Plenarprotokoll 17/105 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 105. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 I n h a l t : Wahl des Abgeordneten Reiner Deutschmann als Mitglied und des Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser) als stellvertretendes Mitglied in das Kuratorium des Deutschen Historischen Museums Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik (Drucksache 17/5450) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) (Drucksache 17/5452) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) (Drucksache 17/5451) Ulrike Flach (FDP) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Peter Hintze (CDU/CSU) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Carola Reimann (SPD) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) Patrick Meinhardt (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Johannes Singhammer (CDU/CSU) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Pascal Kober (FDP) Gabriele Molitor (FDP) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) Julia Klöckner (CDU/CSU) Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) Rudolf Henke (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Helge Braun (CDU/CSU) Elke Ferner (SPD) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für einen neuen Infrastrukturkonsens - Schutz der Menschen vor Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern (Drucksache 17/5461) Gustav Herzog (SPD) Daniela Ludwig (CDU/CSU) Herbert Behrens (DIE LINKE) Werner Simmling (FDP) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Gustav Herzog (SPD) Florian Pronold (SPD) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) Judith Skudelny (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Patrick Schnieder (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 5: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen (Drucksachen 17/4038, 17/5499) b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Mindestlohngesetz) (Drucksachen 17/4435, 17/5499) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne verhindern (Drucksachen 17/1408, 17/5101) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Anette Kramme (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Klaus Ernst (DIE LINKE) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ulrich Lange (CDU/CSU) Klaus Ernst (DIE LINKE) Sigmar Gabriel (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Pascal Kober (FDP) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Klaus Ernst (DIE LINKE) Sigmar Gabriel (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Michael Schlecht (DIE LINKE) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Gitta Connemann (CDU/CSU) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diana Golze (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen (Drucksache 17/5472) b) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Europäische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen (Drucksache 17/5386) c) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stärkung des Europäischen Forschungsraums - Die Vorbereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die richtigen Bahnen lenken (Drucksache 17/5449) d) Antrag der Fraktion der SPD: Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze (Drucksache 17/5483) e) Antrag der Fraktion der SPD: Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen (Drucksache 17/5482) f) Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wertstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung (Drucksache 17/5484) g) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wissenschaftliche Urheberinnen und Urheber stärken - Unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht einführen (Drucksache 17/5479) h) Antrag der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sofortige Stilllegung der sieben ältesten Atomkraftwerke und des Atomkraftwerkes Krümmel (Drucksache 17/5478) i) Antrag der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Überführung der Rückstellungen der AKW-Betreiber in einen öffentlich-rechtlichen Fonds (Drucksache 17/5480) j) Antrag der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Agnes Krumwiede, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Öffentlichen Diskurs zum geplanten Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin ermöglichen (Drucksache 17/5469) k) Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tierschutz bei Tiertransporten verbessern (Drucksache 17/5491) l) Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes: Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2010 - Einzelplan 20 - (Drucksache 17/5385) Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gedenkort für die Opfer der NS-"Euthanasie"-Morde (Drucksache 17/5493) b) Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU (2014-2020) (Drucksache 17/5492) c) Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduktion verbieten (Drucksache 17/5485) d) Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut - Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der "Global Health Governance" stärken (Drucksache 17/5486) e) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz in Public Privat Partnerships im Verkehrswesen (Drucksache 17/5258) Tagesordnungspunkt 29: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen (Drucksachen 17/5127, 17/5201, 17/5510) b) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Commonwealth der Bahamas über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksachen 17/5128, 17/5467) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Monaco über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksachen 17/5129, 17/5467) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Kaimaninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksachen 17/5130, 17/5467) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland (Drucksachen 16/13325, 17/5314) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung (Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2, 17/5462) e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Anpassung chemikalienrechtlicher Vorschriften an die Verordnung (EG) Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung an Änderungen der Gefahrstoffverordnung (Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2, 17/5497) f)-j) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 249, 250, 251, 252 und 253 zu Petitionen (Drucksachen 17/5393, 17/5394, 17/5395, 17/5396, 17/5397) Zusatztagesordnungspunkt 4: a)-h) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260 und 261 zu Petitionen (Drucksachen 17/5501, 17/5502, 17/5503, 17/5504, 17/5505, 17/5506, 17/5507, 17/5508) Zusatztagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Besteuerung von Diesel-Kraftstoffen Norbert Schindler (CDU/CSU) Garrelt Duin (SPD) Dr. Volker Wissing (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) Uwe Beckmeyer (SPD) Heinz Golombeck (FDP) Ingrid Arndt-Brauer (SPD) Peter Aumer (CDU/CSU) Olav Gutting (CDU/CSU) Patricia Lips (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Perspektiven für Jungen und Männer (Drucksache 17/5494) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ Caren Marks (SPD) Miriam Gruß (FDP) Diana Golze (DIE LINKE) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michaela Noll (CDU/CSU) Sönke Rix (SPD) Florian Bernschneider (FDP) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern (Drucksache 17/2145) Petra Crone (SPD) Markus Grübel (CDU/CSU) Heidrun Dittrich (DIE LINKE) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Erwin Rüddel (CDU/CSU) Franz Müntefering (SPD) Norbert Geis (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung (Drucksachen 17/5335, 17/5496) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ Sonja Steffen (SPD) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern (Drucksache 17/5099) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Michael Groschek (SPD) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: a Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (Drucksachen 17/3617, 17/5512) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Sonja Steffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen (Drucksachen 17/2411, 17/5512) Stephan Thomae (FDP) Sonja Steffen (SPD) Ute Granold (CDU/CSU) Jörn Wunderlich (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für einen Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeerpolitik (Drucksache 17/5487) Günter Gloser (SPD) Joachim Hörster (CDU/CSU) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Dr. Rainer Stinner (FDP) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, Michael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Strategie der Europäischen Union für den Donauraum effizient gestalten (Drucksache 17/5495) Karl Holmeier (CDU/CSU) Dietmar Nietan (SPD) Joachim Spatz (FDP) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gunther Krichbaum (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 13: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen (Drucksachen 17/1965, 17/4628) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Afghanistan (Drucksachen 17/3866, 17/4629) Tagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz - HolzSiG) (Drucksachen 17/5261, 17/5498) Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln - Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern (Drucksache 17/5475) Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Illegale Landnahme verhindern, Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in Entwicklungsländern sichern (Drucksache 17/5488) b) Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden (Drucksache 17/4533) Helmut Heiderich (CDU/CSU) Johannes Röring (CDU/CSU) Dr. Sascha Raabe (SPD) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) Niema Movassat (DIE LINKE) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fachkräftepotential nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Strategie statt Streit - Fachkräftemangel beseitigen (Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100) Tagesordnungspunkt 16: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze Drucksachen 17/4978, 17/5509) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/5513) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Anton Schaaf (SPD) Sebastian Blumenthal (FDP) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Drucksachen 17/4805, 17/5511) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/5514) Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Fraktionen der SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen (Drucksache 17/5044) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses - zu dem Antrag der Fraktion der SPD: 10 Jahre UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten - zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Katja Keul, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 10 Jahre UN-Resolution 1325 - Frauen, Frieden und Sicherheit - Nationaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung (Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484, 17/5092) Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Einführung eines Ordnungsgeldes (Drucksache 17/5471) Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nein zur Todesstrafe - Hinrichtung von Troy Davis verhindern Drucksache 17/5476) Michael Frieser (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Pascal Kober (FDP) Annette Groth (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Drucksache 17/5470) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Michael Groß (SPD) Dieter Jasper (CDU/CSU) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) - Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Päimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) - Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) (Tagesordnungspunkt 3 a bis c) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Brand (CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Maria Michalk (CDU/CSU) Wolfgang Neškovic (DIE LINKE) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Jens Spahn (CDU/CSU) Stephan Thomae (FDP) Johanna Voß (DIE LINKE) Wolfgang Zöller (CDU/CSU) Willi Zylajew (CDU/CSU) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Beschlussempfehlung und Bericht: Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen - Beschlussempfehlung und Bericht: Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Afghanistan (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Harald Leibrecht (FDP) Heike Hänsel (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz - HolzSiG) (Tagesordnungspunkt 12) Alois Gerig (CDU/CSU) Petra Crone (SPD) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln - Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern (Tagesordnungspunkt 15) Monika Grütters (CDU/CSU) Tankred Schipanski (CDU/CSU) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Klaus Hagemann (SPD) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) Nicole Gohlke (DIE LINKE) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: - Fachkräftepotential nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen - Strategie statt Streit - Fachkräftemangel beseitigen (Tagesordnungspunkt 17) Ulrich Lange (CDU/CSU) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Dieter Jasper (CDU/CSU) Thomas Bareiß (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Klaus Breil (FDP) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Antrag: Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen - Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: - 10 Jahre UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" - Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten - 10 Jahre UN-Resolution - "1325 Frauen, Frieden, Sicherheit" - Nationaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Christine Buchholz (DIE LINKE) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Einführung eines Ordnungsgeldes (Tagesordnungspunkt 19) Bernhard Kaster (CDU/CSU) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Jörg van Essen (FDP) Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Tagesordnungspunkt 21) Helmut Brandt (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 105. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich. Wir haben einige Mitteilungen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt aus dem Kuratorium des Deutschen Historischen Museums ausscheidet. Als sein Nachfolger wird der Kollege Reiner Deutschmann vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Patrick Kurth werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die genannten Kollegen gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringliche Frage Nr. 5 auf Drucksache 17/5468 (siehe 104. Sitzung) ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 28 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gedenkort für die Opfer der NS-"Euthanasie"-Morde - Drucksache 17/5493 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU (2014-2020) - Drucksache 17/5492 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduktion verbieten - Drucksache 17/5485 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut - Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der "Global Health Governance" stärken - Drucksache 17/5486 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz in Public Privat Partnerships im Verkehrswesen - Drucksache 17/5258 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Ergänzung zu TOP 29 a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 254 zu Petitionen - Drucksache 17/5501 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 255 zu Petitionen - Drucksache 17/5502 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 256 zu Petitionen - Drucksache 17/5503 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 257 zu Petitionen - Drucksache 17/5504 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 258 zu Petitionen - Drucksache 17/5505 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 259 zu Petitionen - Drucksache 17/5506 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 260 zu Petitionen - Drucksache 17/5507 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 261 zu Petitionen - Drucksache 17/5508 - ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Besteuerung von Dieselkraftstoffen ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Holmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, Michael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Strategie der Europäischen Union für den Donauraum effizient gestalten - Drucksache 17/5495 - ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm für eine nachhaltige, bezahlbare und sichere Energieversorgung - Drucksache 17/5481 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Aktuelle Äußerungen des Bundesfinanzministers zur Umschuldung von EU-Ländern, die den bis 2013 geltenden "Rettungsschirm" in Anspruch genommen haben Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 12 und die weiteren Tagesordnungspunkte verschieben sich um jeweils einen Platz nach hinten. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik - Drucksache 17/5450 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) - Drucksache 17/5452 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) - Drucksache 17/5451 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Diese Zeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der Unterzeichner dieser drei Gesetzentwürfe verteilt werden, weil wir hier - ich sage das insbesondere für die Zuhörer und Zuschauer - keine Gesetzentwürfe der Regierung oder der Fraktionen, sondern überfraktionelle Gesetzentwürfe beraten werden. Es wird vorgeschlagen, dass die Reden der Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, in einem der Redezeit von fünf Minuten entsprechenden Umfang zu Protokoll gegeben werden können.1 Ich hoffe, Sie sind auch damit einverstanden. - Das sieht so aus. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Ulrike Flach. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und der SPD) Ulrike Flach (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel unseres Gesetzentwurfes, getragen von 215 Kollegen aus allen Fraktionen des Bundestages, ist es, Paaren mit genetischer Disposition für schwere Krankheiten zu helfen. Die PID ist dabei ein Instrument im Rahmen der künstlichen Befruchtung, das Wissen über Erkrankungen der befruchteten Eizelle vermittelt, bevor sie in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli 2010 ist die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID genannt, in Deutschland legalisiert worden. Der Bundesgerichtshof hat drei Argumente für seine Entscheidung angeführt: Erstens. Das Embryonenschutzgesetz wird durch die PID nicht verletzt; denn auch der Arzt, der eine PID durchführt, strebt die Herbeiführung einer Schwangerschaft an. Zweitens. Die Zellentnahme zu Testzwecken stellt kein Verwenden dar, das dem Embryonenschutzgesetz zuwiderläuft. Drittens. Die PID verfolgt denselben Zweck, den § 218 a StGB als Indikation zum Schwangerschaftsabbruch anerkennt. Danach ist der Abbruch nicht rechtswidrig, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder eine Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden. Die PID verfolgt genau diesen Zweck, liebe Kollegen, und zwar - weil der Embryo noch in der Petrischale ist - auf weniger belastende Weise, als es sonst der Fall ist. Deshalb, so der Bundesgerichtshof, wäre es ein Wertungswiderspruch, sie bei Strafe zu verbieten, während der spätere und physisch und psychisch natürlich belastendere Abbruch zum gleichen Zweck erlaubt ist. Ein Verbot würde die Betroffene von Gesetz wegen zwingen, zur Abwendung einer Gefahr - Fehl- oder Totgeburt - eine weitaus gefährlichere Maßnahme, nämlich den Schwangerschaftsabbruch nach der Einpflanzung, über sich ergehen zu lassen, als es die Verwerfung des Embryos in der Petrischale wäre. Wenn es aber, liebe Kollegen, eine mildere Abwehr des Notstandes gibt, dann darf der Gesetzgeber die Betroffene nicht in eine noch schwerere Notlage bringen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Die Argumentation des Bundesgerichtshofes ist nicht nur rechtlich nicht von der Hand zu weisen. Sie ist auch ethisch begründbar. Es ist ethisch nicht verantwortbar, der Frau ein Wissen - sogar unter Strafe - vorzuenthalten, das sie in die Lage versetzen würde, eine selbstbestimmte Entscheidung über die Einpflanzung zu treffen. Alles andere wäre eine Schwangerschaft auf Probe. Bei der Entscheidung über die PID geht es aber nicht nur um die richtige Anwendung von Recht. Es geht vor allem - das ist wichtig für uns - um Menschen in großer Not. Vor einigen Wochen erhielt ich eine Mail, die ich gern im Auszug zitieren möchte: Meine Frau und ich haben bereits ein gesundes Kind, aber leider haben wir beide einen Gendefekt. Die letzten zwei Schwangerschaftseinleitungen mussten getätigt werden, da unser Kind nicht lebensfähig war (großer Wasserkopf und leider gar kein Gehirn). Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaft es ist, eine Schwangerschaftseinleitung oder Fehlgeburt zu haben. ... Wir hätten kein Problem, wenn wir ein behindertes Kind hätten, aber bei unserer Erbkrankheit gibt es für das Überleben nur eine geringe Chance. Liebe Kollegen, ich lese Ihnen das deshalb vor, weil es deutlich macht, für wen diejenigen, die für eine begrenzte Zulassung der PID sind, eintreten: für Menschen, die sehr oft am Rande der Verzweiflung stehen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, die Hoffnung in eine Zulassung der PID setzen und die sehr wohl - oft auch aus tiefer christlicher Überzeugung - verantwortungsbewusst mit dieser ethischen Frage umgehen. Was aber wollen wir, die für eine begrenzte Zulassung sind? Auch wir öffnen nicht alle Türen für die PID. Es gibt kein Recht auf PID, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie bleibt grundsätzlich verboten, aber es soll Ausnahmen geben. Die erste Ausnahme soll gelten, wenn bei Eltern oder bei einem Elternteil aufgrund genetischer Veranlagung eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit besteht, die zu einer Tot- oder Fehlgeburt führt. Als hohe Wahrscheinlichkeit gelten international 25 bis 50 Prozent. Zweite Ausnahme: wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere Erbkrankheit besteht, die sich aber erst später manifestiert, also erst später ausbricht. Hier grenzen wir uns von anderen ab, die sagen, eine spätmanifestierende Krankheit soll nur dann eine PID legitimieren, wenn sie innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes ausbricht. Das halten wir für eine willkürliche Grenzziehung, die in der Realität nicht umzusetzen ist, weil es unterschiedliche Krankheitsverläufe ein und derselben Krankheit gibt. Eine begrenzte Zulassung der PID bedeutet keinen ethischen und quantitativen Dammbruch. Das belegen die Erfahrungen aus vielen anderen Ländern, die uns umgeben. In Großbritannien gab es im Jahre 2008 ganze 214 Fälle, in denen PID angewandt wurde. Das sind 0,42 Prozent aller künstlichen Befruchtungen im Jahr. In Frankreich waren es 320 Fälle. Der Deutsche Ethikrat hat zu Recht in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung für die PID nicht automatisch zu einer Ausweitung führt. Neue Erkenntnisse können - das hat Frankreich gezeigt - sogar zu einer Einschränkung führen. Es ist eben nicht die Rutschbahn, die wir, wie immer prophezeit wird, anstreben, sondern es ist ein rechtlich sicherer und verlässlicher Weg für die Familien in Not. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) In unserem Gesetzentwurf gibt es keinen Automatismus für eine Zulassung der PID. Wir haben bewusst auf eine Liste von Krankheitsbildern verzichtet. Vielmehr wollen wir jede einzelne Entscheidung einer Ethikkommission überlassen, die an eigens dafür lizenzierten Zentren eingerichtet werden soll. Damit kann die Ethikkommission individuell - das ist für uns wichtig - auf jedes Paar und seine Not eingehen. Auch medizinische Fortschritte in Therapie und Behandlung können berücksichtigt werden. Wir wollen keine zentrale Kommission, sondern entsprechend der föderalen Tradition unseres Landes mehrere eigens lizenzierte Zentren. Damit wird auch die Gruppe derjenigen Fachleute, die in die Entscheidung eingebunden werden, verbreitert. Wir sehen mit Freude, dass sich sowohl der Ethikrat - in einer zwar knappen Mehrheit - als auch die Akademie der Wissenschaften für eine begrenzte Zulassung ausgesprochen haben. Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer stützt diese Auffassung, wenn Professor Hepp schreibt, die Zulassung der PID sei ethisch weniger problematisch als eine Schwangerschaft auf Probe. Selbst in der evangelischen Kirche gibt es deutliche Stimmen, die sich für eine begrenzte Zulassung aussprechen. Liebe Kollegen, ich bitte Sie, sich für unseren Entwurf zu entscheiden, weil er Menschen wie dem Paar, dessen E-Mail ich eben vorgelesen habe, hilft, weil er eine konsistente Rechtslage schafft und nicht dazu führt, dass wir erneut eine Diskussion über den § 218 führen müssen, und weil er nicht zu einem Dammbruch führt, weder von der Fallzahl her noch hinsichtlich einer Aufweichung ethischer Standards. Es ist eine Entscheidung zugunsten der Frauen und ihrer Familien, es ist eine Entscheidung gegen die Qual der Abtreibung, und es erleichtert die Entscheidung genetisch belasteter Eltern für ein Kind. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Günter Krings ist der nächste Redner. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werbe heute für ein konsequentes Verbot der Präimplantationsdiagnostik. Die Befürworter, die sich sicherlich ebenso wenig wie wir, die Antragsteller eines Verbotes, die Entscheidung leicht gemacht haben - immerhin haben sich über 400 Abgeordnete des Deutschen Bundestages bereits heute für einen der drei Anträge entschieden -, begeben sich nach meiner, nach unserer Überzeugung auf ein sehr abschüssiges Terrain. Das belegen aus unserer Sicht Erfahrungen in den allermeisten europäischen und außereuropäischen Ländern. Das, was einmal als eingegrenzte Zulassung der PID begonnen hat, ist in vielen Ländern ein Stück weit zulasten der Embryonen gegangen, weil die Grenzen verschoben worden sind. Frankreich galt in der Tat bis vor einiger Zeit noch als Beispiel für eine restriktive Zulassung, bis wir vor wenigen Wochen zur Kenntnis nehmen mussten, dass in Frankreich bereits die Erzeugung eines Rettungsgeschwisterkindes speziell zum Zwecke der Stammzellspende für sein Geschwisterkind zugelassen worden ist. Deshalb wollen wir die Rechtslage wiederherstellen, wie sie aufgrund der Überzeugung der allermeisten Juristen sowie der allermeisten Abgeordneten dieses Hauses bis in den Juli 2010, also vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofes, gegolten hat: das Verbot der PID. Das schlagen wir vor, weil wir der Überzeugung sind, dass weder der Gesetzgeber noch eine Kommission oder Kammer noch der einzelne Arzt über lebenswertes oder nicht lebenswertes Leben entscheiden darf. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wir sind der festen Überzeugung, dass derjenige, der meint, PID eingrenzen zu können, dann auch klar sagen muss, wen er ganz konkret ausgrenzen will. Wer PID eingegrenzt zulassen will, muss dann auch offenlegen, welche Formen der Erkrankung und welche Behinderungen in Zukunft aussortiert werden sollen. Für uns ist der Embryo keine verfügbare Sache, die man nach der Feststellung von Mängeln einfach verwerfen darf. Wir halten es mit dem Bundesverfassungsgericht, das sehr klar festgestellt hat: "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu." Entscheidend dabei ist der Zeitpunkt des Beginns des menschlichen Lebens. Nach unserer Überzeugung, nach meiner persönlichen Überzeugung, ist die Verschmelzung von Ei und Samenzelle immer noch die größte Zäsur in dem Entwicklungsprozess des menschlichen Lebens. Wir dürfen bei der Festlegung des Beginns von menschlichem Leben kein Risiko eingehen. Es ist sozusagen eine ethische Klugheitsregel, im Zweifelsfall für das Leben - in dubio pro vita - zu entscheiden, und nicht einen späteren Zeitpunkt anzunehmen, nur weil er bequemer ist, um bestimmte medizinische Maßnahmen zulassen zu können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Dieser Satz "in dubio pro vita" gilt, wie ich finde, in besonderer Weise für den Embryo in der Petrischale. Er ist von Natur aus, anders als der Embryo im Mutterleib, besonders schutzlos. Deswegen ist der Gesetzgeber, deswegen sind gerade wir besonders gefordert, ihm Schutz zu gewähren. Meine Damen und Herren, mit allen Kollegen in diesem Hause sehen wir auch die schwierige Situation der Eltern, die, etwa nach einer Fehlgeburt, den Wunsch nach einem gesunden Kind haben. Diesen Wunsch können wir natürlich verstehen. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir von Anfang an klar gesagt haben, dass wir in Bezug auf die Eltern keine Strafandrohung vorsehen wollen. Es gilt aber: Das Leid dieser Eltern entspringt nicht einer existenziellen Konfliktsituation, wie sie bei manchen Schwangerschaften vorliegt. Die PID ist ein im Labor vorgenommener, von Medizinern geplanter und gesteuerter Vorgang. Wer das mit den Konfliktsituationen vergleicht, die Schwangere vielleicht auch bei ungeplanten Schwangerschaften erleben, der geht an deren Situation voll vorbei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Ebenfalls gilt: So verständlich der Wunsch nach einem gesunden Kind ist - Wünsche gehen nicht vor Rechte. Der Wunsch nach einem Kind kann nicht das Lebensrecht des Embryos überspielen. Lassen Sie mich noch ein letztes Argument vortragen: Das Embryonenschutzgesetz sieht aus gutem Grund vor, dass in jedem Zyklus einer Schwangeren maximal drei Eizellen befruchtet werden können. Alle Experten sagen allerdings: Wenn man überhaupt die Chance haben will, in den Fällen der PID erfolgreiche Einpflanzungen vorzunehmen, um später ein Kind gebären zu können, müsste diese Zahl verdreifacht werden, also von drei auf neun gehen. Der Antrag des Kollegen Röspel sieht das in aller Offenheit vor. Das ist an dieser Stelle zumindest ein ehrlicher Ansatz. Ich befürchte allerdings Folgendes: Wenn wir diesen Weg gehen, führt das dazu, dass wir die Menge der sogenannten überschüssigen befruchteten Eizellen deutlich vermehren und dass die Begehrlichkeiten aus der wissenschaftlichen Forschung, ja selbst aus der Wirtschaft, stark anwachsen werden. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Lassen Sie uns gemeinsam verhindern, dass Menschen zu Richtern werden über lebenswertes und nicht lebenswertes Leben. Deswegen bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag auf ein Verbot der PID. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns wurden bisher zwei Gesetzentwürfe vorgestellt. Die ihnen zugrunde liegenden Positionen sind, glaube ich, jede für sich sehr gut begründbar und nachvollziehbar. Diese Positionen stellen in dieser Debatte aber auch zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Pole dar. Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich hinzufügen: Diese beiden Positionen spiegeln das Dilemma wider, in dem ich mich seit vielen Jahren bewege. Auf der einen Seite kann ich die Sorgen, die Nöte, die Ängste und das Leid derjenigen sehr gut verstehen, die bereits ein Kind wegen einer Behinderung oder einer schweren Erkrankung verloren haben. Ich kann auch verstehen, wenn diejenigen, die all ihre Kraft und Liebe für das Leben mit einem behinderten Kind aufbringen müssen und wollen, sagen: Wir haben keine Kraft für ein zweites Kind mit einer Behinderung, aber wir wünschen uns, noch ein gesundes Kind zu bekommen. Wie viele andere habe auch ich lange mit mir gerungen, welche Lösung wir diesen Menschen anbieten können. Das individuelle Leid ist nachvollziehbar. Dieses Thema haben wir im Rahmen einer Enquete-Kommission bereits vor einem Jahrzehnt behandelt. Wir haben überlegt, wie wir Menschen mit bestimmten schwerwiegenden Erkrankungen oder Erbkrankheiten helfen können, ohne Grenzen zu überschreiten. Wir haben damals Betroffene gefragt. Einige haben gesagt: Ja, wir haben eine schwerwiegende Erbkrankheit oder Krankheit, aber das ist für uns kein Grund, die Präimplantationsdiagnostik zuzulassen. Vielleicht ist das eine der zentralen Fragen: Aus wessen Sicht ist eine Erkrankung schwerwiegend? Aus der Sicht des Betroffenen, der mit dieser Krankheit zurechtkommen muss, oder aus Sicht desjenigen bzw. derjenigen, der bzw. die mit einem Betroffenen leben wird? Diese unterschiedlichen Sichtweisen führen zu einer großen Differenz bei der Beurteilung der Frage, was schwerwiegend ist. Ich finde nicht, dass der Gesetzentwurf von Frau Flach und weiteren Kolleginnen und Kollegen eine Lösung des Problems darstellt. Auch die Enquete-Kommission hat dieses Problem nicht lösen können. Ich glaube, dass die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in individuellen, nachvollziehbaren Fällen insgesamt zu einer Ausweitung des Kataloges der Fälle führen wird, in denen eine Anwendung erlaubt ist. Ich glaube, dass das zu einer Grenzüberschreitung führen wird, und ich verstehe auch nicht, warum in § 3 a Abs. 2 Satz 2 des Gesetzentwurfs der Gruppe Flach eine quantitative Ausweitung vorgesehen ist. Demzufolge wollen Sie ohne jede Vorbedingung eine Präimplantationsdiagnostik bei dem Verdacht zulassen, dass eine Schädigung zu einer Fehl- oder Totgeburt führen kann. Diese Regelung würde dazu führen, dass künftig bei jeder künstlichen Befruchtung die PID anwendbar wäre. Allein deshalb halte ich Ihren Entwurf für ethisch nicht vertretbar. Auf der anderen Seite bedeutet ein komplettes Verbot der Präimplantationsdiagnostik, dass Menschen, bei denen aufgrund ihrer Veranlagung ein höheres Risiko besteht, eine Fehl- oder Totgeburt zu erleiden, keine Lösung angeboten werden kann. Insbesondere diese Gruppe haben wir bei unserem Gesetzentwurf im Blick. Wir vertreten keine mittlere Position. Vielleicht ist das eher eine vermittelnde Position zwischen den beiden anderen Entwürfen. Uns geht es darum, dass Frauen, die aufgrund ihrer genetischen Veranlagung ein höheres Risiko einer Fehl- oder Totgeburt in sich tragen, weil der Embryo mit hoher Wahrscheinlichkeit geschädigt ist, die Möglichkeit erhalten, ein lebensfähiges Kind auszutragen. Wir stellen nicht die Frage, ob ein Leben gelebt werden darf, sondern wir stellen die Frage, ob ein Leben gelebt werden kann. Nur in diesen und in keinen anderen Fällen wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass der Frau nicht der Embryo eingepflanzt wird, in dem unwiderruflich festgelegt ist, dass er nicht lebensfähig ist. Wir wollen, dass der Embryo ausgesucht werden kann, der eine Überlebenschance hat. Das bedeutet, dass nicht entschieden wird über die Frage "Lebenswert oder lebensunwert?", sondern wir stellen die Frage der Lebensfähigkeit ins Zentrum. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen mit unserem Entwurf Menschen, die von Natur aus keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, einen lebensfähigen Embryo zu bekommen, in die Lage versetzen, Eltern zu werden. Ich finde, das ist ethisch rechtfertigbar. Das ist eine begrenzte Anwendung der Präimplantationsdiagnostik, die wir als zulässig ansehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze. Peter Hintze (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt Grenzbereiche des menschlichen Lebens, wo der Gesetzgeber zu äußerster Behutsamkeit aufgefordert ist. Ich glaube, unser Thema ist so ein Grenzbereich. Wie viel Tragik, wie viele Tränen, wie viel Leid stehen hinter dieser Debatte? Für uns, die Unterstützer des Entwurfs der Kolleginnen und Kollegen Flach, Reimann, Hintze, Montag und Sitte, ist jedes Leben gleich wertvoll, egal ob es von sehr kurzer Dauer ist oder ob es lange dauert, egal ob es durch schwerwiegende Behinderung beeinträchtigt ist oder ob ihm Gesundheit geschenkt ist. Die Frage, die sich uns stellt, ist eine andere. Wir ringen um die Frage: Wie nehmen wir uns der Not von Frauen an, die sich sehnlich ein Kind wünschen, aber über denen das Verhängnis einer schweren erblichen Vorbelastung schwebt, zum Beispiel der Not einer Frau, die erlebt hat, wie ihr Bruder an einer genetisch bedingten Erstickungskrankheit gestorben ist, und die nun große Angst vor einer Schwangerschaft hat? Diese Angst bedrückt sie und macht ihren Konflikt aus. Wie lösen wir diesen Konflikt auf? Der Deutsche Ethikrat hat lange darüber beraten. Auch die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Juristen, die Biologen, die Mediziner und die Embryologen, haben lange darüber beraten. Sie raten uns - der Ethikrat mit Mehrheit, die Nationale Akademie der Wissenschaften einheitlich -: Lasst für diesen Personenkreis diese wichtige medizinische Hilfe zu. Ich sage uns im Deutschen Bundestag: Lassen Sie uns diesem Rat folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich bin der festen Überzeugung, unser Grundgesetz, das Gebot der Nächstenliebe und unsere Verantwortung gebieten es, die Chancen der Medizin zu erlauben und diesen Frauen das Ja zum Kind zu erleichtern. Wir leben in einem freiheitlichen Rechtsstaat; darauf sind wir stolz. Ich meine, in einem freiheitlichen Rechtsstaat ist es ein Gebot der Menschenwürde, dass es Frauen erlaubt ist, verfügbares Wissen, das ihre seelische und körperliche Gesundheit betrifft, zu erhalten. Stellen Sie sich vor, Sie wären der verantwortliche Arzt und Sie wüssten, dass der zu transferierende Embryo zur Totgeburt führen würde. Ich glaube, Ihr eigenes Gewissen und das ärztliche Standesrecht würden es Ihnen verbieten, diesen Embryo zu transferieren. Was schließen die Befürworter des Totalverbotes daraus? Sie sagen: Wir müssen ihnen das Wissen verbieten. Allen, die sich mit Geschichte beschäftigt haben, ist klar: Verbot von Wissen ist in der Geschichte der Menschheit oft versucht worden, und es ist immer gescheitert. Ich finde es moralisch, ein Wissen, das für die körperliche und seelische Gesundheit von Bedeutung ist, zuzulassen. Ich finde, es steht einem Rechtsstaat gut an, etwas mehr Vertrauen in die Selbstverantwortung der betroffenen Frauen und Ärzte zu haben, als es bei den Verbotsbefürwortern der Fall ist. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Was sind das für Frauen? Das sind Frauen, die sich sehnlich ein Kind wünschen. Das sind Frauen, die oft schon eine oder zwei Totgeburten hinter sich haben. Das sind Frauen, die den schweren Weg einer künstlichen Befruchtung gehen. Manches in der Debatte klingt so, als gäbe es in Zukunft überhaupt keine natürliche Zeugung mehr - das wäre ja ein Drama -, aber dazu kommt es nicht. Es wird immer einen sehr kleinen Personenkreis betreffen. Auch bei all den Versuchen, Negativbeispiele zu finden - wir finden für alle Lebensbereiche Negativbeispiele, selbst für solche, die uns wichtig und heilig sind -, muss man doch feststellen, dass nach zwei Jahrzehnten dieser medizinischen Hilfe in den zivilisierten Ländern, in denen sie zugelassen ist, der Nutzen überwiegt. Es ist eben juristisch argumentiert worden, das Grundgesetz unseres Rechtsstaates lege uns das Abwägungsverbot ans Herz. Dies ist eine Argumentation, die mich geradezu erschreckt. Wir können doch nicht zulassen, zu sagen: Es gibt ja noch gar keinen Konflikt in der Petrischale. - Natürlich gibt es ihn. Wir finden es nur besser, dass dieser Konflikt aufgelöst wird, wenn er noch aufzulösen ist. Wir wollen ihn gar nicht erst im Mutterleib entstehen und dann auf dem Rücken der Frauen und des werdenden Kindes austragen lassen. Wir als Gesetzgeber haben, so denke ich, die Pflicht, den betroffenen Frauen und Eltern diese Konfliktauflösung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu gestatten, und dürfen nicht das Drama einer Abtreibung abwarten. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ein letzter Gedanke. Man muss natürlich eine Entscheidung treffen; Kollege Krings hat das angesprochen. Man muss die Entscheidung treffen, ob man einen Unterschied zwischen einem Menschen wie dir und mir und einer entwicklungsfähigen Zelle macht. Wer diesen Unterschied nicht macht und sagt: "Eine entwicklungsfähige Zelle ist wie ein Mensch", der muss sofort entsprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen und die Spirale verbieten. Da werden nämlich jährlich entwicklungsfähige Menschen zu Hunderttausenden aus dem Körper gespült. Wer diesen Unterschied aber macht, den übrigens auch die Biologie, die Medizin und unser ethisches Empfinden machen, (René Röspel [SPD]: Nein!) der muss sagen: Das Gebot der Menschenwürde - um der betroffenen Eltern und der betroffenen Frauen willen - lässt uns zu einem verantwortlichen Umgang mit der PID Ja sagen. - Dazu möchte ich Sie einladen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Birgitt Bender ist die nächste Rednerin. (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP]) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche wundern sich, dass ich für ein Verbot der PID eintrete. Denn ich bin bekannt als eine Frau, die immer dafür gekämpft hat, dass der Staat auf den Zwang verzichtet, aus einer unerwünschten Schwangerschaft ein unerwünschtes Kind werden zu lassen, die also für das Entscheidungsrecht der Frau eingetreten ist. Inzwischen ist es sowohl Gesetz als auch gesellschaftlicher Konsens, dass der Staat unter gewissen Rahmenbedingungen in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft eine Abtreibung nicht kriminalisiert. Gleichzeitig bin ich für ein Verbot des Genchecks im Reagenzglas. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Das eine ist die geduldete Entscheidung gegen unbekanntes Leben im eigenen Körper, weil einer Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt das Leben mit einem Kind nicht zumutbar erscheint. Das andere ist die bewusste und gewollte, nämlich künstliche Erzeugung von mindestens acht Embryonen zu dem Zweck des Aussortierens. Diejenigen Embryonen, die nicht gesund genug erscheinen, um dem Kinderwunsch zu genügen, werden verworfen, wie es heißt. Ja, es geht dabei um den individuell durchaus nachvollziehbaren Wunsch nach einem gesunden Kind. Aber das Verfahren der PID ist letztlich eine Entscheidung - darum sollte sich niemand herumdrücken - über den Wert von jeweils mindestens achtfachem Leben. Herr Hintze, es geht dabei nicht um das Wissen. Wir wollen nicht die genetische Beratung, die potenzielle Eltern um ihr Risiko wissen lässt, verbieten. Worum es uns geht, ist die Option auf Selektion. Diese würde unsere Gesellschaft verändern. Deswegen wollen wir sie verhindern. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, wir sollten näher hinschauen, was das Versprechen eines gesunden Kindes für die betroffenen Frauen bedeutet. Die Hormonbehandlung ist mit hohen Risiken verbunden. Außerdem ist sie intensiver als bei einer normalen Reagenzglasbefruchtung, weil man für dieses Verfahren mehr Eizellen braucht. Höchstens zwei von zehn Frauen haben nachher überhaupt ein Kind. Die wenigen Schwangerschaften, die entstehen, sind häufig Mehrlingsschwangerschaften. Das Risiko von Frühgeburten ist hoch. Machen wir uns doch nichts vor: Es findet bei solchen Schwangerschaften eine engmaschige pränataldiagnostische Überwachung statt, und späte Abtreibungen sind mitnichten ausgeschlossen. Das sehen wir in anderen Ländern. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wieso, frage ich die Befürworter der PID, soll eine Frau in Zukunft eigentlich den Mut finden, sich für ein absehbar behindertes Kind zu entscheiden, wenn sie Anwürfe fürchten muss, die da lauten: Das hätte doch nicht passieren müssen? (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Einige hier im Haus mögen in der PID einen Zugewinn an Freiheit für die Frauen erkennen. Ich sehe in erster Linie die Gefahr hohen sozialen Drucks für Frauen, sich einem solchen Verfahren zu unterziehen, und für die Gesellschaft als Ganzes den drohenden Verlust der Bereitschaft zum Miteinander, egal wie gesund, krank oder behindert wir sind. Beide Tendenzen möchte ich gerne verhindern. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält die Kollegin Priska Hinz. (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PID ist seit dem Gerichtsurteil im letzten Jahr erlaubt und damit völlig ungeregelt. Jetzt stellt sich die Frage: Wenn man eine Regelung trifft, soll man dann wieder zu dem Verbot zurückkehren, von dem wir alle annahmen, dass es galt, oder soll man die PID zulassen? Ich tue mich schwer, die PID wieder vollständig zu verbieten, weil ich sehe, dass es durchaus einzelne Fälle von Paaren gibt, denen man den medizinischen Fortschritt, den es mit der PID gibt, nicht vorenthalten sollte. Es ist aber eine schwierige Gratwanderung. Ich möchte nicht, dass Frauen begründen müssen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt bringen, obwohl die PID erlaubt ist. Außerdem möchte ich nicht, dass die Auffassung bei uns gesellschaftsfähig wird, dass man mit dieser Krankheit leben kann, mit jener nicht. Ich möchte auch nicht, dass sich Behinderte in unserer Gesellschaft ausgegrenzt fühlen. Deswegen geht es in unserem Gesetzentwurf nicht um die Frage, ob das Leben mit einer Krankheit oder Behinderung lebenswert ist, sondern um die Frage, ob ein Leben lebensfähig, überlebensfähig ist. Damit wollen wir Paaren die Möglichkeit eröffnen, überhaupt Kinder zu bekommen, die sonst aufgrund einer genetischen Vorbelastung nur Fehl- oder Totgeburten zu erleiden hätten. Frau Flach, ich fand es interessant, dass Sie aus der E-Mail, die auch wir bekommen haben, zitiert haben. Die Frau, die da geschrieben hat, plädiert für die Variante unseres Gesetzentwurfs; denn sie hat eine genetische Vorbelastung, die zu Tot- und Fehlgeburten führt. Genau das berücksichtigen wir in unserem Gesetzentwurf. Die betroffene Frau plädiert nicht für die PID, um generell schwere Behinderungen auszuschließen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Mit unserem Gesetz wären ihr die entsprechenden Möglichkeiten gegeben. Ich finde, dass Ihr Gesetzentwurf, Frau Flach und Herr Hintze - ich habe länger mit Ihnen darüber diskutiert -, deshalb zu weit geht, weil ich die Formulierung "schwere Behinderungen zu erkennen" für allzu dehnbar halte. Was ist eine schwere Behinderung? In Großbritannien ist das inzwischen die erbliche Veranlagung für eine Darmkrebserkrankung, die aber heilbar ist. Es kann doch nicht in unserem Sinne sein, dass die PID bei solchen Fällen angewendet wird. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Sie sollte auch nicht bei spätmanifestierenden Krankheiten angewendet werden, wie es in Ihrem Gesetzentwurf steht. Das ist bei uns im Gendiagnostikgesetz aus guten Gründen verboten. Wir hätten dann zwei Rechtssysteme, die sich diametral gegenüberstünden. Es kann doch nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, dass die Diagnose einer spätmanifestierenden Krankheit im Rahmen der Pränataldiagnostik ausgeschlossen wird - man kennt den medizinischen Fortschritt gar nicht; wir wissen nicht, ob diese Krankheit in 20 oder 30 Jahren therapierbar ist -, während wir bei der PID Embryonen verwerfen. Das halten wir für grundfalsch. (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte noch zu dem Argument kommen, dass durch die Präimplantationsdiagnostik Abtreibungen verhindert werden. Wenn wir ins Ausland sehen, dann erkennen wir: Dem ist mitnichten so. Wir wissen aufgrund entsprechender Daten, dass in 52 Prozent der Fälle, in denen die PID durchgeführt wird, hinterher auch die Pränataldiagnostik durchgeführt wird und dass in Ländern wie Frankreich die Abbruchrate steigt, obwohl dort die PID eingeführt wurde. Das heißt: Es ist nicht so, dass Abbrüche dadurch vermieden werden. In Deutschland erfolgten 2010 3 Prozent aller Abbrüche als Spätabbrüche aufgrund medizinischer Indikationen. Das heißt doch, dass - und das wissen wir auch - sehr oft erst im Verlauf der Schwangerschaft spontane Fehlbildungen entstehen. Diese kann man in der Petrischale überhaupt nicht erkennen. Von daher würde auch in Deutschland, wenn die PID umfassend eingeführt würde, hinterher eine Pränataldiagnostik stattfinden, und Spätabbrüche wären trotzdem Alltag und Wirklichkeit. Von daher ist die PID hier kein geeignetes Mittel. (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) Aus all dem folgt für mich: In einzelnen Fällen, dann, wenn wir abgrenzen können - das ist medizinisch möglich -, dann, wenn Fehl- und Totgeburten entstehen würden, können wir aufgrund des medizinischen Fortschritts helfen, und hier sollten wir Hilfe auch nicht verweigern. Wir sollten aber keine Ausdehnung zulassen, und wir sollten nicht entscheiden, was lebenswert oder nicht lebenswert ist. Vielmehr sollten wir uns für die Embryonen entscheiden, die lebensfähig sind. Ich glaube, eine solche Entscheidung könnten wir als Gesetzgeber in der Gesellschaft auch gut vertreten. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Carola Reimann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Präimplantationsdiagnostik begleitet mich seit Beginn meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete. Meine allererste Rede habe ich im Oktober 2000 genau zu diesem Thema gehalten, allerdings zu nachtschlafender Zeit und vor relativ leerem Haus. Seitdem hat sich einiges in der Medizin, aber noch mehr in der Rechtsprechung getan. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom Juli letzten Jahres ist in Deutschland in Sachen PID derzeit alles erlaubt. Genau das wollen wir alle hier im Hause nicht. Deswegen plädiert meine Gruppe für eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Zu diesem Zweck möchten wir das Embryonenschutzgesetz ändern. Unser Entwurf sieht Folgendes vor: Die PID wird im Embryonenschutzgesetz grundsätzlich verboten. Davon kann aber in zwei Ausnahmesituationen abgewichen werden, und zwar erstens wenn aufgrund einer erblichen Vorbelastung eines Elternteils eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass das Kind ebenfalls diese schwerwiegende Erberkrankung aufweisen wird, oder zweitens wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Totgeburt oder Fehlgeburt aufgrund einer schwerwiegenden genetischen Schädigung des Embryos droht. Dann soll die Möglichkeit einer PID im Einzelfall gegeben werden, wenn eine Ethikkommission nach Beratung des individuellen Falles zu einem positiven Votum kommt, und dann auch nur unter restriktiven Bedingungen und natürlich nur in lizenzierten Zentren. Eine Präimplantationsdiagnostik darf nur nach einer medizinischen und psychosozialen Beratung und natürlich nur durch entsprechend spezialisiertes Fachpersonal durchgeführt werden. Kolleginnen und Kollegen, ich bin für eine begrenzte Zulassung der PID, weil ich es schon immer unangemessen und schwer erträglich fand, den betroffenen Paaren keinerlei Hilfe anbieten zu können, auch dann nicht, wenn sich die Frau auf die zusätzlich belastende künstliche Befruchtung einlässt. Das ist, Kollege Krings, kein bequemer Weg. Denn es handelt sich um Paare, bei denen die Frauen auch auf "normalem" Weg schwanger werden könnten. Bisher lässt man diese Paare sehenden Auges, was ihr Risiko angeht, in einen Schwangerschaftskonflikt laufen. Gerade solche Schwangerschaften werden dann intensiv mit Diagnostik begleitet, was bei einem positiven Befund zu einem schwerwiegenden Konflikt führt. Das ist nicht wegzudiskutieren. Ich finde, eine Schwangerschaft auf Probe ist Frauen nicht zuzumuten. Das halte ich für frauenverachtend. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist vermeidbares Leid. Die Kollegen Röspel und Hinz wollen die Präimplantationsdiagnostik noch stärker als wir begrenzen. Diese Begrenzung halte ich jedoch für höchst problematisch. Mit dieser Meinung bin ich nicht alleine. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik beurteilt den Gesetzentwurf der Kollegen folgendermaßen - ich zitiere -: Ein solcher Entwurf geht leider an der Realität der genetischen Beratung und gänzlich an der Lebenssituation betroffener Familien vorbei. Es ist nicht richtig, dass nur in seltensten Fällen zu erwarten ist, dass eine genetische Disposition zum Tod des Kindes nach etwa zehn oder elf Monaten führt. Das hätte nach Meinung der Humangenetiker eine nicht vertretbare Ausgrenzung von hochbelasteten Familien zur Folge. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, weder eine Liste von Erkrankungen zu erstellen noch Ausgrenzungen einzelner Erkrankungen - das gilt auch für spätmanifestierende Erkrankungen - vorzunehmen. Eine Begrenzung auf ein bestimmtes Lebensstadium ist meiner Meinung nach medizinisch unrealistisch und ethisch oft problematisch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/ CSU]) Kolleginnen und Kollegen, es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind; das ist klar. Es gibt aber auch die medizinischen Möglichkeiten. Für mich steht die Frage im Raum, mit welchem Recht wir als Gesetzgeber die Nutzung medizinischer Möglichkeiten und Hilfe nicht nur verweigern, sondern Ärzten und Paaren unter Strafe verbieten wollen. Ich meine, in diesem Fall haben wir als Gesetzgeber dieses Recht nicht. Viele der Betroffenen haben eine unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich. Deswegen wollen wir Eltern mit genetischer Disposition, die einen Kinderwunsch haben und bereit sind, eine zusätzlich belastende künstliche Befruchtung auf sich zu nehmen, im Einzelfall die Nutzung der Präimplantationsdiagnostik ermöglichen. Danke. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Schmidt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte gehört zu den Debatten, die am schwierigsten zu führen sind und in denen es sehr schwierig ist, eine Entscheidung zu treffen. Denn keine einzige Entscheidung kann allen gerecht werden. Auf der einen Seite steht das Leid der betroffenen Eltern, die genetisch vorbelastet sind und den Wunsch nach einem gesunden Kind haben. Auf der anderen Seite steht die Angst, dass wir Grenzen überschreiten. Ich glaube, die Zerrissenheit in der Debatte und auch die Breite dieser Debatte spiegeln sich in allen drei Gesetzentwürfen, die heute zur Diskussion stehen, wider. Denn auch diejenigen, die für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik sind, wollen keine unbegrenzte Zulassung; sie ringen vielmehr um die Grenzen. Das bewegt alle in der Debatte. Es zeigt sich, dass es sehr schwierig ist, die Entwürfe - auch die, die eine begrenzte Zulassung vorsehen - mit dem geltenden Embryonenschutzgesetz in Einklang zu bringen. 1990 hat der Bundestag sich in der Debatte und mit der Entscheidung über das Embryonenschutzgesetz genauso schwergetan wie in der heutigen Debatte. Aber über 20 Jahre hat getragen, dass wir mit dieser Entscheidung den Beginn der Würde und der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von Anfang an festgelegt haben. Das halte ich für richtig. Wenn man mich fragt, ob von einer Entscheidung zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik auch die Würde des einzelnen Embryos und damit des menschlichen Lebens, das schließlich ein Prozess ist - es ist nicht einfach da, sondern es entwickelt sich -, betroffen ist, dann sage ich eindeutig Ja. Es ist die Würde der Embryonen betroffen, die nach einer Untersuchung verworfen werden, weil sie ein hohes Risiko von schweren Erkrankungen oder Behinderungen aufweisen. Aber es ist auch die Würde desjenigen Embryos betroffen, der sich nach einer PID weiterentwickeln darf; denn er darf sich nur weiterentwickeln, weil er keine genetischen Vorbelastungen und Einschränkungen aufweist. Für mich ist damit das Prinzip eingeschränkt, dass jedes Leben sich um seiner selbst willen entwickeln darf. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich weiß, dass es schwierig ist, zu argumentieren - auch die Kollegin Reimann hat das gesagt -, dass es kein Recht auf ein gesundes Kind gibt. Die Eltern, die betroffen sind, wollen das nicht hören. Aber ich weiß wohl, dass es ein Recht des Kindes gibt, um seiner selbst willen geliebt zu werden und um seiner selbst willen zur Welt gekommen zu sein. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Deshalb bedeutet ein Abgehen von dem, was in den letzten 20 Jahren für uns gegolten hat, für mich einen Paradigmenwechsel in unserem Wertekanon. Ich negiere dabei überhaupt nicht die Wünsche von Eltern, die durch diese Methode die Hoffnung haben, vielleicht ein erblich nicht belastetes Kind zur Welt zu bringen. Ich persönlich habe auch viele Briefe bekommen und Gespräche mit Eltern behinderter Kinder geführt und deren Sorge und Furcht erfahren, ob denn ihr behindertes Kind das gleiche Recht hat, zu leben wie andere, ob ihr behindertes Kind die gleiche Wertigkeit hat, zu leben wie andere. Ich habe auch schwerbehinderte und schwer kranke Menschen getroffen, die sagen: Werden wir nicht durch eine solche Diskussion auf unsere Defizite beschränkt? Haben wir nicht das Recht, genauso teilzuhaben? Wir betrachten unser Leben auch mit seinen Behinderungen und Einschränkungen als lebenswert. Wir wollen leben, wir wollen teilhaben, und wir wollen mitmachen. - Ich gestehe Ihnen, Herr Hintze, zu und weiß, dass auch Sie das nicht anders sehen. Wenn wir aber die Präimplantationsdiagnostik nach Abwägung aller Argumente zulassen, dann ist für mich ganz eindeutig, dass bei der Präimplantationsdiagnostik die Selektion am Anfang steht. Der Wunsch, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, setzt voraus, dass dem Leben, das nicht die entsprechenden Eigenschaften hat, das Recht genommen wird, sich weiterzuentwickeln. Das ist für mich der Hauptgrund, warum ich für ein generelles Verbot bin und warum ich dafür bin, dass die bisherige Rechtsprechung weiterentwickelt wird, und zwar in dem Geist, in dem der Deutsche Bundestag 1990 das Embryonenschutzgesetz auf den Weg gebracht hat. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Patrick Meinhardt erhält nun das Wort. Patrick Meinhardt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Frage der Präimplantationsdiagnostik ist ein ethisch hochsensibles Thema. Deswegen ist es auch gut, dass wir uns im Deutschen Bundestag Zeit für eine ausführliche, inhaltstiefe Debatte nehmen. Jeder von uns ist bei dieser ganz schwierigen Entscheidungsfindung ein Suchender und ringt um eine Lösung, die den Lebensschutz des Embryos als Grundlage seiner ethischen Entscheidungsfindung sieht. Zugleich bringt es aber auch der Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, auf den Punkt, wenn er formuliert - ich zitiere -: Ich habe viel Sympathie für das Bestreben, die PID unter eng gefassten Bedingungen zuzulassen, sie also nur dann zu erlauben, wenn die Eltern die Anlage zu schwersten Erbkrankheiten in sich tragen und die stark begründete Gefahr besteht, dass sie diese Krankheiten an ihr Kind weitergeben. Berechtigterweise formuliert er dann weiter: Natürlich besteht die Gefahr, dass jede gesetzliche Eingrenzung nach und nach ausgehöhlt wird, deshalb muss ein Gesetz in Sachen PID sehr sorgsam bedacht werden. Genau daran orientiert sich der Gesetzentwurf zur äußerst eng begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik; denn es ist ein Gebot der Menschlichkeit, auch das harte Schicksal der Eltern zu berücksichtigen, die die Anlagen schwerster Erbkrankheiten in sich tragen. Vor diesem Hintergrund haben wir, die Initiatoren dieses Gesetzentwurfs - René Röspel, Priska Hinz, Norbert Lammert und ich -, uns dafür entschieden, bei unserem Gesetzentwurf die Lebensfähigkeit des Embryos in den Mittelpunkt zu stellen. Bei Paaren, die die genetische Veranlagung dafür haben, dass die Gefahr einer Totgeburt oder eines frühen Todes des Kindes besteht, soll eine Präimplantationsdiagnostik ausnahmsweise, unter strengen Auflagen, mit Beratungspflicht in einem lizenzierten Zentrum und unter Beteiligung einer Ethikkommission ermöglicht werden. Gerade für mich als Christ ist es bei dieser Frage zentral wichtig, die Balance zwischen der Ethik des Lebens und der Ethik des Helfens zu finden. Genau deswegen gilt: Es darf keine Büchse der Pandora geöffnet werden, es geht nicht um Designerbabys, und es darf deswegen auch keine Krankheitenkataloge geben. Für mich müssen zwei Sachverhalte klar ausgeschlossen sein. Erstens. Es darf keine Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik geben, wenn die Krankheit, die gesucht wird, erst im späteren Lebensverlauf auftreten wird, sogenannte spätmanifestierende Krankheiten. Zweitens. Bei unserem Entwurf ist die genetische Disposition der Eltern die Grundvoraussetzung für die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik. Deswegen schließen wir in unserem Gesetzentwurf aus, aktiv nach Trisomien oder Monosomien zu suchen. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir Ihnen allen einen dritten Weg für eine verantwortungsbewusste Anwendung der Präimplantationsdiagnostik in einem eng begrenzten Rahmen anbieten. Schon bei meiner Rede zur Stammzellendebatte habe ich auf Professor Klaus Tanner von der Universität Halle-Wittenberg verwiesen, der in einer solch ethisch sensiblen Debatte formuliert hat: Parlamentarische Kompromissbildung ist in solch einer Situation kein schwächliches Kapitulieren, sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischen Demokratie ... Wir alle haben auf diese Fragen keine Antworten, die uns zu 100 Prozent zufriedenstellen. Vielmehr steht jeder von uns vor dem Dilemma, eine Wertung vornehmen zu müssen. Nicht zuletzt die Debatte im Ethikrat, die von innerer Tiefe getragen worden ist, hat deutlich gemacht, wie schwer eine solche Entscheidungsfindung ist. Umso dankbarer bin ich als Abgeordneter für die große Sachkenntnis, den gegenseitigen Respekt und das hohe Maß an ethischer Sensibilität, mit dem wir heute die Debatte führen. Es zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag der tiefen gesellschaftlichen Dimension dieses Themas äußerst bewusst ist. Eine solche Debattenkultur - nicht an Fraktionsgrenzen gebunden - bringt uns wieder zu dem Kern unseres demokratischen Parlamentarismus, als frei gewählte Abgeordnete um den bestmöglichen Weg zu ringen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat nun das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom Juli 2010 die PID als zulässig bewertet hat, sind in diesem Land bewegende Diskussionen dazu geführt worden. Bisweilen entdecke ich dabei auch fehlerhafte Annahmen und fehlerhafte Bewertungen. Es ist nach wie vor viel aufzuklären. Mich trifft allerdings bis heute ins Mark, wenn Befürworter der PID-Zulassung in eine Traditionslinie mit Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten gestellt werden. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wer hat das denn getan?) Ich habe mich mit dieser Problematik intensiv auseinandergesetzt; viele andere in diesem Haus haben das auch getan. Daher weiß ich, dass dieser Vorwurf jeglicher differenzierter Diskussion die Grundlage entzieht. Und wie, frage ich mich, muss das erst auf Menschen bzw. Paare wirken, die eine PID erwägen? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schließlich fällen sie doch eine höchst individuelle Entscheidung, der keinerlei populationsgenetische Motive unterstellt werden können. Meine Damen und Herren, ich glaube, Politikerinnen und Politiker sollten nicht allein nach ihrer persönlichen Haltung zur PID entscheiden. Vielmehr muss das von uns zu beschließende Gesetz die Breite verschiedener ethischer Positionen spiegeln, und diese reichen nun einmal von einem Verbot über eine begrenzte bis zur gänzlichen Freigabe der PID. Diese Positionen sind glaubensgebunden oder basieren auf naturphilosophischen oder atheistischen Auffassungen von Natur und menschlichem Leben. So gibt es in diesem Haus gänzlich verschiedene Antworten auf die Fragen: Wann beginnt menschliches Leben? Hat ein Embryo im Reagenzglas einen höheren Lebensschutz als nach der Einnistung in die Gebärmutter? In all diesen Wertvorstellungen sind Menschlichkeit, Freiheit, Toleranz und Respekt vor anderen Menschen Eckpunkte sittlichen Handelns. Aber kein Wertekonzept kann allein beanspruchen, Staat und Menschen allgemeinverbindliche Vorgaben zu machen. Staatliches Recht hat nach meiner Auffassung insofern universelle Menschenrechte und Menschenwürde als gemeinsamen Nenner zu wählen. Diese vielfältigen ethischen Vorstellungen finden sich dabei auch bei den Paaren, die die PID für sich in Betracht ziehen. Für mich sind deren Schicksale bewegend; wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ein Teil der Eltern hat bereits erblich bedingt mehrfach Früh- und Totgeburten ertragen müssen. Zwei Drittel der Betroffenen haben bereits Kinder mit schwersten erblichen Erkrankungen. Diese Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos und unternehmen alles Menschenmögliche, um ihnen ein glückliches Leben mit möglichst wenig Einschränkungen und wenig Leid zu geben. Sie wünschen aber auch weitere Kinder. Allerdings möchten sie diesen Kindern, wie ich es immer wieder von Betroffenen gehört habe, die Folgen bzw. das Leid einer von ihnen vererbten Krankheit ersparen. Warum sollen wir das nicht respektieren? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ihr grundgesetzlich geschütztes Recht. Das Recht auf Fortpflanzung ist ein Menschenrecht. Die Gesellschaft respektiert doch längst verschiedene Wege und Mittel der Geburtenkontrolle, und sie respektiert insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Paare, die die PID ablehnen, werden vermutlich eben auch keine Pränataldiagnostik anstreben, wie sie überhaupt skeptisch gegenüber künstlicher Befruchtung sein dürften. Diese Paare werden in ihren Rechten durch unseren Gesetzentwurf allerdings nicht eingeschränkt. Wer dagegen die PID vor dem eigenen Gewissen für verantwortbar hält - diese Entscheidung hat jeweils eine lange Vorgeschichte; sie ist reflektiert; sie wird von den Paaren ganz genau bedacht -, kann bei einem Verbot der PID seine Entscheidungsrechte nicht mehr verwirklichen. Das halte ich für höchst problematisch. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ewa Klamt [CDU/ CSU]) Meine Damen und Herren, ich unterstütze die Begrenzung der PID auf erbliche Chromosomenstörungen und auf monogenetische Erbkrankheiten. Hierbei ist die Sicherheit der Prognose vergleichsweise hoch. Andere schwere und schwerste Krankheiten können durchaus auch erblicher Natur sein. Bei ihnen ist aber erstens unklar, wie viele und welche Gene tatsächlich den Ausbruch verursachen. Zweitens gibt es zahlreiche weitere äußere Einflussfaktoren wie Umwelt und Lebensweise der Menschen. Das menschliche Genom besteht aus über 3 Milliarden Bausteinen. Insofern werden wir wohl noch Jahrzehnte nicht in der Lage sein, sichere Prognosen zu Krankheiten oder gar zu menschlichen Eigenschaften abzugeben. Ebenso unzuverlässig sind Chromosomen-Screenings für nichterbliche Krankheiten. Vor diesem Hintergrund eignen sich beide, die PID und die Chromosomen-Screenings, anders als derzeit in der Diskussion behauptet, eben nicht dazu, Designerbabys zu schaffen. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, all diese Argumente bei Ihrer Entscheidung ebenfalls zu bedenken. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ewa Klamt [CDU/ CSU]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Johannes Singhammer erhält nun das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man eine PID zulässt, ob mit vielen Ausnahmen, mit wenigen oder nur mit einer einzigen, kommt man an einer grundsätzlichen Entscheidung nicht vorbei: an der Bewertung, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Qualitätskontrolle menschlichen Lebens, zu welchem Zeitpunkt auch immer, gerade als Embryo, gelingen kann, weil es den Menschen überfordert, vorgeburtliche Lebenseignungstests zu entwerfen und gesetzlich festzulegen. Welches Gremium, welche Kommission, welche Einzelpersönlichkeit kann sich das letztlich zutrauen und verantworten? Welche Institution hat das Recht, vorgeburtliche Qualitätskontrollen festzusetzen? Kann die Prognose, ein Kind würde möglicherweise nur ein Jahr oder zwei Jahre leben, eine Verwerfung des Embryos rechtfertigen? Wie ist es - das ist hier schon angesprochen worden - mit einer Lebensspanne, die vielleicht 10, 20, 30 oder auch 40 Jahre reicht, wenn es dann mit Sicherheit zu einer schrecklichen tödlichen Krankheit kommt, beispielsweise dem sogenannten Veitstanz, Chorea Huntington? Zählt nur das schreckliche Ende, das sichere Ende? Was ist mit den 40 Jahren Leben, die vorher stattfinden? Welcher Wert wird diesem Leben zugemessen? Ich meine, menschliches Leben entsteht mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Eine Differenzierung nach Lebenserwartung, eine Unterscheidung nach möglichen oder tatsächlich eintretenden Krankheiten ist wenig geeignet, vorhandenes Leid zu lösen, sondern schafft das Risiko neuer Diskriminierungen, die niemand hier im Hause will. Paare, die auf ein gesundes Kind hoffen, die Wechselbäder von Hoffnung und Enttäuschung erlebt haben, die einem hohen Leidensdruck ausgesetzt sind, verdienen Respekt, Beratung und Hilfe. Aber ich denke auch an diejenigen Menschen, die mit einer Behinderung leben. Ich denke an die Menschen, die eine Behinderung haben, die in dem möglichen Katalog von Krankheiten enthalten ist, die zu einer Verwerfung des Embryos führen. Wie muss sich ein Mensch fühlen, der eine der Krankheiten hat, die möglicherweise zu einer Verwerfung des Embryos führen? Ich möchte nicht, dass Eltern von behinderten Kindern einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind. Ich bin mir auch nicht sicher, wie sich bei einer Zulassung der PID dann möglicherweise ein Kind später fühlt, wenn es erfährt, dass es im Zusammenhang mit einer Auswahl geboren worden ist und die Geschwister nicht geboren worden sind? Viele fragen sich: Gibt es bei diesen schwierigen, schwierigsten Entscheidungen die Möglichkeit, einen Kompromiss zu finden? Viele denken darüber nach: Wie könnte ein solcher Kompromiss aussehen? Ich fürchte, es wird schwierig, es ist nicht möglich; denn die Entscheidung darüber, Embryonen - das ist menschliches Leben - in den Mutterleib einzupflanzen oder zu verwerfen, ist endgültig, ist nicht korrigierbar. Deshalb werbe ich für die Vermeidung jeglicher Art der Bewertung menschlichen Lebens, für ein klares Verbot der PID. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In den letzten Tagen haben wir alle zur Einstimmung auf die heutige Debatte vom Kollegen Norbert Geis eine Streitschrift des katholischen Moraltheologen Spieker erhalten. Ich habe sie sorgfältig gelesen. Danach - so die Quintessenz - widersprächen die künstliche Befruchtung und die PID - ich zitiere - den Grundlagen jeder freiheitlichen Gesellschaft und jeder rechtsstaatlichen Demokratie und gefährdeten das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft. - Ich widerspreche diesen Schlussfolgerungen. Aber ich widerstehe auch der Versuchung, darauf in gleicher Weise zu antworten. Stattdessen will ich Ihnen zu Beginn von einem Menschen erzählen, von Frau Regina Streilein, Mutter von vier Kindern. Als Frau Streilein elf Jahre alt war, starb ihr Bruder. Er wurde neun Jahre alt. Er litt an einer schrecklichen Erbkrankheit, einer genetisch bedingten Stoffwechselkrankheit, die unaufhaltsam und qualvoll das Nervensystem im Gehirn zerstört. Frau Streilein trägt in ihren Genen die Anlage zu dieser Krankheit; bei Frauen bricht sie allerdings nicht aus. Frau Streilein wollte nicht, dass ihre eigenen Kinder so qualvoll sterben wie ihr Bruder. Deshalb hat sie sich für eine extrakorporale Befruchtung und eine PID entschieden und ist zu diesem Zweck nach Belgien gefahren. Heute ist sie Mutter von vier Kindern, und sie ist froh, dass in Belgien für solche Fälle die legale Möglichkeit einer PID besteht. Belgien ist ein christliches Land, nicht weniger als Deutschland. Auch in Belgien werden menschliches Leben und die menschliche Würde geschützt, nicht weniger als in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten mit unserem Gesetzentwurf Menschen wie Frau Streilein helfen. Wir wollen sie nicht auf Möglichkeiten im Ausland verweisen. Wir wollen unter strengen Vorgaben die Nutzung der PID in Deutschland erlauben, erstens, um verzweifelten Paaren zu helfen, die nach Fehlgeburten und Totgeburten keine Kraft mehr haben, diese Risiken weiterhin zu tragen, und zweitens, um Paaren, Eltern, Frauen zu helfen, die um in ihnen schlummernde schwere vererbliche Krankheiten wissen und diese nicht auf ihre Kinder übertragen wollen. Wir schlagen vor, die PID zu verbieten: zur Auswahl jeglicher krankheitsunabhängigen Eigenschaften - die sogenannten Designerbabys -, zur krankheitsunabhängigen Auswahl eines Geschlechts, zur Auswahl von Kindern zum Nutzen Dritter - die sogenannten Rettungskinder - und schließlich auch zu Forschungszwecken. Dies tun wir, weil - hier sind wir uns alle einig; das glaube ich jedenfalls - extrakorporal erzeugte Embryonen beginnendes menschliches Leben sind, welches nach seiner Entstehung im Reagenzglas rechtlichen Schutz verdient. Aber Embryonen im Reagenzglas sind aus sich heraus und in der Umgebung, in der sie sich befinden, nicht lebensfähig. Ihr Schutz ist ohne Mitwirkung eines anderen Menschen, der möglichen zukünftigen Mutter, nicht denkbar. Wenn sie sich verweigert, entsteht ein Problem - ein Problem, das wir als Gesetzgeber lösen müssen. Dabei müssen wir die Rechte aller Seiten, aber auch die medizinisch-technische Entwicklung und Regelungen in anderen Staaten mit bedenken. Welche Möglichkeiten gibt es? Man kann eine Frau, die sich ein Ei hat entnehmen lassen und einer Befruchtung des Eis im Reagenzglas zugestimmt hat, zu zwingen versuchen, einer Einpflanzung des Embryos in ihre Gebärmutter zuzustimmen. Das fordert niemand; das wäre auch eklatant verfassungswidrig. Niemand bestreitet, dass eine Frau es zu jeder Zeit und mit jeder Begründung und selbstverständlich auch ohne jegliche Begründung ablehnen kann, den von ihr und ihrem Partner stammenden lebenden Embryo am Leben zu erhalten. Die Rechtsordnung kann den Schutz des Lebens des Embryos gegen den Willen der Mutter nicht durchsetzen. Ich glaube, dass niemand von Ihnen dem widersprechen wird. Das Leben des extrakorporal erzeugten Embryos ist nur mit der Frau gemeinsam schützbar. An dieser Stelle müssen wir eine politische Entscheidung treffen. Entweder wir sagen den betroffenen Frauen: Du darfst dich dafür oder dagegen entscheiden, dass dein Embryo weiterlebt; aber du darfst dich vor dieser Entscheidung nicht vergewissern, dass dein Embryo keine Gendefekte hat, die zu seinem Tod oder einer schweren Krankheit führen. Das ist der Gesetzentwurf, der die PID ausnahmslos verbieten will. Dann sagen wir: Ihr dürft euch entscheiden, aber es muss eine uninformierte Entscheidung sein. - Oder wir sagen den betroffenen Frauen: Wenn ihr euch vor der grundlegenden Entscheidung, ob euer Embryo leben soll oder nicht, darüber informieren wollt, welche Eigenschaften der Embryo hat, dann akzeptieren wir einige wenige Fragen und andere akzeptieren wir nicht. - Das ist unser Vorschlag für eine PID-Untersuchung, für ein PID-Verbot mit zwei gewichtigen Ausnahmen. Wir ermöglichen in diesen Fällen eine informierte Entscheidung. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege! Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine letzte Bemerkung, Herr Präsident. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen wie Frau Streilein ein Recht darauf haben, sich informiert für ein lebensfähiges und gesundes Kind zu entscheiden. Das ist kein Recht auf ein gesundes Kind, aber ein Recht von Frauen, in Selbstverantwortung eine Entscheidung zu treffen, die für ihr zukünftiges Leben von existenzieller Bedeutung ist. Danke. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Pascal Kober erhält nun das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch als liberaler Politiker und auch aus einer liberalen Grundhaltung heraus kann man sich aus guten Gründen für eine Nichtzulassung der Präimplantationsdiagnostik aussprechen. Denn Ausgangspunkt liberaler politischer Philosophie ist die Überzeugung, dass dem Menschen individuelle Freiheit unveräußerlich gegeben ist, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) dass der Staat die individuelle Freiheit der Menschen achten muss. Ausgangspunkt des liberalen Staatsverständnisses ist die Überzeugung, dass der Mensch dem Staat das Recht auf Einschränkung seiner eigenen Freiheit zugesteht und nicht etwa der Staat den Menschen seine Freiheit zubilligt. Zugespitzt heißt das: Der Mensch definiert den Staat und nicht der Staat den Menschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Präimplantationsdiagnostik zulassen, droht dieser Grundsatz aber verloren zu gehen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Denn Präimplantationsdiagnostik bedeutet, dass der Staat, der Gesetzgeber, sich selbst oder andere, beispielsweise ein Expertengremium oder einen Ethikrat, dazu ermächtigt, anhand von Wesensmerkmalen, die im Menschen selbst liegen, zu definieren, welchem Menschen er zu welchem Maß an Schutz verpflichtet ist. Das würde aber bedeuten, dass der Grundsatz, dass der Mensch den Staat definiert und nicht der Staat den Menschen, nicht mehr eindeutig gelten würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus liberaler Überzeugung sage ich, dass der Staat kein Recht hat, sich selbst oder andere dazu zu ermächtigen, wertende - seien es auf- oder abwertende - Entscheidungen über den Menschen zu treffen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und der LINKEN) Der Staat muss jeden Menschen, und zwar so wie er ist, achten und sein Leben und damit seine Freiheit grundsätzlich und über die gesamte Lebenszeit hinweg schützen. Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu ermächtigen, zu entscheiden, ab wann ein menschliches Leben zu achten ist und wann nicht. Es gilt das, was der Kollege Dr. Krings vorhin schon gesagt hat: Wenn irgendein Zweifel besteht, dann kann nur gelten: im Zweifel für das Leben und für den weiter gehenden Schutz. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu ermächtigen, zu entscheiden, welches menschliche Leben lebenswerter und damit schützenswerter ist als ein anderes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist berechtigt, ob diese Grenze nicht schon in der Frage des Schwangerschaftsabbruches überschritten ist. Die Grenze ist beim Schwangerschaftsabbruch dann nicht überschritten, wenn wir unterstellen, dass es sich bei Schwangerschaftskonflikten um eine zutiefst existenzielle Situation handelt, in der das Leben der Mutter - auch unter psychisch-sozialen Aspekten - gegen das Leben des Kindes steht und der Staat sich in dieser Frage eben nicht anmaßt, strafrechtlich zu entscheiden, welchem Leben er in seiner Schutzpflicht den Vorzug geben muss. Die Präimplantationsdiagnostik bedeutet demgegenüber aber, dass auf der Basis von Wesensmerkmalen Lebensrecht zuerkannt oder eben nur abgestuft zuerkannt wird. Das ist etwas anderes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne Zweifel: Wir müssen die Not der Eltern, die sich ein Kind wünschen und für die die Technik der Präimplantationsdiagnostik hier gegenwärtig die einzige Möglichkeit zu sein scheint, ernst nehmen. Wir haben aber auch eine Verantwortung gegenüber den Grundfesten und Grundsätzen unseres freiheitlichen Staatsverständnisses. Auch wenn es im Angesicht der individuellen und persönlichen Betroffenheit und des Leids so schwierig erscheint, dass es uns die Sprache zu verschlagen droht: Die Grundsätze und die Grundfesten unseres freiheitlichen Staatsverständnisses müssen nach wie vor Geltung haben. Das bedeutet, dass der Mensch den Staat definiert, nicht der Staat aufgrund von Wesensmerkmalen seine Menschen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. René Röspel [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Gabriele Molitor. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Gabriele Molitor (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mich als behindertenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion ist die Entscheidung über die Zulassung der PID aus mehreren Gründen schwierig. Ich sehe die Sorgen vieler Menschen mit Behinderung und natürlich auch die Befürchtungen der Behindertenverbände. Es gibt keine einfache Entscheidung zur PID, nicht für uns hier in diesem Hohen Haus, auch nicht für die Betroffenen selbst. Bei meiner Entscheidungsfindung war die vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichte Position zur Präimplantationsdiagnostik sehr hilfreich. Hier wird festgestellt: Unter den Mitgliedern des Rates gibt es unterschiedliche Meinungen zur Bewertung von Konstellationen, bei denen die Anwendung der PID nicht die Funktion hätte, zwischen behinderten und nicht behinderten Embryonen zu unterscheiden, sondern die Aufgabe, lebensfähige Embryonen zu identifizieren. Die hier angesprochenen Fälle unterscheiden sich von anderen dadurch prinzipiell, dass es nicht um die Frage von Krankheit und Gesundheit, von behindert und nicht behindert, von "lebenswert" und "nicht lebenswert" geht, sondern um Lebensfähigkeit und Lebensunfähigkeit. Nach Auffassung des Rates der EKD würde die In-vitro-Fertilisation in Verbindung mit der PID in diesen Fällen "allein dem Ziel dienen, Leben zu ermöglichen". Genau diese Präzisierung ist es, die mir bei meiner persönlichen Entscheidung geholfen hat, den Antrag für eine begrenzte Zulassung zu unterstützen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und der LINKEN) Wir müssen scharf trennen, worum genau es heute geht: Eine Entscheidung für die PID hätte nicht zur Folge, dass Menschen mit Behinderung an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden oder Behinderungen künftig vermieden werden könnten. Nur wenige Behinderungen sind genetischer Art. Die meisten Kinder werden gesund geboren. Lediglich 3 bis 5 Prozent der Neugeborenen sind nach Angaben von Pro Familia behindert oder krank. Die Ursachen hierfür sind komplizierte Entbindungen, Frühgeburten oder Krankheiten der Mutter. Ein wiederum noch geringerer Anteil ist durch genetische Defekte verursacht. Dieser geringe Prozentsatz, gepaart mit der strengen Begrenzung der PID und einem sehr kleinen Kreis von Paaren, die sich überhaupt testen lassen könnten, bedeutet nichts anderes, als dass Menschen mit Behinderung auch in Zukunft zu unserer Gesellschaft gehören und unter uns leben werden; denn jeder Mensch ist einmalig und unverwechselbar. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und der LINKEN) Er ist mit seinen Stärken und Schwächen als Ganzes zu würdigen und muss in allen Lebensbereichen selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft sein. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind in der überwältigenden Mehrheit offen und aufgeschlossen gegenüber Menschen mit Behinderung. Auch in unseren europäischen Nachbarländern, in denen die PID zum Teil seit Jahrzehnten erlaubt ist, gab und gibt es keine Stigmatisierung von Behinderten aufgrund der PID. Entscheidend ist daher auch nicht die potenzielle Untersuchung von einigen wenigen Hundert künstlich befruchteten Embryonen pro Jahr, sondern einzig und allein der Umgang unserer Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung. Wir alle sind es, die mit unserem täglichen Handeln über den Grad der Teilhabe von Menschen mit Behinderung entscheiden. Die PID gibt Eltern mit schweren Erbschäden lediglich die Sicherheit, dass ihr Kind lebensfähig sein wird, und erspart den Paaren traumatisierende Erfahrungen einer Spätabtreibung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und der LINKEN) Letztlich entscheidend für mich ist eine ganz einfache Frage. Wenn jetzt hier vor mir ein Paar sitzen würde, das den Kriterien entspräche, die dieser Gesetzentwurf vorsieht, und mich fragen würde, ob es eine PID vornehmen lassen dürfe oder nicht, dann muss ich mir die Frage stellen: Habe ich das Recht dazu, diesem Paar diese Möglichkeit abzusprechen? (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Ich bin zu dem Schluss gekommen: Nein, das darf ich nicht tun. Deshalb werde ich für das Gesetz zur Regelung der PID stimmen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Dr. Ilja Seifert erhält nun das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ob wir es wollen oder nicht: Jede Debatte über die Präimplantationsdiagnostik stellt die Frage nach dem Wert - oder eben auch nach dem Unwert - menschlichen Lebens. Ich weiß, dass viele der Befürworterinnen und Befürworter das weit von sich weisen. Ich unterstelle ihnen sogar subjektive Aufrichtigkeit. Aber das ändert nichts an der objektiven Wirkung. Insofern bin ich mir gar nicht sicher, ob wir heute im Hohen Hause alle über das Gleiche reden. Drei Gesetzentwürfe liegen uns vor. Alle drei behaupten, die PID verbieten zu wollen, und führen dafür gute Gründe an: vorwiegend ethische, einige rechtliche. Dann aber öffnen sich zwei der Gesetzentwürfe für Ausnahmeregelungen. Diese begründen sie vornehmlich - das war auch hier in der Debatte so - mit dem Leid, das sie denjenigen potenziellen Eltern ersparen wollen, die bereits schwerbehinderte Kinder haben und/oder bei denen aufgrund erblicher Anlagen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie keine genetisch eigenen Kinder haben können, die länger als ein Jahr lebensfähig sind. Was also tun wir hier eigentlich? Rechnen wir Leid gegeneinander auf? Suchen wir einen Erträglichkeits- oder einen Unerträglichkeitskoeffizienten? Welchen Stellenwert hätte dabei die tief in das Bewusstsein und das Unterbewusstsein vieler Menschen mit Behinderung eingegrabene tödliche Erfahrung der Euthanasie-Vergangenheit? Der Deutsche Behindertenrat, DBR, das Aktionsbündnis aller bundesweiten Behindertenorganisationen, wandte sich dieser Tage an jede und jeden von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Die Vorsitzende des DBR-Sprecherrates, Barbara Vieweg, betont: Wir berücksichtigen die Konfliktlage einzelner Paare, welche die Nutzung der PID aus einer individuell schwierigen Situation erwägen. Jedoch hält nicht alles, was medizinisch-technisch möglich ist oder erscheint, ethischen Kriterien stand. Auch ich achte den Kinderwunsch jedes Paares. Und ich kenne die Aussage, dass sich diese Untersuchungsmethodik keineswegs gegen bereits lebende Menschen mit Behinderung richte. Jedoch kenne ich Dutzende von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, die angesichts der aktuellen Debatten und der damit verbundenen Erwartungen nichts anderes denken und sagen können als: Hätte es diese Möglichkeiten schon vor meiner Geburt gegeben, gäbe es mich einfach nicht. - Sie nehmen die PID - übrigens auch viele Auswirkungen der Pränataldiagnostik, PND - sehr persönlich. Sie haben schlicht Angst, Angst, per Gesetz abgewertet zu werden. Niemand bestreitet, dass ein Leben mit schweren Beeinträchtigungen nicht sonderlich wünschens- oder gar erstrebenswert ist. Aber wer ein solches Leben hat, für die- oder denjenigen gibt es nichts Wichtigeres: Es ist nämlich das einzige. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Es hat gute und weniger gute Tage, traurige und weniger traurige Momente, Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse. So verwundert es nicht, dass es auch in dieser Personengruppe Einzelne gibt, denen ihr So-Sein und ihr Da-Sein lästig ist, die sogar sagen, dass es besser wäre, wenn sie nicht geboren worden wären. Ja, das sind tragische Situationen. Aber worin unterscheiden sich diese Menschen von all den anderen, den nicht sichtbar - bzw. nicht anerkannt - behinderten Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, selbst nicht leiden können, die ständig mit sich hadern, die gegebenenfalls Selbstmord begehen? Mir ist nicht bekannt, dass der Anteil solcherart unglücklicher Menschen unter denen mit Behinderungen größer wäre als unter Nichtbehinderten. Ich argumentiere nicht mit der großen Anzahl von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Ich argumentiere auch nicht mit dem Verhältnis von glücklichen Eltern mit gesunden Kindern und der Mühsal von Familien, denen die erforderliche Unterstützung beim bedarfsgerechten Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile nach wie vor vorenthalten wird. Ich argumentiere mit dem Menschenbild, das unserem Gemeinwesen zugrunde liegen sollte. Egal ob jemand Gottes Schöpfung verehrt oder die Evolution als wundersames Glück bzw. glückbringendes Wunder genießt: Die jedem Menschen unnehmbar innewohnende Würde, die Einzigartigkeit des Individuums, die Unausschöpfbarkeit der Persönlichkeitsentfaltung sollten uns Achtung vor der Fülle des Seienden gebieten, vor dem So-Seienden und dem So-Werdenden. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich argumentiere mit diesem Menschenbild und der darauf fußenden Gesellschaftskonzeption des solidarischen Miteinanders. Jede und jeder von uns ist einmalig, und deshalb gehören wir zusammen. Erst die Vielfalt, die aus uns allen besteht, macht die Menschheit aus. Das mag pathetisch klingen. Aber darunter ist diese Debatte nicht zu führen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Es geht um unser humanes Selbstverständnis: Nehmen wir uns an, oder sortieren wir einander aus? Selbstverständlich gibt es noch eine Reihe weiterer guter Argumente für das uneingeschränkte Verbot der PID. Durchaus auch einige, die die künstliche Befruchtung generell infrage stellen. Beispielsweise wegen der enormen psychischen und physischen Belastung aufgrund der hormonellen Stimulierung und der keineswegs gefahrlosen Eientnahme, denen sich die Frauen unterziehen müssen. Oder beispielsweise wegen der nach wie vor geringen "Erfolgsquote". Sie werden von anderen Rednerinnen und Rednern vorgetragen und ausführlich begründet. Im Mittelpunkt meiner Argumentation steht das Menschenbild; das sagte ich bereits. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, darf ich auch Sie an die Redezeit erinnern? Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin gleich fertig. - Welche Erwartungen werden denn geweckt, wenn auch nur der Anschein entsteht, man könne die Geburt eines gesunden Kindes garantieren? Ich sagte bereits, dass ich jeden Kinderwunsch verstehe. Aber es gibt kein Recht auf ein Kind, erst recht nicht auf ein makelloses Kind. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich meine, es gibt auch kein Recht auf ein genetisch "eigenes" Kind, allenfalls den Anspruch auf Elternschaft. Paaren, die Kinder wirklich lieben, muss ich sagen dürfen: Adoptionen sind alles andere als "zweite Wahl". In Heimen warten, ja hoffen viele Kinder auf liebevolle Eltern. Leider muss ich meine Rede beenden, weil der Präsident mich schon gemahnt hat. Aber ich denke, vielleicht habe ich einige Argumente genannt, die Sie berücksichtigen können. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter Steinmeier. Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte ist spürbar, dass sich niemand die Entscheidung leicht macht. Ich finde, das gehört sich so. Wenn ein Parlament Entscheidungen treffen will, die die letzten Grenzfragen des Lebens berühren und die ihm Selbstvergewisserung über die ethischen Grundhaltungen abverlangen, dann muss hier im Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit gerungen werden. Gerungen habe ich auch mit mir selbst. Wenn mein Name auf dem Gruppenantrag von Frau Flach, Herrn Hintze und Frau Reimann steht, dann sieht das nach großer Selbstverständlichkeit aus - selbstverständlicher, als es tatsächlich für mich war. In Wahrheit habe ich über Jahre gezweifelt. Ich habe das strikte PID-Verbot sogar als die scheinbar klarere, jedenfalls viel leichter in der Öffentlichkeit zu vermittelnde Haltung angesehen. Gleichwohl bin ich heute anderer Meinung. Aus meiner heutigen Sicht - und das nach vielen Gesprächen mit betroffenen Familien, Ärzten, Medizinern und Ethikern - ist das strikte Verbot nicht die höherwertige ethische Haltung. Was vielleicht noch wichtiger ist: Das strikte Verbot löst keine der Fragen, die in der Realität für die Familien bestehen - über die ist heute viel geredet worden - und die wir uns nicht einfach hinwegwünschen können. Ich will gleichwohl nicht verhehlen, dass die Argumente derer, die am Ende zu einem anderen Ergebnis kommen - auch die haben hier gesprochen -, schwer wiegen und nicht einfach vom Tisch gewischt werden können. Wenn ich also nach einem langen Entscheidungs- und für mich auch Erfahrungsprozess zu einer anderen Haltung als zu dem strikten Verbot komme, wenn ich bei meiner persönlichen Abwägung zu einer anderen Gewichtung als diejenigen komme, die das strikte Verbot befürworten, dann folgt das einem Grundsatz, der einfach klingt. Dieser Grundsatz lautet für mich, dass wir denjenigen, die in äußerster Seelennot auf Hilfe angewiesen sind - und um die geht es -, diese Hilfe nicht einfach mit Hinweis auf konkurrierende Grundsätze verweigern können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden eben nicht über das Alltägliche, sondern wir reden über Familien, in denen Eltern oder andere Angehörige eine eigene schwerste Krankheit haben. Wir reden über Frauen, die bereits eine oder mehrere Tot- oder Fehlgeburten hatten. Wir reden über Menschen in verzweifelter Lage. Viele von denen - das ist zuzugeben - meistern ihr persönliches Schicksal irgendwie, manchmal jenseits ihrer eigenen Kräfte. Es geht um diese Menschen, die das Risiko weiteren Leids vermindern wollen. Ich bin mir ganz sicher - nach den Gesprächen, die ich geführt habe, erst recht -: Gerade diesen Menschen geht es nicht darum, zu selektieren oder gar zu töten - ganz im Gegenteil. Gerade ihnen sollten wir glauben, dass es ihnen um Leben und um ein lebensfähiges Kind geht. Das ist mein Plädoyer in diesem Hause. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die entscheidende Frage, die wir beantworten müssen, lautet doch: Haben diese Familien nicht das Recht, das medizinisch Mögliche für sich in Anspruch zu nehmen? Gebietet uns nicht gerade der Respekt vor dem Leben, auch deren Lebens- und Leidensgeschichte mit in den Blick zu nehmen? Ist es nicht gerade unsere Aufgabe, hier als verantwortliche Politiker den gesetzlichen Rahmen dafür zu schaffen? Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass wir einen solchen verlässlichen gesetzlichen Rahmen brauchen. Der Abgeordnete Meinhardt hat vorhin gesagt: Wir dürfen die Büchse der Pandora nicht öffnen. - Es ist doch genau umgekehrt: Die Büchse der Pandora ist aufgrund der Rechtsprechung sperrangelweit offen. Wir sind jetzt aufgerufen, den gesetzlichen Rahmen wiederherzustellen, und dafür ist niemand anders verantwortlich als dieses Haus, als genau dieses Parlament. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Verweigern wir uns der Aufgabe, diesen Rahmen zu schaffen, dann verweigern wir - das wird klar, wenn man genau hinschaut - nicht nur die mögliche Hilfe in absoluten Notlagen, über die ich vorhin gesprochen habe, sondern dann verweisen wir Menschen auch auf Wege, sich die Hilfe dort zu suchen, wo es an einem strengen gesetzlichen Rahmen, den ich mir für uns wünsche, fehlt. Ein Wort zum Verweis auf die Gefahren des Missbrauchs. Darauf ist in vielen Redebeiträgen heute eingegangen worden. Ich sehe die Gefahren des Missbrauchs; nur, auch das entlässt uns Parlamentarier nicht aus der Verantwortung, im Gegenteil. Ich würde sogar umgekehrt sagen: Verantwortung von Staat und Politik ist es geradezu, den Missbrauch von Möglichkeiten, die der Gesetzgeber schafft, zu verhindern. Das gelingt uns doch auch tagtäglich im Umgang mit anderen medizinischen Grenzfragen. Vielleicht gelingt uns das hier bei uns in Deutschland sogar besser als anderswo. Der Gesetzentwurf der Gruppe, der ich mich angeschlossen habe, steht für dieses Verantwortungsbewusstsein. Er formuliert ein generelles Verbot der Präimplantationsdiagnostik, definiert dennoch in sehr begrenzten und sehr besonderen Einzelfällen Ausnahmen von diesem Verbot. Das geschieht nicht leichtfertig und nicht in Verkennung unserer Verantwortung für den Lebensschutz, vielmehr in Verantwortung für die Menschen. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Julia Klöckner ist die nächste Rednerin. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Julia Klöckner (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, Sie sagten eben, es bedarf einer klaren gesetzlichen Regelung. Da sind wir uns alle einig. Es gibt allerdings unterschiedliche Vorschläge für eine klare gesetzliche Regelung. Die Frage ist: Wie soll die Regel aussehen? Hauptsache gesund! Das ist wohl der normalste Wunsch der Welt, den Eltern haben, wenn sie ein Kind erwarten. Auch der Wunsch, die Politik möge Leid und Tränen verhindern, ist ein hoher Wunsch. Die Politik wird ihn aber niemals vollends erfüllen können; denn zum Leben gehören auch Schattenseiten, gehört Leid. Natürlich tun Eltern alles, damit ihr Kind gesund bleibt. Wenn es krank wird, tun sie alles, damit es wieder gesund wird, damit es geheilt wird. Wenn Heilung nicht möglich ist, muss der Staat alles Mögliche tun, um Eltern mit beeinträchtigten Kindern so zu unterstützen, dass Leben angenommen werden und gelingen kann. Mich hat das Gespräch mit Vertretern der Behindertenverbände sehr berührt. Sie sagten: Frau Klöckner, wenn es zu unseren Anfängen schon die PID gegeben hätte, dann würden ganz viele von uns heute nicht vor Ihnen sitzen. Wir wollen nicht die Krankheiten, die wir haben, auf irgendwelchen Listen finden, die es erlauben, dass unser Leben nicht gelebt werden darf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich finde, es ist ein sehr wichtiges und richtiges Zeichen, dass heute der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, anwesend ist; denn auch in diesen Bereich müssen wir den Blick wenden. Es geht um Menschen mit Beeinträchtigungen, für die es einer Lobby bedarf, die sich einsetzt; sie dürfen eben nicht infrage gestellt werden. Ist die Tür erst einmal geöffnet, ist der Damm erst einmal gebrochen, dann wird es sehr, sehr schwer sein. Der Druck, der auf Frauen lastet, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, wird steigen. Es wird sehr häufig von der Entlastung der Frauen durch die PID gesprochen, aber allzu selten hat man im Blick, was es für Frauen heißt, wenn sie sich gegen eine PID entscheiden. Auch dann könnten plötzlich Rechtfertigungen notwendig werden. Wenn sich Eltern rechtfertigen müssen, warum ein Kind geboren wird, das vermeintlich nicht perfekt ist - was auch immer in unserer Gesellschaft "perfekt" heißen soll -, dann macht mir das Sorge. Die Frage danach, welches Leben glücklicher ist, das Leben aus den Augen eines Kindes, das behindert ist, eines Kindes, das schwerwiegend beeinträchtigt ist, oder aus den Augen eines Kindes, das nicht behindert ist, kann ich und können wir alle nicht beantworten. Ich bezweifle auch, dass der Deutsche Bundestag eine Liste von Krankheiten festlegen kann, die dann der Grund dafür sind, ob ein Leben gelebt werden darf oder nicht gelebt werden darf. Bedenke das Ende! Wenn man den ersten Schritt geht, sollte man auch im Auge haben, was daraus werden könnte. Es gibt Krankheiten wie zum Beispiel Mukoviszidose. In früheren Zeiten haben Kinder mit dieser Krankheit gerade einmal das Grundschulalter erreicht. Heute gibt es Erwachsenenselbsthilfegruppen von Mukoviszidosekranken. Ich selbst stehe einer solchen Gruppe als Schirmfrau vor. Man kann auch feststellen, ob ein Mädchen, ob eine Tochter, die noch nicht geboren ist, die genetische Veranlagung zu Brustkrebs hat. Aber wer sagt denn, dass dieser Brustkrebs überhaupt ausbrechen wird oder ob man in 50 Jahren nicht eine Therapie dagegen hat? Klar ist: Wenn man bei der PID, bei dem Aussuchen und Aussortieren, Ja zu einem Kind sagt, dann sagt man gleichzeitig Nein zu einem anderen Kind, das nicht geboren werden soll. Das will ich nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte den Blick auch auf das, was Leben ausmacht, wenden. Mir sagen mein Glaube und meine Logik, dass das Leben ein Geschenk ist, ein Geschenk, das nicht immer wieder neu gepackt werden darf, sondern das angenommen werden sollte und angenommen werden muss. Da das Leben ein Geschenk ist, liegt auch dort, wo es vermeintlich nicht so perfekt ist, eine große Chance darin, dass wir Menschen begleiten und dass wir das Antlitz der Gesellschaft so gestalten, dass sich Humanität im Nächsten zeigt und nicht im vermeintlich Perfekten. Deshalb trete ich klar für ein Verbot der PID ein. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Ursula Heinen-Esser. Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Paare, die um ihre erbliche Vorbelastung wissen und sich dennoch von ganzem Herzen ein Kind wünschen. Vielleicht haben sie keine andere Möglichkeit als die künstliche Befruchtung. Vielleicht haben sie schon eine Fehlgeburt erlebt, vielleicht haben sie schon eine Totgeburt erlebt. Vielleicht haben sie schon ein oder sogar zwei schwerstbehinderte Kinder, um die sie sich liebevoll kümmern. Diese Eltern verstehen nicht, dass eine Untersuchung an einer befruchteten Eizelle, die außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig ist, verboten sein soll. Sie verstehen nicht, dass aber die Untersuchung des Kindes im Mutterleib trotz der etwaigen lebensbedrohlichen Folgen für das Kind, etwa bei der Fruchtwasseruntersuchung, erlaubt, ja manchmal sogar notwendig ist. Diese Eltern verstehen nicht, warum die Präimplantationsdiagnostik verboten werden soll, während die Abtreibung, die Tötung des Kindes bis zur zwölften Schwangerschaftswoche, gegebenenfalls sogar die Spätabtreibung, erlaubt ist. Hier erleben wir doch einen ganz klaren Wertungswiderspruch unseres Rechtssystems, sollte sich ein PID-Verbot durchsetzen. Die Untersuchung der befruchteten Eizelle nein, PND und Abtreibung ja - diesen Widerspruch empfinde ich als nicht akzeptabel, als menschenunwürdig. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Bei der Abtreibung - so schreibt ein führender Befürworter des Totalverbots in einem Namensartikel für den Tagesspiegel; dieses Argument klang auch hier immer wieder durch - geht es ... um die seelische Belastung der Mutter, die sich in einem schweren Konflikt befindet. Deshalb sei die Abtreibung unter bestimmten Umständen erlaubt, und deshalb seien PID und Abtreibung nicht miteinander vergleichbar. Lassen Sie mich dazu aber festhalten: Die seelische Belastung der Mutter beginnt und endet doch nicht mit einer Abtreibung. Die seelische Belastung der Mutter und des Vaters, die erblich vorbelastet sind, beginnt viel früher; Frau Flach hat vorhin ein sehr nahegehendes Beispiel genannt. Es geht um die seelische Belastung der Mutter und des Vaters, die Sorge, ein nicht lebensfähiges Kind wachsen zu sehen, die Angst, der Belastung durch ein schwerstbehindertes Kind nicht gewachsen zu sein. Diese Eltern wünschen sich ein Kind - sehnlichst -, das eine Chance zum Leben bekommt. Sie wünschen sich nicht blaue Augen, auch nicht, ob es dick, dünn, groß oder klein sein wird. Es geht darum, dass ein Kind eine Chance zum Leben bekommt. Dafür unterziehen sich die Mütter enormen körperlichen Belastungen, einer oft schmerzhaften, aufwendigen Behandlung, einer künstlichen Befruchtung. Sie tun dies immer mit der Angst, das Kind zu verlieren. Die seelische Belastung einer Mutter, die Fehl- oder Totgeburten erlebt hat, ist ebenso hoch wie die seelische Belastung einer Mutter, die eine Abtreibung durchführen lassen muss. Aber es gibt einen enormen Unterschied: Die PND, verbunden mit einer Abtreibung, kann zu einem schweren Trauma führen. Die PID hilft, diesen Konflikt abzuwenden. Der Ethikrat hat in seinem Votum für eine begrenzte Zulassung der PID geschrieben - ich zitiere -: Die PID eröffnet einen Weg, das Trauma eines Schwangerschaftsabbruchs zu vermeiden ... Die Entscheidung steht für mich fest: Die PID ist ein klares Ja zum Leben. Deshalb werbe ich für den Antrag von Ulrike Flach, Peter Hintze, Carola Reimann und vielen weiteren Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen. Danke. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt erhält nun das Wort. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Mutter eines behinderten Kindes fragt in Christ & Welt: Was empfinden Menschen wie mein Sohn angesichts solcher Debatten - sie, die sich besonders mühen müssen, in dieser Welt zurechtzukommen, gerade weil sie etwas anders ticken, als es die Norm erfordert, die sich enorm anstrengen, dazuzugehören, und dabei doch immer wissen, dass sie Sonderfälle sind, gnädigerweise alimentiert von der Gesellschaft? Mein Sohn muss zur Kenntnis nehmen, dass er als Risiko definiert wird, dass es als Fortschritt gilt, wenn möglichst wenige seiner Art geboren werden. - Und gleichzeitig der Satz eines Paares, das schon zwei Kinder mit einer schweren Behinderung hat: Ein weiteres, das schaffen wir einfach nicht, gerade weil wir die beiden so lieb haben. Wer wollte heute schon entscheiden, was schwerer wiegt? Kann das irgendjemand von uns denn wirklich? Suchen wir also nach Objektivem. Vielleicht hilft ein Blick auf die Zahlen. Noch geht es, jedenfalls bis heute, um wenige Fälle. Auch dies kann für beides sprechen. Als Argument für eine Zulassung könnte man anführen: Die paar Fälle führen nicht zu einem Dammbruch; die PID hilft den wenigen Betroffenen, die es schwer haben. - Man könnte aber auch die Frage stellen: Sollten wir für die wenigen Betroffenen in unserer Gesellschaft so viel riskieren? Ich sage "so viel riskieren", weil es, lieber Frank-Walter Steinmeier, nicht um einige wenige Grenzfälle geht, sondern um das, was wir in der Mitte der Gesellschaft wollen bzw. zulassen wollen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Es geht auch nicht um die Frage, was öffentlich zu vermitteln wäre. Ich glaube, diese Frage wird hier keiner diskutieren wollen. Warum also bin ich für ein Verbot? Ja, ich bin überzeugt, hier möchte niemand ein Designerbaby, hier möchte keiner eine auseinanderfallende Gesellschaft oder eine diskriminierende. Also suchen wir nach Anhaltspunkten! Nein, die PID garantiert eben kein gesundes Kind. Sie garantiert noch nicht einmal eine Schwangerschaft. Nein, die PID ist nicht eine einfache Untersuchung, die man halt über sich ergehen lassen muss, im Gegenteil: Sie ist für Frauen extrem belastend. Sie bedeutet immer wieder einen Eingriff, immer mehr Hormonbehandlung. Und sie bedeutet natürlich auch dann, wenn aussortiert wird, eine schwere seelische Belastung. Das, was scheinbar unsichtbar in der Petrischale ist, ist eben für die Seele des Menschen im Zweifelsfall doch nicht weniger als das, was bei einer Schwangerschaft geschieht. Nein, Behinderung oder Krankheit werden nicht ausgeschlossen. Es kann auf einige wenige monogenetische Erkrankungen und Chromosomenanomalien untersucht werden. Allerdings weiß kein Mensch, ob sie jemals ausbrechen werden und, wenn ja, wie schwer sich die Krankheit dann wirklich zeigt. Nein, PID wendet nicht Leid von Eltern und Kind ab; PID wendet das Kind selbst ab. Es wird aussortiert, weil es nicht der Norm entspricht. Und wichtig: Nein, die PID verhindert eben keine Spätabbrüche. Natürlich habe ich Verständnis für die Paare - sie begegnen uns zumindest in Berichten ganz häufig -, die sagen: In dieses Risiko will ich mich nicht begeben. - Aber gleichzeitig muss man sagen: Die allermeisten werden sich später einer Pränataldiagnostik unterziehen. Das ist übrigens eine Untersuchung, von der wir, als sie eingeführt wurde, gesagt haben: Das ist nur für ganz, ganz wenige Ausnahmefälle. - Heute ist das eine Standarduntersuchung. Ich fürchte, dass es sich mit der PID ganz ähnlich entwickelt. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Es gibt keine Garantie, dass nicht andere schwere, auch erbliche Erkrankungen, eintreten. Und es gibt übrigens auch keine Garantie, dass Schädigungen am Embryo durch die PID selbst ausgeschlossen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nein, es wird nicht bei wenigen Fällen bleiben - übrigens auch deswegen nicht, weil wir diesen Unterschied gar nicht machen können. Warum sollen die einen dann eigentlich das Recht auf PID haben, und den anderen sprechen wir es ab? Und nein, ich halte auch die Grenzziehung bei der Lebenserwartung von einem Jahr nicht für möglich - übrigens auch deswegen nicht, weil ich es zu schwierig finde, zu entscheiden: Ist denn ein Tag Leben, sind fünf Tage Leben oder neun Monate Leben weniger wert als eineinhalb Jahre oder 2 Jahre oder 20 Jahre oder 40 Jahre? Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss darüber gesprochen werden, worum es tatsächlich geht, wie belastend die Untersuchungen sind, wie belastend die Entscheidung ist. Es darf nicht darüber geschwiegen werden, was alles tatsächlich im Zweifelsfall untersucht werden kann - eben auch die Krebserkrankung. Warum soll man eigentlich dann das nicht wissen wollen? Und zuletzt, ja, natürlich wird es Druck geben - so wie es bei der PND Druck auf Frauen bzw. auf Paare gibt, diese Untersuchung durchführen zu lassen. Mit diesem Druck wird ein Heilsversprechen verbunden, bei dem wir abzuwägen haben. Wir haben abzuwägen, was wir damit auf der anderen Seite belasten, zerstören, gefährden. Verbieten wir die PID, die letztlich alles verspricht, aber höchstens die Möglichkeit bietet, ein wenig die Chancen auf ein Kind zu erhöhen! Verbieten wir die PID und machen wir sehr deutlich, worum es eigentlich in unserer Gesellschaft geht: die zu integrieren und dabeihaben zu wollen, die anders sind, oft glücklich sind, oft ein gelingendes Leben haben und uns übrigens wissen lassen, dass auch wir nicht vollkommen sind, sondern darauf angewiesen sind, dass ein anderer uns anschaut und sagt: Ja, du bist ein Mensch, und es ist gut, dass du da bist. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Krista Sager ist die nächste Rednerin. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für den Gruppenantrag werben, für den auch Frank-Walter Steinmeier heute geworben hat, nämlich für die begrenzte Zulassung der PID bei einer künstlichen Befruchtung. Ich will ausdrücklich sagen: Vor einigen Jahren war ich gegen die Zulassung der PID, aber ich habe meine Meinung geändert. Das möchte ich Ihnen gerne erklären. Bei meiner damaligen Ablehnung haben die Befürchtungen eine große Rolle gespielt, die auch heute hier von vielen geäußert worden sind. Es ging um die Angst vor einem moralischen Dammbruch, davor, dass man irgendwie auf eine schiefe Ebene kommt. Viele tun so, als wüssten sie ganz genau, was passiert, wenn wir die PID begrenzt zulassen würden. Nun leben wir ja nicht auf einer Insel, und wir können feststellen, was in den Ländern passiert ist, in denen es seit Jahrzehnten Erfahrungen mit einer begrenzten Zulassung gibt, was in fast allen anderen europäischen Ländern der Fall ist. Ob in Frankreich, in Großbritannien oder in den skandinavischen Ländern: Der befürchtete Werteverlust, vor dem ich selber Angst gehabt habe, ist da nicht eingetreten. Das können wir sehen. Herr Dr. Seifert, ich nehme das, was Sie hier gesagt haben, sehr ernst. Aber die Teilhabechancen von behinderten Menschen sind in Deutschland nicht besser als in Dänemark. Der Druck auf behinderte Menschen, ihr Dasein zu rechtfertigen, ist in den skandinavischen Nachbarländern nicht größer als in Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN) Wir müssen doch einmal feststellen, dass es keinen Grund gibt, einen deutschen Sonderweg des Totalverbots der PID aufgrund von Befürchtungen zu gehen, die in unseren Nachbarländern offensichtlich schon widerlegt sind. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP) Wir können aufgrund der Erfahrungen in den Nachbarländern auch sehen: Es sind wenige Fälle, und es stehen ganz schwere persönliche Schicksale dahinter. Das heißt, wir können davon ausgehen, dass es in Deutschland bei vielleicht 200 bis 300 Fällen bleiben wird. Jetzt stellt sich doch die Frage: Wollen wir einen deutschen Sonderweg gehen, um 200 bis 300 Frauen und ihren Partnern die Möglichkeit zu verbieten, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie einen Antrag stellen, dass bei ihnen aufgrund einer schweren erblichen Vorbelastung eine PID durchgeführt wird? Wollen wir gleichzeitig in Kauf nehmen, dass bei einzelnen der gleichen Frauen nach der 22. Schwangerschaftswoche möglicherweise eine Situation eintritt, in der sie dann selbstbestimmt entscheiden sollen, ob es eine Spätabtreibung gibt? Ich sage Ihnen: Das ist nicht verhältnismäßig und - gesetzlich gedacht - auch nicht konsistent. Das müssen wir doch einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wenn ich eine ganz persönliche moralische Bewertung abgebe, dann muss das nicht verhältnismäßig und vielleicht auch nicht konsistent zu dem sein, was in den Gesetzen steht. Aber als Gesetzgeber muss ich anders vorgehen. Hier muss das Handeln konsistent sein. Eine Spätabtreibung nach einer PND und ein Totalverbot der PID stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis. Noch etwas: Eine Religionsgemeinschaft kann von ihren Anhängern verlangen, dass sie entweder ganz auf Kinder verzichten oder das Risiko eingehen, weitere Totgeburten oder weitere Fehlgeburten zu erleiden oder eben ein mit einer schwersten Erbkrankheit belastetes Kind auf die Welt zu bringen. Das kann eine Religionsgemeinschaft ihren Anhängern abverlangen. Ich bin aber der Meinung, der Gesetzgeber sollte dies nicht tun. Es geht um eine ganz persönliche Gewissensentscheidung von betroffenen Menschen in einer ganz schwierigen Konfliktsituation. Herr Dr. Krings, das kann man den Leuten nicht ausreden; das ist für die Menschen so. Herr Dr. Seifert, diese Menschen haben zum Teil schon schwerstkranke Kinder, die sozusagen dem Tod geweiht sind. Sie haben zum Teil schon durch eine schwere Erbkrankheit Angehörige verloren. Glauben Sie, Herr Dr. Seifert, dass diese Menschen, wenn sie gerne die Möglichkeit zur PID hätten, damit ein Werturteil darüber abgeben, dass zum Beispiel das Leben ihres Bruders oder ihres eigenen geliebten Kindes bis zu seinem Tod nichts wert war? Es ist keine Wertentscheidung über behindertes oder Leben mit schweren Krankheiten. Es ist vielmehr die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung aus einer tiefen Konfliktsituation heraus. Ich bin der Meinung, es gibt hierbei nicht nur eine einzige wahre Moral für jeden Einzelfall, die der Gesetzgeber durch ein Verbot wenigen Betroffenen aufoktroyieren muss. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN) Das ist meine persönliche Überzeugung in diesem Fall. Nach meiner Überzeugung sollten wir diesen wenigen Betroffenen mit guter Beratung, guter Information und medizinischer Begleitung in kompetenten und lizensierten Zentren so gut es irgend geht zur Seite stehen, aber auch einen kleinen Türöffner für die Selbstbestimmung erhalten. Ich finde, sie haben das verdient. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Sager, diejenigen in diesem Hause, die die Präimplantationsdiagnostik zulassen wollen, argumentieren häufig mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Das treibt auch mich um, und ich finde, es ist ein Wert, den wir hier verteidigen sollten. Sie meinen, ein Verbot würde unverhältnismäßig stark in das Selbstbestimmungsrecht der Frau über die eigene Fortpflanzung eingreifen. Dieser Auffassung bin ich nicht. Das möchte ich erklären. Wir reden doch hier über ein medizinisch-technisches Verfahren, in dem letzten Endes Medizinerinnen und Mediziner und Ethikkommissionen die Entscheidungen treffen. Ich bin davon überzeugt: Je mehr Macht die Reproduktionstechnologie über den Körper der Frau erhält, desto geringer wird ihre Selbstbestimmung. Ich empfehle, die Erfahrungsberichte betroffener Frauen zu lesen. Dann kann man nur schlucken. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Oft wird auch argumentiert, dass die PID Frauen vor Schwangerschaftsabbrüchen bewahren könnte. Dafür gibt es aber keinen Beleg. Schwangerschaften nach PID - das haben wir schon mehrfach gehört - gelten grundsätzlich als Risikoschwangerschaften. Etwa die Hälfte der Frauen wird einer invasiven Pränataldiagnostik unterzogen, zum Beispiel einer Fruchtwasserpunktion. Am Ende bekommt nur eine von fünf Frauen nach einer PID tatsächlich ein Kind, und das nach all diesen Torturen. Auch unterstellen Sie damit, dass Ärztinnen und Ärzte in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche ausschließlich wegen einer möglichen Behinderung des Kindes durchführen würden. Das wäre aber rechtswidrig. Vor dieser Unterstellung muss ich die Ärztinnen und Ärzte in Schutz nehmen. Das tun sie nicht leichtfertig. In der Stellungnahme des Ethikrates, die heute schon mehrfach zitiert worden ist, wird viel differenzierter argumentiert, als es hier teilweise dargestellt wird. Der Ethikrat hinterfragt nämlich sehr genau, ob die Fortpflanzungsentscheidungen der einzelnen Frau tatsächlich als selbstbestimmt gelten können bzw. inwieweit dies der Fall ist. Denn schon bei der Frage, ob eine Frau überhaupt ein Kind will, spielen gesellschaftliche Standards, ökonomische Zwänge und Erwartungen des Umfelds eine entscheidende Rolle. Die von außen auf die Frau einwirkenden Erwartungen und Zwänge beeinträchtigen die Selbstbestimmung. Mit den Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik werden meiner Auffassung nach diese fremdbestimmenden Elemente noch erweitert. Auch kritische Feministinnen warnen vor wachsendem Druck auf Frauen. Immer mehr würde ihnen sogar so etwas wie eine Schuld zugeschrieben, wenn sie trotz medizinischen Fortschritts beispielsweise ein Kind mit Downsyndrom geboren haben. Wir alle kennen Beispiele für diesen Druck. So etwas sei doch heute nicht mehr nötig, hat beispielsweise ein Vater aus meinem Wahlkreis zu hören bekommen. Mit "so etwas" war sein Kind gemeint. Seiner Frau war während der Schwangerschaft ein schwerstbehindertes Kind vorhergesagt worden. Wohl niemals werde es laufen können, und vermutlich werde es die ersten Jahre nicht überleben. Dieses Kind ist heute sieben Jahre alt und läuft mitsamt seiner Behinderung munter durchs Leben. Eine andere Mutter erzählte mir von ihrer Tochter, die heute 28 Jahre ist und alleine selbstständig in einer Wohnung lebt - mit Trisomie 18, einer Chromosomenstörung, die als klassisches Beispiel für eine früh zum Tode führende genetische Veränderung gilt. Diese Beispiele zeigen doch, dass wir uns bei dieser ganzen Debatte nicht auf Medizin oder Biologie als exakte Wissenschaften verlassen können, sondern dass wir die gesellschaftliche Dimension dieser Technik in den Mittelpunkt der Diskussion stellen müssen. Eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik bedeutet eben nicht nur eine weitere Wahlmöglichkeit für Frauen, sondern sie verändert auch unser gesellschaftliches Umfeld. Sie verändert unsere ganze Haltung gegenüber Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft. Sie weckt hohe Erwartungen und Hoffnungen, die in den meisten Fällen bitter enttäuscht werden. Sie verschärft die gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber den Frauen, wirklich alles für ein biologisch eigenes, gesundes Kind zu tun. Das ist aus meiner Sicht ein überholtes Frauen- und Familienbild. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Statt nun die Verantwortung für die Herstellung gleicher Rechte und Teilhabechancen zu übernehmen und eine gerechtere und vor allem geschlechtergerechtere Verteilung von unbezahlter Reproduktions-, Erziehungs- und Pflegearbeit sowie die Abwehr von Diskriminierung als gemeinschaftliche sozialstaatliche Aufgabe zu betrachten, bürden wir diese Aufgabe den betroffenen Frauen individuell auf. Dazu muss ich sagen: Selbstbestimmung sieht für mich anders aus. Deshalb möchte ich Sie bitten, den Gesetzentwurf für ein uneingeschränktes Verbot der Präimplantationsdiagnostik zu unterstützen. Danke sehr. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Christine Aschenberg-Dugnus hat das Wort. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das menschliche Dasein ist bestimmt durch körperliche Existenzbedürfnisse wie Atmung, Schlaf, Nahrung und Wärme, auch durch das Streben nach Sicherheit, Familie und Anerkennung und durch das Streben nach Realisierung eigener Wünsche und Sehnsüchte. In diesem Kontext spielt das Streben nach Erkenntnis eine extrem große Rolle. Das steckt in jedem von uns. Ein Verbot dieses Erkenntnisstrebens kann nur scheitern, genauso wie man damit scheitern würde, den Wunsch nach Fortpflanzung, den Wunsch nach Kindern zu unterdrücken. Bereits Erkanntes kann man nicht unerkannt machen; denn das Rad der Erkenntnis kann man nicht zurückdrehen. Nun sind wir seit geraumer Zeit an einem Punkt angelangt, an dem es die Wissenschaft möglich macht, eine PID durchzuführen. Wir können jetzt nicht einfach auf "Löschen" drücken und dieses Wissenschaftskapitel verschwinden lassen, schon gar nicht, wenn das Verfahren der PID in fast allen europäischen Ländern etabliert und zugelassen ist. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vielmehr ist es jetzt geboten, mit den möglichen Untersuchungsmethoden verantwortungsvoll umzugehen - verantwortungsvoll und in engen Grenzen; denn nicht alles, was möglich ist, ist ethisch vertretbar. Nur deshalb führen wir heute diese Debatte. Müssen wir uns dem Wunsch einer Frau mit einer genetischen Vorbelastung verweigern, die weiß, dass sie mithilfe eines Arztes herausfinden kann, ob bei dem künstlich erzeugten Embryo eine solche schwere genetische Erkrankung vorliegt? Müssen wir das wirklich tun? Können wir einer Frau verwehren, den Embryo zu untersuchen, wenn sie in der Vergangenheit bereits eine Totgeburt in der 26. Schwangerschaftswoche hatte und auch schon ein Kind aufgrund einer schweren genetischen Erkrankung im Alter von drei Jahren verloren hat? Das sind ganz konkrete Beispiele. Alle, die wir hier sitzen, haben in den letzten Wochen und Monaten sehr viele dieser Beispiele gesehen, darüber gelesen und mit Betroffenen gesprochen. Muss man als Arzt wissentlich und absichtlich einen Embryo einpflanzen, wenn man nicht ausschließen kann, dass es bei der Frau erneut zu einer körperlich wie seelisch qualvollen Totgeburt kommt, obwohl es die PID gibt? Ich denke, nein. Ein Untersuchungsverbot würde einen Wertewiderspruch bewirken; denn eine pränatale Diagnostik mit anschließender Spätabtreibung ist sowohl ethisch als auch rechtlich erlaubt. Ein PID-Verbot wäre eine Verschiebung des ethisch-moralischen Konflikts, den jede Frau erlebt, auf die Zeit der Schwangerschaft. Im Mutterleib wird dieser Konflikt dann zu lösen versucht, allerdings zulasten der Frau, die dann gezwungen ist, eine mögliche Totgeburt hinzunehmen oder eine Spätabtreibung vornehmen zu lassen. Denn das ist rechtlich und ethisch erlaubt, aber eben für die Frau erheblich belastender. Deshalb sieht unser Entwurf vor, die PID in ganz engen Grenzen zuzulassen. Wenn von Teilen der Gesellschaft vorgebracht wird, man würde mit der PID Selektion betreiben, dann wird die konkrete Situation der betroffenen Frauen verkannt; denn diese Frauen haben in den meisten Fällen schon einen sehr langen Leidensweg hinter sich. Denken Sie an das Beispiel, das ich Ihnen eben genannt habe. Nein, mit der PID verfolgen wir ganz andere Ziele. Es geht einzig und allein darum, schweres Leid von Frauen abzuwenden und ihnen Totgeburt und Spätabtreibung zu ersparen. Es geht gerade nicht darum, vollends gesunde Kinder zu schaffen, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie - zu welchem Zeitpunkt auch immer - an irgendeinem Leiden erkranken werden. Es geht einzig und allein darum, ganz bestimmte schwere Erbkrankheiten des Kindes zu erkennen, Erbkrankheiten, die in der jeweiligen Familie möglicherweise bereits aufgetreten sind. Es geht darum, unsägliches Leid, seelische und körperliche Belastung von den Frauen abzuwenden. Das ist meines Erachtens ethisch vertretbar und im Sinne der Nächstenliebe vernünftig und human. Ich möchte Sie herzlich bitten, unseren Entwurf zu unterstützen. Danke. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke. Rudolf Henke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind viele Argumente vorgetragen, es sind viele juristische Aspekte beleuchtet, es sind viele medizinische Sachverhalte genannt worden. Ich will auf drei Punkte zu sprechen kommen, von denen ich glaube, dass sie für jeden, der später in diesem Haus die Entscheidung treffen muss, zentral sein werden. Der erste Punkt betrifft die Frage der Würde. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob Würde teilbar ist, ob sie abstufbar ist, ob unser Grundgesetz vorsieht, dass Würde dadurch erworben werden muss, dass man bestimmte Qualitäten, Merkmale oder Eigenschaften aufweist. Professor Klaus Diedrich, der Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Universität Lübeck, einer der Befürworter der Präimplantationsdiagnostik, hat in dieser Woche in einem Zeitungsinterview im Südkurier klar gesagt: Das menschliche Leben fängt für mich durchaus mit der Befruchtung an. Deshalb hat auch ein Embryo Würde. Aber es gibt Situationen, in denen die Würde des Embryos zurücktritt hinter die Würde der Mutter. Ist das nicht die Aufforderung, zwischen unterschiedlichen Graden von Würde abzuwägen, die dem Menschen zukommt? - Ich möchte das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]) Nun sagen die Befürworter des Gesetzentwurfs zur Zulassung der PID - das war auch in der Rede, die gerade gehalten worden ist, deutliches Votum -: Wir wollen die Zulassung der PID in ganz engen Grenzen. Ich frage: Wird es möglich sein, den Anspruch auf Zulassung "in ganz engen Grenzen" in Einklang zu bringen mit der Selbstbestimmung der Mutter, mit der Selbstbestimmung des Vaters? Wie geht es Eltern, wenn sie gefragt werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind ohne Downsyndrom? Wie geht es Eltern, die gefragt werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind ohne Mukoviszidose? Willst du lieber ein Kind, das mit hoher Wahrscheinlichkeit später an die Dialyse muss, weil es eine polyzystische Nierenerkrankung erbt, oder willst du lieber, dass das Kind das nicht erbt? Willst du lieber ein Kind, das mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit Brustkrebs bekommt, oder lieber ein Kind, bei dem diese Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist? - Das sind doch die Fragen, die, wenn das Wissen nicht ausgeschaltet werden kann, zu beantworten sind. Ich glaube - zweiter Punkt -, Eltern können immer nur die besten Chancen für das Kind wollen, und sie können die beste Chance nicht nur in einer spezifischen Situation wollen. Deswegen glaube ich nicht, dass es möglich ist, diese "ganz engen Grenzen" so zu definieren, dass sie wirklich greifen und wirksam sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Dritter Punkt: Ich weise darauf hin, dass zwar der Gesetzentwurf, den Frau Flach uns vorgestellt hat, dafür wirbt, dass wir eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit als Voraussetzung haben müssen. Aber was ist eine schwerwiegende Erbkrankheit? Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass in dem zustimmend zitierten Text des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer steht: Die Bundesärztekammer wird in einer "(Muster-) Richtlinie zur Durchführung der Präimplantationsdiagnostik" Regelungen zum Indikationsspektrum - und zu Weiterem - treffen. Das heißt, es wird dann Festlegungen über das Indika-tionsspektrum geben. Sie werden auch nötig sein, weil es doch nicht zu tolerieren sein wird, dass in dem einen Bundesland eine Ethikkommission sagt: "Du darfst leben", und in einem anderen Bundesland eine Ethikkommission sagt: Du darfst nicht leben, obwohl du die gleiche Diagnose, die gleiche Lebenserwartung hast. - Wir werden Indikationslisten bekommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Indikationslisten werden sich darauf zurückführen lassen, dass wir hier diese Frage offengelassen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie für eine Begrenzung eintreten: Vielleicht ist diese Diskussion noch nicht weit genug geführt. Vielleicht ist es wirklich notwendig, noch nach einem Weg zu dieser Begrenzung zu suchen; ich weiß das nicht. Vielleicht ist man in zehn Jahren bei einer Begrenzung, die im Konsens gefunden werden kann. Aber jetzt, in dieser Situation - der Bundesgerichtshof hat jedes Handeln zugelassen -, muss eine Entscheidung getroffen werden, die die Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik ausschließt. Das, meine ich, müsste auch diejenigen überzeugen, die im Prinzip für enge Grenzen eintreten, solange kein Weg beschrieben ist, wie diese ganz engen Grenzen wirklich zustande kommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Hubertus Heil hat das Wort. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass diese Debatte unserem Hause gut ansteht. Man kann hier zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen. Es ist ein gutes Signal, auch für unsere parlamentarische Demokratie, dass wir heute gemäß Art. 38 unseres Grundgesetzes diskutieren. Das macht uns, den Abgeordneten, in unserer Verantwortung deutlich, dass wir nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sind, sondern Gewissensentscheidungen zu treffen haben. Es ist gut, dass wir eine Debatte führen, wie ich finde, mit durchaus hohem Niveau, die deutlich macht, um was wir ringen und um welche Abwägung es geht. Ich will an dieser Stelle das, was mich umtreibt und was dazu geführt hat, dass ich die Meinung, die ich zu diesem Thema hatte, revidiert habe, darlegen. Ohne vertiefte Kenntnis, vor allen Dingen aber ohne persönliche Berührung hatte ich in der Vergangenheit das Gefühl, dass das Verbot der Präimplantationsdiagnostik, das durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aufgehoben wurde, richtig und nachvollziehbar ist. Was mich bewogen hat, umzudenken, ist nicht das Urteil gewesen, sondern was mich bewogen hat, umzudenken, ist eine persönliche Erfahrung gewesen. Ich weiß, dass Politik nicht immer nur aus Einzelschicksalen und persönlicher Erfahrung Schlussfolgerungen ziehen kann, aber sie sind eben manchmal Anlass zum Umdenken. In diesem Fall geht es um ein befreundetes Paar, das ich vor einigen Jahren begleiten musste. Die beiden, die nach wie vor meine Freunde sind, hatten und haben sehnlichst einen Kinderwunsch, waren hocherfreut, als sich dieser Kinderwunsch erfüllte, wussten aber nicht, dass das Kind eine Erbkrankheit hatte, erblich vorbelastet war, und mussten miterleben, dass dieses Kind aufgrund einer fortschreitenden unheilbaren Muskelerkrankung wenige Wochen nach der Geburt qualvoll sterben musste. Ich war bei der Beerdigung, und das war etwas, was mich tief erschüttert hat. Ich habe erlebt, wie es diesem Paar im Weiteren ergangen ist und ergeht. Die beiden haben nach wie vor einen Kinderwunsch. Sie haben aufgrund dessen, was sie erlebt haben, feststellen müssen, dass sie beide unglücklicherweise eine genetische Disposition haben, nach der die Wahrscheinlichkeit, dass das wieder passiert, ungefähr 80 : 20 beträgt. In der Realität des Lebens haben sie nun drei Optionen: Erstens können sie es noch einmal versuchen - mit der Wahrscheinlichkeit von 80 : 20 und übrigens unter Inkaufnahme dessen, dass man es in diesem Wissen im Zweifelsfall auf eine Spätabtreibung ankommen lassen muss. Die zweite Möglichkeit ist - das hat etwas mit Lebensrealität zu tun; das wäre bei uns rechtswidrig und bliebe nach den Gesetzesvorschlägen, die vorliegen, rechtswidrig -, mit dem entsprechenden Geld nach Belgien oder nach Israel zu gehen, wie es - reden wir offen darüber! - viele Paare in Deutschland in der Vergangenheit getan haben. Die dritte Möglichkeit ist, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu versagen. Meine Damen und Herren, ich bin für eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik genau aus dieser Lebensrealität heraus. Ich finde, dass man zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen kann. Mich lässt nicht unberührt, was Behindertenverbände an Befürchtungen und Erwägungen genannt haben - viele Kolleginnen und Kollegen haben es zitiert -; ich bin nur der festen Überzeugung, dass wir als deutsches Parlament diesen Befürchtungen nicht entgegentreten, indem wir das, was in der begrenzten Zahl solcher Fälle an Hilfen notwendig und menschlich vertretbar ist, verweigern. Es ist etwas anderes, was notwendig ist, um Menschen mit Behinderungen in diesem Land eine diskriminierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Der Blick in Länder, in denen die PID zugelassen ist - ich glaube, die Kollegin Sager hat es vorhin zitiert -, macht deutlich, dass es nicht die PID ist, die Druck auf behinderte Menschen macht. Es gibt darunter Länder, in denen Menschen mit Behinderungen besser leben können und weniger Diskriminierung ausgesetzt sind als in unserer deutschen Gesellschaft. Vielleicht geht es um ein paar andere Themen der Teilhabe, um die wir uns miteinander kümmern müssen - von der Antidiskriminierungsgesetzgebung bis hin zur Teilhabe am schulischen und beruflichen Leben. Das ist eine Verantwortung. Ich bitte alle, die dieses Argument nennen, aus berechtigten Erwägungen, sich mit uns gemeinsam diesen anderen Themen zuzuwenden. Für mich ist entscheidend, dass wir in der Präambel unseres Grundgesetzes gemahnt werden, uns unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst zu sein. Nun geht es hier um sehr persönliche Überzeugungen. Ich weiß, dass hier auch viele Christen gesprochen haben - auch ich bin evangelischer Christ -, die auf der Grundlage ihres gemeinsamen Glaubens zu unterschiedlichen Schlüssen in dieser Frage kommen. Das ist zu akzeptieren. Meine Bitte ist nur, dass wir in diesem Parlament weiterhin die Fairness wahren und uns nicht gegenseitig die Argumente absprechen. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Frau Flach, Frau Reimann, Herrn Hintze und anderen, die diesen Gesetzentwurf zustande gebracht haben. Zum Schluss habe ich einen Appell. Heute ist die erste Lesung der Gesetzentwürfe, dann folgen die Ausschussberatungen, und am Ende werden wir im Plenum zu einer Entscheidung kommen müssen. Meine Bitte an die Kollegen Hinz und Röspel ist, darüber nachzudenken, ob die Unterzeichner beider Gesetzentwürfe nicht noch einmal miteinander ins Gespräch kommen können. Der Fall, den ich genannt habe, wäre von dem Gesetzentwurf von Röspel und Hinz übrigens abgedeckt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Hubertus Heil (Peine) (SPD): Ich habe aus anderen Gründen dem anderen Gesetzentwurf zugestimmt. Aber bevor es zu einem absoluten Verbot der PID in Deutschland kommt, bitte ich, dass wir noch einmal miteinander sprechen. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Markus Kurth hat jetzt das Wort. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade in der Rede von Herrn Heil wie auch in einigen anderen Beiträgen von Befürwortern einer Freigabe der PID die Schilderung eines tragischen individuellen Elternschicksals gehört, das - so will ich hier ganz deutlich sagen - auch mich nicht unberührt lässt. Ich war in den letzten Wochen und Monaten bei mehreren Diskussionsveranstaltungen und Versammlungen, wo ich mit Eltern zusammengetroffen bin, die eine erbliche Vorbelastung und gleichzeitig einen starken Kinderwunsch haben. Ich habe diesen Eltern auch gesagt, dass ich als Teil des Gesetzgebers ihre Perspektive nicht unhinterfragt komplett übernehmen kann, sondern dass ich eine Abwägung vornehmen muss: zwischen ihrem Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, und der - ich führe das noch aus - Infragestellung der Menschenwürde durch die Entscheidung, ob ein Leben lebenswert ist oder nicht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) Im Verlauf dieser Debatte ist diese Abwägung von den Befürwortern einer begrenzten Freigabe der PID aus meiner Sicht nicht vorgenommen worden, obwohl Herr Hintze eingangs davon gesprochen hat. Sie blieben vielfach bei der rhetorischen Frage stehen, mit welchem Recht man den Eltern verbieten könne, die medizinischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen. Man hätte auf diese rhetorische Frage durchaus eine Antwort finden können, und zwar in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Frage ist, ob die Würde des Menschen teilbar ist oder nicht. Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand in dieser Debatte gesagt hätte, ein Embryo, auch wenn er sich extrakorporal in der Petrischale befindet, habe keine Menschenwürde. Jerzy Montag hat ausgeführt, die Menschwerdung sei abhängig von dem Zusammenwirken der Frau und des Embryos; aber er hat nicht gesagt, dass dem Embryo keine Menschenwürde zuerkannt werden würde. Wenn es so ist, dass wir auch diesem Embryo die Menschenwürde zuerkennen, dann müssen wir fragen: Welche Folgen hat es, wenn wir gegenüber einem menschlichen Leben, das die Menschenwürde genießt, Lebenszustände beschreiben, die wir als lebenswert oder nichtlebenswert definieren? Aus meiner Sicht wird hier der Rubikon überschritten und eine noch gar nicht abzusehende, bahnbrechende Wertentscheidung vorgenommen, die nicht nur das Leben an seinem Anfang betrifft, sondern auch Folgen haben wird für das Ende des Lebens. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Wenn wir uns erst einmal anmaßen, Lebenszustände als lebenswert oder nichtlebenswert zu definieren, dann werden wir - das ist meine Überzeugung und auch Befürchtung - die Folgen nicht eingrenzen können. Durch keine Ethikkommission und keine Beschreibung von Einzelfallentscheidungen wird das in den Griff zu bekommen sein. Frau Sitte, ich nehme Ihnen ja ab, dass die betroffenen Eltern, wie Sie es sagten, keine populationsgenetischen Überlegungen anstellen. Ich will Ihnen natürlich auch nicht unterstellen, dass Sie der Euthanasie oder dergleichen nahestünden. Aber die Frage ist doch, ob sich nicht ein gesellschaftliches Bild vom menschlichen Leben Bahn bricht, auf dessen Grundlage am Ende Nützlichkeitsentscheidungen getroffen werden. (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] - Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch schon lange so!) Der Druck auf das Gesundheitssystem - Stichwort "knappe Ressourcen" - wird möglicherweise ein Übriges tun. Dies ist schon jetzt bei der PND der Fall, wo, mehr oder minder unausgesprochen, bestimmte Fragen von Ärztinnen und Ärzten gestellt werden. Wenn wir einmal die Menschenwürde infrage gestellt haben, dann gibt es gegenüber denjenigen, die aus gesundheitsökonomischen Überlegungen die PID vorantreiben wollen, keine Haltelinie mehr. In Bezug auf Menschen mit Behinderung befürchte ich eine Perspektivverschiebung. Frau Molitor hat völlig zu Recht gesagt, dass nur ein Bruchteil der Behinderungen von genetischen Defekten abhängig ist. Die Frage ist, wie wir mit dem Thema Behinderungen in der gesellschaftlichen Diskussion zukünftig umgehen wollen, wenn wir die PID als Möglichkeit haben. Behinderungen werden dann als vermeidbares Leid thematisiert, als etwas Defizitäres, Mangelhaftes und Auszusortierendes. Ich befürchte, dass dieser Perspektivwechsel, was Menschen mit Behinderungen angeht, eine Gesellschaft bewirkt, die den Begriff der Menschenwürde nicht mehr vorbehaltlos trägt und die uns dann allen möglicherweise nicht mehr die Lebensqualität und die Würde bietet, die wir eigentlich von ihr verlangen. Ich bitte um Unterstützung für ein vollständiges Verbot der PID. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Dr. Helge Braun. Dr. Helge Braun (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist keine einfache Debatte, auch nicht für mich; denn in meinem beruflichen Leben als Narkosearzt habe ich es stets abgelehnt, an Abtreibungen teilzunehmen. Das Lebensrecht von Menschen hat selbstverständlich auch für mich eine hohe Bedeutung. Vieles, was hier über Menschen mit Behinderungen und über deren Lebensfreude und Lebensrecht gesagt worden ist, teile ich uneingeschränkt. Ich sehe auch den Rechtfertigungsdruck von Eltern, die ein Kind mit Behinderung angenommen haben. Wir müssen natürlich zunächst vom Embryo ausgehen und über sein Lebensrecht sprechen. Die Rechtslage in Deutschland ist heute so - das ist der Grund, warum es ein entsprechendes Urteil gegeben hat -, dass es ein Abtreibungsrecht, das eine Fristenregelung und eine soziale Indikation vorsieht, gibt. Das bedeutet: Das Lebensrecht eines Embryos, den wir im Rahmen der PID nicht untersucht haben, aber dann im Rahmen einer Pränataldiagnostik untersucht haben, kann beschnitten werden und eine Abtreibung zur Folge haben. Diese Abtreibung gilt es zu vermeiden. Es gilt auch, eine hohe Zahl von Tot- und Fehlgeburten zu vermeiden. Für diese gelten in Deutschland zwar keine absolut gesehen hohen Zahlen; sie kommen aber besonders häufig bei Eltern mit einem spezifischen erblichen Vorbelastungsprofil vor. Es ist natürlich nicht so, dass die PID heilsbringend ist. Sie wird sich auch aufgrund der geringen Zahl der Betroffenen nicht positiv auf die Gesamtstatistik in Deutschland auswirken. Sie bedeutet eine ganz individuelle Verbesserung und Linderung von Leid aufgrund von Fehl- und Totgeburten und bewirkt die Vermeidung von Abtreibungen in einem ganz konkreten Indikationskonzept. Einige sprechen hier von einem Dammbruch. Im Verhältnis zur Abtreibung muss man sagen: Der Dammbruch ist garantiert nicht die PID; denn die PID wird in dem Gesetzentwurf deutlich schärfer reguliert, als dies im allgemeinen Recht der Fall ist. Dies gilt in dreifacher Hinsicht: Erstens. Der im Gesetzentwurf genannte Personenkreis ist im Vergleich zum Abtreibungsrecht deutlich stärker eingegrenzt. Zweitens. Die Gründe, die zur Nichteinpflanzung führen könnten, sind im Gesetzentwurf deutlich strenger geregelt als die Gründe, nach denen eine Abtreibung möglich wäre. Drittens. Das Stadium, in dem die PID durchgeführt wird, ist das Vorembryonalstadium, nicht das Embryonalstadium. Das sind drei Punkte, die zeigen, dass die vorgelegte Regelung zur PID aus ethischer Sicht ein weniger starker Eingriff ist als die Regelungen zur Abtreibung. Meine Damen und Herren, deshalb muss man sich nur noch mit der Frage beschäftigen: Wird die Anwendung der PID irgendwann ausgeweitet, kommt es irgendwann dazu, dass sie in einem deutlich breiteren Spektrum angewendet wird? Wer sich die Zahlen anschaut und sieht, welche Beschwernisse mit einer künstlichen Befruchtung - mit der Gewinnung der Eizellen, der Befruchtung und der Implantation - verbunden sind, der weiß, dass es hier überhaupt nicht darum geht, ein gesundes Kind zu garantieren. Vielmehr ist es der Versuch, eine höhere Wahrscheinlichkeit zu erzielen, ein lebensfähiges Kind zu bekommen. Auch mit der PID - das ist hier gesagt worden - liegt die Wahrscheinlichkeit, dass betroffene Paare ein lebensfähiges Kind bekommen, nur bei einem Drittel bis 50 Prozent. Das heißt, die befürchtete schöne neue Welt, in der Kinder in wundervoller Weise gezeugt werden, ist mit der Technologie der PID nicht umsetzbar. Schon deshalb gibt es eine Begrenzung. Wir haben heute viele Argumente zu diesem Thema gehört. Mir ist wichtig, eine weitere Frage in den Mittelpunkt zu stellen: Ist es die Aufgabe des Deutschen Bundestages, diese Gewissensentscheidung für die Bevölkerung insgesamt zu treffen, oder steht hier eine individuelle Gewissensentscheidung im Vordergrund? (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause - Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es ist ein Recht, ein Lebensrecht!) Ich sage: Es ist eine individuelle Gewissensentscheidung. Sie korrespondiert mit dem bestehenden Abtreibungsrecht. Eine Fristenregelung, die Ärzte in die Verantwortung bringt, über Studien Erkenntnisse zur Lebenserwartung zu ermitteln, die quasi rechtsetzenden Charakter erhalten, halte ich für falsch. Deshalb ist eine Einjahresfrist nicht geeignet. Vielmehr muss es, selbstverständlich auf der Grundlage von Leitlinien der Ärztekammer, zu einer individuellen Beratung, einem individuellen Gespräch und einer individuellen Gewissensentscheidung kommen. Deshalb bitte ich um Zustimmung zum Gesetzentwurf von Frau Flach und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Elke Ferner hat das Wort. Elke Ferner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auch wenn man wie ich für ein sehr weit gehendes Selbstbestimmungsrecht der Frau ist - da geht es mir ganz ähnlich wie Biggi Bender -, kann man für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik eintreten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Es wurde auf die Praxis in anderen Ländern und die sicherlich unbestreitbar schwierige Situation der Frauen verwiesen, die bereits mehrere Fehlgeburten hatten und sich trotz ihrer eigenen genetischen Disposition oder der des Partners ein gesundes Kind wünschen. Die PID ist aber nur scheinbar geeignet, dieses individuelle Leid zu vermeiden. Durch die In-vitro-Befruchtung besteht die Möglichkeit, die künstlich erzeugten Embryonen zuerst auf mögliche genetische Schäden zu untersuchen, um dann der Frau nur gesunde Embryonen zu implantieren. Die Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik ist die In-vitro-Befruchtung. Die Indikation hierfür ist zumindest bisher die Unfruchtbarkeit der Frau, in besonderen, eingeschränkten Fällen auch die Unfruchtbarkeit des Mannes; die genetische Disposition müsste erst hinzutreten. Die nächste Frage, die zu beantworten ist: Käme diese Methode dann für alle Frauen mit einer entsprechenden genetischen Disposition in Betracht? Das ist nicht der Fall; denn unverheiratete Frauen haben derzeit, zumindest wenn sie in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, keinen Zugang zur In-vitro-Befruchtung. (Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn man die Präimplantationsdiagnostik befürwortet, darf man aus meiner Sicht keinen Unterschied machen zwischen Frauen, die verheiratet sind, und Frauen, die nicht verheiratet sind; (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leid von unverheirateten Frauen, ihr Kinderwunsch und ihr Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, sind doch nicht dadurch geringer, dass sie keinen Trauschein haben. Das Nächste, was man sich fragen muss: Was passiert denn, wenn die drei Versuche, die bisher von den Kassen bezahlt werden, ausgeschöpft sind, ohne dass es zu einer Schwangerschaft oder einem Kind, das gesund geboren worden ist, gekommen ist? Was ist denn mit den Paaren, die nicht den entsprechenden finanziellen Hintergrund haben? Auch die werden die PID nicht in Anspruch nehmen können. Die Behandlung - das ist eben schon gesagt worden - ist für die Frauen eine sehr, sehr große psychische und physische Belastung, und sie ist auch nicht frei von Komplikationen. Wie einer Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses zu entnehmen ist, haben Kinder, die mit der In-vitro-Befruchtung gezeugt werden, statistisch ein signifikant höheres Fehlbildungsrisiko als Kinder, die auf normalem Wege gezeugt worden sind. Insofern, glaube ich, ist das auch ein Punkt, der zu dieser Debatte gehört. Die Frage ist aber auch: Wie wird es weitergehen? Ich bin der festen Überzeugung, dass Paare mit einer entsprechenden genetischen Disposition genauso wie Frauen, die heute ein gewisses Lebensalter überschritten haben, dann quasi mehr oder weniger in die PID hineingedrängt werden, so wie Frauen, die älter als 30 sind, heute in vielen Fällen in die Pränataldiagnostik hineingedrängt werden, ob sie das nun wollen nicht. (Zuruf von der FDP: Quatsch!) Eines sage ich Ihnen auch voraus: Schon allein aus Gründen des Haftungsrechts bei den Ärzten wird nach der PID, wenn es zu einer Schwangerschaft gekommen ist, die PND als Kontrollmethode, als Kontrolldiagnose weiterhin stattfinden. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Eben!) Insofern werden mit dieser Diagnostik auch keine Spätabbrüche vermieden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb sollten diejenigen, die das befürworten, sich noch einmal überlegen, was da passiert. Nicht alle Frauen in Deutschland werden den Zugang zu der Diagnostik haben, also zum Beispiel Nichtverheiratete, Frauen, die drei Versuche ausgeschöpft haben. Nicht alle Behinderungen können ausgeschlossen werden, nicht alle sogenannten Spätabbrüche vermieden werden. Der Tourismus wird nicht ausgeschlossen werden können, und es ist auch keine selbstbestimmte Entscheidung der Frau. Es ist keine selbstbestimmte Entscheidung, wenn am Ende eine Kommission darüber entscheidet, ob eine Frau diese Diagnostik in Anspruch nehmen darf. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Nicht die Frau entscheidet darüber, sondern eine Kommission entscheidet darüber, unter welchen Bedingungen die Diagnostik angewandt werden darf. Das viel Schwierigere aus meiner Sicht sind Fragen wie: Wie stehen wir zu Menschen mit Behinderung in unserem Land? Das ist für mich am Ende der ausschlaggebende Punkt. Ich sage: Zu der Vielfalt in unserer Gesellschaft gehört eben auch menschliches Leid. Es gehören auch Menschen mit Behinderung dazu. Ich möchte nicht, dass sich Eltern, die sich bewusst für ein Kind mit Behinderung entscheiden, dafür rechtfertigen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Ich möchte nicht, dass Menschen mit Behinderung, die Teil unserer Gesellschaft sein wollen oder es sind, oder ihre Eltern sich rechtfertigen müssen und ihnen vorgehalten wird, dass das alles unter Anwendung der PID nicht hätte sein müssen. Das gehört mit dazu, auch wenn damit menschliches Leid verbunden ist. Das gehört aus meiner Sicht zur Vielfalt unserer Gesellschaft dazu. Wir sind keine perfekte Gesellschaft. Ich finde, wir sollten auch nicht eine Gesellschaft wollen, die nur aus perfekten Menschen besteht. Schönen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. (Beifall bei der FDP) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Fast am Ende der Debatte scheinen zur Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik fast alle Argumente vorgetragen zu sein. Ich stehe hier auch, um den Antrag von Frau Flach und vielen anderen zu unterstützen. Fasst man die Vielfalt der Meinungen zusammen, mag man dem Deutschen Ethikrat in seiner einhelligen Feststellung zustimmen, dass der verfassungsrechtliche Status des Embryos in vitro, auf den es bei der Problematik der PID ankommt, derzeit nicht streitfrei bestimmt werden kann. Oder anders ausgedrückt: Die Problematik der PID ist nicht durch Rückgriff auf einen eindeutigen verfassungsrechtlichen Status des Embryos zu klären. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD) Zu sehr ist der Diskurs zur PID und zum Rechtsstatus des Embryos in vitro von vorrechtlichen, metaphysischen, ja religiösen Festlegungen, Erwägungen und Vorstellungen durchsetzt, als dass er derzeit einem breiten gesellschaftlichen Konsens zugänglich wäre. Wenn auch nicht ganz unerwartet, so erstaunt diese Uneinigkeit insofern, als gerade wir, der deutsche Gesetzgeber, im Rahmen der letzten Neufassung des § 218 des Strafgesetzbuches den Schutzbedarf und den Schutzumfang des Embryos in vivo in einer Weise zur rechtlichen Geltung gebracht hatten, die ausweislich des entsprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit den Forderungen des Grundgesetzes in Einklang steht. Auch das 1991 und zuletzt 2001 geänderte Embryonenschutzgesetz folgt dieser offensichtlich verfassungskonformen Linie. Genau auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Juli 2010. Obgleich, wie der Bundesgerichtshof darlegt, dem Wortlaut des geltenden Rechts weder eine eindeutige Ablehnung noch eine eindeutige Billigung der PID zu entnehmen ist, schließt der Bundesgerichtshof - das möchte ich noch einmal betonen; nach meiner Ansicht zu Recht - aus der in § 3 Abs. 2 des Embryonenschutzgesetzes normierten Ausnahme vom Verbot der Geschlechterauswahl durch Verwendung ausgewählter Samenzellen, dass der Gesetzgeber sehr wohl den aus den Risiken von Erbkrankheiten resultierenden Konfliktlagen der Eltern Rechnung tragen wollte. Damals formulierten wir, der Gesetzgeber, unmissverständlich, es könne einem Ehepaar nicht zugemutet werden, sehenden Auges das Risiko einzugehen, ein krankes Kind zu bekommen, wenn künftig die Möglichkeit bestehen sollte, durch Spermienselektion ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Der urteilende Senat des Bundesgerichtshofs konnte wegen der insoweit vom Gesetzgeber schon damals getroffenen Werteentscheidung und dazu gegebenen Begründungen eben nicht annehmen, dass der Gesetzgeber, der die extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft im Embryonenschutzgesetz ohne weitere Voraussetzungen erlaubt hat, die zur Verminderung gravierender Gesundheitsrisiken geeignete PID an pluripotenten Zellen verboten hätte, wenn sie seinerzeit schon zur Verfügung gestanden hätte. Es ist ein weiterer Blick notwendig auf § 15 Abs. 1 Satz 1 des im Wesentlichen am 1. Februar 2010 in Kraft getretenen Gendiagnostikgesetzes, wonach vorgeburtliche genetische Untersuchungen während der Schwangerschaft ausdrücklich erlaubt sind. Auch daraus war der Bundesgerichtshof ein gesetzliches Verbot der PID herzuleiten nicht in der Lage; denn sonst hätte es der Gesetzgeber auch damals, 2010, ausdrücklich gesagt. Nach diesen einschlägigen Entscheidungen folgt meiner Auffassung nach, dass das der bestehenden Rechtslage zugrunde liegende Embryonenschutzkonzept und der Rechtsstatus des Embryos auf die zur Herbeiführung einer Schwangerschaft strikt begrenzte und deshalb zulässige PID übertragbar ist. Aus meiner Sicht kann ein PID-Gesetz nur den Sinn haben, auf der Basis des vom geltenden Recht umfassten Schutzkonzeptes die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen die PID rechtmäßig zur Anwendung kommen darf, zu präzisieren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD) Mein letzter Satz: Ein Verbot der PID würde die bestehende Rechtslage gravierend ändern, würde unerklärbare, höchst problematische Wertungswidersprüche im Fortpflanzungsrecht erzeugen und würde genau das tun, was der deutsche Gesetzgeber doch eigentlich als unzumutbar ausschließen wollte, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind aber heute der Gesetzgeber!) nämlich hartherzig die Augen vor dem unsäglichen Leid der Eltern zu verschließen, die dann ihren legitimen Kinderwunsch aufgeben oder nur durch künstliche Befruchtung unter dem Risiko schwerer und schwerster, zuweilen tödlicher Erbkrankheiten des Kindes erfüllen könnten. Deshalb unterstütze ich den Gesetzentwurf von Frau Flach und vielen anderen aus tiefster Überzeugung. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende einer langen und sehr ernsthaften Debatte möchte ich noch einmal ein paar zentrale Fragen aufgreifen. Erstens. Wann ist der Mensch ein Mensch? Jeder von uns, die wir hier sitzen, war einmal ein Zellhaufen, auch wenn der uns, so wie wir jetzt aussehen, völlig unähnlich ist. Aber: Wie ähnlich werde ich eigentlich als 90-jährige Greisin dem neugeborenen Säugling sein, der ich einmal war? Deshalb: Das Leben des Menschen beginnt mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daher kommt dieser ersten und frühesten Lebensphase der uneingeschränkte Schutz des Grundgesetzes zu. Zweitens. Kann PID Paaren mit genetischer Vorbelastung wirklich und sicher dabei helfen, ein gesundes Kind zu bekommen? Die Antwort lautet ganz klar: Nein. Das Verfahren hat eine sehr geringe Erfolgsquote, das haben wir schon gehört. Die sogenannte Baby-take-home-Rate beträgt 15 bis 20 Prozent; das heißt, nur jedes fünfte Paar bekommt nach dieser sehr belastenden Prozedur überhaupt ein Kind. Herr Kollege Braun, wenn Sie sagen: Überlassen wir diese Entscheidung doch dem Gewissen der Eltern - je nachdem und individuell -, dann widerspricht das zum einen der Forderung in Ihrem Antrag, eine Ethikkommission einzusetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Das heißt: entweder Ethikkommission oder individuelle Entscheidung. Zum anderen bin ich zutiefst davon überzeugt, dass es um eine grundsätzliche Angelegenheit des Lebensschutzes geht. Die gehört in dieses Haus, in dieses Parlament. Wir können uns vor dieser Verantwortung nicht drücken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Drittens. Ist die PID tatsächlich auf wenige bestimmte Fälle eingrenzbar? Meine ganz bestimmte Antwort ist auch hier: Nein. Was passiert denn, wenn der Arzt Auffälligkeiten sieht, die nicht untersucht werden sollen, wie zum Beispiel leichte Behinderungen oder leicht behandelbare Krankheiten? Die Bundesärztekammer will in ihrem jüngsten Richtlinienentwurf sogar die Untersuchung auf spätmanifestierende Krankheiten zulassen. Glauben Sie denn wirklich, dass solche Embryonen dann implantiert werden würden? Bei den Untersuchungskits gibt es derzeit den Trend zu Genchips, die nicht nur einzelne Gene, sondern ganze Gensequenzen untersuchen. Das ist nämlich deutlich kostengünstiger. Es wird keine Testkits geben, die an die individuelle genetische Situation einzelner Paare angepasst wären. Das ist schlicht zu teuer. Es werden Standardkits sein. (Beifall bei der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erst im Januar ist ein neuer Test von Kingsmore et al. publiziert worden, der sage und schreibe 448 Anlagen für Erbkrankheiten auf einmal testet. Deshalb bin ich mir ganz sicher: Wenn wir PID auch nur für wenige Einzelfälle zulassen, wird letztlich eine Tür geöffnet, die wir niemals wieder schließen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Zudem: Wie ist denn unsere Erfahrung mit engen Indikationen? In den 90er-Jahren hat der Deutsche Bundestag - auch das ist hier schon angesprochen worden - die embryopathische Indikation abgeschafft, weil Behinderung kein Grund dafür sein darf, nicht leben zu dürfen. Aber wir haben Abtreibungen bis in die späte Schwangerschaft straffrei gestellt für die wenigen Fälle, in denen der Mutter durch die Behinderung des Kindes Gefahr für Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit droht, die nur durch einen Schwangerschaftsabbruch abgewendet werden kann. Was aber ist die traurige Realität der pränatalen Diagnostik? Die Fruchtwasseruntersuchung - eine Kassenleistung, gedacht für wenige Einzelfälle - wird heute praktisch jeder schwangeren Frau ab dem 35. Lebensjahr geraten. Wir müssen davon ausgehen, dass ungefähr die Hälfte aller Kinder mit Trisomie 21, also dem Downsyndrom, abgetrieben werden. Wer kann eine ähnliche Entwicklung bei der PID ausschließen? Wer glaubt daran, dass Eltern sich dafür entscheiden, dass ein Embryo mit einem diagnostizierten weniger schwerwiegenden Chromosomendefekt implantiert wird? Ganz zu schweigen von den haftungsrechtlichen Konsequenzen, die wir in der sogenannten Kind-als-Schaden-Rechtsprechung in aller Radikalität kennengelernt haben. Deshalb: Der Staat ist durch das Grundgesetz zum Schutz des Lebens verpflichtet; danach ist unsere Gesetzgebung auszurichten. PID bedeutet immer, dass wir eine Entscheidung darüber treffen, dass Leben in seiner frühesten Form nur unter der Bedingung weitergelebt werden darf, dass es keine genetischen Auffälligkeiten aufweist. Das dürfen wir nicht zulassen. Behinderung darf niemals Grund für weniger Lebensschutz sein. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Der Verfassungsrechtler Professor Hillgruber schrieb in einem Artikel in der FAZ in der letzten Woche - ich zitiere -: Kein Mensch ist allein aufgrund seiner Existenz, mag sie noch so defizitär sein, für einen anderen Menschen unzumutbar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Genau das - das darf ich hier vielleicht zum Abschluss sagen - trifft eine Grundüberzeugung für mich als Christin. Ich glaube daran, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens von Gott angenommen ist, und zwar unabhängig davon, wie klein, wie verletzlich oder wie fehlerhaft er auch sein mag. Deshalb ist meine Entscheidung ganz klar: Gegen die PID. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat jetzt das Wort. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut 20 Jahren habe ich als Ärztin in der Beratung Paare erlebt, bei denen ein sehr hohes, genetisch bedingtes Erkrankungsrisiko für zukünftige Kinder bestand. Nicht selten hatten diese Paare bereits schwer erkrankte Kinder, oder sie mussten den Tod ihrer betroffenen Kinder erleben, und das war häufig im Schulalter der Fall. Die Eltern haben über lange Zeit das Leiden ihrer Kinder mit durchlitten. Diese Eltern befanden sich immer dann in einer außerordentlich belastenden Konfliktsituation, wenn sie sich mit dem Gedanken trugen, doch noch ein Kind haben zu wollen. Sollten sie sich auf eine erneute Schwangerschaft einlassen mit der Gefahr, dass die Mutter erneut ein Kind zur Welt bringt, das schwer erkranken wird, oder sollten sie auf eine Schwangerschaft ganz verzichten? Eine andere Möglichkeit bestand damals nicht. 1989 wurde im Ausland erstmals eine PID durchgeführt. Viele Länder haben die PID danach zugelassen. In Deutschland wurde sie als mit dem Embryonenschutzgesetz nicht vereinbar angesehen. Nun hat der Bundesgerichtshof in zwei konkreten Fällen anders entschieden und damit die Diskussion über die PID befördert. Viele Menschen erhoffen sich jetzt vom Bundestag, also von uns, eine rechtliche Regelung, die ihre belastende Situation verbessert. Die derzeitige Situation bedeutet für Paare mit einem schwerwiegenden genetischen Risiko, die sich dennoch für eine Schwangerschaft entscheiden, Folgendes: Die werdende Mutter unterzieht sich der inzwischen üblichen vorgeburtlichen Diagnostik mit der möglichen, einkalkulierten Folge eines Schwangerschaftsabbruchs, auch eines Spätabbruchs; es sei denn, das Paar geht mit einem schlechten Gewissen ins Ausland - das können nur diejenigen, die sich das leisten können -, um dort eine PID durchführen zu lassen. Beides ist meines Erachtens inhuman, weil mit der PID eine Methode zur Verfügung steht, die auch in unserem Land angewendet werden könnte und mit der das Trauma eines Schwangerschaftsabbruchs verhindert werden könnte. Dieses Trauma ist natürlich umso größer, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist. Eine Pränataldiagnostik mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch wird in unserer Gesellschaft ethisch toleriert und ist rechtlich zugelassen. Es kann einer Frau nicht zugemutet werden, bei schwerwiegender familiärer genetischer Belastung als Alternative zur PID eine Pränataldiagnostik durchführen zu lassen. Hier schließe ich mich ganz klar dem Memorandum der Bundesärztekammer zur PID vom Februar dieses Jahres an. Nun ist auch heute wieder die Sorge vorgetragen worden, mit der von uns vorgeschlagenen Begrenzung der PID sei die Tür für eine grenzenlose Ausweitung der PID geöffnet, und dies könne sogar die Gefahr bergen, in letzter Konsequenz zum Designerbaby zu führen. (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Nein! Das sagt keiner! Von Designerbaby spricht keiner!) Wir stellen heute einen Gesetzentwurf vor, der die PID unter strengen Rahmenbedingungen ermöglicht. Die PID wird nur für wenige Paare infrage kommen, auch deswegen, weil vor einer PID eine In-vitro-Fertilisation notwendig ist und keine Frau eine solche leichtfertig über sich ergehen lässt. Ich bin der Meinung, dass sich die PID auch zukünftig begrenzen und kontrollieren lässt. Natürlich sind zahlreiche wissenschaftlich-technische Entwicklungen und auch die PID zu missbrauchen. Ein möglicher Missbrauch rechtfertigt aber ihr kategorisches Verbot nicht. Vielmehr ist einem eventuellen Missbrauch der PID durch den Gesetzgeber Einhalt zu gebieten. Wir tun das dadurch, dass wir die PID in Deutschland nur in lizenzierten Zentren und nach umfassender Aufklärung und psychosozialer Beratung in eng indizierten Fällen zulassen wollen. Die PID kann sich damit - im Gegensatz zur schon erlaubten und ethisch tolerierten Pränataldiagnostik - nicht zu einem Standardverfahren der vorgeburtlichen Diagnostik entwickeln, wie es manche befürchten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/5450, 17/5452 und 17/5451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen neuen Infrastrukturkonsens - Schutz der Menschen vor Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern - Drucksache 17/5461 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eineinviertel Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Gustav Herzog für die SDP-Fraktion. Gustav Herzog (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bringe für die SPD-Fraktion den Antrag "Für einen neuen Infrastrukturkonsens - Schutz der Menschen vor Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern" ein. Ich glaube, es wäre gut - ohne das jetzt als Kritik anzubringen -, wenn an der Anzeigetafel auch der erste Teil des Titels unseres Antrags stehen würde. Ich glaube nämlich, der Infrastrukturkonsens ist die viel tiefer gehende Frage, die wir in diesem Zusammenhang beraten müssen. Ich will, auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer, sagen: Wir haben uns in den letzten Sitzungswochen schon öfter mit dem Thema Verkehrslärm beschäftigt; ich darf nur an die Debatte in der letzten Sitzungswoche zum Mittelrheintal erinnern. Dieses Thema hat bei uns also einen hohen Stellenwert. Dass meine Fraktion diesen Antrag in der Kernzeit einbringt, mit über einer Stunde Debattenzeit, zeigt, wie ich glaube, auch, welch hohen Stellenwert dieses Thema bei uns, der SPD-Fraktion, hat. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich mehr mit diesem Thema beschäftigt und sich die Zahlen anschaut, wie groß die empfundene Belastung durch Verkehrslärm für die Menschen ist, der wird feststellen: Dies ist ein flächendeckendes Thema mit großen Schwerpunkten. Über 20 Prozent der Menschen fühlen sich durch Schienenlärm erheblich beeinträchtigt. Das UBA nennt die Zahl von über 13 Millionen Menschen, die sich insbesondere im städtischen Bereich durch Straßenlärm beeinträchtigt fühlen. Allein 12 Milliarden Euro sollen durch den Straßenlärm an gesellschaftlichen, insbesondere gesundheitlichen Schäden entstehen. Das ist also ein Thema ersten Ranges. Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Frage der Mobilität und der Belastungen, die daraus erwachsen, nicht mehr nur eine Frage der Technik im Hinblick auf Fahrweg und Fahrzeug oder einfach nur eine Frage von Grenzwerten, sondern auch eine existenzielle Frage der Lebensqualität und der Gesundheit. Die rheinland-pfälzische Messstation im Mittelrheintal, in Oberwesel, hat für September 2010 folgende Werte ermittelt: über 50 Fahrten von Güterzügen in der Nacht, ein Mittelungspegel von 75 Dezibel (A) und in der Spitze ein Pegel von über 103 Dezibel (A). Ich habe mir die Lärmkartierung des EBA ausgedruckt. (Der Redner hält ein Schaubild hoch) Wie Sie wissen, habe ich die Farbe Rot sehr gern. Aber in diesem Falle bedeutet sie für die Menschen wirklich eine Riesenbelastung. Sie werden jede Nacht durch Lärm und Erschütterungen gestört. (Beifall bei der SPD) Ich komme auf den Begriff "Infrastrukturkonsens" zurück. Was heißt es denn, wenn die Menschen sagen: "Wir sind zwar für die Schiene, wir wollen auch Auto fahren; aber wir wollen keine Trasse, sondern ein Nachtfahrverbot"? Es stellt sich die Frage: Wie schaffen wir hier einen neuen Konsens, der notwendig ist, weil wir in unserer arbeitsteiligen Industriegesellschaft in hohem Maße darauf angewiesen sind, dass Personen und Güter transportiert werden, dass Energie- und Datenströme fließen? Dabei macht uns insbesondere der Güterverkehr Sorgen. Gegenüber Prognosen bin ich sehr skeptisch. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Verflechtungsprognose 2025, weil sie davon ausgeht: Der Energiepreis wird sich nicht erhöhen. Wir werden in den nächsten 15 Jahren alle Projekte des vordringlichen Bedarfs realisieren. - Das sind eher Spekulationen als Prognosen. Trotzdem: Sollen wir vor die Menschen im Mittelrheintal und in anderen hochbelasteten Brennpunkten treten und ihnen sagen: "Das, was ihr heute erleiden müsst, ist nur ein Teil dessen, was in den nächsten Jahren auf euch zukommt"? Ich glaube, dies macht deutlich, wie wichtig es ist, dass wir einen neuen Konsens für die Planung, den Bau und den Betrieb von Infrastruktur herbeiführen. (Beifall bei der SPD) Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich erlebe in meinem Wahlkreis, dass die Leute selbst bei kleinen Bauvorhaben wie dem Bau einer Biogasanlage anfangen, zu berechnen, wie viele zusätzliche Traktoren im Fall der Realisierung des Vorhabens durch die Gemeinde fahren würden, mit dem Ergebnis, dass sie eine Anlage, die eigentlich alle wollen, aus diesem Grund ablehnen. Wir erleben ein ähnliches Phänomen auch im Rheintal. Die Menschen dort sind für den Gütertransport. Aber sie wollen ihn nicht in der Form, in der wir ihn in den letzten Jahrzehnten organisiert haben. Ich glaube, unsere Herausforderung besteht darin, neue Konzepte, einen neuen Konsens bei der Infrastruktur zu organisieren. Wir sollten auch einmal daran denken, welche Kosten es verursacht, wenn wir in diesem Bereich nicht vorankommen. Wir müssen die Beteiligungsrechte der Menschen verbessern; denn es wird nicht - wie aus den Reihen der Koalitionsfraktionen zu hören ist - reichen, Beschleunigungsgesetze zu machen und pro forma die Bürgerbeteiligung auszuweiten. Wir müssen die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes bei der Absicht, der Planung, dem Bau und dem Betrieb mitnehmen. Nur dann haben wir eine Chance, dass es nicht zu Aufständen in diesem Land kommt. (Beifall bei der SPD) Dabei haben wir schon viel geleistet. Ich blicke sowohl auf die rot-grüne Regierung als auch auf das zurück, was wir in der Großen Koalition gemacht haben. Ich blicke aber auch auf das zurück, was Sie im letzten Jahr geleistet haben, und zitiere aus dem Investitionsbericht der Bundesregierung: Im Lärmschutz bei den Bundesfernstraßen sind im Jahr 2009 133 Millionen Euro auf dem Gebiet der Vorsorge und 43 Millionen Euro bei der Sanierung verbaut worden. - Bei den Schienenwegen haben wir 1999, um es einmal deutlich zu sagen, mit der Lärmsanierung angefangen. Davon betroffen waren 550 Ortsdurchfahrten, 800 Kilometer Streckenlänge, 280 Ki-lometer Schallschutzwände und über 40 000 Wohnungen. Trotzdem, Kolleginnen und Kollegen, empfinden die Menschen immer noch: Es ist mehr geworden, es ist schlimmer geworden. All das viele Geld - ich bemerke das nur am Rande -, das in hohem Maße in Planung und nicht in wirksamen Lärmschutz geflossen ist, hat wohl nicht gereicht. Deswegen müssen wir verstärkt und engagiert da herangehen. Mich würde deswegen zum Beispiel, Herr Bundesminister, auch interessieren, wann Sie die Aktualisierung der Gesamtkonzeption zur Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen vorlegen wollen. So haben Sie es im Investitionsbericht geschrieben. Wird diese neue Gesamtkonzeption dieses Jahr kommen? Können wir damit zu den Menschen an den Schienenwegen gehen? Ich glaube, es gibt eine Reihe von weiteren Punkten, wo wir gemeinsam anpacken können, beispielsweise bei der Lärmwirkungsforschung, die uns das Handwerkszeug geliefert hat, den Schienenbonus abzuschaffen. Und es gibt eine Reihe von technischen Fortschritten, die wir umsetzen müssen. In der letzten Sitzungswoche hatte ich die gute Gelegenheit, bei der Havelländischen Eisenbahn zu erleben, wie eine richtig große, schwere Lokomotive, die bei der Anschaffung etwa 2 bis 3,5 Millionen Euro kostet, für ganze 40 000 Euro von einer lauten, dröhnenden Maschine zu einer leisen Lokomotive umgebaut wurde, die die neuesten europäischen Lärmanforderungen erfüllt. Solche Dinge müssen wir mit Nachdruck verfolgen und den Betreibern mit auf den Weg geben. Da reicht es nicht, wenn Staatssekretär Scheurle mit dem LL-Zug durch die Republik unterwegs ist und die Leute auf 2012 und später vertröstet. Das muss alles viel früher passieren. (Beifall bei der SPD) Ich will noch einmal das Thema Schienenbonus ansprechen; denn in allem, was Sie bisher gesagt haben, kommt immer wieder vor, dass Sie die Abschaffung schrittweise einführen wollen. Auch in der Ausschussberatung ist gesagt worden, dass es insbesondere um finanzielle Gründe geht. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Wir wollen ihn abschaffen!) Überlegen Sie einmal, was es heißt, wenn wir eine Strecke planen, sie in verschiedene Abschnitte einteilen und Sie dann den Schienenbonus schrittweise abschaffen. Wir haben dann drei oder vier verschiedene Werte. Wie wollen Sie das den Menschen vermitteln? Deswegen nehmen Sie einmal ein bisschen Mut und Kraft zusammen und sagen Sie: Wir setzen ein Datum und schaffen ihn auf einmal ab. Ich glaube, das wäre das richtige Signal, das wir gemeinsam zu den Menschen senden könnten. (Beifall bei der SPD) Es wäre sicherlich hilfreich für die ganze Debatte, wenn Sie - vielleicht können Sie das auch schon in dieser Aussprache leisten - jetzt präzisieren würden, wann denn endlich der lärmabhängige Trassenpreis kommt. (Zuruf von der CDU/CSU: Im nächsten Jahr!) Nach der Antwort des Staatssekretärs Scheuer in der letzten Fragestunde und nach Informationen der DB Netz wird er für 2012 der Bundesnetzagentur vorgelegt. Herr Minister, vielleicht sagen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen in der Koalition einmal ein festes Datum. Sie können sich dann hier hinstellen und sagen: Wir garantieren, dass es zu diesem bestimmten Zeitpunkt kommen wird. Ich glaube, das wäre ein gutes Signal für die Menschen. Geben Sie sich einen Ruck! Helfen Sie mit, dass unsere Botschaft für die Mobilität der Zukunft heißt: So leise wie möglich und maximal so laut, wie wir es erlauben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Ludwig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Bravo!) Daniela Ludwig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind uns in einem in diesem Haus einig: Mobilität ist uns allen wichtig und gehört untrennbar zu unser aller alltäglichem Leben, sowohl privat wie auch bei der Arbeit. Sie umfasst sowohl die Fortbewegung zu Fuß und per Rad - hier müssen wir uns über Lärm jetzt nicht allzu viele Gedanken machen - als auch natürlich den Schiffsverkehr genauso wie das Auto, die Bahn, von der Sie jetzt hauptsächlich gesprochen haben, und das Flugzeug. Für dieses allzu natürliche Bedürfnis der Menschen brauchen wir eine Infrastruktur, die es vorzuhalten gilt. Dieser Vorhalt wird von uns auch berechtigterweise erwartet. Es gilt, diese Infrastruktur da, wo es notwendig ist, auszubauen, zu verbessern oder eben auch neu zu erstellen. Dies alles muss immer unter der Prämisse geschehen, dass dabei auch andere wichtige Aspekte berücksichtigt werden. Der Schutz der Umwelt ist dabei nur ein Thema; es geht eben auch um den Lärm und den Schutz vor Lärm, was wir heute debattieren. Auch das hat natürlich mit der Gesundheit des Menschen zu tun. Herr Kollege, Sie haben durchaus richtig ausgeführt, wie subjektiv Lärm empfunden wird und welche gesundheitlichen Auswirkungen er unbestritten hat. Ich glaube, in diesem Haus herrscht auch kein Dissens darüber. Wir müssen eben versuchen, bei jedem Projekt immer wieder von neuem die Notwendigkeit der Mobilität und der Erschließung all unserer Regionen mit dem Schutz vor Lärm zusammenbringen. Natürlich ist klar: Je höher der Lärmschutz, je höherwertiger und besser er ist, umso stärker ist die Akzeptanz für die Sanierung alter oder bestehender Projekte und umso stärker ist auch die Akzeptanz für neue Projekte. Ich kann Ihnen eines sagen - das haben Sie schon erwähnt -: Hier ist in der Großen Koalition einiges vorangegangen, und ich glaube, wir haben auch im Ausschuss durchaus überzeugend darüber gesprochen, dass auch von der jetzigen Bundesregierung bei diesem Thema einiges getan wird. Ich verstehe natürlich, dass man immer noch sehr viel mehr fordern kann und dass man sich immer noch sehr viel mehr wünschen kann. Wir haben uns nun vorerst einmal zum Ziel gesetzt, das Nationale Verkehrslärmschutzpaket II weiterzuführen, das auf dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket aus dem Jahr 2007 aufbaut. Darin werden laufende und neue Maßnahmen zur Vermeidung von und zum Schutz vor Verkehrslärm gebündelt und weitere Maßnahmen aus unserem Koalitionsvertrag mit unserem Partner aufgeführt. Es geht hier zum Beispiel um die lärmabhängigen Trassenpreise - das ist ein ganz, ganz wichtiges Thema bei der Bahn - genauso wie um die Revision der entsprechenden dazugehörigen EU-Richtlinie für ein solches Trassenpreissystem. Dieses Nationale Verkehrslärmschutzpaket II enthält erstmals auch quantitative Lärmminderungsziele und nicht nur hehre Ankündigungen. So soll die Belästigung durch Verkehrslärm bezogen auf Lärmbrennpunkte in besiedelten Bereichen bis 2020 im Vergleich zu 2008 deutlich abnehmen. Hierbei hat man sich sehr hohe Ziele gesetzt: Beim Lärm im Flugverkehr, der bei Ihnen anscheinend gar nicht vorkommt (Gustav Herzog [SPD]: Was?) - das finde ich in Ihrem Antrag nirgends -, wollen wir eine Reduzierung um 20 Prozent, im Straßenverkehr und in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent und im Schienenverkehr um 50 Prozent. Die Umsetzung genau dieser Ziele befindet sich auf einem exzellenten Weg. Ich bedanke mich hier ausdrücklich bei unserem Haus, bei unserem Verkehrsminister und beim Koalitionspartner. Ich glaube, wir ziehen hier sehr erfolgreich an einem Strang. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wünsche kann man gut aufschreiben, Ihr Papier und Ihr Antrag sind auch geduldig, finanziert werden muss das aber halt auch. Hier befinden wir uns sicherlich an einem sensiblen Punkt, zu dem ich später noch komme. Konkret zum Lärmschutz an der Schiene. Wir kennen das alle: Aus einem freiwilligen Programm des Bundes stehen jährlich 100 Millionen Euro für die Lärmsanierung zur Verfügung. Diese Mittel wollen wir zumindest konstant halten. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt. Im Rahmen des Konjunkturpakets II wurden weitere innovative Maßnahmen auf den Weg gebracht, um Lärmreduzierung zu erproben und neue Wege zu beschreiten. Hierfür stehen ebenfalls 100 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Die neuen Techniken sollen unser Maßnahmenportfolio zum Lärmschutz erweitern. Hierfür sind bundesweit 91 Einzelmaßnahmen verortet worden. Die Nutzung innovativer Techniken und die Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems als weitere Mittel zur Lärmreduzierung wurden bereits erwähnt. Wir wollen damit den Wagenhaltern den Anreiz bieten, ihre Bestandsgüterwagen möglichst schnell auf lärmmindernde Beläge umzurüsten. Wir setzen auch weiterhin auf unser Pilot- und Innovationsprogramm "Leiser Güterverkehr". Ich glaube, hier geht einiges. Wir müssen uns auch auf europäischer Ebene - denn Verkehr ist immer international - für die entsprechenden analogen Maßnahmen einsetzen. Aber wir gehen mit gutem Beispiel voran. Sie fordern in Ihrem Antrag völlig zu Recht die Abschaffung des Schienenbonus. Darin sind wir uns einig. Selbstverständlich wollen auch wir die Abschaffung des Schienenbonus; denn Schienenlärm ist nicht besser als anderer Lärm und rechtfertigt deswegen keine andere und privilegiertere Behandlung. Wir sagen aber: Das muss wohlüberlegt sein. Eine Abschaffung von heute auf morgen ist nach unserer Einschätzung nicht möglich. Wir müssen darauf achten, in welchem Projektstadium wir den Schnitt machen. Wir müssen uns auch fragen, wie sich das auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei künftigen Projekten auswirkt. Das will wohlüberlegt und gut durchgerechnet sein. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wie lange brauchen Sie dafür?) - Wenn wir hier einen Schnellschuss machen, lieber Herr Beckmeyer, nutzt das weder den Bürgern, die von Lärm geplagt sind, noch uns, wenn wir darauf setzen, immer mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Hier müssen wir glaubwürdig bleiben - deswegen an dieser Stelle keine ruckartigen Schnellschüsse, sondern wohlüberlegtes Vorgehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Beim Straßenlärm gelingt uns derzeit Ähnliches. Mir ist es sehr wichtig, dass wir auch auf diese Lärmquelle eingehen. Es gibt schließlich nicht nur die Schiene als Lärmerzeuger, sondern auch die Straße. Die Bundesregierung hat die Mittel für die Lärmsanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen verdoppelt und somit eine Steigerung der Ausgaben im Jahr 2010 auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Ich denke, das ist ein richtiger Weg. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Ludwig, der Kollege Hartmann hat sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Daniela Ludwig (CDU/CSU): Ich würde gerne weitermachen. - Wir greifen dabei in der Regel auf aktive und passive Lärmschutzmaßnahmen zurück. Sie kennen das alles. Es funktioniert in der Praxis durchaus gut. Für einen ausgesprochen wichtigen Schritt - darauf können wir ein Stück weit stolz sein - halte ich, dass wir die sogenannten Auslösewerte für die Lärmsanierung im letzten Jahr um 3 dB(A) gesenkt haben. Das wirkt sich bei jedem direkt persönlich aus, der an einer Bundesstraße wohnt. (Gustav Herzog [SPD]: Aber nur, wenn Sie investieren! Bislang ist es nur Papier!) - Bislang ist es nur Papier? Das gilt eher für Ihren Antrag als für unser Handeln. Aber ich komme noch darauf zu sprechen, keine Sorge. - Die Absenkung um 3 dB(A) merkt jeder, der an einer Straße wohnt, direkt und höchstpersönlich. Auf den öffentlichen Personennahverkehr und Ähnliches will ich nicht weiter eingehen. Das geht auch Ihrem Antrag leider ein Stück weit ab. Wir sind bereit, mit dem Bundesverkehrsministerium neue Wege zu gehen, insbesondere was den Einsatz von Photovoltaik in Kombination mit Lärmschutzanlagen an Bundesstraßen angeht. Hier bringen wir zwei hehre Ziele zusammen: Ökologie und die Gesundheit der Menschen mit dem Schutz vor Lärm. Jetzt komme ich zu den Punkten, die mich an Ihrem Antrag stören. Sie haben gerade gesagt, das alles sei bislang nur Papier. Das gilt, wie gesagt, überwiegend für Ihren Antrag. Fluglärm kommt bei Ihnen nicht. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wer will denn das Nachtflugverbot fallen lassen? Was machen Sie denn gegen Fluglärm?) Die SPD sieht also nur Schutz gegen Straßenlärm und Schienenlärm vor. Fluglärm kommt nicht vor. Wie gestalten Sie denn in diesem Punkt Ihren sogenannten neuen Infrastrukturkonsens aus? Diese Frage müssen Sie erst einmal beantworten, wenn Sie einen Antrag vorlegen. Des Weiteren: Papier ist geduldig. Sie können wünschen, fordern, anprangern und dieses oder jedes wollen. Es gibt aber auch die Frage der Finanzierbarkeit. Die hat die Sozialdemokraten bisher immer am allerwenigsten interessiert. (Gustav Herzog [SPD]: Sie haben 1 Milliarde Euro für die Hoteliers zum Fenster hinausgeworfen!) Zur Finanzierung Ihrer wunderbaren Wünsche und Vorschläge schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts, aber auch gar nichts. Sie machen keinerlei Vorschläge zur alternativen Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur. Sie halten schöne Sonntagsreden darüber, dass wir die Menschen vor Lärm schützen wollen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Dann machen Sie doch etwas! Sie sind doch in der Regierung!) Dafür muss ich keinen fünfseitigen Forderungskatalog aufstellen. Es ist selbstverständlich, dass die Menschen vor Lärm geschützt werden sollen. Ich muss aber die Frage beantworten, wie das zu finanzieren ist. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das Netz finanziert sich selber!) Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf, bei Ihnen offensichtlich auch die guten Ideen. Das finde ich brutal schwach. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sie sind doch in der Regierung! Warum machen Sie es nicht?) - Sie waren es auch schon lange genug. Wer sich als verantwortungsvolle Oppositionspartei begreift, macht sich nicht so leicht vom Acker, indem er nur gute Wünsche und schöne Worte äußert; (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wir haben damals 100 Millionen Euro eingesetzt!) er stellt sich vielmehr seiner politischen Verantwortung und beantwortet die Frage nach der Finanzierbarkeit gleich mit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wenn Sie sie nicht beantworten können, was ich aus Ihrem Antrag schließe, dann - das tut mir leid für Sie - ist der Antrag nicht das Papier wert, auf dem er steht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Herbert Behrens erhält das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Herbert Behrens (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lärm nervt uns, Lärm stört, Lärm macht aber auch krank. Das wissen wir. Wir müssen alles tun, damit das vermieden wird, wo immer es geht. Die SPD-Fraktion fordert einen neuen Infrastrukturkonsens, damit die Lärmbelästigung sinkt. Das ist ein gutes Unterfangen. Aber gleich vorne im Antrag kapituliert sie schon ein Stück: "In den nächsten Jahren werden die Verkehre in Deutschland massiv zunehmen", heißt es gleich zu Beginn. Wenn wir das so akzeptieren, dann haben wir, wie ich meine, schon verloren. (Beifall bei der LINKEN) Wir kommen doch wohl nur weiter, wenn wir auch das Verkehrswachstum infrage stellen. Das gehört in einen solchen Antrag hinein. Lastwagen dürfen nicht mehr die rollenden Lager der großen Industrie sein; der Klimawandel muss der Maßstab für unsere Verkehrspolitik werden. (Beifall bei der LINKEN - Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Jetzt kommen endlich die Parolen!) Ja, das wird sicherlich manchem wehtun. Das wissen wir. Aber ich bleibe dabei: Lärmvermeidung ist Verkehrsvermeidung. Für mich muss das der Grundgedanke eines Antrags sein, der so weitgehend ist wie der der SPD. Um das Ziel "Weniger Lärm durch weniger Verkehr" zu erreichen, müssen wir allerdings schon heute handeln. Das ist klar. (Judith Skudelny [FDP]: Autos abschaffen?) Deshalb brauchen wir mehr Geld für den Lärmschutz im Schienenverkehr. Wir wollen die Einbeziehung der Bevölkerung in die Planung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte. Wir brauchen Beteiligung auch bei der Stadtplanung. Es gibt viele Maßnahmen, die wir schon heute umsetzen können. In der Umgebungslärmrichtlinie der Europäischen Union werden beispielsweise Aktionspläne gegen den Lärm gefordert. Würden wir diese Forderung ernst nehmen und umsetzen, dann könnte Lärm schon heute effektiv bekämpft werden, und zwar überall in Deutschland. (Beifall bei der LINKEN) In Darmstadt zum Beispiel gibt es eine Lärmminderungsplanung und eine Lärmaktionsplanung für den Bezirk einschließlich der Ballungsräume Frankfurt und Wiesbaden. Bei der Erarbeitung der Planungen war die Bevölkerung maßgeblich beteiligt. Sie arbeitete an den Lärmkarten mit und machte viele Vorschläge, wie der Lärm in ihrer Stadt vermieden werden kann. Viele Vorschläge von dieser Seite sind nicht grundlegend neu: Es geht um Tempolimit, um Verkehrsverlagerung, um Nachtfahrtverbot für Lkws oder Durchfahrtsverbote. Aber die Bevölkerung will wirksame Maßnahmen, die ihr Lärm und Dreck vom Halse halten. Es werden auch viele Vorschläge gemacht, wie man das mit baulichen Maßnahmen erreichen kann. Bürgerinnen und Bürger wissen am besten, was bei ihnen um die Ecke los ist, wo es Handlungsbedarf gibt und wo etwas verändert werden muss. Das müssen wir ernst nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Bürgerideen kosten Geld. Die Kommunen sind gefragt, wenn sie die Baulast haben und für die Finanzierung zuständig sind. Aber ihnen sind die Hände gebunden, wenn Schuldenbremse und Finanznot um sich greifen. So werden viele gute Vorschläge vom Tisch gefegt. Fest steht: Zukunftsinvestitionen lassen sich nicht aus laufenden Einnahmen finanzieren; für sie braucht man einen besonderen Topf. Bürgerideen können dann nicht umgesetzt werden, wenn die Schuldenbremse droht. Was würde passieren, wenn Bürgerideen nicht mehr nachgefragt werden? Dann melden sich die Bürger nicht mehr zu Wort; denn sie wissen: Solange kein Geld da ist, um ihre Pläne zu verwirklichen, laufen sie vor die Finanzwand, die aufgestellt worden ist. Es beschädigt die Demokratie, wenn wir Bürgerinnen und Bürger vor diese Wand laufen lassen. Das können wir nicht zulassen. (Beifall bei der LINKEN) Wo liegt die Verantwortung auf der Bundesebene? Die Linke fordert: Vorrang für die Bahn! Dieser Vorrang wird aber nur akzeptiert, wenn der zusätzliche Verkehr nicht zu zusätzlichem Lärm führt. Deshalb brauchen wir aus meiner Sicht viel mehr Geld für das Verkehrssystem Schiene. Die Trassenpreise für leise Züge müssen günstiger werden - das wurde schon angesprochen -; (Werner Simmling [FDP]: Wer zahlt das?) sie müssen günstiger sein als für laute. Die Waggons müssen zügig umgerüstet werden. Dazu ist es unter Umständen nötig, ein effektiveres Förderprogramm auf den Weg zu bringen, als wir es jetzt haben. (Beifall bei der LINKEN - Werner Simmling [FDP]: Wer bezahlt das wiederum?) Beim Straßenverkehr muss die unsinnige Trennung zwischen dem Lärmschutz bei Neubaustrecken und dem bei bestehenden Straßen aufgehoben werden. Heute gelten für Neubaustrecken höhere Anforderungen als für Straßen im Bestand. Das geht nicht. Viele Forderungen im SPD-Antrag sind nicht neu. Im Gegenteil, sie sind uns seit Jahren bekannt. Für den Erfolg eines neuen Infrastrukturkonsenses brauchen wir eigentlich einen Konsens bei der Finanzierung. Verantwortlich dafür ist die Bundesregierung - ohne Wenn und Aber. (Beifall bei der LINKEN) Aber das wird nur schwer erreichbar sein, solange beispielsweise die FDP alles der Regulierung des freien Marktes überlassen will. Das geht so nicht. (Patrick Döring [FDP]: Der Schienenmarkt ist ein regulierter Markt!) Die CDU widerspricht an der Stelle auch nicht laut und eindeutig. Die Linke dagegen sagt: Verkehr vermeiden, einschränken, umlenken. Wir brauchen mehr Geld für den sozial-ökologischen Umbau des Verkehrssystems. (Beifall bei der LINKEN) Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, und nicht die Interessen derjenigen, die auf Teufel komm raus die Gewinne einstreichen wollen. Das wird Streit geben. Wir werden wie immer Widerstand von denen erfahren, die den Nutzen für sich haben und die Belastung auf die Gesellschaft abwälzen wollen. Das wissen wir doch alle. So stehen wir auf jeden Fall immer eng an der Seite von Bürgerinitiativen, die mit ihren Kenntnissen und ihrem Know-how in die Planung eingreifen wollen und am besten wissen, wie man Lärm in der Zukunft vermeiden kann. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Werner Simmling hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Werner Simmling (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Behrens, bei allem Respekt: Mit den Verboten, die Sie hier genannt haben, lösen wir das Problem sicher nicht. Dafür ist es einfach zu ernst. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) "Herzinfarkt durch Verkehrsinfarkt" - zu diesem Schluss kommt Auto Bild in einem Artikel, in dem aus einer aktuellen Studie der WHO zum Verkehrslärm zitiert wird. Daran sehen Sie den Ernst des Themas. Verkehrslärm ist nämlich rechnerisch für 50 000 Herzinfarkte in Europa verantwortlich. Das ist in der Tat alarmierend. Es muss unser aller Ziel sein, den Verkehrsinfarkt und damit den Herzinfarkt zu verhindern. Dies erreichen wir nur mit dem gezielten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, und nicht mit einer Infragestellung, wie Sie sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem Antrag formulieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Gustav Herzog [SPD]: Dann haben Sie etwas anderes gelesen!) Es ist doch in Wirklichkeit so, dass wir durch eine intelligente Verkehrsinfrastruktur Verkehrslärm vermindern. Nehmen Sie doch zum Beispiel Ortsumfahrungen: Gerade der Bau von Ortsumgehungsstraßen schafft eine Entlastung von Verkehrslärm, von Abgasemissionen und von Verkehrsunfällen. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der verschiebt ihn nur!) - Nein. - Ortsumgehungen machen viele Ortschaften erst wieder bewohnbar. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Gleiche gilt für die Schiene. Hier ist exemplarisch die Rheintalbahn zu nennen. Wir wollen die Güterverkehrstrassen weitestgehend aus den Ortschaften herausnehmen und dadurch eine wirksame Lärmreduzierung erreichen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, den Lärmschutz zu verbessern und auszuweiten. Diese Absicht ist auch von der Erkenntnis geleitet, dass die Akzeptanz für einen weiteren und notwendigen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zur Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse entscheidend davon abhängt. Wir haben die entsprechenden Maßnahmen im Koalitionsvertrag festgelegt, die Sie alle kennen und die ich jetzt nicht zu wiederholen brauche. Zum Stichwort Schienenlärm bzw. Schienenbonus: Wir sind in den vergangenen Wochen in dieser Frage einen entscheidenden Schritt weitergekommen. So haben wir am 18. März 2011 in unserem Antrag zum anwohnerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn die Bundesregierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Abschaffung des Schienenbonus zügig vorzulegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Gustav Herzog [SPD]: Und wann kommt er?) Das BMVBS hat die Prüfung und Überarbeitung der rechtlichen Regelungen zum Schienenbonus auf Arbeitsebene bereits aufgenommen. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Die nehmen Sie doch gar nicht ernst! - Florian Pronold [SPD]: Wann sind Sie so weit? 2015, 2016?) Eine Reduzierung des Schienenbonus setzt aber auch voraus, dass die Verkehrslärmschutzverordnung geändert wird; und diese Änderung ist im Bundesrat zustimmungspflichtig. (Patrick Döring [FDP]: Mal sehen, wie die SPD-Länder sich verhalten!) Ebenso haben wir die Einführung lärmabhängiger Trassenpreise beschlossen. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und?) Damit sind wichtige Punkte zum Schutz vor Schienenlärm, die Sie in Ihrem Antrag fordern, bereits beschlossen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Gustav Herzog [SPD]: Aber noch lange nicht umgesetzt! Bei dieser Regierung! - Gegenruf des Abg. Patrick Döring [FDP]: Ihr habt aber auch keinen Gesetzentwurf gemacht!) - Herr Herzog, eins nach dem anderen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Schienenlärmschutz nicht zum Nulltarif zu bekommen ist; das wurde schon ausgeführt. Die Erfolge werden sich auch nicht von heute auf morgen einstellen. Besonders deutlich wird dies bei der Umrüstung der Güterwagen. Hier ist in der EU von bis zu 600 000 Wagen die Rede. Stichwort Straßenlärm: Bezüglich Straßenverkehrslärm zitieren Sie im Wesentlichen aus dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II. Wie Sie wissen, hat der Parlamentarische Staatssekretär Ferlemann bereits im Januar im Ausschuss über den Stand der Umsetzung des NVLP II informiert. Viele Ihrer Forderungen sind also schon Bestandteil des Regierungshandelns oder bereits umgesetzt. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das haben die nur noch nicht gemerkt!) Herausgreifen möchte ich dabei die Mittel für Lärmsanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen; auch darauf wurde vorhin schon hingewiesen. Die Verdoppelung des Mittelansatzes für Lärmsanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen hat eine Steigerung der Ausgaben im Jahr 2010 auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Durch den Vorrang von aktiven gegenüber passiven Schutzmaßnahmen und die Senkung der Auslösewerte für die Lärmsanierung um 3 dB(A) im Jahr 2010 werden Bürgerinnen und Bürger besser als bisher vor Lärm geschützt. Zum Schluss holen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, noch eine alte Kamelle, nämlich die Forderung, Tempo-30-Zonen einzurichten, wieder aus der Schublade. Da bin ich wirklich sehr enttäuscht; denn ich hatte von Ihnen eigentlich etwas Intelligenteres erwartet. Das Tempolimit von 50 km/h in geschlossenen Ortschaften hat sich bewährt. Es gibt daher keine Notwendigkeit zu einer Änderung. Bereits heute gibt es genügend Möglichkeiten zu Ausnahmen und zur Einführung von Tempo-30-Zonen, zum Beispiel an sensiblen Stellen wie Kindergärten und Krankenhäusern. Der Spielraum für bürgernahe Lösungen ist also schon jetzt vorhanden. Durch intelligente Verkehrsleitsysteme können deutlich größere Verbesserungen für die Verkehrssicherheit und die Umwelt erzielt werden als durch ein Tempolimit von 30 km/h in Ortschaften. Das lehnen wir ab. Ihr Antrag ist also - ich möchte meine Kollegin Ludwig zitieren - nicht das Papier wert, auf dem er steht. (Gustav Herzog [SPD]: Herr Kollege, das war aber jetzt böse von Ihnen!) Ich danke Ihnen sehr herzlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nichts zu danken!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vorwurf vonseiten der Koalitionsfraktionen gegenüber der Opposition, dass der Antrag das Papier nicht wert sei, auf dem er stehe, ist natürlich wohlfeil. Es gibt eine ganz einfache Maßnahme, wie man aus den Anträgen der Opposition Handeln entstehen lassen kann: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! In diesem Fall würde gelten - der vorliegende Antrag ist auch unserer Meinung nach wirklich gut -: Stimmen Sie dem Antrag der SPD zu! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Tun Sie dies, und schon wird aus diesem Antrag, der im Moment selbstverständlich nicht viel mehr als Papier ist, Regierungshandeln. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Große Teile sind beschlossen worden!) Wenn Sie zustimmen, muss die Regierung nur noch die vom Bundestag beschlossenen Anträge umsetzen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wir sind dem Wohl des Landes verpflichtet!) Zu den Anmerkungen von Herrn Simmling, dass mit dem Verkehrsinfarkt Herzinfarkte einhergehen: Selbstverständlich ist Verkehrslärm eine große gesundheitliche Gefahr. Aber diese gesundheitliche Gefahr tritt im Straßenverkehr nicht nur auf, wenn Stau ist, sondern insbesondere auch dann, wenn mit hohen Geschwindigkeiten gefahren wird. Sie haben da also etwas missverstanden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es geht beim Schutz der Menschen vor Verkehrslärm nicht darum, möglichst viele Autobahnen und Straßen zu bauen, damit möglichst schnell gefahren werden kann, sondern darum, diejenigen, die an besonders belasteter Verkehrsinfrastruktur leben, vor Verkehrslärm zu schützen. Das ist ein großer Unterschied. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Warum ist es von großer Bedeutung, dass wir das Problem des Verkehrslärms in den Griff bekommen? Es ist einmal von ganz großer Bedeutung für die Gesundheit der Betroffenen. Das ist aber nicht nur eine Gesundheitsfrage, sondern auch - das stellt man fest, wenn man sich das in den Städten einmal in aller Ruhe anschaut - eine eminent soziale Frage. (Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!) Wer wohnt denn insbesondere an den Verkehrsinfrastrukturen und ist meist nicht nur von Lärm, sondern auch von schlechterer Luft und Feinstaubpartikeln betroffen? Selbstverständlich wohnen da die Menschen, die ein niedrigeres Einkommen haben, die sich vielleicht schlechter in Bürgerinitiativen organisieren können, weil sie keine Rechtsanwälte in ihren Reihen haben, die es nicht so gewohnt sind, zu reden und ihre Interessen durchzusetzen. Deshalb ist es auch eine soziale Frage, dafür zu sorgen, dass die negativen Auswirkungen der Mobilität begrenzt werden: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Den Nutzen der Mobilität hat unsere gesamte Gesellschaft, aber die Lasten sind eindeutig unterschiedlich verteilt. Die Lasten tragen insbesondere die Menschen, die an der Verkehrsinfrastruktur leben, und das sind insbesondere ärmere Menschen, Menschen mit niedrigerem Einkommen, die sich noch dazu in der Regel schlechter wehren können. Es gibt noch einen weiteren ganz entscheidenden Grund dafür, dass wir die Problematik des Verkehrslärms in den Griff bekommen müssen. Das betrifft insbesondere die Schiene. Warum haben wir im Moment so heftige Auseinandersetzungen über den Schienenverkehrslärm? Weil der Schienengüterverkehr eine Renaissance erlebt und eine Rückverlagerung von Verkehren auf die Schiene stattfindet. Das finden wir positiv, das schätzen wir, das begrüßen wir. Das brauchen wir aus Klimaschutzgründen, wir brauchen es aber auch, um die Chancen unseres Wirtschaftsstandorts in Zukunft zu wahren; denn die Schiene ist vom knapper und teurer werdenden Rohöl viel einfacher unabhängig zu machen als der Lkw. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das alles wird für unsere Gesellschaft aber nicht funktionieren, wenn es nicht gelingt, an den bestehenden Schienenverkehrstrassen die Lärmbelastung stark zu vermindern. Da reicht es nicht, wenn wir immer nur auf passiven Lärmschutz setzen. Da reicht es nicht, wenn wir immer nur auf höhere Lärmschutzwände setzen. (Patrick Döring [FDP]: Das tun wir auch nicht!) Es gibt inzwischen in vielen Kommunen Proteste unter dem Motto: Wenn die Wände 7 oder 8 Meter hoch sein müssen, dann verzichten wir lieber auf den passiven Lärmschutz und hoffen, dass vielleicht die Politik irgendwann handelt und das Problem an der Quelle bekämpft wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was ist dafür notwendig? Dringend notwendig ist die Umrüstung der Güterwagen. Das ist natürlich kein ganz triviales Problem; denn die Güterwagen sind international unterwegs; die Güterwagen werden ausgetauscht. Aber es gibt Ansätze, zum Beispiel den lärmabhängigen Trassenpreis, zum Beispiel die Abschaffung des Schienenbonus, zum Beispiel eine Förderung zur Einführung von lärmärmeren Bremsen. Andere Bremsen hätten auch erhebliche Vorteile für die Infrastruktur. Wie sieht hier nämlich die Situation bei der Schiene aus? Die Bremssysteme sind unendlich alt. Sie funktionieren seit bald über 100 Jahren so, dass ein Grauklotz auf den Radreifen gedrückt wird, um zu bremsen. Das verursacht nicht nur erheblichen Lärm, sondern es zerstört auch die Lauffläche des Rades. Durch kaputte Laufflächen wird wiederum die Gleisinfrastruktur zerstört. Das führt nicht nur zu weiterem Lärm, sondern das führt auch zu erheblichen Kosten für den Gleisunterhalt. Das kostet uns Geld, das uns im Bundeshaushalt dann an anderer Stelle fehlt. Wenn man da schnell und zügig umsteuern würde, würde das nicht nur den Menschen helfen, sondern mittel- und langfristig im Haushalt erhebliche Mittel für den Unterhalt des Schienennetzes freisetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Diese erheblichen Mittel benötigen wir auch; denn es muss uns gelingen, den Güterverkehr stärker von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Das muss uns nicht nur aus Umweltschutzgründen gelingen, das muss uns nicht nur aus Klimaschutzgründen gelingen, sondern daran müssen wir auch ein ureigenes Interesse haben; denn unser Wohlstand hängt ganz erheblich davon ab, dass unsere Verkehrsinfrastruktur zukünftig weiter gut funktioniert. Wir können nicht einfach darauf setzen, dass es schon irgendwie klappen wird und irgendjemand eine Idee entwickelt, wie man die Lkw auf Agrotreibstoffe oder auch auf Batteriebetrieb - manche träumen ja davon - umstellen kann. All das, sagt die Wissenschaft, mag beim Pkw, wo man vielleicht 1,5 bis 2 Tonnen bewegen muss, noch funktionieren; beim Lkw mit 40 Tonnen wird das schon weitaus komplizierter. Deshalb ist es eminent wichtig für unseren Wohlstand, dass es gelingt, die Schiene für mehr Güterverkehr zu ertüchtigen. Dass die Schiene zum Rückgrat eines modernen Güterverkehrs wird, ist für einen modernen Wirtschaftsstandort wie die Bundesrepublik dringend notwendig. Da genügt es nicht, wenn Sie sich das bloß wünschen und davon träumen. Wir haben die Bundesregierung ja schon einmal aufgefordert, das umzusetzen. So kompliziert ist die Abschaffung des Schienenbonus eigentlich nicht. Die Abschaffung dieser Privilegierung der Schiene ließe sich sehr schnell umsetzen. Es ist auch keine große intellektuelle Herausforderung, diesen Bonus zu streichen. (Patrick Döring [FDP]: Dann mach du doch den Gesetzentwurf, du Schlauschnacker!) Deswegen: Tun Sie es einfach! Sorgen Sie dafür, dass die Regierung das umsetzt! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da Sie gerade schreien, mache ich einmal einen ganz einfachen Vorschlag: Wenn Sie das in den nächsten vier Wochen nicht hinbekommen haben, dann schreiben wir Ihnen einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Schienenbonus, und Sie stimmen diesem Gesetzentwurf zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Abgemacht? - Nein. Jetzt machen Sie wieder einen Rückzieher; das kennen wir schon. (Patrick Döring [FDP]: Ich will deinen Gesetzentwurf mal sehen! Schreib du den Gesetzentwurf! Lächerlich!) Sorgen Sie dafür, dass den Ankündigungen endlich Taten folgen. Dann werden wir Sie unterstützen. Denn vergessen Sie eines nie: Sie sind die Parteien, die die Regierung stellen, und wir sind die Opposition. Wenn Sie wollen, dass unseren Worten Taten folgen, dann stimmen Sie unseren Anträgen zu. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Thomas Jarzombek hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Möglicherweise hat mich meine Fraktion heute als Redner benannt, weil ich bei diesem Thema eine gewisse Kompetenz habe. (Florian Pronold [SPD]: Sie machen Lärm, oder was?) Denn vor meinem Wohnzimmerfenster donnert die gerade aus dem Untergrund kommende Stadtbahn entlang, von meinem Schlafzimmerfenster blicke ich auf den Ausläufer einer Autobahnbrücke, und außerdem kann ich alle Starts und Landungen auf dem Düsseldorfer Flughafen von meiner Wohnung aus beobachten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Düsseldorf ist der Nabel der Welt!) Aber Ihr Antrag hat mich aufgeschreckt; das kann ich nicht anders sagen. Sie schreiben nämlich Folgendes: Lärm hat ... eine schwerwiegende soziale Komponente. Verlärmte Orte werden von wohlhabenden Bevölkerungsgruppen gemieden. Sie haben "gesundheitlich negative Auswirkungen", lösen eine "Negativspirale" aus und sind der "Nährboden für die Bildung sozialer Brennpunkte". - Mein Gott, ich kann heute Nacht nicht mehr schlafen, nachdem ich das gelesen habe! Ich scheine in einem Getto zu wohnen. (Gustav Herzog [SPD]: Nach Ihrer Rede sowieso nicht! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stand doch schon vorher fest!) Meine Damen und Herren, bereits der Anfang Ihres Antrages zeigt den ersten Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie verallgemeinern. Mein lieber Kollege Herzog, ich habe Ihnen gut zugehört. Sie haben in Ihrem Antrag das Gutachten von Infras zitiert: 12,3 Milliarden Euro an volkswirtschaftlichen Kosten durch Verkehrslärm. - Sie haben allerdings vergessen, dazuzuschreiben, dass dieselbe Studie zu dem Schluss kommt, dass von diesen 12,3 Milliarden Euro nur 0,83 Milliarden Euro auf Schienenlärm entfallen. Sie haben aber 100 Prozent Ihrer Rede dem Schienenlärm gewidmet. Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in meinem Wahlkreis mit dem drittgrößten Flughafen in Deutschland haben von Ihrem Papier - sieben Seiten, kein Wort zum Fluglärm - vielleicht den Eindruck, dass den Sozialdemokraten der Fluglärm egal ist. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ja Landverkehr! Sie müssen einmal die Überschrift lesen! Das ist doch unglaublich!) Ich kann Ihnen weiterhin sagen, was Ihr Parteifreund, der Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Herr Voigtsberger, am 8. April dieses Jahres in der WAZ erklärt hat: Er hat da nämlich gesagt, dass er die Flugbewegungen dort ausweiten möchte. Das ist der zweite Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Was Sie hier predigen, halten Sie dort, wo Sie in der Regierung sind, nicht ein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Herzog zulassen wollen? Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Gustav Herzog (SPD): Herr Kollege, bevor Sie sich weiter darüber aufregen, dass wir in unserem Antrag keine Aussage zum Fluglärm getroffen haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Das hängt damit zusammen, dass die Verantwortung des Bundes insbesondere dort greift, wo der Bund Eigentümer ist, was nun einmal auf die Bundesfernstraßen und die Bundesschienenwege zutrifft, und dass die Kompetenz bezüglich des Lärms der Flughäfen insbesondere bei den Ländern liegt. Wir haben gedacht, (Miriam Gruß [FDP]: Wo ist denn die Frage? - Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Lesen Sie mal die Geschäftsordnung!) wir helfen der Regierung, indem wir den Finger in die Wunde legen und insbesondere die Probleme an den Stellen aufzeigen, wo die Verantwortung beim Bund und nicht bei den Ländern liegt. Ich glaube, das ist intellektuell durchaus nachvollziehbar. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ich danke Ihnen für Ihre Belehrung in intellektuellen Dingen. Aber, Herr Kollege, wenn Sie einen Antrag mit einem Umfang von sieben Seiten schreiben und eine Debattendauer von anderthalb Stunden während der Kernzeit beantragen, aber nicht ein Wort über den Fluglärm verlieren, obwohl der Bund an Flughäfen beteiligt ist, dann zeigt dies ganz klar, dass für Sie der Fluglärm hier und heute keine Rolle spielt. Das nehmen die betroffenen Menschen durchaus zur Kenntnis. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Was ist denn das für eine Logik? Landverkehr!) Als ich Ihren Antrag das erste Mal gelesen habe, habe ich mich gefragt, wie alt denn das Nationale Verkehrslärmschutzpaket II sein mag. Sie benennen in Ihrem Antrag 32 Punkte, bei denen Nachholbedarf besteht. Doch Überraschung: Das Nationale Verkehrslärmschutzpaket II wurde während der Amtszeit Ihres letzten Verkehrsministers, Herrn Tiefensee, vier Wochen vor der Bundestagswahl im Herbst 2009 beschlossen. Jetzt führen Sie nach etwas über einem Jahr 32 Mängel auf. Jetzt frage ich mich: War Ihr eigenes Konzept mangelhaft? (Uwe Beckmeyer [SPD]: Nein, die Diskussion geht weiter!) Oder ist es so - das ist der dritte Grund, warum der Antrag nicht seriös ist -, dass Ihre Forderungen in der Opposition ganz andere sind als in Zeiten des Regierungshandelns? (Gustav Herzog [SPD]: Wir haben gedacht, Sie träumen von den Taten!) Oder war das NVP II nur mit heißer Nadel gestrickt und dem Wahlkampf geschuldet? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Gustav Herzog [SPD]: Wir wollen es umsetzen!) Was steht nun in Ihrem heutigen Antrag? Sie fordern Dinge, die schon längst beschlossen sind. Ich nenne beispielsweise die um 3 dB reduzierten Geräuschgrenzwerte für Reifen und die Kennzeichnung umweltrelevanter Eigenschaften. Das ist alles schon beschlossen. (Gustav Herzog [SPD]: Sie sind die Beschlussvorlagenkoalition! Werden Sie die Tatenkoalition!) Sie haben dazu auch eine Vorlage der Bundesregierung bekommen. Das ist der vierte Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie fordern Dinge ein, die es schon längst gibt. Es gibt weitere Dinge, die Sie einfordern, die aber schon längst im wahrsten Sinne des Wortes auf die Schiene gesetzt worden sind; sie wurden hier schon verschiedentlich besprochen. Wir haben am 18. März im Plenum einen Antrag verabschiedet, in dem gefordert wird, den Schienenbonus abzuschaffen und lärmabhängige Trassenentgelte einzuführen. Insofern sind die Dinge auf den Weg gebracht. Sie stehen ebenfalls im Koalitionsvertrag. Das ist der fünfte Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie reiten auf Dingen herum, die schon längst beschlossen und auf den Weg gebracht worden sind. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber nicht umgesetzt sind, lieber Herr Kollege!) Was ich aber, lieber Kollege Beckmeyer, an Ihrem Antrag besonders spannend finde - das hat mir wirklich zu denken gegeben - und was sich hier wundervoll beobachten lässt, ist: Mit jedem weiteren Jahr in der Opposition wächst die Entfernung zur Wirklichkeit massiv. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vielleicht kommen Sie uns heute deshalb mit Ihren 32 Punkten - Sie haben sie kurz vor der Wahl offenbar vergessen -, weil deren Umsetzung nur durch massive Kürzungen an anderen Stellen zu finanzieren ist. Sie wollen die Ausgaben des Bundes für Lärmschutzmaßnahmen erhöhen, 155 000 Güterwaggons umrüsten, die personelle und finanzielle Ausstattung des EBA erhöhen, Elektrofahrzeuge noch mehr steuerlich begünstigen, die Lärmsanierungsmittel für den Schienenverkehr erhöhen und die Beteiligung des Bundes an der kommunalen Lärmkartierung erhöhen. Das ist nur eine Auswahl. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir brauchen einmal einen Verkehrsminister, der auch um Geld kämpft!) Liebe Freunde von der SPD, wer hier das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster werfen möchte, der muss an anderer Stelle sparen. Wir haben doch gemeinsam die Schuldenbremse beschlossen. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!) Auch Sie haben dafür in namentlicher Abstimmung votiert. Wo wollen Sie also sparen? Ich habe Ihren Antrag immer und immer wieder gelesen, aber eines habe ich nicht gefunden, nämlich das Wort "sparen"; das steht nirgendwo. (Gustav Herzog [SPD]: Machen Sie doch die Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernachtungen rückgängig! 1 Milliarde Euro!) Ich fordere Sie also auf: Sagen Sie uns einmal konkret, wo Sie zur Finanzierung des vorliegenden Antrags kürzen wollen! (Gustav Herzog [SPD]: Ich sagte es Ihnen doch: 1 Milliarde Euro Mehrwertsteuerabsenkung für Hotelübernachtungen rückgängig machen!) Welche Ortsumgehung wollen Sie konkret streichen? Dann müssen Sie die betreffenden Orte, wo die Verkehrslawine mittendurch geht, besuchen und mit den Menschen vor Ort über Lärmschutz reden. Das ist der sechste Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Er ist überhaupt nicht finanzierbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie bedienen Ihre Klientel mit Milliardenbeträgen und reden vom Sparen!) Am Ende will ich versöhnlich sein und bemerken, dass Sie den Lesern Ihres Antrags auch Freude bereiten. Es gibt dort nämlich ganz herrliche Stilblüten. Auf Seite 6 findet sich meine Lieblingsstelle. Sie fordern dort den Ausbau der Elektromobilität. Das tun wir übrigens auch, da wir das sehr gut finden. Sie schreiben, dass die Antriebsgeräusche vor allen Dingen innerorts im Geschwindigkeitsbereich bis 30 km/h reduziert werden. Keine zehn Zeilen weiter fordern Sie aber: Es müssten auch "akustische Warnsignale zur besseren Erkennbarkeit der geräuscharmen Elektrofahrzeuge" eingeführt werden - wunderbar! -, (Zuruf von der FDP: SPD ist für mehr Lärm! - Zuruf von der SPD: Das ist doch kein Widerspruch!) "um die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf das neue Hören im Straßenverkehr zu schärfen". (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wohl nicht auf dem Stand der Dinge!) Das soll aber nicht nur ein bisschen geschehen. Denn weiter heißt es: Die Signale sollten bitte so laut sein, dass "insbesondere Hörgeschädigten" Rechnung getragen wird. Meine Damen und Herren, auf diese Fahrzeuge freue ich mich. (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Gustav Herzog [SPD]: So kompliziert ist die Materie! Machen Sie sich über das Thema nicht lustig!) Ich kann nur sagen: Ich finde es lustig. - Das ist der siebte Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie widersprechen sich selbst. Liebe Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie haben uns mit Ihrem Antrag zwar Freude bereitet; aber das Thema Lärm ist ein ernstes Thema, und zwar in der Breite; es geht nicht nur um den Lärm an der Schiene und auf der Straße, sondern auch um den Fluglärm. Wir haben doch in der Großen Koalition gemeinsam zwei nationale Verkehrslärmschutzkonzepte beschlossen. Sie sind gut; daran gibt es keinen Zweifel. Die Kollegin Ludwig hat es sehr ausführlich dargestellt: Bis 2020 soll die Belästigung durch Verkehrslärm bezogen auf Lärmbrennpunkte in besiedelten Bereichen abnehmen: im Flugverkehr um 20 Prozent, im Straßenverkehr und in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent, im Schienenverkehr sogar um 50 Prozent. Ich würde mich freuen, wenn wir das konstruktiv und gemeinsam umsetzen könnten. Denn den Betroffenen vor Ort ist nicht dadurch geholfen, dass hier Schaufensteranträge gestellt werden; sie erwarten von uns konkretes Handeln und Lösungen für die Probleme vor Ort. Lassen Sie uns das gemeinsam tun! Wir laden Sie gerne dazu ein. Ich freue mich auf die weitere Diskussion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Florian Pronold (SPD): Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier jemand eine Schaufensterrede gehalten hat und sich von der Realität der Menschen, die von Lärm betroffen sind, entfernt hat, dann war es mein Vorredner. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir reden über ein Problem, das Hunderttausende Menschen in Deutschland betrifft. Herr Kollege, selbst wenn Sie die Ausnahme sind, geht es hier tatsächlich auch um eine soziale Frage. Wer lebt denn an den stark belasteten Straßen in den Großstädten? Führen diese Straßen durch die Villenviertel? (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ja! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie mal in meinen Wahlkreis!) - Das möchte ich einmal sehen. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Fahren Sie mal in meinen Wahlkreis rein!) - Wer ist denn wirklich von Lärm betroffen? Nehmen Sie doch einmal die Realität zur Kenntnis. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Egal, wie lange Sie schon an der Regierung sind: Sie können sich nicht noch weiter von der Realität entfernen als Sie es mit dem, was Sie gerade von sich gegeben haben, bereits getan haben. Sie verspotten Menschen, die jeden Tag unter Lärm leiden; das war der Inhalt Ihrer Rede. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jarzombek? Florian Pronold (SPD): Immer. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie haben gerade behauptet, dass laute Straßen in Villenvierteln die absolute Ausnahme seien und Lärm eigentlich immer dazu führe, dass Viertel absteigen, aber Villenviertel davon nicht betroffen seien. Ich hörte im Hintergrund den Zuruf: "Kommen Sie mal in meinen Wahlkreis!" Auch ich lade Sie ein. Gerade dort, wo Verkehrsflughäfen sind - Sie haben sich offenbar nicht mit dem Thema auseinandergesetzt -, liegen häufig Villenviertel. (Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP]) In Düsseldorf ist das so: In der Nähe des Flughafens gibt es allein stehende Häuser und große Grundstücke; denn die Tatsache, dass dort der Flughafen ist, hat dazu geführt, dass es keine Verdichtung der Bebauung gab. (Zurufe von der SPD) Das gibt es auch an anderen Stellen. Insofern sind alle Schichten der Gesellschaft von Lärm betroffen. Ich stelle Ihnen die Frage: Ist Ihnen das egal oder stimmen Sie zu, dass Lärm alle betrifft? Ist es auch für einen Sozialdemokraten interessant, dort etwas gegen Lärm zu tun, wo Einfamilienhäuser stehen? Ist das für Sie auch eine Zielgruppe? (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Florian Pronold (SPD): Schauen Sie: Sie haben Ihre ganze Redezeit - zehn Minuten - nur damit verbracht, sich über Leute lustig zu machen, die von Lärm betroffen sind, dies ins Lächerliche zu ziehen. (Judith Skudelny [FDP]: Nein!) - Das haben Sie gemacht. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Nein, ich habe über Ihren Antrag gesprochen!) Wir haben übrigens schon in unserer Regierungszeit damit angefangen: Das zweite Lärmschutzpaket, das von Frau Ludwig angesprochen wurde, ist von Wolfgang Tiefensee auf den Weg gebracht worden. Wir kümmern uns um die Probleme. Ich lade Sie gerne ein, mich bei all meinen Terminen vor Ort zu begleiten, bei denen es um Menschen geht, die an einer lauten Straße oder - überhaupt keine Frage - an einem Flughafen leben. Lärm ist ein Problem, das die ganze Gesellschaft betrifft; das ist überhaupt keine Frage. (Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP]) In den Innenstädten betrifft es aber überwiegend diejenigen, die sich die hohen Mieten nicht leisten können. (Patrick Döring [FDP]: Quatsch! Richtiger Unsinn!) - Ja, natürlich. Schauen Sie sich die Realitäten an. (Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn, den Sie da erzählen!) - Ich habe gesagt: "überwiegend". Man kann immer für alles ein Beispiel finden. Ich spreche hier von der Mehrheit der Betroffenen. Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass Lärmbelastung auch eine soziale Frage ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Eines verstehe ich nicht. Auf der einen Seite beschimpfen Sie uns dafür, dass wir zu viel aufschreiben. Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, dass wir zu wenig aufschreiben, weil wir den Fluglärm in den Antrag nicht mit aufgenommen haben. Sie müssen sich einmal entscheiden. Der Herr Kollege hat deutlich gemacht, warum wir diesen Ansatz bzw. Schwerpunkt gewählt haben, nämlich, weil er nicht primär in den Zuständigkeitsbereich der Länder, sondern in den des Bundes fällt. (Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Reden Sie nicht! Bauen Sie Ortsumfahrungen! - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schlichtweg falsch! Lärmschutzgesetze werden hier im Bundestag gemacht! Das wissen Sie auch! - Gegenruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist doch Quatsch!) Wie wir zukünftig mit den Lärmbelastungen für die Menschen umgehen, hat sehr viel mit der zukünftigen Entwicklung unseres Wirtschaftsstandortes zu tun. Deutschland ist auf eine starke Infrastruktur angewiesen. Jetzt seien wir doch einmal ehrlich: Infrastrukturplanung wird heute von den meisten Menschen als Bedrohung aufgefasst. (Patrick Döring [FDP]: Reden Sie ihnen das nicht noch ein!) Es geht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an! (Zurufe von der CDU/CSU) Und warum ist das so? Das ist deswegen so, weil die Menschen der Politik insgesamt nicht mehr abnehmen, dass sie tatsächlich Lösungen für ihre Probleme bekommen, selbst dann nicht, wenn sie vorher an Planungen stärker beteiligt werden. Die Hauptsorge von Menschen bezogen auf Infrastrukturmaßnahmen betrifft den Lärm, der daraus hervorgeht. Wenn Politik insgesamt darauf keine glaubhafte Antwort findet, sondern sich - wie Sie - hier zehn Minuten hinstellt und versucht, ein bisschen Kabarett zu machen, ist das ein Schlag ins Gesicht der Menschen, (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie haben in der Sache nichts gesagt, was Sie tun wollen!) die Hoffnung darauf haben, dass sich Lebensverhältnisse verbessern. (Beifall bei der SPD) Zur Verbesserung der Lebensverhältnisse gehört eine vernünftige Infrastruktur, die den Lärmschutz der Menschen entsprechend berücksichtigt. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie haben selber noch nicht eine Sache gesagt, die Sie tun wollen! Sie reden auch nur allgemein!) - Ich war ja so froh, dass Sie alles das, was wir machen wollen, aufgezeigt und entsprechend kommentiert haben. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Jetzt habe ich also doch zur Sache geredet!) Aber ich komme jetzt zu den Dingen, die entsprechend zu machen sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Pronold, wollen Sie auch noch eine Frage des Kollegen Willsch beantworten? Florian Pronold (SPD): Wenn mir meine Redezeit verlängert wird, Herr Kollege, gern. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Da kann man nicht genug von Ihnen kriegen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich denke, wir sind uns einig, dass es, wenn es um die Bürger und ihre Belastung geht, vor allen Dingen darauf ankommt, dass Maßnahmen, wenn sie denn beschlossen werden, auch umgesetzt werden. Ist Ihnen bekannt, dass das, was wir in der Großen Koalition gemeinsam angestoßen haben, nämlich die Förderung der Umrüstung von Bahnwaggons, die bei uns durch den schönen Rheingau rollen und eine wirklich unerträgliche Lärmkulisse verursachen, durch Bezuschussung aus dem Bundeshaushalt, zwei Jahre lang nicht in Kraft treten konnte, weil Ihr Minister Tiefensee die Notifizierung nicht fertiggebracht hat? Ist Ihnen das bekannt? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Hört! Hört!) Florian Pronold (SPD): Ist Ihnen bekannt, dass wir - Gegenfrage - in der letzten Sitzungswoche einen Antrag beschlossen haben, in dem Sie als Koalitionsfraktionen Ihre eigene Bundesregierung auffordern, bei der Rheintalbahn endlich etwas zu tun? (Zuruf von der CDU/CSU: Nichtantwort!) Das ist auch eine spannende Frage. Wann kommt denn da etwas? Die Menschen haben diese Ankündigungen doch satt. (Zuruf des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/ CSU]) Wir haben europaweit 400 000 Waggons, die auf veränderte Bremsen umrüstbar wären. Es fahren ja nicht nur deutsche Waggons durchs Rheintal. Wir brauchen also erstens eine europäische Initiative. Zweitens weigern Sie sich, endlich lärmabhängige Trassenpreise durchzusetzen. Das wäre eine Lösung, die sehr schnell zu Verbesserungen führen würde. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Machen wir doch! - Zuruf von der FDP: Der Bundesverkehrsminister arbeitet daran!) Es geht auch darum, dort für entsprechende finanzielle Mittel zu sorgen. (Patrick Döring [FDP]: Das schüttelt man nicht aus dem Ärmel! Was ist mit Ihrem Antrag in dem Zusammenhang?) Aber was war denn in der letzten Sitzungswoche vor der Wahl in Baden-Württemberg die Botschaft des Herrn Bundesverkehrsministers an die Menschen dort? Er hat die Menschen damit beruhigt, dass er gesagt hat: Jawohl, es gibt für vernünftigen Lärmschutz auch entsprechend Geld. Der Herr Bundesverkehrsminister war in Brasilien, hat dort einen Caipirinha oder zwei getrunken und hat dann gleich nach Bekanntgabe der Wahlergebnissee mitgeteilt, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!) dass es kein Geld mehr für Länder gibt, in denen falsch gewählt wird. Dummerweise liegt ein großes Stück der Rheintaltrasse in Baden-Württemberg. Die brauchen das Geld für Lärmschutzmaßnahmen. Gibt es dafür jetzt zukünftig nichts mehr? Wenn ich die Worte des Bundesverkehrsministers ernst nehme, ist das so. Was ist in diesem Zusammenhang mit Ihrem Antrag? Bitte geben Sie darauf eine Antwort. Es geht darum, was wir tatsächlich tun können. Es besteht hier im Haus Einigkeit darüber, was man tun kann und was man tun muss. Die Frage ist nun, wie man den Ankündigungen Taten folgen lassen kann. Das ist die entscheidende Frage. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das wird der Kollege Willsch dann wissen!) Ich höre bisher nur Ankündigungen und sehe keine Taten. Es stellt sich beispielsweise die spannende Frage, wie es bei der Rheintalbahn weitergehen soll. Auch Frau Ludwig hat eine entsprechende Frage aufgeworfen. Wir müssen über mehr Lärmschutz reden. Wenn wir zukünftig einen Konsens mit den Bürgerinnen und Bürgern hinbekommen wollen, dass Verkehrsinfrastruktur auch zukünftig gebaut wird, dann brauchen wir einen spürbar höheren Lärmschutz, und der kostet Geld. Jeder höhere Lärmschutz wird Geld kosten. Deswegen muss man eine seriöse Antwort darauf geben, woher man das nötige Geld bekommt. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die Antwort geben Sie nicht!) - Warten Sie einmal ab. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die gibt Ihr Antrag aber nicht!) - Es ist schön, dass Sie noch Hoffnung haben. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) Frau Ludwig, die Regierungsparteien kritisieren uns dafür, dass wir Schnellschüsse machen. Sie regieren nun fast zwei Jahre und können in diesem Bereich nichts vorweisen. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Doch! - Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Die Nummer mit dem Kabarett geht mit Ihnen nach Hause!) Es wäre gar nicht schlecht, zumindest einen kleineren schnelleren Schuss zu machen und nicht nur hier im Parlament Anforderungen an die Bundesregierung zu formulieren, sondern Gesetze zu ändern. Das ist beim Schienenbonus doch überhaupt nicht schwierig. (Beifall bei der SPD) Wo liegt denn da das Problem? Wenn Sie es wollen, tun Sie es! (Judith Skudelny [FDP]: Warum haben Sie es nicht gemacht?) Warum machen Sie es denn nicht? Sie könnten schnell schießen, wenn Sie wollten. Zur Infrastrukturfinanzierung. Sie behaupten, die SPD macht keine Vorschläge, wie man höhere Infrastrukturausgaben finanzieren kann. Waren es nicht Sie, die den Hoteliers 1 Milliarde Euro in den Rachen geworfen hat? (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!) Waren es nicht Sie, die den reichen Erben Hunderte von Millionen Euro hinterhergeworfen haben? (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Haben Sie Ihr Wahlprogramm vergessen, Herr Pronold?) Verzichten nicht Sie auf eine Erhöhung der Lkw-Maut und auf eine vernünftige Ausweitung der Mautpflicht? (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stand doch auch im SPD-Wahlprogramm! - Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Kabarett!) Sie unterlassen alles, um mehr Geld in die Infrastrukturmaßnahmen zu geben, um den Menschen und ihren berechtigten Sorgen Rechnung zu tragen. (Beifall bei der SPD) Es gibt noch eine andere Form von Lärm, die wir heute noch nicht behandelt haben - sie ist auch ziemlich gefährlich -, (Judith Skudelny [FDP]: Kinderlärm!) nämlich den Lärm um nichts. Ihre heutigen Reden waren nichts anderes als Lärm um nichts. Sie verletzen damit das Vertrauen, das die Politik in dieser Gesellschaft insgesamt braucht, um zukünftig Infrastrukturprojekte im Konsens durchzubekommen. Es wäre nicht nur bei der Rheintalbahn und nicht nur beim Schienenbonus wichtig, dass Sie anfangen, zu handeln, statt nur Ankündigungen zu machen. Die Menschen haben ein Recht darauf, dass sie weiterhin gut und sicher leben können. Dazu gehört es auch, dass wir nicht nur von Lärmvermeidung sprechen, sondern auch handeln. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Judith Skudelny (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn das alles so furchtbar einfach wäre, wie es die SPD-Fraktion dargestellt hat, dann frage ich mich: Warum haben Sie die Vorhaben zum Lärmschutz während Ihrer Regierungszeit nicht einfach umgesetzt? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Gustav Herzog [SPD]: Wir haben Maßnahmen gegen Schienenlärm eingeführt und die Mittel von 50 auf 70 Millionen Euro erhöht!) Wenn die Forderung so alt ist, wie Sie sagen, dann hätten Sie die ersten Schritte eigentlich schon längst machen können. Ich muss Ihnen sagen: Sie waren einfach nicht der Motor. (Gustav Herzog [SPD]: Sie sind erst neu dabei! Ich verzeihe Ihnen!) Sie haben 90 Prozent der Forderungen aus dem Koalitionsvertrag übernommen. Insofern nehme ich das als Würdigung dessen, was wir, übrigens schon vor einem Jahr, beschlossen und als richtig erkannt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden nur und tun nichts!) Infrastruktur ist wichtig für Wirtschaft, Wohlstand und Wachstum. Wachstum, Wirtschaft und Wohlstand brauchen wir nicht als Selbstzweck, sondern um unser Gesundheitssystem, unser Sozialsystem und unser Rentensystem am Laufen zu halten. Insofern ist die Infrastruktur wichtig für die sozial Schwachen, weil gerade sie es sind, die von diesen Systemen profitieren. Die Infrastruktur muss jedoch mit Rücksicht auf Umwelt und Menschen umgesetzt werden. Zur Umwelt: Rein theoretisch könnten wir natürlich alle Infrastrukturprojekte ins freie Feld planen, nur wohnen dort in aller Regel Hamster, Frosch und Fledermaus. Wenn wir diese Naturschutzaspekte berücksichtigen und näher an die Wohnbebauung herangehen, dann belasten wir wiederum Menschen. Wenn wir sagen, wir erhöhen die Anforderungen beispielsweise an den Lärmschutz - was ja auch gewollt ist -, dann werden Infrastrukturprojekte verzögert. Sie werden teurer. Die Linke sagt: Klar, dann machen wir einfach mehr Schulden. - Das kann man wollen. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Vernünftige Bürgerbeteiligung! - Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN) - Ihre Aussage war: Bürgerideen werden von der Schuldenbremse bedroht. - Das heißt: Scheiß auf den Haushalt - Entschuldigung. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie sagen also: Der Haushalt ist egal, wir machen mehr Schulden. - Wir sagen: Das geht nicht. Das belastet die zukünftigen Generationen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Florian Pronold [SPD]: Wäre das ein Fall für das neue Ordnungsgeld?) Deswegen wird bereits seit einem Jahr hinter den Kulissen heftig darüber gestritten, wie wir die Umsetzung vornehmen wollen. Dass es den Regierungsfraktionen in dem einen oder anderen Punkt vielleicht schneller gehen könnte, ist, glaube ich, kein Geheimnis. Darum haben wir im März diesen Antrag gestellt. Wenn wir allerdings Ihrem Antrag zustimmen würden, dann kämen wir wieder an den Punkt, an dem wir bereits vor einem Jahr waren, nämlich dorthin, wo im Prinzip nur heiße Luft erzeugt wird. Wir aber sind einen Schritt weiter. Wir wollen den Gesetzentwurf vorgelegt haben. Ich sage: Dieses Gesetz kommt trotz allen Streits und unter Abwägung aller Aspekte bis Ende dieses Jahres. (Gustav Herzog [SPD]: Wir sprechen uns in einem Jahr hier wieder! Mal sehen, was Sie dann gemacht haben!) Wir haben darüber gesprochen, dass die sozial Schwachen diejenigen sind, die sich am wenigsten wehren können. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Bürgermeinung zur Rheintalbahn tatsächlich so gut bekannt ist. Denn sowohl bei Stuttgart 21 als auch insbesondere bei der Rheintalbahn ist es die bürgerliche Mitte, die sich für die Schiene, zugleich aber auch für eine Abwägung einsetzt. Sie bringen sich ein und fordern Lärmschutz. (Gustav Herzog [SPD]: Ja, das habe ich auch vom Mittelrheintal erzählt!) Hier sind nicht nur die sozial Schwachen, die von der Linken vertreten werden, sondern tatsächlich alle davon betroffen. (Karin Binder [DIE LINKE]: Das sind einkommensschwache Menschen!) Deswegen setzen sich wirklich alle für eine vernünftige Umsetzung ein. Deswegen sind die Regierungsparteien, die CDU, CSU und FDP, diejenigen, die auf diesem Gebiet ganz stark geworden sind - als Motor die FDP; nicht die SPD, sonst hätten wir es schon -, (Gustav Herzog [SPD]: Das ist wahr! Sie haben nichts hinbekommen!) um die Umsetzung der Rheintalbahn möglichst zügig hinzubekommen. Wir haben den Antrag im März gestellt, damit dort die Planungen auch unter Berücksichtigung, dass der Schienenbonus nicht mehr existiert - übrigens erstmalig -, weitergeführt werden. (Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein Prüfauftrag!) Auch das haben frühere Regierungskoalitionen in dieser Form nicht hinbekommen. Das möchte ich einmal sagen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU]) Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind längst so weit, wie Sie es eigentlich sein wollten. Sie haben es nur noch nicht gemerkt. Und wenn Sie meinen, die Koalitionsparteien vor sich hertreiben zu müssen oder zu können, müssten Sie etwas früher aufstehen. (Gustav Herzog [SPD]: Ich bin heute schon um halb sechs aufgestanden!) Mit diesem Antrag ist es Ihnen jedenfalls nicht gelungen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Florian Pronold [SPD]: Das war ja ein origineller Schluss!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Geld schützt vor Straßen- und Schienenlärm. Wer genügend besitzt, baut sein Haus in ruhigen Regionen. Der Rest der Bevölkerung hat entweder Glück oder ist auf Lärmschutz angewiesen, der Geld erfordert. Die SPD stellt in ihrem Antrag treffend fest, dass die Höhe der volkswirtschaftlichen Schäden durch Lärm mehr als 12 Milliarden Euro jährlich beträgt. Die durch den von Straße und Schienen verursachten Lärm ausgelösten Krankheiten, die geringeren Arbeitsleistungen nach gestörter Nachtruhe verursachen dies. 1,2 Millionen Bundesbürger müssen täglich bei mehr als 60 Dezibel schlafen. Umfangreiche Gesetze und Verordnungen in der EU und in der Bundesrepublik befassen sich folgerichtig mit Lärm. Ausreichend sind sie nicht. Wieso wird die Lärmbelastung der Bevölkerung zur Planung des Lärmschutzes eigentlich nur rechnerisch ermittelt und nicht zwingend mit Messungen überprüft? Ob vom Zug, vom Flugzeug oder vom Lkw verursacht, jede Lärmart wird einzeln bewertet. Dem Idealmodell folgende Kalkulationen ignorieren die Situation vor Ort. Das führt zu Fehleinschätzungen und damit zu fehlenden, nicht ausreichenden, mitunter aber überdimensionierten Lärmschutzbauten. Deshalb fordert die Linke als einen Schritt zu effektiverem Lärmschutz, die Lärmkartierung durch zwingende Lärmmessungen zu verbessern. (Beifall bei der LINKEN) Was stört einen erholsamen Schlaf eigentlich mehr: das gleichmäßige Rauschen rollenden Verkehrs oder das Scheppern eines Tiefladers im Schlagloch? Nicht der durchschnittliche Lärm allein ist entscheidend, sondern auch die Höhe und die Häufigkeit von Lärmspitzen. Daraus folgt unser nächster Schritt: Lärmspitzen müssen in die Lärmbetrachtung einfließen. Das größte Problem bei der Lärmbekämpfung ist unsere Art und Weise, zu wirtschaften. Das Motto "Höher, schneller, weiter!" führt zu immer mehr Verkehr. Da sind unnötige Transporte. Muss man Joghurt von Flensburg nach München transportieren und umgekehrt? Muss man allein aus Profitgründen Nordseekrabben in Marokko puhlen lassen? Aus betriebswirtschaftlichen Gründen vielleicht, aus volkswirtschaftlichen jedoch nicht, weil die Folgen, zum Beispiel die Lärmprobleme, zulasten der Gemeinschaft gehen. Deshalb setzt die Linke auf Verkehrsvermeidung und regionale Wirtschaftskreisläufe. (Beifall bei der LINKEN) Der unvermeidbare Verkehr muss leiser werden. Dazu brauchen die Kommunen Aktionspläne und Geld. Wo Lkws über die Straße poltern, muss das Tempo reduziert werden. Das ist billiger und hilft etwas. Besser wäre aber eine Straße ohne Schlaglöcher und ohne Querschläge, verursacht durch mangelnde Instandhaltung, durch Aufhacken und Verschließen der Straßendecke aus verschiedenen Gründen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Oft werden Baumaßnahmen unzureichend geplant und durchgeführt. Daher schlagen wir vor, Lärmmessungen in die Abnahmeprüfung und Garantiebewertung nach jeder Baumaßnahme aufzunehmen. (Beifall bei der LINKEN) Das zwingt Baufirmen zu mehr Qualität, und Qualitätsarbeit erfordert Facharbeiter. (Judith Skudelny [FDP]: Die fehlen!) So kann die Abnahmeprüfung dazu führen, dass prekäre Arbeitsverhältnisse in gute Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden. Das ist linke Politik. (Beifall bei der LINKEN) Ob Schiene oder Straße, ohne Lärmschutzwälle werden wir nicht immer auskommen. Wegen Geldmangel ist vorbeugender Lärmschutz aber nur bei Neubauten vorgesehen. Wir fordern, dass auch die deutliche Zunahme des Verkehrs eine wesentliche Änderung darstellt und zwingend vorbeugende Lärmschutzmaßnahmen erfolgen müssen. Wie man mit weniger Geld mehr Lärmschutz erreichen kann, können Sie in Brandenburg sehen. Da regiert übrigens die Linke. (Gustav Herzog [SPD]: Die regiert mit!) Bei Michendorf ist im Zusammenhang mit dem Ausbau der A 10 die Anbringung von Photovoltaikanlagen vorgesehen. Würde man alle Lärmschutzbauten in der Bundesrepublik mit Photovoltaikanlagen ausstatten, könnte dadurch der gesamte Strombedarf der Deutschen Bahn gedeckt werden. Die dadurch frei werdenden Gelder müssten zweckgebunden in den Lärmschutz fließen. Das ist Umweltschutz. Der Antrag der SPD ist unserer Ansicht nach richtig. Er ist zwar etwas zu allgemein, aber wir stimmen ihm trotzdem zu, weil er der Umsetzung unserer Ziele dient. Zum Abschluss ein Wort an die Koalitionsfraktionen: Nehmen Sie nicht immer nur die Anträge der anderen auseinander, sondern legen Sie selbst etwas vor. (Judith Skudelny [FDP]: Haben wir doch!) - Ich habe nur Ankündigungen gehört. Ich habe gehört, was Sie bis 2020 alles machen wollen. (Judith Skudelny [FDP]: Nein! 2012!) Handeln Sie! Übernehmen Sie die konkreten Vorschläge der Oppositionsparteien! Dann können wir etwas für den Lärmschutz, für unser Land und für die Demokratie erreichen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Florian Pronold [SPD]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Patrick Schnieder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Patrick Schnieder (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute in der Tat mit einem sehr ernsten Thema. Wenn man genau hinhört, stellt man fest, dass wir uns hinsichtlich der großen Richtung, hinsichtlich der Analyse dessen, was schon getan worden ist, und hinsichtlich der Frage, was noch zu tun ist, eigentlich einig sind. Wir sind uns einig, dass Lärm die mit am stärksten empfundene Umweltbeeinträchtigung ist. Mit Ausnahme der Linken sind wir uns einig, dass wir auf Mobilität angewiesen sind und, sofern wir nicht unter Realitätsverlust leiden, den Ausbau von Mobilität vorantreiben müssen. Es gibt immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und dem Lärm. Deshalb hat diese Bundesregierung den Lärmschutz zu einem zentralen Anliegen ihrer Verkehrspolitik gemacht, und zwar sowohl, was den Aspekt des Gesundheitsschutzes angeht, als auch, was die Akzeptanz der Folgen von Mobilität angeht. Auch an dieser Stelle sind wir uns im Grunde einig, lieber Kollege Herzog. Mich verwundert nur, dass Sie einen neuen Konsens in der Verkehrsinfrastruktur- bzw. Lärmschutzpolitik suchen. Das klingt, als hätte es in der Vergangenheit keine Große Koalition gegeben, als wäre die Verkehrspolitik nicht elf Jahre lang auch durch die Sozialdemokraten geprägt worden. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich mit diesem Antrag ein Stück weit von der eigenen Politik verabschieden, die Sie elf Jahre lang gemacht haben. (Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein falscher Eindruck!) - Es ist ein Eindruck, der sich hier allerdings aufdrängt; denn das, was Sie als Antrag stellen, ist in weiten Teilen bereits Beschlusslage, ist in weiten Teilen auf den Weg gebracht und wird von dieser Koalition und der Bundesregierung umgesetzt. Sie haben manches davon mit auf den Weg gebracht. (Gustav Herzog [SPD]: Da haben wir Zweifel!) - Sie zweifeln an sich selbst. (Gustav Herzog [SPD]: Nein, ich habe Zweifel an Ihrer Umsetzung!) Ich bin dankbar für das Eingeständnis Ihrer gescheiterten Verkehrspolitik der letzten Jahre. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich bin auch sehr erstaunt über Ihr Verständnis von der Zuständigkeit des Bundes in Bezug auf Fluglärm. (Gustav Herzog [SPD]: Wir haben das Fluglärmgesetz gemacht!) Gerade ist geleugnet worden, dass wir auf Bundesebene Einwirkungsmöglichkeiten in diesem Bereich haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Gustav Herzog [SPD]: Nein!) Ich nenne als Beispiele das Bundes-Immissionsschutzgesetz und die Lärmschutzverordnung. Dies sind Bundesgesetze. Sie ignorieren eine der ganz wichtigen Lärmquellen, die wir ebenso in den Griff bekommen müssen, nämlich den Fluglärm. Auch dazu hätten wir uns einige Vorschläge von Ihnen erwünscht. (Gustav Herzog [SPD]: Kommt noch! - Gegenruf der Abg. Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Kommt noch? Noch so eine Debatte!) Das sind die Ankündigungen, die Sie vorher in den Mund genommen haben. Der Unterschied zwischen uns in dieser Politik ist: Wir handeln, unser Minister handelt, die Koalition handelt, (Gustav Herzog [SPD]: Sie fassen Beschlüsse!) und Sie kündigen an, dass es Ankündigungen gibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Unser Ziel ist klar formuliert, und wir haben die ersten Schritte unternommen. Wir wollen die Lärmbelastung bezogen auf Lärmbrennpunkte in Deutschland reduzieren. Wir leugnen auch nicht das, was wir mit dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II aus dem Jahre 2009 gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Es bildet die Grundlage für Maßnahmen zur Vermeidung von und zum Schutz vor Verkehrslärm. Wir haben das Ganze mit Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag ergänzt, vor allem mit der Einführung lärmabhängiger Trassenpreisgestaltungen bei der Bahn. Auch da verstehe ich Ihre Aufregung nicht. Alles wurde auf den Weg gebracht, alles wird kommen. Dies gilt auch für die stufenweise Abschaffung des Schienenbonus. Die Koalition hat eindeutig Schwerpunkte gesetzt, und einer der Schwerpunkte, den wir gesetzt haben, betrifft die Lärmemissionen im Schienenverkehr. Wir müssen feststellen, dass man dies nicht durch eine einzelne Maßnahme in den Griff bekommen kann. Vielmehr sind wir auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen angewiesen. Dieses beinhaltet die Reduzierung und Abschaffung des Schienenbonus, das Lärmsanierungsprogramm, das übrigens mit jährlich 100 Millionen Euro dotiert ist, und Lärmreduzierung an der Quelle; dies ist übrigens die wirksamste und effizienteste Lärmvorsorge, die es im Bereich der Schiene gibt. Deshalb sind die Maßnahmen, die zur Einführung der Flüsterbremse ergriffen worden sind, egal, ob es sich um die K-Sohle oder LL-Sohle handelt, der richtige Weg, um Lärm zu vermeiden. Ich habe wenig Verständnis dafür, wenn man nur sagt, dass man Mobilität möchte und dabei Verkehre, vor allem Güterverkehre, auf die Bahn verlagern möchte. Zunächst einmal ist das mit mehr Lärm verbunden. Wir müssen uns ganz klar dazu bekennen, dass wir den so entstehenden Lärm in den Griff bekommen wollen. Deshalb müssen wir mit allem Nachdruck an der Lärmreduzierung an der Quelle weiterarbeiten. Mit einem großen Maßnahmenpaket im Rheintal ist ein wichtiger Schritt geschehen. Der Minister hat ein deutliches Zeichen gesetzt. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen. Das muss Hand in Hand mit einer Trassenpreisdifferenzierung gehen. Nur mit der lärmabhängigen Differenzierung der Trassenpreise bei der Bahn schaffen wir den Anreiz, schnellstmöglich umzurüsten, und zwar im europäischen Maßstab. Wir haben natürlich Verkehre, die durch ganz Europa gehen und von den verschiedensten Eigentümern gestellt werden. Daher müssen wir eine europäische Lösung finden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf zusammenfassend feststellen: Wir haben mit dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II und den Festlegungen im Koalitionsvertrag die richtigen Instrumente in der Hand. Wir haben eine gute Grundlage für die notwendigen weiteren Schritte beim Verkehrslärmschutz. Wir dokumentieren auch mit unseren Handlungen, mit den Maßnahmen, die wir ergreifen, und mit dem Geld, das wir in die Hand nehmen, dass Verkehrslärmschutz für diese Koalition ein wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Verkehrspolitik ist. Ich darf feststellen: Wir sind bei der Umsetzung der Maßnahmen auf einem guten Weg. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5461 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen - Drucksachen 17/4038, 17/5499 - Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Mindestlohngesetz) - Drucksache 17/4435 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) - Drucksache 17/5499 - Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne verhindern - Drucksachen 17/1408, 17/5101 - Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gitta Connemann das Wort. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die ist unterwegs hierher! Der Peter Weiß beginnt für uns!) - Gut. - Dann erteile ich dem Kollegen Peter Weiß das Wort, wenn er anwesend ist. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema "Gute Löhne für gute Arbeit" beschäftigt zu Recht das Parlament und auch die Bürgerinnen und Bürger. Um es klar und deutlich zu sagen: Zu einer sozialen Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen, gehört auch das Prinzip "Gute Löhne für gute Arbeit". Daran darf es keinen Zweifel geben. Die Frage ist nur: Wie? In dieser Debatte beantragen die heutigen Oppositionsfraktionen, Mindestlohnregelungen für Deutschland zu beschließen. Für die Öffentlichkeit sollte aber Folgendes gelten: Wichtig ist nicht, was man in den Zeiten, in denen man in der Opposition ist, beantragt, sondern wichtig ist, was man in den Zeiten, in denen man in Regierungsverantwortung ist bzw. gewesen ist, tut bzw. getan hat. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja! Sehr gut!) Es kommt auf das Tun und nicht auf das Reden an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt! An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!) Nun zum Tun. Die Sozialdemokraten, die ihren Parteivorsitzenden als Redner in diese Debatte schicken, und die Grünen haben sieben Jahre lang eine Koalition gebildet und die Bundesregierung gestellt. (Zurufe von der SPD: Ach! Bitte nicht schon wieder! Das macht langsam wirklich keinen Spaß mehr! - Oh! Das ist jetzt wirklich neu!) In dieser Zeit ist gerade einmal ein branchenspezifischer Mindestlohn in Kraft gesetzt worden. Alle anderen sieben branchenbezogenen Mindestlöhne, die es in Deutschland gibt, sind in Zeiten, in denen die Union den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin gestellt hat, eingeführt worden. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist schön, dass Sie in Zeiten, in denen Sie in der Opposition sind, solche Anträge stellen. Es kommt aber auf das Handeln an. Beim Handeln ist eindeutig die Union diejenige politische Kraft, die durch ihre Gesetzgebung branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland ermöglicht und sie faktisch und praktisch eingeführt hat. (Beifall bei der CDU/CSU - Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Und zwar schon zu Adenauers Zeiten!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Christdemokraten und Sozialdemokraten haben sich in der Großen Koalition, in der die Sozialdemokraten in der Tat den Bundesarbeitsminister gestellt haben, mit der Novellierung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes gemeinsam auf den Weg gemacht, branchenbezogene Mindestlöhne zu ermöglichen. Die Tarifpartner können - und wenn es keine Tarifverträge gibt, dann kann das auf der Grundlage des Mindestarbeitsbedingungengesetzes in einer Kommission geschehen - für die jeweilige Branche Mindestlöhne beantragen. Ich finde, dass dieser Weg in der Tradition der tariflichen Autonomie steht, die wir grundgesetzlich schützen. Es ist richtig, dass wir Politiker, bevor wir etwas zum Thema Löhne sagen und entscheiden, zuallererst diejenigen, die etwas von Löhnen verstehen, nämlich Arbeitgeber und Gewerkschaften, etwas aushandeln lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ach, Sie verstehen nichts davon? Das war die Aussage?) Deshalb betone ich den Vorrang von Tarifautonomie und branchenbezogenen Mindestlöhnen. Das ist der Weg, den wir zusammen mit den Sozialdemokraten eingeschlagen haben, der nach wie vor richtig ist und den wir auch in der neuen Koalition verteidigen und weiter durchsetzen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mein Wunsch ist, dass die Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz bieten, besser genutzt werden. In der Tat könnte ich mir vorstellen, dass in weiteren Branchen branchenbezogene Mindestlöhne festgelegt werden, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping und - das ist genauso wichtig - Unternehmen vor Schmutzkonkurrenz mit niedrigen Löhnen zu schützen. (Zuruf von der SPD: Was sagt denn Herr Brüderle dazu?) Viele Arbeitgeber - gerade auch im Handwerk - sagen uns: Es wäre gut, wenn wir beim Thema Löhne eine klare Regelung nach unten hätten, also eine untere Lohngrenze, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) damit es bei der Konkurrenz darum geht, wer die beste Arbeitsleistung erbringt, und nicht darum, wer seinen Leuten den geringsten Lohn zahlt. Darum darf es nicht gehen. Unsere Politik hat zum Ziel - ich rufe Sie auf, dies zu unterstützen -, die Möglichkeiten für branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland noch mehr zu nutzen, als es bisher der Fall ist. Das ist der Weg, den wir eingeschlagen haben. Er ist besser als jedwede staatliche Lohnfestsetzung und besser als jeder per Gesetzgeber dekretierte Mindestlohn. Denn wir wollen nicht, dass die zum Teil sehr guten Mindestlohnregelungen in einigen Branchen - manchmal liegt der Stundenlohn über 10 Euro - eines Tages einkassiert werden, weil Arbeitgeber bzw. Unternehmen sagen: Da gibt es doch vom Staat, per Gesetz dekretiert, einen gesetzlichen Mindestlohn, an den wir die Löhne - auch nach unten - anpassen. Es geht in der Debatte nicht nur um die Frage, ob es bei den Löhnen eine Bewegung von unten nach oben gibt, sondern auch darum, ob möglicherweise die Schleuse geöffnet wird, um Löhne zu senken, wie es leider in vielen Ländern geschieht, in denen Mindestlohnregelungen existieren. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beispiele nennen!) Zur sozialen Marktwirtschaft gehört, dass gute Löhne für gute Arbeit gezahlt werden. Wir treten für branchenbezogene Mindestlöhne ein. Damit haben wir bisher schon Erfolg gehabt. Wir glauben, dass wir damit weiter Erfolg haben werden und eine sinnvolle Alternative zu einem gesetzlich dekretierten Mindestlohn anbieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der SPD. (Beifall bei der SPD) Anette Kramme (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir freuen uns deshalb auf den 1. Mai, weil gerade die Herstellung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit für die betreffenden Staaten so wichtig ist. Sie ist deshalb so wichtig, weil damit auch ein ganz klein wenig vom Eisernen Vorhang weggeräumt wird. Deshalb ist es gut und richtig, was da kommt. Wir dürfen bei diesem Thema allerdings nicht völlig blauäugig sein und die voraussichtlichen Arbeitsmarktprobleme ausblenden. Halten wir uns vor Augen, was dort geschehen wird: Arbeitnehmer aus den sogenannten MOE-Staaten können zuwandern. Sie können aus diesen Ländern zu uns einpendeln. Vor allen Dingen ist auch grenzüberschreitende Leiharbeit möglich. Sämtliche Beschränkungen bei der sogenannten Dienstleistungsfreiheit fallen weg. Das heißt, Unternehmen aus den MOE-Staaten können nunmehr ihre Leistungen bei uns vollständig erbringen. Es ist schwierig, die ökonomischen Folgen vollumfänglich zu erfassen. Die Forschung stößt hier an ihre Grenzen. Wir haben sicherlich nicht mit einer Völkerwanderung zu rechnen. Trotzdem wird es keine unbeachtliche Größenordnung von Arbeitnehmern sein, die wir hier zu erwarten haben. Das IAB geht davon aus, dass eine jährliche Zuwanderung von 130 000 Personen möglich ist. Bis zum Jahr 2020 werden es möglicherweise sogar 1,5 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sein. Der DGB geht davon aus, dass es vor allen Dingen eine Zuwanderung in den Bereich der prekären Beschäftigung gibt, nachdem der Arbeitsmarkt für Akademiker durch den Wegfall der sogenannten Vorrangprüfung im Prinzip schon vollständig geöffnet ist. Die Folgen der sogenannten Dienstleistungsfreiheit sind noch weitaus schwieriger zu kalkulieren. Deutschland ist auf die neuen Regelungen gänzlich unvollständig vorbereitet: (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was sollen wir denn machen?) Wir haben keinen generellen Mindestlohn, der für zugewanderte und entsandte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gleichermaßen gilt. Möglicherweise gilt nicht einmal die sogenannte Schranke der Sittenwidrigkeit. Herr Professor Bayreuther hat dies in der Sachverständigenanhörung beleuchtet. Die Mindestlohnregelung für die Leiharbeit, die wir kürzlich erst in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aufgenommen haben, wird durch Dienst- und Werkverträge möglicherweise umgangen werden. Für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die auf der Grundlage von Werk- und Dienstverträgen hierhin kommen, gelten nämlich die Entlohnungsbedingungen des Heimatlandes. Darüber hinaus besteht auch die Gefahr, dass die beschränkten Mindestlohnregelungen in der Bundesrepublik Deutschland einerseits durch Scheinselbstständigkeit und andererseits durch falsche Tätigkeitsbezeichnungen umgangen werden. Wir müssen registrieren: Seitens der Regierung ist nichts unternommen worden. Wir haben im Zuge der Verhandlungen über die Regelsätze ernsthaft versucht, die Einführung eines generellen Mindestlohns zu erreichen und das Prinzip des Equal Pay bei der Leiharbeit zu verankern. Meines Erachtens benötigen wir hier zwingend vier Regelungen: Zuerst benötigen wir einen generellen Mindestlohn und eine sogenannte Equal-Pay-Regelung für die Leiharbeit. Vor allen Dingen brauchen wir effektive Sanktionsregelungen zur Einhaltung des Mindestlohnes in der Leiharbeit. Hier stehen entsprechende Regelungen noch aus. Zudem brauchen wir eine angemessene Ausstattung der Finanzkontrolle "Schwarzarbeit". Die Aufgaben der Finanzkontrolle "Schwarzarbeit" haben in den letzten Jahren durch die Ausdehnung der Bedingungen für einen Mindestlohn stark zugenommen. Aber eine entsprechende Zunahme der Zahl der dort Beschäftigten hat es nicht gegeben. Es gab eine aktuelle Anfrage. Die Antwort war: Es besteht keinerlei Bereitschaft, dort mehr Personal zur Verfügung zu stellen. Zu guter Letzt brauchen wir eine Beratungstätigkeit. Wir werden es mit Arbeitnehmern zu tun haben, die schlechte Sprachkenntnisse und schlechte Informationen über das Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutschland haben. Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese Menschen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland ausgenutzt und ausgebeutet werden. Natürlich dürfen wir es auch nicht zulassen, dass sich der Niedriglohnsektor, der sich in der Bundesrepublik Deutschland so verheerend entwickelt hat, noch weiter ausdehnt. Meine Damen und Herren der Regierung, deshalb kann ich nur sagen: Im Herbst wird es mit Sicherheit die ersten Missbrauchsfälle geben. Die Verantwortung dafür liegt ausschließlich bei Ihnen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man jetzt im Frühling, kurz vor Ostern, durch Stadt und Land streift, dann schärft sich unwillkürlich der Blick. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wäre schön, wenn es so wäre!) Man sucht nach Neuem, nach Überraschendem, nach Verborgenem. Stellen Sie sich vor: Ich habe ein Mindestlohnnest mit drei Eiern - ein rotes, ein grünes und ein dunkelrotes - entdeckt. Sie sahen zunächst einmal ziemlich ähnlich aus. Bei näherer Untersuchung stellte ich fest: Sie waren ein bisschen hohl und teilweise ein bisschen faul. Rechtzeitig zum 1. Mai - früher hieß es "Hinaus zum Kampfmai"; der Reflex scheint jedenfalls auf der linken Seite dieses Hauses noch zu funktionieren - stellen Sie die Forderung nach einem gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn. Weil Sie anscheinend doch kein gutes Gefühl dabei haben - ein flächendeckender Mindestlohn wirkt eben in allen Teilen des Landes und in allen Branchen sehr undifferenziert -, soll er auf eine Art und Weise festgelegt werden, dass sich die Politik möglichst heraushalten kann. Die Kommissionslösung feiert Urstände. Aber Sie alle haben Ihre Vorstellungen, was am Ende herauskommen soll. Die Grünen wollen einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Die SPD legt sich nicht fest, sondern fordert in ihrem Antrag "zum Beispiel 8,50 Euro". Die Linken gehen von mindestens 10 Euro bis 2013 aus. (Beifall bei der LINKEN - Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben wenigstens die Anträge gelesen!) - Ich weiß nicht, ob das ein Grund zum Klatschen ist. - Ich habe unlängst von einem SPD-Landesminister gelernt: Löhne müssen der Wertschöpfung entsprechen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Mein Gott!) Wenn Sie, egal was die unabhängige Kommission empfehlen wird, schon heute wissen, dass auf jeden Fall ein Mindestlohn von 10 Euro herauskommen muss, dann frage ich mich, ob die Wertschöpfung wirklich in allen Branchen und allen Teilen unseres Landes mithalten kann und ob nicht letzten Endes Arbeitsplätze verloren gehen werden. Das würde ich bedauern. Das Beispiel Postdienstleistungen hat gezeigt, dass Arbeitsplätze in sehr kurzer Frist und großer Zahl - dort waren 8 000 bis 10 000 Arbeitsplätze betroffen - verloren gehen können. Ich glaube, wir sind besser beraten, wenn wir, wie es die schwarz-gelbe Koalition getan hat, mit Branchenmindestlöhnen operieren, die von Tarifpartnern festgelegt werden. Diese können einschätzen, welche Größenordnung in den jeweiligen Branchen richtig ist. Ich weise darauf hin, dass sich die Koalition in den letzten Monaten bewegt hat. Wir haben da, wo es sich anbot, in nahezu allen Branchen, die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgeführt sind, den Weg für eine Lohnuntergrenze freigemacht, auch im Bereich der Zeitarbeit. Hier hatten viele im Haus große Bedenken, obwohl alle namhaften Forschungsinstitute einschließlich des IAB gesagt haben: So schlimm wird es nicht werden; es wird in einer überschaubaren Größenordnung bleiben. Ich kann Sie beruhigen, Frau Kramme: Wir werden auch rechtzeitig die Kontrollinstrumente einführen. Daran wird es nicht scheitern. Ich rate dazu, dass wir, nachdem wir jetzt einen derart vernünftigen Weg eingeschlagen haben, abwarten, was die Evaluierung bringt, die sich die Regierung für die zweite Hälfte dieses Jahres vorgenommen hat. Wir sollten in Ruhe und ohne Zorn und Eifer abwarten, wie sich Mindestlöhne tatsächlich auswirken. Dann kann man sehen, ob weiterer Handlungsbedarf besteht. Ich glaube, das ist ein Vorgehen mit Augenmaß. Ich bin anscheinend im Gegensatz zu vielen von Ihnen optimistisch, was den 1. Mai anbelangt. Ich glaube, dass in der Freizügigkeit eine große Chance für unser Land und unsere Wirtschaft besteht. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran zweifle ich!) - Auch Sie sollten optimistisch sein, Kollegin Pothmer, und mit Freude diesen weiteren Schritt des Zusammenwachsens in Europa gehen. Was die Mindestlohnfrage anbelangt, glaube ich sagen zu können: Wir sind gut vorbereitet, und es besteht kein Grund zur Sorge. Wenn Sie sich ein bisschen öffnen und lockerer geben, als es aus Ihren Anträgen spricht, erleben Sie vielleicht mit der Freizügigkeit eine angenehme Überraschung. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kolb, es freut mich, dass Sie Osterspaziergänge machen und Eier suchen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch gelb-rote Eier!) Ich habe einen Tipp für Sie: Versuchen Sie es mit einem Spaziergang bei Ihrem Arbeitsminister Heiner Garg - Mitglied der FDP -, der Ihnen in dieser Frage einen Rat gibt. Diesen Rat möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben, weil Sie ihn Ostern vielleicht nicht treffen. Er hat am 7. April dem Tagesspiegel gesagt: Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit heranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im Niedriglohnbereich ein "echtes Problem" gebe ... Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Menschen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und sich und ihre Familien davon nicht ernähren können. "Zwei Euro Stundenlohn sind weder sozial noch liberal", sagte Garg. Genauso wenig sei es für einen liberalen Politiker hinnehmbar, dass der Staat Unternehmen dauerhaft subventioniere, die den Wettbewerb mit Niedrigstlöhnen aushebelten. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Mast [SPD]) So weit Ihr Parteifreund, Herr Kolb. Wenn Sie meinen Tipp für einen Spaziergang befolgten, würde das Ihre Partei weiterbringen. Dann müssten Sie kein Personal auswechseln, sondern Sie müssten einfach den Kurs wechseln. Dann kämen Sie einen Schritt weiter. (Beifall bei der LINKEN) Die Realität in unserem Lande ist bedrückend. Das Callcenterunternehmen Teleperformance - offensichtlich eines der Großen der Branche weltweit - hat Niederlassungen in Deutschland und zahlt Löhne zwischen 5,61 Euro und 7,50 Euro. In den ostdeutschen Ländern verdient kaum jemand über 6 Euro, Herr Kolb. Gehaltserhöhungen finden dort seit Jahren nicht mehr statt. Das Unternehmen - diese Information ist an Herrn Weiß gerichtet - ist nicht tarifgebunden. Die Betreiber von Callcentern haben zwischen 1998 und 2009 ihre Renditen um mehr als 20 Prozent gesteigert. Sie werden übrigens mit 19 Millionen Euro subventioniert. Ich denke, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den niedrigen Löhnen in den Callcentern und den Extraprofiten, die offensichtlich in diesen Unternehmen üblich sind. Mein nächstes Beispiel ist die Firma KiK, ein Textildiscounter. Diese Firma zahlt Aushilfen Stundenlöhne von 5,20 Euro. Diese Löhne waren sogar dem Arbeitsgericht zu niedrig. Es hat diese für sittenwidrig erklärt. Das Problem ist allerdings: Die Firma hätte mindestens 7,80 Euro zahlen müssen. Hätten wir einen Mindestlohn, und zwar einen flächendeckenden, Herr Weiß, wäre das Risiko, dass die Menschen mit einem solchen Lohn abgespeist werden, bei weitem geringer. Zu den Fragen der Kontrollen komme ich noch. Aber Sie, Herr Weiß, akzeptieren offensichtlich - da Sie keine flächendeckenden Mindestlöhne einführen wollen -, dass Niedriglöhne - wie gerade dargelegt - in der Bundesrepublik Deutschland üblich sind und üblich bleiben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie erlauben eine Zwischenfrage von Herrn Weiß? Klaus Ernst (DIE LINKE): Mit großer Freude. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Weiß. Herr Ernst erlaubt eine Zwischenfrage. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Ernst, Sie haben mich persönlich angesprochen und die Branchen Callcenter und Einzelhandel erwähnt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die dbb tarifunion für Callcenter einen Mindestlohnantrag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt hat, der dem Hauptausschuss vorliegt? Würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass im Bereich des Einzelhandels die Arbeitgeberseite, der HDE, mit der Arbeitnehmerseite über einen Mindestlohntarifvertrag verhandelt? Würden Sie schließlich zur Kenntnis nehmen, dass ich mich freuen würde, wenn in beiden Branchen Mindestlohnregelungen in Kraft treten würden? Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Weiß, ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Sie offensichtlich das bestätigen, was ich sage; denn Sie sind nicht bereit, gesetzgeberisch zu handeln. Sie akzeptieren, dass Löhne in dieser Republik gezahlt werden, von denen man nicht leben kann. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was sind Sie für ein Gewerkschafter!) Das ist der Skandal in diesem Land. Ihre Partei weigert sich zusammen mit der FDP hartnäckig, dafür zu sorgen, dass die Menschen einen Lohn erhalten, von dem sie leben können. Das nehme ich zur Kenntnis, Herr Weiß. (Beifall bei der LINKEN - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Und so was sagt ein Gewerkschafter!) Wir können gern bei Ihrem Argument bleiben. Es ist bekannt, dass der Einstiegslohn im Hotel- und Gaststättengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern bei 5,39 Euro und in Sachsen-Anhalt bei 6,75 Euro liegt. Dort gelten Tarifverträge, in denen offensichtlich so niedrige Löhne festgelegt sind, dass man davon nicht leben kann. Herr Weiß, jetzt können wir so tun, als ob uns das nicht interessierte. Aber wir sind hier nicht nur zum Beobachten und zum Appellieren da; Sie als Regierungspartei sind vielmehr zum Regieren da. Wenn Sie richtig regieren würden, würden Sie solch niedrige Löhne verhindern und dazu beitragen, dass die Menschen Löhne beziehen, von denen sie leben können. Das aber tun Sie nicht, Herr Weiß. (Beifall bei der LINKEN) Sie sind mittlerweile relativ isoliert mit Ihrer Position. Am vergangenen Dienstag hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine Entschließung mit dem Titel "Bekämpfung der Armut in Europa" verabschiedet. In dieser Entschließung heißt es in Punkt 5.9: Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, - ich zitiere wörtlich -, durch die Gewährung eines angemessenen Mindestlohns das Recht auf faire Entlohnung zu sichern und das Recht der Arbeitnehmer auf einen Lohn, der ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, anzuerkennen. Herr Weiß, diesem Antrag hat auch Ihre Partei, die Mitglied in der Europäischen Volkspartei ist, zugestimmt. - Ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich bei diesem Thema lieber mit Ihrem Nachbarn unterhalten, als sich die Argumente eines politischen Konkurrenten anzuhören. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie gehen ja auf die Argumente nicht ein! Sie erzählen etwas ganz anderes!) Ich möchte hinzufügen: Sie sind offensichtlich mit der Position, die Sie einnehmen, auch in der Union vollkommen alleine. Ihr Kollege im Europarat ist offensichtlich schon deutlich weiter; denn Sie werden nicht abstreiten können, Herr Weiß, dass man mit dem Lohn, über den Sie gerade diskutieren, keinesfalls das erreicht, was hier gefordert wird, nämlich den Familien einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ihnen fehlt doch persönlich die Glaubwürdigkeit! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU) Das ist nur möglich, wenn wir Mindestlöhne in Höhe von mindestens 10 Euro einführen, Herr Weiß. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der LINKEN) Wir wissen, dass jeder Lohn unter 9,46 Euro im Ergebnis dazu führt, dass ein Mensch, der diesen Lohn sein Leben lang erhält, eine Rente bezieht, die unter der Grundsicherung im Alter liegt. Bei 9,46 Euro ist die Grenze. Wir wissen, dass - je nach Arbeitszeit - bei 7,50 Euro oder 7,80 Euro die Grenze ist, unterhalb derer man einen Lohn bekommt, den man aufstocken muss. Die Löhne vieler Menschen in unserem Land liegen darunter. Sie akzeptieren, dass Arbeitgeber Löhne zulasten Dritter vereinbaren können. Denn wenn die Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Löhne zahlen muss, oder die Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Renten zahlen muss, handelt es sich um Löhne und Vereinbarungen zulasten Dritter, die aus meiner Sicht als sittenwidrig abgelehnt gehören. Das ist die Situation, in der wir uns befinden. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]) Meine Damen und Herren, ein Thema, das in diesem Zusammenhang auch noch von Bedeutung ist, sind die Kontrollen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das Landgericht Magdeburg im Juni 2010 einen Reinigungsunternehmer zu nur 1 000 Euro - nur 1 000 Euro! - Geldstrafe verurteilt hat, weil er statt des Mindestlohns von damals 7,68 Euro einen Stundenlohn von weniger als 1 Euro gezahlt hat. Bei einer solch geringen Bestrafung von Leuten, die Hungerlöhne offensichtlich für akzeptabel halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sich der Niedriglohnsektor ausweitet und dass sich ein Teil unserer Bürger an Gesetze, die hier verabschiedet werden, nicht mehr hält. Wir brauchen drastische Strafen für die Menschen, die Hungerlöhne zahlen. Dafür treten wir Linken ein. (Beifall bei der LINKEN) Besonders betroffen sind Frauen. Sie sind deshalb besonders betroffen, weil sie nach wie vor die schlechteren Jobs haben und nach wie vor schlechter bezahlt werden. Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat verdienen, sind Frauen. Ich wiederhole: Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat verdienen, sind Frauen. Frau von der Leyen, Sie machen sich immer für die Frauenrechte stark; das begrüßen wir. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn könnten Sie dazu beizutragen, dass einer Vielzahl von Frauen in diesem Land wenigstens ein anständiger Lohn gezahlt wird. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 33 Prozent aller weiblichen Vollzeitkräfte sind Geringverdienerinnen. 33 Prozent aller weiblichen Vollzeitbeschäftigten! Das ist eine unglaubliche Zahl. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass man sich auf der einen Seite berechtigterweise für einen höheren Frauenanteil in den oberen Etagen unserer Wirtschaft starkmacht, aber gleichzeitig offensichtlich den Blick nach unten vollkommen vergisst. Dass insbesondere Frauen mit Hungerlöhnen abgespeist werden, ist ein Skandal, genauso wie die Tatsache, dass Sie das akzeptieren, Frau von der Leyen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein weiteres Argument. Wir haben 6,7 Millionen atypisch Beschäftigte in unserem Land. 74 Prozent davon sind Frauen. Frau von der Leyen, es ist nicht akzeptabel, dass Sie in diesem Bereich schlichtweg nur durch Zuschauen glänzen. Ich möchte Ihnen sagen: Wir isolieren uns nicht nur in Europa - in Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von 10,16 Euro; in Frankreich liegt er bei 9 Euro -, sondern auch weltweit. In Australien liegt der Mindestlohn bei 10,40 Euro. Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland befürworten die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, übrigens auch 61 Prozent der Selbstständigen. Warum? Weil es inzwischen auch die Selbstständigen satthaben, von einer Schmutzkonkurrenz von Unternehmen bedroht zu werden, die Niedrigst- und Billigstlöhne zahlen. Tun Sie etwas dagegen! (Beifall bei der LINKEN) Sie sind Regierungspartei, also appellieren Sie nicht, sondern regieren Sie. Es wird Zeit, dass wir endlich Ergebnisse sehen. (Beifall bei der LINKEN - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Also, die Rede hat Sie nicht gerettet!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon seit vielen Jahren ist die Bevölkerung für einen gesetzlichen Mindestlohn; das wissen wir alle. Ich gebe zu: Ich hatte zeitweise wirklich die Illusion, wir könnten auch hier in diesem Hohen Hause eine parlamentarische Mehrheit für den gesetzlichen Mindestlohn erreichen. Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz schien es mir so, als würde der Schock, den die FDP dort erfahren hat, tatsächlich dazu führen, dass sie auch sozialpolitisch ein bisschen Vernunft annimmt. Es hieß nach diesen Landtagswahlen tatsächlich: Es ist jetzt unsere Aufgabe, unser soziales Profil zu schärfen. Als bekannt wurde, dass an die Spitze der Partei Herr Rösler gesetzt werden soll, dachte ich: Vielleicht liegt darin auch eine Chance für den Mindestlohn. Herr Rösler hatte nämlich, was den Mindestlohn in der Pflege angeht, die Kurve gekriegt und sich vom Saulus zum Paulus gewandelt. Als dann noch der Kieler Arbeitsminister presseöffentlich gesagt hat - Herr Ernst hat es schon zitiert -: "Wir müssen uns für Lohnuntergrenzen öffnen"; "2 Euro Stundenlohn sind weder sozial noch liberal", da dachte ich: Das findet vielleicht Gehör in der FDP-Bundestagsfraktion. Aber seit dem letzten Wochenende lässt es sich nicht leugnen: Das marktliberale Beharrungsvermögen hat sich in der FDP ganz offensichtlich durchgesetzt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was war denn am letzten Wochenende? Habe ich da was verpasst?) Die Erneuerung ist abgeblasen. Der Parteivorsitzende sagt nämlich: Der liberale Kompass stimmt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Bei uns ist Norden immer Norden!) - Ich will Ihnen einmal etwas sagen, lieber Herr Kolb: Wenn Sie Ihren Kurs nicht ändern, dann ist es vollkommen egal, wer bei Ihnen regelt oder segelt, dann wird die FDP weiterhin Schiffbruch erleiden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sagen Sie doch einmal ganz im Ernst: Sie müssten jetzt doch eigentlich ein bisschen spüren, was es heißt, in einer prekären Lage zu sein. (Lachen des Abg. Sigmar Gabriel [SPD] - Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist doch gut so!) Ich dachte, dass die prekäre Lage, in der Sie sich befinden, dazu führen könnte, dass Sie wenigstens ein bisschen für die Situation derjenigen Menschen sensibilisiert werden, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Diese Krokodilstränen! Heuchlerisch!) Aber nichts davon scheint der Fall zu sein. Nein, Sie haben ein kaltes Herz, und Sie haben keinen sozialpolitischen Verstand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Die Fakten sind lange bekannt: 6,6 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor, Tendenz steigend. 3,4 Millionen arbeiten für weniger als 7 Euro die Stunde. Mehr als 1 Million arbeiten für Löhne unter 5 Euro die Stunde brutto. Eine Friseurin in Sachsen bekommt 3,06 Euro die Stunde. Dafür kann man sich nicht die Haare schneiden lassen; da kann man sich wirklich nur die Haare raufen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Mehr als 350 000 Menschen arbeiten Vollzeit und bekommen trotzdem ergänzend Hartz IV. Ich finde, das ist beschämend für eine Regierung, das ist entwürdigend für die Betroffenen, und das ist für die Steuerzahler verdammt teuer. Denn allein ein Mindestlohn von 7,50 Euro würde für den Staat Einsparungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bedeuten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle Arbeitsplätze erhalten blieben!) Diese 1,5 Milliarden Euro nehmen Sie, um skrupellose Unternehmer zu subventionieren, die sich gegenüber denjenigen Wettbewerbsvorteile verschaffen, die faire Löhne zahlen. Das ist Wettbewerb à la FDP. Dem geben Sie Ihren Segen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit der Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit werden die Probleme zunehmen; das hat die Anhörung eindeutig ergeben. Es wird nicht zu einem allgemeinen Problem kommen, aber es wird Druck auf die unteren Löhne ausgeübt werden. Liebe Kollegen von der FDP-Fraktion, Sie sind einmal angetreten mit dem Grundsatz: Arbeit muss sich wieder lohnen. - Jetzt müssen Sie uns hier im Parlament erklären: Warum gilt das eigentlich nicht für die untersten Lohngruppen? Die Lohnspreizung hat in den letzten Jahren immer weiter zugenommen. Im letzten Jahr hat es auf den Veranstaltungen zum 1. Mai schon viele Transparente gegeben, auf denen stand: Habe Arbeit, brauche Geld. - Es ist auch Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschen für ihre Arbeit einen vernünftigen Lohn bekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Arbeitsplatzvernichtungsargument ist seit Jahren widerlegt. Wenn Sie bei der Anhörung zugehört hätten, hätten Sie mitbekommen, dass das IAB noch einmal deutlich darauf hingewiesen hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn positive Arbeitsplatzeffekte haben würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, könnte es vielleicht sein, dass Sie, nachdem Sie in der Energiepolitik einen Scherbenhaufen produziert haben, gerade dabei sind, den nächsten Polterabend, jetzt in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, zu organisieren? (Jens Ackermann [FDP]: Ist das ein Antrag? - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer heiratet wen? - Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Weil wir eurem Antrag nicht zustimmen?) Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der alle sozial- und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen erfüllt. Sie wissen das im Prinzip genau. Herr Weiß, ich spreche Sie noch einmal an. Sie sind in Ihrer CDU-Arbeitnehmerorganisation doch seit Jahren unterwegs im Kampf für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn - (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein, er ist schon überzeugt!) bisher leider ohne Erfolg. Sie haben jetzt die Chance! Machen Sie den Rücken gerade und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Ich appelliere an Sie: Folgen Sie Ihrem sozialpolitischen Verstand und verstecken Sie sich nicht länger hinter branchenspezifischen Mindestlöhnen! Branchenspezifische Mindestlöhne sind eine sinnvolle Ergänzung - das will ich gar nicht bestreiten -, wenn sie oberhalb der allgemeinen Mindestlohngrenze liegen, aber sie taugen wirklich nicht als Ersatz. Selbst wenn sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber in einer Branche auf einen Mindestlohn verständigt haben, zelebrieren sofort die Hohepriester um Rainer Brüderle ihr Hochamt der Ideologie und blockieren die Einführung dieses Mindestlohns. Das haben wir nun wirklich hinlänglich erfahren müssen. Meine Damen und Herren von Union und FDP, der Mindestlohn wird kommen. Vielleicht können Sie diese historische Gewissheit noch für eine bestimmte Zeit verdrängen. Vielleicht können Sie diesen Prozess noch etwas verzögern. Eines ist sicher: Aufhalten können Sie ihn nicht. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/ CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ulrich Lange (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vorab dem Kollegen Markus Kurth von den Grünen zum heutigen Geburtstag ganz herzlich auch in unserem Namen gratulieren. (Beifall) Herzlich willkommen zur Mobilmachung für den 1. Mai! Diese Debatte scheint mir dazu zu dienen, die leeren Säle bei DGB, Linken und SPD vielleicht wieder ein bisschen zu füllen. Der 1. Mai ist ein Sonntag. Ich freue mich auf Sonne und Bayern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag planen Sie in erster Linie eines: Sie wollen in die Tarifautonomie eingreifen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So sieht es aus!) die die Väter des Grundgesetzes aus gutem Grund so definiert und aufgeschrieben haben. Wir sind mit dieser Tarifautonomie in den vergangenen über 60 Jahren in Deutschland sehr gut gefahren, wie ich glaube. Überall dort, wo es soziale Ungleichgewichte gab, wo es ein strukturelles Funktionsdefizit der Tarifautonomie gab, haben wir - in verschiedenen Konstellationen - gehandelt, zuletzt bei der Zeitarbeitsbranche - wie ich finde, sehr schlüssig -, aber auch bei der Pflege. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben zu Recht den zukünftigen FDP-Vorsitzenden gelobt. Sie sehen also: Die schwarz-gelbe Koalition weiß sehr wohl, was Sozial-, Lohn- und Arbeitsmarktpolitik ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Deswegen werden wir beim Prinzip der branchenbezogenen Mindestlöhne bleiben. Mindestlöhne gibt es derzeit in acht Branchen. Fünf davon sind unter Schwarz-Gelb aufgenommen worden, nur eine einzige unter Rot-Grün. Deswegen bitte ich, das Ganze in dieser Relation zu sehen. Lieber Kollege Ernst, Sie kommen ja aus der Gewerkschaft. Ich bin immer davon ausgegangen, dass es in Deutschland zwei starke Pole, zwei starke Blöcke gibt: zum einen die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum anderen die Arbeitgeberverbände. Genau das macht Tarifpolitik aus. Jetzt muss ich fast annehmen, dass Sie der eigenen Gewerkschaft nicht mehr vertrauen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Oder ist der Vertrauensverlust schon so weit fortgeschritten, wie es bei Ihrer Partei in Bezug auf Ihre Person der Fall ist? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Lange - - Ulrich Lange (CDU/CSU): Ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen, dann gerne; meine Redezeit ist sehr knapp. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sitzen an einem Tisch. Sie wissen um die Probleme der Betriebe und der Branche, sie kennen die Sichtweisen und tauschen sich auf Augenhöhe aus. Wir befinden uns eben nicht in einer Planwirtschaft, wo der Staat losgelöst von Produktivität und Realität die Löhne in den Betrieben festsetzt. Genau das macht das Wesen der Tarifautonomie aus. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Peinlich ist das!) Jetzt bitte ich um die Verlängerung der Redezeit. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Ernst. Klaus Ernst (DIE LINKE): Ich habe folgende Fragen. Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund, die IG Metall, Verdi, NGG und andere Gewerkschaften den Mindestlohn fordern und sogar Kampagnen dafür veranstalten? Es steht also durchaus nicht im Widerspruch zu meiner Gewerkschaft, wenn ich hier den Mindestlohn fordere. Zweitens. Ist Ihnen bekannt, dass es insbesondere im Niedriglohnbereich Unternehmen gibt, in denen es aus unterschiedlichen Gründen, die nicht bei den Arbeitnehmern zu suchen sind, kaum gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter gibt, dass also von den beiden erwähnten Polen einer fehlt, sodass Tarifergebnisse, wie Sie sie fordern, nicht zustande kommen können? Könnte das vielleicht der Grund sein, warum die Gewerkschaften, obwohl sie an der Tarifautonomie festhalten, gesetzliche Mindestlöhne fordern? (Beifall bei der LINKEN) Ulrich Lange (CDU/CSU): Lieber Kollege Ernst, könnte es sein, dass die Menschen das Vertrauen in die Gewerkschaften so sehr verloren haben, dass sie nicht mehr glauben, dass diese in der Lage sind, den einen Pol darzustellen und diese Löhne durchzusetzen? Ich glaube, dass meine Argumentation insoweit sehr schlüssig ist. (Widerspruch bei der LINKEN) Was Sie letztlich wollen und machen, ist, den Tarifparteien ihr Recht zu beschneiden und staatlichen Einfluss auf die Löhne zu fordern. Das wird am Ende, auch wenn Sie es nicht glauben, Arbeitsplätze kosten. Denn ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird regionalen Unterschieden nicht gerecht. Das müssten Sie eigentlich selber erkennen. In einer Region wie derjenigen, aus der ich komme, mit weniger als 3 Prozent Arbeitslosen, ist die Situation völlig anders als beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern. Ich glaube, dass wir mit branchenspezifischen Mindestlöhnen und mit den vorhandenen gesetzlichen Regelungen, mit denen soziale Unwuchten ausgeglichen werden können, den richtigen Weg gehen. Mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz - es wurde schon genannt - und mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verhindern wir Lohndumping. Wir haben auch - Sie glauben nicht daran, aber ich setze auf unsere Gerichte - die Rechtsprechung zu sittenwidrigen Löhnen, und wir haben noch andere Instrumentarien wie das Tariftreuegesetz und vieles andere mehr. (Sigmar Gabriel [SPD]: Welches Tariftreuegesetz denn?) Setzen wir weiter auf die Systemstimmigkeit und Übersichtlichkeit gesetzlicher Vergütungsregulierungen dort, wo wir sie brauchen! Setzen wir aber auch auf das Koalitionsgrundrecht, auf die Tarifautonomie und auf das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft und staatlichen Eingriff. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD: Oh!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Sigmar Gabriel von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sigmar Gabriel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden uns an den letzten Beitrag gern erinnern und einmal einen Gesetzentwurf über Tariftreue in den Deutschen Bundestag einbringen. Der Kollege Lange wird dann erstens erstaunt feststellen, dass es dieses Gesetz bisher nicht gibt. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Auf Länderebene!) Zweitens wird er ihm, nachdem er es gerade angesprochen hat, bestimmt zustimmen. Dieses Gesetz ist also eine gute Idee. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Kollege, man muss schon eine Menge Humor haben - die Menschen, die es betrifft, können diesen Humor aber nicht mehr aufbringen, weil sie in Verhältnissen leben, in denen ihnen der Spaß am Leben genommen wird -, um das zu ertragen, was Sie gerade vorgetragen haben. Die rechte Seite des Hauses hat sich 20 Jahre lang Mühe gegeben, der Öffentlichkeit zu erklären, warum Flächentarifverträge abgeschafft werden müssen und warum betriebliche Bündnisse besser sind. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!) - Was? Ihre Arbeitsministerin ist doch eine der Protagonistinnen gewesen für die Abschaffung des Flächentarifvertrages. Die CDU hat auf ihrem Leipziger Parteitag beschlossen, dass es betriebliche Bündnisse geben soll. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sie in die Vergangenheit gucken, dann schauen wir mal, was Sie gemacht haben!) Diejenigen, die uns in das letzte Jahrhundert zurückführen wollen, die die Gewerkschaften in Deutschland geschwächt haben und die Ostdeutschland, wo kaum noch ein Arbeitsplatz der Tarifbindung unterliegt, zum Niedriglohnland gemacht haben - das sind Sie und Ihre Kollegen von der FDP -, sagen jetzt: Das sollen doch bitte die Gewerkschaften klären. - Dabei sind Sie es doch, die die Tarifvertragsfreiheit in Deutschland aufs Spiel gesetzt haben. Sie haben zu verantworten, was hier passiert ist. Das ist ein Ding aus dem Tollhaus. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sorgen durch Ihr Handeln dafür, dass es keine Tarifverträge gibt. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) - Dann schauen wir uns doch einmal an, was in den Bundesländern los ist, in denen Sie den Ministerpräsidenten stellen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben in Bayern die Tarifbindung!) Deren Zahl wird Gott sei Dank - der Ausgang der letzten Wahlen war da ganz erfreulich - geringer. (Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU/ CSU) - Ich verstehe ja, dass Sie jetzt nervös werden. Aber ich sage Ihnen eines: Ihre Arbeitsministerin und Ihre Kollegen von CDU/CSU und FDP haben dafür gesorgt, dass ausgehandelte Mindestlöhne in vielen Teilen Deutschlands eben nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind. Ihre Leute waren übrigens schon einmal klüger. Herr Kollege Lange, die CDU/CSU hat einmal einem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zugestimmt, obwohl Ihre Fraktion die Mehrheit hatte. Das war allerdings - das will ich zugeben - zu Konrad Adenauers Zeiten, aber Konrad Adenauer loben Sie so gerne. Wenn Sie das nachlesen, dann werden Sie wissen, dass es Bereiche gibt, in denen Tarifverträge nicht existieren und in denen die Gewerkschaften nicht stark genug sind. Herr Kollege Lange, in dem Gesetz steht, dass sich in diesem Fall der Staat einmischen muss. Denn wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in Deutschland von ihrer Arbeit leben können, egal ob es einen Tarifvertrag gibt oder nicht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Weiß, ich kann Ihnen Ihre Parteitagsbeschlüsse zur Tarifvertragsfreiheit gerne zusenden, wenn Sie sie nicht kennen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich kenne aber auch die anderen! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist mit der Agenda 2010?) - Da haben wir die Tarifvertragsfreiheit verteidigt. Herr Kollege Weiß, Sie verweisen darauf, dass Sie bei der Einführung der Branchenmindestlöhne mitgemacht haben. Sie gestatten mir hoffentlich, dass ich sage: Ja, auch wir sind stolz darauf, dass wir in der Großen Koalition mit Ihnen einen Mindestlohn für 2,5 Millionen Menschen einführen konnten. Übrigens erhalten durch unsere Anträge bei den Verhandlungen zu Hartz IV jetzt wieder 1,2 Millionen Menschen mehr einen Mindestlohn. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ja, gell!) - Ich war dabei; ich weiß, dass wir das erst beantragen mussten. Sie hatten das zuvor nicht vorgesehen. - Vielleicht verstehen Sie, dass der Beschluss in der Großen Koalition ein Kompromiss war - Sie können auch Ihre Arbeitsministerin fragen, die damals in einem anderen Aufgabenbereich tätig war -, weil die CDU/CSU nicht bereit war, unseren Anträgen auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zu folgen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Da hatten wir auch mehr Arbeitslose!) Ich würde Ihnen jetzt gerne einmal zeigen, wo die Schwachstellen der Branchenmindestlöhne liegen. Wir haben zum Beispiel - Frau von der Leyen hat das groß angekündigt - einen Branchenmindestlohn im Pflegebereich. Ihre Arbeitsministerin hat gesagt, das sei etwas richtig Gutes. In Osnabrück gibt es einen jungen Unternehmer, der gerade mit häuslicher Pflege zum Billigtarif wirbt: Pflege für 1 490 Euro brutto im Monat; das sind ungefähr 1 000 Euro netto. Sie können jetzt einmal ausrechnen - es geht hier um 24-Stunden-Pflege -, ob man so auf den Mindestlohn im Pflegebereich kommt. Natürlich nicht! Der Unternehmer unterläuft den Mindestlohn; ich erkläre Ihnen gleich, wie er das macht. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Dann kriegt er den Zoll an den Hals! Der Zoll wird sich das anschauen!) Die Caritas wirbt mit einer 24-Stunden-Pflege für 1 850 Euro im Monat; davon bleiben gut 1 000 Euro netto übrig. Natürlich werben beide mit polnischen Pflegekräften, nicht etwa mit deutschen; (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Für die gilt das auch!) das Angebot gilt ab dem 1. Mai. Warum können sie das machen? Weil ein großer Teil der 24-Stunden-Pflege Bereitschaftsdienst oder Hauswirtschaftshilfe umfasst. Deshalb treffen die Bedingungen des Mindestlohns in der Pflege nicht zu; sie gelten nicht. Diese Unternehmen unterlaufen also den Mindestlohn. Diejenigen, die sich bei uns zur Altenpflegerin ausbilden lassen, werden demnächst arbeitslos, weil andere, die in ihren Heimatländern häufig bittere Lebensbedingungen vorfinden - das gebe ich gerne zu; ich werfe es ihnen nicht vor -, mit einem solchen Lohn besser leben können als mit dem Lohn zu Hause. Sie von der Koalition vernichten hier qualifizierte Arbeitsplätze, weil Sie einen Mindestlohn verhindern. Das ist die Realität. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wissen Sie, hier zeigt sich der Irrsinn Ihrer Position in der Debatte. Welcher Auftraggeber im Handels-, Dienstleistungs- oder Handwerksbereich kriegt wohl den Auftrag: derjenige, der einen fairen Lohn bietet, der Auslöse und Tariflöhne zahlt, oder derjenige, der mit Sub-Sub-Subunternehmern und miserablen Löhnen unter 7, 6 oder 5 Euro pro Stunde agiert? Natürlich derjenige, der mit Billigarbeitskräften auftritt. Was macht er hinterher? Er schickt seine Leute zum Sozialamt; denn da können sie sich über Hartz IV das restliche Geld holen. Herr Brüderle ist nicht hier. Ich würde aber gerne einmal fragen, Herr Kolb: Was ist das eigentlich für eine liberale Wirtschaftsauffassung, die es zulässt, dass der Staat eine Lohnsubventionierung in Milliardenhöhe vornimmt, dass die anständigen Handwerksmeister ihre Aufträge verlieren, weil sie Tariflöhne zahlen, dass die Gesellen hinterher arbeitslos sind, weil sie mit anderen, die mit Sub-Sub-Subunternehmern agieren und keine vernünftigen Löhne zahlen, nicht mithalten können? Sie vernichten Arbeitsplätze in Deutschland, und zwar Arbeitsplätze mit einem Lohn, von dem man leben kann. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie schicken die Leute hinterher zum Sozialamt. Das ist die Realität Ihrer Politik. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Gabriel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? Sigmar Gabriel (SPD): Sehr gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Kollege Gabriel, Sie haben in Bezug auf die Kollegen der Union den Blick bis zurück in das Jahr 2005 gerichtet. Deswegen werden Sie sicherlich nichts dagegen haben, wenn wir den Blick zurück auf das Handeln der SPD bis 2005 richten. Sigmar Gabriel (SPD): Gerne! Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie haben Geschäftsmodelle beklagt, bei denen Arbeitgeber Löhne zahlen, die durch öffentliche Transfers aufgestockt werden müssen. Könnten Sie mir sagen, ob das Konzept der Aufstockung Teil der Agenda 2010 ist, die sich namentlich mit Ihrer Partei, der SPD, verbindet? War es damals nicht gerade Ihre Idee, geringqualifizierten Menschen durch eine Art Kombi-Einkommen, eine Kombination aus dem selbst erwirtschafteten Einkommen und einem öffentlichen Transfer, zu einem Mindesteinkommen zu verhelfen, das in jedem einzelnen Fall bedarfsdeckend ist? Würden Sie mir zustimmen, dass Sie sich gerade über sich selbst beklagen und Ihr Handeln in den Jahren 2005 und davor beweinen? Sigmar Gabriel (SPD): Erstens. Wenn es so wäre, wäre es vernünftig, eigene Fehler einzusehen und sie zu korrigieren. (Zuruf von der LINKEN: Ja, dann machen Sie das doch!) Zweitens. Wir reden hier nicht mehr über Geringqualifizierte. (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] - Zuruf von der SPD: Genau!) Wir reden über Menschen mit einer ganz normalen Berufsausbildung. Na klar! Glauben Sie, dass die Altenpflegerin, die Krankenschwester und der Pfleger keine anständige Berufsausbildung haben? Drittens. Wir haben 2002 nicht von der Öffnung des Arbeitsmarktes für osteuropäische Arbeitskräfte zum 1. Mai dieses Jahres geredet. Darum geht es doch. Das hat die Kollegin Kramme klargemacht. Wir haben jetzt eine andere Situation. Deswegen bieten diese Unternehmen Pflegekräfte für 1 400 oder 1 800 Euro zum 1. Mai an. Dann wird der Arbeitsmarkt für die osteuropäischen Arbeitskräfte geöffnet. Davon sind die Fachkräfte betroffen und nicht diejenigen, für die wir alle möglichen Kombilöhne in Deutschland ausprobiert haben, um sie sukzessive an den ersten Arbeitsmarkt heranzuführen. Sie dringen richtig in den ersten Arbeitsmarkt ein. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Schlimm!) Inzwischen sind mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland im Niedriglohnsektor beschäftigt. Wenn wir - das sage ich Ihnen - mit unserer Politik Fehler gemacht haben, dann wird es jetzt Zeit, dass wir sie korrigieren. Wir erleben eine falsche Entwicklung in Deutschland. Diese wollen wir korrigieren, Herr Kollege Kolb. Sie wollen sie ausbauen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ich weiß nicht, Herr Kolb, wann Sie sich hinsetzen dürfen. Aber meine Antwort ist damit jedenfalls beendet. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann setze ich mich!) Herr Kolb, ich mache ein bisschen weiter. Sie erheben das zum Prinzip. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, worum es im Kern geht. Im Kern geht es nicht nur um die Höhe des Lohnes. Es geht um die Substanz unseres Landes. Denn was hat dieses Land kräftig, wohlhabend und stark gemacht? Die Tatsache, dass sich Arbeit gelohnt hat. Wir erleben in Deutschland gerade eine Entwicklung, die dazu führt, dass sich Arbeit und Leistung nicht mehr lohnen. Wir alle sind mit dem Spruch unserer Eltern groß geworden: Du sollst es einmal besser haben als wir. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) Was meinen Sie, wie viele Eltern sich heute Sorgen machen, dass es ihren Kindern trotz guter Berufsausbildung schlechter gehen wird als ihnen? 40 Prozent der jungen Leute, die eine gute Ausbildung haben, landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Zeitarbeit und werden schlecht bezahlt. Das sind diejenigen, denen wir immer sagen: Wir wollen, dass ihr Kinder bekommt, eine Familie gründet, dass ihr etwas für das Alter zurücklegt. Die halten uns für gaga, Herr Kollege Kolb. Wir wollen dafür sorgen, dass sie nur noch Sie für gaga halten und nicht diejenigen, die das ändern wollen. Darauf können Sie sich verlassen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es geht um die Substanz der sozialen Marktwirtschaft. Es geht darum, ob sich Arbeit lohnt. Es geht darum, dass nicht das sozial ist, was Arbeit schafft, sondern das, wovon man leben kann, wenn man arbeiten geht. Darum geht es in Deutschland. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Es geht um den Wert von Arbeit. Das scheinen Sie nicht zu verstehen. Es geht - da hat die Kollegin Pothmer recht - auch um die Würde von Menschen, die arbeiten gehen. Es geht darum, dass jemand, der einem Menschen im Altenheim täglich mehrfach die Windeln wechselt, der ihn füttert, der ihn betreut, auch einen anständigen Lohn bekommt und nicht Angst davor haben muss, wegen Lohndumping aus dem Ausland hinterher zum Sozialamt gehen zu müssen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Da haben wir doch den Mindestlohn!) Das dürfen die Leute in Deutschland doch von Ihnen erwarten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sind dagegen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!) Sie sorgen dafür, dass Mindestlöhne unterlaufen werden können. Sie tun so, als ob man in Deutschland Jobs verliert, wenn man den Mindestlohn einführt. In Wahrheit verlieren wir Jobs, wenn wir ihn nicht einführen. Meine Damen und Herren, es ist Zeit, dass wir in Deutschland wieder Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das schaffen wir! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) - Nein, Sie und Frau von der Leyen sind den Frauen in Deutschland zweimal in den Rücken gefallen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) als Sie dagegen waren, dass es bei der Leiharbeit gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und als Sie dagegen waren, dass wir endlich eingreifen, sodass Frauen und Männer gleichen Lohn bei gleicher Arbeit kriegen. Sie haben beide Male dagegen gestimmt. Ihre Ministerin fällt den Frauen in den Rücken, wenn es ums Handeln geht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und nach draußen hält sie feine Reden über Aufsichtsräte und Quoten, die sie dort einführen will. Das ist das, was Sie hier machen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Sigmar Gabriel (SPD): Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Meine Bitte an die CDU/CSU ist: Damals, 1952, gab es einen Gesetzentwurf der SPD. Darüber gab es lange Beratungen. Sie bildeten - wie heute - eine gemeinsame Regierung mit der FDP. Am Ende der Beratungen hatte Ihre Regierung unter Konrad Adenauer den Mut, dem Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, dessen Entwurf die SPD eingebracht hatte, mit den Stimmen von CDU/CSU zur Mehrheit zu verhelfen - gegen die Stimmen Ihres Koalitionspartners FDP. Sie zitieren Adenauer so gern. Verhalten Sie sich doch einmal so wie er. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gabriel, Ihre rhetorischen Fähigkeiten, Ihre Wortgewandtheit sind beeindruckend. Aber Sie waren in den vergangenen Beratungen zum Thema Mindestlohn nicht anwesend. Insofern haben Sie nicht gehört, was wir den Kollegen Ihrer Fraktion schon immer versucht haben von Grund auf zu erläutern. Wenn Sie die Anträge bzw. den Gesetzentwurf gelesen hätten, die zur Beratung vorliegen, wenn Sie sich ein bisschen in der Diskussion auskennen würden, dann würden Sie sehen, dass gegenwärtig unterschiedliche Mindestlohnhöhen im Gespräch sind: Da gibt es die 7,50 Euro von Bündnis 90/Die Grünen, die 8,50 Euro von Ihrer Partei und die 10 Euro der Linkspartei. (Sigmar Gabriel [SPD]: Da sind doch 8,50 Euro ein schönes Mittel!) Ich habe von meinem Kollegen Herrn Schlecht auf einer Podiumsdiskussion in Freiburg, auf der wir gemeinsam mit Peter Weiß waren, gelernt, dass die Linkspartei in Baden-Württemberg sogar 12 Euro für notwendig und für einen gerechten Lohn hält. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Neuer deutscher Rekord!) Ein Bürger hat mir geschrieben, er habe eine Partei gegründet, um einen Mindestlohn von 16 Euro durchzusetzen. Als ich Sie, Herr Schlecht, gefragt habe: "Warum dann nicht einen gesetzlichen Mindestlohn von 20 Euro?", haben Sie ernsthaft gesagt: Stimmt, darüber müsste man einmal nachdenken. - Lieber Herr Gabriel, Sie sehen, es ist gar nicht so leicht, wenn sich die Politik in die Findung von Lohnhöhen einmischt, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!) wenn sie festlegen will, was ein gerechter und guter Lohn ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deshalb sagen wir nach wie vor: Versuchen wir, die Politik aus dieser Frage herauszuhalten! Mittlerweile versuchen Sie in Ihren Vorlagen, Ihre Vorstellungen vergessen zu machen, dass nämlich für die Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohnes die Politik zuständig ist, indem Sie plötzlich davon sprechen, dass irgendwelche unabhängigen Kommissionen die Mindestlohnhöhe festlegen sollen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In England sehr erfolgreich!) Wenn man die Anträge bzw. den Gesetzentwurf von der Opposition genau liest, dann stellt man fest, dass Sie Ihren eigenen Vorschlägen misstrauen und dass Ihre Vorlagen nicht konsistent formuliert sind; denn der nationale Mindestlohnrat, den beispielsweise die Linkspartei vorschlägt, soll die Lohnhöhe fortwährend entwickeln, aber den Eingangsmindestlohn von 10 Euro möchten Sie ihm politisch vorgeben, genauso wie die Grünen ihren geforderten Eingangsmindestlohn von 7,50 Euro. Wir haben nichts dagegen, dass Löhne gut und gerecht sein sollen. Aber die Frage ist doch: Wer kann das feststellen? Es ist nicht so, dass wir bzw. die Tarifpartner einfach, losgelöst von der marktwirtschaftlichen Wirklichkeit, Lohnhöhen festlegen könnten. Dann wären wir uns vielleicht schnell einig. Das Gleiche gilt auch, wenn man die Lohnhöhe danach definieren wollte, was für die Rentensicherungssysteme angemessen wäre. Am Ende ist immer der Verbraucher mit seinem individuellen Preisempfinden daran beteiligt, welche Löhne in unserer Gesellschaft gezahlt werden. Denn wenn die Löhne zu hoch sind, dann werden die Produkte zu dem sich daraus ergebenden Preis nicht mehr abgenommen. Dann droht Arbeitslosigkeit; dann droht, dass Menschen nicht mehr an der Gesellschaft teilhaben können; dann droht, dass die Menschen keine Chancen mehr auf dem Arbeitsmarkt haben. Das scheint Ihnen, lieber Herr Gabriel, völlig egal zu sein. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Eindruck muss man haben!) Wir sagen: Die Menschen sollen Arbeit haben. Wenn das, was sie verdienen, für sie und ihre Familien nicht zum Leben reicht, dann ist es auch nicht unanständig und nicht moralisch fragwürdig, wenn sie von der Solidargemeinschaft, vom Steuerzahler, etwas zu ihrem Lohn dazubekommen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kober, worüber Sie zum Schluss sprachen, halte ich für einen Rechtsanspruch. (Zuruf des Abg. Pascal Kober [FDP]) Kollege Kolb, den gab es übrigens schon zu Zeiten der Sozialhilfe, wenn der Lohn nicht ausreichte, den man am Ende des Monats nach Hause brachte. Ich sage Ihnen das, weil Sie in Ihrer Fraktion der Experte sind. Die SPD-Fraktion hat heute 80 junge Frauen zu Besuch, es ist nämlich Girls' Day. Diese Girls, die wir herzlich willkommen heißen, erwarten, dass eine Sache aufhört - denn das ist wesentlich für ihre berufliche Zukunft -: Sie wollen, dass Schluss ist mit der Spirale nach unten, nach dem Motto: Es geht auch billiger, wenn es um Arbeit geht. - Herr Gabriel hat zu Recht darauf hingewiesen: Wünschen wir nicht all unseren Söhnen und Töchtern, dass es ihnen besser geht als uns? Wenn wir das in Sachen Lohn nicht hinbekommen, dann lösen wir dieses Versprechen nicht ein. Das lassen Sozialdemokraten nicht durchgehen. (Beifall bei der SPD) Deshalb will ich Ihnen sagen: Wir brauchen mehr Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das steht mitnichten der Tarifautonomie oder Branchentarifverträgen entgegen; es ist vielmehr eine notwendige Ergänzung. So sehen das auch die Gewerkschaften. Wer meint, er könne hier einen Keil dazwischentreiben, der glaubt auch, die Osterhasen würden im Laufe des Jahres zu Weihnachtsmännern umgeformt. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das passiert tatsächlich!) Bei den Branchenmindestlöhnen haben wir Sie doch, ehrlich gesagt, zum Jagen tragen müssen. Glauben Sie denn, ohne unseren Druck hätten wir heute diese Mindestlöhne? Nein, dem ist nicht so. Wenn wir nicht jeden Monat Druck machen würden in Sachen Mindestlohn, dann wären wir nicht einmal da, wo wir heute sind. Das ist ein Teil der Wahrheit. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich an vier Beispielen kurz und knapp darstellen, wie es um den Mangel an Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt bestellt ist. Erstes Beispiel. Es ist halb drei, wir alle haben zu Mittag gegessen, (Zuruf von der CDU/CSU: Ich noch nicht!) deshalb können wir über die Fleischwirtschaft reden, zum Beispiel die in Niedersachsen. Die Zustände dort sind absolut unappetitlich, weil Recht und Ordnung fehlen. Die Dänen sagen: Deutschland ist ein Niedriglohnland. - Deshalb schicken sie ihre Schweine zum Schlachten nach Deutschland. In der niedersächsischen Fleischindustrie herrschen Bedingungen, da vergeht Ihnen jeder Appetit auf das nächste Schnitzel. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Mir nicht! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die niedersächsischen Metzger werden in diesem Redebeitrag verunglimpft!) Zweites Beispiel: Herr Kolb, die Metzger in Thüringen - da kommt die berühmte Rostbratwurst her - haben einen Lohn von 5,49 Euro pro Stunde. Dafür können sie sich eindreiviertel Rostbratwürste leisten. Das stellen Sie sich bitte vor. Drittes Beispiel: Floristin - das ist ein Wunschberuf vieler Frauen. Die machen wunderbare Sachen. Aber was verdienen sie? 4,58 Euro pro Stunde in Brandenburg und im Hochlohnland Baden-Württemberg sage und schreibe 6,36 Euro. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Tarifvertrag!) Viertes Beispiel: die Friseure in Thüringen. Darüber hat die Kollegin Pothmer schon gesprochen. Deswegen sage ich: Wir müssen raus aus dieser Spirale "Es geht noch billiger". Der FDP-Minister aus Schleswig-Holstein ist von Herrn Ernst bereits zitiert worden. Da sickert die Erkenntnis durch, dass es so nicht weitergeht. Herzlichen Glückwunsch, kann ich da nur sagen. Sie haben den Direktor des IAB auf Ihrer Seite. In Spiegel-Online ist zu lesen, er verstehe gar nicht, warum man einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland für Teufelszeug hält. Wissen Sie, was er sagt? Er sagt: Das ist Ökonomiefolklore. - Recht hat der Mann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Ich empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre. Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der letzte sozialdemokratische Beitrag hat mich fast schon wieder etwas milder gestimmt. Aber die davor zu Gehör gebrachten Beiträge und insbesondere derjenige des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei waren an Populismus nicht zu überbieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nur, Herr Gabriel: Seien Sie vorsichtig! Sie werden schon jetzt an mancher Stelle von der Linkspartei überholt. Herr Ernst ist der bessere Populist als Sie. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) Sie werden ihn in diesem Bereich auch nicht überholen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich beginne mit den europapolitischen Aspekten Ihres Beitrages und auch des Beitrages der Kollegin Kramme, die sogar von Völkerwanderung sprach. Herr Gabriel, Sie sprachen davon: Die dringen hier ein. - So reden Sie darüber, wenn für den lange Zeit unfreien Teil Europas nun endlich, nach einer langen Übergangszeit - das hat dort nicht jeder verstanden -, weil sich Deutschland auf seinem Arbeitsmarkt lange abgegrenzt hat, eine Öffnung stattfindet; eine Öffnung, die nicht weniger als die tatsächliche Vollendung der Einheit Europas bedeutet, die vor 20 Jahren begonnen hat. Das ist die Zäsur, vor der wir stehen. Bei europapolitischen Veranstaltungen - in Warschau oder hier -, bei Veranstaltungen mit Menschen aus Polen, Tschechien oder dem Baltikum halten Sie schöne Reden über Europapolitik. In arbeitsmarktpolitischen Debatten hingegen verbreiten Sie einen dumpfen Populismus und sagen: Die dringen hier ein und nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Lieber Herr Gabriel, Sie befinden sich, um das vornehm auszudrücken, in einer unguten Gesellschaft. (Anette Kramme [SPD]: Ihr Vortrag ist unsubstanziiert!) Die Tatsache, dass Sie sich dieser Mittel bedienen müssen, spricht nicht dafür, dass Sie in Ihrer Rolle souverän sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dafür sprach übrigens auch die sehr zufriedene Miene, mit der Herr Steinmeier den Saal nach Ihrem Beitrag verlassen hat. (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Sigmar Gabriel [SPD]: Der wollte sich Sie ersparen!) Zur Sache: Worüber reden wir? Frau Kramme hat auf die Recherchen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hingewiesen. Wir reden über 100 000 Arbeitskräfte - vielleicht sind es auch 130 000 -, die ab dem 1. Mai 2011 zusätzlich auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu finden sein werden. Angesichts eines Verlustes von 200 000 Arbeitskräften in diesem Jahr als Folge des demografischen Wandels - darauf hat die Bundesagentur für Arbeit hingewiesen -, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei einer Gesamtzahl von 40 Millionen Erwerbstätigen!) angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein Wirtschaftswachstum hat wie kaum ein anderes Land (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und immer noch über 4 Millionen Arbeitslose!) - in einigen Bereichen herrscht in Deutschland glücklicherweise sogar wieder Vollbeschäftigung -, (Anette Kramme [SPD]: Aber in welchen Bereichen denn?) und angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland einen Fachkräftemangel haben, muss man sich keine Sorgen darüber machen, dass 130 000 Menschen nach Deutschland kommen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber die müssen anständig bezahlt werden!) Aus deutscher Sicht muss man sich eher darüber freuen - das tun die Betriebe auch -, dass wir Arbeitskräfte bekommen, die uns unterstützen können. Diese Menschen heißen wir willkommen, und wir behandeln sie selbstverständlich gut. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Darum geht es ja gar nicht!) Herr Gabriel, da Sie an Herrn Adenauer erinnert haben, sage ich: Das ist nicht das erste Mal, dass wir eine Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt haben. Jahrzehntelang gab es eine Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt insbesondere von Menschen aus der Türkei. Wo waren Sie denn damals? In welcher Art und Weise haben Sie denn damals Alarm geschlagen? Haben Sie damals eine Abschottung gefordert und gesagt: "Das darf nicht stattfinden!"? (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! Meine Güte!) Jetzt verbreiten Sie plötzlich Panik und sorgen für eine Verunsicherung, die aufgrund der Zahlen überhaupt nicht gerechtfertigt ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Geschäftsmodell Angst! Das ist das Modell der SPD!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Wadephul, genehmigen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ja. (Zuruf von der SPD) - Links ist links. Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Wadephul, ist Ihnen entgangen, dass kein Redner der Oppositionsfraktionen gefordert hat, den deutschen Arbeitsmarkt abzuschotten? Ein gesetzlicher Mindestlohn würde - dabei ist es in diesem Zusammenhang erst einmal egal, wie hoch er wäre - selbstverständlich auch für die Kolleginnen und Kollegen gelten, die aus anderen Ländern zu uns kommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber nicht egal!) Insofern ist es eine Verdrehung der Tatsachen, wenn Sie uns unterstellen, wir würden aus irgendwelchen nationalistischen Gründen unser Land abschotten wollen. Herr Wadephul, ist Ihnen auch entgangen, dass es ein Erfolg war, dass der Lohn in Deutschland in den letzten Jahrzehnten nicht einfach gedrückt werden konnte und die Arbeitszeiten nicht einfach verlängert werden konnten, weil sie tarifvertraglich festgelegt waren? Ist Ihnen entgangen, dass sich die Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land etwas anderes einfallen lassen mussten, als einfach nur billige Leute einzustellen oder die Löhne zu drücken, wenn sie mehr Geld verdienen wollten? Sie mussten vernünftige Produktionsweisen erarbeiten, neue Ideen haben und neue Produkte entwickeln, kurz: Innovationen voranbringen. Können Sie sich vorstellen - das ist der letzte Teil meiner Frage -, dass eine Aufhebung dieser Grenzen dazu führt - ich meine: wenn die Löhne wegrutschen und die Arbeitszeiten verlängert werden können -, dass die Unternehmerinnen und Unternehmer künftig in großer Zahl den schlechteren Weg wählen, um mehr zu verdienen, das heißt, dass sie die Löhne senken und die Arbeitszeiten ohne finanziellen Ausgleich erhöhen werden? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Kollege Ernst, zunächst einmal sage ich: Ich habe Ihren Antrag gelesen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist gut!) Sämtliche Forderungen werden mit dem Datum 1. Mai oder einer besonderen Dringlichkeit wegen der Gefahr für deutsche Arbeitsplätze begründet. Lesen Sie Ihren eigenen Antrag, bevor Sie mir hier eine Frage stellen! (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau der Punkt!) Zweitens habe ich den Ausführungen zugehört. Es wurde genau darauf, was ich hier angeführt habe, Bezug genommen. Drittens verweise ich Sie darauf, dass vor uns andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere Großbritannien, ihren Arbeitsmarkt geöffnet haben. (Sigmar Gabriel [SPD]: Die haben Mindestlöhne! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die haben Mindestlöhne!) Dort gibt es übrigens - darauf werden wir ja immer hingewiesen - Mindestlöhne. Ja, die haben Mindestlöhne. Nur, lieber Herr Gabriel, das hat überhaupt nichts geändert. (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie verstehen gar nichts!) Die meisten Polen sind in der Zeit nach 2004 nach Großbritannien gegangen. Der dortige Arbeitsmarkt hat diesen Zuwachs voll verkraftet. Das hat überhaupt keine Probleme gegeben. Es hat keinen signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit gegeben. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Eben!) Im Ergebnis wird das also überhaupt nichts ausrichten; das spielt überhaupt keine Rolle. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Wadephul, der Kollege Gabriel würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Nein. Ich würde jetzt gerne einmal versuchen, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. (Anette Kramme [SPD]: Schade! Das ist aber feige! - Sigmar Gabriel [SPD]: Schade! Sie haben ein bisschen Schiss jetzt gerade! Dabei wollte ich Ihnen helfen, Herr Kollege!) - Haben Sie so wenig Gelegenheit, zu Wort zu kommen, Herr Gabriel? Das tut mir leid. Ich werde Ihnen gegen Ende meiner Rede Gelegenheit geben, da einzuhaken. (Anette Kramme [SPD]: Das wird ja ein spannendes Ergebnis!) Herr Gabriel, Sie haben insbesondere die Pflege angesprochen. Ich möchte zunächst einmal auf eines hinweisen. Erstens ist es so, dass in diesem Bereich Mindestlöhne gelten. (Anette Kramme [SPD]: Ja, aber die werden unterlaufen, indem das als Haushaltshilfe bezeichnet wird!) Dies haben Sie leider verschwiegen. Zweitens wundere ich mich, in welcher Art und Weise Sie an dieser Stelle Panik machen. Wir haben in der Pflege - das weiß eigentlich jeder in Deutschland - einen akuten Fachkräftemangel. Es fehlen mindestens 10 000 Arbeitskräfte. Es werden mittlerweile Kopfprämien für Menschen, die bereit sind, in diesem Bereich zu arbeiten, gezahlt. Das ist in Ihrem Redebeitrag überhaupt nicht zum Ausdruck gekommen, lieber Herr Gabriel. Das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Anette Kramme [SPD]: Aber nicht zu einem anständigen Mindestlohn! Das sind Haushaltshilfen!) Ich muss hinzufügen: Wenn Sie hier diese in der Tat schwierige Arbeit schildern und beschreiben, dass in diesem Bereich Beschäftigte Menschen aus Windeln holen und ähnliche schwierige Tätigkeiten ausüben, muss ich sagen: Sie haben sich für diesen Beruf entschieden. - Dass wir oder irgendjemand in diesem Hause die Würde dieser Arbeitskräfte infrage stellen und nicht der Meinung sind, dass sie gerecht entlohnt werden müssen, stimmt nicht. (Anette Kramme [SPD]: Deshalb Mindestlohn! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann machen Sie es doch! Einfach machen!) Uns so etwas vorzuwerfen, Herr Gabriel, finde ich schlicht und ergreifend daneben. Es ist eigentlich auch unter Ihrem Niveau. Das sollten Sie in Zukunft so nicht wiederholen. Auf dem Niveau brauchen wir derartige Debatten nicht miteinander zu führen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte abschließend sagen: Es gibt hier nicht nur schwarz und weiß. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch!) Es ist nicht so, dass die einen für Mindestlohn und die anderen dagegen sind, sondern es gibt unterschiedliche Wege. Auch wir sind für Mindestlöhne, wir sind sogar für gesetzliche Mindestlöhne. Das, was aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und anderer Gesetze stattfindet, sind gesetzliche Maßnahmen. Wir sind der Meinung, dass es branchenspezifisch unterschiedliche Min-destlöhne geben sollte. Das findet zum Beispiel auch im Antrag der Grünen seinen Niederschlag. Vielleicht sollten Sie etwas differenzierter an die Debatte herangehen, so, wie es auch der Sachverständige Professor Bayreuther getan hat, den Sie, Frau Kramme, erwähnt haben. Daher möchte ich abschließend - Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung - noch kurz zitieren, was dieser Sachverständige gesagt hat: Ich hielte eine Generalisierung des Entsenderechts für relativ schwierig, weil es einfach Branchen gibt, die sich dazu nicht eignen. Es gibt diversifizierende Lohnstrukturen in großen unterschiedlichen Lohngittern. Das passt nicht ins Entsendegesetz. Die Branchen, die prekäre Beschäftigung aufweisen, sind überwiegend im Entsendegesetz. Wir haben dafür gesorgt, dass die Branchen, in denen es am notwendigsten ist, durch einen gesetzlich flankierten Mindestlohn geschützt werden. Wir schauen uns in aller Ruhe andere Bereiche an, aber es gibt keinen Anlass, mit Blick auf den 1. Mai 2011 in Panik zu verfallen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Sigmar Gabriel. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Nicht schon wieder! - Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Dadurch wird es auch nicht besser!) Sigmar Gabriel (SPD): Herr Kollege, ich wollte erstens nur sagen, dass ich mir einen Zustand wie in Großbritannien wünsche. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ich nicht!) Deswegen finde ich Ihr Beispiel, dass die Briten ihren Arbeitsmarkt geöffnet haben, so wunderbar. Das wollen auch wir. Aber die Briten haben schon seit langer Zeit einen gesetzlichen Mindestlohn. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Und warum geht es den Engländern schlechter?) Lieber Herr Kollege, wenn wir uns darauf verständigen können - ich vermute, dass Sie das gar nicht wollen -, dass wir uns die Briten als Beispiel nehmen, dass wir für die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa sind, und zwar so, wie Sie es am Beispiel der Briten beschrieben haben, dass wir dann allerdings auch die Bedingungen wie in Großbritannien schaffen, nämlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, dann sind wir uns einig. Sie haben eben nur die Öffnung der Grenzen thematisiert, aber nicht den gesetzlichen Mindestlohn in Großbritannien. (Beifall bei der SPD) Zweitens. Sie merken, dass ich Ihnen zuhöre. Sie haben mir anscheinend nicht zugehört. Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es einen Mindestlohn in der Pflege gibt, aber dass das Problem gerade darin besteht, dass er unterlaufen wird. (Anette Kramme [SPD]: So ist es!) Dem können Sie nur begegnen, wenn Sie einen gesetzlichen Mindestlohn einführen. Darum geht es. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Frage der Kontrolle, nicht der Gesetzgebung!) Drittens, Herr Kollege - damit das noch einmal deutlich an Ihr Ohr dringt -: Ja, ich finde, wer die Menschen, die in der Pflege arbeiten, mit 1 000 Euro netto und weniger abspeisen will, der verstößt gegen die Würde der Arbeit genauso wie gegen die Würde dieser Menschen in ihrer Arbeit. Genau das werfe ich Ihnen vor, ob Sie es nun hören wollen oder nicht. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Wadephul zur Erwiderung, bitte. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Kollege Gabriel, das Erste ist: Im Gegensatz zu Ihnen bin ich regelmäßig als Arbeitsrechtsanwalt tätig. Ich erlebe immer wieder, wie die Kollegin Kramme möglicherweise auch, dass es gesetzliche Regelungen, tarifliche Regelungen, Betriebsvereinbarungen, sogar Arbeitsverträge gibt, die klar und eindeutig sind, die aber unterlaufen werden, Herr Gabriel; (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) sogar strafrechtliche Vorschriften werden gelegentlich unterlaufen. Das gibt es in Deutschland. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das gibt es auch in der Metallindustrie! - Sigmar Gabriel [SPD]: Der kennt sich aus!) Das wird häufig sanktioniert, aber nicht immer. Ich will Sie vor dem Trugschluss, dem Sie möglicherweise aufsitzen, warnen, dass eine gesetzliche Regelung die Lösung sämtlicher Probleme wäre und all dies dann nicht mehr geschähe. Das ist nicht so. Es wird immer wieder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die sich in einer schwachen Position befinden und sich so etwas gefallen lassen. (Anette Kramme [SPD]: Deswegen wollen wir ja auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stärken!) Das ist traurig. Diesen Menschen muss man helfen. Ich tue das im Rahmen meiner Möglichkeiten als Abgeordneter und als Anwalt. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie lösen damit nicht alle Probleme. Das Zweite ist: Sie müssen sich schon genau überlegen, welche Beispiele Sie anführen. Wollen Sie uns ernsthaft vorschlagen, dass wir das englische Arbeitsvertragssystem, praktisch ohne Kündigungsschutz, übernehmen? (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Allerdings! Mein lieber Freund! - Max Straubinger [CDU/ CSU]: Genau! Ein "Superkündigungsschutz" wäre das! Das gäbe Probleme ohne Ende! - Anette Kramme [SPD]: Nein! Das ist falsch! Das hat er nicht vorgeschlagen! Doch nicht alles!) - Ein bisschen geht nicht. Sie haben gerade gesagt: Das gesamte britische System soll übernommen werden. - Das haben Sie mir vorgehalten. (Widerspruch bei der SPD - Anette Kramme [SPD]: Nein! Blödsinn! - Sigmar Gabriel [SPD]: Nein! Das habe ich nicht gesagt!) - Natürlich, das haben Sie mir vorgehalten. Dann nehmen Sie bitte auch alles. (Sigmar Gabriel [SPD]: Man merkt: Sie sind Anwalt! Man merkt, welchen Beruf Sie haben!) Lieber Herr Gabriel, Sie werden nicht nur ein bisschen übernehmen können, sondern Sie müssen sich schon auf das gesamte System in Großbritannien einlassen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie würde ich auch als Anwalt nehmen! - Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein! Wieso das denn?) - Ja. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir wollen doch nicht das Pfund einführen! Das ist ja nicht zu fassen, was Sie hier erzählen! Worüber reden Sie denn?) - Das ist ja in Ordnung. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir reden hier über den Kündigungsschutz, Herr Lange! - Sigmar Gabriel [SPD]: Wir merken gerade, warum Sie diesen Beruf gewählt haben!) Wir reden über arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Grundlagen unseres Wirtschaftssystems. Wenn Sie mir angesichts des Krankenversicherungsrechts in Großbritannien, angesichts der Situation, dass es dort praktisch keinen Kündigungsschutz gibt, und angesichts der Situation, dass es dort einen Mindestlohn von gerade einmal 6,50 Euro gibt, erzählen wollen, dass die Menschen auf der Insel in besseren sozialen Verhältnissen als die Menschen hierzulande leben, dann bin ich nicht Ihrer Auffassung. Ich bin der Meinung, möglichst viele Menschen in Deutschland sollten wissen, wie Sie über dieses Thema denken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gabriel will in Deutschland englische Verhältnisse! Das ist wirklich die Sensation!) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich in fast allen Punkten dem Kollegen Johann Wadephul anschließen, (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr gut!) außer bei einer Aussage. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie haben ja auch nur drei Minuten! - Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) - Ich habe nur drei Minuten, genau. (Anette Kramme [SPD]: Das passt zu den Prozentzahlen der FDP!) An einer Stelle seiner Rede hat er gesagt: Herr Gabriel, Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht vom größeren Populisten Klaus Ernst überholt werden. - Ich sage ganz ehrlich: Diese Sorge habe ich nach Ihrem Auftritt hier und heute nicht, Herr Gabriel. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sigmar Gabriel [SPD]: Das brauchen Sie auch nicht! Sie sollten ganz andere Sorgen haben! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es sind noch zwei Minuten!) Neu war in der heutigen Debatte - wir führen sie ja häufig, meistens in gleicher Besetzung, aber bei wechselnden Anlässen - wenig. Sie sagen, Sie wollen die Lohnfindung in die Hand der Politik legen. Wir sagen, sie ist bei den Tarifpartnern besser aufgehoben. Wir sind auch völlig pragmatisch, wenn die Politik einmal Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären muss. (Anette Kramme [SPD]: Ach! Das machen Sie einfach nicht! Da sind Sie pragmatisch!) Das haben wir in dieser Regierungszeit auch schon getan. Nur, wir lassen es Ihnen, Herr Gabriel, nicht durchgehen, dass Sie für die Essenz der sozialen Marktwirtschaft streiten. Denn zur Essenz der sozialen Marktwirtschaft gehört auch die Tarifautonomie. Dazu gehört auch, dass nicht der Staat und nicht Politiker für die Lohnfindung zuständig sind, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wollen wir ja auch gar nicht!) sondern Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das werden wir gegen Sie verteidigen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Anette Kramme [SPD]: Wie war das noch mit "Gewerkschaften sind eine Plage"?) Ich will auf einen anderen Punkt eingehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Redezeitverlängerung! Der Kollege Schlecht möchte eine Frage stellen!) - Herr Schlecht, möchten Sie eine Frage stellen? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich wollte gerade fragen: Wollen Sie eine Frage des Herrn Schlecht zulassen? Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Bei drei Minuten Redezeit sehr gerne. (Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP] - Anette Kramme [SPD]: Drei Minuten? Das passt zu den Prozentzahlen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Schlecht. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Hoffentlich fragt er nicht auch schlecht!) Michael Schlecht (DIE LINKE): Sie sind eben auf die Tarifautonomie eingegangen. Das große Problem ist doch, dass die Tarifautonomie in den letzten zehn Jahren erheblich beschädigt worden ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Durch die Politik!) Ich will Ihnen einen zentralen Punkt nennen. Ich selbst komme als Hauptamtlicher von Verdi. Bis Anfang 2003 waren wir dem gesetzlichen Mindestlohn gegenüber sehr zurückhaltend. Wir haben ihn zu einem zentralen Thema erhoben, nachdem mit Einführung des Arbeitslosengel-des II die Zumutbarkeitsregelungen entfallen sind und damit der freie Fall der Löhne nach unten eintrat. Damit war uns klar: Es muss eine andere Regelung her, wenn der Gesetzgeber diese Zumutbarkeitsregelungen fortfallen lässt. Das ist der entscheidende Punkt: Sie haben - gerade unter tätiger Mithilfe der FDP - längst die Tarifautonomie so beschädigt, dass schon allein als Notlösung der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland mehr als notwendig ist. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: War das eine Frage?) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Lieber Herr Kollege Schlecht, ich habe die Frage zwar nicht verstanden, werde aber trotzdem kurz auf die Bemerkung eingehen. Erstens: die Zumutbarkeitsregelung im Zusammenhang mit Hartz IV - es war nach meiner Erinnerung Rot-Grün, die sich als Retter der sozialen Marktwirtschaft aufgespielt haben. (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Sie haben doch damals applaudiert! - Anette Kramme [SPD]: Da haben Sie aber ein ganz schlechtes Gedächtnis!) Zweitens. Herr Schlecht, Sie werden die Tarifautonomie nicht retten können, wenn Sie der Politik die Lohnfindung in die Hand geben. Ich prophezeie Ihnen: Das klappt nicht. Wenn wir die Sorge teilen, dass es Gewerkschaften mit einem zu geringen Organisationsgrad gibt, könnten wir uns die Frage stellen: Wie können wir das korrigieren? Ich sage Ihnen: Das wird nicht dadurch gelingen, dass Sie Politikern die Lohnfindung in die Hand geben. Es würde übrigens auch ein Zweites nicht gelingen. Großbritannien ist hier immer wieder angesprochen worden. Herr Gabriel, ich habe mich in der Tat - wie der Kollege Wadephul - schon sehr gewundert. Wir können gerne über den britischen Kündigungsschutz, die Zahl britischer Urlaubstage, das britische Niveau der sozialen Sicherung und andere Arbeitsmarktregelungen Großbritanniens reden. (Annette Kramme [SPD]: Das ist die neue soziale Ader der FDP! Da hat Herr Rösler was anderes erzählt! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hätten Sie wohl gerne!) Vor allem liegt die Lohnfindung in Großbritannien in der Hand einer unabhängigen Kommission. Ich würde gerne mit Ihnen darüber diskutieren, ob das eine denkbare Lösung ist. Allein, wir glauben Ihnen nicht, dass Sie das durchhalten. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch! Halten wir!) Schon in Ihren Anträgen beweisen Sie immer wieder, dass Sie dieser Kommission schon bei der Einführung vorgeben wollen, wie hoch der Lohn sein darf. Das ist alles, aber nicht unabhängig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie doch einen eigenen Vorschlag vor!) Ich will noch zu einem weiteren Punkt, zum Thema Populismus, etwas sagen. Mich hat - auch da muss ich mich meinem Vorredner anschließen - eines wirklich gestört, und zwar dass Sie allen Ernstes den 1. Mai zum Aufhänger für Ihre Forderungen gemacht haben. Wir sind daran gewöhnt, dass wir hier mit Ihnen in jedem Monat die Mindestlohnfrage noch einmal diskutieren und die bekannten Argumente austauschen müssen. Das können wir gerne machen. Aber Sie können doch nicht den Beginn der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai zum Ausgangspunkt machen! Frau Kollegin Kramme, man kann nicht allen Ernstes sagen, Deutschland sei gänzlich unvorbereitet und im Herbst gebe es Missbrauch, weil die Bürgerinnen und Bürger aus den östlichen Mitgliedstaaten der EU zu uns kommen können. Das ist ein Schüren von Ängsten, die es in Deutschland viel zu lange gibt, (Anette Kramme [SPD]: Ihrerseits ist das das Schließen der Augen vor Gefährdungen!) von Ängsten, dass aus der Europäischen Union nur Schlechtes kommt. Das ist uneuropäisch für ein Land, das so sehr wie wir vom Binnenmarkt profitiert - dadurch werden hier Arbeitsplätze geschaffen -, das aber die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht einführen will. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Sigmar Gabriel [SPD]: Das zitieren wir mal bei der Euro-Rettung! Da zitieren wir mal die FDP!) - Da spielen Sie sich als die großen Europäer auf. Hier handeln Sie als europapolitische Populisten. (Beifall bei der FDP) Das ist erstens uneuropäisch. Zweitens verhindert das auch Chancen für unser Land. Sie schüren die Sorge vor Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. vor Menschen, die hierher kommen und weitere Arbeitsplätze schaffen, wie es in anderen europäischen Mitgliedsländern schon lange passiert. Wir hätten früher öffnen sollen. Genau diese Angst, die Sie schüren, verhindert auch, dass wir bei weiteren Themen schnell genug vorankommen. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, ob wir nicht auch von außerhalb Europas Menschen haben wollen, die als Fachkräfte hierher kommen, Arbeitsplätze schaffen und unsere Gesellschaft bereichern. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auch die müssen anständig bezahlt werden! Anständiger Lohn für alle!) Damit schaden Sie gerade den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land. In diesem Sinne: Schämen Sie sich, dass Sie diesen Antrag ausgerechnet zum 1. Mai hier wieder vorlegen. Ich fürchte aber, wir werden ihn sowieso in den nächsten Monaten weiter diskutieren. Wir können dann auch gerne weiterhin die Argumente austauschen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben gestern in der Ausschusssitzung in einem anderen Zusammenhang - da ging es um Flexicurity - über Dänemark gesprochen. Da rief ein Kollege dazwischen: Die haben ja auch eine hohe Tarifbindung. - Für einen Augenblick vermeinte ich, ein wenig Melancholie bei uns im Saal darüber zu spüren, dass uns das verloren gegangen ist: die hohe gewerkschaftliche Bindung der Arbeitnehmer, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und der Arbeitgeber!) aber auch die Bindung der Arbeitgeber, die teilweise die Möglichkeit haben, OT, also ohne Tarifbindung, Mitglied in den Arbeitgeberverbänden zu sein. Wir würden diese Diskussion überhaupt nicht führen, wenn es dort nicht ein Defizit gäbe. Anders ausgedrückt: Wir würden über gesetzliche Mindestlöhne nicht diskutieren, wenn die Tarifautonomie in der Art und Weise funktionieren würde, wie wir es gewohnt waren. (Sigmar Gabriel [SPD]: Richtig!) Ich vermute einmal, dass das Thema - Herr Gabriel, ich glaube, Sie haben es angesprochen oder Frau Pothmer - in der rot-grünen Koalition noch nicht so aktuell gewesen ist, weil der Stand der Tarifbindung damals noch anders war, dass wir es also mit einer Entwicklung der letzten zehn Jahre zu tun haben. Wenn es aber eine Erosion der Tarifbindung gibt, dann ist doch der erste Weg, dies zu heilen, von der Tarifautonomie auszugehen, wo immer das möglich ist. Wir haben das mit branchenbezogenen Mindestlöhnen getan, (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP]) unter anderem in der Abfallwirtschaft, bei den Dachdeckern, im Elektrohandwerk, in der Gebäudereinigung, bei den Malern und Lackierern, in der Pflege und in der Wäscherei, und in den letzten Wochen haben wir Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit vereinbart. Ich halte das für einen ganz deutlichen Schritt nach vorne, weil wir durch die Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit faktisch einen branchenübergreifenden Mindestlohn definiert haben, der natürlich eine Drittwirkung auf diejenigen entfaltet, die nicht als Zeitarbeitnehmer in diesen Branchen beschäftigt sind. Wir haben bei den branchenbezogenen Mindestlöhnen differenzierte Löhne vereinbart, die sich teilweise noch zwischen Ost und West unterscheiden. Man kann über die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme geteilter Meinung sein; aber das haben die Tarifpartner nun einmal so ausgehandelt. Mein großer Einwand gegen den Antrag der Linken besteht darin, dass die Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro im Grunde genommen bedeuten würde, wie mit einer Dampfwalze durch die Tariflandschaft zu gehen und sämtliche Differenzierungsmöglichkeiten ad acta zu legen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Michael Schlecht [DIE LINKE]: Welchen Stundenlohn haben Sie denn?) Der Kollege Kolb hat natürlich recht: Mindestlöhne hängen mit Wertschöpfung zusammen. Es ist aber auch wichtig, dass wir nicht erlauben dürfen, dass über einen Wettbewerb Lohndumping betrieben wird. Deswegen ist es ordnungspolitisch geboten, dort, wo es keine Regelungen gibt, sehr genau darüber nachzudenken, wie wir einen wilden Wettbewerb verhindern können. Die Väter der sozialen Marktwirtschaft standen dem sehr offen gegenüber. Müller-Armack hat einmal davon gesprochen, dass man durchaus Ordnungstaxen in Höhe des Gleichgewichtslohns begrüßen kann, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden. Ich bin sehr dafür. Im Übrigen würde auch der Mittelstand, vor allen Dingen das Handwerk, durch tariflich gebundene Mindestlöhne geschützt. Es ist moralisch und ethisch geboten - das wussten nicht nur die Väter der katholischen Soziallehre, sondern auch Adam Smith - und kann auch sozialpolitisch geboten sein. Was mir bei der ganzen Diskussion ein klein wenig zu kurz kommt - das als abschließende Bemerkung, die ich hier machen will -, ist, dass wir es beim Mindestlohn mit einer relativ kleinen Gruppe zu tun haben im Vergleich zu den großen Gruppen, die über die Zunahme an gewerkschaftlicher Kraft und die Lohnabschlüsse, die in den letzten Wochen und Monaten sehr hoch ausgefallen sind, von dem Wirtschaftswachstum profitieren. Ich glaube, man darf an dieser Stelle auch einmal daran erinnern, dass die Bundesregierung die Prognose für das Wirtschaftswachstum heute auf 2,6 Prozent nach oben korrigiert hat. Bei einer solch hohen Zahl hätten Sie noch vor wenigen Jahren den Kölner Dom dreimal am Tag läuten lassen. Wir sind stolz darauf, dass wir das hinbekommen haben. Wir müssen die Debatte über Mindestlöhne auch im Kontext des gesamtwirtschaftlichen Wachstums führen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Kollegin Gitta Connemann für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gitta Connemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man merkt, es nähert sich der 1. Mai. Zum einen nimmt die Anzahl an Mindestlohnanträgen schlagartig zu. Zum anderen haben uns heute in der Debatte zum Thema Mindestlohn Kollegen beehrt, die wir hier sonst nicht sehen. (Pascal Kober [FDP]: So ist es! Kollege Gabriel zum Beispiel! Er ist auch schon wieder weg! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hat nicht so viel Zeit!) Das sind die Kollegen Ernst und Gabriel. Ich habe sehr genau zugehört und muss sagen, dass das der Qualität dieser Debatte leider nicht gedient hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Bei den Ausführungen zum Thema wurde sehr deutlich, dass Herr Gabriel, der sicherlich häufig auf Kundgebungen und Parteiveranstaltungen spricht, nicht weiß, worüber er hier redet. Das wurde am Detail sehr deutlich, als er zum Beispiel über die Pflege gesprochen und das Schreckensszenario an die Wand gemalt hat, dass eine Horde von Arbeitnehmern an unseren Grenzen steht, die zu uns wollen, um hier insbesondere in der Pflege das Lohnniveau zu drücken. Er hätte sich besser darüber informieren sollen, dass erstens schon seit einigen Jahren Pflegekräfte aus dem Ausland bei uns tätig werden dürfen. Zweitens gibt es für diese Pflegekräfte bereits einen Mindestlohn, und zwar nicht für die Fachkräfte, wie der Kollege Gabriel suggeriert hat, sondern für die Hilfskräfte. Drittens hätte er sich informieren können und sollen, wie hoch der entsprechende Mindestlohn für diese Hilfskräfte in der Pflege ist. Er liegt im Westen bei 8,50 Euro und im Osten bei 7,50 Euro. Er hätte besser daran getan, sich zu informieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben nicht zugehört! Unglaublich!) Viertens hätte er gut daran getan, sich darüber zu informieren, dass es nicht eines gesetzlichen Mindestlohns bedarf, damit die entsprechenden Regelungen eingehalten werden können. Vielmehr kann selbstverständlich auch ein Verstoß gegen einen Branchenmindestlohn nach einer entsprechenden Kontrolle sanktioniert werden. Dafür setzen wir uns ein. Hier gibt es kein Rechtsetzungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Mir ist klar, dass der Kollege Gabriel sich englische Verhältnisse wünscht. Ich habe immer vermutet, dass er gerne einmal Kronprinz oder König sein will. (Zuruf von der CDU/CSU: Das bleibt England erspart!) Es dient der Debatte aber sicherlich in keiner Weise. Das Niveau, das Sie in Gänze gezeigt haben - das zog sich leider nicht nur durch den Debattenbeitrag des Kollegen Gabriel -, beschränkte sich darauf, Angst zu schüren. Sie schüren Angst vor dem 1. Mai. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Geschäftsmodell!) Sie suggerieren das Bild des Ansturms von Billigkonkurrenz. Meine Damen und Herren von der Opposition, wie müssen sich eigentlich unsere europäischen Nachbarn fühlen? Welches Bild zeichnen Sie damit von Menschen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, aus Slowenien, Tschechien und Ungarn? Ich finde das skandalös. Denn bei unseren Nachbarn muss der Eindruck entstehen, dass sie hier nicht willkommen sind. Ich sage für die Unionsfraktion sehr deutlich: Herzlich willkommen in Deutschland, und zwar ab dem 1. Mai! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, darf ich sagen: Haben Sie keine Angst vor dem 1. Mai! Dabei lasse ich die Frage außen vor, ob es tatsächlich zu einem Ansturm kommen wird. Der Kollege Wadephul ist sehr detailliert darauf eingegangen. Es kommt aber auch nicht auf die Zahl an. Es kommt darauf an, dass Sie suggerieren, es gäbe dadurch Billigkonkurrenz. Ohne Not; denn die Erfahrungen aus anderen Ländern, die ihre Arbeitsmärkte früher geöffnet haben, zeigen, dass diese Befürchtungen nicht eingetreten sind. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie beim Mindestlohn! Da gehen auch keine Arbeitsplätze verloren!) Dort kam es nicht zur Verdrängung einheimischer Arbeitnehmer. Die Arbeitslosigkeit ist dort nicht gestiegen. Die Löhne sind nicht gesunken. Das gilt übrigens auch für Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn wie Schweden. Auch darüber hätten Sie sich vielleicht besser im Vorfeld informiert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dort, wo es einen Missbrauch geben könnte, haben wir vorgesorgt. Ab dem 1. Mai gibt es eine Lohnuntergrenze bei der Zeitarbeit, auch dank Ihnen, Frau Ministerin von der Leyen; denn hier bestand tatsächlich die Gefahr, dass ausländische Firmen unter dem Deckmantel der Zeitarbeit Arbeitnehmer zu niedrigeren Löhnen nach Deutschland entsenden. Einem solchen Verdrängungswettbewerb haben wir zugunsten unserer Betriebe und der Mitarbeiter, die dort arbeiten, einen Riegel vorgeschoben. Das ist der richtige Weg, den wir übrigens auf Antrag der betreffenden Branche eingeschlagen haben. Denn wir in der Union sind für Mindestlöhne. Arbeit darf nicht arm machen. Alles andere wäre unsozial, unwürdig und unerträglich. Wir setzen bei der Festlegung von Mindestlöhnen eben nicht auf den Staat, sondern auf die Tarifpartner. Dieses System hat sich in 60 Jahren bewährt. Heute ist die pulsierende Wirtschaft in Deutschland auch von Ihnen bejubelt worden. Auch Herr Gabriel hat darauf hingewiesen, was in den letzten Jahren hier passiert ist. Das war das Ergebnis der Tarifautonomie, die eine der Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft ist. Lassen Sie uns stolz darauf sein, anstatt sie ständig kaputtzureden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Nur Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können sicherstellen, dass die Mindestlöhne den jeweiligen Verhältnissen angemessen sind. Ein Einheitslohn für jeden Betrieb in ganz Deutschland (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist doch kein Einheitslohn!) wird diesen Unterschieden nicht gerecht. Er könnte verheerende Folgen haben. Ich weiß, dass die Grünen in diesem Zusammenhang für regionale Mindestlöhne sind. Aber in dieser Hinsicht würde ich auch den Grünen empfehlen, sich besser zu informieren. Ich verweise auf die EuGH-Entscheidung in der Sache Rüffert, wonach es regionale allgemeinverbindliche Mindestlöhne nicht geben kann. Wir müssen auch die Entscheidungen des EuGH beachten. Darum bitte ich sehr. Denken Sie auch an das Vertragsstrafeverfahren in Sachen Island. Sie haben vorgeschlagen, unsere Entgeltbestimmungen auch auf ausländische Betriebe anzuwenden. Das ist nicht möglich. Bitte machen Sie doch Ihre Hausarbeiten, bevor Sie sich hier als Gesetzgeber gerieren. Bitte, bitte, bitte! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Unsere Aufgabe ist es übrigens nicht, Meinungen oder Stimmungen wiederzugeben. Ein Satz der Kollegin Pothmer hat mich wirklich sauer gemacht. Sie hat gesagt, wir hätten kein Herz. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein kaltes Herz!) Kein Herz haben diejenigen, die populistisch argumentieren, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind die, die Ängste schüren!) ein Herz haben diejenigen, die sich mit den Betroffenen vor Ort auseinandersetzen. Ich gehe in jeder sitzungsfreien Woche von einem Betrieb zum anderen, um das zu tun. Ich habe in meinem Wahlkreis einen wunderbaren Berufsbildungsträger, der viele Jugendliche ausbildet, die es etwas schwerer als die anderen haben. Das sind die Geringqualifizierten. Sie erhalten dort eine Ausbildung zum sogenannten Werker, eine minderqualifizierte Ausbildung. Bei einem gesetzlichen Mindestlohn hätten genau diese jungen Menschen eines nicht: Arbeit. Damit würden wir sie vom Arbeitsmarkt abschneiden. Arbeit bedeutet aber nicht nur Geld, sondern auch Würde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bitte Sie um eines: Machen Sie doch diesen jungen Menschen nicht ihre Zukunft kaputt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Gitta Connemann (CDU/CSU): Sehr gerne. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Connemann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das IAB bei der letzten Ausschussanhörung zum Thema Mindestlohn ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn Arbeitsplätze nicht vernichten, sondern schaffen würde, auch und ausdrücklich solche für Geringqualifizierte? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Golze? Dann könnten Sie die beiden Fragen zusammen beantworten. Gitta Connemann (CDU/CSU): Ich beantworte erst die Frage der Kollegin Pothmer, dann die Frage der Kollegin Golze. Ja, liebe Frau Kollegin Pothmer, es ist so. Sie haben betont, worauf es ankommt, nämlich auf die kluge Einführung eines Mindestlohns. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um einen gesetzlichen Mindestlohn!) Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass das IAB, übrigens ebenso wie die Friedrich-Ebert-Stiftung, gesagt hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn der Branchenmindestlohn ist. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein gesetzlicher! - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt nicht! Das ist falsch! Lesen Sie doch mal die Sachen! Hören Sie mal zu!) Wir haben Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen. Schauen Sie sich zwei Volkswirtschaften an. (Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz) - Ich bin noch gar nicht fertig. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber keine Antwort auf meine Frage!) - Das ist nicht die Antwort, die Sie hören möchten, liebe Frau Kollegin Pothmer, aber dazu dienen Fragen nicht. Sie müssen sich schon mit der Wahrheit konfrontieren lassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat mit der Wahrheit nichts zu tun!) Wenn es eng wird, setzen Sie sich und wollen nicht mehr zuhören. Das ist interessant. Das verweist auf Ihr Verständnis von Demokratie. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Golze? Gitta Connemann (CDU/CSU): Sehr gerne. Diana Golze (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Connemann. - Sie haben eben gesagt, ein Herz hätten diejenigen, die mit den Betroffenen sprächen und ihnen zuhörten. Deshalb eine klare Frage: Erklären Sie mir bitte, wie es kommt, dass es im rot-rot regierten Berlin die bundesweit einzige Beratungsstelle für entsandte Beschäftigte aus dem europäischen Ausland gibt, die genau die Arbeitskräfte, die wir hier sehr begrüßen und die wir vor Ausbeutung schützen wollen, berät? (Beifall bei der LINKEN) Gitta Connemann (CDU/CSU): Erstens. Ich kann es Ihnen nicht erklären; denn nach meiner Wahrnehmung hat der rot-rote Senat in der Vergangenheit allen Beratungsstellen so das Geld gekürzt, dass es keine mehr gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens ist Ihre Wahrnehmung falsch. Wenn Sie zum Beispiel bei der letzten Anhörung am vergangenen Montag, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hören doch bei Anhörungen gar nicht zu!) die wir auch zum Thema Freizügigkeit durchgeführt haben, anwesend gewesen wären, wüssten Sie, dass die Bundesagentur für Arbeit in ganz Deutschland Beratungsstellen gerade für die Arbeitnehmer unterhält, die aus den EU-Beitrittsstaaten zu uns kommen. Wir haben nachgefragt, ob diese Beratungsstellen unterfinanziert sind. Die Bundesagentur hat gesagt: Nein. Die Mittel sind sogar noch einmal verdoppelt worden, damit nicht passiert, dass sich europäische Arbeitnehmer, die zu uns kommen, hier hilflos wiederfinden. Dafür, dass das nicht passiert, haben wir Sorge getragen - Gott sei Dank auch außerhalb Berlins. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Ihre Redezeit ist überschritten. (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Gitta Connemann (CDU/CSU): Durch die vielen Fragen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nein, ich habe die Uhr angehalten. Gitta Connemann (CDU/CSU): Wir sind für den 1. Mai gut gerüstet. Ich sage noch einmal für die Union voller Freude: Herzlich willkommen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sinn von Zwischenfragen ist nicht, nach Ende der Redezeit noch Fragen zu stellen, um die Redezeit zu verlängern. Das wäre kein faires Spiel. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war nicht meine Absicht!) - Das ist wunderbar. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel "Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen". Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5499, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4038 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5499, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4435 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. (Zurufe: Der Ausschussempfehlung!) - Mir ist aufgeschrieben worden: Gesetzentwurf. Wir verändern das also. Ich bitte diejenigen, die der Ausschussempfehlung - also Ablehnung - zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung von SPD und Linken angenommen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne verhindern". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5101, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1408 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: 28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen - Drucksache 17/5472 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europäische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen - Drucksache 17/5386 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Stärkung des Europäischen Forschungsraums - Die Vorbereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die richtigen Bahnen lenken - Drucksache 17/5449 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze - Drucksache 17/5483 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen - Drucksache 17/5482 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wertstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung - Drucksache 17/5484 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wissenschaftliche Urheberinnen und Urheber stärken - Unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht einführen - Drucksache 17/5479 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sofortige Stilllegung der sieben ältesten Atomkraftwerke und des Atomkraftwerkes Krümmel - Drucksache 17/5478 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überführung der Rückstellungen der AKW-Betreiber in einen öffentlich-rechtlichen Fonds - Drucksache 17/5480 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Agnes Krumwiede, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Öffentlichen Diskurs zum geplanten Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin ermöglichen - Drucksache 17/5469 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tierschutz bei Tiertransporten verbessern - Drucksache 17/5491 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz l) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2010 - Einzelplan 20 - - Drucksache 17/5385 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gedenkort für die Opfer der NS-"Euthanasie"-Morde - Drucksache 17/5493 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU (2014-2020) - Drucksache 17/5492 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduktion verbieten - Drucksache 17/5485 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut - Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der "Global Health Governance" stärken - Drucksache 17/5486 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz in Public Privat Partnerships im Verkehrswesen - Drucksache 17/5258 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 29 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen - Drucksachen 17/5127, 17/5201 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/5510 - Berichterstattung: Abgeordnete Patricia Lips Dr. Birgit Reinemund Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5510, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/5127 und 17/5201 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 b: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Commonwealth der Bahamas über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/5128 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Monaco über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/5129 - - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Kaimaninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/5130 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/5467 - Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchstaben a, b und c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5467, die Gesetzentwürfe anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Stimmenthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 29 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland - Drucksachen 16/13325, 17/5314 - Berichterstattung: Abgeordnete Daniela Wagner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5314, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 16/13325 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 29 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung - Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2, 17/5462 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5462, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/5112 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Ablehnung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 29 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Anpassung chemikalienrechtlicher Vorschriften an die Verordnung (EG) Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung an Änderungen der Gefahrstoffverordnung - Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2, 17/5497 - Berichterstattung: Abgeordnete Jens Koeppen Frank Schwabe Dr. Lutz Knopek Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5497, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/5333 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 29 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 249 zu Petitionen - Drucksache 17/5393 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 249 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 250 zu Petitionen - Drucksache 17/5394 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 250 ist ebenso einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 251 zu Petitionen - Drucksache 17/5395 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 251 ist gegen die Stimmen der SPD-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Tagesordnungspunkt 29 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 252 zu Petitionen - Drucksache 17/5396 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 252 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 29 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 253 zu Petitionen - Drucksache 17/5397 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 253 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 254 zu Petitionen - Drucksache 17/5501 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 254 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 255 zu Petitionen - Drucksache 17/5502 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 255 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 256 zu Petitionen - Drucksache 17/5503 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 256 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 257 zu Petitionen - Drucksache 17/5504 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 257 ist gegen die Stimmen der Fraktion der Linken mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 258 zu Petitionen - Drucksache 17/5505 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Sammelübersicht 258 haben CDU/CSU, FDP und Grüne zugestimmt; die SPD hat abgelehnt, und die Linken haben sich enthalten. Zusatzpunkt 4 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 259 zu Petitionen - Drucksache 17/5506 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 259 ist mit den Stimmen von CDU/ CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 260 zu Petitionen - Drucksache 17/5507 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 260 ist mit den Stimmen von CDU/ CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 261 zu Petitionen - Drucksache 17/5508 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 261 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Besteuerung von Dieselkraftstoffen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Norbert Schindler für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Bitte schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Schindler (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Gäste auf den Tribünen! Meine Damen und Herren hier im Plenarsaal! Warum reden wir über dieses Thema? Es ist wichtig, das deutsche Volk darüber aufzuklären, (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die Bevölkerung!) was uns in den nächsten zwölf Jahren bei der Umstellung von Energiesteuern ins Haus steht. Zur Sachlage: 2004 hat die Europäische Union begonnen, sich dem Thema zu widmen. Das war ein Auftrag, von allen gewollt. Die Deutschen waren mit der Ökosteuer schon einige Jahre früher dabei. Unter anderem wegen der Ökosteuer, die übrigens nicht die Union eingeführt hat - sie ist mit Mehrheit eingeführt worden -, haben wir hohe Treibstoffsteuersätze. Jetzt versucht die Europäische Union, die Steuersätze in einem bestimmten Zeitraum anzugleichen; besteuert werden soll nicht mehr nach der Menge, sondern nach dem Energiegehalt. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Idee!) So weit, so gut. Wir haben gemeinsam mit Großbritannien mit Abstand die höchste Besteuerung in diesem Bereich: Bei Diesel sind es 47 Cent, bei Benzin circa 65 Cent. Wenn der europäische Durchschnitt bei Diesel derzeit bei 33 Cent liegt, hätte eine Harmonisierung des Steuersatzes erst langfristig eine Steuererhöhung zur Folge. Wir haben noch drei Legislaturperioden Zeit. Deswegen verstehe ich manchmal die Aufregung nicht, wie sie in den Zeitungen nachzulesen ist. Man muss sich nur die Ziele anschauen. Dass Deutschland nur vor dem Hintergrund des Einstimmigkeitsprinzips der Europäischen Union zustimmt, ist für uns so sicher wie das Amen in der Kirche. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann können wir uns das heute schenken!) Natürlich wollen wir auf lange Sicht eine Steuerharmonisierung, aber nicht zulasten des deutschen Autofahrers, der schon genug zahlt. Bei der momentanen Belastung hat er absolut die Schnauze voll; so muss man das einmal sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deswegen soll man mit Gemach und einer gewissen Gelassenheit an die Ziele herangehen, die wir letztendlich alle erreichen wollen. Da noch viele Kolleginnen und Kollegen zu diesem Punkt reden werden, will ich nur darauf hinweisen, was Deutschland derzeit umzusetzen versucht, um den CO2-Ausstoß zu senken. Ich wundere mich und bin erstaunt, dass Matthias Wissmann, unser oberster Autobauer, darauf hinweist, dass die Premiumklasse unter den Dieselfahrzeugen vielleicht betroffen wäre. 2008 - Gabriel war noch Umweltminister - stand man, ebenfalls beim Autogipfel, vor der Frage: Können wir angesichts der Premiumklasse, die besonders wichtig für unsere Arbeitsplätze und unseren Export ist, beim CO2-Ausstoß die europäische Durchschnittszahl von 120 erreichen? Nein, das können wir in Deutschland nicht, deswegen die Kombination mit Biokraftstoffen. B7 wurde eingeführt, und kein Hahn auf einem Misthaufen hat sich deswegen aufgeregt; alle Treibstoffe waren absolut motorenverträglich. Auch die Einführung von E5 hat niemand zur Kenntnis genommen; man ging zur Tagesordnung über. Aber die Einführung von E10 hat in Deutschland Furcht ausgelöst. Obwohl 99 Prozent aller in Deutschland hergestellten Autos absolut E10-verträglich sind, reden alle vom Untergang des Abendlandes. Typisch deutsch: Mein heiliges Blechle ist vielleicht davon betroffen. Ich habe hier eine Untersuchung vom TÜV Rheinland. Die DEKRA in Norddeutschland bestätigt die Untersuchungen zum tatsächlichen Verbrauch von E10. Er ist geringer im Vergleich zu E0 oder E5, und die Leistung von E10 ist noch besser, weil der ETBE-Anteil in diesem Sprit die Intelligenz der Motoren besser ausreizt und nutzt. So sagen mir das Techniker. Deswegen sollte man das mit Gelassenheit angehen. Ich sage hier im Parlament offen: Ich erwarte in den nächsten Tagen und Wochen auch eine Aufklärungskampagne der Automobilhersteller, denn wegen ihnen wurde das überhaupt eingeführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Mineralölverbände haben kläglich versagt. Sie waren nicht bereit, die 8 Millionen Prospekte, die im Umweltministerium gedruckt worden sind, an den Tankstellen so zu verteilen, wie es im Nachhinein auf dem Benzingipfel verabredet worden ist. Auch die Garantieerklärung der Autohersteller, das, was man mit ihnen in Brüssel 2008 zum Wohle des deutschen Wirtschaftsstandortes vereinbart hat, ist nicht eingehalten worden. Jetzt kommt Herr Matthias Wissmann! Ich hätte mir gewünscht, er hätte vor fünf oder sechs Wochen eine Aufklärungskampagne gemacht, um den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen im Treibstoffbereich zur Erreichung der Umweltziele vernünftig zu erklären. Nein, das wird ausschließlich der Politik zugeschoben, und der Umweltminister wird auch noch vorgeführt. Das war schon ein sehr starkes Stück. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident, Sie gestatten mir noch einen Satz dazu. Wenn die Kirchen Gutmenschenpolitik in den Entwicklungsländern machen wollen, sollen sie sich Brasilien anschauen: Dort gibt es 240 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche, wobei kein Regenwald betroffen ist. 6 Millionen Hektar werden zur Ethanolerzeugung genutzt. Wenn es nur 3 Millionen Hektar mehr wären, könnte Brasilien den gesamten lateinamerikanischen Kontinent mit Benzinersatz versorgen. Im eigenen Land ist das heute schon der Fall. Aber wir regen uns in Deutschland über einen Ethanolanteil von 5 oder 10 Prozent auf. Wenn wir über die Steuerharmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft reden, dann müssen wir über die langfristigen Klimaschutzziele wie die Verminderung des CO2-Ausstosses nachdenken. Für das Erreichen dieser Ziele müssen wir alle in Deutschland etwas tun, auch wenn es wie im Moment mühevoll ist. Die Debatte über Atomausstieg und Ersatztechnologien auf Basis von Gas wird uns im nächsten Vierteljahr oder noch länger begleiten. Auch da wird einiges von Deutschland abverlangt. Aber wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir auch kerzengerade zu diesen Zielen stehen. Das gilt auch für die Industrie, die daraus einen großen Profit ziehen wird. Ich nenne da Herrn Wissmann von der Automobilindustrie und Herrn Picard von der Mineralölindustrie, die nach außen verbindlich wirken, aber intern Steine in den Weg legen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, wenn ich richtig gezählt habe, waren das 17 Sätze. - Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Garrelt Duin (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Schindler, wenn ich das richtig sehe, hat die Koalition diese Aktuelle Stunde zum Thema Besteuerung von Dieselkraftstoffen und nicht zum Thema E10 beantragt. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das gehört zusammen!) - Das sind zwei doch deutlich unterschiedliche Themen. Ich will auf das eigentliche Thema, nämlich auf den Diesel, zurückkommen. Überall konnten wir am Wochenende lesen, dass die EU den Diesel teurer machen will. Das war die Botschaft. Nach näherem Hinsehen konnte man in Erfahrung bringen, dass es innerhalb der EU-Kommission Überlegungen gibt, den Diesel um 17 Prozent teurer als Superbenzin zu machen. Es war sehr bemerkenswert, dass am Freitag die Bundesregierung auf entsprechende Nachfrage in der Bundespressekonferenz dazu keine Meinung hatte. Ich finde, dass man sich dazu sehr schnell eine Meinung bilden kann. Man muss sich nur fragen: Soll diese Politik der Umwelt, der Industrie oder dem Verbraucher, in dem Fall dem Autofahrer, nutzen? Dann kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis: Die Pläne für eine Verteuerung des Diesels nützen keinem der drei Genannten. Deswegen sind solche Pläne abzulehnen. (Beifall bei der SPD) Eine höhere Dieselsteuer hilft niemandem. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist falsch! Man müsste sich inhaltlich damit beschäftigen!) - Dass die Grünen dafür sind, ist mir schon klar. Darauf komme ich gleich noch. Die Pläne innerhalb der Europäischen Union zur stärkeren Besteuerung von Diesel sind ein Paradebeispiel für etwas ganz anderes. Sie sind quasi ein Lehrstück, das zeigt, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist, rechtzeitig, ausgestattet mit einem entsprechenden Frühwarnsystem, auf europäische Entwicklungen zu reagieren und sie zu beeinflussen. (Beifall bei der SPD) Das haben wir wieder einmal vor Augen geführt bekommen. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Herr Burgbacher, Sie kennen sie auch; die Grünen werden sagen, dass sie anders zu bewerten sind. Bei der Steinkohlefinanzierung ist die Bundesregierung im wahrsten Sinne des Wortes nicht mit Energie in Brüssel aufgetreten. Das Thema energieintensive Industrien wurde mit Blick auf den Emissionsrechtehandel auf Brüsseler Ebene nicht kraftvoll vorangetrieben. Oder nehmen wir die wettbewerbsrechtlichen Nachteile für die deutsche Automobilindustrie durch das jüngst abgeschlossene Handelsabkommen mit Südkorea. Auch da hat sich die Bundesregierung nicht um die Belange der heimischen Industrie gekümmert. Dieses Problem wird auch im Rahmen der Diskussion um die Besteuerung von Diesel deutlich. Die Politik in Brüssel machen zum Teil deindustrialisierte Länder. In Brüssel machen zum Teil Leute Politik, die von der Sache selbst am Ende nicht betroffen sind. Ich bin wirklich ein glühender Europäer. Aber ich weiß auch: Um gute europäische Politik zu machen, bedarf es einer starken deutschen Stimme in Europa. Diese fehlt aber in allen Feldern. (Beifall bei der SPD) Was wir mit Blick auf die Automobilindustrie, auf die Autofahrer und auf unsere Umwelt brauchen, ist eine Politik aus einem Guss. Wir brauchen eine Verständigung darüber, wie wir die Antriebstechnologien der Zukunft fördern wollen. Aber dieses Thema darf man nicht singulär betrachten. Wir müssen uns auch fragen, wie hoch wir welchen Kraftstoff besteuern wollen. Wir müssen uns außerdem fragen: Welche Anreize wollen wir im Bereich E-Mobility geben? Wollen wir etwa Kaufanreize geben, um diesen Sektor zu fördern? Wie viel Geld wollen wir im Bereich Forschung und Entwicklung ausgeben? Wie wollen wir die Reduzierung der CO2-Emissionen weiter vorantreiben, nicht nur bei Pkw, sondern auch bei den Nutzfahrzeugen? Welche Infrastruktur wollen wir ausbauen? Wie gehen wir mit dem Thema "Zölle und Außenhandel" um, also mit der Frage des Wettbewerbs mit Herstellern von Automobilen aus außereuropäischen Ländern? Auch das Thema Sicherheit ist nicht zu vernachlässigen. Wir können in jedem einzelnen Feld die Regulierung vorantreiben. Aber es sind nicht die einzelnen Regulierungen, die Auswirkungen auf den Standort Deutschland haben. Es geht vielmehr um die kumulierende Wirkung der Gesetzgebung in all den Feldern, die ich gerade genannt habe. Wenn wir hier nicht handeln, kann das dazu führen, dass der deutsche Industriestandort mit der starken Automobilindustrie - wir sollten sie nicht in eine Ecke stellen, sondern froh sein, dass wir sie nach wie vor in Deutschland haben - in Schwierigkeiten gerät. Es ist die Aufgabe einer Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass wir endlich - im Grunde in einem Korridor von zehn Jahren - eine verlässliche Gesetzgebung auf der europäischen Ebene bekommen, bei der sich die Anliegen der Industrie und der Verbraucher, in diesem Fall der Autofahrer, aber auch die ökologischen Aspekte wiederfinden. Deswegen sage ich mit Blick auf die Bundesregierung, die am Sonntag, nach 48 Stunden, auch erkannt hat, dass das ein wichtiges Thema ist, und sich dann dazu positioniert hat: Machen Sie nicht hier in Deutschland dicke Backen! Protestieren Sie nicht in Deutschland gegen Pläne der EU, sondern machen Sie Ihre Arbeit: Seien Sie in Brüssel vor Ort und kümmern Sie sich dort um die Interessen der deutschen Autofahrer, der deutschen Industrie und der Umwelt! Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Volker Wissing (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Energiepreise die Brotpreise des 21. Jahrhunderts sind. Wir haben immer auf die Kostenbelastung der Bürgerinnen und Bürger geachtet. Aber andere in diesem Hause haben es anders gesehen; es gibt Vertreter der Grünen, die hier im Hause immer der Meinung waren, dass die Energiepreise höher sein müssen, damit die Bevölkerung zum Energiesparen erzogen wird. Wir erinnern uns an Ihre Forderung, den Spritpreis auf gut 2,50 Euro, damals 5 DM, anzuheben; das ist das Ziel, das Sie verfolgen. Es war Ihnen egal, dass Energiepreise auch eine soziale Bedeutung haben; es ist Ihnen auch heute noch gleichgültig. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen selbst, dass das nicht stimmt!) Es hat das linke Parteispektrum lange nicht interessiert, dass der Zugang zu Energie auch etwas mit Teilhabe, Mobilität und Wohlstand zu tun hat. Die SPD fängt jetzt langsam an, sich mit dem Thema zu beschäftigen; so viel zum Stichwort "frühzeitig", Herr Kollege Duin. (Beifall bei der FDP) Frank-Walter Steinmeier sagte neulich, man müsse aufpassen, dass Strom nicht zum Luxusgut wird. Das haben wir seit Jahren gepredigt; das war bei unserer Energiepolitik immer Teil der Abwägung. Schön, dass auch Sie sich langsam etwas mit diesem Thema beschäftigen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber zukunftstauglich ist Ihre Energiepolitik nicht!) Denn als Sie zusammen mit den Grünen den Atomausstieg beschlossen haben, war von einer sozialen Abfederung nicht die Rede. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt, wo es Ihnen langsam dämmert, was es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland bedeutet, zügig aus der Kernenergie auszusteigen, überschlagen Sie sich mit Forderungen nach sozialen Abfederungen, die man dabei brauche. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD, Frau Kollegin Kramme, fordert jetzt: "Wir brauchen Energiepreissubventionen für sozial Schwache, Langzeitarbeitslose und Geringverdiener." Meine Damen und Herren, was ist das denn für ein Konzept? Erst sollen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen den Vermietern die Solaranlagen auf den Dächern finanzieren; dann soll der Staat die Energiepreise der Arbeitnehmer subventionieren. Das hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun. (Beifall bei der FDP) Sie sehen ein, dass der Atomausstieg eine Gefahr für Menschen mit niedrigem Einkommen ist. Da fragt man sich, warum in Ihrem Atomausstiegskonzept ein Sozialausgleich fehlt. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was ist denn das für ein Beitrag? Kommen Sie doch mal zum Thema!) - Wir reden hier über Energiepreise. Mittlerweile ist die Atomausstiegspanik schon so weit gediehen, dass der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, vor einem übereilten Ausstieg warnt und sagt, man dürfe nicht einfach so heraus aus der Atomenergie, ohne einen Plan zu haben, wie man das "zu vertretbaren Preisen macht". Ja, der Mann hat recht; wir sagen das schon seit Monaten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) Zum Thema Dieselsteuererhöhung. (Zuruf von der SPD: Endlich!) Die Grünen freuen sich - die Forderung der EU-Kommission muss für Sie toll sein -: Man versucht nun von europäischer Seite, sich den von den Grünen geforderten Spritpreisen von 2,50 Euro pro Liter anzunähern. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch das ist nicht richtig! Auch das wissen Sie!) Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden das verhindern, weil wir die Menschen im Blick haben, die heute schon verzweifeln, wenn der Tank leer ist. Es gibt in Deutschland - das mögen Sie nicht mehr wahrnehmen - viele Bürgerinnen und Bürger, die vor weiteren Spritpreiserhöhungen regelrecht Angst haben, weil sie nicht wissen, wie sie das mit ihren Einkommen finanzieren sollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Grenze des Zumutbaren ist erreicht. Mobilität darf kein Privileg für Wohlhabende werden. Alle, die diese Debatte heute verfolgen, können ganz sicher sein, dass sich die christlich-liberale Koalition für bezahlbare Energiepreise einsetzen wird, und zwar auf europäischer Ebene genauso wie auf nationaler Ebene. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist eine gute Botschaft für unser Land. Es ist eine wichtige Botschaft für unser Land, dass die Bundesregierung die Bedeutung der Energiepreise erkannt und auch entsprechend gehandelt hat. Es ist gut, dass die Regierung die Pläne der Europäischen Union für eine Erhöhung der Spritpreise für Diesel entschlossen abgelehnt hat. Der Zugang zur Energie ist heutzutage die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Die SPD fängt langsam an, das zu verstehen. Die Grünen sehen das anders. Ihnen war die Bezahlbarkeit von Energie immer egal. Die FDP hat stets gewusst - und entsprechend verantwortungsbewusst gehandelt -, worauf es ankommt. Wir wollen Politik für die Menschen in diesem Land machen. (Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) Wir wollen, dass Energie bezahlbar bleibt. Das werden wir auch weiterhin tun. Tun Sie nicht so, als agierten wir auf europäischer Ebene nicht mit ganz klarem Kurs. Wir haben frühzeitig Nein dazu gesagt. Wir haben es verhindert. (Garrelt Duin [SPD]: Freitag hatten Sie noch nicht einmal eine Meinung dazu!) Die Grünen müssten, wenn sie ehrlich sind, jetzt auf die Menschen zugehen und sagen: Wir wollen höhere Preise, wir wollen bald das Ziel von 2,50 Euro erreichen. Ich sage Ihnen: Wir werden es verhindern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit letzter Kraft!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, ich vergewissere mich: Dies ist doch eine Aktuelle Stunde, gemeinsam von CDU/CSU und FDP beantragt. Dann hätte es gut getan, sich vorher darüber abzustimmen, was Sie hier überhaupt wollen. Wenigstens das sollte man vermitteln. (Beifall bei der LINKEN) Herr Schindler, Sie haben - wenn ich Sie richtig verstanden habe - hier darum geworben, Ruhe und Sachlichkeit in die Debatte zu bringen. Was Herr Wissing eben gemacht hat, war genau das Gegenteil davon. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das wollen wir einmal festhalten. Herr Schindler, Sie haben gesagt, wir wollen, da seien wir uns hier im Saal doch einig, die notwendige Abkehr von fossilen Brennstoffen und ein ökologischeres Wirtschaften bei der Energieerzeugung, bezüglich des Verbrauches von Kraftstoffen im Verkehr, für Heizzwecke usw. Auch das ist einvernehmlich. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Mit weniger Steuern!) Nun hat die EU-Kommission gehandelt und einen Vorschlag vorgelegt. Die Reaktionen dazu: Herr Ramsauer geht ins Kampfblatt Bild und verkündet: "Geht überhaupt nicht!", Herr Oettinger hat als EU-Kommissar gleich gesagt: "Heftiger Widerstand!", und Frau Merkel hat erklären lassen: "Mit mir ist das nicht zu machen!" Tosender Applaus vom Verband der Automobilindustrie. Herr Wissing findet das klasse. Herr Schindler, Sie fanden das eben nicht klasse. Ich hätte mir an dieser Stelle gewünscht, dass Sie als Koalition die Regierung in die Schranken gewiesen und gesagt hätten: Das Parlament möchte Umweltpolitik Schritt für Schritt tatsächlich umgesetzt haben! Nun kommen wir einmal zum Inhalt und reden nicht über E10 und die Arbeit in der EU usw., gucken also darauf, was die EU vorgeschlagen hat. Die CO2-Emissionen werden in zwei verschiedenen Bereichen behandelt. Das eine ist - richtig! - die Energieerzeugung, Kraftwerke usw. Dazu gibt es den Emissionshandel, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Der andere Bereich betrifft Verkehr, Haushalte, Landwirtschaft und kleine Industriebetriebe. Der ist noch nicht geregelt. Hier holt die EU-Kommission einfach etwas nach. Geht in Ordnung. Jetzt - wir sind im Jahr 2011 - wird vorgeschlagen, schrittweise einen Übergang vorzunehmen, dass nicht mehr die fossilen Brennstoffe, die umweltschädlich sind, steuerlich besser behandelt werden, also weniger kosten als die anderen - wie Ökobrennstoffe -, die für die Umwelt besser sind. Gut. Die EU-Kommission schlägt vor, den EU-Mindeststeuersatz in drei Schritten anzuheben. Dies soll unter zwei Aspekten geschehen: CO2-Emissionen und Energiegehalt des Kraftstoffs. Da der Steuersatz für Diesel in Deutschland derzeit rund 47 Cent beträgt und der EU-Mindeststeuersatz - wenn ich das richtig sehe - ab 2018 bei 41 Cent liegen soll, muss weiß Gott niemand Angst haben, dass die Steuererhöhung hinter der Tanksäule lauert. Herr Wissing, was Sie eben gesagt haben, ist völliger Blödsinn. Es wird sich vorerst überhaupt nichts ändern. Die EU-Kommission hat einen zweiten Schritt vorgeschlagen: 2023 soll der EU-Mindeststeuersatz für Diesel über dem für Benzin liegen. Wenn man sich die aktuellen Steuersätze anschaut, stellt man fest, dass man dann in Bezug auf die Dieselbesteuerung in der Tat einen großen Schritt machen würde. Wir reden derzeit aber über einen Zeitraum von zwölf Jahren. In diesen zwölf Jahren kann man Anpassungsmaßnahmen vornehmen. Die Autoindustrie könnte in dieser Zeit aus dem Knick kommen. Man könnte richtig etwas tun. Man könnte Angebote unterbreiten. Die Erneuerungsrate bei Fahrzeugen liegt im Durchschnitt sicher bei unter zehn Jahren. So haben Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit, zu sagen: Dann steige ich vielleicht doch vom Dieselauto wieder auf den Benziner um. Es gibt also viele Möglichkeiten. Es gibt überhaupt keinen Grund, hier eine solche Panik zu veranstalten. Ich finde es wirklich katastrophal, dass Sie als Koalition gegenüber der Bundesregierung keine eindeutige Meinung beziehen (Dr. Volker Wissing [FDP]: Klar haben wir eine eindeutige Meinung!) und ein klares Zeichen setzen, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir doch gemacht!) indem Sie sagen: Jawohl, das sind richtige Überlegungen. Denen können wir folgen. Wir begrüßen den Vorschlag der EU-Kommission. - Ich denke, er verdient es, in Ruhe und sachlich diskutiert zu werden. Es muss nicht unnötig via Kampfpresse Stimmung erzeugt werden, weil Sie versuchen, von Ihrer katastrophalen Politik abzulenken. (Beifall bei der LINKEN) Nehmen wir einmal die energetische Gebäudesanierung: Der Umweltminister verkündete in dieser Woche, er möchte 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen und richtig Geld hineinstecken. Das finde ich völlig in Ordnung. Wo soll das Geld aber herkommen? Die Atomindustrie will einfach nicht weiter einzahlen, weil Sie nicht in der Lage waren, wasserdichte Verträge abzuschließen. Deshalb muss man sagen: Es ist ein plumpes Ablenkungsmanöver und tatsächlich schädlich für den Umweltgedanken. Es ist schädlich, weil es eine Verunsicherung der Bevölkerung darstellt. Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion der Grünen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Autodeutschland befindet sich seit mehreren Wochen in Aufruhr. Nach dem Murks mit E10 fragte sich Deutschland am letzten Wochenende: Kommt jetzt der nächste Murks? Was wir erleben mussten, war in der Tat Murks. Es handelt sich dabei aber nicht um den Vorschlag der Europäischen Union. Es war vielmehr Unsinn, die Vorschläge in einer solch dummen und pauschalen Art und Weise zurückzuweisen, wie es Brüderle, Gabriel, Ramsauer und Merkel getan haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Versuch, den Volkszorn über E10 auf Brüssel abzuwälzen, ist bisher misslungen. Er wird auch weiterhin nicht tragen. Die Bevölkerung ist inzwischen weiter, als Sie denken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch ich muss einmal rekapitulieren, worum es denn eigentlich geht. Am Wochenende hatte man den Eindruck: Übermorgen kommt die Erhöhung der Dieselsteuer. So ist es aber nicht. Es geht nicht um ein Gesetz, das morgen in Kraft tritt. Es geht um den Entwurf einer Richtlinie der Europäischen Union, der gestern vorgestellt worden ist. Damit beginnt nun eine lange, voraussichtlich über zwei Jahre dauernde Diskussion zwischen der Europäischen Kommission, den europäischen Mitgliedsländern und dem Europäischen Parlament. Dann wird es zu einer Entscheidung kommen. Worum geht es inhaltlich? In Bezug auf Diesel geht es um zwei Dinge: Erstens geht es um die schrittweise Erhöhung des europaweiten Mindeststeuersatzes für Diesel von heute 33 Cent pro Liter auf 41,2 Cent pro Liter bis 2018. Hinzu kommt, dass in anderen europäischen Ländern zusätzliche Ermäßigungen für Fahrzeuge aus gewerblicher Nutzung gelten. Auch diese Ausnahmen sollen abgeschafft werden. Was ändert sich dadurch in Deutschland? Nichts. Nichts ändert sich in Deutschland, denn hier liegt der Dieselsteuersatz bereits über dieser Mindestgrenze, und zwar bei 47 Cent pro Liter. Das hat eine Konsequenz: den Tanktourismus. Dieser ist massiv. Es gibt Schätzungen, dass allein in Österreich der Absatz von Sprit zu 30 Prozent auf Tanktourismus zurückzuführen ist. Dieser Tanktourismus, der umweltpolitisch unsinnig ist, würde zurückgedrängt. Was kann daran aus deutscher Sicht falsch sein? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Dieser Kommissionsentwurf schlägt vor, dass ab 2023 Kraftstoffe endlich gleich zu behandeln sind und dann nach ihrem Energiegehalt und ihrem CO2-Ausstoß besteuert werden sollen. Das ist klima- und umweltpolitisch sinnvoll. Wenn Sie von der Koalition sich tatsächlich einmal dem Inhalt des Papieres widmen würden, dann könnten auch Sie nur zu dem Schluss kommen, dass dieser Vorschlag zu begrüßen ist. Es gibt nämlich keine ökologische Begründung dafür, dass in Deutschland Diesel mit 18 Cent gegenüber Benzin subventioniert wird. Diese Begünstigung ist kontraproduktiv. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Fakten: Der CO2-Ausstoß von Diesel liegt pro Liter um 21 Prozent höher als der von Benzin, wohingegen der Steuersatz auf Diesel um 28 Prozent niedriger ist. Was ist daran ökologisch sinnvoll? Das macht einfach keinen Sinn. Der Verweis auf die großen Fortschritte, die in den letzten Jahren in der Dieseltechnologie gemacht worden sind, zieht heute nicht mehr, jedenfalls nicht, was umwelt- und klimaschutzpolitische Argumente angeht. Denn seit 2001 sinken die durchschnittlichen CO2-Emissionen neuer Dieselfahrzeuge nicht mehr, stattdessen steigen sie an. Das hängt damit zusammen, dass der technologische Fortschritt durch die Anmeldung von leistungsstärkeren Pkw komplett aufgefressen worden ist. Bei Neuzulassungen liegen Dieselfahrzeuge derzeit im Schnitt bei einem Wert von 173 Gramm CO2 pro Kilometer. Damit liegen sie über dem Wert von Benzinern und weit über den angepeilten 120 Gramm CO2 pro Kilometer. Die Dieselförderung in Deutschland bremst andere emissionsärmere Technologien, wie beispielsweise die Hybridfahrzeuge, aus. Diesel wird im Vergleich zum Benzin - um eine Hausnummer zu nennen - in Höhe von 6,4 Milliarden Euro subventioniert. Außerdem gibt es bei Dieselfahrzeugen ein weiteres Problem, das eigentlich allgemein bekannt ist: Gesundheitsgefährdung durch Feinstaub. Kraftstoffverbrennung und -filter sind beim Diesel eben nicht so effektiv wie beim Benziner. Weitere Umweltprobleme kommen hinzu. Stichworte sind beispielsweise Bodenversäuerung oder Sommersmog. Noch ein Wort zu den Preisen. Herr Wissing, die Rede war von 2,50 Euro. Es ist gar nicht einmal sicher, dass, würde eine Steuererhöhung kommen, diese tatsächlich zu Preiserhöhungen führen muss. Momentan ist es schon so: Aufgrund der stark gewachsenen dieselbetriebenen Pkw-Flotte in Deutschland müssen wir derzeit nicht nur Rohöl importieren, das in Deutschland raffiniert wird, sondern wir müssen zusätzlich Diesel importieren, um die Dieselfahrzeuge in Deutschland betreiben zu können. Auch das macht keinen Sinn. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie ein bisschen herunter, lassen Sie Luft ab! Setzen Sie sich mit dem Inhalt der Richtlinie auseinander! Ansonsten stehen Sie vor einem Problem. Wenn Sie das nicht wollen, was wollen Sie stattdessen unternehmen, um die Klimaziele zu erreichen? Dazu hätte ich dann gerne eine Äußerung von Ihnen. Ich befürchte, wir haben bald nicht nur E10, sondern dann kommt E20, E30 oder Weiteres. Bitte zeigen Sie uns Ihre Alternativvorschläge! Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kritik, die hier in Richtung Regierung auf den Weg gebracht wurde, ist bislang so vielfältig, so unterschiedlich und einander widersprechend, dass aus meiner Sicht sehr vieles dafür spricht, dass die Position der Bundesregierung genau die richtige ist. Insofern ist eine Debatte wie die, die wir jetzt hier führen, durchaus erhellend. Die einen sagen, wir hätten uns früher und stärker aufpumpen müssen. Die anderen sagen, wir sollten Luft ablassen. Ich meine, wir sollten uns mit der Geschichte sachlich und vernünftig auseinandersetzen. Die Kritik von Herrn Duin, wir hätten nicht rechtzeitig reagiert, ist vollständig verfehlt. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was?) Immerhin hat sich die Kanzlerin zügig, unmittelbar zu Beginn dieser Debatte geäußert, und das ist nun einmal die höchste Instanz der Regierung, die sich hierzu melden kann. Das heißt, man kann der Regierung wirklich nicht vorwerfen, sie hätte sich nicht adäquat gemeldet, wenn sich die Bundeskanzlerin zu Wort gemeldet hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der falschen Antwort!) Ich glaube, es ist durchaus legitim, dass wir in einer solchen Debatte, in der es um ein europäisches Regelungsvorhaben geht, auch einmal darüber nachdenken, welche Interessen Deutschland in diesem Zusammenhang hat. Auch die deutschen Interessen sollten meiner Ansicht nach eine Rolle spielen. Diese Frage spielt nämlich für den Standort Deutschland eine Rolle, insbesondere für die Automobilindustrie, aber auch für unsere Verbraucher. Jedes zweite Fahrzeug, das hier neu zugelassen wird, ist ein Dieselfahrzeug. Diese Frage spielt für die Menschen in Deutschland also eine ganz große Rolle. Herr Wissing hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich viele schon heute fragen, ob sie die Spritpreise von morgen noch bezahlen können. Deswegen: Wenn wir das Regelungsvorhaben, das auf europäischer Ebene angedacht wird, nämlich die Angleichung der Diesel- und Benzinbesteuerung, bis zum Ende durchspielen, stellen wir fest, dass sich die Dieselbesteuerung um 60 Prozent erhöhen würde. Im Endeffekt läge der Dieselpreis 17 Prozent über dem Benzinpreis. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es liegt in Ihrer Hand, das national anders zu regeln!) Das ist eine Belastung, die für den deutschen Verbraucher nicht hinnehmbar ist. Diese Regelung ist vor allem mit Blick auf die Menschen nicht vertretbar, die im ländlichen Raum leben und zur Arbeit pendeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese Regelung wäre auch für unsere Landwirtschaft eine schwere Belastung. Im Übrigen geht sie auch mit Blick auf unsere Automobilindustrie in die falsche Richtung. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Erhöhung können Sie aber nicht Brüssel anlasten!) Schließlich würde auch das Transportgewerbe - ich denke an den Gütertransfer auf der Straße, der gerade in dem Logistikland Deutschland eine große Rolle spielt - schwerstens belastet werden, weil fast jeder große Lkw dieselbetrieben ist. Hier ist Diesel als Kraftstoff generell angesprochen worden. Ich glaube, an dieser Stelle muss man sehr sorgfältig differenzieren. Der CO2-Ausstoß pro Liter ist bei Diesel zwar höher, aber der Verbrauch ist bei einem Dieselmotor gegenüber einem Benzinmotor 25 Prozent niedriger. Das heißt, wir müssen sehen, wie hoch die Belastung pro gefahrenem Kilometer ist. Das ist die entscheidende Größe, wenn man fragt, welche Fortbewegungsart belastender oder weniger belastend für Klima und Umwelt ist. Dann sind wir bei der Frage: Welche technologischen Entwicklungsmöglichkeiten haben wir? Wenn Sie mit den Experten in der Automobilindustrie sprechen, sagen sie Ihnen: Wir sind beim Diesel noch lange nicht am Endpunkt der Entwicklung angelangt. Ich nenne das Stichwort "Clean Diesel". (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bei 172 Gramm pro Kilometer auch dringend nötig!) Gerade Hersteller wie Volkswagen und Daimler sind bei dieser Technologie weltweit führend. Wir wären ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir diesen Schritt tun würden. Dadurch würden wir unsere Automobilindustrie in diesem Kernfeld, in dem wir absolut Weltmarktführer sind - unsere Dieselautos lassen sich hervorragend exportieren -, unsere industrielle Basis mit Hundertausenden von Arbeitsplätzen dort und bei den Zulieferunternehmen, eilfertig beschädigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin der Meinung, dass wir uns mit den Vorschlägen der EU-Kommission sachlich, vernünftig und behutsam auseinandersetzen sollten. Wir sollten in der Debatte die deutschen Interessen aber durchaus deutlich und klar artikulieren. Das haben die Bundeskanzlerin und der Bundesverkehrsminister aus meiner Sicht überzeugend getan. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie erreichen Sie die Klimaziele im Verkehrsbereich?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Uwe Beckmeyer (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, dass bei den Regierungsfraktionen und damit natürlich auch bei der Bundesregierung am letzten Wochenende die große Nebelma-schine angeworfen worden ist. Wie kommt man zu diesem Eindruck? Plötzlich haben wir in großen Zeitungen den Weckruf des ADAC und des Herrn Wissmann gehört und gelesen, der Sie hinsichtlich der möglichen Reaktionen hier in Deutschland aufgeschreckt hat. Da fragt man sich: Brauchten Sie diesen Weckruf? Es schien so; denn danach äußerten sich Frau Merkel und Herr Ramsauer. Man hat den Eindruck: O Gott, bei denen ist der Weckruf angekommen. Die Frage ist nur: Wer regiert eigentlich unser Land? Der ADAC, der Verband der Automobilindustrie oder diese Bundesregierung? Man muss ernsthaft fragen, Herr Schindler, ob Sie hier Ihre Einzelmeinung vorgetragen haben oder ob das die Linie Ihrer Fraktion ist. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die des Bauernverbandes!) Was war das? (Zuruf des Abg. Norbert Schindler [CDU/ CSU]) Es wird erstens deutlich gesagt - da sind wir gar nicht auseinander -, dass Mobilität - hören Sie zu - (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Hören Sie zu! - Gegenruf der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sie sind nicht lernfähig!) in Deutschland bezahlbar bleiben muss und soll, und zweitens, dass wir eine Automobilindustrie haben, die auch national von uns im Auge behalten werden muss, weil eine große Zahl von Industriearbeitsplätzen von der Automobilproduktion in Deutschland abhängt. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Autogipfel gab es nur bei Gabriel! Da haben Sie recht!) - Hören Sie zu. Wir haben vor einigen Tagen das eine oder andere schriftlich bekommen, in dem zu lesen ist, wie die Bundesregierung zu diesen Papieren der Europäischen Union und zu diesen Plänen steht. Da wird vom Bundesfinanzministerium auf die Frage der Fraktion der Grünen, welche Position die Bundesregierung zur Energiesteuerrichtlinie vertritt, in einem offiziellen Schreiben geantwortet: Die Vorlage eines Änderungsvorschlags zur Energiesteuerrichtlinie an den Rat ist ein interner Vorgang der Kommission, in den die Mitgliedstaaten nicht offiziell einbezogen sind. Die Bundesregierung nimmt zu informell in die Öffentlichkeit gelangten Punkten keine Stellung, da weder bekannt ist, ob diese zutreffend sind, noch bekannt ist, ob die Kommission diese dem Rat förmlich vorschlagen wird. So weit die Bundesregierung auf diese Frage. Nun hören Sie zu: Seit anderthalb Jahren existiert ein Arbeitspapier der Generaldirektion Steuern und der Zollunion hinsichtlich der entsprechenden Modifizierung. Dieses ist den Mitgliedstaaten zugesandt worden und bekannt. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ach nee!) Die Frage an Sie oder an die Bundesregierung lautet doch: Was ist seitdem in Deutschland geschehen? Haben Sie sich eine Meinung dazu gebildet? (Beifall bei der SPD - Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Nicht einmal gelesen!) Haben Sie etwas getan? Sie machen hier die Windmaschine an, Herr Dr. Wissing, und sagen: Ho, wir sind dieser und jener Meinung. Aber was ist seitdem geschehen? Hat sich Deutschland in diese Diskussion eingebracht? Nein, Deutschland hat es nicht; sonst wäre die Überraschung nicht so groß gewesen. (Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Wenn man es nicht liest!) Es ist bekannt - auch das kann man diesen Dokumenten entnehmen -, dass sich sehr wohl Unternehmen, Kommissionsdienststellen und Mitgliedstaaten in vielfältigen Beiträgen aus den Mitgliedsländern dazu geäußert und dies bewertet haben. Sie aber sind überrascht worden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie mussten geweckt werden. Bei dieser katastrophalen Politik in Richtung Europa frage ich mich: Wo ist eigentlich Ihre Verantwortung für den Industriestandort Deutschland? (Beifall bei der SPD - Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Der Arbeitsplatzstandort ist im besten Zustand, Herr Beckmeyer! - Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) Ich glaube, insofern war der Weckruf sinnvoll. Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Das alles erinnert mich sehr stark an das, was wir bei E10 erlebt haben. Herr Ramsauer sagte, er sei dafür, dass E10 eingeführt wird, Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Kauder, der gerade nicht anwesend ist, sagte natürlich, dass das überhaupt nicht infrage kommt. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Sie lügen!) Welche Haltung haben Sie denn? Sie haben gar keine Haltung. Sie sind in dieser Frage meinungslos. (Nicolette Kressl [SPD]: Nicht nur in der Frage!) Das allerdings ist sträflich und verantwortungslos bezogen auf unsere Position in Europa. Da kann ich nur sagen: Werden Sie besser. Wenn nicht, bestätigt sich die These: Wir werden zurzeit in Deutschland schlecht regiert. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das stimmt allerdings!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heinz Golombeck (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist schlecht. Insbesondere beim Klimaschutz ist es durchaus sinnvoll, europäische Regelungen einzuführen. Denn nationalstaatliche Insellösungen tragen zum Klimaschutz kaum bei und führen außerdem zu Wettbewerbsverzerrungen. Alle Mitgliedstaaten haben der Strategie Europa 2020 und den 20-20-20-Zielen zugestimmt. Deutschland ist mit seinem ambitionierten Ziel, 40 Prozent des CO2-Aus-stoßes bis 2020 einzusparen, der absolute Vorreiter. Dies ist nicht ungewöhnlich. Man kennt uns in Europa als Impulsgeber und Pionier, insbesondere in Umweltfragen. Deutschland ist das einzige europäische Land, das so erfolgreich aus der Krise kam. Heute titelt die Bild-Zeitung: "So viele Jobs wie noch nie!" Die Bundesregierung erwartet für 2011 ein Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent; das sind 0,3 Prozentpunkte mehr als in der Prognose zu Jahresbeginn. Die Zahl der Arbeitslosen wird auf 2,9 Millionen sinken. Sollen wir diese positive Entwicklung jetzt etwa gefährden? Eine neue Steuerpolitik aus Brüssel ist das Letzte, was wir derzeit gebrauchen können. Kommen wir nun zur Besteuerung von Dieselkraftstoff. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war dazu noch mal Ihr Vorschlag?) Es gibt bereits die Euro-5- und Euro-6-Verordnung, durch welche der Schadstoffausstoß von Dieselmotoren und Benzinern angeglichen wurde. Ab 2014 werden die Stickoxidemissionen durch die Euro-6-Norm um weitere 68 Prozent gesenkt. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gibt es sie aber immer noch!) Außerdem gibt es eine EU-Verordnung aus dem Jahre 2009 zu den Neuzulassungen von Pkw nach Emissionsgruppen und Kraftstoffarten, welche eindeutige Ziele zur Verringerung der CO2-Emissionen verfolgt. Die Europäische Kommission sieht sogar vor, diejenigen Hersteller mit einer Lenkungsabgabe zu belegen, deren Jahresmittel bei Pkw-Neuzulassungen über dem für sie festgelegten Wert liegt. Eine höhere Besteuerung des hocheffizienten Dieselkraftstoffs ergibt daher umweltpolitisch wenig Sinn. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ahnungslos!) Wirtschaftlich hätte sie fatale Folgen. Fast der gesamte Straßengütertransport erfolgt durch Dieselfahrzeuge. Eine zusätzliche Besteuerung würde nicht nur gerade viele kleine und mittlere Unternehmen in den finanziellen Ruin treiben, sondern es würden auch die Landwirtschaft, das Handwerk, die Speditionsbetriebe, kurzum der Mittelstand, der Leistungsträger unserer Gesellschaft, unverhältnismäßig belastet. Nicht zuletzt würde die Besteuerung längerfristig auf den Verbraucher umgewälzt werden, der für viele Produkte tiefer in die Tasche greifen müsste. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann lassen Sie das doch! Brüssel jedenfalls zwingt Sie nicht dazu!) Nein, meine Damen und Herren, wir haben derzeit keinen Spielraum für Teuerungsraten. Gerade erst kam von EU-Kommissar Lewandowski der Vorschlag, künftig ein Drittel der EU-Einnahmen mit einer EU-Steuer auf bestimmte Waren zu generieren. Dies widerspricht eindeutig dem Koalitionsvertrag von Union und FDP. Denn dort steht: Eine EU-Steuer oder die Beteiligung der EU an nationalen Steuern und Abgaben lehnen wir ab. Auch darf die EU keine eigenen Kompetenzen zur Abgabenerhebung oder zur Kreditaufnahme für Eigenmittel erhalten. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und warum?) Genauso verhält es sich auch mit der Vorgabe von Mindeststeuersätzen. Auch diese lehnen wir ab. Wir brauchen in der Steuerpolitik keinen Nachhilfekurs von Brüssel. Aufgrund des schnelleren Ausstiegs aus der Kernenergie werden wir massiv investieren müssen: in den Leitungsausbau, in intelligente Netze, in Speichertechnologie und nicht zuletzt in die Energieforschung. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht eben etwas von gemeinsamer Klimaschutzpolitik gesagt?) Es nützt nichts, darum herumzureden: Energie wird ohnehin teurer werden. Wir können und wollen die Verbraucher nicht von mehreren Seiten durch höhere Preise belasten. Dies würde unser gerade erst mühsam erkämpftes Wirtschaftswachstum bremsen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) In Steuersachen muss im Rat einstimmig entschieden werden. Das heißt, ein Veto der Bundesregierung kann und wird die Richtlinie zur Energiebesteuerung, so wie sie uns vorliegt, kippen. Daher sagen wir Nein. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern, am 13. April 2011, kam eine Nachricht aus Brüssel mit der Überschrift - ich zitiere -: "Energiebesteuerung: Kommission setzt sich für Energieeffizienz und umweltfreundlichere Erzeugnisse ein". In dieser Nachricht hieß es: Die Europäische Kommission hat heute einen Vorschlag vorgelegt, mit dem die veralteten Regelungen zur Besteuerung von Energieerzeugnissen in der Europäischen Union überholt werden sollen. Man könnte sagen: Na endlich! Man könnte sich freuen und könnte sagen: Jawohl, jetzt machen wir eine Aktuelle Stunde zu dem Thema und sagen, wie wir das in Deutschland umsetzen wollen. Darauf habe ich gewartet; leider wurde ich bisher enttäuscht. Herr Schindler sprach über E10, und Dr. Wissing sprach - ein ganz neues Feld - über Sozialpolitik. Dr. Middelberg sprach hauptsächlich von deutschen Interessen innerhalb Europas. Herr Golombeck redete von der Arbeitslosenquote und wollte auf keinen Fall Steuererhöhungen. Ich rede jetzt einmal über Energiesteuern, also über unser Thema. Energiesteuern werden aus verschiedenen Gründen erhoben. Natürlich will man Einnahmen erzielen, man möchte die Leute zu sparsamem Verhalten animieren, und man möchte lenken, was bedeutet, dass saubere Energie bevorzugt werden soll. Was ist in Brüssel passiert? Man hat dort festgestellt: Energie wird völlig unterschiedlich besteuert, und es wäre sinnvoll, zu schauen, was für Produkte man hat und wie man die ganze Sache harmonisiert. Das ist an sich überhaupt nichts Schlimmes bzw. Schlechtes. Das hätten wir heute auch alles aktuell abfeiern können. Wie war die Situation? Die Situation war folgende: Schon am letzten Wochenende wurden vorab Nachrichten durchgestochen, die dazu führten, dass vor allem die Zeitung mit den großen Buchstaben den Untergang des Abendlandes postulierte. Aber die Kanzlerin stellte klar: Diesel wird nicht teurer. Ein kraftvolles Wort! Niemand hatte vorher in Brüssel gesagt: Wir wollen Diesel verteuern. Vielmehr wollte man Energie nur anders besteuern und vielleicht einmal Sachen auf den Prüfstand stellen. Überhaupt wundert es mich, dass sich die Bundesregierung aktuell mit dem Thema so stark beschäftigt; denn die ganze Sache wird für uns frühestens 2023 richtig akut. Da diese Bundesregierung nur noch bis 2013 im Amt ist, muss sie sich über solche langfristigen Dinge, denke ich, überhaupt keine Gedanken machen. Ich empfinde das Ganze als gigantisches Ablenkungsmanöver. Schauen Sie mal: Die Regierungsbank ist leider sehr spärlich besetzt. Normalerweise sitzt da eine Kanzlerin, die plötzlich den Atomausstieg forciert, obwohl sie immer für Atompolitik war. Das treibt die Leute natürlich in die Verunsicherung. Normalerweise sitzt da noch ein Außenminister, zu dem mir nur einfällt, dass er in Zukunft das falsche Amt abgeben wird. Dann sitzt daneben ein Innenminister, der bei Migranten Chaos verursacht. All das bringt die Leute in Panik. Sie setzen dann ihre Hoffnungen auf den meistens danebensitzenden Finanzminister, der leider keine Steuersenkungen vornehmen kann, aber auch sonst nicht einmal die Gemeindefinanzen geregelt bekommt. Normalerweise sehen wir daneben einen Wirtschaftsminister, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Guter Wirtschaftsminister!) der wie ein Fels in der Brandung steht. Allerdings ist das Wasser schon weg; das hat er nur nicht gemerkt. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Am Rand sitzt normalerweise unsere Arbeitsministerin, die Kürzungen bei Eingliederungsmaßnahmen in der Form forciert, dass nicht nur den Arbeitslosen angst und bange wird. Das alles bringt die Bevölkerung natürlich in Aufruhr. Man kann das verstehen, wenn dann noch die Apokalypse "Jetzt geht es gegen Autofahrer" an die Wand gemalt wird. Denn dann hilft auch nicht die in der zweiten Reihe sitzende Verbraucherministerin, die sich bisher um alles Mögliche gekümmert hat, nur nicht um den Schutz der Verbraucher. (Beifall bei der SPD) Alle Hoffnung ruht - gleich nachfolgend - auf der Familienministerin mit ihren Freiwilligendiensten. Ob das dem Land helfen wird, wage ich zu bezweifeln. Beim Gesundheitsminister kann ich nur fragen: Wo ist die Reform? Bei Ramsauer frage ich mich: Wo ist der Plan? Und bei Röttgen kann ich nur hoffen, dass das Moratorium dauerhaft sein wird; ansonsten hat er nämlich auch keine Lösung. Schavan muss man nicht großartig erwähnen, und bei Niebel fällt mir, ehrlich gesagt, außer Wirtschaftsförderung auf Kosten der Armen nichts mehr ein. Jetzt könnte man sagen: Unsere Hoffnung in der EU ruht auf Oettinger. (Olav Gutting [CDU/CSU]: Guter Mann!) Wir haben ja einen Energiekommissar. Nur frage ich mich: Wo ist eigentlich unser Energiekommissar? Wenn es um langfristige energiepolitische Ziele geht, habe ich von ihm auch noch nichts gehört. Das ist das Problem. Die aktuelle Regierung - die, wie gesagt, auf zwei Jahre befristet ist - kümmert sich nicht aktuell um die wirklichen Probleme in diesem Land, sondern lässt es zu, dass dieses Land in Panik verfällt und dieser Zeitung mit den vier Buchstaben hinterherläuft, ansonsten macht sie nichts als Ankündigungen. Ich möchte Sie bitten, sich in Zukunft zu bemühen, diese zwei Jahre einigermaßen anständig über die Bühne zu bringen und uns nicht nur Chaos zu hinterlassen; denn so viel können wir dann auch nicht mehr aufräumen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Dr. Daniel Volk [FDP]: Das war eine sehr lachhafte Rede!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Aumer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie haben an dem Thema dieser Aktuellen Stunde total vorbeigeredet. Sie haben gesagt, welche Kollegen von uns zum Thema gesprochen haben. Das Wesentliche ist, dass man bei all den Punkten den roten Faden erkennt. Bei Ihrer Satire, die Sie in Bezug auf das Kabinett von sich gegeben haben, fehlte es aus meiner Sicht an jeglicher Verantwortung für das Thema. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das war eine Situationsbeschreibung!) Ich glaube, Sie stellen sich dieser Debatte nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit. Wenn man sich der Situation in unserem Land stellt, dann sieht man, dass die Energie eines der wesentlichen Themen ist, (Uwe Beckmeyer [SPD]: Tun Sie doch endlich mal etwas!) über die man verantwortungsvoll und verlässlich diskutieren muss. Das tun wir. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Nichts!) Wir setzen uns mit den Dingen verantwortungsvoll auseinander und spielen hier nicht Fasching oder sonstige Dinge. Das kann nicht sein. Das war eine Büttenrede und nichts anderes. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das war doch nicht Fasching! Das war eine Situationsbeschreibung! - Zuruf des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Unser gemeinsames Ziel ist eine EU-Wirtschaft, die grüner und wettbewerbsfähiger ist sowie effizienter mit den Ressourcen umgeht. Das hat gestern der EU-Steuerkommissar bei der Vorstellung der Richtlinie, über die wir heute reden, gesagt. Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. Das ist für uns jedoch ein Vorschlag, der durchdacht werden muss, und man muss sich den Themen natürlich auch verantwortungsvoll stellen. Herr Beckmeyer hat vorhin gesagt, dass wir als christlich-liberale und die Regierung tragende Koalition nicht verantwortungsvoll mit dem Industriestandort Deutschland umgehen. Lieber Herr Beckmeyer, dieser Verantwortung sollten auch Sie in der Energiedebatte gerecht werden; (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wohl wahr! Aber Sie scheinen ein Wahrnehmungsproblem zu haben!) denn wir handeln verantwortungsvoll und schauen, wie man die Energiepolitik für die nächsten Jahrzehnte richtig und verantwortungsvoll ausrichten kann. Dazu gehört natürlich auch, dass man bei dem Thema Besteuerung genauer hinschaut und dass man für die Erreichung der Klimaziele eine gemeinsame Politik machen muss, die verantwortungsvoll in die Zukunft gerichtet ist. Wir tun das. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, Sie haben zwar viel gesagt, aber keine konkreten Vorschläge dafür gemacht, (Garrelt Duin [SPD]: Doch, natürlich! Sie haben nicht zugehört!) - Sie auch nicht -, wie man bei der Energiebesteuerung andere Wege gehen kann. Wir denken, dass gerade die Dieselbesteuerung ein wichtiger Punkt für die deutsche Steuerpolitik und für die Energiepolitik in Deutschland ist. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und warum kümmern Sie sich nicht darum?) Für die private Wirtschaft und für Privatnutzer gilt: Seit längerem gibt es eine ökologische Besteuerung des Treibstoffes, die in dieser Zeit sicherlich auch richtig und wichtig war, weil man damit lenkend wirkt. Man darf aber natürlich auch nicht überbesteuern. Gerade bei den Dieselfahrzeugen ist die CO2-Vermeidung ein wesentliches Ziel. Liebe Frau Paus, es wundert mich, dass die Grünen dieses Ziel ganz aus den Augen verloren haben. Ich habe aus Ihrer Rede geschlossen - so ist mir das vorgekommen -, dass Sie die dieselbetriebenen Fahrzeuge verdammen. Ich finde das nicht unbedingt sehr verantwortungsvoll. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört!) - Das war der Tenor ihrer Rede und aus meiner Sicht nicht unbedingt richtig; denn die Dieselfahrzeuge sind effizient und energiesparend, und es ist kontraproduktiv, wenn man sie falsch besteuert. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe gesagt: Beim Diesel ist nicht alles Gold, was glänzt!) Die Nachfrage nach Dieselfahrzeugen ergibt sich vor allem aufgrund der Kostenfaktoren. Das muss man ganz klar sehen. Man muss sich natürlich auch die Besteuerungsstruktur in unserem Land ansehen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie ändern! Damit hat Brüssel nichts zu tun!) Neben der Besteuerung des Kraftstoffs gibt es auch die Kfz-Steuer, die sich natürlich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Dieselfahrzeuge auswirkt. Deswegen muss man die Dieselbesteuerung als Ganzes sehen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Mit der Vorgabe in der Energiesteuerrichtlinie ist es einfach schwierig, die Dieselfahrzeuge in unserem Land wettbewerbsfähig zu halten und nicht zusätzlich durch eine Besteuerung zu belasten. Zum anderen muss man natürlich auch sehen, dass die Dieseltechnologie vor allem im Transportgewerbe und im industriellen Bereich vorherrscht. Eine höhere Besteuerung wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes verbessert wird. Hierüber muss man verantwortungsvoll diskutieren. Frau Paus, Sie haben es ja auch gesagt: Die bisher geltende Ermäßigung kann dann nicht mehr aufrechterhalten werden. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass man gerade im Bereich des Transportgewerbes und bei der Besteuerung der industriellen Fahrzeuge Ausnahmen machen kann. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie erreichen Sie Ihre Klimaschutzziele im Verkehrsbereich?) Des Weiteren sind wir in Deutschland mit unseren großen Automobilherstellern in der Dieseltechnologie weltweit führend. Auch hier muss man die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland aufrechterhalten und den Vorsprung sichern. Denn das Entscheidende für den Industriestandort Deutschland ist, Herr Beckmeyer, dass wir auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig und in diesem Bereich Vorreiter in wirtschaftlichen Fragen sind. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch in Zukunft! Nicht nur kurzzeitig!) Das hat die Bundesregierung dazu veranlasst, den Vorschlag der Europäischen Kommission kritisch zu sehen und ganz klar zu sagen, dass man alle Auswirkungen der Energiesteuerrichtlinie auf den Standort Deutschland, auf die gewachsene Besteuerungsstruktur und auf Wirtschaft und Verbraucher in unserem Land mitberücksichtigen muss. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss man eine kluge, zukunftsfähige Politik machen!) Wenn die Bundesregierung merkt, dass die geplanten Änderungen der gewachsenen Besteuerungsstrukturen in Europa den richtigen Weg einschlagen, dann kann man ihnen zustimmen. Wenn nicht, dann muss man die Richtlinie ablehnen und einen anderen Weg der Energiebesteuerung beschreiten, damit die Klimaziele in Europa und in Deutschland verlässlich erreicht werden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Olav Gutting (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich könnte man es kurz machen. Die Pläne zur Erhöhung der Mindestbesteuerung von Diesel verlangen in Europa Einstimmigkeit. Kanzlerin und Bundesregierung haben bereits eindeutig gesagt, dass es mit dieser Regierung keine Zustimmung, sondern ein Veto gibt, und zwar aus gutem Grund. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt keine Sicherheit mehr, Herr Gutting!) Denn bereits heute werden Dieselfahrzeuge in Deutschland bei der Kfz-Steuer erheblich höher besteuert als Fahrzeuge mit Ottomotor. Deswegen zur Dieselsteuererhöhung ein klares Nein, heute und auch in den nächsten Jahren. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Aber es geht auch um Grundsätzliches. Eine große deutsche Zeitung hat - vorhin haben wir das schon gehört - in dieser Woche getitelt: "Sind wir Autofahrer die Deppen der Nation?" Ja, dieses Gefühl kann den einen oder anderen in unserem Land beschleichen. Das muss uns Sorgen machen. Denn es gibt aus meiner Sicht spürbare Tendenzen in diesem Land gegen das Autofahren insgesamt. Die Brüsseler Vorschläge zur Erhöhung der Mindestbesteuerung von Diesel sind nur ein Teil des europäischen Weißbuches zur Verkehrspolitik. Darin stehen noch mehr Punkte, zum Beispiel radikale europaweite Geschwindigkeitsbegrenzungen (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jawohl!) und der an den Haaren herbeigezogene Vorwurf, dass es sich bei der Dienstwagenbesteuerung um eine Subvention handele. Hinzu kommen die Meinungen der Grünen. Das Ganze ist aus meiner Sicht ein Frontalangriff auf die deutsche Automobilindustrie, vor allem auf die in Baden-Württemberg ansässigen Prämiumhersteller. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Wir sind mit der deutschen Automobilindustrie Technologieführer, gerade auch beim Diesel. Die Modelle werden immer sparsamer und effizienter. Bei den Dienstwagen haben wir Deutschen einen Marktanteil von knapp 80 Prozent. Unsere Produkte aus der Automobilindustrie sind weltweit gefragt. Es ist einigen in Europa offensichtlich ein Dorn im Auge, dass die deutsche Automobilindustrie mit ihren Spitzenprodukten weite Teile der Märkte dominiert. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch, Herr Gutting! Jetzt malen Sie nicht was an die Wand!) Verschließen Sie ruhig die Augen. Aber diese Vorschläge aus Brüssel haben System. Sie richten sich gegen die deutsche Automobilindustrie und gegen die vielen Hunderttausend Arbeitsplätze in diesem Segment. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir kommen die Tränen!) Hinzu kommt, dass Grüne aus den eigenen Reihen im eigenen Land sagen: (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vaterlandsverräter!) Straßenbau ist nicht mehr zeitgemäß. Unvergessen ist auch Ihre Forderung von 5 DM bzw. heute 2,50 Euro pro Liter Benzin. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses der Grünen aus Baden-Württemberg sagt, die Automobilindustrie habe nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher und sei nicht mehr so wichtig, obwohl in Baden-Württemberg knapp jeder vierte Arbeitsplatz von der Automobilindustrie abhängt. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt nur mit uns Grünen eine Chance!) Aus den Koalitionsverhandlungen von Grün-Rot in Stuttgart hört man Beschwichtigungen: Ja, ja, wir werden schon noch die eine oder andere Umgehungsstraße bauen. Aber ich sage Ihnen: Mit der einen oder anderen Umgehungsstraße ist das Problem nicht zu lösen. Wir brauchen dringend mehr Investitionen in den Straßenbau. Wirtschaft braucht Mobilität. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen mehr kreative Ingenieure! Kreativität!) Wenn wir zukünftig die Spitzenstellung unserer Wirtschaft in Baden-Württemberg und deutschlandweit erhalten wollen, dann dürfen wir dem drohenden Verkehrskollaps nicht tatenlos zusehen. Sonst sind wir in Baden-Württemberg bald nicht mehr nur die Erfinder des Autofahrens, sondern auch die Erfinder des "Autostehens". (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die deutschen Autofahrer zahlen an der Tankstelle, über die Kfz-Steuer und über die Lkw-Maut jährlich knapp 52 Milliarden Euro. Diese 52 Milliarden Euro sprudeln aus dem Bereich des Straßenverkehrs, aber nur ein Bruchteil davon, nämlich knapp 6 Milliarden Euro, fließt in den Bundesfernstraßenbau. Ich glaube, da stimmt etwas nicht. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land erwarten von der Politik zu Recht mehr Investitionen in die Straße (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Politik ist doch gerade abgewählt worden, Herr Gutting! Das gibt es doch gar nicht!) und nicht mehr Abzocke an der Tankstelle. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letzter Rednerin in dieser Aktuellen Stunde erteile ich Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Patricia Lips (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Klimaschutz wird in Europa und in Deutschland und damit vor allem auch bei den Menschen in diesem Land groß geschrieben. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das haben wir gerade gehört!) - Das kann man nicht oft genug sagen. - Nun kann man das zunehmende Engagement seitens der Politik unterschiedlich forcieren: Man kann auf der einen Seite Anreize setzen, seien es steuerliche Anreize oder Zuschüsse, oder man kann gezielt einzelne Steuerelemente erhöhen, um dadurch, dass man ein Produkt unattraktiv macht, Lenkungswirkungen zu erzielen. Die europäische Energiesteuerrichtlinie, um die es heute geht, ist dabei grundsätzlich ein Instrument, um Klimaschutz voranzubringen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch einmal eine Aussage!) Sie gibt es nicht erst seit heute, und sie soll weiterentwickelt werden. Sie setzt Mindeststandards hinsichtlich der Energiesteuern für die Mitgliedstaaten, durchaus verbunden mit der Möglichkeit, Anreize zu setzen. So weit, so gut. Doch was geschieht nun im Rahmen dieser Weiterentwicklung? Der aktuelle Vorschlag der Europäischen Kommission sieht nicht einfach vor, die Mindeststeuersätze zu harmonisieren bzw. zu erhöhen, sondern geht vielmehr davon aus, dass es perspektivisch zu einer völlig neuen Bemessungsgrundlage kommt. Durch diese qualitative Änderung verschieben sich die Parameter der Besteuerung - vornehmlich im Kraftstoffbereich und insbesondere bei Diesel - nicht unerheblich. Ich betone: Maßnahmen, die zu Energieeinsparung und Reduzierung des CO2-Ausstoßes führen, sind grundsätzlich immer zu begrüßen. Wer wollte da Nein sagen? Aber der Teufel steckt im Detail. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, etwas in Erinnerung zu rufen, was wir in jüngster Vergangenheit beschlossen haben. Verfolgt man manche aktuelle Diskussion, hat man zurzeit fast das Gefühl, wir stünden erst am Anfang von Erkenntnissen. Ich sage dies auch, weil man eben nicht einfach eine Einzelmaßnahme - in diesem Fall die Änderung der Dieselbesteuerung - von außen einem differenzierten Gefüge von bereits vorhandener steuerlicher Gesamtbelastung der Teilnehmer im Straßenverkehr quasi zusätzlich überstülpen kann. Kollege Gutting hat schon darauf hingewiesen: Dieselfahrzeuge werden in Deutschland mit einem höheren Kfz-Steuersatz belegt, um gerade den Steuervorteil bei der Energiesteuer wieder auszugleichen. Es ärgert mich, wenn immer wieder einseitig geschrieben oder gesagt wird, es finde eine Subventionierung der Dieselfahrzeuge statt. Diese Medaille hat zwei Seiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir haben darüber hinaus erst vor kurzem die Kfz-Steuer mit Elementen weiterentwickelt, die Anreize setzen sollen, grundsätzlich auf verbrauchsarme Fahrzeuge umzuschwenken. Warum sind wir so verfahren? Das Optimierungspotenzial bei Dieselfahrzeugen ist höher als bei Fahrzeugen mit Ottomotoren, deren Verbrauch ist damit in der Regel geringer, (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War!) und sie sind sparsamer. Kollege Middelberg hat darauf hingewiesen: Eigentlich müsste man vielmehr auf die Kilometerleistung abzielen und nicht so sehr auf den Kraftstoff. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beim Klimaschutz geht es nicht um den Liter, sondern um den Inhalt!) Deshalb war es das Ziel, nicht erst an der sprichwörtlichen Zapfsäule anzusetzen, sondern bereits beim Erwerb eines Fahrzeugs. Diese Maßnahmen wurden ergriffen, weil man deren Notwendigkeit erkannt und sie als zielführend im Sinne des Klimaschutzes bewertet und vor allen Dingen auch als gerecht angesehen hat. Nicht gerecht wäre es, wenn diese Bemühungen und die damit hervorgerufene Bereitschaft der Menschen, auf schadstoffärmere Fahrzeuge umzusteigen, nun durch eine pauschal höhere Dieselbesteuerung fast schon konterkariert würde, ohne das Genannte zu berücksichtigen. Was sollen wir denn den Menschen sagen, die heute vielleicht mehr auf den Verbrauch als auf die Ausstattung oder die Farbe eines Wagens achten, worüber wir uns ja freuen? Bisher war die Strategie auch innerhalb der EU immer sehr stark auf die Prinzipien ausgerichtet, Anreize für die technologische Entwicklung von Fahrzeugen und steuerliche Anreize zu setzen, damit die Halter ihre Kaufentscheidung bewusst nach diesen Kriterien ausrichten. Nun am Ende aber diejenigen zu strafen, die in diesem Sinne gehandelt haben, die Zange quasi von beiden Seiten anzusetzen, kann nicht unser Ziel sein. Da reicht schon das Signal aus Brüssel. Die Reaktionen kann man auch mit "Wehret den Anfängen" rechtfertigen. Jedes zweite Auto - es wurde schon darauf hingewiesen -, das heute in Deutschland gekauft wird, ist ein Diesel. Wir sind führend in der Weiterentwicklung dieser Technologie. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen. Die Auswirkungen würden auch und vor allem den kommerziellen Bereich wie das Transportgewerbe empfindlich treffen und damit die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes beeinträchtigen. Auch das kann uns nicht gleichgültig sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Bei Abwägung des beschriebenen Gesamtbildes kann zumindest den bisher bekannten Vorschlägen mit den entsprechenden Auswirkungen von unserer Seite nicht gefolgt werden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie die Klimaschutzziele erreichen?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Perspektiven für Jungen und Männer - Drucksache 17/5494 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss In einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesministerin Kristina Schröder das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ein paar Wochen, am 8. März, haben wir den 100. Weltfrauentag gefeiert. Er steht für all die Rechte, die sich Frauen hart erkämpft haben. Seit 1999 gibt es auch einen Internationalen Männertag. Was aber die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft, kann dieser Internationale Männertag mit dem Weltfrauentag bei weitem nicht mithalten. Er bewegt sich eher auf dem Niveau des Welttags für die Bekämpfung von Wüstenbildung und Dürre. Dieses Aufmerksamkeitsgefälle zwischen Frauentag und Männertag ist symptomatisch für eine Schieflage in der Gleichstellungspolitik. Wenn wir über Gleichberechtigung reden, reden wir vor allem über Frauenpolitik. Die Bedeutung der Jungen- und Männerpolitik in der Gleichstellungspolitik wird immer noch unterschätzt. Das müssen wir ändern, und zwar sowohl im Interesse der Männer als auch im Interesse der Frauen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Florian Bernschneider [FDP]) Wir wollen Gleichberechtigung - nicht als Ergebnisgleichheit, sondern als Chancengleichheit. Der Schlüssel zur Gleichberechtigung der Geschlechter ist die Gestaltungsfreiheit von Männern und Frauen, was ihren eigenen Lebensentwurf betrifft. Wie sehr dabei Männerleben und Frauenleben voneinander abhängen, sehen wir zum Beispiel, wenn wir die Chancengleichheit im Berufsleben betrachten. Wir führen die Debatte um Frauen in Führungspositionen auch fast ausschließlich als eine frauenpolitische Debatte. Das ist ein Fehler. (Caren Marks [SPD]: Sie sind ja nie da bei den Debatten! - Gegenruf von der CDU/CSU: Sie redet doch gerade! - Caren Marks [SPD]: Mal ausnahmsweise!) Fakt ist: Wenn in vielen Topführungspositionen 70- oder 80-Stunden-Wochen immer noch üblich sind, dann stehen das nur diejenigen durch, denen jemand zu Hause den Rücken freihält. Damit macht unsere Arbeitswelt eine traditionelle Rollenverteilung in der Partnerschaft quasi zu einer Art Karrierevoraussetzung. Für das Prinzip "Karriere wird nach Feierabend gemacht" bezahlen viele Frauen also gleich doppelt: zum einen mit eingeschränkten Karrierechancen für sie selbst - wenn sie am Feierabend eben nicht Karriere machen, sondern die Kinder bettfertig machen - und zum anderen mit Verzicht auf Unterstützung durch den Partner, weil auch er sich diesem Prinzip beugen muss. Genau das ist doch der Punkt. Glücklicherweise gibt es heute immer mehr Väter, die mehr von ihrer Familie haben wollen als ein Bild auf dem Schreibtisch. Auch sie bezahlen im Moment mit schlechteren Karriereaussichten, wenn sie ihre Prioritäten entsprechend setzen. Auch sie sind in stereotypen Rollenerwartungen gefangen, so wie vielleicht ihre Mütter vor 50 Jahren. Wenn wir faire Chancen für Frauen wollen, dann müssen wir auch Männern die Chance geben, sich von Rollenmustern zu lösen, und zwar sowohl in der Familie als auch in der Arbeitswelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Union und FDP sagen: Männer- und Frauenpolitik stützen sich gegenseitig. Was man aus männer- und jungenpolitischer Sicht machen kann, zeigt der Antrag der Koalitionsfraktionen auf. Auch für mich als Ministerin hatte dieses Thema seit Beginn meiner Amtszeit höchste Priorität. Deswegen hat heute in Deutschland zum ersten Mal bundesweit ein Boys' Day stattgefunden, ein Ereignis, an dem sich auf Anhieb 35 000 Jungen beteiligt haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Anklang, den dieser Boys' Day gefunden hat, hat meine eigenen Erwartungen bei weitem übertroffen. Dieser Tag ist auch international schon bekannt geworden. Ich freue mich sehr, dass heute mein norwegischer Kollege, der norwegische Minister für Kinder, Gleichstellung und soziale Inklusion, Audun Lysbakken, in Deutschland ist - er sitzt oben auf der Tribüne -, um sich den hiesigen Boys' Day anzuschauen. (Beifall) Wir haben deswegen vor einigen Monaten einen Beirat für Jungenpolitik gegründet, ein Gremium, in dem nicht nur, wie sonst, Wissenschaftler und Praktiker zusammensitzen, sondern auch sechs Jungen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus. Sie alle entwickeln Handlungsempfehlungen für die Jungen- und Männerpolitik. Ich sage Ihnen: Wenn wir uns das anschauen, dann können wir alle noch etwas lernen. Wir haben das Programm "MEHR Männer in Kitas" gestartet. Mehr Männer in Kitas sind wichtig, um Männern neue Berufsaussichten zu ermöglichen, um Kindern von Anfang an zu zeigen, dass Erziehungsaufgaben von Frauen und Männern wahrgenommen werden können, und um mehr männliche Vorbilder zu haben. Männliche Vorbilder in den Kitas - das ist sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben auch für die sogenannten Vätermonate - eigentlich sind es die Partnermonate - beim Elterngeld gesorgt. Diese Monate sind ein riesiger Erfolg. Bevor wir das Elterngeld eingeführt hatten, haben nur 3,5 Prozent der Väter eine berufliche Auszeit für die Betreuung ihrer Kinder genommen. Jetzt sind es fast 25 Prozent. Das ist ein bemerkenswerter Wandel in so wenigen Jahren. Die Ausweitung der Anzahl der Vätermonate steht selbstverständlich nach wie vor auf unserer Agenda. Genauso wie alle anderen Maßnahmen, die wir geplant haben, unterliegt diese Maßnahme natürlich - der Neuigkeitswert dieser Aussage liegt genau bei null - auch dem Finanzierungsvorbehalt. Noch eins will ich Ihnen von der Opposition sagen: Ihre Konzepte für eine Ausweitung der Anzahl der Vätermonate - Sie gehen teilweise so weit, zu fordern, der Staat solle vorschreiben, dass die Anzahl der Väter- und der Müttermonate hälftig, aktuell also sieben zu sieben, aufzuteilen sei - sind einfach nur Ausdruck eines Mehrs an Bevormundung, eines Mehrs an Umerziehung. Die Umsetzung dieses Konzepts würde für 90 bis 95 Prozent aller Paare bedeuten, dass ihnen das Elterngeld gekürzt wird. (Caren Marks [SPD]: Warum das denn?) Das wird es mit uns nicht geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schließlich hat die Bundesregierung vor einigen Wochen im Kabinett die Einführung einer Familienpflegezeit beschlossen. Die Familienpflegezeit ist auf Menschen ausgerichtet, die Vollzeitarbeitsplätze haben. Insofern ist die Familienpflegezeit auch auf Männer ausgerichtet. Diese bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf trägt dazu bei, dass die Pflege nicht weiter als rein weibliche Aufgabe wahrgenommen wird. Meine Damen und Herren, es hat knapp 90 Jahre gedauert, bis ein Internationaler Männertag den Weltfrauentag ergänzt hat. Es hat zehn Jahre gedauert, bis zum Girls' Day ein Boys' Day hinzukam. Ich bin mir sicher: Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass zeitgemäße Politik Männer und Frauen gleichzeitig ansprechen muss. Die Zeit der Geschlechterkämpfe ist vorbei. Sorgen wir für die notwendige Gestaltungsfreiheit, damit Männer und Frauen Gleichberechtigung sowohl in der Partnerschaft als auch im Beruf leben können! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Caren Marks (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, schön, dass Sie heute mal bei einem Thema aus Ihrem Ressort anwesend sind! (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) Aber leider ist es wie üblich: viele Worte, keine Taten. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zur Sache!) Mit Erstaunen habe ich den Antrag von Union und FDP "Neue Perspektiven für Jungen und Männer" gelesen. Wie ist es möglich, dass Ihnen erst jetzt klar geworden ist, dass Gleichstellungspolitik beide Geschlechter im Blick haben muss? Das ist eine ebenso selbstverständliche wie banale Erkenntnis. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Ach, neuerdings?) Selbstverständlich setzen erfolgreiche familien- und gleichstellungspolitische Maßnahmen bei Frauen und Männern, bei Jungen und Mädchen gleichermaßen an. Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war schon immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingungen eines jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig vom Geschlecht zu verbessern und auf Chancengleichheit hinzuwirken. (Ewa Klamt [CDU/CSU]: Die Ergebnisse sehen wir!) Diese schwarz-gelbe Bundesregierung und insbesondere ihre Ministerin aber suchen nicht das Verbindende, sondern das Trennende zwischen den Geschlechtern. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!) Noch nie wurden so tiefe Gräben zwischen der Jungen- und der Mädchenförderung gezogen wie unter dieser Familienministerin. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Unterste Schublade!) Frau Schröder, Sie spielen sich in den Medien gern als Retterin der Jungs und der Männer auf. Sie behaupten pauschal, Jungen würden in der Schule benachteiligt und am Junge-Sein gehindert. Auch im Antrag von Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, heißt es schwammig: Auch in der Schule muss den besonderen Bedürfnissen von Jungen Rechnung getragen werden. Was bitte sollen denn deren besondere Bedürfnisse sein? Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag nichts. (Ewa Klamt [CDU/CSU]: Bei den Sozialdemokraten ist das gleich!) Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Nicht alle Jungen sind gleich, und auch nicht jedes Mädchen beschäftigt sich gern still und - so das Klischee der Familienministerin - malt mit einem Stift Schmetterlinge. Erweitern Sie doch erst einmal Ihren Horizont und bauen Sie die Rollenstereotypen in Ihrem Kopf ab! Das würde Jungen und Mädchen in diesem Land wirklich helfen, Frau Ministerin. (Beifall bei der SPD - Markus Grübel [CDU/ CSU]: Das ist jetzt wirklich keine Sternstunde!) Nicht Jungen per se sind benachteiligt bzw. haben Schulprobleme; es sind die Jungen aus benachteiligten und bildungsfernen Familien, die vor allem durch schwarz-gelbe Politik konsequent weiter abgehängt werden. Das ist ein Widerspruch höchsten Grades. (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD]) Es ist doch gerade die Politik von Union und FDP in den Bundesländern - man braucht nur einmal in mein Bundesland, Niedersachsen, zu schauen, um das festzustellen -, die dafür verantwortlich ist, dass Kinder nicht mitgenommen und gefördert, sondern abgehängt und im Stich gelassen werden. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das war unter Ihrer Regierung anders?) Sie halten stur am dreigliedrigen Schulsystem fest, wo Abschulen - ein schreckliches Wort! - und Sitzenbleiben zur Tagesordnung gehören. Sie bekämpfen konsequent längeres gemeinsames Lernen. Das alles sind Fakten, die manchen Jungen mehr Probleme machen als manchen Mädchen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Gerade Jungen macht das frühe Aussortieren, das die Union ja mit Verve vertritt, viel häufiger zu schaffen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ich denke, es gibt nichts Spezifisches für Jungen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, im krassen Widerspruch zu Ihrer Forderung, mehr Jungen zu fördern, steht Ihr aktuelles Handeln. Sie kürzen gerade radikal bei erfolgreichen Projekten und Maßnahmen, von denen insbesondere Jungen in schwierigen Situationen, aber durchaus auch Mädchen - die blenden Sie ja völlig aus - profitieren. Ob es das erfolgreiche Integrationsprojekt im Problemstadtteil ist, das durch das Programm "Soziale Stadt" gefördert wurde, oder das Programm zur Senkung der Schulabbrecherquote: Dramatische Kürzungen, wohin man blickt! Sieht so Ihre Vorstellung von der Förderung benachteiligter Jungen aus, die Sie hier angeblich ganz neu in den Blick genommen haben? Die SPD-Bundestagsfraktion hat ernsthafte Antworten auf die Frage, wie wir Kinder und Jugendliche besser unterstützen und fördern können: Es kommt auf den Anfang an. Kinder müssen also so früh wie möglich gefördert werden. Darum müssen wir beim Krippenausbau mehr Fahrt aufnehmen. Aber da, Frau Ministerin, gehen Sie auf Tauchstation. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Es geht um die Qualität, Frau Marks! Sie haben es immer noch nicht begriffen!) Im Gegenteil, Sie, Frau Ministerin, halten am rückwärtsgewandten Betreuungsgeld fest. Sie sagen nicht Nein zum Betreuungsgeld, sondern stehen weiter zu dieser Bildungsverhinderungsprämie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Damit unterstützen Sie benachteiligte Kinder mit Sicherheit nicht, und auch bei dem notwendigen konsequenten Ausbau von Ganztagsschulen ist keinerlei Unterstützung sichtbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einfache Welt von Familienministerin Schröder erklärt die Benachteiligung von Jungen wie folgt: Schuld am schulischen Misserfolg von Jungen haben Frauen, da sie die Mehrheit der Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen stellen - interessant. Natürlich begrüßen auch wir, wenn sich mehr Männer für den Beruf des Erziehers oder des Grundschullehrers entscheiden. Das Aufbrechen von Rollenstereotypen ist grundsätzlich positiv. Doch, Frau Schröder, ich möchte Sie beruhigen: Studien belegen, dass Jungen keine Nachteile und schlechtere Beurteilungen erfahren, wenn sie in erster Linie von Frauen betreut und unterrichtet werden. Was tun Sie eigentlich für die Förderung von Mädchen und Frauen? Hier kürzen Sie und verteilen Mittel für die Förderung von Frauen in die Förderung von Männern um. So wird Gleichstellungspolitik nicht gelingen; denn diese muss auf beide Geschlechter ausgerichtet sein. Es sind überwiegend Frauen, die in der Pflege tätig sind. Das ist ein anstrengender Beruf mit viel zu wenig Anerkennung und viel zu wenig Geld. Doch anstatt sich dafür starkzumachen, dass der Dienst am Menschen mehr Anerkennung erfährt, sagen Sie ganz profan, Frauen sollten doch einfach die richtigen Berufe ergreifen. Das muss schön zu hören sein für Frauen in so anstrengenden Berufen, die bemerken, dass sie im Stich gelassen werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Claudia Bögel [FDP]: Was?) Im heute debattierten Antrag von Schwarz-Gelb heißt es: "Stereotype Zuschreibungen müssen überwunden werden." Weiterhin ist zu lesen, dass "Männer in ihrer Aufgabe als Väter" gestärkt werden müssen. Ich sage: nur zu, mit Mut voran! Warum aber hat diese Bundesregierung eine partnerschaftliche Weiterentwicklung des Elterngeldes auf Eis gelegt? Warum trennen Sie sich nicht von steuerlichen Regelungen, die die klassische Rollenverteilung zementieren? Warum wollen Sie nur unverbindliche Vereinbarungen mit der Wirtschaft? Wirklich gebraucht wird eine verbindliche Zeitpolitik, die sowohl Männer als auch Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt, und kein Larifari mit netten Treffen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hilft den Familien nicht weiter, wenn Männer und Frauen gegeneinander ausgespielt werden, wie Sie es tun. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das machen Sie doch die ganze Zeit!) Es hilft auch nicht, wenn Sie als Familien- und Frauenministerin gleichstellungspolitisch Engagierte bei jeder Gelegenheit abfällig als Altfeministinnen bezeichnen. Frau Schröder, machen Sie endlich konkrete Politik! Entwickeln Sie Maßnahmen, die bei den Familien ankommen! Reden Sie weniger, und handeln Sie endlich! (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hören Sie auf! Sie haben genug geredet!) Das würde helfen - Jungen wie Mädchen, Frauen wie Männern. Darauf wartet unser Land, seit Sie Ministerin sind, vergeblich. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Michaela Noll [CDU/CSU]: Endlich was Vernünftiges!) Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie wissen, dass ich im Plenum normalerweise sehr gern frei rede; aber ich habe heute bei Ihrer Rede, Frau Marks, so viel mitgeschrieben, dass ich jetzt einige Zettel mitnehmen musste. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das wäre aber nicht nötig gewesen!) Zunächst einmal: Die Maßnahmen, die wir getroffen haben, beruhen nicht auf banalen Erkenntnissen, sondern auf der harten Realität, die wir vorfinden. Es ist eigentlich schade, dass erst wir als schwarz-gelbe Koalition kommen mussten, damit etwas gegen die Missstände in Deutschland getan wird, (Caren Marks [SPD]: Sie haben nichts begriffen! - Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie tun doch nichts, Sie reden doch nur!) die damit zusammenhängen, dass Jungen und auch Männer benachteiligt sind. Es ist ja schön, dass Sie grundsätzlich sagen, dass wir hier niemanden gegeneinander ausspielen sollen. Aber genau das haben Sie mit Ihrer Rede getan; Sie haben Frauen gegen Männer ausgespielt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Caren Marks [SPD]: Ganz im Gegenteil! Unsinn!) Sie haben dann angesprochen, dass Sie die Lebensbedingungen eines jeden Kindes verbessern wollten. Schauen wir uns doch einmal die Kinderarmutszahlen in den einzelnen Ländern an: In Berlin sind 35 Prozent von Kinderarmut betroffen, in Niedersachsen sind es 15 Prozent, (Diana Golze [DIE LINKE]: Was tun Sie denn dagegen?) in Bayern 7 Prozent. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) So schaut es aus, denn wir machen eine gute Wirtschaftspolitik, die es ermöglicht, das zu erwirtschaften, was notwendigerweise verteilt werden muss. (Zuruf des Abg. Sönke Rix [SPD]) Nach Ihrer Politik würde es keinem Kind, keinem Vater und keiner Familie besser gehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Caren Marks [SPD]: Aber Mindestlohn könnte gegen Armut in den Familien helfen!) Tatsache ist, dass Jungs heutzutage schlechter lesen können und dass sie häufiger in der Schule versagen. Das zeigen die Zahlen ganz eindeutig. Fakt ist auch, dass es mehr Mädchen gibt, die Abitur machen, und dass es mehr junge Frauen gibt, die Hochschulabsolventinnen sind. Das Problem für die Frauen ist letztendlich die Kinder-oder-Karriere-Frage, weil wir hinsichtlich Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch etwas zurück sind. Weil Sie uns die ganze Zeit vorwerfen, hier Kürzungen vorzunehmen, (Caren Marks [SPD]: Beim Elterngeld haben Sie gekürzt!) will ich Ihnen an dieser Stelle sagen: Wir kürzen in diesem Bereich nicht, sondern bauen die Betreuungsplätze sowohl quantitativ als auch qualitativ weiter aus und halten am Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 fest. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Christel Humme [SPD]: Das ist ja unglaublich!) Sie behaupten weiterhin, wir würden uns nicht um die besonderen Bedürfnisse der Jungs in der Schule kümmern und dazu nichts sagen. Ja, sehr geehrte Frau Marks, das ist so, weil wir uns hier auf Bundesebene befinden. Ich spreche mich zwar gegen das Kooperationsverbot aus, das nach wie vor besteht, aber derzeit sind die Länder allein für die Schulen zuständig. Aber wir haben die Fakten angesprochen; sie liegen jetzt auf dem Tisch. (Caren Marks [SPD]: Ist die CDU hier eine andere als in Niedersachsen?) Von Ihnen habe ich in dieser Richtung noch gar nichts gehört. Wir erkennen die Realität, und wir handeln dementsprechend. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Lachen des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) Ich bin der Meinung, dass die Phase des Kampfes der Geschlechter überwunden werden muss. Dafür sorgen wir mit unserer Politik. Nur ein Miteinander ist erfolgreich. (Caren Marks [SPD]: Eben! Das machen Sie aber nicht!) - Doch. Sie dagegen machen nichts. Ihre Politik basiert auf dem Kampf Frau gegen Mann. Wir sind längst weiter. - Unsere Politik geht davon aus, dass Frauen und Männer auf einer Seite stehen und es in den Familien ein Miteinander gibt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns kämpfen auch Männer für die Frauenquote! Bei Ihnen sind alle dagegen!) Die Regierung nimmt sozusagen eine Vorbildfunktion ein, und wir brechen Strukturen auf. Ich will noch eine persönliche Anekdote anbringen. Als ich 2005 in den Bundestag gewählt wurde, hat der Apotheker um die Ecke gesagt: Wir sind stolz, dass Sie in den Bundestag gekommen sind. Aber, Herr Gruß, wie machen Sie das jetzt eigentlich mit dem Essen? - Daran konnte man sehen, wie tradiert die Rollenverständnisse waren. Seit September ist mein Mann allerdings zu Hause. Jetzt wird er nicht mehr ausgelacht. An diesen Punkt müssen wir gelangen. Wir müssen Vorbild sein. Dazu braucht es solche Signale wie die entsprechenden Anträge, die wir in den Bundestag einbringen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zur Diskussion über das Elterngeld: Das Elterngeld ist, was die Männer anbelangt, ein Erfolg. Vorher kam es so gut wie nicht vor, dass Männer wie selbstverständlich zu Hause blieben. Die schwarz-gelbe Regierung bricht die Strukturen auf, und jetzt machen sich Unternehmen Gedanken darüber, wie sie nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern familienfreundliche Arbeitszeiten anbieten können. Für die Ausweitung des Elterngeldes gilt: Wenn es zu viel kostet, dann können wir sie nicht durchführen. So ist es nun einmal. Aber wir machen eine verantwortungsvolle Politik, die auf die nächsten Generationen ausgerichtet ist. Wir sagen nämlich: Wir können nicht immer nur verteilen; denn erstens muss das, was verteilt wird, auch erwirtschaftet werden, und zweitens dürfen wir nicht Geld verteilen, wenn dadurch auf dem Rücken unserer Kinder Schuldenberge angehäuft werden. Schließlich haben die Kinder dann den Schlamassel. Auf Schuldenbergen können sie nicht spielen und erst recht nicht lernen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit Jungenpolitik zu tun?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bezeichnend, dass wir ausgerechnet heute über einen Antrag debattieren, der sich mit der Benachteiligung von Jungen und Männern in unserer Gesellschaft befasst; denn es ist Girls' Day, also ein Tag, der eigentlich geschaffen wurde, um Mädchen für männerdominierte Berufe zu interessieren. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das Gegenstück ist, Jungen für Frauenberufe zu interessieren!) Nun gibt es dieses Jahr zum ersten Mal den sogenannten Boys' Day. Ich finde es so schade, dass Sie schon wieder das machen, was Sie auch sonst tun, nämlich die Menschen, in diesem Falle Jungen und Mädchen, gegeneinander auszuspielen, statt sich um die Ursachen des Problems zu kümmern, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der die Bundesregierung stellenden Parteien. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU - Markus Grübel [CDU/ CSU]: Die beiden Dinge bedingen sich! - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Im Gegenteil!) In Ihrem Antrag erklären Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, dass die Jungen - Sie reden ja immer gleich von allen - immer offensichtlicher zu Bildungsverlierern werden. Der Focus titelte bereits 2002 "Arme Jungs!". Die Zeit titelte "Die neuen Prügelknaben". Sie zählen in Ihrem Antrag genau die Fakten auf, die in dieses Bild passen: Jungen wiederholen häufiger eine Klasse, brechen häufiger als Mädchen die Schule ab und weisen geringere Lesekompetenzen als Mädchen auf. Eine OECD-Studie vom Mai 2009 kommt zu dem Schluss, dass diese Unterschiede eher auf Stereotype als auf unterschiedliche Begabung zurückzuführen sind, ... Doch an dieser Stelle kommt die gute Nachricht zu diesem traurigen Befund: Sie glauben, Sie hätten die Antwort und damit die Schuldigen gefunden. Den Jungen fehle aufgrund der Feminisierung in Kita und Schule und des "Fehlens männlicher Bezugspersonen im familiären Bereich" die "Ermutigung und positive Vorbilder". (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau so ist das!) Schuld sind also die zu hohe Zahl der Frauen in den Erziehungs- und Bildungsberufen und - wenn ich es richtig verstanden habe - alleinerziehende Frauen bzw. gleichgeschlechtliche Beziehungen, in denen Kinder ohne männliche Ermutigung und positive Vorbilder aufwachsen, nach dem Motto: "Ich habe Feuer gemacht!" (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das sind Familienkonstellationen, die inzwischen zum ganz normalen Alltag gehören, offenkundig aber nicht in das eine oder andere Weltbild passen. Auf die Frage, was genau ein solches positives Vorbild ausmacht, welche Ansprüche eine Lehrerin, ein Lehrer, ein Erzieher erfüllen muss, um diese Lücke zu schließen, hüllen Sie sich allerdings in Schweigen. Ebenso vage bleiben Sie bei der Unterlegung Ihrer Thesen mit wissenschaftlich oder empirisch belegbaren Zahlen und Fakten, und zwar mit gutem Grund, denn solche Zahlen und Fakten gibt es nicht; eine Studie, die belegt, dass sich allein durch die Anwesenheit von männlichem Erzieher- und Lehrerpersonal die Situation von Jungen explizit verbessert hätte, liegt nicht vor. Österreichische Erhebungen belegen sogar eine Diskriminierung von Jungen in der Benotung, wenn sie von Männern unterrichtet werden. Es ist also nicht wichtig, ob Kinder von Männern oder Frauen unterrichtet werden; wir brauchen Pädagoginnen und Pädagogen, die in die Lage versetzt werden, eine geschlechtssensible und gleichstellungsorientierte Schule gestalten zu können. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Anträge wie dieser werden aber bestimmt keinen konstruktiven Beitrag dazu leisten. Die bloße Forderung nach mehr männlichen Vorbildern hilft nicht weiter. Vielmehr bauen Sie damit ein Bild von scheiternden Jungen und von karriereorientierten Mädchen auf, bei dem die einen absteigen und die anderen aufsteigen, ein Bild, das der Realität nicht standhält. Es gibt im realen Leben eben nicht die Jungen, die als Loser zurückbleiben, und nicht die Mädchen, die auf der Überholspur an ihnen vorbeirauschen. (Caren Marks [SPD]: Ganz genau! - Michaela Noll [CDU/CSU]: Das sagt auch keiner! - Gegenruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Doch!) Es gibt Kinder und Jugendliche, die von vornherein benachteiligt sind bzw. benachteiligt werden, und das aus unterschiedlichen Gründen. Dazu können die Hautfarbe, der Migrationshintergrund, Armutserfahrungen, Homosexualität, Behinderungen und anderes gehören. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Jugendliche Homosexuelle mit Migrationshintergrund! - Caren Marks [SPD]: Alles Gruppen, für die die Ministerin nichts macht!) Aber all das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus. Mit Forderungen nach jungengerechter Bildung stecken Sie lediglich den Erzieherinnen und Lehrerinnen den Schwarzen Peter für Ihre verkorkste Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zu. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Gesamtgesellschaftliche Probleme werden einzelnen Personengruppen zugeschoben. Damit lenken Sie ganz bewusst davon ab, dass Sie von der christlich-liberalen Koalition nicht in der Lage waren, eine Politik zu machen, die jedem Kind, damit auch jedem Jungen, gleichberechtigte Startchancen bietet. Sie waren nicht in der Lage, Akzente zu setzen, um Väter in die Situation zu bringen, eine - so beschreiben Sie es - "neue Balance im Dreieck zwischen Beruf, Familie und Partnerschaft zu schaffen". Ist es nicht diese Regierung, die in dieser Woche bekannt gemacht hat, dass die versprochene Ausweitung der Vätermonate beim Elterngeld nicht kommen wird? (Caren Marks [SPD]: Ganz genau! - Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Nein! Das ist falsch! Das ist nicht die Wahrheit! Auch wenn Sie es dreimal sagen, ist es nicht wahr!) Ist es nicht Ihre Regierung, die einen verfassungswidrigen Regelsatz für Kinder unverändert lässt, obwohl er die besonderen und eigenständigen Bedarfe aller Kinder nicht berücksichtigt? Ist es nicht die christlich-liberale Koalition, die ein Bildungspaket feiert, das sich gerade in der Praxis als bürokratisches Monstrum erweist und keine gerechten Bildungschancen für alle Jungen und Mädchen schafft? (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Das Füllhorn für alle ausschütten!) An welcher Stelle im christlich-liberalen Antrag thematisieren Sie die Arbeitsbedingungen und die schlechte Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern? (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: An keiner Stelle!) Ist es nicht die christlich-liberale Koalition, die gerade ein bewährtes Programm für Schul- und Ausbildungsabbrecher so radikal zusammenstreicht, dass wahrscheinlich über die Hälfte der Beratungsstellen schließen muss? (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wir brauchen keine Beratungsstellen!) Auch wenn es um die Aufgabenverteilung geht, sind Sie prima: Alle Vorschläge, die Sie machen, gehen zulasten der Länder und Kommunen, ohne dass Sie erklären, womit sie die Kosten bestreiten sollen. Sehr geehrte Damen und Herren, ich selbst bin Mutter von zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen. (Caren Marks [SPD]: Ich auch!) Ich befürchte, dass es das Mädchen sein wird, dem es schwerfallen wird, trotz gleicher Voraussetzungen in Familie und Schule später selbstbewusst durch das Leben zu gehen, dass sie also nicht fair und gerecht behandelt wird und nicht denselben Erfolg haben wird. Denn Frauen erhalten trotz steigenden Bildungsniveaus immer noch 26 Prozent weniger Gehalt als Männer (Michaela Noll [CDU/CSU]: Wer spielt hier wen gegen wen aus? Das machen Sie jetzt wieder!) und sind an Unis, in Chefetagen und in den Vorständen nach wie vor selten oder gar nicht anzutreffen. Vor diesem Hintergrund kann ich über den von Ihnen formulierten Prüfauftrag, ob auch Männer Gleichstellungsbeauftragte sein sollten, nur den Kopf schütteln. Solange es eine strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen gibt, bedarf es eines solchen besonderen Wächteramtes für Frauen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Caren Marks [SPD]: Das versteht die Ministerin nicht!) Thomas Gesterkamp schrieb in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung: Nur miteinander und nicht gegeneinander lässt sich Geschlechterdemokratie umsetzen. Vereinfachungen und die umgekehrte Stilisierung von Männern zum Opfer "des Feminismus" helfen nicht weiter. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Gehring hat für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen das Wort. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich vor fünf Jahren die Einführung des Boys' Day gefordert habe, bin ich von nicht wenigen in diesem Haus dafür belächelt worden. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Aber nicht von mir! Ich fand das immer gut!) Heute gibt es endlich den ersten bundesweiten Boys' Day. Das begrüßen wir. Wir wünschen allen Beteiligten viel Erfolg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Noch besser wäre, wenn der Girls' Day - übrigens herzlichen Glückwunsch zum heutigen zehnten Geburtstag - und der Boys' Day an verschiedenen Tagen stattfinden würden. Damit würde man beiden Geschlechtern noch gerechter. (Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Für eine nachhaltige Jungenpolitik reicht ein einzelner symbolischer Boys' Day aber nicht aus. Wir brauchen einen grundlegenderen Ansatz. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht!) Geschlechtergerechtigkeit für Jungen und Mädchen kann nur dann Normalität werden, wenn sie jeden Tag gelebt wird. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!) Von der Kindertagesstätte an sollte jeder und jede frei von tradierten Klischees verschiedene Rollenmuster und Angebote kennenlernen können - (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz ohne Tradition ist auch nicht schön!) ohne Bevormundung, dafür mit Wahlfreiheit und Freude an Vielfalt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Daher sollten neue Wege und Perspektiven für Jungs das ganze Jahr über aufgezeigt werden: (Zuruf von der FDP: Ja, genau! - Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dafür gibt es doch diesen hervorragenden Antrag!) im Bildungssystem, in der Jugendhilfe und in der Berufswelt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt durchaus Forderungen in Ihrem Antrag, die unterstützenswert sind, zumal wir seit langem etwa Probleme von Jungen im Bildungssystem thematisieren. Manche Jungs stehen tatsächlich auf der Standspur. Viele Mädchen scheinen auf der Überholspur zu sein. Im Durchschnitt schneiden sie in der Schule besser ab, nehmen häufiger ein Studium auf, machen bessere Abschlüsse. Trotzdem sind Frauen in Führungspositionen immer noch eine Seltenheit. Trotzdem entscheidet die soziale Herkunft viel stärker über den Bildungserfolg als das Geschlecht. Deshalb müssen wir vor allem da ansetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD]) Besonders bei der Finanzierung von Jungenarbeit und der tatsächlichen Verankerung bleibt Ihr Antrag völlig nebulös. Jungenpolitik darf nicht auf Kosten der weiterhin notwendigen Mädchenpolitik gehen. (Zuruf von der FDP: Das will doch keiner!) Das ist offensichtlich auf der rechten Seite des Hauses Konsens. Dies wäre ein schwerer Fehler. Dies würde von uns entschieden abgelehnt. (Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] und Jörn Wunderlich [DIE LINKE] - Michaela Noll [CDU/CSU]: Von mir auch!) Wir wollen eine Jungenpolitik, die Jungen individuell fördert, ihnen bessere Teilhabe ermöglicht, neue Perspektiven eröffnet und Mädchenpolitik sinnvoll ergänzt. Sie können sich ein gutes Beispiel etwa an Nordrhein-Westfalen nehmen, wo eine Mittelerhöhung des Kinder- und Jugendförderplans um 25 Prozent vorgesehen ist und die darin enthaltenen Gendermittel verdoppelt werden - sowohl für Jungenförderung als auch für Mädchenförderung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Ewa Klamt [CDU/CSU]: Nur das Geld ist nicht da! Die Frage ist, wer das bezahlt!) - Sie wissen, Jugendförderung ist Zukunftsinvestition. Wir wollen, dass sich das Spektrum bei der Ausbildungs- und Studienwahl von Jungen erweitert und sie sich für weitere Berufe begeistern. Mehr als die Hälfte der männlichen Auszubildenden entscheidet sich für einen jungentypischen Ausbildungsberuf. Leider ist noch kein einziger aus dem sozialen, erzieherischen oder pflegerischen Bereich darunter. Hier sind Männer deutlich unterrepräsentiert. In Kitas stellen sie nur 3,5 Prozent des Personals, obwohl die EU seit Jahren einen Anteil von 20 Prozent anpeilt. Automechatroniker und Koch sind spannende Ausbildungsberufe. Wir wollen aber mehr Männer für Pflege- und Erzieherberufe gewinnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP) Weil das so ist, müssen viel stärker als bisher in allen Schulen Geschlechterklischees, in der Berufsberatung und -orientierung geschlechterstereotypische Berufsinteressen hinterfragt werden. (Zuruf von der FDP: Ganz genau!) Der Bundesregierung und Ministerin Schröder fehlt aber offenbar der notwendige Gestaltungswille, um Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Sie müssen endlich an geschlechtsspezifische Benachteiligungen im Berufsleben heran. Die müssen sie konkret angehen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie einen Vorschlag!) Frauen werden in ihren beruflichen Karrierewegen ausgebremst. Die Chefsessel bleiben männlich besetzt. Hier betreiben Sie, Frau Schröder, im Kabinett Blockadepolitik und werden Ihrem Amt nicht gerecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sind die erste Bundesfrauenministerin, die eine Frauenquote in den Aufsichtsräten und in den Vorständen aktiv hintertreibt. Es geht hierbei konkret um Geschlechterpolitik und Geschlechtergerechtigkeit. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie doch mal einen Vorschlag!) Da muss ich Ihnen sagen: Folgenlose Appelle und Flexi-Selbstverpflichtungen bringen bei diesem Thema genauso wenig wie bei der skandalösen Lohndiskriminierung, die es in diesem Land immer noch gibt. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - nur das ist fair. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen. Daher müssen Sie endlich aktiv werden. Wir werden bei der heutigen Debatte das Gefühl nicht los, dass diese Initiative von Ihrem frauenpolitischen Nichtstun ablenken soll. Frau Schröder, wir wollen endlich Taten sehen. Wir kritisieren auch Ihre unsachliche Feminismuskritik, mit der Sie nur von eigenen Versäumnissen ablenken wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie erklären den Geschlechterkampf für beendet. In Gastbeiträgen in der FAS führen sie ihn aber munter weiter, indem Sie sozusagen Feminismus-Bashing betreiben. Sie bauen einen Popanz auf, indem Sie dort behaupten, es gebe eine verbreitete Ablehnung der Jungen-politik. Das sehe ich so nicht. Das Gegenteil ist doch der Fall. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Stimmen Sie doch einfach unserem Antrag zu, Herr Gehring!) Das beweist der heutige erfolgreiche Boys' Day eindrucksvoll. Feminismus-Bashing ersetzt keine geschlechtergerechte Politik für Frauen und Männer, sondern schadet nur. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Das Ausspielen von Mädchenförderung gegen Jungenpolitik ist ebenso falsch wie Ihr Versuch, die untaugliche Familienpflegezeit als neue Männerpolitik zu verkaufen. Es ist genauso falsch, die Ausweitung der Partner- und Vätermonate beim Elterngeld einfach zu beerdigen. Denn hiermit wären große Schritte in Richtung Gleichstellung möglich. Es ist ebenso falsch, am antiquierten Ehegattensplitting und der Zuhausebleibprämie Betreuungsgeld festzuhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE]) Sie bedienen mit solchen Scheindebatten gegen den vermeintlich alten Feminismus letztlich abgestandene Klischees. Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur mit Frauen und Männern gemeinsam gestalten. Denn Männer sind Partner für die Gleichstellungspolitik. Das sage ich auch als männlicher Feminist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Auch Männer wollen eine neue Arbeitszeitpolitik. Auch Männer profitieren von mehr Kita- und Ganztagsschulplätzen. Auch sie wollen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Moderne Väter sind keine Fata Morgana. Sie wollen weder von Kollegen noch Vorgesetzten schief angeguckt werden, (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Macht doch niemand! Was für Leute kennen Sie denn? Das ist ja schrecklich!) wenn sie Teilzeitarbeit einfordern, Vätermonate beanspruchen oder sagen: Ich muss heute auch einmal um 14 Uhr gehen, weil ich Vater geworden bin. - Da ist es völlig egal, ob diese Väter Automechatroniker, Grundschullehrer, Spitzenmanager oder Staatssekretär sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Männer brauchen eine bessere gesundheitliche Prävention. Wir brauchen keine blöden und dumpfen Sprüche wie "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" mehr. Dies führt nur dazu, dass sie bezüglich der eigenen Gesundheit oder Ungesundheit Warnsignale überhören. Männer wollen wertvolle Zeit. Sie wollen auch eine Entschleunigung im Beruf. Moderne Männer wollen Verantwortung teilen und vorgegebene Geschlechterrollen verlassen. Sie wollen Neues ausprobieren. Männer und Frauen wollen egalitäre Partnerschaftsmodelle leben. Weil das so ist, muss eine geschlechtergerechte Politik schon heute kluge und flexible Rahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun Sie nicht. Genau das leistet auch Ihr Antrag nicht. Ein gemeinsamer Ansatz, der beiden Geschlechtern nutzt, bedeutet nicht, gesellschaftlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Das aber tut die Ministerin. Statt warmer Worte wollen wir eine mutige Gleichstellungspolitik. Das heißt: Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Gehring, bitte achten Sie auf die Zeit. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das heißt: Frauenquote für die Aufsichtsräte und Vorstände. Das heißt: eine emanzipierte Jugendpolitik, die geschlechtersensibel ist und für Jungen und Mädchen die besten Voraussetzungen für die Zukunft schafft. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Peter Wichtel [CDU/CSU] - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der Anfang war gut, Herr Gehring!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Noll das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Michaela Noll (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es ehrlich: Ich finde es schade. Frau Marks, ich hatte eigentlich gedacht, wir hätten dieses Spalten zwischen Jungen und Mädchen, das Sie gerade vollzogen haben, längst überwunden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Caren Marks [SPD]: Sie spalten! Sie haben nicht zugehört, Frau Noll!) Die Art, wie Sie argumentiert haben, ist für mich sehr enttäuschend. Ich hatte im Vorfeld schon zum Kollegen Kai Gehring gesagt, er müsse sich nicht wundern, wenn ich ihn lobe. Ich tue es nun auch. Vieles von dem, was er gerade gesagt hat, ist im Endeffekt das, was im grünen Männer-Manifest steht. Es geht darum, nicht länger Macho sein zu müssen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich sogar geschrieben!) Einiges davon hat der Herr Kollege Gehring soeben beschrieben. Recht hat er. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich finde es unerträglich, dass die Kollegin Golze, deren Arbeit in der Kinderkommission ich sehr schätze, hier Sachen in den Raum stellt und Schuldzuweisungen macht. So sagt sie zum Beispiel, wir würden alleinerziehende Mütter an den Pranger stellen. Das ist weiß Gott nicht der Fall. In unserem Antrag steht explizit, dass wir auf wissenschaftliche Studien zurückgreifen wollen. Diese fehlen aber. Zur Mädchenforschung haben wir relativ viel, zur Jungenforschung ist bisher nicht viel vorhanden. Diese Forderung ist in unserem Antrag enthalten, damit wir künftig auf wissenschaftlichen Daten aufbauen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Ministerin als erste Rednerin hat erläutert, dass die Ausweitung der Vätermonate unter einem Finanzierungsvorbehalt steht. Sie haben hier gesessen und die Argumente gehört. Hinterher behaupten Sie wieder das Gegenteil. Das finde ich mehr als unfair. So kann man keine Politik für die Bürger in Deutschland machen. Tut mir leid. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist aber so! Kommen die Vätermonate oder kommen sie nicht?) Ich möchte auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Seit 2002 bin ich im Deutschen Bundestag. Das Thema "Jungen- und Männerpolitik" liegt mir seitdem wirklich am Herzen. Damals waren die Kollegin Gruß und ich noch Oppositionspartner, und wir befanden uns auf einem gemeinsamen Weg. Ich habe eine Anfrage gestellt; sie hat einige Jahre später ebenfalls eine Anfrage gestellt. Jeder, der diese Anfrage liest - und das würde ich Ihnen einmal empfehlen -, kann das Fazit ziehen: Es liegt Handlungsbedarf vor; wir müssen uns um die Jungen kümmern. Das heißt nicht, dass ich irgendetwas gegen die Mädchen unternehmen möchte. Ständig sprechen wir von der demografischen Entwicklung und darüber, wie wenig Kinder wir haben. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir nicht versuchen, beide Geschlechter zu fördern, und zwar in den Bereichen, wo sie vielleicht Probleme haben. Bei den Mädchen ist das später - gläserne Decke, Aufstieg, Wiedereinstieg -, bei den Jungen ist es vielleicht früher. Wie Sie aber argumentiert haben, kommen wir definitiv nicht weiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Caren Marks [SPD]: Kürzung der Mittel für Benachteiligte!) Das finde ich persönlich nach wie vor ausgesprochen enttäuschend. Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihrem Wahlkreis geht. Ich bin Familienpolitikerin, und wenn ich in Kindergärten, in Schulen oder bei Elternvereinen bin, werde ich oft von Eltern angesprochen. Ich habe einen Brief von einer Mutter dabei, die sich heute noch per E-Mail dafür bedankt hat, dass wir uns dieses Thema überhaupt einmal vornehmen. Wir alle hören die Eltern, wir alle hören die Lehrer, und viele sagen: Wir müssen uns um die Jungs kümmern. Das hat für mich nichts damit zu tun, etwas gegen die Mädchen zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der FDP: Genau!) Sie waren doch in der letzten Woche selber im Ausschuss. Dort hat Professor Mathias Albert noch einmal bestätigt: Der geschlechtsspezifische Trend beim Thema Bildung ist ungebrochen. Junge Frauen haben ihre männlichen Altersgenossen bei der Schulbildung überholt. Ob Bildung oder Gesundheit: Mädchen haben die Jungen in wichtigen Bereichen abgehängt. - Das ist gut für die Mädchen, aber es ist schlecht für die Jungs. (Caren Marks [SPD]: Aber Sie machen Bildungspolitik, die das verstärkt!) Sie machen einen Fehler. Wir spielen die Menschen nicht gegeneinander aus. (Caren Marks [SPD]: Doch! Genau das tun Sie! Sie verschärfen das!) Ich möchte, dass wir sie dort abholen, wo sie Defizite haben. Das tun Sie eben nicht. Beide Geschlechter haben Förderbedarf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weil Sie das vorhin angesprochen haben: Haben wir in der 17. Legislaturperiode überhaupt einmal über die Probleme von Männern oder Jungen gesprochen? Das haben wir nicht getan. Ich habe einmal die entsprechenden Anträge aus der 17. Legislaturperiode herausgesucht. Es waren 15 Anträge, und nur einer hat am Rande die Situation von Jungen gestreift. - Vielen Dank an die Grünen, denn es war Ihr Antrag. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind meistens Vorreiter!) Ich sage: Das ist zu wenig. Wir müssen uns für Männer- und Jungenforschung öffnen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir waren immer für die Frauenquote!) Wir müssen zusehen, dass wir in diesem Punkt weiterkommen. Es gibt kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch für ein Miteinander der Geschlechter. (Diana Golze [DIE LINKE]: Genau das steht aber nicht in Ihrem Antrag!) Das haben Sie leider mit Ihrem Kommentar zu verhindern versucht. Professor Rauschenbach hat damals gesagt - viele von Ihnen waren dabei -: Es ist ein Drama, dass zunehmend Kinder bis zum 10. Lebensjahr in männerfreien Zonen aufwachsen. Wir möchten die männerfreien Zonen mit Männern füllen, mehr nicht, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Caren Marks [SPD]: Nur zu! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Aufsichtsräten und Vorständen sitzen genug Männer!) damit die Kinder die Möglichkeit haben, beide Geschlechter und damit andere berufliche Perspektiven kennenzulernen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Diana Golze [DIE LINKE]: Warum sind es männerfreie Zonen? Die können nicht für 800 Euro im Monat arbeiten!) Wir wollen Männern Mut machen, so wie es Kollege Gehring sagte. Wir wollen Männern Mut machen, sich auch in anderen Rollen zurechtzufinden, sodass sie nicht mehr belächelt werden. Viele Väter kommen zu mir und sagen: Wissen Sie, Frau Noll, die Elternzeit würde ich gerne machen, aber wenn ich mit diesem Anliegen zu meinem Arbeitgeber gehe, erhalte ich nur ein müdes Schmunzeln. Hier, in den Köpfen der Menschen, müssen wir etwas verändern, sodass die Männer Akzeptanz erfahren. Ich möchte den Männern Mut machen, auch ihr Rollenbild zu erweitern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch kurz auf den Punkt bringen, warum ich glaube, dass wir dringend handeln müssen. Frau Professor Almendinger hat uns damals im Ausschuss die Brigitte-Studie "Frauen auf dem Sprung" vorgestellt. Damit hat sie deutlich gemacht, dass die Frauen in ihrer Entwicklung zugelegt haben. Was passiert aber, wenn diese kompetenten Frauen langfristig keinen adäquaten Partner mehr finden? Dann sieht es düster aus mit der Familiengründung. Dann sind wir mit der Familienpolitik am Ende. Wenn Sie das ändern wollen, dann helfen Sie doch bitte mit, dass wir beide Geschlechter stark machen für eine Zukunft in Deutschland und sie dort abholen, wo Defizite bestehen. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihr Schwarz-Weiß-Denken endlich einmal ad acta legen würden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Sönke Rix (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Hinweis, liebe Frau Noll: Lesen Sie sich die Rede von Frau Marks noch einmal durch. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Oje! Sie hat keine masochistischen Anwandlungen!) In der nächsten Debatte können wir dann gerne noch einmal aufschlüsseln, an welchen Stellen Frau Marks die Geschlechter gegeneinander ausgespielt hat. Dass man die Jungen- und Männerpolitik, von der Sie sprechen, kritisiert, heißt noch lange nicht, dass man eine entsprechende Förderpolitik nicht für notwendig hält. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ach so! Das ist etwas ganz Neues! - Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Herr Rix, sie hat doch gesagt, das ist gar nicht nötig!) Das sollten Sie nicht miteinander verwechseln. Die Kritik an Ihren Ansätzen beinhaltet nicht automatisch eine Ablehnung der Männer- und Jungenförderung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich gehöre zu den Männern, die 2,4 Prozent der Erzieher ausmachen. (Beifall des Abg. Florian Bernschneider [FDP]) Ich bin also einer von denen, die mit den neuesten Initiativen in vielen Bereichen gesucht werden. Mit diesem Blickwinkel will ich versuchen, auf zwei, drei Punkte einzugehen. Vor allem möchte ich auf die männerfreien Zonen eingehen, die auch Sie, Frau Noll, gerade angesprochen haben. Den Kindergarten und die Grundschule hat Herr Rauschenbach zu Recht als männerfreie Zonen bezeichnet. Ich weiß das, weil ich zu den 2,4 Prozent gehöre. Aber warum ist das so, und welche Antworten bieten Sie, Frau Ministerin, mit dem Programm "MEHR Männer in Kitas"? Erstens. Jetzt, wo wir mehr Männer in die Kindertagesstätten holen wollen, spielt die Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher eine Rolle. Warum war das nicht schon vorher der Fall? Was haben Sie eigentlich für ein Bild? (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Caren Marks [SPD]: Ja! Das ist unglaublich! - Markus Grübel [CDU/CSU]: Ist das in SPD-regierten Ländern anders?) Und Sie sprechen davon, dass es darum geht, Rollentypen zu überwinden. Dabei wird dadurch ein Rollentyp bestätigt: Der Mann ist der Ernährer, und deshalb muss er besser verdienen. Das ist nicht der richtige Ansatz, Frau Ministerin. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Arbeitslose Männer sollen jetzt in einem Crashkurs in relativ kurzer Zeit den Beruf des Erziehers im Rahmen einer Umschulung erlernen können. Da frage ich wieder: Was haben Sie eigentlich für ein Bild von den jetzt arbeitenden Erzieherinnen und Erziehern? Wie bewerten Sie die Tätigkeit, die sie ausüben? Es kann doch nicht angehen, dass wir einerseits sagen, dass sich gut qualifizierte Personen um die frühkindliche Bildung kümmern müssen - es geht ja nicht nur um die Betreuung, um das Aufpassen im klassischen Sinne, sondern auch um die frühkindliche Bildung -, und auf der anderen Seite nehmen wir einfach jemanden, der in einem Crashkurs von vielleicht anderthalb Jahren den Beruf des Erziehers erlernt hat. (Miriam Gruß [FDP]: Das will doch keiner!) So werte ich den Beruf des Erziehers und der Erzieherin mit Sicherheit nicht auf. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In Ihrem Antrag erwähnen Sie auch den Gleichstellungsbericht. Diesen Bericht hat die zuständige Ministerin übrigens nicht einmal persönlich entgegengenommen, vielleicht weil das eine oder andere, was darin formuliert ist, ihr nicht passt - das sind aber Ansätze, über die wir zu diskutieren haben -: Das eine ist die Quote in Aufsichtsräten und Vorständen, das andere die Entgeltgleichheit. Mit diesen Maßnahmen, mit der Einführung der Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten und der Herstellung der Entgeltgleichheit, überwinde ich die von Ihnen kritisierten Rollenbilder. Warum fangen wir damit nicht einfach an? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Fokussierung auf Jungen und Männer in dieser Debatte ist - das ist schon mehrfach angesprochen worden - ein Ausdruck des Geschlechterkampfes, den Sie eigentlich überwinden wollen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie müssen den Antrag einmal lesen!) Eine Jungen- und Männerförderung kann nur in einem Gesamtkonzept der Gleichstellungspolitik eine Rolle spielen. Man kann nicht einerseits die Frauenpolitik und die vermeintlich alte Emanzipationsbewegung kritisieren und andererseits sagen: Wir machen jetzt nur etwas für Jungen und Männer, um den Geschlechterkampf zu überwinden. Sie befördern den Geschlechterkampf an dieser Stelle. (Beifall der Abg. Petra Crone [SPD] - Miriam Gruß [FDP]: Was? - Dr. Thomas Feist [CDU/ CSU]: Eine super Rede! Es ist gut, dass Sie kein Erzieher mehr sind!) Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, weil Sie immer von der Überwindung der Rollentypen reden. Auf die Frage nach den Partnermonaten beim Elterngeld in diesem Zusammenhang - das ist eine ganz aktuelle Debatte - haben leider auch Sie, Frau Noll, keine Antwort gegeben. Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition etwas unternommen, um die Rollentypen zu überwinden. Wir waren es, die die Partnermonate eingeführt haben. Jetzt, wo wir es verstärken wollen, weil wir alle der Meinung sind, dass wir diese Rollentypen überwinden wollen, zieht die Ministerin zurück und kneift, angeblich weil nicht genügend Geld da ist. (Caren Marks [SPD]: Ja! Schade, schade!) Frau Ministerin, es wird nicht besser, wenn Sie Schaufensterpolitik betreiben, wenn Sie einfach nur neue Projekte ankündigen und neben dem Girls' Day jetzt auch noch den Boys' Day einführen. Von unserer Seite sage ich: Wir finden es wunderbar, wenn Menschen am Boys' und Girls' Day teilnehmen und Mädchen die Berufe kennenlernen, die vielleicht eher typisch männlich sind, und Jungen die Berufe kennenlernen, die typisch weiblich sind. (Beifall des Abg. Florian Bernschneider [FDP]) Das hat hier niemand kritisiert. Aber daraus müssen auch Konsequenzen gezogen werden. (Florian Bernschneider [FDP]: Ja! Steht im Antrag!) Das fängt bei der Bezahlung, bei Quoten in Aufsichtsräten, aber auch bei dem Bild, das man über Erzieherinnen und Erzieher in der Öffentlichkeit zeichnet, an. Das Bild, das Sie prägen, ist nicht hilfreich zur Überwindung der Rollentypen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Bernschneider das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Bernschneider (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute mehrfach gehört - ich möchte es einmal positiv ausdrücken -, wie gut die Bilanz der Bildungsabschlüsse junger Frauen heute ist: Mädchen machen häufiger und ein besseres Abitur, Mädchen bzw. junge Frauen sind auch die Gewinner an deutschen Hochschulen. Die Expertise zum Programm "Neue Wege für Jungs" bringt es, wie ich finde, auf Seite 10 gut auf den Punkt: Das katholische Arbeitermädchen vom Land, das noch in den 70er-Jahren in der Bundesrepublik als Bildungsverliererin galt, gibt es heute nicht mehr. - Das sollte uns zunächst einmal freuen; denn all das sind Zeichen eines positiven Wandels in unserer Gesellschaft und positive Ergebnisse einer erfolgreichen deutschen Gleichstellungspolitik. Aber die eben genannte Expertise stellt auf Seite 10 auch klar: Der Bildungsverlierer von heute ist der Migrantensohn aus einer bildungsschwachen Familie. Das kann uns nicht zufriedenstellen; damit können wir uns nicht zufriedengeben. Nun kann man natürlich immer der Logik folgen und sagen: Es ist doch klar, wenn einer in die erste Liga aufsteigt, nämlich die Mädchen, dann muss auch jemand anders in die zweite Liga absteigen, nämlich die Jungs. Ich sage Ihnen aber ganz deutlich: Das ist nicht meine Auffassung von moderner Gleichstellungspolitik. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unsere Aufgabe ist es, gute Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Kinder und Jugendliche unabhängig vom Geschlecht Entwicklungschancen und Perspektiven erhalten. Wir wollen, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in der ersten Liga spielen. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!) Deswegen verstehe ich nicht die Aufregung, die in dieser Debatte von Teilen der Opposition suggeriert wird. Niemand will jetzt den Fokus auf die Jungs rücken und dabei die Errungenschaften der Mädchen- und Frauenpolitik der letzten Jahrzehnte aufs Spiel setzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wollen das eine tun, ohne das andere zu lassen. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das begreifen die nicht! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche neuen Errungenschaften in der Frauenpolitik planen Sie denn? Fordert die FDP jetzt eine Frauenquote?) Die althergebrachte Maxime: "Willst du die Mädchen stärken, musst du die Jungs schwächen", war falsch und ist falsch. Sie wäre auch falsch, wenn die Jungs in diesem Satz zuerst genannt würden. Das möchte niemand. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie gegen neue Ungleichheit? Wann kommt die Frauenquote?) Natürlich reicht zur Förderung der Jungs nicht ein einzelner Boys' Day. (Diana Golze [DIE LINKE]: Richtig!) Ich finde, Kollege Gehring hat es in seiner Pressemitteilung wunderbar formuliert: "Jeder Tag muss ein Boys' Day sein." Das ist völlig richtig. Ich möchte Ihnen da recht geben. Genau deswegen legen wir Ihnen ja heute diesen Antrag vor. Uns allen ist doch bewusst, dass es uns gelingen muss, mehr junge Männer von zum Beispiel einer Ausbildung im sozialen Bereich zu begeistern. Deswegen ist der Boys' Day in das Projekt "Neue Wege für Jungs" eingebettet. Dieses Projekt versucht, nicht nur an einem Tag, sondern an 365 Tagen im Jahr genau dieses Ziel zu erreichen. Wir wollen erzieherische und pflegerische Berufe attraktiver machen. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen, dass das Personal in der Berufs- und Ausbildungsberatung entsprechend geschult wird. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir fordern im vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, die bestehenden Programme in diesem Bereich auszubauen. Weil ich jetzt immer wieder die Stichworte Mindestlohn und Bezahlung gehört habe, sage ich: Das allein löst das Problem nicht. Wenn Sie das Gehalt eines jungen Tischlers mit dem eines jungen Erziehers oder Kindergärtners vergleichen, dann werden Sie feststellen, dass die Bezahlung nicht der Grund für die Berufswahl dieser jungen Männer ist. Die Gründe liegen tiefer. Man muss die Gründe angehen; das tun wir richtigerweise in diesem Antrag. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte mit einem Zitat von Norbert Blüm schließen, das meiner Meinung nach sehr gut auf die heutige Debatte passt, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rente ist sicher!) gerade wenn ich mir die Rednerinnen und Redner der Opposition vor Augen führe. Norbert Blüm hat einmal gesagt: "Der Kampf der Geschlechter ist so einfallslos wie der Klassenkampf." Wo er recht hat, hat er recht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Caren Marks [SPD]: Dann lassen Sie ihn einfach!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat der Kollege Weinberg das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich - Michaela Noll hat recht - ist der Verlauf dieser Debatte interessant. Im Vorfeld habe ich mir die Frage gestellt: Wie diskutieren wir wohl heute? Nehmen wir dieses ernste gesellschaftliche Thema gemeinsam mit der Opposition in den Fokus, (Michaela Noll [CDU/CSU]: Oh ja! Das wäre schön gewesen!) oder transportieren wir weiterhin alte, ideologisch geprägte Vorurteile in die Debatte? Letzteres haben einige Redner der Opposition leider getan. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Dann müssen Sie etwas Vernünftiges vorschlagen!) Ich sage ausdrücklich - Kollege Gehring, ich hatte schon große Sorge, dass wir ihn zu sehr gelobt haben und er den Raum verlässt -: Ich möchte mich bei den Grünen für die Art und Weise, wie sie diese Diskussion geführt haben, bedanken. Der Hamburger Pädagoge Frank Beuster hat in seinem Buch Die Jungenkatastrophe Folgendes formuliert: Viele Jungen sind in Not geraten. Grund ist eine einseitige, unzureichende Prägung. ... Auch fehlen zu häufig die Väter und die Männer in der Erziehung von Jungen. Wir haben diese Aussage politisch aufgegriffen und zur Diskussion gestellt. Frau Golze kritisierte daraufhin, wir würden nur auf das Trennende hinweisen. Das ist völlig falsch. Wir greifen genau die Punkte auf, die in der gesellschaftlichen Diskussion, aber auch in der Wissenschaft mehr und mehr Raum einnehmen. Heutzutage sind es nämlich in erster Linie die Jungen, die unterstützt und gefördert werden müssen. Frau Marks, Sie fordern von uns, die besonderen Bedürfnisse der Jungen in der Bildungspolitik zu definieren. Frau Marks, besuchen Sie doch einmal die Schulen in Ihrem Wahlkreis. (Caren Marks [SPD]: Das habe ich schon! Fragen Sie doch mal die Lehrer, was die von Ihrem Antrag halten!) Kollege Feist und ich haben das getan. An meiner ehemaligen Schule, einer katholischen Grund-, Haupt- und Realschule - sie befindet sich in einem sozialen Brennpunkt im Süden Hamburgs, in Hamburg-Wilhelmsburg -, haben die Jungen bzw. die Männer von sich aus eine AG gegründet. Sie wollen das Thema Jungenförderung mehr in den Fokus rücken, weil sie festgestellt haben, dass es besondere Bedürfnisse gibt. (Caren Marks [SPD]: Dann machen Sie von der CDU doch in den Ländern eine bessere Bildungspolitik!) Dies haben wir politisch aufgegriffen. Insofern können Sie uns nicht vorwerfen, wir hätten keine besonderen Bedürfnisse definiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Kollegen haben bereits klar zum Ausdruck gebracht: Die Defizite der Jungen gerade im Bildungsbereich zu betrachten, hat nichts damit zu tun, Jungen und Mädchen in irgendeiner Weise gegeneinander auszuspielen. Wenn ich mir die Bildungsergebnisse ansehe, Frau Golze, dann stelle ich fest: Die Bildungsergebnisse der Jungen stagnieren nicht etwa, sondern die Jungen verlieren in nahezu allen Bereichen immer weiter an Boden. Die letzte PISA-Studie kam zu dem Ergebnis, dass der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen bei der Lesekompetenz mittlerweile 39 Punkte beträgt; das entspricht einem Schuljahr. (Caren Marks [SPD]: Ja! Wir brauchen eben längeres gemeinsames Lernen!) Darauf muss man als Bildungspolitiker und Familienpolitiker eingehen. Man muss sich überlegen, wie ein Programm ausgestaltet sein könnte, mit dem man die Lesekompetenz der Jungen stärkt. Das haben wir getan. Sie aber werfen uns vor, wir würden einseitige Politik betreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Caren Marks [SPD]: Längeres gemeinsames Lernen, Herr Weinberg! Das wäre eine Antwort!) Zur Schulabbrecherquote und zum Thema Klassenwiederholungen haben die Kolleginnen und Kollegen schon einiges gesagt. Es gibt eine subjektive und eine objektive Wahrnehmung; Michaela Noll hat es formuliert. Wir wollen, wie in unserem Antrag formuliert, wissenschaftlich untersuchen: Wo genau liegen bei der Bildung und Ausbildung von Jungen und Mädchen die Schwerpunkte? Herr Rix, wir wollen auch erfahren: Was macht ein Erzieher eigentlich anders als eine Erzieherin? Auch wir wollen, dass der Anteil männlicher Erzieher steigt und nicht weiterhin nur 2,8 Prozent beträgt. Dies betrachten wir als Forschungsauftrag. Wir müssen vermeiden, dass in dieser Republik möglicherweise ein neues gesellschaftliches Problem entsteht. Das Thema "Migration und sozialer Status" - Sie haben es erwähnt - haben wir Bildungspolitiker als bedeutsam erkannt. Entsprechende Programme gibt es bereits. Wir wollen dafür sorgen, dass sozialer Status und Migrationshintergrund in Zukunft nicht mehr über den Bildungserfolg entscheiden. Darüber hinaus muss ein weiteres Problem, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, in den Fokus gerückt werden: die Entwicklung der Jungen. Wenn Jungen in ihrer subjektiven Wahrnehmung zu Bildungsverlierern werden und weniger Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben, dann entwickeln sie sich anders. Wenn sie zusätzlich einen Migrationshintergrund haben oder ihr sozialer Status gering ist, dann entsteht in weiten Teilen der Gesellschaft ein Problem. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Kernproblem ist trotzdem die soziale Lage!) Der Anlass dafür, dass wir uns mit diesem Thema befasst haben, war die Frage: Wie genau reagieren diese Jungen? Die Antwort lautet: Sie reagieren auch mit Aggression und üben häusliche Gewalt aus. Genau dies ist familienpolitisch das Desaster und die Urkatastrophe. Darauf müssen wir so schnell wie möglich reagieren, insbesondere im Bildungsbereich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Worum geht es in unserem Antrag en détail? Der Kollege von den Grünen hat den einen oder anderen Aspekt bereits erwähnt. Es geht um eine geschlechtersensible Pädagogik als Querschnittsaufgabe an den Schulen. Unterrichtsinhalte sollen so gestaltet werden, dass sie sowohl Mädchen als auch Jungen gerechter werden. Das heißt nicht, dass Pädagogen männliche Rollenbilder und Pädagoginnen weibliche Rollenbilder übernehmen sollen, sondern das heißt, dass Männer und Frauen an den Institutionen, in der Kita und in der Schule, Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichten sollen. Die Unterrichtsinhalte sollten so gestaltet sein, dass sie beiden, Jungen und Mädchen, gerecht werden. Wir brauchen Programme zur Stärkung der Lesekompetenz und müssen bei der Berufswahl dafür sorgen, dass sich auch Jungen - heute findet erstmalig der Boys' Day statt - stärker für Berufe interessieren, die sie bisher nicht angestrebt haben. Nur so schaffen wir einen Ausgleich. Das Programm "MEHR Männer in Kitas" mit der Zielmarke 20 Prozent ist bereits ein erster Aufschlag. Frau Marks hat gesagt, sie sei darüber erstaunt, dass uns erst jetzt klar werde, dass beide Geschlechter in den Blick zu nehmen seien. (Caren Marks [SPD]: So schreiben Sie das ja!) Was haben Sie eigentlich bis 2005 gemacht? (Caren Marks [SPD]: Viel!) Wo haben Sie Ihre Akzente gesetzt? Ich kann nicht erkennen, dass die SPD damals in der Regierungsverantwortung irgendwie die Thematik der Jungen aufgenommen hätte. Sie haben sich richtigerweise zu den Mädchen geäußert. Das wird von uns nicht als negativ oder defizitär angesehen. Vielmehr nehmen wir jetzt die jungen Männer bzw. die Jungen mit in den Fokus. Zum Schluss will ich Frank Beuster zitieren: Es liegt nun in der Hand von uns Männern, Vätern, Lebensgefährten, ob wir diese Aufgabe - Vorbild zu sein - dem Fernsehen, Computerspielen und der Straße überlassen. Wir als Politik, als Regierung haben das aufgenommen. Sie als Opposition können sich gerne anschließen. Wir würden uns freuen, wenn wir in den Ausschüssen konstruktiv und kritisch darüber diskutierten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Lehrieder für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Während wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages über unseren Koalitionsantrag debattieren, sind bundesweit - um 18.30 Uhr werden hoffentlich die ersten schon Feierabend haben - zahlreiche Schüler seit heute früh quasi bei der praktischen Umsetzung. Denn am heutigen Boys' Day - dem ersten offiziellen Zukunftstag für Jungen in unserem Land - erhalten bundesweit zahlreiche Schüler der Klassen 5 bis 10 - Frau Ministerin Schröder hat ausgeführt, dass 35 000 Jungen die Gelegenheit wahrnehmen - Einblicke in interessante und chancenreiche Dienstleistungsberufe, besonders in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege. So bekommen sie erste Eindrücke von Berufsbereichen, in denen bislang nur wenige Männer arbeiten. Herr Rix hat ausgeführt, dass er zu der sehr kleinen Minderheit von 2,4 Prozent Erziehern gehört, die im Kindergarten das entsprechende Rollenbild tradieren. Bestenfalls lernen die Schüler bereits am heutigen Tag ihre potenziellen Arbeitgeber kennen. Ich glaube, das Programm ist wichtig. Am 1. Juli fällt die Wehrpflicht weg. Viele junge Männer mussten in den letzten Jahren, bedingt durch den Zivildienst, in Berufe "hineinschnuppern", die sie ansonsten vielleicht nicht aus freien Stücken gewählt hätten. Deshalb ist es, Frau Ministerin, ganz wichtig, dass wir in den nächsten Monaten auch die Freiwilligendienste im Auge behalten. Wir müssen aufpassen, dass auch in Zukunft das Kennenlernen von bestimmten Berufsbildern ermöglicht wird, was früher, als es die Wehrpflicht noch gab, zwangsläufig geschah. Schon im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, eine moderne Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln und bereits bestehende Projekte weiter zu unterstützen. Die Einführung des Boys' Day am heutigen Tag ist ein weiterer richtiger und wichtiger Schritt hin zur Verbesserung der Zukunftsperspektiven für Jungen. Ich hätte es, Frau Kollegin Marks, begrüßt, wenn Sie gesagt hätten: Jawohl, hier seid ihr auf dem richtigen Weg. Wir haben das früher vielleicht noch nicht so dramatisch gesehen, aber wir sind auf einem guten Weg. Wir begleiten euch konstruktiv, aber auch kritisch, um für mehr Verständnis zu sorgen. Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle auf das Projekt "Neue Wege für Jungs" und die Initiative "MEHR Männer in Kitas" mit dem gleichstellungspolitischen Ziel, den Anteil männlicher Fachkräfte in Kindertagesstätten deutlich zu erhöhen, verweisen. Jahrzehntelang galten nur Mädchen und Frauen als besonders förderungsbedürftig. Gleichstellungspolitische Ansätze für Jungen und Männer fehlten weitestgehend. Nun rücken zusätzlich die Jungen in den Fokus der Gleichstellungspolitik, und das ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Von einer zeitgemäßen Gleichstellungspolitik können wir alle nur profitieren. Die Vorredner haben in Bezug auf viele Bereiche bereits darauf hingewiesen. Besonders im pädagogischen Bereich sowie im Dienstleistungssektor bei Gesundheit und Pflege zeichnen sich ein Fachkräftemangel und auch ein besonderer gesellschaftlicher Bedarf ab, der sich durch die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren noch deutlich verstärken wird. Wir wollen erreichen, dass die Männer von morgen durch eine moderne Gleichstellungspolitik vor allem in bildungs- und berufspolitischer Hinsicht gestärkt werden. Jungen wie Mädchen, Männer wie Frauen sollen in unserer Gesellschaft in allen Lebensbereichen die gleichen Chancen und Gestaltungsfreiheiten haben. Ich glaube, es ist gut, wenn wir an dieser Sache hier gemeinsam konstruktiv arbeiten und keine Feindbilder aufbauen bzw. Gegenposition darstellen, die die Sache nicht verdient. Ich finde es auch gut, dass Kollege Gehrig gesagt hat: Ein Boys' Day im Jahr ist eigentlich zu wenig; wir brauchten 365 Boys' Days im Jahr. Natürlich kann ich das nur unterstützen und sage: Jawohl, den Fokus, den wir heute hier ganz bewusst auf dieses Thema richten, müssen wir das ganze Jahr über beibehalten. Dazu brauchen wir zum einen die Weiterentwicklung von Programmen und Maßnahmen der Gleichstellungspolitik, um einseitige männliche Rollenzuschreibungen aufzubrechen. Zum anderen brauchen wir die Akzeptanz für die Notwendigkeit dieser Fortentwicklung und die gemeinsame Überwindung von Rollenstereotypen in unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich bei den Geschlechterrollen von Jungen und Männern einiges getan. Werte haben sich verschoben. Familie, Beziehung und Freundschaft sind wichtiger geworden. Das Geschlechterverhältnis wird neu ausbalanciert. Ein Beispiel, das ich bewusst zum Schluss nenne, sind die von mehreren Vorrednern bereits zitierten Vätermonate, die in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass sich deutschlandweit immerhin etwa 24 Prozent der jungen Väter - Tendenz steigend - durch eine Auszeit von ihrem beruflichen Leben zu ihrer Erziehungsverantwortung bekannt haben. In Bayern - darauf bin ich ganz besonders stolz - sind es sogar über 30 Prozent. (Beifall der Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/ CSU] und Miriam Gruß [FDP]) - Liebe Frau Gruß, hier dürfen Sie laut klatschen. - Von Bayern lernen, heißt Siegen lernen. Machen Sie weiter in dieser Richtung! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Über Sachsen könnte er auch einmal etwas Nettes sagen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5494 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern - Drucksache 17/2145 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Crone für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Petra Crone (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist mal ein netter Anfang!) Ist es nicht ganz wunderbar? Das, was sich die Menschen schon immer gewünscht haben, ist eingetreten: Unsere Lebensspanne wird immer länger. Ich finde, diese dazugewonnene Zeit ist ein ganz schönes Geschenk; denn wir sind immer besser gebildet, gesünder und fitter. Kurz: Wir haben mehr vom Leben. Gleichzeitig kann man unsere Lebensläufe nicht mehr uniformiert in drei Teile einteilen: Schule/Ausbildung/Studium, Arbeitszeit und Ruhestand. Nein, viele Lebensläufe sind von Brüchen, Umwegen, Veränderungen und Neubeginn gekennzeichnet. Keine Arbeitsphase kommt mehr ohne Weiterbildung aus. Der Begriff "lebenslanges Lernen" ist damit zum Teil schon mit Leben gefüllt. Nun muss er sich auch noch deutlicher in der verlängerten Lebensphase verfestigen. Werfen wir einen Blick in den Sechsten Altenbericht, der sich mit dem Thema Altersbilder beschäftigt. Die Älteren existieren überhaupt nicht. Diese Altersgruppe ist genauso vielfältig wie alle anderen Bevölkerungsgruppen - mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Leben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Leider wird immer viel zu sehr darüber gesprochen, was Ältere nicht mehr können und welche Macken sie haben. Diese Diskriminierung muss endlich aufhören. (Beifall bei der SPD) Stattdessen müssen wir die Potenziale und Stärken viel stärker hervorheben. Wir brauchen eine breite politische und gesellschaftliche Debatte darüber, wie ältere Mitbürger in der Arbeitswelt behandelt werden: ob sie gezielt weitergebildet werden, ob ihre Erfahrung geschätzt wird und ob die Arbeitsbedingungen ihnen gerecht werden. Auch muss darüber gesprochen werden, inwiefern die Bildungspolitik schon auf lebenslanges Lernen ausgerichtet ist und ob das Gesundheitswesen entsprechend vorbereitet ist. Darum fordere ich die Bundesregierung auf, die Anregungen der Wissenschaftler aus dem Fünften und Sechsten Altenbericht in konkrete politische Programmatik umzusetzen. Familienministerin Schröder hat nicht nur die Jungenpolitik, sondern auch die Seniorenpolitik zu einem ihrer Kernthemen ausgerufen. - Auch wenn sie gerade nicht anwesend ist, frage ich sie: Wann beschäftigen wir uns in diesem Parlament mit dem Sechsten Altenbericht? Eine Debatte darüber stand zwar ursprünglich auf der heutigen Tagesordnung, ist aber kurzfristig wieder abgesetzt worden. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Nein! Er ist uns auch wichtig! Es kommt auf die Tagesordnung!) Ergreifen Sie bitte endlich Initiativen, um die Potenziale des Alters ausreichend zu fördern und zu stärken! Zwar folgt ein Modellprojekt auf das nächste - ich erinnere nur an den Kampf um die Mehrgenerationenhäuser -, das ersetzt aber keinen langfristigen Aufbau und keine langfristige Förderung von sinnvoller Infrastruktur, und zwar gemeinsam mit Ländern und Kommunen. Hier etwas und dort etwas: Das reicht nicht aus, um das Große und Ganze zu gestalten. In einer Gesellschaft mit einem größer werdenden Anteil älterer Menschen muss die Politik, müssen wir gemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft die Teilhabemöglichkeiten auch für diese Gruppe sicherstellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist das Anliegen unseres Antrags. Dabei geht es uns, der SPD-Bundestagsfraktion, vor allem auch um die Bedürfnisse von sozial Schwächeren, Geringqualifizierten, Migranten, Migrantinnen und Menschen mit Behinderung. Es geht uns auch um die Älteren in ländlichen Regionen. Ziel ist eine neue Sicht des Alters in der Arbeitswelt. Dazu gehört das Recht auf Bildung für alle Lebensalter. Jeder, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, egal welchen Alters, hat das Recht auf Bildung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lernen ist für die ältere Generation mehr als nur Wissenserwerb. Es ist vor allem soziale Teilhabe und bedeutet eine enorme Steigerung der Lebensqualität. Selbst im hohen Alter hat Lernen noch positive Auswirkungen auf Leib, Seele und Selbstbestimmtheit, und es ist für uns deshalb auch Gesundheitsförderung und Prävention. Wenn ich mich hier umschaue und die älteren Kollegen und Kolleginnen sehe, kann ich nur sagen: Das Parlament ist fast ein Jungbrunnen. (Heiterkeit bei der SPD) Letztendlich motiviert Lernen auch zu bürgerschaftlichem Engagement. Die älteren Generationen prägen die Gesellschaft - genauso wie die jüngeren - mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten. Sie haben mehr Zeit und wollen auch mehr Verantwortung übernehmen. Neben den Fachkräften leisten vor allem ältere Menschen einen wertvollen Beitrag in Hospizen, Pflegeheimen, aber auch für das sportliche und kulturelle Leben in den Kommunen. Davon profitieren wir alle. Wir, meine Herren und Damen, müssen gute Rahmenbedingungen für flexible Angebote schaffen. Allzu starre Regelungen und Verpflichtungen allerdings schrecken ab. Besser ist ein großes Spektrum möglichst passgenauer Vereinbarungen. Ein Signal ist mir dabei sehr wichtig: Dieses Engagement darf kein billiger Ersatz für Leistungen unseres Sozialstaates sein. (Beifall bei der SPD) Es ist ein wichtiