. Der tatsächliche Endverbleib wird aber durch die staatlichen Behörden mangels Kontrollmechanismus nicht überprüft. Gerade wenn es um die Ausfuhr todbringender Waffen geht, müssen wir aber für die Verlässlichkeit der Lieferanten unbedingt einstehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jahr für Jahr werden weltweit 370 000 Menschen durch Kleinwaffen getötet. Wir bräuchten daher dringend bessere Mechanismen, um den Verbleib deutscher Waffen und ganz besonders auch deutscher Kleinwaffen tatsächlich überprüfen zu können. Als drittgrößter Waffenexporteur der Welt tragen wir eine große Verantwortung für den Verbleib dieser Waffen. Unser Rüstungskontrollsystem hat zwar einen großen Anspruch, funktioniert aber nur, wenn die Exportunternehmen verlässlich handeln. Solange irgendwelche Zweifel an der Verlässlichkeit der Unternehmen bestehen, dürfen keine weiteren Ausfuhren genehmigt werden. Deshalb halten auch wir es für sachgerecht, bis zum Ende der laufenden Ermittlungen die Genehmigung von Waffenexporten durch Heckler & Koch auszusetzen, egal für welches Land sie bestimmt sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nun zu Ihnen: Warum allerdings in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzes erhoben wird, erschließt sich mir nicht. Neben Rüstungsexporten gibt es noch eine ganze Menge anderer Dinge, die ich nicht ausstehen kann. Sollen wir die alle ins Grundgesetz schreiben? Das Grundgesetz ist kein Verbotsgesetz und kein Strafgesetzbuch. Ins Grundgesetz gehören die Grundrechte und das Staatsorganisationsrecht. Das soll auch so bleiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein eigener Grundgesetzartikel wäre deutlich zu viel der Ehre für Heckler & Koch. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4677 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung und Beratung einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, bei denen die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie damit einverstanden, dass ich auf die Verlesung der Rednernamen verzichte? - Das ist der Fall. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b sowie Zusatzpunkt 7 auf: 14 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken - Drucksachen 17/4196, 17/4613 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Ullrich Meßmer Serkan Tören Stefan Liebich Volker Beck (Köln) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen - Drucksache 17/4669 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen - Drucksache 17/4668 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4 Zunächst zu Tagesordnungspunkt 14 a. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4613, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4196 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 14 b sowie Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird hier die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/4669 und 17/ 4668 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes - Drucksache 17/4666 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.5 Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4666 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit Seltenen Erden offenhalten - Drucksache 17/4553 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.6 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 17/4553 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EU-Freihandelsabkommen mit Indien stop-pen - Verhandlungsmandat in demokratischem Prozess neu festlegen - Drucksachen 17/2420, 17/4616 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Erich G. Fritz (CDU/CSU): Wir haben die Debatte zum Freihandelsabkommen, FTA, der EU mit Indien im Deutschen Bundestag bereits am 30. September 2010 ausführlich geführt. An der Haltung der Unionsfraktion und an den aufgezeigten Argumenten, die für die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2420 sprechen, hat sich seitdem nichts geändert. Den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion rate ich deshalb an, noch einmal im Plenarprotokoll, Drucksache 17/62, S. 6564, nachzulesen. Entgegen der Behauptung der Linken ist der politische Dialog seit April 2007 - der Europäische Rat hat der Kommission während der deutschen Ratspräsidentschaft das Mandat zu Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen, FTA, mit Indien erteilt - dicht und konkret. Mehrere Verhandlungsrunden haben zu Beginn des neuen Jahres stattgefunden, zuletzt ein Treffen der Chefunterhändler vom 24. bis 28. Januar 2011 und eine Unterrichtung im handelspolitischen Ausschuss am 4. Februar, in dem die Mitglieder fortlaufend über den Stand der Verhandlungen unterrichtet wurden. Ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union liegt ausdrücklich in Indiens Interesse, auch wenn die Fraktion Die Linke es gerne so darstellt, als würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU zustande kommen. Der auf indischer Seite verantwortliche Handels- und Industrieminister Anand Sharma hat in der nationalen und internationalen Presse mehrfach klargestellt, dass das Abkommen mit der EU, die der größte Handelspartner des Schwellenlandes ist, für Indien von großer Bedeutung ist. Ein Fünftel seiner Exporte gehen nach Europa. Schätzungen zufolge könnte durch das geplante FTA das Handelsvolumen zwischen Europa und Indien bis 2015 um 100 Milliarden auf 170 Milliarden Euro anwachsen. Davon würden beide Akteure profitieren. Besonders der Handel mit Dienstleistungen ist mit einem Volumen von 16 Milliarden Euro von wachsender Bedeutung für Indien und Europa. Treu dem Motto "Täglich grüßt das Murmeltier" versucht die Fraktion Die Linke, der EU und unserer Bundesregierung stets einen Vorwurf daraus zu machen, den eigenen wirtschaftlichen Vorteil im Blick zu haben. Das ärgert mich. Selbstverständlich muss die EU auch darauf achten, dass ihre Interessen ausreichend vertreten sind. Es kommt allen 27 Staaten, die der Europäischen Union angehören, zugute, dass die EU Zutritt zum großen Marktpotenzial Indiens erhält und sich unter anderem für den Abbau tarifärer und nichttarifärer Handelshemnisse und für eine ansehnliche Marktöffnung im Industriesektor, bei Banken, Versicherungen, Post und Telekommunikation einsetzt. Die Bundesrepublik Deutschland plädiert seit langem als Indiens wichtigster Handelspartner in der EU für den Abbau von Handelshindernissen. Nur so konnte der deutsch-indische Handel nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, BDI, im Jahr 2009 13 Milliarden Euro erreichen. Ziel sowohl Deutschlands als auch Indiens ist es, bis 2012 den gemeinsamen Handel auf 20 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit dieses ehrgeizige Ziel auch erreicht werden kann, unterstützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregierung in ihren Bemühungen um weitere Liberalisierung im Zollbereich und einer Öffnung des indischen Marktes für öffentliche Beschaffungen. Vor allem für unsere deutschen Unternehmen, die im Jahr 2009 Waren- und Dienstleistungen im Wert von 8 Milliarden Euro exportierten, wäre ein umfassender Zollabbau für Industriegüter von Vorteil. Dieser Wert könnte höher sein, wenn Hemmnisse beim Marktzugang abgebaut würden. Unsere Exporte werden durch hohe Zölle, Zusatzabgaben und Normen behindert. Einfuhrzölle bis zu 60 Prozent im Automobilsektor und zusätzliche Einfuhrabgaben erhöhen die Gesamtbelastung teilweise auf mehr als 100 Prozent. Möglichkeiten für Kooperationen zwischen deutschen und indischen Unternehmen sind aber nicht nur in der Automobilindustrie erkennbar. Auch in der Lebensmittelindustrie, bei der Verbesserung der indischen Infrastruktur, aber auch in Branchen wie der Pharmaindustrie und der Bio- und Nanotechnologie bieten sich Felder der Zusammenarbeit an. Selbst Manmohan Singh erkennt das Potenzial Deutschlands als Wirtschaftsmotor der Welt und äußerte sich, anlässlich des 11. EU-Indien-Gipfels "neue Horizonte der Ausweitung des Handels zu ermöglichen". Diese Position des indischen Premiers nährt die Hoffnung des baldigen Abschlusses der FTA-Verhandlungen mit der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens. Bisher sind eine Reihe von Kapiteln fast abgeschlossen, die Verhandlungen zu Wettbewerb, Zollverfahren und Handelserleichterungen sind auf gutem Wege. Allerdings erfordert das ehrgeizige Ziel, ein Abkommen im Verlauf dieses Jahres zu paraphieren, einen Durchbruch in den politischen Verhandlungen im sensiblen Bereich des Zollabbaus. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet die Bundesregierung ausdrücklich darum, sich nach allen Kräften dafür einzusetzen, dass hier Fortschritte gelingen können. Unsere Bundeskanzlerin sagte anlässlich des 41. Welt-wirtschaftsforums im schweizerischen Davos, eine entscheidende Antwort zur Bewältigung der Wirtschaftskrise sei der freie Welthandel. Damit gehen wir in der Union d'accord! Trotz Erholung der Weltkonjunktur - auch Indien wurde eine Rückkehr zu seiner Wirtschaftsaktivität von verschiedenen Seiten bescheinigt - ist es weiterhin wichtig, dass Industrie- und Schwellenländer im Zusammenschluss globalen Handelsungleichgewichten vorbeugen. Deshalb sind wir froh, zu hören, dass nun neue Dynamik in die zähen WTO-Verhandlungen zum Abschluss der Doha-Runde gekommen sind. Das Volumen des zusätzlichen Handels, den das Abkommen ermöglichen würde, ist in einer Studie, die anlässlich des G-20-Gipfels in Seoul von Deutschland, Frankreich und Großbritannien in Auftrag gegeben wurde, auf 360 Milliarden Dollar pro Jahr beziffert. Dies ist Anreiz genug, um die nur noch verbleibenden 20 Prozent des Abkommens auszuhandeln. Einigkeit muss bei den Subventionen für Baumwolle und bei den Dienstleistungen erzielt werden. Noch nie war die Gelegenheit so groß, das Abkommen noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Indien sollte dabei in den Verhandlungen mit einbeziehen, wie schnell die Entwicklung im eigenen Land voranschreitet und wie sehr Indien selbst bereits auf offene Märkte angewiesen ist. Mit einem Freihandelsabkommen der Europäischen Union und Indien bietet sich zugleich für die Bundesrepublik Deutschland die Perspektive einer Intensivierung der Strategischen Partnerschaft, nicht nur, wie aufgezeigt, bei der Verstetigung unserer guten Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch in den Bereichen Ausbildung und Forschung. Vor diesen aussichtsreichen Federn der künftigen Zusammenarbeit schließen wir in der Union nicht die Augen. Wir unterstützen das nach dem jüngst beschlossenen Abkommen mit Südkorea zweite große erfolgreiche Handelsprojekt der Europäischen Union und entsprechen der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Wirtschaft und Technologie, Drucksache 17/4616. Der Antrag ist abzulehnen. Rolf Hempelmann (SPD): Der Auf- und Ausbau eines fairen multilateralen Freihandels ist Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung aller Länder und trägt gleichzeitig dazu bei, den Wohlstand in Europa und Deutschland zu wahren und zu mehren. Zusätzlich zu den multilateralen Bemühungen können Freihandelsabkommen sinnvolle Ergänzungen sein, jedoch müssen multilaterale Verträge Priorität vor bilateralen Freihandelsabkommen haben. Ich denke, darin stimmen wir mehrheitlich überein. Nach wie vor muss oberstes Ziel sein, ein funktionierendes multilaterales Wetthandelssystem unter dem Dach der WTO auf- und auszubauen. Dabei ist das Gebot der Stunde, die seit 10 Jahren laufende Doha-Runde zum Abschluss zu bringen. Ich denke, wir sind uns einig, dass der derzeit zu verfolgende Trend zu bilateralen Abkommen als Indikator für das Versagen wichtiger Akteure im multilateralen Verhandlungsprozess zu bewerten ist. Alle Bemühungen, den Doha-Prozess wieder anzukurbeln und zum Laufen zu bringen, dürfen nicht durch bilaterale Freihandelsabkommen zunichte gemacht werden. Bilaterale Abkommen dürfen keine Motivation aus den multilateralen Verhandlungen des Doha-Prozesses herausnehmen. Nun zum aktuellen Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit lndien. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion müssen bei allen Verhandlungen über Freihandelsabkommen ökonomische und politische Faktoren, aber auch die sozialen und menschenrechtlichen Aspekte berücksichtigt werden. Dies gilt natürlich auch bei dem EU-Freihandelsabkommen mit Indien. Jedoch halten wir dieses Thema für zu wichtig, um, wie im hier diskutierten Antrag der Linksfraktion, die Frage der Ausgestaltung von Freihandelsabkommen mit einer undifferenzierten Systemkritik an der europäischen Marktwirtschaft zu verbinden. Diese Kritik gehört nicht hierher. Aus diesem und weiteren Gründen wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Antrag in dieser Form nicht zustimmen. Ziel des Freihandelsabkommens der Europäischen Union mit Indien sollte sein, dass die EU ihren Handel und ihre Investitionen mit Indien intensivieren kann, ohne dass die in Indien vorhandenen ökonomischen und sozialen Infrastrukturen beeinträchtigt werden. Die künftigen Möglichkeiten einer Ausweitung des Handels und der Investitionstätigkeit im Verhältnis EU-Indien müssen insgesamt beiden Seiten dienen. Jedoch ist bei der Bewertung und Verhandlung der vorhandenen sektorspezifischen Schwierigkeiten darüber nachzudenken, eine asymmetrische Marktöffnung vorzunehmen, um ein wirtschaftliches Ungleichgewicht zu verhindern. Hier gilt es, einer Überforderung Indiens vorzubeugen. Denkbar sind eine konsequente Marktöffnung der EU im Agrar- und Textilbereich und die Ermöglichung sektorspezifisch unterschiedlicher Marktöffnungsschritte In-diens. Wir müssen weiter auf den konkreten Verlauf der Verhandlungen schauen. Diesbezüglich haben die Mitglieder des Bundestages schon verschiedene Aktivitäten unternommen. Im Frühjahr 2010 haben sich sowohl der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als auch der Unterausschuss "Gesundheit in Entwicklungsländern" des Deutschen Bundestages mit den Folgen eines Freihandelsabkommens für die indische Generikaproduktion und den Zugang zu Medikamenten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommens befasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren fraktionsübergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordneten klare Forderungen zur Ausgestaltung des europäisch-indischen Freihandelsabkommens formulierten. Diese Forderungen ähneln denen des hier behandelten Antrags. Nachdem diese Forderungen im Frühsommer 2010 an die Kanzlerin, die mit dem Thema befassten Bundesminister, den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, sowie den europäischen Generaldirektor für Handel, Ignacio Garcia Bercero, versandt wurden, teilten erfreulicherweise der Kommissionspräsident Barroso und Handelsdirektor Bercero in einem Schreiben vom August 2010 mit, dass sich die Europäische Union die genannten Forderungen der Ausschüsse des Bundestages zu eigen macht. Beide betonten, dass eine Verlängerung der Patentlaufzeit durch ergänzende Schutzzertifikate in den Verhandlungen mit Indien nicht mehr diskutiert werden. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für viele Patienten in Entwicklungs- und Schwellenländern lebenswichtigen Generikaproduktion. Zudem wird von europäischer Seite unmissverständlich betont, dass die für das Abkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des geistigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPS-Standard hinaus verstärkt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht es, wie fraktions-übergreifend schon beschlossen, als unverzichtbar an, dass die Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhandelten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziellen Medikamenten nicht einschränken. Außerdem sollen die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im Freihandelsabkommen dem Standard von TRIPS entsprechen. Es muss zudem natürlich darauf geachtet werden, dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen nicht über den TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden. Das alles haben wir schon formuliert. Daran fühlen wir uns gebunden. Die Europäische Kommission hat sich dies, wie gesagt, zu eigen gemacht, und es ist nicht absehbar, dass sie davon abkehrt. Die deutsche Bundesregierung ist gut beraten, sich ein Beispiel zu nehmen und unseren Forderungen zu folgen. Ich habe aufgezeigt, dass sich die Fachpolitiker aller Fraktionen bereits seit längerem mit den Forderungen des heute diskutierten Antrags befassen und wichtige Aktivitäten entwickelt haben. Wir werden weiter den Verlauf der Verhandlungen von Freihandelsabkommen beobachten, damit auch zukünftig diese Abkommen keiner neoliberalen Ideologie nachlaufen, sondern den Menschen auf beiden Seiten nutzen. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Das Freihandelsabkommen der EU mit Indien hat das Potenzial, neuen Schwung in den Welthandel zu bringen. Beide Seiten sind sich einig, dass ein Handels- und Investitionsabkommen mit einer breiten Basis im gemeinsamen Interesse liegt. Indien schickt sich an, eine Führungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischen dem boomenden Fernen Osten und dem an Energiequellen reichen Nahen Osten und Zentralasien zu übernehmen. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichen und politischen Potenziale von Indien für uns zu nutzen. Wir dürfen den Markt nicht dem schon starken wirtschaftlichen Einfluss Amerikas oder Chinas überlassen. Gerade in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzkrise gilt es, protektionistische Tendenzen abzuwehren und den fairen und freien Welthandel zu gewährleisten. Nachdem sich der Wert des Warenverkehrs der EU 27 mit Indien zwischen 2000 und 2008 mehr als verdoppelt hat, fiel er im Jahr 2009. In den ersten neun Monaten des Jahres 2010 zeigte sich ein erneutes Wachstum des EU-27-Warenhandels mit Indien. Dies muss unbedingt durch eine vernünftige, nach vorne gerichtete Wirtschaftspolitik wie die unserer schwarz-gelben Regierungskoalition fortgesetzt werden. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Indien haben in den letzten Jahren deutlich an Intensität und Dynamik gewonnen. Heute sind schon etwa 1 500 deutsche Unternehmen in Indien vertreten. Die Forderungen der Fraktion Die Linke zeigen nur einmal mehr die protektionistischen, antiquierten Wirtschaftsvorstellungen wie zu Zeiten des Ostblocks. Wir wollen keine ideologischen Mauern errichten. Gerade durch unsere guten und intensiven Wirtschaftsbeziehungen werden neue Märkte erschlossen und bringen im Zuge der Marktöffnung auch eine Öffnung des Landes mit sich. Wir stehen als bürgerlich-liberale Koalition für diesen goldenen, demokratischen Weg nach vorne. Die Stärkung der Kontakte zwischen den Menschen in Indien und in der Europäischen Union ist nur einer der positiven Effekte neben wirtschaftlichen Belangen. Die schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministers Rainer Brüderle sichert Wachstum und Arbeitsplätze und trägt so zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Mit neuen Handelsstrategien werden Märkte geöffnet, und Europa hält Anschluss an die wichtigsten Wachstumszentren der Welt. Wir wollen dafür sorgen, dass faire Bedingungen für die europäische Wirtschaft herrschen, sodass alle Bürger, sowohl in Deutschland als auch in Indien, vom Handel profitieren können. Unsere Außenpolitik ist freiheitlich, orientiert an Marktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur Selbsthilfe. Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und auf den Multilateralismus - anstelle nationaler Alleingänge, wie von den Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märkte muss konsequent fortgeführt werden. Denn durch die weiteren wirtschaftlichen Fortschritte in Indien, die das Abkommen mit sich bringen wird, wird auch der politische Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nach außen ist eine Öffnung der Märkte für eine höhere Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU muss andere Staaten wie Indien von den Vorteilen freier Märkte überzeugen. Daran kann auch der Appell der Fraktion Die Linke, Importzölle auf indische Landwirtschaftsprodukte zu erheben und weiterhin auf Exportzöllen in anderen Bereichen zu bestehen, nichts ändern. Die protektionistischen Forderungen nach der Einführung von Ex-portzöllen und Verhinderung von transparenten Strukturen zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen in Indien zeigten nur die Antiquiertheit der linken Anschauungen. Dies zeigt sich auch bei der Forderung nach einem Verzicht auf einen effektiven Patentschutz nach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die europäischen Grenzen hinaus wirksamer Patentschutz garantiert, dass die mit einem Patent einhergehende Offenlegung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. Das Zurückweisen der längeren Patentlaufzeiten der Fraktion Die Linke und der Verzicht auf Datenexklusivität würde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzuweisen. Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung der Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und ärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mit Schwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grundlage gestellt werden muss. Statt klassischer Entwicklungszusammenarbeit mit den Schwellenländern müssen wir eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaats- und Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik, Wissenschaft und Forschung eingehen und sie für die Entwicklung noch immer bedürftiger Länder gewinnen. In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernetzung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nach Aufrechterhalten von Exportzöllen utopisch. Nationale Alleingänge gegen gemeinsame europäische Interessen wird es mit der FDP und der CDU/CSU-Fraktion nicht geben. Die Kritik der Fraktion Die Linke an dem Freihandelsabkommen EU-Indien zeichnet sich durch das Schüren von Ängsten und den Wunsch nach Abschottung vom Weltmarkt aus. Sie lässt die, nicht nur wirtschaftlich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherung der EU und Indiens außer Acht. Deshalb ist dieser Antrag der Linken abzulehnen. Annette Groth (DIE LINKE): Das geplante EU-Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien ist Teil der neuen Außenhandelsstrategie "Global Europe: Competing in a Globalized World". Ziel dieser ökonomischen Strategie ist die Durchsetzung neuer und umfassender Freihandelsabkommen, mit denen die Staaten der Europäischen Union einen vereinfachten Zugang zu Rohstoffen und die Öffnung der Märkte in diesen Ländern für europäische Waren verfolgen. Das geplante Freihandelsabkommen mit Indien ist Teil der verfehlten neoliberalen Außenhandelsstrategie der EU. Die Fraktion Die Linke lehnt dieses Abkommen ab und hat mit ihrem Antrag Alternativen für eine solidarische Außenhandelspolitik der EU mit Indien vorgelegt. Das EU-Freihandelsabkommen mit Indien nimmt in der Prioritätenliste der EU-Kommission eine Schlüsselstellung ein. Die indische Wirtschaft ist in den letzten Jahren zwischen 8 und 10 Prozent jährlich gewachsen. Trotzdem lebt in Indien weltweit der größte Anteil armer Menschen. Etwa 92 Prozent der 457 Millionen erwerbstätigen Inder sind im informellen Sektor beschäftigt. Sie leben meist von Subsistenzwirtschaft und einem minimalen Einkommen. Häufig sind sie als Tagelöhner oder für zeitlich befristete Tätigkeiten beschäftigt. Darüber hinaus müssen aufgrund der Altersstruktur in Indien bis 2020 etwa 200 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen, damit das Land nicht in eine beschäftigungspolitische Katastrophe rennt. Gerade in der Weltwirtschaftskrise zeigte sich überdeutlich, dass stärker regulierte Volkswirtschaften in den Schwellenländern wesentlich weniger krisenanfällig waren als die stärker liberalisierten und exportabhängigen Volkswirtschaften. Länder wie zum Beispiel Indien profitierten gerade in der Krise von den vorhandenen Steuerungsmöglichkeiten des Staates und der Kommunen. Deshalb sind die massiven Liberalisierungsforderungen der Europäischen Kommission vor diesem Hintergrund völlig unverantwortlich. Durch das Freihandelsabkommen soll der indische Markt noch mehr als bisher für die Produkte und Dienstleistungen aus der EU geöffnet werden. Die EU-Kommission nimmt dabei bewusst in Kauf, dass Millionen von Arbeitsplätzen in der indischen Landwirtschaft und dem informellen Bereich massiv bedroht werden. Durch die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission für ein Freihandelsabkommen wird die Ernährungssicherheit und damit auch die Existenzgrundlage für Hunderte von Millionen Menschen in der indischen Landwirtschaft und Industrie massiv gefährdet. Die Linke tritt deshalb dafür ein, dass allen Forderungen der EU-Kommission, den indischen Finanzmarkt weiter zu liberalisieren, eine klare Absage erteilt wird. Es war gerade der noch immer stark regulierte indische Finanzmarkt, der sich in der Weltfinanzkrise relativ stabil gezeigt hat. Deshalb warnen auch viele Vertreterinnen und Vertreter sowohl aus Indien als auch aus der Europäischen Union vor einer Liberalisierung des Finanzmarktes. Die derzeitigen Verhandlungen zeigen, dass die Europäische Kommission nichts aus der Wirtschaftskrise gelernt hat und mit ihrer unverantwortlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik dabei ist, die Gefahr, dass auch andere Regionen in den Strudel der unkontrollierten Finanzmärkte gezogen werden, weiter zu verschärfen. Wir treten in unserem Antrag dafür ein, dass alle Forderungen an Indien, die Handelshemmnisse bei Finanzdienstleistungen abzubauen, sofort zurückgenommen werden müssen. Vielmehr müssen Regulierungsmaßnahmen zum Schutz der Stabilität des Finanzsystems, wie sie Indien im Kontext der Weltfinanzkrise ergriffen hat, ausdrücklich erhalten und ausgebaut werden. Eine Liberalisierung des Marktes für landwirtschaftliche Produkte hätte katastrophale Folgen für die überwiegende Anzahl der Bäuerinnen und Bauern in Indien, da etwa 90 Prozent von ihnen marginalisierte Kleinproduzenten sind. Sie leben ausschließlich von der Landwirtschaft. Die Liberalisierung dieses Marktes durch ein Freihandelsabkommen würde ihre Lebensgrundlage massiv bedrohen. Die Folgen für die Betroffenen wurden besonders sichtbar, als im Jahr 2002 Indien die Zölle für Milchprodukte abschaffte. Dadurch drängten die zum Teil exportsubventionierten Milchprodukte aus der EU massiv auf den indischen Markt und drückten den Milchpreis in Indien derart nach unten, dass Millionen von landwirtschaftlichen Betrieben nicht mehr konkurrenzfähig waren und viele in den Bankrott stürzten. Um eine soziale und ernährungspolitische Katastrophe zu verhindern, führte Indien wieder Zölle in Höhe von zurzeit 30 Prozent ein. Eine erneute Marktöffnung im Milchbereich hätte für die soziale Situation der indischen Subsistenzbauern fatale Auswirkungen. Die EU versucht, das Freihandelsabkommen mit Indien gegen den Widerstand der indischen Bauernverbände und vieler NGOs durchzusetzen, da sie Indiens größter Handelspartner ist und Indien an neunter Stelle im EU-Außenhandel steht. 20 Prozent des indischen Güterhandels werden mit der EU abgewickelt; das Handelsbilanzdefizit zur EU beträgt drei Milliarden Euro. Die EU wickelt etwa 2,1 Prozent ihres Handels mit Indien ab. Die treibenden Kräfte des geplanten Freihandelsabkommens sind mächtige deutsche und europäische Lobbygruppen wie der Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, das European Services Forum, ESF, und die European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations, EFPIA. Erst vor wenigen Tagen forderte der Europäische Automobilherstellerverband ACEA die EU-Kommission auf, bei den Verhandlungen mit Indien noch mehr Druck zu machen. Der Verband beklagte, dass für die Autobranche die bisherigen Verhandlungsergebnisse noch nicht zufriedenstellend seien. Die Industrielobbyisten nehmen mit ihren Forderungen dabei bewusst in Kauf, dass sich die Ernährungssituation der Menschen in Indien massiv verschlechtern wird und die Gefahren von Instabilitäten in Indien zunehmen. Kurzfristige Profitinteressen der europäischen Großkonzerne werden hier über die mittelfristigen Entwicklungsmöglichkeiten der indischen Volkswirtschaft gestellt. Die Direktorin der indischen Nichtregierungsorganisation ANTHRA, Dr. Sagari R. Ramdas, weist darauf hin, dass bei einer Liberalisierung von Investitionen für landwirtschaftliche Flächen, Land Grabbing noch schneller vorangetrieben wird. Weiter führt sie aus, dass alle Bäuerinnen und Bauern, wie auch große Teile der indigenen Einwohner Indiens, Produzentinnen und Produzenten und gleichzeitig Konsumentinnen und Konsumenten zugleich sind. Fast alle sind für die eigene Versorgung auf die öffentlichen Beschaffungs- und Verteilungssysteme für Getreide angewiesen, um die Ernährungssicherheit in den Haushalten zu gewährleisten. Genau hier setzt das Freihandelsabkommen der EU mit Indien an und will den Unternehmen in der EU den freien Zugang zu den öffentlichen Beschaffungssystemen in Indien eröffnen. Dies würde die bisherige Absicherung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für die armen Teile in der indischen Bevölkerung noch weiter erschweren. Durch die geforderte Öffnung der Rohstoffmärkte und durch einen freien Zugang zu Explorationsmöglichkeiten von indischen Rohstoffen durch europäische Konzerne würden darüber hinaus die Lebensbedingungen der indigenen Einwohner Indiens infrage gestellt. Viele von ihnen leben in Wäldern, in denen teilweise Eisenerz, Granit, Halbedelsteine und vieles mehr zu finden ist. Durch einen massiven Abbau dieser Vorkommen besteht die Gefahr, dass viele von ihnen vertrieben werden und sich das Heer der Armen in den Megastädten weiter vergrößert. Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, die Verhandlungen über ein EU-Freihandelsabkommen mit Indien sofort zu stoppen. Wir wollen, dass Verhandlungsmandate der EU in Zukunft durch demokratisch legitimierte Prozesse festgelegt werden und alle Abkommen, die Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung in den betroffenen Ländern und Regionen fördern, nicht mehr verfolgt werden dürfen. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Indien leben über 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag, und knapp 80 Prozent leben mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag. Auch das Pro-Kopf-Einkommen in Indien liegt weit unter dem europäischen Niveau. Die Europäische Union und Indien sind keine Partner auf gleicher Augenhöhe. Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien steht kurz vor dem Abschluss; es soll noch in diesem Frühjahr unterzeichnet werden. Seit mehr als vier Jahren verhandeln die beiden ungleichen Partner über ein solches Abkommen. Handel ist nur fair, wenn wir die ökologischen und sozialen Erfordernisse respektieren und wenn wir Entwicklungspotenziale fördern und nicht ersticken. Handelsliberalisierung unter gleich starken Partnern kann Wohlstand und Entwicklung fördern, aber nur dann, wenn sie nachhaltig und fair gestaltet ist. Gegenseitige Marktöffnung zwischen ungleichen Partnern wie zwischen der EU und Indien dagegen kann jedoch gravierende Folgen für den wirtschaftlich und sozial schwächeren Partner haben. Ich kritisiere die von der Bundesregierung unterstützte fragwürdige Handelspolitik der EU. Diese Handelspolitik steht im Widerspruch zum Lissabon-Vertrag, der die Entwicklung und die Beseitigung der Armut als Ziel seiner Außenbeziehungen definiert. Meine besondere Sorge gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrechten. Indien ist weltweit einer der größten Generikahersteller, gilt als die Apotheke der Armen und produziert unter anderem weltweit 80 Prozent der Medikamente zur Behandlung von HIV/Aids. Die europäischen Forderungen zu den geistigen Eigentumsrechten bedrohen massiv den Zugang zu kostengünstigen, lebensrettenden Medikamenten für die Armen der Welt. Insbesondere die vorgesehene Datenexklusivität wäre ein Schlag gegen die Generikaproduktion und damit auch gegen das Menschenrecht auf Gesundheit. Dies käme für unzählige Kranke weltweit einem Todesurteil gleich. Diese Sorge teilt mit mir auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Auf Initiative des Unterausschusses "Gesundheit in Entwicklungsländern" hat der Ausschuss in einem interfraktionellen Beschluss die Bundesregierung und die Europäische Kommission aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass es im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien keine Regelungen gibt, die über den Standard von TRIPS hinausgehen. Dem Antrag der Fraktion Die Linke stimmen wir nicht zu. Teilweise sind die Forderungen veraltet. Teilweise liegen die Forderungen nicht im Kompetenzbereich der nationalen Parlamente. Für die Ratifizierung von Handelsabkommen in nationalen Parlamenten beispielsweise gilt es zunächst juristisch zu klären, ob es sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt; denn nur dann gäbe es einen nationalen parlamentarischen Auftrag. Auch andere Forderungen können wir nicht uneingeschränkt mittragen. Allerdings teile ich die Ansicht, dass wir ein entwicklungsförderliches Verhandlungsmandat für ein Abkommen mit Indien brauchen. Das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Versorgung oder das Menschenrecht auf Nahrung dürfen nicht durch wirtschaftliche Interessen in Gefahr gebracht werden. Menschenrechte sind nicht verhandelbar und müssen zu jedem Zeitpunkt gewahrt werden. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, sich für ein Freihandelsabkommen einzusetzen, das die Hunderte Millionen von Menschen nicht aus den Augen verliert und die Menschenrechte zur obersten Priorität macht. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4616, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2420 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 18 a und b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantieren - Drucksache 17/4439 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem - Drucksache 17/4679 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Die Grünen und die Linke tun etwas, das man nicht tun sollte, sofern man den europäischen Gedanken nicht beschädigen will. Sie wollen über den Umweg der europäischen Ebene versuchen, asylpolitische Vorstellungen zu verwirklichen, für die es weder im Deutschen Bundestag noch in unserer Bevölkerung eine Mehrheit gibt. Sie wollen über den Umweg Brüssel demokratische Mehrheitsentscheidungen ausspielen. Das ist nicht nur undemokratisch, sondern sie verstärken das Gefühl, das leider in unserer Bevölkerung verbreitet ist, dass die EU weit weg ist von der Stimmung der Menschen vor Ort. Insofern beschädigen sie mit ihren Anträgen den europäischen Gedanken. Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass sie sogar die berechtigte Hoffnung haben könnten, dass sie in der Sache in Brüssel auf ein offenes Ohr stoßen. Ich will diese Debatte ausdrücklich dafür nutzen, zu beklagen, dass Grünbücher und Richtlinienentwürfe der Generaldirektionen Innen und Justiz der EU-Kommission oftmals davon geprägt sind, dass sie von der Rechtslage in Deutschland und gerade auch von der Stimmungslage der Menschen in unserem Land erheblich abweichen. Die ursprüngliche Fassung des Richtlinienentwurfs zum Asylrecht hätte zur Folge gehabt, dass der Asylkompromiss von 1993, der zu einer erheblichen Reduzierung des Asylmissbrauchs geführt und die aufgeregte Stimmung der damaligen Zeit beträchtlich beruhigt hat, so nicht mehr haltbar sein würde. Unsere Fraktion ist dem Bundesinnenministerium deshalb sehr dankbar, dass es sich auf EU-Ebene erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass diese Richtlinienentwürfe so nicht kommen werden. Ein schlichter Skandal ist der Antrag der Linken. Man muss ganz klar deutlich machen, was dieser Antrag zur Folge hätte. Sie lassen jede Art von Kontrolle von Zuwanderern in unser Land fallen. Sie wollen FRONTEX abschaffen. Sie wollen, dass wir anderen EU-Ländern viele Asylbewerber abnehmen, damit diese EU-Länder keinen Grund mehr haben, für eine ordnungsgemäße Sicherung ihrer Grenzen zu sorgen. Ihr Antrag hätte zur Folge, dass im Grunde jeder Mensch aus aller Welt frei bestimmen könnte, in Deutschland zu leben. Wir hätten eine dramatische Zuwanderung von Hunderttausenden von Ausländern in jedem Jahr. Das würde jede Integrationsbemühung zum Scheitern verurteilen. Es würde wahrscheinlich auch Ausländerfeindlichkeit schüren. Sie würden damit die Kommunen vor erhebliche Unterbringungsprobleme stellen. Es würden wieder Sporthallen umgewandelt werden müssen zu großen Sammelunterkünften, von den vielen Milliarden, die das kosten würde, einmal ganz abgesehen. Das ist alles eine völlig unverantwortliche Politik, mit der sich die Linke endgültig aus dem Kreis derjenigen verabschiedet, die in der Integrations- und Asyldebatte den Anspruch erheben können, ernst genommen zu werden. Mit dem absurden Vorschlag, die EU-Rückführungsrichtlinie wieder abzuschaffen, sorgt die Linke dafür, dass wir weder Menschen, die jahrelang nur Sozialleistungen kassiert haben, noch verurteilte Straftäter in ihre Heimat zurückführen können. Das ist ein Beitrag, der den sozialen Frieden gefährdet und ein wichtiges präventives Element im Kampf gegen Ausländerkriminalität zunichte macht, weil für viele ausländische Kriminelle die Angst vor der Abschiebung in ihr Heimatland größer ist als die Angst vor einer Gefängnisstrafe. Aber auch die Grünen zeichnen in ihrem Antrag ein Zerrbild der Lage der subsidiär Schutzberechtigten im Verhältnis zu denjenigen, die als politisch Verfolgte oder Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind. Die Grünen verschweigen einen ganz wesentlichen Grundsatz, nämlich dass von unseren Behörden die subsidiär Schutzberechtigten nicht einheitlich behandelt werden, sondern es sich dabei um eine sehr heterogene Personengruppe handelt, die sich durch ganz unterschiedliche Schutzbedürfnisse auszeichnet. Es ist gängige Praxis der Ausländerbehörden, dass bei drohender Folter oder drohender Todesstrafe im Herkunftsland, ähnlich wie bei GFK-Flüchtlingen, ein längerfristiges Schutzbedürfnis anerkannt wird. Dementsprechend erhalten sie nicht nur ein mehrere Jahre geltendes Aufenthaltsrecht, sondern auch Zugang etwa zu Integrationsangeboten. Es gilt der Grundsatz, den die Grünen völlig verschweigen, dass bei denjenigen subsidiär Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie für lange Zeit und möglicherweise sogar auf Dauer in unserem Land leben werden, im Grunde genommen die gleichen Bedingungen herrschen wie bei GFK-Flüchtlingen. Andererseits macht es aber auch Sinn, solchen Schutzberechtigten, bei denen absehbar ist, dass sie nur über einen begrenzten Zeitraum Schutzes bedürfen und auch relativ plötzlich wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden können, in dieser Weise keine Integrationsangebote zu machen. Das gilt etwa bei Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlingen, bei denen das Schutzbedürfnis typischerweise eher vorübergehender Natur ist. Dieser Heterogenität der Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten können die Mitgliedstaaten nur Rechnung tragen, wenn ihnen Regelungsspielräume verbleiben und keine schematische Gleichstellung der subsidiär Geschützten mit GFK-Flüchtlingen erfolgt. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die ja eine breite Kenntnis der Praxis in unseren Ausländerbehörden hat, in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen hat, dass es bei Fragen der Ausbildungsför-derung oder Sozialleistungen sowie beim Arbeitsmarkt-zugang es keine großen praktischen Unterschiede in der Behandlung der Ausländerbehörden von GFK-Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten gibt. Gerade was die Frage des Arbeitsmarktzugangs anbelangt, macht das ja auch großen Sinn, dass die Schutzbedürftigen in unserem Land etwa Kompetenzen erwerben, die sie später in ihrem Heimatland nutzen können. Und es macht auch großen Sinn, dass sie, anstatt Sozialleistungen zu erhalten, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Das gilt in gleicher Weise für jüngere Schutzbedürftige, wenn man an die Förderung für einen Ausbildungsplatz denkt. Außerdem will ich hervorheben, dass es auch bei der medizinischen Versorgung selbstverständlich in der Praxis keine unterschiedliche Behandlung gibt. Insofern muss man den Grünen vorhalten, dass sie mit ihrem Antrag einen Popanz aufbauen und sich daran abarbeiten, obwohl die ausländerrechtliche Praxis völlig anders aussieht. Man kann die Anträge von Linken und Grünen also insoweit zusammenfassen: Der Antrag der Linken ist integrationsfeindlich, kommunal unfreundlich und würde unser Land in einen Zustand versetzen, wie wir ihn Anfang der 90er-Jahre hatten. Das kann niemand politisch ernsthaft wollen. Die Grünen zeichnen ein Zerrbild der praktischen Lebenssituation von subsidiär Schutzbedürftigen. Insofern sind beide Anträge abzulehnen. Rüdiger Veit (SPD): Im "Stockholmer Programm", das direkt an das "Haager Programm" - 2005 bis 2009 - anschließt, werden für den Zeitraum von 2010 bis 2014 die Prioritäten der europäischen Innenpolitik definiert. Mit der Absicht, "ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger" zu schaffen, bekräftigt das neue Fünf-Jahres-Programm im Bereich der Migrationspolitik das Ziel einer vorausschauenden und umfassenden europäischen Politik, die auf Solidarität und Verantwortlichkeit beruht. Im "Stockholmer Programm" ist ein einheitlicher Status für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, vorgesehen. Die Begründung für die Einführung des subsidiären Schutzstatus war gewesen, dass es diesen Schutz nur vorübergehend geben würde und die Menschen, denen er gewährt wurde, nicht längere Zeit bleiben würden. In der Praxis hat sich diese Annahme jedoch als falsch erwiesen. Die Hürden, um einen subsidiären Schutzstatus zuerkannt zu bekommen, sind gravierende Menschenrechtsverletzungen wie drohende Todesstrafe, Folter und Krieg. In diesem Sinne ist es nicht "leichter", einen subsidiären Schutzstatus zu erhalten, als als Verfolgter im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden. Zudem sind die dargestellten Umstände keinesfalls solche, die sich schnell ändern. Wenn aber davon ausgegangen werden muss und die Erfahrungen gezeigt haben, dass Menschen mit einem subsidiären Schutzstatus dieses Schutzes nicht nur vorübergehend bedürfen, dann ist ihre Ungleichbehandlung gegenüber der Behandlung von anerkannten Flüchtlingen nicht gerechtfertigt und muss aufgehoben werden. Wie in der Neufassung der Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie vorgesehen, sollten subsidiär Geschützte sofortigen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, sie müssen Leistungen entsprechend denen von anerkannten Flüchtlingen erhalten und vor allem müssen sie Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Wenn sie auf Dauer bei uns leben, dann macht es allein und ausschließlich Sinn - nicht nur, aber auch aus finanziellen Erwägungen, weil wir ja alle mittlerweile längst wissen, dass eine nachholende Integration schwerer und im Ergebnis teurer ist -, sie so frühzeitig wie möglich zu integrieren. Schließlich müssen sie auch den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Auch wir möchten die Bundesregierung auffordern, ihre Vorbehalte gegen Art. 24 der Anerkennungsrichtlinie aufzugeben, nach dem einer Person nach Zuerkennung des Schutzstatus ein verlängerbarer Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens drei Jahren ausgestellt werden muss. Wichtig für die Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einem subsidiären Schutzstatus und der Anerkennung als Flüchtling ist auch Art. 26 der Richtlinie, der den unmittelbaren Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und die Teilnahme an beschäftigungsbezogenen Bildungsanboten für Erwachsene und berufsbildende Maßnahmen ermöglicht. Von ebenso großer Bedeutung ist schließlich Art. 29 der Richtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz die notwendige Sozialhilfe im selben Umfang gewähren wie Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaates. Schließlich begrüßen auch wir Art. 34 des Neufassungsvorschlages, nach dem der schutzgewährende Mitgliedstaat die Integrationsmaßnahmen zu gewährleisten hat, die den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz Rechnung tragen. In dem Punkt der Angleichung der Rechte von Flüchtlingen mit einem subsidiären Schutzstatus an den von Flüchtlingen stimmen wir mithin mit den Positionen in den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke überein. Diesem Ansinnen kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Angleichung der Rechte der beiden Schutzarten der sonstigen Systematik der Rechtsetzung auf EU-Ebene widersprechen würde. Denn wie es im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen steht, haben sich das Europäische Parlament und der Rat im Dezember letzten Jahres auf eine Neufassung der "Daueraufenthaltsrichtlinie" (Richtlinie 2003/109/EG) dahin gehend geeinigt, dass nunmehr auch Personen mit internationalem Schutzstatus mit einem fünfjährigen rechtmäßigen dauerhaften Aufenthalt in den Anwendungsbereich der Richtlinie aufgenommen werden sollen. Auch wenn es in keinem der beiden vorliegenden Anträge erwähnt wird, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass wir das Abstimmungsergebnis im LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlamentes über die Anerkennungsrichtlinie am 1. Februar 2011 begrüßen, nachdem nunmehr in der neuesten Fassung der Richtlinie die Definition der Familie nicht mehr beinhaltet, dass die Verbindung zu dem einen internationalen Schutzstatus erhalten habenden Flüchtling im Herkunftsland entstanden sein muss. Ebenso begrüßen wir die nunmehr erfolgte Klarstellung, dass nur staatliche Akteure solche sein können, die Schutz gewähren, und dass nicht wie noch in den Entwürfen zuvor - leider auch auf Drängen der Bundesregierung hin - vorgesehen auch eine nichtstaatliche Einheit schutzgewährende Organisation sein kann, wie zum Beispiel eine Stammesgruppe. In der Abstimmung im LIBE-Ausschuss wurden zudem auch mehrere Einwände gegen die Angleichung der beiden Schutzstatute abgelehnt. In der neuesten Fassung ist die Forderung nach deren Angleichung mithin weiterhin enthalten. Das begrüßen und unterstützen wir. Was den Antrag der Fraktion Die Linke anbelangt, so enthält er neben Forderungen zu der Anerkennungsrichtlinie auch noch Forderungen nach einer Neufassung des Dublin-II-Systems und eines Systems zur gerechten Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas. Diese Forderungen sind im Kern richtig und berechtigt, und auch wir suchen nach Möglichkeiten, die bestehenden Systeme vor allem im Interesse der Flüchtlinge zu verbessern. Wie konkret allerdings solche Systeme ausgestaltet sein sollen, dazu sagt der Antrag der Linken nichts. Wir sind jedoch bereits jetzt schon dabei, konkrete Vorstellungen zu diesen Themen zu entwickeln. Darüber würden wir uns in Zukunft gerne noch einmal unterhalten. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Antrag der Linken enthält die übliche Forderung der Linken: Reisefreiheit für illegale Migranten. Es mag ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungsbedarf auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem geben. Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie ist jedoch ebensowenig ein ernstzunehmender Vorschlag wie die Auflösung von FRONTEX. Die Abschiebehaft ist - bei aller Notwendigkeit, sich die Bedingungen hierzu nochmals genau anzusehen - legitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu gewährleisten und damit ein leider notwendiges Instrument im Rahmen des Vollzugs des demokratisch zustande gekommenen Aufenthaltsrechts. Die Abschaffung der EU-Rückführungs-RL ist kontraproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststandards für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden sind. Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforderung nicht mehr, sondern sogar weniger Rechte für die Betroffenen. Der Linke-Populismus schadet den Schwächsten in der Migrationspolitik. Nicht zuletzt der Verhältnisse in Griechenland, des Urteils des EGMR und der Beschlüsse des BVerfG zu Dublin wegen muss man über das System nachdenken. Aber man muss betonen, dass die Bundesregierung sehr verantwortungsvoll mit dem Mechanismus umgeht: Für ein Jahr sind nun Rückführungen ausgesetzt; bereits im letzten Jahr sind nur 50 Personen nach Griechenland zurückgeschoben worden, beim Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig können auch Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden, wenn sie die Standards nicht einhalten: Der Druck muss aufrechterhalten bleiben. Konkrete Hilfe hat die Bundesregierung für die griechischen Behörden auch angeboten; hinsichtlich der menschenwürdigen und schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten. Die Grenzschutzagentur FRONTEX aufzulösen, ist auch so eine typische Forderung von offenkundig unterbeschäftigten Abgeordneten der Oppositionsfraktion auf der Suche nach dem verlorenen Kommunismus. Die Abschaffung von FRONTEX ist nicht sinnvoll, sondern geradezu rückwärtsgewandt: Es ist richtig, dass angesichts des gemeinsamen Binnenraums über FRONTEX die Einsätze koordiniert werden. Vorfälle auf dem Mittelmeer etwa müssen rückhaltlos aufgeklärt werden; rechtsstaatliche und völkerrechtliche Unsicherheiten werden angegangen werden. Auch hat es in den letzten Jahren viele Verbesserungen bei FRONTEX gegeben. Jedenfalls hat aber Europa und der Welt eine "Europäische Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Aufnahme von Flüchtlingen" gerade noch gefehlt. Die FDP ist der Meinung: Illegale Migration darf nicht verharmlost werden. Sie stellt ein Problem dar. Die Linken wollen am liebsten Tür und Tor für alle öffnen. Das ist sicherlich kein gangbarer Weg. Der Antrag der Grünen kommt da schon seriöser daher. Deutschkurse etwa auf subsidiär Schutzbedürftige auszuweiten, ist in der Sache durchaus eine begründbare Idee, allerdings müssen wir auch sehen, was finanzierbar ist - nicht nur im Blick auf die Quantität, sondern auch die Legitimität der eingesetzten Mittel. Die Integrationskurse müssen vor allem den Menschen offenstehen, die tatsächlich dauerhaft oder zumindest längerfristig in Deutschland bleiben. Die FDP wird die Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv begleiten. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 21. Januar ein Urteil gegen Belgien gefällt, das auch Deutschland und die ganze EU betrifft. Dem Gericht zufolge hätte Belgien einen Asylsuchenden nicht nach Griechenland zurückschicken dürfen, weil ihm dort unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohten. Auch den fehlenden Rechtsschutz gegen die Abschiebung hat der Gerichtshof als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. Dieses Urteil ist ein Urteil über die gesamte Asylpolitik der EU und die Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland dabei spielt. Grundlage des Vorgehens der belgischen Behörden ist das sogenannte Dublin-System. Demnach müssen Asylsuchende ihr Asylverfahren in dem Staat betreiben, in dem sie ihren Fuß zuerst auf EU-Territorium gesetzt haben. Kern dieses Systems ist die Drittstaatenregelung, wie sie 1993 im sogenannten Asylkompromiss in Deutschland festgelegt wurde. Wer über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist, dessen Antrag gilt als unbeachtlich. Der oder die Betroffene wird in jenen vermeintlich sicheren Drittstaat zurückgeschoben, aus dem er oder sie gekommen ist. Um diese Asylbewerber auch wirklich schnell wieder loszuwerden, hat sich eine Große Koalition aus Union, SPD und FDP damals noch einen weiteren Kniff einfallen lassen. Die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Abschiebung wurde abgeschafft. Es ist der einzige Fall, in dem im deutschen Verfahrensrecht kein wirksamer Rechtsschutz gegen eine Behördenentscheidung möglich ist. Mit dem Dublin-System wurde daraus EU-Recht. Dieses System ermöglicht die organisierte Flucht aus der Verantwortung für Schutzsuchende und Flüchtlinge. Ein Kommentar in der "Süddeutschen Zeitung" vom 22. Januar 2011 unter der Überschrift "Enthüllendes Urteil" hat dies auf den Punkt gebracht. Ich zitiere: "Das gegenwärtige System dient vor allem einem Zweck: einigen großen Staaten wie Deutschland möglichst alle Asylbewerber vom Hals zu halten - auf Kosten der Flüchtlinge und der am Rand der EU liegenden Staaten, die sich kaum noch zu helfen wissen." Es sind diese Staaten wie Griechenland, die sich überlastet sehen und schon allein deshalb die Standards des Flüchtlingsrechts nicht einhalten. Eine weitere Runde in der Harmonisierung des Asylrechts in der EU muss daher zwingend mit einer grundlegenden Reform einhergehen. Das Verhalten der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ist jedoch beschämend. Sie blockiert jede Initiative, die das Aufweichen der starren Dublin-Regelungen vorsieht. Sie torpediert Richtlinienentwürfe, die den Status und die Rechte von Schutzsuchenden und Flüchtlingen verbessern könnten. Sie wirkt stattdessen an der Abschottung der Festung Europa mit, die jährlich ungezählte Todesopfer fordert. Ein frappierendes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist die Teilnahme am Einsatz der Grenzschutzagentur FRONTEX an der türkisch-griechischen Landgrenze. Ihre Aufgabe dort ist unter anderem, die Flüchtlinge an der Grenze abzufangen und in die griechischen Aufnahmelager und Abschiebeknäste zu bringen. Genau diese Einrichtungen sind es, auf die das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zielt. Die Unterbringung der Flüchtlinge dort ist unmenschlich und erniedrigend. Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich endlich für einen effektiven Flüchtlingsschutz auf EU-Ebene einzusetzen, der den Bedürfnissen der Flüchtlinge wie den Aufnahmekapazitäten der EU-Staaten gerecht wird. Die Abschottungsagentur FRONTEX muss endlich aufgelöst werden. Sie ist Sinnbild einer Politik, die Flüchtlinge zu illegalen Migrantinnen und Migranten erklärt und mit polizeilichen und militärischen Mitteln bekämpft. Wir feiern in diesem Jahr das 60-jährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention. Dies muss sich endlich auch in der deutschen und der europäischen Flüchtlingspolitik niederschlagen. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Dezember hat Bundesinnenminister de Maizière nun endlich die Katze aus dem Sack gelassen: Gemeinsam mit anderen konservativen Innenministern und der EVP-Fraktion hat er das Positionspapier "Perspektiven des EU-Asylsystems" vorgestellt. Anstatt Perspektiven für ein längst überfälliges, qualitativ besseres Asylsystem in der EU zu entwerfen, haben wir es hier mit einem echten Rollback zu tun. Es geht nämlich in dem Papier nahezu ausschließlich darum, wie eine weitere Harmonisierung des Flüchtlingsschutzes verhindert werden kann. Mittlerweile wird Flüchtlingsschutz nur noch von der Haushaltslage der europäischen Nationalstaaten abhängig gemacht; die Einhaltung universaler Menschenrechte ist zweitrangig. Nicht anders ist zu erklären, dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesinnenministerium, Ole Schröder, das Positionspapier auf einer parteilichen Pressekonferenz der EVP mit der zentralen Aussage vorstellte, dass man sich Verbesserungen im Flüchtlingsschutz derzeit einfach nicht leisten könne. Im Einzelnen begrüßt die Bundesregierung den Abbruch der Neuverhandlungen der Asylverfahrensrichtlinie und der Richtlinie über Aufnahmebedingungen für Asylbewerber. Beides hat sie durch ihre Blockade im Rat mitzuverantworten. Damit macht sie deutlich, dass ihr an Fortschritten beim EU-Flüchtlingsschutzes nicht gelegen ist. Im Gegenteil: Sie versucht, mit ihren konservativen europäischen Kollegen den politischen Kampfbegriff des Asylmissbrauchs wieder salonfähig zu machen. Das ist angesichts der Menschenrechtslage in den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge mehr als zynisch. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem liberalen Koalitionspartner, der - wenn er es mit liberalen Grundsätzen im Bereich der Flüchtlingspolitik ernst meint - unmittelbar einschreiten müsste. Es gibt an dieser Stelle zwei Vermutungen. Erstens. Die FDP ist über die neue Marschroute von de Maizière gar nicht unterrichtet worden. Zweitens. Die Koalitionsdisziplin hat gegriffen, und die FDP ist verstummt. Beides wäre fatal. Denn interessanterweise gab es auf europäischer Ebene durchaus liberale Stimmen, die das Vorgehen der Konservativen kritisiert haben. Nadja Hirsch, die integrationspolitische Sprecherin der Liberalen im Europäischen Parlament, bezeichnete den "Versuch der Konservativen, ein gemeinsames EU-Asylsystem auszuhebeln" als "unverantwortlich und verlogen". Bedauerlich, dass sie mit dieser Stimme nicht weiter in die Nationalstaaten vorgedrungen ist. Vollkommen unverständlich ist weiterhin, wie die Bundesregierung ihre eigene Beschlusslage konterkariert: Bereits beschlossene Reformanliegen, denen sie noch vor etwa einem Jahr zusammen mit allen anderen EU-Mitgliedstaaten zugestimmt hat, werden damit wieder ausgehebelt. Im Stockholmer Programm erinnerte der Europäische Rat an die Notwendigkeit, die Rechte von subsidiär geschützten Personen an die von Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anzugleichen. Dies wurde nicht erst dort, sondern seit dem Haager Programm 2004 in unterschiedlichen Beschlüssen des Europäischen Rats immer wieder betont. Mittlerweile erscheint das Ziel, die Reform bis 2012 umgesetzt zu haben, allerdings in weite Ferne gerückt zu sein, da neben Tschechien Deutschland als einziger Mitgliedstaat eine Schutzangleichung im Rat komplett blockiert. Zu Ihrer Erinnerung: Derzeit leben knapp 26 000 subsidiär geschützten Personen in Deutschland. Bei diesen Menschen haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder Verwaltungsgerichte festgestellt, dass ihnen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter, Todesstrafe oder andere gravierende Menschenrechtsverletzungen drohen. Dies wird sich so schnell nicht ändern. Daher ist davon auszugehen, dass diese Menschen dauerhaft in Deutschland leben werden. Es ist integrationspolitisch völlig unbegreiflich, dass sie bisher mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz in Deutschland - anders als anerkannte Flüchtlinge - weder einen Anspruch auf einen Integrationskurs noch einen Anspruch auf Erlaubnis einer Erwerbstätigkeit haben. Subsidiär geschützte Personen erhalten Kinder- und Erziehungsgeld erst nach drei Jahren bzw. BAföG-Leistungen sogar erst nach mindestens vier Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in Deutschland. Warum wehrt sich die deutsche Bundesregierung in Brüssel mit Händen und Füßen dagegen, subsidiär geschützte Personen künftig ebenso wie anerkannte Flüchtlinge zu behandeln? Wir fordern Sie, Herr Bundesinnenminister, mit dem vorliegenden Antrag auf: Kehren Sie zur gemeinsamen Beschlusslage der EU zurück. Diese Menschen müssen endlich einen Anspruch auf einen Integrationskurs, uneingeschränkte Sozialhilfe, medizinische Betreuung und gleichberechtigten Zugang zu Wohnraum, beschäftigungsbezogenen Bildungsangeboten sowie berufsbildenden Maßnahmen erhalten. Mit Ihrer Politik verschließen Sie nicht nur vor der Ungleichbehandlung von bleibeberechtigten Flüchtlingen in Deutschland die Augen. Auch europapolitisch ist Ihr Vorgehen fatal. Für einen europäischen Asyl- und Flüchtlingsschutz, der diesen Namen auch verdient hat, muss die Bundesregierung zwei Maßgaben beachten, die sie beide im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, findet. Sie muss dem Grundsatz der Solidarität gemäß Art. 80 AEUV endlich zustimmen und so eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen unter den EU-Mitgliedstaaten gewähren. Das wäre für die EU-Randstaaten wie Griechenland oder Italien dringend notwendig. Zu einer verantwortungsvollen Politik gehören einheitliche Schutzstandards und Verfahrensrechte auf hohem Niveau in ganz Europa. Deshalb fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf, ihre Vorbehalte gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene Schutzangleichung aufzugeben. Nur damit kann sie sich an die Vorgaben des Stockholmer Programms halten, in denen es heißt, bis spätestens 2012 gemäß Art. 78 AEUV "ein gemeinsames Asylverfahren und einen einheitlichen Status für Personen, denen Asyl oder subsidiärer Schutz gewährt wird, zu schaffen". Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, diesen Grundsatz bei anstehenden Gesetzgebungsverfahren auf nationaler Ebene zu berücksichtigen und umzusetzen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4439 und 17/4679 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 19: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im Patentrecht starten - Drucksachen 17/1052, 17/4725 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth Marianne Schieder (Schwandorf) Stephan Thomae Jens Petermann Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion der SPD wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auf europäischer Ebene für die Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht einzusetzen. Hierdurch soll dem Bedürfnis Rechnung getragen werden, dass die Wissen-schaft ihre gewonnenen Erkenntnisse frühzeitig veröffentlichen kann, um im internationalen Forschungswettbewerb bestehen zu können, ohne eine mögliche spätere Patentierbarkeit zu gefährden. Diese Forderung ist nicht neu. Die Diskussion darüber, ob auch in das deutsche und europäische Patentrecht die Neuheitsschonfrist aufgenommen werden sollte, begegnet uns seit den 1980er-Jahren in regelmäßigen Abständen. Der Deutsche Bundestag hat sich bereits mehrfach auf Initiative von fast allen im Bundestag vertretenen Fraktionen mit dieser Frage auseinandergesetzt. Bei der Einführung einer Neuheitsschonfrist handelt es sich um eine facettenreiche Thematik, bei der die Vor- und Nachteile einer besonders sorgfältigen Abwägung bedürfen und deren Beurteilung entscheidend von ihrer näheren Ausgestaltung abhängt. Der von der SPD vorgelegte Antrag geht jedoch auf zahlreiche Fragen, denen im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung entscheidende Bedeutung zukommt, nicht ein. Dies gilt zum Beispiel für die genaue Ausgestaltung einer Neuheitsschonfrist. Der Antrag der SPD-Fraktion lässt auch den Personenkreis offen, der in den Genuss der Neuheitsschonfrist kommen soll. Dies betrifft namentlich etwa die Frage von Vorveröffentlichungen, die nur mittelbar auf den Erfinder zurückgehen. Darüber hinaus berücksichtigt der vorgelegte Antrag nicht hinreichend, dass eine Neuheitsschonfrist - wenn man sie einführen wollte - sinnvollerweise nicht nur auf europäischer, sondern auch auf internationaler Ebene einheitlich ausgestaltet werden sollte. Der vorliegende Antrag ist daher schon aus diesen Gründen nicht zustimmungsfähig. René Röspel (SPD): Die Geschichte des Einsatzes für die Einführung einer Neuheitsschonfrist liest sich ein wenig wie der bekannte Kampf gegen Windmühlen. Die Bundesregierung vermittelt zwar den Eindruck, sie stehe einer solchen Einführung positiv gegenüber; gleichzeitig sehen Parlament und Öffentlichkeit jedoch keinerlei Bewegung in dieser Sache. Uns allen ist klar: Wir brauchen ein innovations- und forschungsfreundliches Patent- und Urheberrecht. Patente sind ein zentraler Bestandteil des Wissens- und Technologietransfers, auch wenn sich die Reform von Teilen des Patentrechts möglicherweise nicht so öffentlichkeitswirksam und attraktiv in der Öffentlichkeit darstellen lässt wie andere Projekte. Der Deutsche Bundestag hat sich dennoch wiederholt mit dem Plan zur Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht auseinandergesetzt. Worum geht es hierbei? Wissenschaft und Forschung in Deutschland stehen durch das Nichtvorhandensein einer Neuheitsschonfrist vor einem grundlegenden Dilemma. Auf der einen Seite müssen sie Erkenntnisse zügig publizieren, um im internationalen Forschungswettbewerb zu bestehen und um ihre Exzellenz nachzuweisen. Auf der anderen Seite steht häufig jedoch auch der Wunsch nach einer ökonomischen Verwertung der eigenen Erfindung, der aber zurzeit mit der Notwendigkeit der Geheimhaltung einhergeht. Im Zuge einer solchen Patentanmeldung sind Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen, und nicht selten ergibt sich das konkrete Verwertungspotenzial erst nach Austausch im Kollegenkreis. Die Bearbeitungszeit für einen Patentantrag verzögert den wissenschaftlichen Austausch, und die Angst vor einem Verlust des Rechts zur Patentanmeldung behindert den offenen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaftlergemeinde sowie mit Unternehmen und Investoren. Eine Neuheitsschonfrist würde sicherstellen, dass dem Erfinder eine gewisse Zeit - wir als SPD fordern eine Frist von einem Jahr unter Verweis auf internationale Erfahrungen - zur Verfügung steht, in der der Erfinder seine Erfindung bereits publik machen kann, ohne dass dies einer späteren Patentanmeldung entgegen stehen würde. Was jeder Beobachterin und jedem Beobachter auf den ersten Blick als schlüssiges Konzept erscheint, findet bis heute in unserem Patentrecht keine Berücksichtigung. Während andere Länder bereits seit Jahren erfolgreich auf das Instrument Neuheitsschonfrist setzen, hat sich in Deutschland unter Federführung von Bundesforschungsministerin Schavan im Bereich Patentrecht für Wissenschaft und Forschung jedoch nichts getan. Dabei hat sich der Deutsche Bundestag bereits im Mai 2006 klar für die Einführung einer Neuheitsschonfrist ausgesprochen. Auf Initiative der SPD hatten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit der Drucksache 16/1546 die Bundesregierung aufgefordert, die Bemühungen zur Einführung einer Neuheitsschonfrist zu intensivieren. Auch die FDP hatte in Oppositionszeiten auf Drucksache 14/9567 vom Juni 2002 die Einführung einer Neuheitsschonfrist gefordert. Zu Regierungszeiten haben beide Fraktionen offenkundig ihre Forderungen von damals vergessen. Wenn die Regierungsfraktionen nun - absehbar - unseren Antrag ablehnen werden, so ist dies kein guter Tag für ein innovationsfreundliches und Forschung förderndes Patentrecht. Nun mag man den Regierungsfraktionen zugute halten, dass sie unseren Antrag ablehnen, da wir uns in der Opposition befinden. Dabei ist unser Antrag bewusst so angelegt, dass wir nicht die - unrealistische - Forderung nach einer sofortigen Festschreibung der Neuheitsschonfrist aufstellen - so wünschenswert dies auch wäre -, sondern ja eher zurückhaltend formulieren. Wir fordern die Bundesregierung lediglich auf, in dieser Sache endlich sichtbar aktiv zu werden. Außerdem soll die die Bundesregierung dem Bundestag Vorschläge unterbreiten, wie man das nationale und internationale Patentwesen zur Stärkung von Wissenschaft und Forschung verbessern - sprich: reformieren - könnte. Auch die verbesserte Ausstattung des Deutschen Patent- und Markenamtes sowie des Europäischen Patentamtes sollte eigentlich unstrittig sein. Ohne unseren Antrag wäre dieses Thema jedoch seit Beginn der schwarz-gelben Koalition vollkommen unter den Tisch gefallen. Wir fordern Sie auf: Beenden sie die Sonntagsreden von abstrakten Hightech-Strategie-Plänen und die Märchengeschichten über eine angeblich irgendwann einmal anstehende steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung. Sehen sie sich stattdessen konkret an, woran es der deutschen Wissenschaft und Forschung fehlt. Unsere Defizite liegen nicht in der geringen Zahl von bunten Broschüren über Wettbewerbe, Strategien und Rahmenprogramme; wir haben vielmehr sehr konkrete Herausforderungen etwa im Patentrecht oder auch im Urheberrecht, über das wir hier bald diskutieren werden. Schauen Sie noch einmal in das Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit 2009 der Expertenkommission "Forschung und Innovation". Hier finden Sie die Probleme, die die Regierung zügig angehen sollte, und die Neuheitsschonfrist ist hier eines, es jedoch ein besonders wichtiges Beispiel. Auch wenn Sie heute - absehbar - allein aus koalitionspolitischen Gründen unseren Antrag ablehnen werden: Drängen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, ihre Ministerinnen und Minister zu einer Umsetzung unserer Forderungen. Wir geben das Copyright für unsere Pläne gerne an Sie ab, wenn Sie endlich aktiv werden, um die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes in Wissenschaft und Forschung im Bereich Patentrecht zu verbessern. Stephan Thomae (FDP): Heute diskutieren wir den Antrag der SPD, mit dem sie eine "Initiative für eine Neuheitsschonfrist im Patentrecht" starten will. Die Mitglieder dieses Hohen Hauses haben über die Frage, ob im deutschen Patentrecht wieder eine Neuheitsschonfrist eingeführt werden soll, in der Vergangenheit mehrfach debattiert. Die Ini-tiativen dazu kamen aus unterschiedlichen Fraktionen. In der 14. Wahlperiode war es die FDP, die sich "für ein effizientes, kostengünstiges und konkurrenzfähiges europäisches Gemeinschaftsrecht mit Neuheitsschonfrist" einsetzte. Die Fraktionsparteien der großen Koalition hatten im Jahr 2006 einen Antrag eingereicht, der die Bundesregierung aufforderte, die Bemühungen um die Einführung einer Neuheitsschonfrist im Patentrecht auf internationaler Ebene zu intensivieren. Diese Anträge blieben bislang ohne erkennbaren Erfolg. Selbst der Antrag der Regierungsfraktionen aus dem Jahr 2006 konnte die damalige Regierung nicht dazu bewegen, die Neuheitsschonfrist im deutschen Patentrecht wieder einzuführen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Für und Wider einer Neuheitsschonfrist. Die Befürworter der Neuheitsschonfrist, und so auch der Antrag der SPD, erhoffen sich in erster Linie, dass die Neuheitsschonfrist den Forscherinnen und Forschern mehr Zeit einräumt. Diese soll es den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ermöglichen, sich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen, um so zu noch besseren Ergebnissen zu kommen. Gleichzeitig könnten nach Vorstellung der SPD in der gewonnenen Zeit auch Gespräche mit Unternehmen und Investoren geführt werden, die eine möglichst erfolgreiche Verwertung der Erfindung zum Ziel haben. So die Theorie hinter dem Antrag der SPD. Aber brauchen wir das in der Praxis? Mögliche Geschäftspartner und Investoren kann man zur Verschwiegenheit verpflichten. Dadurch wäre die für eine Patentanmeldung erforderliche Voraussetzung, dass die Erfindung noch nicht veröffentlicht ist, gewährleistet. Darüber hinaus sind die meisten Wissenschaftler bereits heute gut über das Patentrecht informiert. Oftmals verfügen Universitäten und Forschungseinrichtungen über eigene oder mit Partnerinstitutionen betriebene Patentverwertungsabteilungen. Die betroffenen Forscher wissen also, wie wichtig es ist, ihr Patent anzumelden, bevor sie es veröffentlichen. Neben den unbestrittenen Vorteilen bringt eine Neuheitsschonfrist auch erhebliche Nachteile mit sich. Sie erhöht die Rechtsunsicherheit, da für die Beteiligten nicht von vornherein klar ist, ob eine Veröffentlichung bereits als "Stand der Technik" von allen genutzt werden kann oder später rückwirkend für eine Patentanmeldung in Anspruch genommen wird. Die Rechtsunsicherheit hat weitere Folgen: Die Verfahren zur Anmeldung von Patenten werden komplexer, da noch umfassender geprüft werden muss, was noch als "nicht veröffentlicht" angesehen werden kann oder was gegebenenfalls der Neuheitsschonfrist unterfällt. Besonders kompliziert kann dies bei Folgepublikationen werden, die erst durch vorherige Veröffentlichungen ausgelöst wurden. Diese Rechtsunsicherheit macht das Patent nicht nur streitanfälliger, sie mindert auch die Bereitschaft, in patentträchtige Forschungsbereiche zu investieren und aktiv zu werden. Dies schadet letztlich nicht nur der Forschung, sondern auch der Allgemeinheit. Aus diesem Grund wird eine Neuheitsschonfrist von großen Teilen der deutschen Industrie mit guten Gründen abgelehnt. Wir wollen die Tür hier aber nicht ganz zumachen. Die Einführung einer Neuheitsschonfrist in das europäi-sche Patentrecht wäre im Rahmen einer internationalen Patentrechtsharmonisierung denkbar. Dies würde jedoch voraussetzen, dass mit anderen großen Patentna-tionen, insbesondere den USA, in zentralen Fragen Konsens erzielt werden kann. Hierzu zählen vor allem die Einführung des Erstanmelderprinzips und die Offenlegung aller Patente nach 18 Monaten. Gegenwärtig ist eine Annäherung der USA an Europa in diesen Punkten aber nicht zu erkennen; entsprechende Verhandlungen liegen auf Eis. Solange aber eine internationale Lösung, die auch von den USA mitgetragen wird, nicht absehbar ist, überwiegen die Nachteile, die eine Neuheitsschonfrist im Patentrecht auf europäischer Ebene mit sich bringen würde. Der Antrag ist daher abzulehnen. Jens Petermann (DIE LINKE): Die SPD fordert die Bundesregierung auf, eine Initiative für eine Neuheitsschonfrist von bis zu einem Jahr im europäischen Patentrecht zu starten. Ziel ist es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse eine Frist einzuräumen, innerhalb derer diese Ergebnisse patentiert werden können. Bisher stehen sie hierzulande vor der Entscheidung, entweder zu publizieren oder zu patentieren. Die Erfahrungen aus den USA zeigen, dass eine solche Schonfrist dazu beiträgt, einerseits die Zahl der Publikationen zu erhöhen und andererseits die Qualität der Patente durch entsprechende Transparenz zu verbessern. Im Moment ist es so, dass jede Erfindungsidee, die vor ihrer Anmeldung beim Patentamt schon öffentlich gemacht wurde, nicht mehr patentiert werden kann. Öffentlich gemacht ist eine Erfindung dann, wenn sie außerhalb des Betriebes in einem Probelauf auf ihre Entwicklungsreife hin getestet wurde oder wenn über sie ein wissenschaftlicher Austausch stattgefunden hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gezwungen abzuwägen: Einerseits müssen sie ihre Forschungsergebnisse zeitnah publizieren, um im internationalen Forschungswettlauf mitzuhalten und Reputation zu erwerben. Auf der anderen Seite wird dadurch eine ökonomische Verwertung der eigenen Erfindung ausgeschlossen, da vor einer Patentanmeldung die Geheimhaltung der Erfindung verlangt wird. Mit diesem Konflikt hatten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im deutschen Patentrecht nicht immer zu kämpfen. Denn bis zum Ende der 70er-Jahre gab es in Deutschland eine sechsmonatige Neuheitsschonfrist. Diese wurde jedoch im Zuge des Straßburger und des Europäischen Patent-übereinkommens 1978/1979 abgeschafft. Eine Wiedereinführung der Neuheitsschonfrist allein in Deutschland würde aber eine deutsche Patentanmeldung im Vergleich zu Anmeldungen aus konkurrierenden Staaten schwächen. Deshalb ist es geboten, die Neuheitsschonfrist im europäischen Patentrecht zu verankern. Meine Fraktion kann dem Anliegen der Sozialdemokraten zustimmen, jedoch nicht ohne einige kritische Anmerkungen zum Beschlusstext gemacht zu haben. Es ist richtig, dass die derzeitige Regelung, welche eine Geheimhaltung von Forschungsergebnissen bis zu einer möglichen Patentierung verlangt, niemandem hilft. Eine Öffnung ist hier geboten, um praktische Hindernisse zur Vereinbarung von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen an Forschungsergebnissen aus dem Weg zu räumen. Anders als die SPD hier proklamiert, kann es aber nicht vor allem darum gehen, die Zahl der Patente endlos auszuweiten. Dies widerspräche dem Ziel, hochqualitative und sinnvolle Patente zu fördern. Aus unserer Sicht muss Ziel der vorgeschlagenen Regelung vielmehr sein, Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit nicht vorzuenthalten. Forscherinnen und Forscher müssen publizieren können, ohne Rücksicht auf eventuelle Patentierungsmöglichkeiten zu nehmen. Häufig ergeben sich mögliche Verwertungskanäle auch erst nach einer Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Patente und ihre Durchsetzung haben jedoch inzwischen auch Dimensionen erreicht, in denen sie innovationsfeindlich wirken oder an ethische Grenzen stoßen - etwa im Bereich der Computersoftware, der Biomedizin oder der Medikamentenherstellung. Die Linke setzt sich dafür ein, dass im Zuge der im Antrag geforderten Neugestaltung des Patentsystems auch diese Grenzen der Ansammlung von geistigem Eigentum mitbedacht werden. Wir brauchen klare Regelungen, was alles nicht zu patentieren ist. Wir wollen eine klare Durchsetzung des Verbotes von Patenten auf Leben - etwa Pflanzenarten, Gene oder Saatgut. Keine Firma darf sich unsere Lebensgrundlagen aneignen. Wir wollen eine faire und gerechte Patentierung von medizinischer Forschung, damit mit öffentlichen Geldern finanzierte Neuheiten auch denjenigen in armen Ländern zugute kommen, die keine Kaufkraft, dafür aber umso mehr Gesundheitsprobleme haben. Wir brauchen keine weltweite Patentpolizei, wie sie im Rahmen des ACTA-Abkommens installiert wird, sondern eine Kultur der Open Innovation. Der Kampf gegen den Klimawandel ist nutzlos, wenn Umwelttechnologien aus Deutschland außerhalb der G-8-Staaten nirgendwo erschwinglich sind. Wissen sollte stärker ein Gemeingut werden. Vorschläge dazu lässt die SPD vermissen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei der Behandlung des Themas Neuheitsschonfrist fällt sofort auf: Die Forderung nach der Einführung einer Neuheitsschonfrist wird heute zum wiederholten Male in diesem Hause behandelt. In der Wissenschaft werden entsprechende Forderungen seit den 80er-Jahren erhoben. Forderungen nach der Einführung sind von einem auffälligen parteiübergreifenden Konsens geprägt. Zuletzt hat etwa die schwarz-rote Koalition 2006 dieselbe Forderung erhoben. Das gibt zu denken. Nicht, dass Konsens etwas Schlechtes wäre! Offenbar handelt es sich um eine mit einfachen Argumenten kaum von der Hand zu weisende Forderung. Zu denken aber gibt, dass sich bis heute keine Bundesregierung offiziell den Schuh hat anziehen wollen, die entsprechende Neuheitsschonfrist durchzusetzen. Das müssen wir näher diskutieren. Zunächst aber lassen Sie mich kurz zusammenfassen, weshalb sich die Wiedereinführung der Neuheitsschonfrist aufzudrängen scheint. In der Sache geht es um eine Effektivierung der Ziele des Patentrechts. Es dient dem Fortschritt der Technik durch Förderung technischer Erfindungen. Es verleiht Monopole auf Zeit für den Aufweis und geschickten Nachvollzug in der Natur anzutreffender technischer Regeln, die zur Konstruktion innovativer Technologien beitragen können. Die staatliche Gewährung dieser Rechte soll damit einen Ansporn für oft kostenträchtige Investitionen in Forschung liefern und ist damit ein Teil der Forschungs- und Technologiepolitik, die auf laufende verwertbare Innovationen als Motor der Wirtschaft abzielt. Die Neuheitsschonfrist kann mittelbar auch Anreize für den notwendigen Ausbau des Wissenstransfers zwischen öffentlichen Forschungseinrichtungen und Industrie schaffen. Das vorübergehende Ausschließlichkeitsrecht an der Verwertung der Erfindung verspricht einen Return on Investment insbesondere hinsichtlich der getätigten Investitionen und zählt damit zu einem Kranz möglicher Marktanreize. Übrigens unterscheidet es sich in seinem Ausgangspunkt des Nachvollzuges der technischen Regel deutlich vom Urheberrecht, bei dem - gut kontinentaleuropäisch - der "kreative schöpferische Geistesblitz" zur Schutzanknüpfung konstruiert wird. Forschung erfolgt auch und gerade im Hochschulbereich, nicht nur in den Forschungsabteilungen von Unternehmen. Will man auch hier die Patentanmeldungen steigern, kommt es zu einem Zielkonflikt. Denn öffentliche Hochschuleinrichtungen ticken anders als die Industrie. Die Finanzierung dort wird nicht unmittelbar selbst erwirtschaftet, sondern stammt aus öffentlichen Mitteln sowie etwa aus Drittmitteln. Der Erfolg von Forschungseinrichtungen bemisst sich nach wie vor nicht danach, ob man selbst die Ergebnisse der Forschung einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit zuführt, sondern nach anderen Faktoren wie etwa dem ausgewählten Forschungsfeld, der Qualität und vielen mehr. Der Zeitfaktor spielt sowohl in der Industrie als auch in der öffentlich finanzierten Forschung eine ganz entscheidende Rolle. Für öffentliche Forschungseinrichtungen verbindet sich mit dem Erfolg, als erster durch das Ziel zu gehen, der Ertrag symbolischen Kapitals. Wer zuerst kommt, oft in einem internationalen Wettbewerb, gilt als exzellent, erhält die größten Zuwendungen und zieht die besten Köpfe an. Als Nachweis des Zieldurchlaufes dient in erster Linie die Veröffentlichung der Ergebnisse, die Sicherung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ist nach wie vor zumeist nachrangig. Nach geltendem Patentrecht hat das erhebliche Konsequenzen. Wer veröffentlicht, verliert damit zumeist die Möglichkeit des Erwerbs von Patentrechten. Denn die Erfindung gilt damit nicht mehr als "neu" im Sinne des Gesetzes. Sie übertrifft nicht mehr den Stand der Technik, denn sie ist bereits in der Welt und definiert diesen Stand bereits selbst mit. Damit führt das gegenwärtige Patentrecht insbesondere im Hochschulbereich zu einer misslichen Weichenstellung des Entweder-Oder: Veröffentlichung oder Geheimhaltung. Nur wer die Ergebnisse bis zur Patentierungsreife und Patentanmeldung geheimhält, erhält sich die Chance zur Erlangung des vorübergehenden Monopols der wirtschaftlichen Verwertung. Offenbar entscheidet sich die Praxis nach wie vor und überwiegend für die Veröffentlichung. Mit einer Neuheitsschonfrist, wie wir sie im deutschen Recht nur aus § 3 Abs. 1 des Gebrauchsmustergesetzes kennen, wird der Erfinder von den patentrechtlich negativen Folgen von (Vor-)Veröffentlichungen für einen gewissen Zeitraum, zumeist nicht länger als ein Jahr, verschont. Er kann deshalb sowohl Forschungsergebnisse rasch veröffentlichen und damit symbolisches Kapital einstreichen, als auch zugleich an der wirtschaftlichen Verwertung weiterarbeiten. Doch auch die Anzahl angemeldeter Patente vermag es, ein entsprechendes Ansehen zu erzeugen. Die häufig zitierte Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Neuheitsschonfrist aus dem Jahre 2002 setzt sich mit der Praxis dieses Instrumentes in den USA auseinander und befragt deutsche Einrichtungen nach ihren Patentierungsaktivitäten. Sie belegt eine erhebliche Notwendigkeit für eine angemessene Schutzfrist, die sich ergibt, weil sich die Patentierungsreife der Erfindung zeitlich oft erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem der möglichen Erstveröffentlichung ergibt. Auch - vermeidbare - Gründe wie zu hohe Kosten oder der Arbeitsaufwand werden angeführt, die eine Schonfrist rechtfertigen könnten. Zu denken gibt die Studie damit allerdings noch in ganz anderer Hinsicht. Wenn patentinaktive Wissenschaftler darüber klagen, dass ihnen Informationen zu ihren Patentierungsmöglichkeiten fehlen, und selbst die patentaktiven Forscher über Nichtanmeldungen aufgrund des Arbeitsaufwandes oder der Kosten klagen, so bewegt man sich im hochschulpolitischen Feld der Wirksamkeit der Transferstellen, die bei der Patentierung behilflich sein sollen. Wer also patentpolitisch steuert, muss sich über die Grenzen des Erreichbaren Rechenschaft ablegen. Man muss sehen, dass es mit einer wissenschafts- und forschungsfreundlichen Patentrechtsreform nicht getan ist, sondern dass auf unterschiedlichen Ebenen das Umfeld der Hochschule mitbetrachtet werden muss, wenn mehr Patentanmeldungen das Ziel sind. Bei alledem ist für uns Grüne selbstverständlich, dass sich der Erfolg wissenschaftlicher Arbeit nicht allein nach der wirtschaftlichen Verwertbarkeit bemessen kann. Diskussionswürdig und aus unserer Sicht noch weiterer Begründung bedürftig ist die Dauer der Schonfrist. Die Bemessung muss im Hinblick auf die Ungewissheit der Verwertbarkeit abgewogen werden. Denn wird sie ohne weitere Anpassung im Patentrecht eingeführt, führt sie unter dem Strich zu einer Verlängerung der Gesamtdauer, für die Unklarheit darüber besteht, ob Veröffentlichungen wirtschaftlich genutzt werden können. Vieles spricht deshalb dafür, gegebenenfalls kompensatorisch Anpassungen vorzunehmen, mit denen sichergestellt wird, dass durch die Neuheitsschonfrist die derzeitige 18-monatige Offenlegungsfrist für Patenanmeldungen in der Summe keine Verlängerung erfährt. Der vorliegende Antrag der SPD regt ferner eine Neuheitsschonfrist von einem Jahr im europäischen Patentübereinkommen an. Wir kennen eine Regelung der Neuheitsschonfrist im Gebrauchsmusterrecht, die zunächst mit einer Frist von sechs Monaten begann und nach ersten Erfahrungen auf insgesamt ein Jahr verlängert wurde. Entsprechend wäre zu überlegen, ob ein ähnlich vorsichtiges, schrittweises Vorgehen auch bei einer Einführung im Patentrecht ratsam wäre. Weitere kompensatorische Anpassungen im Patentrecht werden für den Fall einer Einführung diskutiert und sollten sorgfältig geprüft werden. Klar ist, dass angesichts internationaler Patentierungsstrategien eine rein nationale Lösung wenig zielführend erscheint. Deshalb geht der Antrag in die richtige Richtung. Nach meinen Informationen verfügt neben den USA auch Japan über eine patentrechtliche Neuheitsschonfrist. Das zentrale Argument der Gegner der Neuheitsschonfrist, wonach diese eine Steigerung der Rechtsunsicherheit bewirke und Verzerrungen im Standortwettbewerb nach sich ziehe, verliert angesichts fortschreitender Harmonisierung an Überzeugungskraft. Zudem zeigt sich Rechtssicherheit auch und insbesondere im Patentrecht als ein relatives Konzept angesichts der ohnehin bestehenden zahlreichen Kautelen bei der notwendigen Ermittlung des jeweiligen Standes der Technik. Lassen Sie mich noch zur Frage zurückkommen, wie wir damit umgehen, dass wir es mit einer nunmehr bereits seit 30 Jahren im Raume stehenden Forderung zu tun haben. Es hat zahlreiche Vorstöße zur Einführung gegeben, die bislang allesamt offenbar an der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Systeme, sowohl zwischen den Mitgliedstaaten des Europäischen Patentübereinkommens als auch zwischen den EPÜ-Staaten im Verhältnis zu den USA und Japan, gescheitert sind. Die Tatsache, dass sich entsprechende Vorstöße auf internationaler Ebene schwierig gestalten, sollte uns nicht davon abhalten, das Richtige zu tun, um ein innovationsfreundliches Patentrecht voranzubringen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4725, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1052 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 20: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EUTM Somalia beenden - Für eine politische Lösung in Somalia - Drucksache 17/4248 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Die European Training Mission für Somalia - kurz EUTM SOM - hat ein ganz klares Mandat. Sie soll durch die Ausbildung von Sicherheitskräften für die somalische Übergangsregierung - kurz TFG - die Lage in Somalia langfristig stabilisieren und darüber hinaus die Sicherheit der Bevölkerung Mogadischus sicherstellen. Deutschland beteiligt sich an dieser europäischen Mission und nimmt die übertragene Verantwortung mit unseren europäischen Partnern wahr, damit endlich wieder Frieden in ein Land einkehrt, das viel zu lange schon unter der Last des Bürgerkrieges aufgerieben wird. Die Übergangsregierung ist der einzige verlässliche Akteur, der bestrebt ist, ein Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen in einem Staat, der de facto über keine funktionsfähigen Organe verfügt. Dabei ist das Vorgehen der Europäischen Union kein Alleingang. Multilateral, in Abstimmung mit den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, wird hier ein Versuch unternommen, den fortwährenden Kriegszustand endlich zu beenden. In Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, unterstellen Sie, dass unser Engagement im Rahmen der EUTM SOM die Konflikte in der Region schüren würde und sogar eine Ausweitung auf die Nachbarstaaten Äthiopien, Kenia und Uganda droht. Woher nehmen Sie diesen Irrglauben? Im Kampf gegen die islamistischen Milizen, denen überhaupt nicht an einem Friedensprozess gelegen ist, brauchen die Menschen in Somalia ausgebildete Sicherheitskräfte, die das oberste ihrer Grundrechte wahren: das Recht auf Leben. Eine Beendigung des Einsatzes in Somalia wäre unverantwortlich. Schon heute treibt die prekäre Situation vor Ort junge Menschen in die Hand der islamistischen Milizen, die die Einrichtung einer Gesetzgebung auf Grundlage der Scharia fordern, oder in die Hände von Piraten. Fast täglich erreichen uns Berichte von Piratenangriffen vor Somalias Küste. Dürfen wir dem nachgeben und uns aus der Verantwortung stehlen? Nein, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, hier kommt wieder einmal Ihre vollkommen desillusionierte, ideologische Verblendung ans Licht, zumal Sie in Ihrem Antrag ja noch nicht einmal im Geringsten ausführen, wie Ihre politische Lösung aussehen könnte. Und um das noch einmal anzuführen: Militärisch, wie Sie sagen, ist der Ansatz der EUTM SOM nicht. Es geht hier um die Ausbildung von Sicherheitskräften, mitnichten um die Entsendung bewaffneter deutscher Soldaten. Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Antrag kritisieren, ist die Zusammensetzung der Streitkräfte der somalischen Übergangsregierung. Ich bin überzeugt davon, dass die unterschiedlichen Volksgruppen, die gemeinsam ausgebildet werden, eine große Stärke des Ausbildungsprogrammes sind. Gerade die gemeinsame Ausbildung wird dabei helfen, die unterschiedlichen Gruppierungen zusammenzubringen und so den Friedensdialog zu forcieren. Die Besoldungszusagen der amerikanischen Regierung für die Rekruten in Höhe von 100 US-Dollar werden ein Desertieren der Soldaten verhindern und sie langfristig an die Regierung binden. Auch Ihr Vorwurf, die Bundesregierung würde in Somalia parteiisch in Bürgerkriege eingreifen, entbehrt jeder Grundlage. Wie Sie bei einer Auseinandersetzung mit der Sachlage festgestellt hätten, ist die EUTM SOM weder ein direkter Eingriff in einen Bürgerkrieg, noch geschieht er parteiisch. Die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen mit ihren Institutionen und die Europäische Union stehen hinter der Entsendung von derzeit sechs - ich wiederhole mich: sechs - Ausbildern von maximal 20 möglichen Entsendungen. Eine einseitige militärische Intervention sieht anders aus. Ihre Unterstellung verhöhnt die Arbeit unserer deutschen Soldaten. Aber Sie schrecken ja auch nicht von der Instrumentalisierung von Kindersoldaten zurück. Ihre angeblichen Hinweise, die TFG würde sich bei ihrer Rekrutierung minderjähriger Soldaten bedienen, lässt sich nicht bestätigen. Auch die eingesetzten deutschen Ausbilder vor Ort sind über keine Einbeziehung von Kindersoldaten informiert. Im Gegenteil: Die TFG engagiert sich gegen Rekrutierung Minderjähriger, im Gegensatz zu den radikalislamischen Milizen, die offen die Schutzwürdigkeit von Kindern verletzten. In Ihren Forderungen genauso wie in der Begründung Ihres Antrags befinden Sie sich meilenweit entfernt von der Realität. Diese außenpolitisch andauernde Realitätsverweigerung ist bar jeder Vernunft. Stellen Sie sich in dieser wichtigen Frage endlich den Tatsachen, und helfen Sie mit konkreten politischen Vorschlägen, die Lage in Somalia zu verbessern. Das Leid der Menschen in Somalia darf nicht für Ihre politisch-ideologisch motivierten Machenschaften missbraucht werden. Edelgard Bulmahn (SPD): Die Situation in Somalia ist - man kann es nicht anders beschreiben - verfahren. Seit fast zwanzig Jahren gibt es keinen funktionierenden Staat am Horn von Afrika. De facto ist das Land dreigeteilt: in Somaliland als gewissermaßen gefestigten Staat, Puntland als schwachen Staat und Süd-Somalia als gescheiterte, quasi staatenlose Region. Sie wird von den zunehmend radikalisierten Al-Schabaab-Milizen kontrolliert, die nicht nur Terror gegenüber der somalischen Bevölkerung ausüben, sondern durch Anschläge auch die Bevölkerung in den Nachbarstaaten bedrohen. Die von den Vereinten Nationen anerkannte somalische Übergangsregierung unter Scheich Scharif ist nicht in der Lage, mehr als wenige Straßenzüge in Mogadischu zu kontrollieren, und auch das gelingt ihr nur, weil die Mission der Afrikanischen Union, AMISOM, den Schutz der Übergangsregierung sicherstellt und den Zugang zum Hafen und zum Flughafen kontrolliert. Das Interesse der Mehrheit der Bevölkerung an einem Ende der Kämpfe, an einem Wiederaufbau und einem menschenwürdigen Leben wird von den bewaffneten Gruppen schlicht missachtet. Von den insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern Somalias ist knapp die Hälfte auf Nahrungsmittelhilfe von außen angewiesen, und jedes vierte Kind ist akut unterernährt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten des Kon-fliktes wurden fast 1,5 Millionen Menschen vertrieben. In den vergangenen Monaten haben mehr als 20 000 Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Wasser verlassen. Hilfsorganisationen warnen aktuell davor, dass bis zu einer halben Million Menschenleben durch ausbleibende Regenfälle und eine der schlimmsten Dürreperioden der vergangenen Jahre bedroht sind. Derzeit ist wohl kein Akteur alleine in der Lage, die physische Sicherheit der somalischen Bevölkerung zu garantieren oder gar rechtsstaatliche Mechanismen zu gewährleisten. Gerade Sicherheit ist jedoch eine der Schlüsselvoraussetzung für Frieden und eine nachhaltige Entwicklung. Mit der EU-Trainingsmission in Somalia, EUTM, leistet die Europäische Union einen wichtigen Beitrag, um ein Mindestmaß an Sicherheit in und für Somalia zu erreichen. Die EU und ihre beteiligten Mitgliedstaaten greifen dabei gerade nicht parteiisch in einen Bürgerkrieg ein, wie es die Linke in ihrem Antrag in unverantwortlicher Weise behauptet. Sie agieren in Abstimmung mit der internationalen Staatengemeinschaft. In seiner Resolution 1872 hat der VN-Sicherheitsrat regionale und internationale Organisationen explizit aufgefordert, Unterstützung bei der Ausbildung der somalischen Sicherheitskräfte zu leisten. Diese Resolution ist die Grundlage für EUTM. Die Mission dient nicht nur dazu, Soldaten in militärisch-technischen Fragen auszubilden. Zum Programm zählt auch die Ausbildung in Fragen von Menschenrechten mit einem Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderschutz. Deshalb gehören sowohl weibliche Ausbilder wie auch ein Gender Advisor zum Team von EUTM. Bei aller Bedeutung, die wir der Mission beimessen, dürfen wir natürlich auch die Probleme nicht außer Acht lassen. Es ist richtig: Es lässt sich nicht ausschließen, dass einige der gut ausgebildeten Soldaten bei ihrer Rückkehr nach Somalia die Seiten wechseln. Sie werden dies vor allem dann tun, wenn sie sich schlecht behandelt oder benachteiligt fühlen. Eine gute und regelmäßige Bezahlung ist dabei nur ein, aber ein wichtiger Aspekt. Die Mission und damit die Hoffnung auf Sicherheit in Somalia gänzlich aufzugeben, ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Deshalb muss die internationale Staatengemeinschaft alles daran setzen, nicht nur die Ausbildung der Soldaten, sondern auch die Rahmenbedingungen für deren Einsatz zu verbessern. Die Linke spricht sich in ihrem Antrag dafür aus, die deutsche Beteiligung an EUTM sofort zu beenden. Gleichzeitig fordert sie aber auch eine politische Lösung in Somalia. Letzteres kann ich nur unterstützen; doch leider sagt der Antrag nichts dazu, wie eine politische Lösung erreicht werden kann. Hier zeigt die Linke schlichtweg Orientierungslosigkeit. Wirkliche Fortschritte werden wir in Somalia nur erreichen, wenn der Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen einschließlich der Sicherheitsstrukturen einhergeht mit der Bekämpfung der Armut und der Sicherung von Menschenrechten. Dabei kann militärisches Engagement kein Ersatz für Staatlichkeit und für eine friedliche Entwicklung Somalias sein. Das hat gerade meine Fraktion immer wieder betont, zuletzt bei der Verlängerung des Atalanta-Mandates. Deshalb müssen wir uns weiterhin am Programm der internationalen Gemeinschaft zum Wiederaufbau staatlicher Strukturen und an der Finanzierung von AMISOM beteiligen. Die Afrikanische Union selbst hat eine immer wichtigere Rolle bei der Friedenssicherung und Konfliktlösung übernommen. Die vorhandenen Kapazitäten gilt es auszubauen und zu stärken. Deutschland sollte daher die AU in ihrem Bestreben, positive Entwicklungen für den afrikanischen Kontinent herbeizuführen, nach allen Kräften unterstützen. Bei der Lösung der vielfältigen Konflikte in Afrika muss die AU einer der wichtigsten Partner der internationalen Staatengemeinschaft sein. Mit Blick auf die Situation in Somalia hat die AU bei ihrem Gipfel in der vergangenen Woche deutlich gemacht, dass sie bereit und in der Lage ist, hier Verantwortung zu übernehmen. Entsprechend den internationalen Vereinbarungen läuft das Mandat der somalischen Übergangsregierung am 20. August 2011 ab. Und man ist sich in der Staatengemeinschaft einig, dass es hier keinen Aufschub geben darf. Aufgabe ist es, bis dahin eine neue Verfassung zu entwickeln, freie und faire Wahlen zu organisieren und dabei in einem demokratischen Prozess die verschiedenen somalischen Akteure einzubinden. Wenn das nicht gelingt, dann wird die nächste somalische Administration nicht mehr sein als die 16. Übergangsregierung seit 1991. Marina Schuster (FDP): Somalia ist seit dem Ende der gescheiterten UN-Friedensmission im Jahr 1995 zum Synonym und Paradebeispiel für Staatsversagen geworden. Die internationale Gemeinschaft hat das am Golf von Aden gelegene Land seit Mitte der 90er-Jahre sträflich vernachlässigt. Somalia von der internationalen Agenda zu nehmen war damals eine fatale Fehlentscheidung, die sich heute rächt. Das äußert sich für alle am leichtesten nachvollziehbar in den Meldungen über die florierende Piraterie vor der somalischen Küste. Der weltweite volkswirtschaftliche Schaden dieses Phänomens wurde bereits 2007 von der Internationalen Handelskammer auf etwa 13 Milliarden Euro geschätzt. Der Konflikt hat darüber hinaus aber verheerende Folgen für die gesamte Region, die in den Medien weit weniger präsent sind. Der Konfliktherd Somalia strahlt nicht nur auf die afrikanischen Nachbarstaaten aus, sondern auch auf den Jemen auf der arabischen Halbinsel. Die Hoffnung, dass sich die somalische Übergangsregierung, Transitional Federal Government, TFG, nach der Wahl von Scheich Scharif Sheik Ahmed zum Übergangspräsidenten im Januar 2009 als effektive Staatsmacht durchsetzten würde, hat sich bislang leider nicht erfüllt. Die TFG kontrolliert mithilfe der Friedenstruppe AMISOM der Afrikanischen Union nach wie vor nur einen Teil der Hauptstadt Mogadischu; AMISOM hat seine Sollstärke von 8 000 Soldaten bis heute nicht erreicht. Erst spät, als sich das Problem aufgrund der ausufernden Piraterie in den somalischen Küstengewässern nicht mehr ausblenden ließ, hat die Europäische Union reagiert. Mit der Mission Atalanta leistet die EU seit 2008 einen wichtigen Beitrag, um das Piraterieproblem einzudämmen. Deutschland ist hieran mit einer Fregatte und bis zu 1 400 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Seit April letzten Jahres unterstützt die EU mit der Ausbildungsmission EUTM Somalia die provisorische somalische Übergangsregierung auch bei der Ausbildung von bis zu 2 000 Rekruten in Uganda. Deutschland ist an dieser Mission mit bis zu 13 Angehörigen der Bundeswehr beteiligt. Während Uganda die Grundausbildung der Rekruten übernimmt, kümmert sich die EU vor allem um die Spezialisierung der Soldaten. Hierzu gehört ausdrücklich auch die Ausbildung in Menschenrechtsfragen mit einem Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderschutz. Die Bemühungen allein im militärischen Bereich können den Konflikt natürlich nicht grundlegend lösen. AMISOM, Atalanta und EUTM Somalia können die aktuellen Symptome lindern und die Voraussetzungen für eine politische Lösung verbessern helfen, indem sie für ein gewisses Maß an Sicherheit sorgen. Dabei müssen diese Bemühungen eingebettet sein in ein politisches Gesamtkonzept. Dieses Konzept muss von allen relevanten politischen Gruppen in Somalia selbst getragen werden und auch - und gerade - die Anrainerstaaten umfassen, denn der Konflikt hat schon lange eine überregionale Dimension. Die Nachbarstaaten haben dabei unterschiedliche Interessen. Es ist kein Geheimnis, dass Äthiopien die somalische Übergangsregierung unterstützt, Eritrea hingegen die UIC. Damit stärken diese Länder somalische Kontrahenten und weiten ihre eigenen Konflikte auf Stellvertreter im Somalia aus. Doch die regionale Verflechtungen gehen weiter: Ägypten, Dschibuti, Kenia, Jemen und Sudan - auch diese Länder verfolgen verschiedene Ansätze und Eigeninteressen, auch das muss bei den politischen Ansätzen beachtet werden. Eines dürfen wir nicht vergessen: Alle internationalen Versuche, eine friedliche Entwicklung Somalias zu befördern, können nur eine unterstützende Rolle einnehmen. Ein tragfähiger Friedensprozess kann nur von Innen kommen. Daher ist es an den Somalis selbst, eine politische Einigung über eine friedliche Entwicklungsperspektive für ihr Land zu erzielen. Ich begrüße es, dass die internationale Gemeinschaft und mit ihr die Europäische Union ihre diplomatischen Bemühungen in dieser Richtung intensivieren. Hierzu wurde im Oktober 2010 der "Strategy and Action Plan for Inland Somalia" vorgelegt, welcher sich an drei Leitlinien orientiert: dem innersomalischen Dialog, dem Wiederaufbau von somalischen Schlüsselinstitutionen sowie dem Dialog mit internationalen Gemeinschaften und Partnern. Der Plan betont dabei die Notwendigkeit der weiteren, intensivierten Unterstützung Somalias durch die internationale Gemeinschaft und empfiehlt die Unterstützung des "Kampala Framework for Dialogue among Somalis", in dessen Rahmen Vertreter der einzelnen Regionen zu Gesprächen zusammengeführt werden. Des Weiteren wird eine weitere Stärkung von AMISOM und der provisorischen Übergangsregierung gefordert und eine verbesserte Koordination der internationalen Unterstützungsbemühungen postuliert. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat eine konkrete Ausarbeitung hierzu begrüßt. Im Rahmen dieses politischen Gesamtansatzes, den es weiter zu entwickeln und auszubauen gilt, bilden die genannten Missionen einen wichtigen Baustein. Sie alleine können den Frieden nicht bringen, aber ohne sie wird es keinen Frieden geben. Zur Unterstützung einer politischen Lösung, die alle relevanten somalischen und regionalen Akteure mit einbeziehen muss, sind AMISOM, EUTM Somalia und Atalanta kurz- und mittelfristig ein unverzichtbarer Beitrag. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): In Somalia herrscht Bürgerkrieg. Die international anerkannte Übergangsregierung, Transitional Federal Government, TFG, wurde nach der US-gestützten Invasion durch Äthiopien im benachbarten Djibouti aus verschiedenen Warlords zusammengesetzt. In Wirklichkeit existiert diese Regierung gar nicht. Es handelt sich bei der TFG um einen Haufen zwielichtiger Persönlichkeiten, die internationale Hilfsgelder einstreichen, aber primär damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu bekämpfen - und zwar nicht so, wie das auch die deutsche Bundesregierung tut, sondern mit Maschinengewehren und Mörsergranaten. Selbst Kindersoldaten werden eingesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese korrupte Herrscherclique bedingungslos, weil diese es ihr erlaubt, in ihren Küstengewässern auf Piratenjagd zu gehen und deutsche Wirtschaftsinteressen abzusichern, ganz im Sinne des ehemaligen Bundespräsidenten Köhler und des Verteidigungsministers zu Guttenberg. In Somalia selbst hat diese Übergangsregierung keinerlei Legitimität. Sie übt nur formal Kontrolle über den Hafen und den unmittelbar daneben gelegenen Flughafen in Mogadischu aus, und das mithilfe von über 7 000 Soldaten der AMISOM-Mission der Afrikanischen Union, die diesen Hafen halten und um die Kontrolle des benachbarten Regierungsviertels kämpfen. Bezahlt wird dieser Einsatz überwiegend von den USA und der EU. Letztere entnimmt die Mittel hierfür aus dem Europäischen Entwicklungsfonds. Das heißt, dass deutsche Entwicklungshilfegelder so in einen Kampfeinsatz fließen, bei dem regelmäßig Kriegsverbrechen begangen werden. Bei den 5 000 bis 10 000 Soldaten, über die die TFG verfügen soll, handelt es sich um Milizen - darunter wie gesagt viele Kindersoldaten -, die sich sporadisch gegenseitig bekämpfen. Die Angehörigen erhalten keinen Sold, sie leben oft von Plünderungen und Erpressungen. Auch die Soldaten der AMISOM erhalten oft verspätet und manchmal gar keinen Sold. Sie sind unmotiviert, haben sich im Hafen verschanzt und reagieren auf Angriffe mit dem willkürlichen Beschuss von Wohngebieten mit Mörsergranaten. Nahezu wöchentlich wird so der wichtigste Markt der Hauptstadt beschossen, jeweils mit Dutzenden Toten. Das ist der Hintergrund, vor dem Bundesregierung und EU vor einem Jahr, am 15. Februar 2010, beschlossen haben, 2 000 Soldaten für die somalische Übergangsregierung auszubilden - mit einer eigens hierfür aufgestellten militärischen Mission der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, EU-Training-Mission for Somalia, EUTM. Die Ausbildung findet in Uganda statt. Und Uganda ist wohlweislich Konfliktpartei im somalischen Bürgerkrieg. So wurde der ugandische Truppenübungsplatz mit EU-Geldern massiv ausgebaut. Parallel hierzu bilden im selben Feldlager auch die ugandischen Streitkräfte somalische Rekruten aus, die anschließend ebenfalls im Rahmen von EUTM fortgebildet werden sollen. Die Bundeswehr ist mit bis zu 20 Soldaten vor Ort an der Ausbildung beteiligt, die unter anderem den Kampf in bebautem Gelände umfasst. Auf Videos ist zu sehen, wie somalische Rekruten unter Anleitung europäischer Soldaten Häuser stürmen und das Schießen erlernen. Bis heute konnte die Bundesregierung letztlich nicht ausschließen, dass dabei auch Minderjährige zu Soldaten gemacht werden. Erst vor zwei Wochen hat Staatsminister Hoyer hier eingeräumt, dass bezüglich des Alters "immer eine gewisse Restunsicherheit" bliebe und "man Fragen dieser Art [bisweilen] nach Augenschein entscheiden" müsse. Die Verantwortung für die Auswahl der Rekruten wird von der Bundesregierung auf die USA abgeschoben, welche die jungen Somalier nach Uganda fliegen, und auf die AMISOM und die Übergangsregierung, welche für die Auswahl zuständig ist. Das sind die Fakten der EUTM Somalia. Diese Vorgänge sind so bodenlos, so empörend, dass sie kaum in Worte zu fassen sind. Die Bundeswehr steckt mitten im schmutzigen Bürgerkrieg in Somalia. Man müsse die "Realitäten on the ground" zur Kenntnis nehmen, wurde dem Bundestag hier vor zwei Wochen von Staatsminister Hoyer vorgehalten, und gemeint war damit, sich diesen anzupassen. Er hatte dies gesagt, nachdem er eingestehen musste, dass die Bundesregierung auch in Äthiopien die Ausbildung Minderjähriger zu Soldaten finanziert hat und dass diese nun irgendwo im somalisch-äthiopischen Grenzgebiet ohne Sold, aber mit Waffen unterwegs sind. Damit entpuppt sich wieder einmal all das Gerede von Werten, Demokratie und Menschenrechten in der Außenpolitik als leeres Geschwätz - wie auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo man hinsichtlich Ägyptens deutlich machte, dass Stabilität vor Demokratie geht. Doch die 2 000 Soldaten, die in Bihanga ausgebildet werden sollen, werden nicht einmal einen Beitrag zur Stabilität leisten. Sie werden einfach eine weitere marodierende Miliz werden oder zu den Aufständischen überlaufen - finanziert und ausgebildet mithilfe der deutschen Bundesregierung. Bis zu 60 000 Soldaten soll Äthiopien in Somalia stationiert gehabt haben, und alles, was sie erreicht haben, war eine weitere Destabilisierung des Landes. Das ganze Piraterieproblem, das jetzt ebenfalls militärisch bekämpft wird, ist erst mit dieser Invasion entstanden. Wir sehen hier auch die Konsequenzen einer Armee im Einsatz. Es gibt keine sauberen und demokratischen Kriege und keine Menschenrechtskrieger. Wir sehen in Afghanistan, wie der Krieg die Menschen verroht, wie Bundeswehrsoldaten mit Totenköpfen spielen, mit der Waffe posieren und sich gegenseitig bedrohen. Wir sehen in Somalia und Uganda, wie Kriegsverbrecher unterstützt, Rekruten gequält und Kindersoldaten rekrutiert werden. Prinzipien wie Innere Führung und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte verkommen bei einer Armee im Einsatz zur Makulatur. Obwohl die Bundeswehrsoldaten bei diesem Ausbildungseinsatz bewaffnet sind, wurden sie ohne eine Befassung und Abstimmung des Bundestages nach Uganda geschickt. Wir sehen hier, wie die demokratische Kontrolle der Bundeswehr über den Umweg der EU aus dem Weg geräumt wurde. Ich halte es für keinen Zufall, dass gerade bei diesem Einsatz, der ohne Beteiligung des Bundestages zustande kam, alles schiefläuft. Dieser Antrag ermöglicht uns, die Notbremse zu ziehen, die Bundeswehr aus Uganda abzuziehen und jede weitere finanzielle Beteiligung an der Mission zu verweigern. Der Zeitpunkt ist günstig; denn die Ausbildung der ersten 1 000 Soldaten ist gerade abgeschlossen. Sie wurde nun verlängert, weil es sich als schwierig erweist, weitere 1 000 Soldaten zu rekrutieren, und weil völlig unklar ist, was mit den 1 000 bereits ausgebildeten passieren soll. Wir müssen endlich Schluss machen mit der Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für Kriegsverbrecher und diktatorische Regime wie in Afghanistan, Ägypten und Somalia. Und wir müssen uns Gedanken machen, was wir mit den 1 000 Somaliern machen, die mit Versprechen vom großen Geld aus ihren Familien gerissen, nach Uganda geflogen und dort in ein Militärcamp gesperrt wurden, um sie zu Soldaten zu machen. Das Mindeste, was die deutsche Bundesregierung tun muss, ist, sich bei diesen Somaliern zu entschuldigen. Die deutsche Außenpolitik muss sich an Rechtstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Völkerrecht orientieren. Deshalb muss die EUTM Somalia unverzüglich beendet werden. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Mai letzten Jahres beteiligen sich sechs deutsche Ausbilder an der European Training Mission in Uganda, um dort Soldaten für die somalische Übergangsregierung auszubilden. Diese EU-Mission im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde am 31. März 2010 im Rat beschlossen. Der Deutsche Bundestag war bei dieser Ausbildungsmission nicht beteiligt, da nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz reine Ausbildungsmissionen keine zustimmungspflichtigen Auslandseinsätze sind. Danach liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte nur vor, wenn Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist. Unabhängig von der Frage, ob die enge Definition eines mandatspflichtigen Einsatzes möglicherweise überprüft werden sollte, hätte die Bundesregierung gut daran getan, von sich aus das Parlament zu einzubeziehen. Die Ausbildung der Sicherheitskräfte findet zwar nicht direkt in einem bewaffneten Konflikt statt, aber unmittelbar im Zusammenhang mit einem solchen. Die Zustände in Somalia dürfen sicherlich als nicht internationaler bewaffneter Konflikt, also als Bürgerkrieg, bezeichnet werden. Die Sicherheitskräfte werden ihre neu erlernten kämpferischen Fähigkeiten daher auch nach ihrer Rückkehr nach Somalia einsetzen können. Es fragt sich nur für wen und zu welchem Zweck? Der erste von den beiden Lehrgängen mit 1 000 Soldaten sollte nach Abschluss der sechsmonatigen Ausbildung längst nach Mogadischu zurückgekehrt sein. Stattdessen wird diese Rückkehr Woche um Woche verzögert, weil in Mogadischu überhaupt keine Infrastruktur existiert, um die Soldaten aufzunehmen, unterzubringen oder gar zu bezahlen. Die US-Regierung hat den ausgebildeten Sicherheitskräften eine Bezahlung von 100 US-Dollar im Monat zugesagt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie nach Mogadischu zurückkehren und dort für die Übergangsregierung tätig werden. Die Auszahlung des Soldes erfolgt dabei durch Mitarbeiter des Unternehmens PricewaterhouseCoopers, das bereits 2009 von der somalischen Übergangsregierung gebeten worden war, sich um die Buchhaltung des Landes zu kümmern. Das ist übrigens das gleiche Unternehmen, das die Marktanalyse für die Exportmöglichkeiten des A400M erstellt hat. Wo allerdings keine staatliche Autorität existiert, ist es unverantwortlich Kämpfer auszubilden. Eine legitime Staatsmacht ist eine Voraussetzung für den Aufbau einer Armee und nicht umgekehrt. Dass es in zehn Monaten nicht gelungen ist, die notwendige Infrastruktur in Mogadischu zu schaffen, um die Ausbildungsabsolventen aufzunehmen, sollte der EU als Warnung ausreichen. Die Ausbildung militärischer Kämpfer in einem politischen Machtvakuum kann und wird nicht funktionieren. Zu Recht besteht im Falle Somalia ein Waffenembargo. Wir sollten aber nicht nur davon Abstand nehmen, Waffen in diesen blutigen Konflikt zu liefern, sondern auch davon, die Menschen dort in der Benutzung dieser Waffen zu unterrichten und zu schulen. Das macht die Position der Europäischen Union an dieser Stelle inkonsistent. Solange es in diesem Failed State kein staatliches Gewaltmonopol gibt, wird die Trainingsmission nichts zur Stabilisierung Somalias beitragen können. Das Gegenteil ist zu befürchten. Ich halte die Fortsetzung der Training-Mission in diesem Stadium für unverantwortbar. Der zweite Durchgang sollte gar nicht erst beginnen. Die zweite Forderung des Antrages zielt darauf, unverzüglich die Beiträge der Bundesregierung über den Athena-Mechanismus einzufrieren. Über diesen Mechanismus werden allerdings nicht nur die Trainingsmission in Uganda, sondern auch der Atalanta-Einsatz und die humanitäre Hilfe für Somalia finanziert. Möglich, dass Sie hier nur gemeint haben, die spezifischen Mittel für die Trainingsmission einzufrieren. Dann hätte es allerdings nahegelegen, das auch zu präzisieren. Deutschland hat für 2011 7,5 Millionen Euro zur Finanzierung über Athena in den Einzelplan 14 eingestellt. Da Deutschland mit 20 Prozent beteiligt ist, gehe ich davon aus, dass die Mittel sich insgesamt auf 35 bis 40 Millionen Euro belaufen. Für die EUTM ist ein Budget von gerade einmal 4,8 Millionen vorgesehen. Damit wird deutlich, dass die EU auf diesem Wege überwiegend andere, aus unserer Sicht sinnvolle Maßnahmen finanziert. Außerdem stellt sich die Frage, ob das Einfrieren von Mitteln der richtige Weg ist, die europäischen Partner davon zu überzeugen, eine selbst im Rat mit beschlossene Operation abzubrechen. Die Bundesregierung sollte sich im sicherheitspolitischen Komitee auf EU-Ebene dafür einsetzen, die Mission zu beenden. Das dürfte eher zum angestrebten Erfolg führen als der einseitige, unverzügliche Abzug der sechs Bundeswehroffiziere. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4248 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Daðdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok. 15614/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 17/4672 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben. Beatrix Philipp (CDU/CSU): Auf dem Tisch liegt heute ein Antrag der Fraktion Die Linke. Dieser basiert auf einer Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament und den Europäischen Rat mit dem Arbeitstitel: "Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und Humanitärer Hilfe". Bevor ich zum Antrag komme, erlauben Sie mir, dass ich zunächst auf die Mitteilung selbst eingehe. Die Europäische Union ist bemüht, seit der Tsunami-Katastrophe am 26. Dezember 2004, an der Seite anderer Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen, ihre Reaktionsfähigkeit in Krisenfällen zu verbessern. In diesem Kontext ist auch die Mitteilung der EU-Kommission zu sehen. Die Kapazität der Europäischen Union in diesem Bereich soll - sowohl im Hinblick auf den Katastrophenschutz als auch in Bezug auf die humanitäre Hilfe - gestärkt werden. Damit wird - wie der Mitteilung zu entnehmen ist - eine doppelte Zielsetzung verfolgt. Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausgebaut werden, und zweitens sollen ein europäisches Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Informationsaustausch und eine verstärkte Koordinierung auf EU-Ebene im Katastrophenfall eingerichtet werden. Vor diesem Hintergrund habe ich mit einiger Verwunderung Ihren Antrag zur Mitteilung der Kommission zur Kenntnis genommen. Wer ihn genau verfasst hat, weiß ich natürlich nicht. Es muss aber jemand sein, der nicht im Innenausschuss war bzw. nicht weiß, dass wir auf meine Anregung hin - uns sehr intensiv mit dieser Mitteilung auseinandergesetzt haben. Die Bundesregierung hat zusätzliches Material bereitgestellt. Auch hier gilt, dass Lesen bildet; und hilfsweise das Zuhören im Innenausschuss. Das, was Sie fordern, ist sowohl realitätsfern als auch zeitlich überholt. Einige Punkte will ich noch einmal herausgreifen. Sie schreiben: "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich im Rat aktiv für eine zivile und von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige Katastrophenabwehr einzusetzen und für den Ausbau entsprechender Kapazitäten, die vom Militär unabhängig sind, einzutreten." Diese Forderungen ignorieren die Praxis und die Erfahrungen aus der Vergangenheit; denn eine Katastrophenabwehr bei Großschadenslagen ohne militärische Hilfe ist heutzutage undenkbar bzw. kaum leistbar. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest, dass die Naturereignisse immer größer werden. Ich nehme dabei Bezug auf Ihre Formulierung im Antrag - ich zitiere -: "Der Bundestag wolle beschließen ... Der Deutsche Bundestag stellt fest ... Der Bundestag verweist auf den in der Mitteilung der Kommission dargestellten Anstieg von schlimmen Naturkatastrophen mit hohen Verlusten an Menschenleben ..." Meine Damen und Herren von den Linken, welches Mitgliedsland kann es sich heutzutage finanziell erlauben, eine leistungsfähige Armee und - parallel dazu - eine Katastropheneinsatztruppe für Großschadenslagen bereitzuhalten? Wir können in Deutschland stolz sein auf unser bestehendes Schutz- und Hilfesystem. Denn nur beim gemeinsamen Einsatz von unterschiedlichen Hilfsorganisationen auf kommunaler Ebene und den Behörden auf Bundesebene sind wir gut aufgestellt. An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den zahlreichen Freiwilligen und Ehrenamtlichen von Herzen für ihre unverzichtbare Arbeit zu danken. Mit ihrem Engagement, mit ihrem Verzicht auf viel Freizeit und ihrer ständigen Einsatzbereitschaft geben sie ein besonderes Beispiel für bürgerliches Engagement. Das ist mehr, als der von Ihnen gewünschte hauptamtliche Einsatz; sie prägen den Charakter unserer Gesellschaft und entsprechen dem Subsidiaritätsprinzip in besonderem Maße. Nicht zuletzt machen sie es möglich, dass Deutschland in Europa ein beispielgebendes Mitgliedsland ist. Die Bundesregierung unterstützt die EU beim Ausbau jeglicher Form der Zusammenarbeit zwischen Katastrophenschutz, der humanitären Hilfe, dem Militär, um durch Nutzung auch militärischer Ressourcen die Verbesserung der entsprechenden Strukturen und Verfahren der Zusammenarbeit zu erreichen, sowohl die der EU-Institutionen untereinander als auch zwischen EU und NATO. Allerdings drängt die Bundesregierung darauf, dass der Konsens zur humanitären Hilfe und die Oslo-Guidelines dabei beachtet werden. In einem weiteren Punkt Ihres Antrages soll der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die in der Mitteilung der Kommission angekündigten Rechtsakte zur Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenabwehr abzulehnen. Ja, was ist das denn? Meinen Sie das wirklich ernst? Eine Seite zuvor schreiben Sie noch vom Anstieg schlimmer Naturkatastrophen, und nun soll eine Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenabwehr abgelehnt werden. Die Ereignisse der vergangenen Wochen, wie zum Beispiel, Überschwemmungen in Australien, Zyklone und Blizzards in den Vereinigten Staaten, zeigen, dass die Naturgewalten ein immer größeres Ausmaß annehmen. Selbst die zu diesen Ereignissen im Verhältnis stehenden kleinen Katastrophenlagen in Deutschland - ich sage nur am Rhein, an der Elbe und an der Oder - machen deutlich, dass eine in Gemeindegrenzen, eine in Ländergrenzen oder eine in Staatengrenzen bestehende Denkweise hier absolut verfehlt ist. Naturkatastrophen kennen keine Begrenzungen und keine Grenzen; das sollten auch Sie wissen. Eine Stagnation in der Weiterentwicklung der Katastrophenabwehr können und wollen wir uns nicht leisten. Es ist also notwendig, dass Notfallpläne für den Einsatz erstellt werden. Dafür ist es wichtig, über die Ressourcen der einzelnen Mitgliedstaaten Bescheid zu wissen. Eine Weiterentwicklung der Katastrophenabwehr bedarf der nun geplanten Rechtsakte; das liegt in der Natur der Sache bzw. in dem Charakter des Europarechts. Eine Ablehnung ist völlig undenkbar. Aber auch hier steckt der Teufel im Detail. Es ist halt wie im schlichten Leben. Meine Damen und Herren von den Linken, wenn Sie schon etwas aufgreifen wollen, dann übersehen Sie einen viel wichtigeren Punkt, bei dem wir gefordert sind. Gemäß der Mitteilung ist der Aufbau einer von den Mitgliedstaaten unabhängigen, eigenständigen Katastrophenabwehr auf EU-Ebene geplant. Dies lehnen wir ab, und wir waren uns im Innenausschuss darin auch immer einig. Eine vorgesehene Aufstellung EU-eigener Kapazitäten unter eigener operativer Befugnis und Verfügungsgewalt läuft Art. 196 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, entgegen, ist auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst und würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich eben schon hingewiesen habe. Bei all der Hilfe innerhalb und außerhalb der EU muss den Mitgliedsländern ein sogenanntes Letztentscheidungsrecht verbleiben. Das heißt, die Verantwortung für den Katastrophenschutz verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Dies ergibt sich aus der Kompetenzzuweisung des Vertrages von Lissabon und entspricht eben dem Subsidiaritätsprinzip. Dem steht nicht entgegen, dass eine Kooperation und eine Koordination durch die Kommission nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert sind. Wir sind der Ansicht, dass die Kommission zu Recht mehrfach die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten selbst betont hat. Zusammengefasst und wie bereits oben dargestellt, ist der Antrag der Linken überholt und realitätsfern. Wir lehnen ihn daher ab. Gerold Reichenbach (SPD): Dem vorliegenden Antrag der Linken gebührt zumindest das Verdienst, die Frage der Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe auf europäischer Ebene zum Gegenstand der Debatte in diesem Hause gemacht zu haben. Dieses Verdienst wird leider dadurch geschmälert, dass die Linke der Versuchung nicht widerstehen konnte, die durchaus notwendige kritische Auseinandersetzung mit dem Kommissionsvorschlag und der diesen begleitenden Diskussion auf europäischer Ebene - dazu gehören auch der Beschluss des Europäischen Parlamentes zur Stärkung des Katastrophenschutzes und der Beschluss des Europäischen Parlamentes zur Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Akteuren - allein aus ihrer ideologischen Sicht einer überall drohenden Militarisierung der europäischen Außenpolitik und der Katastrophenhilfe als Ganzes zu sehen. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir Sozialdemokraten treten angesichts der wachsenden Gefahren und Herausforderungen durch den Klimawandel, angesichts der steigenden Verwundbarkeit und Verletzlichkeit komplexer moderner Gesellschaften und der zunehmenden globalen Vernetzung und Verkettung von Risiken und Gefahren für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe ein, und dies sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Ich erinnere nur an einige aus einer Reihe von vielfältigen Initiativen, etwa die unter rot-grün vorgenommene Einrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe oder auch die von der großen Koalition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durch das Zivilschutzergänzungsgesetz. Es gab durchaus auch fraktionsübergreifende Initiativen wie das aus dem Parlament initiierte und von Vertretern aller Parteien getragene "Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit". Da wir wissen, dass Katastrophen und Krisen nicht vor Ländergrenzen halt machen, und wir Sozialdemokraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationaler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der internationalen Instrumente ein, auch auf europäischer Ebene. Dabei haben wir immer betont - das wurde auch in der Vergangenheit von allen Koalitionen dieses Hauses im Innenausschuss so gesehen -, dass sich das Subsidiaritätsprinzip im Bereich des Katastrophenschutzes bewährt hat und auch für die europäische Ebene gelten muss. Darum haben wir, übrigens bislang auch einmütig in diesem Hause, alle Versuche auf europäischer Ebene, eigene Katastrophenschutzkapazitäten aufzubauen und zusätzlich aufzustellen, zurückgewiesen. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefahren und Herausforderungen muss es im Interesse aller europäischen Länder sein, zuvörderst die örtlichen und nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stärken und auszubauen. Nur so können die Grundlagen einer tragfähigen gesamteuropäischen Stärkung der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe gelegt werden. Subsidiarität bedeutet aber auch, dass dort, wo eigene Mittel nicht mehr ausreichen, der überregionale Ausgleich und die überregionale Unterstützung gesucht und vorangetrieben werden. Dies gilt sowohl für Katastrophenlagen und humanitäre Krisensituationen innerhalb der Europäischen Union als auch außerhalb der europäischen Union. Darum unterstützen wir den Vorschlag, die Koordinierungsinstrumente auf Europäischer Ebene zu stärken. Durch die Identifizierung von Modulen, die innerhalb der nationalen Katastrophenabwehrkapazitäten bereitgestellt werden, und durch zusätzliche Ausbildung können diese untereinander kompatibel und bei der Hilfe gegenüber Dritten handlungsfähig gemacht werden. Diese Strategie halten wir grundsätzlich für richtig und sollten sie auch vom Grundsatz her bei der Bildung des in den Lissabonner Verträgen vorgesehenen europäischen Freiwilligenkorps verfolgen. Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokraten entscheidend, angesichts der Herausforderung und der Größe drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten des Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Anstrengungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stärkere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen und Steuerungssysteme. In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung mit der geplanten Einrichtung eines zivilen Cyberabwehrzentrums einen Schritt in die richtige Richtung setzt und die Gefahren nicht allein unter Cyber War subsumiert. Denn die Reduzierung auf den militärischen Verteidigungsbegriff wäre deutlich zu kurz gegriffen. Neben staatlichen Aktionen liegt das Gefährdungspotenzial nicht nur im Terrorismus, sondern auch in organisierter Kriminalität und im wachsenden Schadenspotenzial durch Individualtäter. Die Zunahme internationaler Krisenherde fordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten der Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zu denen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtige Rolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivile Hilfsorganisationen oder die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielt haben und spielen. Wir Sozialdemokraten sind bereits in der Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, die zivile gegenüber der militärischen Komponente bei der Bewältigung von Krisenlagen - die Vereinten Nationen sprechen nach meinem Dafürhalten zu Recht von sogenannten Complex Emergencies - zu stärken, und dies nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der internationalen Mechanismen. Wir halten es ausdrücklich für richtig, dass auch die Koordinierung der europäischen Katastrophenhilfe und humanitären Hilfe sich im internationalen Kontext unter das Primat der Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationen stellt, so wie sich die Bundesrepublik Deutschland auch auf bilateraler Ebene nicht nur in die Koordinierungsinstrumente der Vereinten Nationen einfügt, sondern diese auch aktiv und tatkräftig unterstützt. Wir Sozialdemokraten stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne, die es in der Union zu einer stärkeren Militarisierung des Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei der Föderalismusreform I als auch in der großen Koalition am klaren Widerstand der sozialdemokratischen Partei gescheitert sind. Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amtshilfe Katastrophenschutz unterstützen können, so wie dies unser Grundgesetz vorsieht. Dies gilt nicht nur im Inland, sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeiten kommen, und gerade in so genannten komplexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt nach meinem Dafürhalten nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch für internationale Unterstützungsmechanismen. Aber Subsidiarität muss möglich sein. Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ist Ihr Antrag eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Offensichtlich haben Sie einige Zusammenhänge entweder nicht verstanden aus ideologischen Gründen oder bewusst mißgedeutet. Lassen Sie mich aus eigener Erfahrung sagen: In bestimmten Lagen ist die zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen. Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und im Speziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eine Schmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte. Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäischen und internationalen Rahmen auch, die Besonderheiten anderer europäischer Länder zu respektieren. In den meisten anderen europäischen Ländern ist der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz in Form der Zivilverteidigung organisiert, was übrigens auf unser THW auch zutrifft. So sind etwa die österreichischen Rettungseinheiten bei Erdbeben, mit denen das THW auf internationaler Ebene zusammenarbeitet, unbewaffnete Teile des österreichischen Bundesheeres. In Frankreich wird diese Aufgabe von der Sécurité Civile wahrgenommen, einer kasernierten militärischen Formation, die dem Innenministerium unterstellt ist. Aber nicht nur das: Die von Ihnen kritisierte Nutzung von militärischen Mitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenannten Osloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10 ausdrücklich Bezug nimmt. Diese Osloer Leitlinien umfassen eben nicht nur militärisches Gerät und Einrichtungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern auch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu denen nach der Definition dieser Leitlinien auch das Technische Hilfswerk gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit Ihrem Antrag wirklich fordern wollen, dass die Bundesrepublik Deutschland künftig auf den Einsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitären Hilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichtet, weil dies eine Militarisierung derselben sei, oder gar aus den gleichen Gründen die Auflösung des THW im Inland fordern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie schießen mit Ihrem Antrag weit über das Ziel hinaus und darum ist er für uns Sozialdemokraten nicht zustimmungsfähig. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden. Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am besten geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zusammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den Zentralisierungsabsichten der EU. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des Staates. Es gibt jedoch nur selten Großschadenslagen, die im Sinne des unmittelbaren Bevölkerungsschutzes mehrere EU-Staaten zugleich treffen. EU-Rechtsakte auf diesem Gebiet sind höchst überflüssig. Das gezierte antimilitärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht nicht unserem Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wie der Linken-Antrag völlig zu Recht sagt, ist davor zu warnen, "die Sichtbarkeit der und Koordination durch die EU als Selbstzweck zu verfolgen." Frank Tempel (DIE LINKE): Für den Katastrophenschutz kann man nie zu viel tun; man kann aber das Falsche tun. Die Europäische Kommission hat sich des Themas angenommen, und das ist an sich gut. Es ist gut, eine Inventarisierung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten in den Mitgliedstaaten durchzuführen und auch Planungsszenarien zu entwickeln, wie länderübergreifenden Großschadenslagen begegnet werden kann. Auch sind eine verstärkte Koordinierung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe sowie eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen äußerst sinnvoll. Doch die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat auch Ziele formuliert, die auf entschiedenen Widerstand der Linken stoßen. Teils versteckt, teils offen wird dem Aufbau von EU-eigenen Kapazitäten das Wort geredet, die Katastrophenschutz, humanitäre Hilfe und Krisenreaktionsabwehr im Sinne von Sicherheits- und Verteidigungspolitik bewältigen sollen. Anspielend auf die Haushaltszwänge wird den Mitgliedstaaten eine Brücke gebaut, eigene Kapazitäten einzusparen und auf einen europäischen Katastrophenschutz umzusatteln. Wenn Sie sich mit den Mitarbeitern des Zivil- und Katastrophenschutzes unterhalten, wird Ihnen jeder bestätigen, dass Katastrophenschutz flächendeckend und dezentral organisiert sein muss. Die schnelle Reaktion der Helfer in den ersten Stunden einer Katastrophe entscheidet über die Effektivität bei der Rettung von Opfern oder der Eindämmung von Schadensereignissen. Weit auseinanderliegende Strukturen mit Leitungsstäben, die Hunderte Kilometer vom Schadensort entfernt agieren, sind ineffektiv. Es spricht alles für eine Stärkung des Katastrophenschutzes vor Ort. Es mag einige wenige Fälle geben, bei denen es sinnvoll ist, teure Spezialtechnik europaweit anzuschaffen und koordiniert einzusetzen, zum Beispiel Feuerlöschflugzeuge zur Waldbrandbekämpfung. EU-Einheiten zum Katastrophenschutz an sich machen aber fachlich keinen Sinn. Da dies bekannt ist, werden von der Kommission die internationale humanitäre Hilfe und die Krisenreaktionsabwehr in die Diskussion gebracht. Nun obliegt die Koordination der internationalen humanitären Hilfe den Vereinten Nationen. Diese bittet die Staaten bei Katastrophen um Hilfe. Welche Rolle die EU dort spielen will, wird von der Kommission aber nicht fachlich beantwortet. Der Vorschlag der Kommission, verstärkt die Nutzung militärischer Kapazitäten zum Katastrophenschutz einzubringen, wird auf eine immer stärkere Vermischung von zivilen und militärischen Elementen hinauslaufen. Wie immer wird unter dem Vorwand von Haushaltszwängen auf die brachliegende Nutzung militärischer Kapazitäten und Spareffekte bei der Anschaffung im zivilen Bereich verwiesen. Dieses Herangehen hat die Bundesregierung der Kommission seit Jahren vorgelebt und es wird von dieser offensichtlich kopiert. Die versprochenen Spareffekte sind aber eine Milchmädchenrechnung. Militärische Standorte mit potenziellen Katastrophenschutzfähigkeiten sind oft mehrere Hundert Kilometer voneinander entfernt und in ihrer Verteilung nach verteidigungspolitischen Systematiken und nicht nach Erfordernissen des Katastrophenschutzes aufgestellt. Eine zeitnahe Verwendbarkeit des Militärs im Schadensfall ist nicht gewährleistet. Der Bericht der Kommission bezweckt nur eins: Einige wenige sinnvolle Ansätze zur Effektivierung des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe werden zum Anlass genommen, der EU Zuständigkeiten zuzuschieben, die dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen und verstärkt militärische Elemente in den Katastrophenschutz integrieren. Damit wird in Kauf genommen, dass angesichts der schwierigen Haushaltslage einzelne Mitgliedstaaten ihre Kapazitäten abbauen und die Verantwortung zunehmend in die Hände der EU geben, wo sie nicht hingehört. Dieser Weg ist falsch und wird von uns entschieden abgelehnt! Unser Weg ist ein anderer. Wir fordern die Bundesregierung daher auf: erstens sich im Rat aktiv für eine zivile und von sicherheitspolitischen Erwägungen unabhängige Katastrophenabwehr einzusetzen und für den Aufbau entsprechender logistischer Kapazitäten, die vom Militär unabhängig sind, einzutreten; zweitens die in der Mitteilung der Kommission "Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe" (Ratsdokument 15614/10) angekündigten Rechtsakte zur Weiterentwicklung der europäischen Katastrophenabwehr abzulehnen; drittens sich im Rahmen der Vorbereitung des für Ende 2011 angekündigten Legislativvorschlags "Vorschlag zur Überarbeitung der Vorschriften für Katastrophenvorsorge und -abwehr" dafür einzusetzen, dass die Verzahnung ziviler und militärischer Instrumente in der Katastrophenabwehr und die Verbindung der Katastrophenabwehr mit sicherheits- und außenpolitischen Strategien ausgeschlossen werden; die primäre Verantwortung der zuständigen Behörden der betroffenen Staaten für die Umsetzung im Katastrophenfall sichergestellt ist; die Mitgliedstaaten bei bilateralen Hilfsersuchen weiterhin handlungsfähig bleiben. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Zahl der Naturkatastrophen ist weltweit seit 1975 um das Fünffache gestiegen. Erinnert sei hier nur an die beiden schlimmsten Naturkatastrophen im vergangenen Jahr: das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmungen in Pakistan. Diese Ereignisse haben sehr viele Menschen das Leben gekostet und große Zerstörung hinterlassen. Langfristig kann ein weiterer Anstieg von Naturkatastrophen nur durch einen effektiven Klima- und Umweltschutz verhindert werden. Kurzfristig geht es aber vor allem darum, schnell zu reagieren, und damit sind wir auch schon bei einer der wichtigsten Fragen, der Frage des Zeitpunkts, an dem die EU vor Ort koordinierte Hilfe leisten kann. Nach Einschätzung von EU-Kommissarin Georgieva kann diese Frage unter den gegebenen EU-Rahmenbedingungen häufig nur bedingt beantwortet werden. Diese Unsicherheit und die verbundene Zeitverzögerung führen in vielen Fällen dazu, dass den hilfesuchenden Ländern nicht unmittelbar die angefragte Hilfe zugesagt werden kann. Nicht selten geht mehr als ein halber Tag ins Land, ehe die Zusagen für die gewünschte Unterstützung gegeben werden. Also stellt sich die Frage: Wie kann den Opfern von Katastrophen zügig geholfen werden? Diese Perspektive ist entscheidend. Wir alle wissen, ein Knochenbruch in zwei Tagen oder in zwei Wochen zu behandeln, macht einen entscheidenden Unterschied. In diesem Fall dürfte den Opfern zunächst nicht wichtig sein, ob die medizinischen Instrumente in einem Militärhubschrauber oder einem zivilen Flugzeug transportiert wurden. Die Debatte, die die Linke in dem vorliegenden Antrag aufmacht, ist also insofern wieder einmal eine innenpolitische und eine, die komplett an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen vorbeigeht. Lieber eine gute Kooperation als keine Hilfe. Dabei muss es selbstverständlich Spielregeln und Grenzen geben. Hier geht der Vorschlag von Frau Georgieva in die richtige Richtung. Die Möglichkeit auf einen Hilfeaufruf rechtzeitig zu reagieren, hängt im Rahmen des EU-Gemeinschaftsverfahrens bisher von den freiwilligen Zusagen der Mitgliedstaaten ab. Die Hilfe ist deshalb häufig nur improvisiert oder kommt zu langsam. Benötigt werden aber verbindliche, permanent zur Verfügung stehende Kapazitäten, auf die die Kommission zurückgreifen kann. Mit dem Vorschlag eines europäischen Notfallabwehrzentrums würde eine neue Plattform geschaffen, in der das Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, mit der Koordinierungsstelle für Katastrophenschutz, dem Informations- und Beobachtungszentrum, MIC, zusammengelegt werden. Das gemeinsame Notfallabwehrzentrum soll rund um die Uhr einsatzfähig sein und europaweit koordinierte Notfallpläne garantieren, die auf sicher zugesagte Einsatzkräfte und Hilfsmittel in allen Mitgliedstaaten basieren müssen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es kann nicht darum gehen, die vorhandenen Strukturen in Mitgliedsländern mit guten Kapazitäten - wie etwa in Deutschland - zu zerschlagen. Es muss zunächst ein Mapping der vorhandenen Kapazitäten in den Nationalstaaten geben. Anschließend muss ein Konsens herbeigeführt werden, welche Grundausstattung in allen Staaten vorhanden sein sollte und welche Arbeitsteilung bei bestimmten Katastrophenschutzinstrumenten sinnvoll ist. Das heißt, die Kommissionsvorlage soll einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung und Arbeitsteilung dienen, damit unter den Mitgliedstaaten Synergien hergestellt werden können und offensichtliche Verluste aufgrund von Doppelungen minimiert werden. Das ist das Ziel. Nicht jeder Mitgliedstaat benötigt alle Instrumente des Katastrophenschutzes. Die EU-Katastrophenhilfe darf aber auch keine substituierende Wirkung haben. Mitgliedstaaten mit schwachen Strukturen müssen durch die angekündigten Rechtsakte der EU-Kommission dazu verpflichtet werden, ausreichend eigene Kapazitäten im Katastrophenschutz zu schaffen. Für uns ist wichtig, dass das Einsatzspektrum für den EU-Katastrophenschutz begrenzt sein muss. Es kann nicht sein, dass die Instrumente des EU-Katastrophenschutzes mit der Terrorismusbekämpfung vermischt werden. Deshalb müssen klare Bedingungen für Einsatzgebiete und -zwecke definiert werden. Die Nutzung militärischer Instrumente für den Katastrophenschutz muss sich streng an den Oslo-Leitlinien der Vereinten Nationen orientieren, die die Nutzung von militärischen Instrumenten für die Katastrophenhilfe nur als letztes Mittel vorsehen. Sicherlich stellt uns die Harmonisierung des europäischen Katastrophenschutzes vor große Herausforderungen. Das stark zentralistische Zivilschutzsystem in Frankreich ist leichter mit neuen EU-Strukturen zu verzahnen als das dezentrale System in Deutschland. Die starke Heterogenität unter den EU-Mitgliedstaaten sollte deshalb stets mit bedacht werden. Die Bundesländer und die relevanten Akteure und Institutionen wie das Technische Hilfswerk müssen kontinuierlich in diesen Prozess eingebunden werden. Die Stärkung des gemeinsamen Katastrophenschutzes ist europapolitisch zu begrüßen. Die EU ist weltweit der größte Geber von humanitärer Hilfe. Eine bessere Sichtbarkeit der EU im Krisen- und Katastrophenfall würde den Menschen in den begünstigten Staaten innerhalb oder außerhalb Europas den zivilen Charakter europäischer Außenpolitik kenntlich machen. Deshalb ist die Harmonisierung der EU-Katastrophenhilfe nicht nur im Sinne einer kosteneffizienten Arbeitsteilung unter den Mitgliedstaaten sinnvoll. Die Rechtsakte zur Weiterentwicklung des europäischen Katastrophenschutzes müssen die Effizienz und Kohärenz von Einsätzen verbessern. Sie von vornherein abzulehnen, wie die Linke fordert, macht keinen Sinn. Die Bundesregierung muss sich klar zur Harmonisierung der Katastrophenhilfe in der EU bekennen und perspektivisch den Aufbau eines europäischen Notfallabwehrzentrums unterstützen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4672 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit auch schon am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Februar 2011, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend und schließe die Sitzung. (Schluss: 21.02 Uhr) Redetext Sevim Daðdelen Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Zu Protokoll gegebene Reden Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 10.02.2011 Bülow, Marco SPD 10.02.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 10.02.2011 Gerster, Martin SPD 10.02.2011 Gottschalck, Ulrike SPD 10.02.2011 Dr. Freiherr zu Guttenberg, Karl-Theodor CDU/CSU 10.02.2011 Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.02.2011 Hintze, Peter CDU/CSU 10.02.2011 Dr. Knopek, Lutz FDP 10.02.2011 Lenkert, Ralph DIE LINKE 10.02.2011 Lindner, Christian FDP 10.02.2011 Lutze, Thomas DIE LINKE 10.02.2011 Maurer, Ulrich DIE LINKE 10.02.2011 Möhring, Cornelia DIE LINKE 10.02.2011 Möller, Kornelia DIE LINKE 10.02.2011 Nietan, Dietmar SPD 10.02.2011 Roth (Esslingen), Karin SPD 10.02.2011 Scholz, Olaf SPD 10.02.2011 Süßmair, Alexander DIE LINKE 10.02.2011 Veit, Rüdiger SPD 10.02.2011 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.02.2011 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Andrej Hunko und Ulla Jelpke (beide DIE LINKE) zu den Abstimmungen über die Anträge: Belarus - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken (Tagesordnungspunkt 7 a und b, Zusatztagesordnungspunkt 5) Wir verurteilen die Verletzung elementarer demokratischer Rechte im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland. Da kein eigener Antrag unserer Fraktion vorliegt, geben wir folgende Stimmerklärung ab: Leider bringen die vorliegenden Anträge der Koalition sowie von SPD und Grünen unsere Position nicht zum Ausdruck. Wir können ihnen aus folgenden Gründen nicht zustimmen. Alle Anträge benennen die Probleme bei der Wahl nicht korrekt: Neben Problemen bei der Stimmauszählung müssen auch der ungleiche Zugang zu den Medien und die unfaire Nutzung von Staatsressourcen zur Unterstützung des Amtsinhabers benannt werden. Des Weiteren lehnen wir die - in allen Anträgen geforderten - Sanktionen ab. Wir gehen nicht davon aus, dass diese durch eine "faire und transparente" Prozedur auferlegt wurden, wie es die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates fordert. Auch wird in den Anträgen die Kritik am brutalen Vorgehen der Miliz und an der Verfolgung nach den Wahlen auf Grundlage unscharfer "europäischer Werte und Regeln" geübt. Die allgemein gültigen politischen Rechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung werden im Unterschied zur Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates nicht als solche benannt. Insgesamt scheint es bei den Anträgen mehr um die Annäherung an die EU zu gehen als um die Verteidigung demokratischer Rechte und Wahlen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Zusatztagesordnungspunkt 6) Dieter Stier (CDU/CSU): Mit der anstehenden Gesetzesnovelle zum Fünfzehnten Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes soll der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung eine logische Gleichstellung von Tierarzneimitteln für nicht lebensmittelliefernde Tiere und Humanarzneimitteln beim Internetversand sicherstellen. Das bisher geltende Versandhandelsverbot für Tierarzneimittel für nicht lebensmittelliefernde Tiere muss auf den Prüfstand; denn die Öffnung des Arzneiversandhandels beim Menschen ist seit Jahren sehr viel liberaler als der Internetversand mit Tierarzneimitteln. Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Lockerung des bisher geltenden umfassenden Versandhandelsverbotes für Tierarznei reagiert die Bundesregierung auf ein Beschwerdeverfahren der EU-Kommission sowie auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes, welches das derzeitige Versandhandelsverbot als unverhältnismäßig erachtet. Es kann nicht angehen, dass im Hinblick auf den Arzneimittelversand seit Jahren für unsere Haustiere strengere Maßstäbe gelten als für die Medikation des Menschen. Folglich ist es höchste Zeit, eine Lockerung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Disposition zu stellen - natürlich unter der Prämisse, dass den Erfordernissen des Tierschutzes Rechnung getragen wird. Inhaltlich orientiert sich der vorliegende Gesetzentwurf eng an den seit 2004 etablierten Vorgaben für den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, die zur Anwendung beim Menschen bestimmt sind. Bisher sind innerhalb dieser in Deutschland möglichen Verteilerkette keinerlei Probleme bekannt geworden. Versandapotheken liefern bereits jetzt eine Vielzahl von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Zubehör für unsere Haustiere. Die Vorteile des Internetversands liegen auf der Hand: Dieser Vertriebsweg ist sehr beliebt, weil die Produkte dort günstiger angeboten werden können, als dies Apotheken mit Miet- und Personalkosten tun können. Zudem ist der Service einer Internetbestellung hinsichtlich der Auswahl der Produkte und der Lieferung bis zur Haustüre insbesondere für Menschen abseits der Ballungszentren sowie für ältere Menschen nicht zu unterschätzen. Eine schnelle und bequeme Abwicklung trägt zudem einem modernen Verbraucherleitbild, orientiert am gegenwärtigen Nutzerverhalten, Rechnung, welches letztlich auch den Tieren zugutekommt. Als Unionspolitiker sollten wir der wachsenden Nachfrage der Verbraucher nach dem Versandhandel von Tierarzneimitteln gerecht werden und diesen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden Gesetzentwurf weiter öffnen. Letztlich zeigt die Praxis, dass Tierhalter aufgrund hoher Preise mitunter abgeneigt sind, eine empfohlene oder verordnete Medikation durchzuführen. Der Versandhandel schließt eine diesbezüglich vorhandene Lücke, was wiederum der Tiergesundheit zugutekommt. Bei der Medikation von Tieren spielt auch die Zugänglichkeit von Medikamenten eine Rolle, zum Wohle der Tiere. Unabhängig von diesen Vorteilen des Internethandels mit verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln möchte ich auch auf "Risiken und Nebenwirkungen" einer Liberalisierung des Tierarzneiversandhandels aufmerksam machen. Eine unkontrollierte Selbstmedikation von Haustieren durch den Tierhalter birgt diverse Risiken für das Haustier. Fehlbehandlungen und Nebenwirkungen fügen dem Tier Schmerzen und Schaden zu. Ebenfalls können Auswirkungen auf das Umfeld entstehen. Unkritische Anwendung von verschreibungspflichtigen Medikamenten, insbesondere von Antibiotika, kann unerwünschte Resistenzen hervorrufen. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom 5. November 2010 im Hinblick auf diese Gefahren eine Öffnung des Internetversandhandels nur für rein apothekenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel gefordert. In seiner Begründung argumentiert der Bundesrat mit der fehlenden Harmonisierung der tierarzneimittelrechtlichen Vorschriften auf EU-Ebene im Hinblick auf die Bedingungen, unter denen der Tierarzt ein Rezept ausstellen kann. In einer Gegenäußerung dazu hat die Bundesregierung am 8. Dezember 2010 deutlich gemacht, dass die vom Bundesrat geäußerten Bedenken einer Beibehaltung des Versandhandelsverbots für verschreibungspflichtige Arzneimittel für nicht lebensmittelliefernde Tiere nicht zu rechtfertigen sind. Um den Bedenken des Bundesrates hinreichend Rechnung zu tragen, plädieren die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP in einem Änderungsantrag vom 8. Februar 2011 für eine Ergänzung des Arzneimittelgesetzes mit der Vorgabe, dass Tierhalter verschreibungspflichtige Arzneimittel bei ihren Haustieren nur dann anwenden dürfen, wenn diese von einem Tierarzt direkt abgegeben werden oder aber vom behandelnden Tierarzt verschrieben werden. Folglich kann die Behandlung eines Haustieres durch den Tierhalter mit verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln nur nach vorheriger tierärztlicher Konsultation erfolgen. Hinsichtlich des Versandhandels mit anderen EU-Staaten bedeutet diese Regelung, dass ein Versand nach Deutschland nur in dem Fall möglich ist, wenn der Tierhalter bei der Bestellung in anderen Mitgliedstaaten das Rezept seines behandelnden Tierarztes beifügt. Demnach werden diese verschreibungspflichtigen Tierarzneimittel nur nach Vorlage einer durch Stempel und Unterschrift des behandelnden Tierarztes klar als gültig zu identifizierende Verschreibung ausgeliefert. Im Rahmen der Selbstverpflichtung der Unternehmen wird jedes Rezept auf Vollständigkeit und Authentizität überprüft. In Großbritannien und in Nordirland ist eine tierärztliche Behandlung für die Verschreibung von Tierarzneimitteln verpflichtend. Der Internethandel hat sich dort als eine verantwortungsvolle Ergänzung zum stationären Bezug von Tierarzneimitteln bewährt. In einer Bekanntmachung der Übersicht zum Versandhandel mit Arzneimitteln nach § 73 Abs. 1 Satz 3 des Arzneimittelgesetzes des Bundesministeriums für Gesundheit vom 31. Mai 2010 ist eine Übersicht über einige Mitgliedstaaten der EU und anderen Vertragsstaaten aufgeführt. Diese Staaten haben einen dem deutschen Recht vergleichbaren Sicherheitsstandard gemäß §11 a Apothekengesetz. Apotheken aus anderen Staaten, in denen diese Vergleichbarkeit derzeit nicht besteht, können für Deutschland eine Versandhandelserlaubnis beantragen. Die Forderung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände nach einem grundsätzlichen Versandhandelsverbot aufgrund eines hohen Gefahrenpotenzials für die Haustiere ist übertrieben vorsichtig. Die Menschen in Deutschland haben die Liberalisierung des Humanmedizinversands auch schadlos überstanden. Als Unionspolitiker sollten wir uns jedoch der wachsenden Nachfrage der Verbraucher nach dem Versandhandel von Tierarzneimitteln nicht verschließen und diesen Vertriebsweg in Anlehnung an den vorliegenden Gesetzentwurf weiter öffnen. Ich befürworte jeglichen Abbau von ungerechtfertigten Handelshemmnissen, um eine Optimierung der Wettbewerbsbedingungen in Deutschland zum Wohle des Verbrauchers zu erzielen. Das derzeit geltende Verbot lässt sich gegenüber dem Verbraucher kaum plausibel vermitteln, zumal der Versandhandel bei rezeptpflichtigen Humanarzneimitteln seit Jahren erlaubt ist. Die von der Koalitionsfraktion geforderte Änderung dieses Gesetzentwurfes der Bundesregierung, zusätzlich zur Internetbestellung des verschreibungspflichtigen Medikamentes das Rezept des behandelnden Tierarztes beizufügen, ist ein für alle Seiten akzeptabler Kompromiss. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Was für die Humanmedizin gilt, gilt selbstverständlich auch für die Tierarzneimittel: Dosis facit venenum - die Dosis macht das Gift. Das bedeutet nichts anderes, als dass von jedem Arzneimittel - ob verschreibungspflichtig oder nicht - eine potenzielle Gefahr ausgehen kann. Vor diesem Hintergrund muss auch die Diskussion um die hier vorliegende Novelle des Arzneimittelrechts geführt und bewertet werden. Die Toxikologie, die Resistenzbildung sowie die missbräuchliche Anwendung, die auch bei Arzneimitteln, die bei nicht lebensmittelliefernden Tieren zur Anwendung kommen, müssen beachtet werden. Denn sowohl Antibiotika als auch andere systemisch wirkende Arzneimittel werden überwiegend auch in der Humanmedizin angewandt. Vor allem bei Antiparasitika und Anthelminthika gibt es tierartbezogene, teilweise rassespezifische Unverträglichkeiten, die jedem Tierarzt in der Praxis bekannt sind. Die missbräuchliche Anwendung von Tierarzneimittel kann schwerwiegende Folgen für unsere Heimtiere haben. Es sei nur an lebensbedrohende Allergien und tödliche Nebenwirkungen erinnert. Wir dürfen auch hier den Tierschutzgedanken nicht außer Acht lassen. Die Verschreibung und die Abgabe von Tierarzneimitteln dürfen nur nach gründlicher Anamnese und Diagnose durch einen behandelnden Tierarzt erfolgen. Das gebietet die gute fachliche Praxis. Dies ist eine strenge Anforderung an das Handeln eines jeden Tierarztes. Den Sachverhalt kann ich aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung als Tierarzt und Assistent am Institut für Pharmakologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover sehr wohl beurteilen. Ob diese Voraussetzung für eine Verschreibung in anderen EU-Mitgliedstaaten, auch gilt, möchte ich doch ernsthaft bezweifeln. Insofern dürfen wettbewerbsrechtliche Bedenken nicht unsere hohen deutschen Standards infrage stellen. Eine Kontrolle der Anwendung von Tierarzneimitteln durch den Tierarzt muss auch in Zukunft bei nicht Lebensmittel liefernden Tieren gewährleistet sein. Kostensparende und gefährliche Eigenbehandlungen durch den Tierbesitzer dürfen durch den Versand von Tierarzneimitteln nicht noch begünstigt werden. Die Grundsätze der Verschreibungspflicht für Arzneimittel dürfen nicht infrage gestellt werden. Angesichts vermehrter Antibiotikaresistenzen hat der Einsatz dieser Medikamente mit entsprechendem Verantwortungsbewusstsein zu erfolgen. Denn Antibiotikaresistenzen haben eine unmittelbare Auswirkung auf die menschliche Gesundheit. Sicherlich benötigen wir eine Harmonisierung des europäischen Arzneimittelrechtes - aber nicht auf unterstem Niveau. Aus Sicht der Arzneimittelsicherheit und des Gesundheitsschutzes halte ich es für nicht vertretbar, dass wir den Versandhandel auf Tierarzneimittel ausdehnen, insbesondere wenn sie verschreibungspflichtig und für nicht Lebensmittel liefernde Tiere zugelassen sind. Wir brauchen einen möglichst restriktiven Umgang mit verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln aller Art. Wir wissen doch alle, dass neue Vertriebswege über das Internet kaum zu überwachen sind. Auch wenn in diesem Gesetzentwurf der Versand nur nach der Verschreibung durch einen Tierarzt erfolgen soll, muss doch zu Recht bezweifelt werden, ob das Gebaren eines Internetversandhändlers, zumal wenn er nicht nur in Deutschland vertreten ist, überhaupt überwacht werden kann. Schon heute gibt es im Tierarzneimittelbereich immer noch einen grauen Markt und mittlerweile auch gefälschte Arzneimittel mit fragwürdiger, gefährlicher oder gar keiner Wirkung. Das sollten wir durch die Öffnung des Arzneimittelversandes nicht auch noch fördern. Warum will die schwarz-gelbe Koalition ohne Not neben dem bestehenden und gut funktionierenden System des Tierarzneimittelvertriebs in Deutschland ein völlig neues etablieren? Ziel sollte es doch eher sein, die strengen deutschen Regeln zur Arzneimittelverordnung auf europäischer Ebene zu verankern. Hinterfragt werden muss auch, ob die Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger den Versandhändlern und ihren Lobbytruppen neue Einnahmemöglichkeiten eröffnen möchte. Damit würde man der Arzneimittelsicherheit und dem vorbeugenden Gesundheitsschutz einen Bärendienst erweisen. Die Aufgabe des Gesetzgebers muss es sein, die unberechtigte Verabreichung von Tierarzneimitteln bestmöglich einzudämmen. Dazu gehört für mich auch ein Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Tierarzneimittel für nicht lebensmittelliefernde Tiere. Wir Sozialdemokraten wollen die Novelle der EU-Tierarzneimittelrichtlinie abwarten und keine Schnellschüsse fabrizieren - im Interesse der Arzneimittelsicherheit und des vorbeugenden Gesundheitsschutzes und gegen Lobbyinteressen. Wir werden daher diesen Gesetzentwurf ablehnen. Hans-Michael Goldmann (FDP): Das Arzneimittelgesetz, insbesondere der für das Tierarzneimittelgesetz relevante § 43, ist nur teilweise EU-harmonisiert. Die EU-Kommission hat eine Beschwerde eingelegt, weil hier eine Behinderung des Warenhandels vorlag. Auch ein entsprechendes BGH-Urteil empfiehlt eine Novellierung. Damit besteht zwingender Handlungsbedarf. Ich bedauere, dass wir in dieser Sache handeln müssen, aber angesichts der Gleichstellung von Humanmedizin und Veterinärmedizin brauchen wir eine Gesetzesänderung. Im Ergebnis zeigt die Novelle, dass ein rezeptpflichtiges Medikament Teil eines Diagnose- und Behandlungsprozesses ist, den die praktischen Tierärzte auch weiterhin ausgestalten. Damit ist die Fachlichkeit der Tierärzte als Grundlage der 15. Fassung des Arzneimittelgesetzes gestärkt. Das möchte ich an dieser Stelle noch mal betonen. Bei unserer Gesetzesfassung handelt es sich um eine praktikable und vernünftige Lösung, die sowohl dem Schutz der Tiere und der menschlichen Gesundheit Rechnung trägt als auch unseren Pflichten als EU-Mitglied nachkommt. Der aktuelle Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der Versandhandel aus Apotheken an den Tierhalter auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel, die für nicht lebensmittelliefernde Tiere bestimmt sind, künftig erlaubt wird. Neben einer weiterhin bestehenden Rezeptpflicht wird durch eine Behandlungs- und Anwenderegel die fachärztliche Betreuung der Haus- und Kleintiere bewahrt. Zudem bleibt die Transparenz des Tierarzneimittelhandels bestehen, indem nachvollziehbar ist, wer rezeptiert. Im Kern der Diskussion stehen sich also die Argumente der Wettbewerbsfreiheit im EU-Binnenmarkt und der aus Sicht der Veterinäre bedrohte Schutz der menschlichen Gesundheit und der Tierschutz gegenüber. Kritiker sehen die humane Gesundheit vor allem durch ein mögliches unkontrolliertes Inverkehrbringen von Arzneimittel gefährdet, die missbräuchlich auch bei lebensmittelliefernden Tieren angewendet werden könnten. Ein Missbrauch ist nie auszuschließen, wenngleich dieser lediglich theoretisch vorhanden ist, da die Arzneimittelabgabemenge für die Hauskatze oder den Hund nicht ausreicht, um etwa einen Schweinebestand damit zu versorgen. Diese theoretische Gefahr ist durch die eingeführte Behandlungspflicht gebannt. Ferner wird aus tiermedizinischer Sicht eine mögliche Medikamentenverabreichung vom Tierhalter kritisch bewertet, da eine unprofessionelle Medikamentenabgabe die Tiergesundheit gefährden könnte. Dieses Problem lässt sich jedoch mit der in § 56 a eingeführten Anwendungsregelung lösen. Kern dessen ist, dass die Rezeptvergabe an eine Behandlung gebunden sein muss, die auch dazu verpflichten kann, dass die Arzneimittelverabreichung über den Veterinär erfolgen muss. Die neue Regelung in ihrer jetzigen Form ist ein solider Kompromiss und untermauert die Sorgfaltsplicht der Tierärzteschaft. Der Tierarzt, die Tierärztin - kurz: der Fachmann - bleibt in der Poleposition. Der Tierschutzgedanke flankiert die Argumentation der Anwendungsregelung. Im Ergebnis bleiben die Tierärzte - ich will das noch einmal betonen - in ihrer Verantwortung. Diese Entwicklung kann ich nur begrüßen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Es gab in den vergangenen Monaten eine sehr intensive Debatte zum Thema Internethandel mit Tierarzneimitteln zur Behandlung von Tieren, die nicht der Lebensmittelgewinnung dienen, also Haus- und Heimtieren. Die Grundposition, dass der Versand von Tierarzneimitteln im Vergleich zur beratenden Abgabe durch Tierärzte oder durch Apotheken keine adäquate Abgabeform sei, war Konsens bei der 8. AMG-Novelle, mit der 1998 der Versand apothekenpflichtiger Arzneimittel verboten wurde. Unter dem Druck der EU-Kommission und eines Urteils des Bundesgerichtshofes sah sich die Bundesregierung nun - aus wettbewerbsrechtlichen Gründen - gezwungen, diesen fachpolitischen Konsens mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aufzukündigen. Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen, der eine tierärztliche Behandlung zur bußgeldbewehrten Vorbedingung für eine Internetbestellung macht, kann aus unserer Sicht die Bedenken gegen eine solche Öffnung nicht aus der Welt räumen. Denn aus Sicht der Linken gibt es zwingende Gründe, das Arzneimittelversandverbot für Haus- und Heimtiere aufrechtzuerhalten. Das gilt erst recht wenn man bedenkt, wie viele Tierhalterinnen und Tierhalter und ihre Tiere von dieser Neuregelung betroffen sind, also auch von ihren Risiken. Kennziffern aus dem Jahr 2009 skizzieren dies: In der Bundesrepublik leben allein 5 Millionen Hunde und 8 Millionen Katzen. Die Heimtiere eingerechnet, sind 23 Millionen Tiere betroffen. Das ist alles andere als eine Lappalie. Die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der FDP nehmen mit dem Änderungsantrag einen der Einwände des Bundesrates gegen den Gesetzentwurf auf, in dem eine rechtskonforme Beschaffung von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln einzig in Verbindung mit einer entsprechenden tierärztlichen Behandlung erfolgen soll. Damit werden formal die Rechte der Tierärztinnen und Tierärzte gestärkt. Das sieht die Linke durchaus als Schritt in die richtige Richtung, und wir haben uns im Ausschuss bei diesem Änderungsantrag deshalb auch enthalten. Die Probleme des Gesetzentwurfes werden damit aber nicht gelöst. Weil einerseits erhebliche Zweifel bleiben, wie das funktionieren oder wer das wie effizient kontrollieren soll, und weil wesentliche andere Risiken des Gesetzentwurfs zum Versandhandel nach wie vor unberücksichtigt bleiben. Solange eine europaweite Harmonisierung des Tierarzneimittelrechts nicht erfolgt und nur vage für die nächsten Jahre angekündigt wird, kann und wird der Vertrieb solcher Mittel mit erheblichen tiergesundheitlichen, und damit tierschutzrechtlich relevanten, und rechtlichen Risiken verbunden sein. Die Bundestierärztekammer spricht von kaum vorstellbaren Konsequenzen, die trotz einer faktischen Verschreibung durch einen Tierarzt drohen. Lediglich Zufallstreffer würden Verstöße gegen das geltende Recht aufdecken, der Versandhandel bleibt de facto unkontrollierbar. Der bereits gegenwärtig kaum zu überschauende, erst recht kaum zu kontrollierende Internethandel wird die formal bestehende Verschreibungspflicht ins Lächerliche ziehen. Wie sollten Apotheken in anderen EU-Mitgliedstaaten nachvollziehen können, ob ein nach nationalen Regelungen gültiges Rezept vorliegt? Diese Frage stellt sich abgesehen vom gezielten Missbrauchspotenzial. Wahrscheinlich brauchen wir dann neben Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Lebens- oder Futtermittel zukünftig auch eine für den Internethandel mit Tierarzneimitteln, um wenigstens grobe Verstöße gegen die gesetzlichen Regelungen überhaupt erkennen und beweisen zu können. An dieser Stelle kann ich die Bundesregierung nur fragen, wie sie unter diesen Bedingungen falsche und eigenmächtige Anwendungen von Tierarzneimitteln wenigstens behindern will? Völlig unbeachtet bleibt im Gesetzentwurf die Frage, wie Tierhalterinnen und Tierhalter sich der Echtheit der im Internet angebotenen Arzneimittel sicher sein können. Gefälschte Medikamente können gravierende gesundheitliche Schäden bei Tieren nach sich ziehen. Die Öffnung des Marktes durch den Versandhandel macht es zudem nur allzu wahrscheinlich, dass bei preiswerteren Produkten aus dem EU-Ausland eine Zunahme des regulären Medikamenteneinsatzes folgt. Der Hinweis des Bundesrates auf das Risiko dadurch verstärkt steigender Antibiotikaresistenzraten wird im Gesetzentwurf nur unzureichend aufgegriffen. Dies ist wohl kaum mit der deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie in Übereinstimmung zu bringen. Außerdem sollten wir daran denken, dass es eine steigende Zahl von Heim- und Haustierhalterinnen und -haltern gibt, die in Armut leben und möglicherweise in Versuchung sein könnten, sich wenigstens billige Tierarzneimittel zu besorgen, wenn sie denn den Besuch beim Tierarzt oder bei der Tierärztin schon nicht bezahlen können. Wer will ihnen das verdenken? Es war die schwarz-gelbe Koalition, die die Kosten für die Haltung von Haustieren aus dem Regelsatz gestrichen hat, obwohl der Hund oder die Katze für immer mehr Menschen der letzte Anker in der Gesellschaft geworden sind. Zunehmende Missbrauchsmöglichkeiten im Arzneimittelhandel, Unkontrollierbarkeit des Versandhandels und die Gefahr eines weiteren deutlichen Anstiegs des Medikamentenkonsums sehen wir als Folgen dieser Gesetzesnovelle. Deshalb kann die Linke diesen Gesetzentwurf nur ablehnen. Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziel des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfes ist es, den Versandhandel für Tierarzneimittel teilweise zu öffnen. Betroffen sind davon apothekenpflichtige und verschreibungspflichtige Arzneimittel für Tiere, wenn diese Tiere nicht zur Lebensmittelgewinnung verwendet werden. Wir sind der Meinung: Tiere müssen von einem Tierarzt begutachtet und untersucht werden, bevor dem Tier Arzneimittel verabreicht werden. Die persönliche Beratung des Tierhalters und gegebenenfalls seine Einweisung in die Arzneimittelverabreichung sind unseres Erachtens nach unverzichtbar. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehen die geplante Öffnung des Versandhandels für Tierarzneimittel kritisch, da auch der Versand aus dem europäischen Ausland möglich ist. Leider gibt es aber bislang keine EU-weite Regelung der tierärztlichen Verschreibung, die die Untersuchung der betroffenen Tiere durch den behandelnden Tierarzt und seine Behandlungskontrolle vorschreibt. Aus Gründen des Tierschutzes, des Gesundheitsschutzes und der Arzneimittelsicherheit muss aber gewährleistet werden, dass Tierhalter keine Arzneimittel beziehen können, die nicht für die Behandlung ihres Tieres geeignet oder gar nicht vorgesehen sind. Dies ist vor allem relevant für verschreibungspflichtige Tierarzneimittel, zu denen auch Antibiotika zählen. Wir haben die begründete Befürchtung, dass bei der Abgabe von Arzneimitteln, die auch auf die menschliche Gesundheit gravierende Auswirkungen haben können, via Versandhandel aus anderen EU-Ländern Probleme entstehen können. So kann das Ziel, antibiotikaverursachte Resistenzbildungen aktiv zu vermeiden, eben nicht erreicht werden. Auch wenn der überwiegende Teil der Tierhalter sich korrekt verhält, muss verhindert werden, dass der Missbrauch von Tierarzneimitteln möglich wird. Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurden unsere Bedenken zum Teil aufgegriffen. So soll festgelegt werden, dass "Tierhalter ... verschreibungspflichtige Arzneimittel bei Tieren nur anwenden dürfen, wenn die Arzneimittel von dem Tierarzt verschrieben oder abgegeben worden sind, bei dem sich die Tiere in Behandlung befinden." Diese Bestimmung soll dem Tierhalter den Einsatz von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln, die ohne vorherige Konsultation bzw. ohne vorherige Verschreibung durch einen Tierarzt in seinen Besitz gelangt sind, verhindern. Diese Änderung begrüßen wir daher. Solange es jedoch keine Vereinheitlichung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene gibt, halten wir eine Öffnung des Versandhandels - insbesondere für verschreibungspflichtige Tierarzneimittel - für problematisch. Wir sehen aber auch, dass ein Beschwerdeverfahren der EU-Kommission gegenüber Deutschland anhängig ist und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Rechnung zu tragen ist, zumal die Öffnung des Versandhandels im Bereich der Humanmedizin bereits erfolgt ist. Eine Harmonisierung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene ist unabdingbar. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich für eine zügige Vereinheitlichung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene einzusetzen - mit der Maßgabe, den Missbrauch oder gesundheitsschädigenden Einsatz von Tierarzneimitteln zu verhindern. Außerdem fordern wir das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf, von seiner Ermächtigung durch § 56 a Abs. 3 Gebrauch zu machen und per Verordnung vorzuschreiben, dass bestimmte Arzneimittel nur durch den Tierarzt selbst angewendet werden dürfen, wenn diese Arzneimittel für die Gesundheit von Mensch und Tier gefährlich sein könnten oder wenn Missbrauch möglich ist. In der Gesamtschau bleiben weiterhin Bedenken, sodass wir uns bei dieser Änderung des Arzneimittelgesetzes enthalten. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbieten (Tagesordnungspunkt 13) Erich G. Fritz (CDU/CSU): Der Export von Waffen gehört zweifellos zu den sensibelsten Bereichen des Außenhandels. Deswegen sind die rechtlichen Bestimmungen in diesem Gebiet eindeutig und in Deutschland äußerst strikt. Die Bundesregierung übt eine verantwortungsvolle Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexporten aus und ist keinesfalls "lasch" in der Kontrolle der Rüstungsexporte - auch wenn die Fraktion Die Linke uns mit ihrem Antrag etwas anderes weismachen will. Grundlage bilden die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus dem Jahr 2000, das Außenwirtschaftsgesetz, die Prüfungen durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, bzw. den Bundessicherheitsrat und der Verhaltenskodex der EU vom 8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat verabschiedet wurde. Ich zitiere Greenpeace: "Über jede Patrone, die das Land verlässt, wird also gründlich Buch geführt." Der Fall Heckler & Koch, ein Oberndörfer Kleinwaffenhersteller, wird von der Fraktion Die Linke benutzt, um die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung erneut in den Medien als "außerordentlich lasch" zu kritisieren und den Waffenexport als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar darzustellen. Wahr ist, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart sowie das Zollkriminalamt Köln derzeit den Verdacht prüfen, dass Heckler & Koch im Jahr 2006 mit Exporten in mexikanische Unruheprovinzen (Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco) gegen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen haben sollen. Die Bearbeitung von Anträgen von Heckler & Koch für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Mexiko wurde deshalb zeitweilig ausgesetzt. Der Linksfraktion geht das nicht weit genug; sie fordert, auch die Bearbeitung der Exportanträge des Unternehmens in andere Länder auszusetzen. Die Frage, ob und in welchem Umfang die Firma Heckler & Koch Waffen unter Verstoß gegen das deutsche Exportkontrollrecht Sturmgewehre des Typs G36 nach Mexiko geliefert hat, ist bislang nicht abschließend geklärt. Vielmehr ist sie Gegenstand des laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Im Lichte des Ergebnisses dieses Ermittlungsverfahrens wird die Bundesregierung prüfen, ob wegen mangelnder Zuverlässigkeit des Unternehmens weitere Genehmigungsverfahren auszusetzen oder erteilte Genehmigungen zurückzunehmen sind. Heckler & Koch beteuert, im Einvernehmen mit der Ausfuhrgenehmigung des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle ausschließlich an die dafür gesetzlich vorgesehene Waffeneinkaufsbehörde, D.C.A.M., welche dem mexikanischen Verteidigungsministerium untersteht, geliefert zu haben. Das BAFA hatte den Antrag von Heckler & Koch ausschließlich für 28 der 32 mexikanischen Bundesstaaten genehmigt, da in den anderen Bundestaaten anhaltende Menschenrechtsverletzungen vorliegen. Vor diesem Hintergrund der Strafanzeige von Jürgen Grässlin begrüßt Heckler & Koch die Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, da vom Anzeigeerstatter bisher nur einseitige Informationen über mediale Kanäle verbreitet wurden. Die Fraktion Die Linke hat bereits vermehrt die Kontrolle des Endverbleibs deutscher Kriegswaffen und Rüstungsgüter als "unzureichend" kritisiert. Seien Sie jedoch versichert, dass bei jedem Antrag auf Ausfuhrgenehmigung eine strikte Einzelfallprüfung stattfindet. Die Bundesregierung prüft und bewertet vor Erteilung einer Genehmigung für die Lieferung von Rüstungsgütern alle vorhandenen Informationen über den Endverbleib der betroffenen Rüstungsgüter. Dies sehen der "Gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern" und die entsprechenden Regelungen der "Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" vom 19. Januar 2000 vor. Sofern es keine Zweifel am Endverbleib der zu liefernden Kriegswaffen gibt und die übrigen für eine Genehmigung eines Kriegswaffenexports notwendigen rechtlichen und politischen Voraussetzungen gegeben sind, können Genehmigungen erteilt werden. Durch die Ex-ante-Prüfung wird von vornherein gesichert, dass Rüstungsgüter nicht an Empfänger geliefert werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die Güter umgeleitet werden. Wenn Zweifel am gesicherten Endverbleib beim Empfänger bestehen, werden Ausfuhranträge abgelehnt. Darüber hinaus sichern Empfänger in sogenannten Endverbleibserklärungen der Bundesregierung zu, die betreffenden Güter nicht ohne Zustimmung der Bundesregierung an andere Staaten weiterzuverkaufen. Dies wird grundsätzlich bei allen Exporten von Rüstungsgütern verlangt. Lieferungen von Kriegswaffen sowie sonstigen Rüstungsgütern, die nach Umfang oder Bedeutung für eine Kriegswaffe wesentlich sind, dürfen nur bei Vorliegen von amtlichen Endverbleibserklärungen, die ein Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt enthalten, genehmigt werden. Die Bundesregierung lässt sich zusätzlich zu den Endverbleibserklärungen weitere geeignete Dokumente wie zum Beispiel Erläuterungen des Empfängers zum beabsichtigten Verwendungszweck, technische Unterlagen oder internationale Einfuhrbescheinigungen (International Import Certificates) vom Endempfanger deutscher Rüstungsgüter vorlegen. Die Vereinbarkeit von Waffenexporten mit dem Friedensgebot des Grundgesetztes ist somit gewährleistet. Die Bundesregierung erhält im Zusammenhang mit außenwirtschafts- bzw. kriegswaffenrechtlichen Genehmigungsverfahren in Form der Genehmigungserteilung laufend einen Überblick über den Endverbleib von der Bundesrepublik Deutschland ausgeführten Rüstungsgütern. Eine Genehmigung für die Vergabe von Lizenzen ist nach dem Außenwirtschaftsgesetz, AWG, und/ oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz, KWKG, erforderlich, wenn im Zusammenhang mit der Lizenzerteilung Technologie in Form von Know-how, Fertigungsunterlagen und -maschinen oder Komponenten ausgeführt werden sollen, die selbst dem AWG und/oder KWKG unterfallen. Alle Entscheidungen über Rüstungsexporte werden nach sorgfältiger Abwägung der außen-, sicherheits- und menschenrechtspolitischen Belange im Einzelfall getroffen. Zusätzlich kann die Bundesregierung nachträglich Überprüfungen der Einhaltung von Endverbleibserklärungen durchführen. Erkenntnisse, ob die der Genehmigung zugrunde liegenden Informationen zutreffend waren, können sich aus nachrichtendienstlichem Aufkommen, aus dem Informationsaustausch mit anderen Regierungen sowie aufgrund der bei exportierenden Unternehmen durchgeführten Betriebsprüfungen ergeben. Die Einhaltung eingegangener Endverbleibszusagen ist für die Bundesregierung eine wichtige Voraussetzung für die etwaige Erteilung weiterer Ausfuhrgenehmigungen. In Fällen des begründeten Verdachts auf Verstöße gegen Endverbleibszusagen, wie im Fall Heckler & Koch, wird die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für den betreffenden Empfänger so lange ausgesetzt, bis der Sachverhalt umfassend aufgeklärt ist. Die Entscheidung, ob die Erklärungen eines Landes oder eines Unternehmens generell als nicht verlässlich einzustufen sind, muss die Bundesregierung wegen der damit verbundenen Folgen mit großer Sorgfalt treffen. Hierfür ist es erforderlich, dass der Sachverhalt weitestgehend aufgeklärt ist. Dies ist wegen des noch andauernden Ermittlungsverfahrens jedoch nicht der Fall. Deshalb ist es sehr wohl sachlich zu begründen, dass der Exportstopp nicht für alle Exporte des Unternehmens, sondern nur für die nach Mexiko gilt. Für eine Aussetzung der Bearbeitung von Exportanträgen anderer deutscher Firmen nach Mexiko besteht bislang kein Anlass. Das deutsche System der Exportkontrolle für Rüstungsgüter gewährleistet in zuverlässiger Weise die Sicherung des Endverbleibs. Dies bestätigen die Erfahrungen der deutschen Exportkontrollpraxis. Die Bundesregierung hat seit Jahrzehnten gute Erfahrungen mit diesen Regelungen gemacht. Nur in wenigen Einzelfällen ist eine Umleitung bekannt geworden. Der Antrag der Fraktion Die Linke bezeichnet zudem den Export von Kleinwaffen als "unkalkulierbares Risiko und ernsthaftes Problem für den Frieden, die Sicherheit und die soziale Stabilität". Dass der unerlaubte Handel mit Klein- und Leichtwaffen ein sicherheitspolitisches Problem ist, wurde jedoch längst nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer und internationaler Ebene erkannt. Deutschland engagiert sich aktiv im Rahmen des VN-Kleinwaffenprozesses, der den globalen Referenzrahmen für Bemühungen um Kleinwaffenkontrolle bildet. Darüber hinaus bemüht sich Deutschland auch in spezifischen Thematiken wie Markieren und Nachverfolgen, Lagerverwaltung und Umgang mit Munitionsbeständen um Fortschritt mittels Förderung von regionalen Seminaren und Konferenzen der Vereinten Nationen, Organisation von Expertentreffen sowie Einbringung spezifischer VN-Resolutionen. Zur Förderung konkreter Maßnahmen der Projektarbeit ist Deutschland im Rahmen der in New York tagenden Gruppe interessierter Staaten (GIS - Group of Interested States) engagiert. Die EU und ihre Mitgliedstaaten gehören mit ihrem Engagement im Kleinwaffenbereich zu den wichtigsten Akteuren weltweit. Bereits in der 2003 im Auftrag des Hohen Vertreters der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, erstellten und von ihm dem Europäischen Rat vorgelegten Europäischen Sicherheitsstrategie wird die Gefahr der illegalen Kriminalität am Beispiel des unerlaubten Handels mit Klein- und Leichtwaffen thematisiert. Im Dezember 2005 verabschiedete der Europäische Rat die EU-Kleinwaffenstrategie, deren Umsetzung einen Schwerpunkt der deutschen EU-Präsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 bildete. Zuletzt hat der Rat sich über eine Maßnahme der EU zur Bekämpfung des unerlaubten Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen auf dem Luftweg (Ratsdokument 8679/10 vom 29. Oktober 2010) geeinigt. Deutschland engagiert sich darüber hinaus auch im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE. Die OSZE hat bereits im November 2000 das Dokument über Kleinwaffen und leichte Waffen verabschiedet, das gemeinsame Ausfuhr- und Überschusskriterien aufstellt, regionale Transparenz von Kleinwaffentransfers schafft und die Grundlage für einen umfassenden Informationsaustausch bildet. Im Rahmen einer von Deutschland finanziell unterstützten zweitägigen Konferenz im September 2009 wurden noch bestehende Defizite und mögliche Schritte zur Verbesserung der Umsetzung des OSZE-Kleinwaffendokuments identifiziert. Deutschland engagiert sich auch bilateral vielfältig im Kleinwaffenbereich. Einen Schwerpunkt bildet z. B. die Projektarbeit in Subsahara-Afrika und Osteuropa sowie die enge Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Arabischen Liga, AL, um das Thema Kleinwaffenkontrolle in der Region stärker zu verankern. Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements in der Kleinwaffenkontrolle auf allen Ebenen sowie aufgrund der positiven Erfahrungen der deutschen Exportkontrollpraxis, die nicht nur dem in Europa üblichen System entspricht, sondern darüber hinaus als wirksames Kontrollsystem anerkannt ist und weltweit hohes Ansehen genießt, ist der Antrag der Fraktion Die Linke "Alle Waffenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers verbieten", abzulehnen. Rolf Hempelmann (SPD): Die Kontrolle des Exports von Kriegswaffen ist ein Thema, mit dem sich die SPD-Bundestagsfraktion schon sehr lange beschäftigt. Bereits in den 70er-Jahren wurden Grundsätze der Rüstungs- und Waffenexportkontrolle formuliert, die bis heute gelten. Schon aus unserer eigenen Vergangenheit fühlen wir uns einer restriktiven Rüstungs- und Waffenexportpolitik verpflichtet. Geregelt ist der Export von Rüstung und Waffen im Außenwirtschaftsgesetz, im Kriegswaffenkontrollgesetz und in den "Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern". Bei Rüstungsexporten in andere Länder als EU-Mitgliedstaaten, NATO-Länder und NATO-Ländern gleichgestellte Staaten hat sich die Bundesrepublik eben einer restriktiven Rüstungsexportpolitik verpflichtet. Auch in Europa schweben wir nicht im leeren Raum. Im Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP des Rates haben wir uns mit unseren Partnern in der Europäischen Union Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern gesetzt. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, halten Kriterien wie Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, Beachtung der nachhaltigen Entwicklung in den Empfängerländern, Friedenserhalt und Konfliktvermeidung bei der Bewertung von Waffenexporten für absolut entscheidend. Negative Bewertungen müssen dann auch zum Entzug von Genehmigungen führen, beziehungsweise es dürfen dann keine Genehmigungen erteilt werden. Jedoch sehen wir bei der derzeitigen Bundesregierung die Aufweichungstendenzen bei der konsequenten Durchsetzung einer restriktiven Rüstungspolitik. Dies scheint natürlich konsequent. So spricht die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag auch nicht mehr von "restriktiver", sondern von "verantwortungsbewusster Genehmigungspolitik für die Ausfuhr von Rüstungsgütern". Nun liegt uns ein Antrag der Fraktion Die Linke vor, wonach alle Waffenexporte eines Exporteurs verboten werden sollen. Ja, die Überschrift lässt mehr erwarten, als der Antrag dann hält. Es ist gut und richtig, dass wir uns hier und heute mit möglichen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz befassen. So etwas muss auf unsere Tagesordnung und in unser Bewusstsein. Gerade vor dem Hintergrund, dass es nicht das erste Mal ist, dass die Heckler & Koch GmbH - und um die geht es hier, auch bei der ein wenig verklausulierten Formulierung des Antragstitels - in die Schlagzeilen geraten ist. Schon mehrfach standen sie im Verdacht, das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz verletzt zu haben. Schon mehrfach tauchten in Spannungsgebieten Waffen von ihnen auf. In diese Gebiete dürfen keine Waffen geliefert werden. Hintergrund dieser Regelung ist, dass, wer Waffen in ein Spannungsgebiet an Konfliktparteien liefert, sich mindestens faktisch zur Konfliktpartei macht, weil er den Konflikt sehr konkret unterstützt. Bei den vorherigen Malen erhärteten sich die Vorwürfe nicht zu einem konkreten Strafdelikt. Hier handelt es sich derzeit um ein schwebendes Verfahren. Die Durchsuchungen waren im Dezember, deren Ergebnisse werden erst noch ausgewertet. Diesbezüglich sollten wir die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abwarten. Jedoch muss schon jetzt beachtet werden, dass nach den Grundsätzen der Bundesregierung zum Export von Kriegswaffen Zuverlässigkeit des Exporteurs ein wichtiges Kriterium zur Erteilung der Exportgenehmigung ist. Die Bundesregierung hat nach eigener Aussage die Bearbeitung von Anträgen, die das Unternehmen Heckler & Koch für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Mexiko gegenwärtig gestellt hat, ausgesetzt. Die Frage, die sich hier stellt: Wie weit ist die Fortsetzung von möglichen kriminellen Aktivitäten eingeschränkt, wenn nur die Neuerteilung von Genehmigungen an Heckler & Koch nach Mexiko nicht weiter erfolgt, erteilte Genehmigungen aber fortbestehen und Genehmigungen zum Export in andere Länder erteilt werden. Rüstungs- und Waffenexport ist ein hochsensibles Thema, bei der Kontrolle geht es auch um unser außenpolitisches Ansehen - um das außenpolitische Ansehen Deutschlands. Laufende staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu möglichen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz führen trotz des Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Exporteurs. Und, weil dieses Thema so hochsensibel ist, ist es dann nicht konsequent, auch bestehende Genehmigungen für die Dauer des Verfahrens auszusetzen und keine neuen Genehmigungen zu erteilen? Da gehen unsere Vorstellung deutlich über die im vorliegenden Antrag formulierte Aufforderung hinaus. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht aber noch ein anderes Problem. Wir finden, die Informationspolitik der Bundesregierung ist unzureichend. Seit April 2010 ermittelt die Staatsanwaltschaft. Die Durchsuchungen fanden im Dezember 2010 statt. Aber erst auf die Anfrage der Linken äußert sich die Bundesregierung im Januar 2011 zu der Problematik. Das ist zu spät und, wenn man sich die Antworten der Bundesregierung ansieht, zu wenig. Wenn im Bereich des Waffen- und Rüstungsexportes solche Probleme mit einem Exporteur auftreten, muss eine unverzügliche Mitteilung an das Parlament erfolgen. In diesem hochsensiblen Bereich müssen wir über bessere Beteiligungs- und Informationsformen des Parlaments nachdenken. Wir können das nicht allein und zu 100 Prozent der Exekutive überlassen. Diesen Antrag zum Anlass nehmend sollten wir uns daher über eine effiziente Beteiligung des Parlaments Gedanken machen. Zwar ist die Genehmigung von Rüstungsexporten Sache der Exekutive, aber uns obliegt die Kontrolle, und ohne umfangreiche Informationen kann keine wirkliche Kontrolle erfolgen. Dabei müssen wir natürlich beachten, Geschäftsgeheimnisse, nicht zu publizieren und uns als Parlament nicht zu überlasten. Aber auch ein anderer Gesichtspunkt erscheint uns wichtig: Es besteht immer noch ein Problem in der Transparenz, wie viele Waffen nun exportiert werden. Zwar wird im Rüstungskontrollbericht dargestellt, für welche Anzahl von Waffen Genehmigungen erteilt wurden. Es wird aber nicht erhoben und kontrolliert, wie viel letztendlich davon exportiert wird. Diese Lücke zwischen genehmigten Waffenexporten und tatsächlich exportierten Waffen muss geschlossen werden. Wir brauchen eine valide Erhebung der tatsächlichen Zahlen. Es gibt also viel zu besprechen und zu tun. Das sollten wir im zuständigen Ausschuss machen. Die Bundesregierung steht in der Pflicht, uns ausführliche Auskünfte zu erteilen und uns Vorschläge zu unterbreiten, wie eine valide Zahlengrundlage erlangt und wie in Zukunft das Verfahren zu einer effektiven Zusammenarbeit verbessert werden kann. Klaus Breil (FDP): Die Frage, ob die Oberndorfer Firma unter Verstoß gegen das deutsche Exportkontrollrecht Waffen nach Mexiko geliefert hat, ist keineswegs geklärt - so wie es die Linke uns suggerieren will. Vielmehr ist sie Gegenstand eines laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Bei jedem Antrag auf Ausfuhrgenehmigung findet eine strikte Einzelfallprüfung statt. Nur dann, wenn es keine Zweifel am Endverbleib der zu liefernden Kriegswaffen gibt und die notwendigen rechtlichen und politischen Voraussetzungen gegeben sind, werden Genehmigungen erteilt. Die von den Linken geforderte Untersagung aller Ausfuhren käme einer Vorverurteilung gleich und ist in der Forderung maßlos. In Deutschland entscheiden Gerichte über Schuld und Unschuld. Bis dahin herrscht die Unschuldsvermutung. Sie ist die Grundlage eines jeden Rechtsverfahrens. Offensichtlich hat sich dies bei den Linken noch nicht herumgesprochen. Oder schimmert hier vielmehr der wahre Kern der Linken unter einer demokratischen Lackschicht hervor? Frei nach dem Motto: Wer schuld ist, bestimmt immer noch die Partei und nicht irgendwelche Gerichte. Würde man schließlich der verdrehten Logik eines Generalverbotes folgen, müßte konsequenter Weise die Fraktion der Linken bei jedem vagen Stasi-verdacht gegen eines ihrer Mitglieder sofort die Arbeit einstellen und die Fraktion auflösen. Im Übrigen hat es in der Vergangenheit bereits mehrfach Versuche gegeben, dem Unternehmen in Oberndorf angeblich illegale Rüstungsexporte anzuhängen. Sie alle waren haltlos und sind im Sande verlaufen. Zudem richtet sich das Ermittlungsverfahren nicht gegen das Unternehmen selbst, sondern gegen bestimmte Personen, die für das Unternehmen tätig sind oder waren. Daher können selbst im Falle eines erwiesenen Verstoßes gegen außenwirtschafts- oder kriegswaffenkontrollrechtliche Vorschriften nur diese Personen belangt werden und nicht das Unternehmen selbst - sofern die betroffenen Personen nicht mehr an verantwortlicher Stelle im Unternehmen tätig sind. Vielmehr scheint mir das Ziel der Linken ein ganz anderes zu sein: Es geht ihr um die Schwächung unliebsamer Unternehmen und um die Destabilisierung des Sicherheitsgefüges im Ganzen: Schließlich beliefert das Oberndorfer Unternehmen die Streit- und Sicherheitskräfte von NATO- und EU-Staaten. Diese sind auf eine permanente Ersatzteilversorgung angewiesen. Die Versorgung aufrechtzuerhalten ist bei einem Exportverbot undenkbar. Das Vertrauen in die Lieferzuverlässigkeit der gesamten deutschen Rüstungsindustrie sowie in die Berechenbarkeit der deutschen Rüstungsexportpolitik würde erschüttert. Zudem ist das Unternehmen wichtiger Lieferant für die Bundeswehr und die Polizeien in Deutschland. Eine erzwungene Beschränkung auf den Binnenmarkt durch ein völliges Exportverbot hätte zur Folge, daß die Fertigungskapazitäten nicht mehr ausgelastet werden könnten. Das Unternehmen wäre wirtschaftlich nicht mehr zu führen. Arbeitsplatzverluste und gegebenenfalls eine völlige Schließung des Unternehmens wären die Folge. Allein hierum geht es den Linken. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Beschlussempfehlung und Bericht: Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken - Antrag: Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen - Antrag: Die Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 14 a und b und Zusatztagesordnungspunkt 7) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Fast monatlich hören wir in den Medien, dass Textilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum der Textilproduktion für Deutschland, auf die Straße gehen und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Landes, in denen auch zahlreiche westliche Firmen wie zum Beispiel H&M und Levi Strauss produzieren lassen, protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Versammlungsrechte massiv einschränken. Ganz klar gesagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wie wir sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzeptabel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtlichen Grundsätze unserer westlichen Industriegesellschaft. Richtig verstandene Unternehmensverantwortung deutscher und internationaler Unternehmen muss sich an den tatsächlichen Produktionsbedingungen in unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verantwortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deutschen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unternehmensverantwortung positiv auch für die Arbeitsbedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unternehmen muss erst einmal bewusst gemacht werden, welchen wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunternehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die neue Form des "Social Business" einen Mehrwert für jedes Unternehmen hat. Manche haben diesen Weg bereits kräftig eingeschlagen; ich möchte an dieser Stelle unter anderem OTTO, Puma, hessennatur oder adidas benennen. Diese Unternehmen haben bei dem CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stiftung Warentest positiv abgeschnitten. Gerade die OTTO AG, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis Hamburg-Wandsbek, spielt eine besondere Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von "Social Business" mit dem Friedensnobelpreisträger Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangladesch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich akzeptable Arbeitsbedingungen, erfüllt. Diesen Schritt unternimmt die OTTO AG gerade unter dem Eindruck seiner erfolgreichen "Social Business"-Vorhaben in Afrika - Vorhaben, bei denen für Baumwollfarmer Know-How-Transfer geleistet wurde, damit sie zukünftig effektiver anbauen können, Vorhaben, bei denen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschenrechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit diesem Thema beschäftigt, gerade das Engagement solcher Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervorzuheben. Dieser Weg des positiven Hervorhebens oder, im Gegenteil, des öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger-Stellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK geschehen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben dürfen und würde mir wünschen, dass gerade auch die Grünen positive Leuchtturmprojekte als Chance sehen, sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu organisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verantwortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deutschen Mittelstand immer wieder grundsätzlich moralisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Dies sollte sich die Opposition endlich einmal hinter die Ohren schreiben. Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unseren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den internationalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders auf die Bemühungen der Arbeitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht, mit dem Aktionsplan CSR eine neue Benchmark für die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen. Ziel der Initiative ist es, verstärkt kleine und mittelständische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleichzeitig soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerkennung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bundesregierung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will. Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vorgetragen. Damit ist klar, welchen Weg die Bundesrepublik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft die Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in meiner Fraktion, sondern im gesamten Haus sehr unterschiedliche Auffassungen von Sinn und Zweck der Leitlinien bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Verbesserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die Bundesregierung sich der Überarbeitung der Leitsätze der OECD positiv nähert. Es ist zu beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige Instrument sind, das die Förderung globaler Unternehmensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leitlinien sein - gerade auch im Hinblick auf die Vorbildfunktion gegenüber anderen Partnern. Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/ CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Diskussionsprozess angesprochen werden müssen. Die Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausgeweitet werden können. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen mit nicht nachhaltigem Wirtschaften von staatlichen Förderinstrumenten eine Zeit lang ausgeschlossen werden. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entstehenden Interessenkonflikte dürfen nicht sein und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will. Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes für Geschädigte gegenüber den internationalen Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Ausland ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungsverhandlungen verankert. Der Grund ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstandards in den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es auch nicht gerecht, dass deutsche und internationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationalen Gerichten verklagt werden können. Es muss in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort ermöglicht, Recht erst einmal im eigenen Land zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO, die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger und einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung erkennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhalten. Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwischen importierenden deutschen und internationalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung nimmt sich dieser Maxime an; es ist der moralische Anspruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen. Ullrich Meßmer (SPD): 2011 ist ein wichtiges Jahr im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. 2011 können in entscheidender Weise die Weichen für die Stärkung der Menschenrechte und den weiteren Ausbau der gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung gestellt werden. In Deutschland liegt seit einigen Monaten der Aktionsplan zur gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung, kurz CSR, vor, dessen Umsetzung in diesem Jahr erfolgen wird. CSR oder Corporate Social Responsibility stellt die unternehmerische Gesellschaftsverantwortung in den Punkten Menschen- und Arbeitnehmerrechte, Gesellschaft und Umwelt auf freiwilliger Basis dar. Im Juni wiederum wird der UN-Menschenrechtsrat über die sogenannten Guiding Principles von John Ruggie, dem UN-Sonderberichterstatter für Wirtschaft und Menschenrechte, abstimmen. Zur selben Zeit wird auch die Revision der OECD-Leitsätze abgeschlossen sein. Die OECD-Leitsätze beinhalten Vorgaben zur Einhaltung von Sozial- und Arbeitsstandards, zur Korruptionsbekämpfung, zur Steuerehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz. Die Leitsätze stehen an der Schnittstelle zwischen verbindlichen und freiwilligen Ansätzen und gelten derzeit als das weitreichendste Instrument zur Stärkung der globalen Unternehmensverantwortung. Für die 31 Mitgliedstaaten der OECD sowie für 11 weitere Staaten, die sich den Leitsätzen angeschlossen haben, sind diese verbindlich; für Unternehmen sind sie freiwillig. Aufgrund der Leitsätze haben bereits 42 Staaten sogenannte nationale Kontaktstellen eingerichtet, die die Leitsätze implementieren, über ihre Einhaltung wachen und Beschwerden entgegennehmen. John Ruggie sowie viele Nichtregierungsorganisationen hatten seit längerem den Reformbedarf der Leitsätze unterstrichen und auf verschiedene Schwachstellen hingewiesen. Gleichzeitig betonten sie aber auch ihr Potenzial, die Regelungslücke zwischen den zunehmenden Rechten von Unternehmen und den fehlenden korrespondierenden Pflichten zu schließen. Mit seinem Rahmenwerk Guiding Principles will Ruggie zwischen den bestehenden teils freiwilligen, teils verbindlichen Normen vermitteln. Sein Rahmenwerk beruht auf drei Säulen: erstens Protect, also die staatliche Verpflichtung, die Menschenrechte gegenüber Verletzungen Dritter zu schützen; zweitens Respect, also die Verantwortung von Unternehmen, die Menschenrechte zu respektieren; drittens Remedy, also Zugang der Opfer zu effektiven Beschwerde- und Abhilfemaßnahmen. In diesem Kontext treten die Schwachstellen der Leitsätze deutlich zutage und bewegen sich zugleich die Verhandlungen über ihre Revision. Um folgende Schwachstellen geht es im Wesentlichen: erstens der zu schwache Bezug zu den Menschenrechten; zweitens die stark divergierende Ausstattung, Anbindung und Arbeitsweise der nationalen Kontaktstellen; drittens der zu große Spielraum beim Investitionsbezug; viertens die fehlenden Sanktionsmöglichkeiten; fünftens die fehlende Transparenz in der Steuerlegung der Unternehmen. Kommen wir zu den Menschenrechten. Obwohl die Einhaltung der Menschenrechte für verantwortliches Unternehmerhandeln wesentlich ist, haben die Menschenrechte bislang nur Eingang in die Allgemeinen Grundsätze der OECD-Leitsätze gefunden. Auch werden die Menschenrechte durch den Zusatz "im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen und Engagements der Regierung des Gastlandes" eingeschränkt. Das widerspricht ihrem universellen Gültigkeitsanspruch und bleibt hinter dem inzwischen international erzielten Konsens über die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen zurück. Umso mehr begrüßt der Deutsche Bundestag, dass die überarbeiteten OECD-Leitsätze ein eigenes Kapitel Menschenrechte haben werden. Wir als SPD-Fraktion hoffen darüber hinaus, dass das Menschenrechtskapitel nicht nur eine Hilfestellung für Unternehmen darstellt, sondern als Verpflichtung für unternehmerisches Handeln betrachtet wird. Kommen wir zu den Problemen mit den nationalen Kontaktstellen, den sogenannten NKS. Hauptproblem sind die Zulassung von Beschwerdefällen und ihre Bearbeitung. Besonders in Deutschland werden Beschwerden häufig mit dem Hinweis auf den fehlenden Investitionsbezug, den sogenannten Investment Nexus abgewiesen. Auch die Ansiedelung der deutschen NKS im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen ist nicht unproblematisch. Interessenkonflikte sind hier vorprogrammiert. Im Rahmen der Überarbeitung wäre es daher sinnvoll, alle NKS auf Mindeststandards zu verpflichten, was ihre Unabhängigkeit und ihre Arbeit im Sinne der Betroffenen anbelangt. Auch die deutsche NKS sollte eine unabhängige Struktur bekommen, etwa nach dem Vorbild der niederländischen NKS, in der Experten verschiedener Fachrichtungen zusammenarbeiten. Ein weiteres Problem stellt der bereits erwähnte Investment Nexus dar. Der Investment Nexus verhindert häufig, dass die Leitsätze auch bei den Zulieferketten multinationaler Unternehmen angewendet werden, da viele Kontaktstellen - so auch die deutsche - Beschwerden nur dann akzeptieren, wenn ein direkter Investitionsbezug nachweisbar ist. Hier bedauert die SPD-Fraktion, dass die von der Bundesregierung vertretene Position nur in "sehr begrenzten Einzelfällen" eine Ausdehnung der OECD-Leitsätze auch auf die Lieferkette vorsieht. Wir fordern, dass der Geltungsbereich und die Wirksamkeit der OECD-Leitsätze über den Investment Nexus hinaus erweitert wird, damit die OECD-Leitsätze auch auf die Lieferkette angewendet werden können. Darüber hinaus ist es unabdingbar, dass ein Verstoß gegen die Leitsätze für das jeweilige Unternehmen auch Konsequenzen haben muss. Das einzige Druckmittel der OECD-Leitsätze sind sogenannte Abschlusserklärungen, die die nationalen Kontaktstellen bei Verletzungen der Leitsätze erstellen. Hier spricht die NKS Empfehlungen an das Unternehmen aus. Hält sich Unternehmen nicht an die Empfehlungen, gibt es - von einer möglichen Rufschädigung einmal abgesehen - keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten. Das ist unbefriedigend, darin sind sich Nichtregierungsorganisationen und zum Teil sogar Vertreter des CSR-Forums einig. Ein Verstoß gegen die Leitsätze sollte zukünftig für Unternehmen Konsequenzen haben. Bei der Überarbeitung könnten Sanktionsmechanismen vereinbart werden wie der zeitweilige Ausschluss von staatlichen Exportgarantien oder anderen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für ausländische Direktinvestitionen und für den Außenhandel. Als Letztes fordern wir die Bundesregierung auf, bei der Überarbeitung auf länderbezogene Rechnungslegung der Unternehmen zu bestehen, damit globales unternehmerisches Handeln transparent bleibt und problematische Transaktionen - etwa über Steueroasen - sichtbar werden. Ziel muss es sein, die OECD-Leitsätze zu einem schlagkräftigen Instrument zur Stärkung der globalen Unternehmensverantwortung zu machen, damit die Einhaltung der Menschenrechte für das gesamte unternehmerische Handeln verpflichtend wird. Serkan Tören (FDP): Wir lehnen die vorgelegten Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke ab. Die Anträge sind weder substantiiert, noch bieten sie inhaltlich etwas Neues und greifen in ein laufendes Verfahren ein, dessen Abschluss für Mitte 2011 geplant ist. Worum geht es genau? Die OECD-Leitsätze sind der weltweit einzige multilaterale und umfassend anerkannte Kodex zur Förderung globaler Unternehmensverantwortung. Derzeit werden die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines Revisionsverfahrens überprüft. In dem Revisionsprozess werden sowohl Menschenrechtsaspekte, Zulieferbeziehungen als auch die Funktionalität der nationalen Kontaktstellen und Verfahrensaspekte des Beschwerdeverfahrens als besondere Themen der Überarbeitung aufgegriffen. Die Grünen und die Linken nehmen die Überarbeitung der OECD-Leitsätze nun zum Anlass für einen Antrag, der eine Reihe von überholten Forderungen enthält. All diese Forderungen sind aus Sicht der FDP vollkommen überflüssig. Denn die christlich-liberale Koalition verfolgt unter anderem - wie in den Anträgen gefordert - bereits das Ziel, dass die Menschenrechte ein eigenes Kapitel in den OECD-Leitsätzen erhalten. Dies, sehr verehrte Kollegen der Opposition, hat ein Vertreter der Bundesregierung am 11. November 2010 bei der Unterrichtung zu den OECD-Leitsätzen im MR-Ausschuss auch hinreichend dargestellt. Daher ist Ihr Antrag umso erstaunlicher. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP strebt an, dass der sogenannte Investment Nexus beibehalten wird. Dies ist aus Sicht der FDP insofern sachgerecht, als dass zuerst eine Verbreitung der OECD-Leitsätze anzustreben ist statt eine Vertiefung. Bislang haben sich alle 31 OECD-Staaten und 11 weitere Industrienationen zu den OECD-Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung auf Staaten, die einen hohen Anteil an Unternehmen aufweisen, welche etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger Schritt. Dazu zählen Länder wie die kommenden Wirtschaftsmächte Indien und China. Eine Vertiefung der Leitsätze würde von einem Beitritt abschrecken. Darüber hinaus würde es Unternehmen aus Staaten, die den OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnachteile verschaffen. Sanktionsmechanismen, wie von der Opposition in den Anträgen vorgeschlagen, stellen ebenso eine kontraproduktive Verschärfung der OECD-Leitsätze dar. Diese Sanktionsmecha-nismen sind hinderlich für das Ziel, die Akzeptanz der OECD-Leitsätze zu erhöhen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermutigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen sind die Kompetenzen, die Organisation und die Anbindung der nationalen Kontaktstellen ohnehin ein zentraler Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung der Opposition aus Sicht der Liberalen ebenfalls hinfällig. Im Lichte dieser Ausführungen sind die Anträge der Grünen und der Linken als vollkommen überflüssig abzulehnen. Annette Groth (DIE LINKE): Schon bei der Verabschiedung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im Jahr 1976 gab es deutliche Kritik der entwicklungspolitischen Organisationen an der fehlenden Verbindlichkeit der Leitsätze. Aus diesem Grund wird von den entwicklungspolitischen Initiativen und Organisationen seit vielen Jahren über die notwendige Weiterentwicklung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen diskutiert. Germanwatch, Misereor und Transparency Deutschland fordern, dass die OECD-Leitsätze endlich zu einem wirksamen Instrument gegen unternehmerisches Fehlverhalten ausgestaltet werden müssen. Im Zentrum ihrer Kritik steht der fehlende verbindliche Charakter der OECD-Leitsätze. Auch wenn transnationale Unternehmen Fehlverhalten an den Tag legen, führt eine Ahndung durch die nationalen Kontaktstellen zu keinerlei direkten Konsequenzen für die betroffenen Unternehmen. Warum brauchen wir verbindliche Regeln für weltweites unternehmerisches Handeln? Damit sich Schicksale wie das der 18-jährigen Näherin Fatema Akter aus Bangladesch nicht wiederholen. Fatema brach im Dezember 2009 während ihrer Schicht tot zusammen. Sie musste an sieben Tagen in der Woche 13 bis 15 Stunden in der Textilfabrik in der Hafenstadt Chittagong arbeiten und pro Stunde bis zu hundert Jeanshosen reinigen. Rund 80 Prozent der in der Fabrik hergestellten Textilien wurden für Metro produziert, ein deutsches Unternehmen, für das die OECD-Leitsätze gelten. Für die Fraktion Die Linke muss unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeits- und Sozialstandards, aber auch Umweltschutz- und Verbraucherschutzkriterien verbunden werden. Die Leitsätze haben hier lediglich erste Ansätze geliefert. Zwar wird in vielen betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern von "guter Unternehmensführung" und "Best-Practice-Beispielen" geschwärmt. Die Realität der Arbeit vieler transnationaler Unternehmen wird jedoch in vielen Regionen der Welt von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, fehlender Gesundheitsversorgung für die Beschäftigten und katastrophalen Umweltauswirkungen begleitet. Freiwillige Selbstverpflichtungen haben sich in der Praxis als völlig unzureichend erwiesen, da für viele transnationale Unternehmen vor allem der Gewinn und nicht die menschenrechtlichen Aspekte ihrer Arbeit im Vordergrund stehen. Nun besteht mit der Überarbeitung der OECD-Leitsätze die Möglichkeit, die Leitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Sicherung von Menschenrechten in multinationalen Unternehmen weiterzuentwickeln. Sowohl der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als auch der SPD-Antrag haben positive Ansätze. Beide bleiben in ihren konkreten Forderungen jedoch halbherzig. Positiv ist, dass sich alle vorliegenden Anträge für eine Veränderung der bisherigen Organisation der nationalen Kontaktstellen einsetzen. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig von staatlichen Stellen und Ministerien werden. Die beiden anderen Anträge bleiben jedoch deutlich hinter den Forderungen der Linken zurück. Sowohl bei SPD als auch bei Grünen fehlt eine klare Forderung nach einer besseren personellen Ausstattung der nationalen Kontaktstellen. Wir sehen hierin eine wichtige Voraussetzung für eine effektivere Arbeit der nationalen Kontaktstellen. Zurzeit stehen riesige Apparate der transnationalen Konzerne einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kontaktstellen gegenüber. Chancengleichheit in der Arbeit ist so in keiner Weise gegeben. Wenn wir die nationalen Kontaktstellen als wirksames Instrument zur Bekämpfung von Fehlverhalten weiterentwickeln wollen, kann dies nur mit angemessener Personalausstattung geschehen. Deutlich unterscheiden sich die Anträge auch in der Forderung nach Einbeziehung von Gewerkschaften, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen. Einzig die Linke setzt sich dafür ein, dass in Zukunft die nationalen Kontaktstellen paritätisch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen besetzt werden. Wir sind davon überzeugt, dass nur durch die direkte Einbeziehung von unabhängigen Vertreterinnen und Vertretern in die nationalen Kontaktstellen eine unabhängige Kontrolle der transnationalen Unternehmen erreicht wird. Die Linke tritt dafür ein, dass sich multinationale Unternehmen auch für die Verstöße ihrer Subunternehmen und Zulieferer gegen die Leitsätze verantworten müssen. Der Investment Nexus muss hierbei so weiterentwickelt werden, dass auch alle selbstständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe in den Geltungsbereich der Leitsätze fallen und die bisherige Beschränkung der Leitsätze auf grenzüberschreitende Investitionstätigkeiten auf alle Investitionen und Lieferbeziehungen der multinationalen Unternehmen erweitert wird. Die Linke ist davon überzeugt, dass Betroffene die Möglichkeit haben müssen, bei Fehlverhalten von Unternehmen ihre Forderungen individuell einklagen zu können. Dies setzt jedoch voraus, dass die von Unternehmen aus der EU geschädigten Bürgerinnen und Bürgern auch einen ungehinderten und kostenfreien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhalten, auch wenn sie keine EU-Bürgerinnen und -Bürger sind. Mit der Revision der OECD-Leitsätze haben wir die große Chance, einen qualitativen Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegenüber multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung aufgrund einer übertriebenen Rücksichtnahme auf die Interessen der Großkonzerne dem nicht verweigert. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Vorfeld des Fackellaufes zu den Olympischen Spielen in China wurden in der Stadt Kashgar in Xinjiang zahlreiche Uiguren willkürlich festgenommen. Diese Festnahmen gingen nicht etwa auf Straftaten zurück, sondern dienten lediglich dazu, befürchtete Proteste anlässlich des Fackellaufs im Keim zu ersticken. Die Volkswagen AG ließ sich von diesen Menschenrechtsverletzungen im Umfeld des Fackellaufs nicht beirren und unterstützte den umstrittenen sogenannten Lauf der Harmonie großzügig. Zur Rechenschaft gezogen wurde Volkswagen für diese Entscheidung nie. Nun gelten in Deutschland wie auch in allen anderen OECD-Mitgliedstaaten seit 1976 Leitsätze für Unternehmen. Es sollte uns sehr nachdenklich stimmen, dass diese Leitsätze das bisher am weitreichendste Instrument für die Stärkung der globalen Unternehmensverantwortung sind. Denn im Bemühen um eine bessere menschenrechtliche Bindung von Unternehmen sind sie ein stumpfes Schwert. Dies liegt nicht allein daran, dass die Leitsätze für Unternehmen nicht verpflichtend sind, sondern auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen. Die Menschenrechte haben in den Leitsätzen bisher keinen festen Platz. Nur im Grundsatzkapitel werden sie einmal kurz erwähnt. Dort heißt es, Unternehmen sollten die "Menschenrechte der von ihrer Tätigkeit betroffenen Menschen respektieren", dies allerdings nur, wie es dort heißt, "im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen und Engagements der Regierung des Gastlands". In der Praxis hieße dies beispielweise, dass internationale Unternehmen weiterhin billigend in Kauf nehmen dürfen, dass ihre Subunternehmen in Kolumbien in stillschweigender Komplizenschaft mit Guerillas stehen, die für den Mord an Tausenden von Gewerkschaftern verantwortlich sind, und das nur, weil Kolumbien die grundlegenden Konventionen zum Schutz von Gewerkschaftern nie unterzeichnet hat. Eine solch aufgeweichter Grundsatz ist das Papier nicht wert, auf dem er steht, und hat mit menschenrechtlicher Verpflichtung nichts zu tun. Obwohl in den Leitsätzen also ohnehin viel fehlt und ihre Einhaltung vom guten Willen der Unternehmen abhängt, wird in Deutschland noch nicht einmal das geringe Potenzial dieser schwachen Leitsätze voll ausgeschöpft. Wir haben in Deutschland zwar eine sogenannte Nationale Kontaktstelle, die Beschwerden bei Missachtung der Leitsätze bearbeiten soll. Doch das anfangs genannte Beispiel veranschaulicht, dass wir es bei der deutschen Nationalen Kontaktstelle mit einem so gut wie zahnlosen und zudem äußerst lethargischen Tiger zu tun haben. Die meisten Beschwerden, die bei der Nationalen Kontaktstelle in den letzten Jahren eingingen, wurden abgelehnt. Häufig interpretierte die Kontaktstelle den Geltungsbereich der Leitsätze so willkürlich, dass sie sich in vielen Fällen als nicht zuständig bezeichnen konnte, so auch im Falle der Beschwerde gegen die Volkswagen AG. Gerade einmal drei Beschwerden hat die Kontaktstelle in den zehn Jahren ihres Bestehens als zulässige Beschwerdefälle angenommen, und das, obwohl die Beschwerdeführer, darunter viele renommierte NGOs, ihrerseits sehr glaubwürdig Verstöße gegen die Leitsätze geltend gemacht haben. Diese Arbeitsbilanz der Kontaktstelle ist ein Armutszeugnis für die deutschen Bemühungen um eine stärkere Unternehmensverantwortung und verdient die Bezeichnung Kontrolle nicht. Die Leitsätze werden nun nach langer Zeit wieder überarbeitet. Dies bietet die Gelegenheit, die Leitsätze endlich menschenrechtlich zu schärfen, sie auf alle Geschäftstätigkeiten von Unternehmen auszuweiten und die nationalen Kontaktstellen zu echten Kontrollorganen zu machen. Die Bundesregierung ist nun gefordert, sich genau dafür einzusetzen. Denn eine grundlegende Überarbeitung der Leitsätze ist unumgänglich, wenn wir wollen, dass massive Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen der Vergangenheit angehören. Doch selbst die besten Leitsätze nützen nicht viel, wenn es keine Möglichkeiten gibt, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, sie zu überwachen und Verstöße zu sanktionieren. Es kann nicht angehen, dass Unternehmen, die direkt oder indirekt durch ihre Zulieferer Menschenrechte verletzen oder Menschenrechtsverletzungen zumindest billigend in Kauf nehmen, weiterhin Förderungen des deutschen Staates erhalten, beispielsweise in Form von Exportbürgschaften. Machen wir uns keine Illusionen, freiwillige Selbstverpflichtungen von Unternehmen, wie sie den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition vorschweben, reichen nicht aus. Für Unternehmen muss es teuer werden, gegen Menschenrechte zu verstoßen. Nur so werden wir langfristig einen wirkungsvollen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen erreichen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Norbert Barthle (CDU/CSU): Die Einführung der für Bund und Länder geltenden Schuldenbremse in das Grundgesetz ist eine haushalts- und finanzpolitische Leistung der großen Koalition der letzten Legislaturperiode, die für die nachhaltige Stabilität der öffentlichen Haushalte von zentraler und richtungsweisender Bedeutung ist. Die gemeinsam mit der SPD gefundene Regelung kann sich sehen lassen, wie nicht zuletzt die aktuellen Diskussionen auf EU-Ebene zeigen. Um dauerhaft die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu stabilisieren und damit die gemeinsame Währung Euro zu sichern, werden vergleichbare Regelungen auch in den Partnerstaaten angeregt, wenn nicht sogar gefordert. Die deutsche Schuldenbremse könnte so ein Exportschlager werden, ohne dass dies in unserer Intention lag. Die rechtlichen Grundlagen der Schuldenbremse sind unter dem damaligen SPD-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück verabschiedet worden. Es lohnt daher, sich die Situation zum Zeitpunkt der Einführung der Schuldenbremse nochmals vor Augen zu führen. Der Entwurf des Bundeshalts 2010, den Peer Steinbrück noch im Sommer 2009 - und damit vor der Bundestagswahl - vorlegte, sah eine Nettokreditaufnahme von 86,1 Milliarden Euro vor. Der zweite Entwurf des neuen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble blieb leicht unterhalb dieser ursprünglichen Nettokreditaufnahme. In den Beratungen wurde dann das Soll der Nettokreditaufnahme auf 80,2 Milliarden Euro gesenkt. Zum Zeitpunkt des Kabinettbeschlusses zum Entwurfs des Haushalts 2011 und Finanzplan bis 2013 wurde für 2010 ein Ist-Ergebnis von 65,2 Milliarden Euro erwartet, das dann die Grundlage für die Festlegung des Abbaupfads des strukturellen Defizits bis 2016 bildet. Der SPD-Antrag kritisiert nun diese Festlegung des Abbaupfads im Sommer 2010 anhand des damalig erwarteten Ist-Ergebnisses für die Nettokreditaufnahme und fordert ein Nachjustieren. Wir lehnen dieses Ansinnen aus fachlichen Gründen ab und nehmen mit Verwunderung zu Kenntnis, dass die SPD jetzt hinter den damals noch unter ihrem Bundesfinanzminister eingeführten und von ihr getragenen Regelungen zurückfällt. Diesen Sinneswandel muss sie selbst erklären. Der damals unter SPD-Riege eingeführte und heute von der SPD kritisierte Ermessungsspielraum hätte uns auch ermöglicht, das Steinbrück'sche Soll als Ausgangspunkt nehmen zu können. Das hätte uns einen sehr viel größeren Spielraum für die Nettokreditaufnahme ermöglicht. Ähnliches gilt für den Fall, wenn wir das Soll 2010 unterstellt hätten. Wir haben jedoch darauf verzichtet und restriktiv das damals erwartete Ist-Ergebnis als Ausgangspunkt gewählt. Die SPD wirft uns vor, wir würden uns einen Puffer anlegen, um in Zukunft zum Beispiel eine Steuersenkung umzusetzen. Die christlich-liberale Koalition hat sich an anderer Stelle oft genug zu ihren Vorstellungen zu einer Steuersenkung geäußert, so dass ich das hier nicht wiederholen muss. Diese geht in der Tat nur dann, wenn entsprechende Handlungsspielräume erarbeitet werden. Mit der Wahl des damals erwarteten Ist-Ergebnisses haben wir bewusst auf "Buchungstricks" verzichtet. Hätten wir das Steinbrück'sche Soll unterstellt, hätten wir in der Tat vorgegaukelt, schon jetzt einen entsprechenden Handlungsspielraum zu haben. Da wir aber gerade darauf verzichtet haben, läuft der Vorwurf der SPD offensichtlich ins Leere. Wir werden uns den notwendigen Handlungsspielraum für eine Steuersenkung solide erarbeiten. Denn die Union steht für eine solide Haushalts- und Finanzpolitik. Der Umgang mit dem Ermessungsspielraum muss auch praktisch umsetzbar sein. Ein mehr oder weniger laufendes Nachjustieren des Abbaupfads aufgrund sich laufend ändernder Parameter ist wenig hilfreich für eine nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik. Das Vertrauen in die Wirkung der Schuldenbremse wird damit nicht gewonnen. Vielmehr wird ein hektischer Anpassungsmarathon eingeleitet, der am Ende niemandem hilft. Das Ergebnis wäre Willkür und damit gerade das, was mit der Schuldenbremse vermieden werden sollte. Das lehnen wir ab. Wir wollen dies dem geordneten Haushaltsaufstellungsverfahren überlassen. Unabhängig davon, wie der Abbaupfad festgelegt wird, am Ende steht das Ergebnis fest: In 2016 darf das strukturelle Defizit maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Die Wahl des Ausgangspunkts zur Festlegung des Abbaupfads ändert daran nichts. Dass sich Erwartungen nicht erfüllen, ist im praktischen Leben nicht ungewöhnlich. Dies gilt erfreulicherweise auch für das Ist-Ergebnisses 2010 für die Nettokreditaufnahme, das wir seit wenigen Wochen kennen. Es liegt mit 44 Milliarden Euro deutlich unterhalb des damaligen Soll-Ansatzes beziehungsweise unterhalb des im Som-mer 2010 noch erwarteten Ist-Ergebnis. Dies zeigt nur die Binsenwahrheit, dass Unsicherheiten bei Planungen und Schätzungen bestehen. Welche Zahl für die Nettokreditaufnahme hätte man denn zwischen Sommer 2010 und dem Abschluss des Haushaltsjahres als Ausgangspunkt nehmen sollen? Letztlich ist jede Zahl mehr oder weniger gegriffen und willkürlich. Diese Willkür gilt letztlich auch für den Versuch der SPD, jetzt das Ergebnis nachzujustieren. Zumal der Haushalt 2011 schon verabschiedet ist, läuft hier ein Nachjustieren ohnehin ins Leere. Der Abbaupfad stellt eine Obergrenze für die Entwicklung des strukturellen Defizits dar. Die Koalition hat diese bewusst nicht ausgereizt. Wenn man aber aktuell die Forderungen der Opposition aus dem Vermittlungsausschuss um die Hartz-IV-Sätze sieht, so gewinnt man den Eindruck, dass ein Füllhorn ausgegossen werden soll. Wie dies dann mit dem SPD-Antrag zusammenpassen soll, ist schon ein wenig fragwürdig. Vielleicht sollten wir uns mal wirklich die Aufgabe machen, die finanziellen Auswirkungen all der Forderungen der Opposition zusammenzuzählen. Ich befürchte, dass man zu folgendem Ergebnis kommt: Um sie zu erfüllen, dürfte selbst ein Abbaupfad nicht ausreichen, der mit der Wahl des Steinbrück'schen Soll-Ansatzes erreicht werden würde. So viel zur Konsistenz von linker Politik. Die gute Situation, die letztlich das Ergebnis der guten und richtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik der christlich-liberalen Koalition ist, führt überhaupt erst zur von der SPD angestoßenen Debatte. Wenn die SPD jetzt so vehement für die Nachjustierung eintritt, so frage ich mich, ob sie das auch getan hätte, wenn wir in einer genau gegenteiligen Situation gewesen wären. Ich möchte die Frage in den Raum stellen: Wäre die SPD auch dann für eine Nachjustierung eingetreten, die weitere Verschuldungsfreiräume für die Koalition eröffnet hätte? Dies alles sind sicherlich Gedankenspiele. Aber sie zeigen, wie richtig es ist, auf das von der SPD vorgeschlagene Verfahren nicht einzugehen, da es am Ende doch nur zu einer willkürlichen Handhabung der Schuldenbremse führt. Die christlich-liberale Koalition blickt in der Haushalts- und Finanzpolitik nach vorne. Das Konsolidierungspaket ist auf den Weg gebracht, die Konjunktur läuft gut. Dies ist alles sehr erfreulich, darf aber nicht als Anlass genommen werden, in den Konsolidierungsbemühungen nachzulassen. Es ist noch ein weiter Weg bis zur Einhaltung der Schuldenbremse in 2016. Die christlich-liberale Koalition wird den eingeschlagenen Kurs einhalten. Peter Aumer (CDU/CSU): Der Beschluss über eine Schuldenbremse war ein wichtiges Signal für die Konsolidierung der Haushalte in der Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise. Gerade die aktuelle Entwicklung auf den Finanzmärkten und die Spekulation gegen einzelne Mitgliedsländer in der Europäischen Union zeigen, wie wichtig eine nachhaltige Haushaltspolitik ist. Und sie zeigen auch, wie zukunftsweisend die Entscheidung der damaligen Großen Koalition war, die Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern. Nun, in Zeiten der Opposition, stellen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, das infrage, was damals Konsens war. Der von der SPD-Fraktion kritisierte Ermessensspielraum zur Festlegung des Abbaupfades gemäß des geltenden § 9 Abs. 2 des Ausführungsgesetzes zu Art. 115 GG widerspricht nicht Sinn und Zweck der Schuldenregel. Einer Gesetzesänderung bedarf es daher nicht. Was Sie hier betreiben, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, ist reine Polemik. Die Koalition arbeitet mit aller Kraft, den grundgesetzlich vorgeschriebenen Vorgaben der Schuldenbremse zu entsprechen. Und Ihr Beitrag zur Konsolidierung ist null; von Ihrer Seite gab es keine konstruktiven Vorschläge, wie mit dem gemeinsamen Ziel der Haushaltskonsolidierung verantwortungsvoll umgegangen werden kann. Sie fordern sparen, jawohl, aber Sie sagen nicht, wo, sie sagen nicht, wie, und das ist verantwortungslos. Das wird der aktuellen Situation nicht gerecht. Das wird vor allem nicht Ihrer Verpflichtung für die kommenden Generationen gerecht. Sie verlassen den Konsenspfad in der Politik der Haushaltskonsolidierung und setzen auf Populismus. Das nehmen Ihnen die Menschen in unserem Land nicht ab. Der verantwortungsvolle Beitrag eines jeden einzelnen Bürgers in unserem Land ist substanzieller Bestandteil der Konsolidierungs- und Einsparanstrengung. Leisten auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihren Beitrag. Lassen Sie in der Konsolidierungsfrage ausnahmsweise das politische Ränkespiel, und stellen Sie sich der Verantwortung für unsere Zukunft. Ziel und damit Geist und Sinn der Schuldenregel sind, die strukturelle Verschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 Prozent des BIP zu begrenzen. Die im Gesetzestext offene Formulierung zum strukturellen Defizit des Haushaltsjahres 2010 für die Übergangsregelung der Schuldenregel gibt sowohl der Bundesregierung als auch dem Parlament einen Beurteilungsspielraum im Rahmen der Feststellung des maßgeblichen strukturellen Defizits 2010. Die Erreichung dieses Ziels bleibt völlig unberührt von der zu wählenden Vorgehensweise im Rahmen des gemäß § 9 Abs. 2 bestehenden Beurteilungsspielraums und damit der Festlegung des Abbaupfades. Die Bundesregierung hat mit dem Zukunftspaket ein nachhaltiges Konsolidierungskonzept vorgelegt, dessen Verbindlichkeit für die Jahre bis 2014 in der Öffentlichkeit kommuniziert wurde. Im Sinne einer kontinuierlichen und damit vertrauensbildenden Politik stellt sich also die Herangehensweise der Bundesregierung als die einzig richtige dar. Wir haben mit einer breiten Mehrheit in diesem Haus die Schuldenbremse in das Grundgesetz geschrieben und das Ausführungsgesetz zu Art. 115 GG erlassen. Halten Sie sich doch an den Pakt von Vernunft und Verantwortung. Fallen Sie nicht schon wieder um wie bei vielen von Ihnen mitgetragenen, herausragend wichtigen Entscheidungen für unsere Zukunft: Rente mit 67, Hartz IV und vieles mehr. Überall stehlen Sie sich aus der Verantwortung oder fordern nicht einhaltbare Positionen zum eigenen politischen Profit. Das wollen die Menschen in unserem Land nicht mehr! Das, was die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land heute von der Politik erwarten, sind die Übernahme von Verantwortung und eine vernünftige sowie sozial ausgewogene Politik. Aber das, was Sie gerade im Bundesrat veranstalten, hat nichts mit dem zu tun. Dort zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Mit dieser Gesetzesänderung versuchen Sie, Ihre Scheinheiligkeit zu postulieren. So bringen wir Deutschland nicht nach vorn. So schaffen wir keine Basis, damit Deutschland sich von der Finanz- und Wirtschaftskrise erholt. Unser Land braucht Stabilität und Verlässlichkeit. Die christlich-liberale Koalition ist sich ihrer Verantwortung bewusst, jener Verantwortung, die die SPD aus den Augen verloren hat. Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Die SPD-Fraktion legt heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art.-115-Gesetzes vor. Damit wollen wir nicht Ergebnisse der Finanzreform infrage stellen oder verändern. Im Gegenteil, wir wollen durch Konkretisierungen im Gesetz erreichen, dass das, was der Gesetzgeber damals gewollt hat, auch tatsächlich vom Bundesfinanzminister umgesetzt wird. Denn dieser Bundesfinanzminister - der ja auch mal Verfassungsminister war - handelt Sinn und Geist der Regelungen der Schuldenbremse zuwider. Er will durch sinnwidrige Interpretationen der gesetzlichen Regelungen die gewollt stramme Schuldenbremse ausbremsen und sich einen doch noch möglichst großen Verschuldungsspielraum sichern. Zum einen will der Bundesfinanzminister dadurch den Konsolidierungsdruck abschwächen. Weite Teile des sogenannten Sparprogramms vom vorigen Jahr sind nämlich nach wie vor nicht unterlegt. Wo ist denn das Konzept zur Einsparung bei der Bundeswehr? Wo ist denn das Konzept zur Einsparung bei der Bundesagentur für Arbeit? Wo ist denn der Gesetzentwurf zur Finanztransaktionsteuer, die ab 2012 gemäß Sparpaket eingeführt werden soll? Überall Fehlanzeige! Zum anderen drängt sich ein Verdacht auf. Diese Koalition will dadurch, dass sie die Schuldenobergrenze so hoch wie nur möglich ansetzt, Spielräume für Steuersenkungen vor der nächsten Wahl schaffen. Solche Steuersenkungen wären nur auf Pump und nur durch Tricksereien bei der Schuldenbremse zu finanzieren. Und dagegen wehren wir uns mit dem vorgelegten Gesetzentwurf. Die grundlegende Konsolidierung des Bundeshaushalts ist notwendig und ohne Alternative. Deshalb muss die Schuldenbremse nach Geist und Sinn strikt eingehalten werden. Worum geht es konkret? Der Bundesfinanzminister trickst vor allem bei der Festlegung des sogenannten strukturellen Defizits des Jahres 2010 als Ausgangswert für den Abbaupfad der Neuverschuldung bis 2016. Er trickst außerdem bei der Festlegung des konjunkturellen Anteils am Haushaltsdefizit. Mit dem Gesetzentwurf wollen wir ihn auf den Pfad der Tugend zurückholen und dies kommt nicht aus heiterem Himmel. Wir haben in vielen Sitzungen im Haushaltsausschuss und auch hier bei der Lesung des Bundeshaushalts im Parlament immer wieder gefordert, er möge sich an Geist und Sinn des Gesetzes halten. Dies war ohne jeden Erfolg und deshalb ist diese Gesetzesänderung notwendig. Der Bundesfinanzminister soll verpflichtet werden, den Ausgangswert 2010 für den Abbaupfad bis 2016 an der tatsächlichen Entwicklung auszurichten und nicht willkürlich an dem im vorigen Sommer für 2010 erwarteten Wert. Das damals für 2010 erwartete Defizit lag bei 65 Milliarden Euro, das tatsächliche Defizit liegt jetzt bei 44 Milliarden Euro. Diese erfreuliche enorme Absenkung um 21 Milliarden Euro muss sich auch in einer entsprechenden Absenkung des Abbaupfades widerspiegeln. Das ist völlig plausibel und eigentlich selbstverständlich, denn der enorme Aufschwung in 2010 hat die Bundesfinanzen durch höhere Steuereinnahmen und geringere Arbeitsmarktausgaben erheblich verbessert. Diese Verbesserung wirkt als Sockeleffekt in die nächsten Jahre fort. Hingegen bekräftigt die Bundesregierung noch im Jahreswirtschaftsbericht, sie wolle bei ihrer Festlegung der Verschuldungsobergrenze für die Aufstellung des Bundeshaushalts 2012 und der Finanzplanung bis 2015 von dem völlig überhöhten Wert von 65 Milliarden Euro ausgehen. Was bedeutet das für 2012 in Zahlen? Bei einem angenommenen Sockel von 65 Milliarden Euro in 2010 liegt die Schuldenobergrenze für 2012 um 11,5 Milliarden Euro höher als bei dem tatsächlichen Sockel von 44 Milliarden Euro. Eine solche Absenkung klingt zunächst nach viel und nach einem riesigen Problem für den Bundesfinanzminister. Der Eindruck ist aber falsch, denn diese Absenkung ist Folge der deutlich besser als erwarteten Wirtschaftsentwicklung, die auch den Bundeshaushalt 2012 wesentlich besser aussehen lassen wird als in der bisherigen Finanzplanung angenommen. Ich gehe von konjunkturellen Verbesserungen für den Bundeshaushalt 2012 von mindestens 15 Milliarden Euro gegenüber dem Finanzplan aus. Dies ist deutlich mehr als die beschriebene Absenkung der Obergrenze um 11,5 Milliarden Euro, die unser Gesetzentwurf zur Folge haben wird. Im Prinzip wird also nur der Spielraum eingedampft, den die Konjunktur geschaffen hat. Und dagegen wehrt sich das BMF nun so vehement. Warum? Ich wiederhole: Sie wollen dem Konsolidierungsdruck entgehen und bauen vor für Steuersenkungen auf Pump und das ist unverantwortlich. Sie stehen dabei völlig alleine. Bislang habe ich niemand aus Wissenschaft oder Wirtschaft gehört, der ihre Auffassung zur Festlegung des Sockels 2010 teilt. Im Gegenteil haben Bundesrechnungshof, der Sachverständigenrat und die Bundesbank wie wir gefordert, von aktuellen Daten auszugehen. Die Bundesbank hat dies in ihrem letzten Monatsbericht nochmals ganz deutlich unterstrichen. Auch bei der Berechnung der Konjunkturkomponente des Defizits hat der Bundesfinanzminister während des gesamten letzten Jahres getrickst, desinformiert bzw. nur scheibchenweise informiert. Der Haushaltsausschuss wurde regelrecht für dumm verkauft, wenn seitens des Bundesfinanzministeriums behauptet wurde, es brauche Monate, um auf ein neues Verfahren umzustellen. Institute und der Sachverständigenrat konnten dies binnen Stunden. Wir mussten lernen, dass BMF auch hier bei der Berechnung Ermessensspielräume hat, die im Extrem die Schuldenobergrenze um 6 bis 8 Milliarden Euro nach oben schieben können. Für mich als Parlamentarier ist das mit Blick auf das Budgetrecht nicht hinnehmbar. Der Bundesfinanzminister darf nicht solche Entscheidungsspielräume haben und damit dem Parlament die Schuldenobergrenze nach Gusto diktieren. Wir hatten ihn deshalb schon während der Haushaltsberatung aufgefordert, die Berechnung der Konjunkturkomponente an eine unabhängige Institution, nämlich den Sachverständigenrat zu übertragen. Der Bundesfinanzminister hat dies persönlich im Haushaltsausschuss auch nicht abgelehnt und soll jetzt durch unseren Gesetzentwurf dazu verpflichtet werden. Die SPD will, dass die Regelungen zur Schuldenbremse auf Punkt und Komma und nach Sinn und Geist eingehalten werden. Die Konkretisierung des Gesetzes wird dies garantieren. Florian Toncar (FDP): Der hier zur Abstimmung stehende Antrag der SPD-Fraktion zeigt einmal mehr, dass die SPD keinen klaren politischen Kurs verfolgt. In ihrem Antrag fordert die SPD jetzt eine Verschärfung des Abbaupfades der Neuverschuldung gegenüber den Erfordernissen der Schuldenbremse. Und vor nur drei Monaten, als es bei den Haushaltsverhandlungen darum ging, die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen, forderte die SPD anstelle von Ausgabensenkungen mit ihren Anträgen sogar noch eine Ausgabenerhöhung um ganze 6,3 Milliarden Euro. Dieses Verhalten der SPD, erst Mehrausgaben und kurze Zeit danach eine Verschärfung der Haushaltskonsolidierung zu fordern, zeigt deutlich, dass sie in Wahrheit kein ernsthaftes Interesse an soliden Staatsfinanzen hat. Aber auch die Grünen forderten in den Haushaltsverhandlungen Mehrausgaben von insgesamt 12,9 Milliarden Euro. Und wenn ich erst an das aktuelle Vermittlungsverfahren zu Hartz IV denke, wo Ihre Leute finanzielle Maximalforderungen gestellt haben, dann kann ich Ihnen Ihre zur Schau gestellte Sparsamkeit nicht abnehmen. Es zeigt sich hier ganz klar, dass mit Rot-Grün die Staatsausgaben und im gleichen Zug auch die Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger immer weiter ansteigen würden. Ziel der Schuldenregel, als deren Verfechter sich die SPD jetzt mit ihrem Antrag gibt, ist es die strukturelle Verschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu begrenzen. Und das ist genau das, was die SPD da, wo sie Verantwortung trägt, nicht macht. Am schlimmsten ist es - unter Mithilfe der Grünen und der Linken - in Nordrhein-Westfalen. Ihre erste Maßnahme nach der Wahl war eine zusätzliche Neuverschuldung allein für 2010 von 1,8 Milliarden Euro. Damit sind Sie vor Gericht voll gegen die Wand gefahren. Und für 2011 hat Rot-Grün in NRW über alle Bedenken und Warnungen hinweg einen verfassungswidrigen Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung von 7,8 Milliarden Euro vorsieht. Obwohl Rot-Grün gegenüber dem ursprünglichen Finanzplan der Vorgängerregierung für 2011 knapp 1 Milliarde Euro an Mehreinnahmen zur Verfügung steht, haben sie trotzdem die Neuverschuldung gegenüber der Finanzplanung um 1,4 Milliarden Euro erhöht, weil sie die Ausgaben um 2,3 Milliarden Euro nach oben getrieben haben. Und Ihre neue Hoffnungsträgerin, Frau Kraft, rechtfertigt einen solchen Haushalt mit ihrer sogenannten vorbeugenden Politik, mit zusätzlichen Ausgaben für die Bildung, die sich laut Frau Kraft spätestens 2100 rechnen sollen. Der Geist dieser Verschuldungspolitik zeigt sich, wenn Frau Kraft offen zugibt, dass sie davon überzeugt ist, dass die Schuldenbremse ohne zusätzliche Einnahmen, also ohne Steuererhöhungen für die Bürgerinnen und Bürger, nicht einzuhalten ist. Ich sage Ihnen: Das ist eine verantwortungslose Politik, mit dem Verweis auf eine sehr vage Zukunftsprognose die Situation in der Gegenwart bewusst zu verschlimmern. Und wenn man selbst nicht daran glaubt, das Ziel solider Staatsfinanzen erreichen zu können, dann hat man in der Regierungsverantwortung auch nichts verloren. Der Kurs von Rot-Grün in Bund und Ländern zeigt nur, dass die sparsamen Haushälter der Grünen und der SPD in ihrer eigenen Partei den Status einer Randgruppe erreicht haben, die völlig abgemeldet ist. Die christlich-liberale Koalition ist dagegen fest davon überzeugt, dass wir die Vorgaben der Schuldenbremse erfüllen werden. Wir werden es im Bund schaffen, im Haushalt 2011 die Ausgaben gegenüber dem Vorjahr ohne Steuererhöhung für die Bürgerinnen und Bürger um 13,7 Milliarden Euro abzusenken, die Vorgaben der Schuldenbremse einzuhalten und trotzdem bis 2013 zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung auszugeben. Denn eine verantwortungsvolle Politik bedeutet, Zukunftschancen zu sichern und gleichzeitig auch die Handlungsfähigkeit zukünftiger Generationen zu bewahren. Gerade bei der Schuldenbremse hat die SPD sich immer wieder darum bemüht, diese Regelung aufzuweichen. Diese Regelung in Art. 115 des Grundgesetzes, um die uns die Finanzminister in Europa und den USA so beneiden, ist vor allem der FDP und ihrem Drängen auf die Föderalismuskonferenz II zu verdanken. Aus Ihrer Fraktion haben dagegen 19 Abgeordnete mit Nein gestimmt. Und jetzt fordern Sie mit ihrem Antrag die Verschärfung Ihres eigenen Gesetzes, das viele von Ihnen nie wirklich haben wollten. Zu dem Antrag selbst ist zu sagen, dass vereinbart wurde, die Neuverschuldung in gleichmäßigen Schritten - das bedeutet, einem linearen Abbaupfad folgend - zu reduzieren. So wird wie es auch in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes dargestellt. Diese Gleichmäßigkeit ist aber nicht erreichbar, wenn man zuerst mit der vorläufigen Neuverschuldung 2010 rechnet und nach der Aufstellung des Haushalts 2011 - denn erst dann liegt das Ist-Ergebnis des Haushaltsvollzugs 2010 vor - den Abbaupfad und die mittelfristige Finanzplanung wieder anpasst. Ein für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbares und transparentes Verfahren mit gleichmäßigen Konsolidierungsstufen ist so nicht möglich. Das von der Bundesregierung praktizierte Verfahren entspricht den Vorgaben des Gesetzes unter Berücksichtigung der praktischen Umsetzbarkeit und der transparenten Darstellung in der mittelfristigen Finanzplanung. Ungeachtet dessen hat die christlich-liberale Koalition bei der Neuverschuldung im Haushaltsentwurf 2011 nach dem Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns gerechnet, und es spricht vieles dafür, dass wir die vorsichtig geplante maximale Obergrenze der Neuverschuldung von 48,4 Milliarden Euro im Haushaltsvollzug deutlich unterschreiten werden. Die Bundesregierung strebt gerade nicht an, die Obergrenzen der Schuldenbremse komplett auszuschöpfen. Stattdessen wird sie, wie bereits 2010, die tatsächliche Neuverschuldung deutlich stärker absenken, als es die Schuldenbremse überhaupt verlangt. Zum zweiten Teil Ihres Antrags: Die Bestimmung der Konjunkturkomponente erfolgt in Übereinstimmung mit den Verfahren der Europäischen Union in einem erprobten und transparenten Verfahren. Es gibt keinen Anlass für die Behauptung, dass Ermessensspielräume genutzt würden, um die maximal zulässige Obergrenze der Nettokreditaufnahme nach oben zu treiben. Eine derartige Unterstellung entbehrt jeglicher Grundlage. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, entscheidend für die Auslegung von Art. 115 des Grundgesetzes ist letztendlich das Bundesverfassungsgericht. Wer der Meinung ist, die Regierungskoalition hier im Bundestag habe mit ihrer Auslegung von Art. 115 das Grundgesetz verletzt, muss das Verfassungsgericht anrufen. Das kann auch die SPD-Fraktion tun. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass die Auslegung der Bundesregierung dem Grundgesetz entspricht. Die Tatsache, dass die SPD nicht vor dem Verfassungsgericht klagt, zeigt, dass sie das auch selbst weiß. Ich würde mir wünschen, dass die SPD sich nicht in technischen Details verzettelt, sondern im Bundestag eine Politik vertritt, die die Verschuldung des Bundes absenkt und nicht dramatisch erhöht, und dass sie in den Ländern, in denen sie Verantwortung trägt, ihre hemmungslose Verschuldungspolitik beendet. Roland Claus (DIE LINKE): Der SPD geht es mit diesem Antrag um die Wahrung von - ich zitiere - "Geist und Sinn der Schuldenbremse", und darum lehnen wir ihn ab, und zwar entschieden. Denn es ist ein Unding, Geist und Sinn von etwas wahren zu wollen, das dem Geist und Sinn der Demokratie widerspricht und aus diesem Grunde im Parlament zwar nur von uns, den Linken, im wirklichen Leben aber von sehr viel mehr Menschen und Institutionen, als sie zur Anhängerschaft der Linken gehören, abgelehnt wird. Ich finde, das ist leider sehr typisch SPD. Im Antrag heißt es richtig, dass "die grundlegende Konsolidierung des Bundeshaushaltes notwendig" sei. Aber dann folgt noch das seltsame Wort, dass sie auch noch "alternativlos" wäre. Da muss man dann doch feststellen: Wo Politik alternativlos sagt, verweigert sie sich dem Wählerauftrag. Die Konsequenz, die die SPD aus der Not-wendigkeit der Konsolidierung zieht, heißt Schuldenbremse und sonst gar nichts. Die Verfasserinnen und Verfasser des Antrages kommen gar nicht auf die Idee, im Zusammenhang mit dem Begriff der Konsolidierung auch einmal die Einnahmeseite zu bedenken, wie denn auch, wo sie doch die Miterfinder der Schuldenbremse sind. Es geht aber selbstverständlich auch anders. Meine Partei Die Linke rechnet es in ihrem Steuerkonzept detailliert vor. 180 Milliarden Euro Mehreinnahmen sind möglich, wenn die großen Vermögen angemessen an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden. 80 Milliarden Euro kämen dann aus einer Millionärsteuer von 5 Prozent jenseits eines Freibetrages von 1 Million Euro, weitere 40 Milliarden Euro aus einer Wiederanhebung des Körperschaftsteuersatzes auf 25 Prozent und der Rücknahme einiger anderer Steuergeschenke an die Großunternehmen sowie 27 Milliarden Euro aus der Einführung einer Finanztransaktionsteuer - um hier nur die wichtigsten Bestandteile unseres Konzepts zu nennen. Die Schuldenbremsenparteien versuchen, uns glauben zu machen, die Schuldenbremse sei eine finanztechnische Angelegenheit. Sie ist aber eine politische Angelegenheit von tiefgreifender Bedeutung, denn sie beschränkt die Souveränität von Parlamenten und Regierungen. Wo es eine Schuldenbremse gibt, können Parlamente und Regierungen nicht mehr souverän darüber entscheiden, welche politischen Vorhaben sie mit welchen Finanzmitteln in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Die Landesparlamente und Landesregierungen haben keinen Einfluss auf die Einnahmepolitik, und so hängen sie am Tropf der bundespolitischen Vorgaben. Wenn dort Steuergeschenke an die großen Unternehmen und die Inhaberinnen und Inhaber großer Vermögen verteilt werden, haben die Landesregierungen, weil sie in der Schuldenbremse gefesselt sind, keine Möglichkeit mehr, politisch gegenzusteuern. Denkt man diese Situation konsequent zu Ende, kann man auf Wahlen in den Ländern verzichten. Es genügt dann eine von der Bundesregierung eingesetzte Verwaltung, die im zentral vorgegebenen Finanzrahmen agiert. Wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine Steuerpolitik, die die großen Unternehmen und die Inhaberinnen und Inhaber großer Vermögen endlich wieder angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt. Die Herstellung von Steuergerechtigkeit, die energische Verpflichtung der Vermögenden auf das Gemeinwohl - das sind die Schritte, die gegangen werden müssen, um das zu realisieren, was auch die SPD in ihrem Antrag wieder beschwört: die nächste Generation nicht "weit über Gebühr" zu belasten. Umverteilung von oben nach unten - das ist es, worum es geht. Und das - ich wiederhole mich gern - ist nicht nur eine finanztechnische Frage, auch nicht nur eine Frage der Vermögensverteilung, sondern eine Frage der Demokratie, eine Frage der Mitgestaltung der Gesellschaft. Das Geld gehört dorthin, wo die Menschen sind. Es gehört von oben nach unten umverteilt, um allen ein lebenswürdiges Dasein zu ermöglichen. Und es gehört auch in den Verwaltungsebenen von oben nach unten umverteilt - vom Bund hin zu den Ländern und Kommunen. Der technokratische Antrag der SPD zur Verschärfung der Schuldenbremse läuft all diesen Überlegungen diametral entgegen. Er ist der Einstieg der SPD in einen Wettlauf mit Schwarz-Gelb um die weitere Umverteilung von unten nach oben und um Beschränkung der Demokratie. Vielleicht muss man der SPD für die Unmissverständlichkeit dieser Botschaft dankbar sein. Sie lässt vor den Landtagswahlen in diesem Jahr keinen Zweifel daran, dass sie an grundlegenden politischen Veränderungen kein Interesse hat. So wie sie mit CDU/CSU, FDP und Grünen gemeinsam Hartz-IV-Partei ist, so ist sie auch mit diesen allen gemeinsam Schuldenbremsenpartei. Die Linke antwortet auf diesen Gesetzentwurf mit einem klaren Nein. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ist ein Gewinn für die notwendige Konsolidierung des Bundeshaushalts und damit ein wichtiger Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Wir Grüne hatten für die Schuldenbremse andere Vorschläge, die nicht umgesetzt wurden. Dennoch bekennen wir uns klar zur Umsetzung der Schuldenbremse, so wie sie jetzt im Grundgesetz verankert ist. Schon heute betragen die Zinszahlungen des Bundes 38 Milliarden Euro, bis 2014 werden diese Zinslasten auf fast 50 Milliarden Euro anwachsen. Diese Schuldenbremse muss keine Sozialstaatsbremse sein. So wird sie nur von Schwarz-Gelb interpretiert. Wir haben bei den Haushaltsverhandlungen klar dargelegt, wie die Schuldenbremse eingehalten werden kann und gleichzeitig die soziale und ökologische Verschuldung im Haushalt reduziert werden kann. Die grundgesetzlich geschützte Schuldenbremse darf nicht durch Buchungstricks ausgehebelt werden. Das aber scheint das Vorhaben der schwarz-gelben Bundesregierung zu sein: Aufgrund der guten Konjunkturentwicklung 2010 konnte das Defizit des Bundes im Haushaltsvollzug von geplanten 80 auf 44 Milliarden Euro gedrückt werden. Damit wurde immer noch ein neuer Schuldenrekord aufgestellt. Aber diese positive Haushaltsentwicklung bildet sich - trotz Schuldenbremse - nicht im Haushaltsentwurf für 2011 ab. Die Bundesregierung plant mit 48,4 Milliarden Euro neuen Schulden, obwohl die konjunkturelle Lage sich entschieden aufgehellt hat. Damit verstößt die Bundesregierung bereits im ersten Jahr des Inkrafttretens der Schuldenbremse gegen den Geist der Schuldenbremse. Denn eigentlich soll die strukturelle Verschuldung bis 2016, wenn die Schuldenbremse dann voll greift, Jahr für Jahr in gleichmäßigen Schritten abgesenkt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hätte bereits 2011 eine stärkere Konsolidierung des Haushaltes stattfinden müssen. Die Idee der Schuldenbremse wäre so gestärkt worden. Daher unterstützen wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen diesen Gesetzentwurf. Einen noch heftigeren Verstoß gegen den Geist der Schuldenbremse würde der jetzt von der Bundesregierung ins Gespräch gebrachte Buchungstrick im Zusammenhang mit den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss bedeuten. Im Rahmen des Vermittlungsausschusses zur Hartz-IV-Reform hat die Koalition angeboten, den Kommunen schrittweise ab 2012 die Kosten der Grundsicherung im Alter abzunehmen. Ab 2015 sollen diese Kosten nach dem Vorschlag der Koalition dann ausschließlich vom Bund getragen werden. Der Bund beziffert die Entlastung der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden Euro netto. Grundsätzlich haben wir Sympathien für die Umsetzung der Grundsicherung im Alter zum Bund. Aber das muss in einem eigenen Gesetz geregelt werden. Die Verknüpfung mit dem Haushalt der Bundesagentur für Arbeit, BA, halten wir für grundsätzlich falsch. Die Bundesbeteiligung an der Bundesagentur soll zusammengestrichen werden, ein halber Mehrwertsteuerpunkt soll der Agentur entzogen werden. Bis Ende 2012 würde sich bei der BA ein Defizit in Höhe von über 10 Milliarden Euro auftürmen, bis 2015 ein Defizit von knapp 15 Milliarden Euro. Bei einer analog zur Bundesbeteiligung an den Kosten der Grundsicherung im Alter aufwachsend gestalteten Reduktion des Mehrwertsteueranteils für die BA würde das Defizit der BA bis 2015 knapp 10 Milliarden Euro betragen. Auch in diesem Fall würde hoher Druck auf eine erneute erhebliche Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entstehen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute stark von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind. Mit einer solchen Finanzoperation würde die schwarz-gelbe Bundesregierung gleichzeitig die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aushebeln. Die Schulden der Sozialversicherungen bleiben bei Berechnung des für die Schuldenbremse maßgeblichen strukturellen Defizits unberücksichtigt. Der geplante Verschiebebahnhof widerspricht nicht nur dem Prinzip der Haushaltsklarheit und -wahrheit, sondern stellt auch einen eklatanten Verstoß gegen den Geist der Schuldenbremse dar. Die Rückführung der in den BA-Haushalt verschobenen Verschuldung wird allein den künftigen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern aufgebürdet. In diesem Fall würde hoher Druck auf eine erneute erhebliche Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entstehen, mit negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für Niedrigqualifizierte, die bereits heute stark von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen sind. Um einen ausgeglichenen BA-Haushalt bei konstant positiven Wachstumsannahmen zu erreichen, müsste der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um etwa 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Bei einem Wiederaufflammen der Wirtschaftskrise würden sofort sehr hohe Defizite in dieser für die Stabilität unserer Volkswirtschaft zentralen Sozialversicherung entstehen. Mit diesem Missbrauch der Schuldenbremse würde die schwarz-gelbe Koalition die Finanzsituation der Sozialversicherungen weiter schwächen. Um ein Wiederaufflammen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu verhindern, müssen die Vorgaben der Schuldenbremse ohne Einschränkungen umgesetzt werden. Gleichzeitig dürfen die Haushalte der Sozialversicherungen nicht überfordert werden. Diese sind ein zentraler Stabilitätsanker für unsere Volkswirtschaft. Bei der Haushaltspolitik dieser Koalition müssen wir froh sein, dass es die Schuldenbremse überhaupt gibt. Die Forderungen nach Steuersenkungen, die immer wieder aus der Koalition geäußert werden, machen sehr deutlich, wie notwendig diese Regelung ist. Wenn die Restriktionen der Schuldenbremse nicht gelten würden, wäre die Haushaltspolitik der schwarz-gelben Koalition noch katastrophaler für die zukünftigen Generationen in unserem Land. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit Seltenen Erden offenhalten (Tagesordnungspunkt 16) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir beraten heute einerseits über ein hochaktuelles Thema, andererseits aber über einen längst überholten Antrag. Die Aktualität des Themas verdeutlicht am besten ein Blick in die Wirtschaftsteile der Zeitungen: Da vergeht kaum ein Tag ohne einen Artikel zu den Themen Rohstoffversorgung oder Rohstoffpreise. Dazu passend berichtete die Welt am Montag, dass unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt fünf Unternehmen sind, die ihr Geld mit der Förderung von Bodenschätzen verdienen. Im Jahr 2006 war dort nur ein Unternehmen verzeichnet. Auch nach Gesprächen mit Unternehmern aus dem verarbeitenden Gewerbe, insbesondere im Hightechbereich, wird man mit dem Problem konfrontiert. Der Antrag ist inhaltlich deshalb veraltet, weil das Thema Rohstoffversorgung, insbesondere mit Nicht-Eisen-(NE-)Metallen für die Hightechindustrie längst auf der politischen Ebene angekommen ist und darüber intensiv diskutiert und an Lösungen gearbeitet wird. Wir, also die Fraktion der CDU/CSU, hatten bereits im Juli 2010 einen Kongress mit vielen Gästen aus internationalen Organisationen, der Wirtschaft und der Wissenschaft veranstaltet. Das begleitende Positionspapier der Fraktion hat die Kollegen von der SPD offensichtlich sehr inspiriert. Die Positionen und Initiativen unserer Fraktion finden sich auch in der Arbeit der Bundesregierung wieder. Seit Herbst 2010 liegt die Rohstoffstrategie der Bundesregierung vor, die einen ganzheitlichen Ansatz zur Rohstoffversorgung beinhaltet. Auch in der Industriestrategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie spielt die Rohstoffversorgung eine zentrale Rolle. Dies gilt auch ganz aktuell für die Technologieoffensive und die Mittelstandsinitiative des Ministeriums. Das Ministerium hat auch bereits auf organisatorischer Ebene reagiert. Momentan wird eine Unterabteilung Rohstoffpolitik eingerichtet, die speziell für die heimische Rohstoffversorgung, insbesondere mit NE-Metallen für das Recycling und den Zugang zu internationalen Rohstoffen zuständig sein wird. Die Unterabteilung wird auch den Aufbau bilateraler Rohstoffpartnerschaften angehen. Ich könnte jetzt hier auch noch auf den Rohstoffdialog des Ministeriums für Wirtschaft und Technologie mit der Wirtschaft und weiteren wichtigen Akteuren eingehen, möchte das mit Blick auf die Uhr aber lassen. Sie sehen, das Thema ist hochaktuell und bereits in besten Händen. Sogar die SPD hat gemerkt, dass da was los ist Nun zur Rohstoffstrategie der Koalition. Ihr Antrag freut mich insoweit, als er keinen Widerspruch zur Rohstoffstrategie der Bundesregierung darstellt. Ich stelle fest, die Fraktion der SPD unterstützt die Rohstoffstrategie der Koalition, zumindest nimmt die Fraktion keine nennenswerten Ergänzungen bei den Forderungen an die Bunderegierung vor. Aber gestatten Sie mir dennoch vier Anmerkungen inhaltlicher Art. Erstens. Sie fordern verstärkte Bemühungen um Rohstoffpartnerschaften oder Rohstoffabkommen mit Entwicklungsländern. Das ist zunächst zu begrüßen, aber haben Sie etwas in dieser Richtung angestoßen, als das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit von einer Ministerin der SPD geführt wurde? Hat Herr Steinmeier als Außenminister sich um diese Themen bemüht? Oder kümmert sich die SPD nur dann um Rohstofffragen, wenn es darum geht, einem ehemaligen Bundeskanzler einen sicheren Posten zu bescheren? Zu Ihrer Regierungszeit war es doch verpönt, die Themen Außenpolitik oder Entwicklungshilfe mit wirtschaftlichen Fragen zu verknüpfen. Wir machen das anders, und es ist schön, dass Sie Ihre Meinung wohl geändert haben. Zweitens. Sie fordern ebenfalls die Nutzung heimischer Lagerstätten. Auch das ist kein schlechter Vorschlag. Allerdings ist die Rohstoffförderung immer ein Eingriff in die Natur, und da ist erfahrungsgemäß lokaler Widerstand zu erwarten. Wir werden die Grünen auf der Seite des Protestes sehen, und die SPD wird unentschlossen rumstehen. Oder aber meine Erwartung täuscht mich, dann freue ich mich schon, wie Sie Ihre grünen Freunde von der Notwendigkeit des Rohstoffabbaus in Deutschland überzeugen wollen. Dann kann die Öffentlichkeit sehen, wie ernst es Ihnen mit Ihren Absichten ist. Drittens. Sie thematisieren das Recycling. Auch das ist richtig und wichtig. Aber Recycling ist ein energieintensives Geschäft, welches von den Altlasten rot-grüner Energiepolitik - ich denke zum Beispiel an den Schuldenberg aus der Solarverstromung - erschwert wird. Wer für Recycling ist, muss auch eine Energiepolitik beherzigen, die nicht nur auf ein vermeintlich gutes Gewissen abstellt, sondern auch die Preise im Blick behält, so wie wir es von der Koalition tun. Viertens. Schließlich bezweifele ich die Sinnhaftigkeit eines Antrages, der auf einen Rohstoff oder eine Rohstoffgruppe verengt ist. Gerade bei den Seltenen Erden gibt es Lagerstätten weltweit. Die wurden aus ökonomischen Gründen aber bisher nicht erschlossen oder stillgelegt. Deswegen ist die Produktion der Seltenen Erden momentan auf China konzentriert. Bis 2012 werden Lagerstätten in den USA, Kanada, Indien, Australien und Malawi ihre Produktion massiv erhöhen. Auch die Bundesrepublik hat bereits ein Abkommen mit Kasachstan über die Lieferung Seltener Erden abgeschlossen; Kollege Mißfelder wird anschließend darauf eingehen. Dann werden die Regeln der Marktwirtschaft eine Linderung des Problems Seltene Erden bewirkt haben. Es ist sinnvoller, eine Gesamtstrategie zur Rohstoffversorgung aufzustellen, wie dies die Koalition schon getan hat. Zum Fazit. Das Thema Rohstoffsicherung ist längst ein bedeutender Teil der politischen Agenda dieser Koalition; ich hatte es am Anfang ausgeführt. Sie haben lediglich aus unserer Rohstoffstrategie abgeschrieben und dabei noch manche wichtige Punkte vergessen, zum Beispiel die Ausbildungsunterstützung in Rohstoffpartnerländern oder den Aspekt des Technologietransfers. Der Antrag ist auch deshalb nicht notwendig, weil er nur ein Thema - nämlich Seltene Erden - aus einem komplexen Bereich isoliert betrachtet, dessen Dramatik bald abnehmen wird. Wir sollten hier aber immer die Zusammenhänge sehen. Schließlich freue ich mich darauf, dass die Koalition bald von der SPD unterstützt wird, wenn es darum gehen wird, heimische Rohstofflagerstätten zu erschließen, Energiepreise für Recycling niedrig zu halten, Import- und Exportgarantien zu gewähren sowie Außen-, Entwicklungs- und Rohstoffpolitik stärker zu verknüpfen. Zum Schluss bleibt mir, festzustellen, dass die SPD ihren Glauben an die Marktwirtschaft wiedergefunden zu haben scheint. Sie schreiben im Antrag auf Seite 2: "Richtig ist, das es zu allererst Aufgabe der Unternehmen ist, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken und sich vorausschauend auf künftige Trends einzustellen." Das ist ein Grund zur Freude, vielleicht schlägt Ihr Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit und Fähigkeiten der Unternehmen auch auf andere Themen durch. Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ich freue mich, dass auch die SPD-Bundestagsfraktion unsere Anregung aus dem vergangenen Jahr aufgenommen hat und sich nun mit dem Thema Rohstoffe intensiv befasst. Das ist wichtig, denn die deutsche Industrie, die erkennbar gestärkt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgegangen ist, ist auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Gleichzeitig steigt durch die weltweite Wirtschaftsentwicklung der Bedarf. Das können wir täglich auf den Kurstafeln der Rohstoffbörsen sehen, die von Rekordstand zu Rekordstand eilen. Der Hunger der aufstrebenden Schwellenländer nach energetischen und nichtenergetischen Rohstoffen ist noch längst nicht gestillt. So wird die Nachfrage nach Kupfer, dem wichtigsten Industriemetall, das Angebot wohl auf Jahre hinaus übersteigen. Der Kupferpreis eilt von einem Allzeithoch zum nächsten und erreicht wohl bald die Marke von 10 000 Dollar je Tonne. Ich will, bevor ich zum Thema der Seltenen Erden komme, hier eines sagen: Dieser Kupferpreis ist ein Welthandelspreis. Ihn zahlen alle, egal aus welcher Region der Erde sie kommen. Ob wir in Deutschland eine nennenswerte Kupferverarbeitung behalten, hängt demnach nicht primär vom Rohstoffpreis für Kupfer, sondern von einem ganz anderen Faktor ab, nämlich vom Energiepreis. Wir müssen jetzt angesichts der nicht zuletzt durch das Erneuerbare Energien Gesetz, EEG, verursachten Strompreissteigerungen der letzten Jahre in Deutschland gegensteuern, um die energieintensive rohstoffverarbeitende Industrie auch weiterhin bei uns in Deutschland zu behalten. Sonst wird es Kupfer- oder Aluminiumhütten bald nur noch in Ländern geben, in denen Energie billiger ist und die im Zweifel nicht unseren Umweltstandards genügen. Hier appelliere ich an die SPD, mit uns gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, um Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze bei uns in Deutschland zu sichern. Gerade die SPD mit ihrer Tradition im Ruhrgebiet, wo auch mein Wahlkreis liegt, kann kein Interesse an einer Deindustrialisierung Deutschlands haben. Mit Blick auf den globalen Wettbewerb, in dem unsere Unternehmen stehen, gehört es zwingend zu den Aufgaben der Politik, die Energiekosten für die rohstoffverarbeitende Industrie langfristig kalkulierbar zu machen und auf einem wettbewerbsfähigen Niveau zu halten. Der vorliegende Antrag beschreibt richtig, dass sich seit Anfang vergangenen Jahres der Trend einer weltweiten Steigerung der Nachfrage nach Rohstoffen und insbesondere nach Seltenen Erden fortgesetzt hat. Ich möchte hierbei aber noch einen Schritt weiter gehen, denn nicht nur Preis und Verfügbarkeit spielen beim internationalen Rohstoffhandel eine entscheidende Rolle, sondern auch zentrale außenpolitische Aspekte. So ist das Versorgungsrisiko vor allem bei den Hochtechnologiemetallen aufgrund der geografischen Lage der Vorkommen in politisch instabilen Regionen zumeist höher als bei energetischen Rohstoffen wie Öl und Gas. Über die Hälfte der Länder, in denen Vorkommen an metallischen Rohstoffen nachgewiesen sind, werden in einer Studie der Weltbank als politisch instabil oder gar extrem instabil eingestuft. Fehlende Substitutionsmöglichkeiten steigern das Risiko noch. Ohne Chrom lassen sich keine rostfreien Stähle und ohne Kobalt keine verschleißfesten Legierungen produzieren. Auch Platin, Neodyn oder Indium kann die Hochtechnologieindustrie nicht durch andere Rohstoffe ersetzen. Dabei stellt sich die Frage: Wie können wir unsere Rohstoffversorgung sichern? Dazu hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Juli 2010 ihre Position vorgelegt. "Deutschlands und Europas Rohstoffversorgung sichern" steht in der Reihe von außenpolitischen Grundsatzdokumenten der Unionsfraktion wie der Lateinamerika-Strategie und der Sicherheitsstrategie. Damit hat das zentrale Politikfeld der Sicherung der Versorgung mit metallischen Rohstoffen auch im politischen Raum endlich die Aufmerksamkeit gefunden, die ihm gebührt. In diesem Grundsatzpapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind zentrale Fragen, die der vorliegende Antrag der SPD nun aufwirft, bereits behandelt. So sind die Vorgaben der Extractive Industries Transparency Initiative, EITI, nach denen Zahlungsströme an öffentliche Stellen im Bereich der Rohstoffgewinnung wie etwa Konzessionsabgaben oder Genehmigungskosten von den Unternehmen offengelegt werden, für uns selbstverständlich. Die Herstellung von Transparenz über Zahlungsflüsse ist ein wichtiges Mittel zur Korruptionsbekämpfung. Und auch Gespräche zu verlässlichen Rohstoff- und Handelspartnerschaften finden bereits statt. So sagte der Chef des Ostausschusses beim Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, Metro-Chef Eckhard Cordes am 31. Januar 2011 in Berlin, dass Kasachstan bereit sei, Deutschland bei seiner Ressourcensicherung zu unterstützen. Dieser Weg bilateraler Zusammenarbeit Deutschlands in Rohstofffragen ist ein neuer Weg. Er ist vielversprechend und muss deshalb auch mit weiteren Ländern und Regionen gegangen werden. Wir als CDU/ CSU-Bundestagsfraktion unterstützen diese neue Form deutscher Rohstoffsicherung. Edelgard Bulmahn (SPD): Kein anderes Land in Europa ist so gut aus der weltweiten Wirtschaftskrise gekommen wie Deutschland. Und in kaum einem anderen Land hat sich so deutlich gezeigt, welche Bedeutung die Industrie als Grundlage für Wachstum und Wohlstand hat. Wer diese Grundlage stützen will, der muss die nachhaltige und langfristige Versorgung der deutschen Industrie mit Rohstoffen sichern, und zwar aktiv. Es reicht nicht aus, die Eigenverantwortung der Privatwirtschaft zu betonen, wie das der Wirtschaftsminister wiederholt getan hat. Sicher, es ist die Aufgabe der Unternehmen, ihren Bedarf an Rohstoffen am Markt zu decken und sich vorausschauend auf künftige Trends einzustellen. Doch die Bundesregierung muss diese Schritte unterstützen und mit politischen Mitteln begleiten. Das gilt ganz besonders für die Beschaffung von Seltenen Erden. Seit Anfang letzten Jahres ist die Nachfrage nach diesen Metallen drastisch gestiegen. Gleichzeitig hat China, das mit 97 Prozent der Weltproduktion eine Quasimonopolstellung hält, die Ausfuhr von Seltenen Erden im zweiten Halbjahr 2010 um 72 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesenkt. Nun soll die Exportquote weiter gesenkt werden. Es ist zu befürchten, dass es infolge von Versorgungsengpässen schon bald zu Produktionsausfällen kommt. Die wachsende Nachfrage nach einzelnen Seltenen Erden wäre in den kommenden Jahren aber selbst ohne chinesische Förder- und Exportbeschränkungen mithin nicht gedeckt. Bis 2014 sind Versorgungsengpässe bei bis zu sieben Elementen der Seltenen Erden zu erwarten. Schließlich verfügt China über lediglich 38 Prozent der weltweiten Reserven an Seltenen Erden. Besonders Unternehmen aus der metallverarbeitenden Industrie sorgen sich um den Verlust ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Von Seltenen Erden hängen gerade jene Wertschöpfungsketten ab, an deren Ende wichtige Hightechprodukte stehen. Windturbinen, Solarkollektoren, Katalysatoren und Motoren für Hybridfahrzeuge sind nur einige Beispiele. Gerade in der Boombranche Greentech und Erneuerbare Energien ist die Abhängigkeit von Seltenen Erden enorm. Versorgungsengpässe bremsen Fortschritte bei Energieeffizienz und Umweltschutz. Und nicht zuletzt gefährden sie Arbeitsplätze in Zukunftsindustrien, in denen laut DIW schon heute über 340 000 Menschen arbeiten. Die Bundesregierung riskiert mit ihrer Untätigkeit die deutsche Position auf den Märkten von morgen. Die neue Deutsche Rohstoffagentur wird in ihrem jetzigen Zuschnitt weder die Spekulation mit knappen Rohstoffen verhindern können noch eine sichere Versorgung der deutschen Industrie mit diesen Rohstoffen gewährleisten. Deutschland muss vielmehr alles daran setzen, um national wie international zukunftsorientierte Strategien zur Rohstoffsicherung zu entwickeln und umzusetzen, zum Beispiel in Form einer Rohstoffpartnerschaft mit Ländern wie der Mongolei. Im Rahmen der Welthandelsorganisation muss ein offener und fairer Zugang im Rohstoffhandel verhandelt werden. Dabei muss gezielt auf die Abschaffung von Exporthemmnissen gedrängt werden. Die Europäische Kommission hat sich vergangene Woche ausdrücklich dafür ausgesprochen. In ihrer Rohstoffstrategie fordert die Kommission die gezielte Vereinbarung bilateraler Rohstoffpartnerschaften mit Förderländern und ein besseres Recyclingsystem für knappe Rohstoffe. Die Bundesregierung muss endlich Gespräche mit Ländern und Ländergruppen aufnehmen, die für solche Rohstoffpartnerschaftsabkommen infrage kommen. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die immer mehr zu solchen bilateralen Vertragswerken übergehen, die WTO-konform sind, ist die Bundesregierung bisher tatenlos geblieben und hat bislang kein einziges Rohstoffabkommen abgeschlossen. Es geht uns dabei explizit nicht um eine Abkehr vom Multilateralismus, sondern um eine Flankierung der im Rahmen von EU und Welthandelsorganisation erfolgten Aktivitäten. Die SPD-Fraktion setzt sich für einen fairen Rohstoffhandel ein. Die Einhaltung sozialer Mindeststandards und finanzieller Transparenzregelungen muss ebenso garantiert werden wie eine faire Verteilung der Gewinne und die Vermeidung von Umweltbelastungen. In ihrer Rohstoffstrategie vom Oktober 2010 hat die Bundesregierung eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für das Recycling in Aussicht gestellt. Nur, geschehen ist bisher nichts. Inzwischen haben einige Unternehmen ein eigenes Rücknahmesystem für bestimmte Metalle eingeführt oder bereiten dies zielstrebig vor. Wir fordern deshalb die Schaffung eines Recyclingsystems zur Rückgewinnung wichtiger Technologiemetalle. Es gilt jetzt nicht Rahmenbedingungen zu evaluieren, sondern konkret der deutschen Wirtschaft die Rückgewinnung dieser Metalle zu erleichtern. Wir brauchen ein weltweites Rohstoffregime, das Anbietern und Abnehmern gleiche Bedingungen sichert und langfristig gültige Regeln schafft. Damit dies gelingen kann, bedarf es konkreter Maßnahmen, um den Handel mit Rohstoffen und insbesondere Seltenen Erden fair zu gestalten und offenzuhalten. Die Rohstoffstrategie der Bundesregierung droht zu einem leeren Versprechen zu werden. Die deutsche Wirtschaft fühlt sich von einer Regierung im Stich gelassen, die sich in einem Aufschwung sonnt, der nicht ihrer ist, und den sie nun leichtfertig gefährdet. Ich bitte Sie, dem Antrag der SPD-Fraktion zuzustimmen und so eine wichtige Grundlage für Wachstum und Wohlstand in diesem Land zu stützen. Klaus Breil (FDP): Wer in der Schule abschreibt und erwischt wird, erhält die Note sechs. Und nur diese Note hat der Antrag der SPD hier und heute verdient. Dieser Antrag enthält nichts anderes als die Ideen aus den von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle initiierten Rohstoffdialogen und der Rohstoffstrategie. Wir wissen alle, dass die Rohstoffversorgung eine Zukunftsaufgabe ist. Die Gleichung ist ganz einfach: Eine wachsende Weltbevölkerung bedeutet wachsender Energie- und Rohstoffbedarf. Dabei sind noch unter keiner Bundesregierung - und schon gar nicht unter Rot-Grün - so viele Initiativen zur Rohstoffversorgung gestartet worden wie im letzten Jahr unter Rainer Brüderle: Rohstoffdialoge, Rohstoffstrategie, Rohstoffagentur und Rohstoffpartnerschaften sind unsere Antworten auf die drängenden Fragen der Rohstoffversorgung. Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, laufen jetzt den Aktivitäten des Bundeswirtschaftsministeriums hinterher. Selbstverständlich ist die Bundesregierung schon in Gesprächen über bilaterale Rohstoffpartnerschaften. Und damit sollen die Aktivitäten der Wirtschaft flankiert werden. Dies alles zeigt: Die Bundesregierung bedarf nicht ihrer Nachhilfe, auch nicht, was die Erleichterung des Handels mit den sogenannten Seltenen Erden angeht. Ja, in der Hochtechnologieindustrie hat man sich in den vergangenen Monaten mit Engpässen für Seltene Erden beschäftigt. Bald müssten deutsche Firmen ihre Produktionslinien stoppen, verlautete es in den Medien. Und das war schon gleich der erste deutliche und notwendige Auftritt der Deutschen Rohstoffagentur: "Übertriebene Panikmache." Zwar haben die Chinesen nun angekündigt, auch bald vom Exporteur zum Importeur Seltener Erden zu werden, doch bringt dieser Engpass - auch wenn er in eine unglückliche Situation mitten in unseren Aufschwung fällt -, auch eine Chance mit sich, eine Chance für andere Länder, ihre Vorkommen dieser Rohstoffe - hoffentlich auch umweltverträglicher als der derzeitige Hauptexporteur - zu explorieren. Mehr Länder, die explorieren, bedeuten einen größeren Markt und damit mehr Wettbewerb. Hin oder her, die Situation der letzten Monate müssen wir - und ganz besonders auch die deutsche Wirtschaft - als Weckruf verstehen. Es war in der Vergangenheit ein Fehler, das erste Glied der Wertschöpfungskette in der Rohstoffwirtschaft aufzugeben. Für eine Rückwärtsintegration ist es heute aber fast zu spät. In diesem Fall müsste die Industrie extrem hohe Kosten tragen. Einseitige Abhängigkeiten, Handelsbarrieren und unzureichende Sanktionen vonseiten der WTO sind die natürlichen Feinde einer Industrienation wie Deutschland. Diese gilt es zu bekämpfen. Dafür steht der Liberalismus. Dafür steht unser Bundeswirtschaftsminister. Dafür steht die FDP. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Debatte um Seltene Erden nimmt teilweise absurde Züge an. Da wird der Feind wieder einmal schnell ausgemacht. Das böse China dreht der westlichen Industrie den Rohstoffhahn zu. Ganz so einfach ist die Situation allerdings nicht. Richtig ist, dass China derzeit etwa 90 Prozent der Seltenen Erden fördert. Falsch ist, dass China 90 Prozent der Rohstoffvorkommen besitzt. Höchstens ein Drittel sollen es sein. Nur, die anderen potenziellen Förderländer wie USA, Kanada oder Australien haben ihre Förderung eingestellt bzw. nicht weiter ausgebaut, weil ihnen das Geschäft nicht lukrativ genug war. Und die deutsche Industrie hat gerne die billigen Rohstoffe aus China importiert und sich keinen Deut darum geschert, unter welch katastrophalen menschlichen Bedingungen und Umweltbedingungen diese gefördert wurden. Jetzt, da China die Rohstoffe für die eigene Industrie behalten will, ist das Wehklagen groß. Drehen wir doch den Spieß um und fragen die deutsche Industrie, was sie denn gegen die drohende Verknappung getan hat. Die Antwort ist einfach: nichts. Seit Jahren gäbe es die Möglichkeit, dass die deutsche Industrie ein Recyclingsystem für Seltene Erden und andere wichtige Rohstoffe wie Coltan aufbaut. Aber die kurzfristige Rendite lockt und blockiert das Denken über den Tag hinaus. Sicherlich ist es teurer, ein Recyclingsystem aufzubauen, als billige Rohstoffe zu importieren. Und dann ist das Geschrei da, wenn der Engpass kommt. Hier kann der Wirtschaftsminister wieder einmal sehen, wie unfähig die von ihm so hochgelobte freie Marktwirtschaft letztlich doch ist. Angesichts dessen, dass einige wenige Industrieländer in wenigen Jahrzehnten die begrenzten Ressourcen der Welt verbrauchen, muss ein grundsätzlich anderer Ansatz gefunden werden, als Handelsliberalisierung und Abbau von Exporthemmnissen für Rohstoffe zu fordern, wie Bundesregierung und SPD dies tun. Den zügellosen Ressourcenverbrauch einfach fortzusetzen, heißt nichts anderes, als das Problem einfach ein paar Jahrzehnte in die Zukunft zu verschieben. Verlierer sind auf jeden Fall die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Steigerung der Ressourceneffizienz und Materialrecycling sind die beiden wichtigsten Aufgaben, die anstehen. Bei beidem gibt es ein eklatantes Marktversagen. Da die Gesellschaft aber nicht warten kann, ob und wann eine Verteuerung der Ressourcenimporte vielleicht doch noch mal den notwendigen Impuls für die Industrie geben wird, muss der Staat steuernd eingreifen. Anforderungen an Ressourceneffizienz bei der öffentlichen Beschaffung, Aufbau eines Recyclingsystems, Besteuerung des Rohstoffverbrauchs, wie die EU-Kommission dies vorschlägt, sind wichtige Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden können. Letztlich besteht die Aufgabe darin, Strategien für eine Ressourcensuffizienz zu entwickeln, also der Reduzierung von Ressourcenverbrauch. Wir haben in der Enquete-Kommission unsere Debatte über das Wirtschaftswachstum, über die Abkopplung vom Rohstoffverbrauch und die Definition von Lebensqualität aufgenommen. ich hoffe, dass wir zu guten Ergebnissen kommen, die dann auch in eine Rohstoffpolitik der Bundesregierung einfließen werden. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema Rohstoffe, vor allem die Seltenen Erden, erlebt derzeit Hochkonjunktur. Es ist gut, dass diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Wie die Menschheit mit ihren begrenzten Ressourcen haushält, ist - gerade angesichts der riesigen Wachstumsprozesse in den Schwellenländern - eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Wir müssen dieses Thema aber sehr präzise diskutieren, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Nehmen wir den aktuellen Knappheitsdiskurs bei den Seltenen Erden. Dort haben wir zwar gegenwärtig in der Tat eine Abhängigkeit von China. China fördert gerade über 90 Prozent der Seltenen Erden. Zugleich besitzt China aber "nur" 31 Prozent der weltweit bekannten Vorkommen. Diese Abhängigkeit ist entstanden, weil andere Minenstandorte preislich nicht mehr wettbewerbsfähig waren und weil der Abbau Seltener Erden in hohem Maße umweltschädlich ist und es ja auch ganz bequem war, dass dieser Abbau in den hintersten Ecken Chinas stattfand. Hier wurde - weder von der Industrie noch von der Politik - strategisch gegengesteuert. Stattdessen wird in den USA und in Europa jetzt die verbale Keule gegenüber China ausgepackt und beklagt, dass China weniger Seltene Erden exportiert als in der Vergangenheit. Zudem wird der aktuelle Engpass viel zu oft gleichgesetzt mit langfristigen Knappheiten. Knappheiten sind aber kein unausweichliches Schicksal; sie sind wirtschaftlich und politisch gestaltbar. Deshalb hat die Diskussion mit ihrem Fokus auf die Beschaffungsperspektive eine gewaltige Schieflage. Nehmen wir die Rohstoffstrategie der EU. Dort steht als erster Punkt "Zugang zu Rohstoffen in Staaten außerhalb der EU". Das halte ich für eine falsche Akzentsetzung. Es wäre falsch, Druck auf Entwicklungsländer auszuüben, um möglichst billig an ihre Rohstoffe zu kommen. Aber genau das ist zu befürchten. So will die EU sich dafür engagieren, dass möglichst keine Exportzölle auf Rohstoffe erhoben werden. Dabei können diese ein wichtiges Finanzierungsinstrument armer, aber rohstoffreicher Länder sein. Die von der Bundesregierung angekündigten Rohstoffpartnerschaften dürfen nicht zu einem neuen Rohstoffkolonialismus ausarten. Völlig falsch ist zudem die Debatte, die in manchen sicherheitspolitischen Zirkeln geführt wird und die den Schutz des Zugangs zu Rohstoffen zum Beispiel zur Aufgabe der NATO machen will. Eine solche Politik, die an die historische Kanonenbootpolitik erinnert, lehnen wir strikt ab. Vor allem aber verrennen wir uns mit dieser Verengung auf die Beschaffungsseite. Glaubt jemand ernsthaft, man könnte China über die WTO zwingen, mehr zu exportieren, als es will? Ich würde meine Hoffnungen nicht darauf bauen, vor allem da es auch viele WTO-kompatible Möglichkeiten der Exporteinschränkungen gibt. Nein, wir brauchen einen Perspektivwechsel. Diesen löst leider auch der vorliegende Antrag nicht ein. Der Schwerpunkt einer modernen Rohstoffstrategie muss auf Effizienz, Recycling und Substitution liegen. Diese Punkte werden zwar überall erwähnt, sie müssen aber im Zentrum unserer Politik stehen. Hier werden die Potenziale systematisch unterschätzt. So wird immer wieder behauptet, dass Seltene Erden kaum substituiert werden könnten - obwohl das für wichtige Produktkategorien wie Windräder, Elektroautos oder auch Mobilfunkgeräte nicht stimmt. Und auch beim Recycling können noch gewaltige Potenziale erschlossen werden. Das zeigt alleine schon die Tatsache, dass noch immer 40 Prozent des europäischen Elektroschrotts teilweise illegal in Drittländer exportiert werden. Hier müssen sich Industrie, Forschung und die Politik anstrengen. Und da kommt es besonders auf die europäische Ebene an. Es macht hier keinen Sinn in nationalstaatliches Klein-Klein zu verfallen. Hier springt leider auch der Antrag der SPD zu kurz. Der Umgang mit endlichen Ressourcen ist eine zentrale Zukunftsfrage. Normativ müssen wir in den Industrieländern akzeptieren, dass aus einem überproportionalen Verbrauch kein Recht auf überproportionalen Zugang entsteht. Deshalb sollten wir bei der Lösung der Ressourcenfrage zuerst bei uns selber anfangen. Dazu wäre eine klare Schwerpunktsetzung auf Recycling, Effizienz und Substitution ein wichtiger Schritt. 1Anlage 2 2 Anlage 3 3 Anlage 4 4 Anlage 5 5 Anlage 6 6 Anlage 7 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 10228 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 90. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 90. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10227 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 10242 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 90. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 90. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 10. Februar 2011 10243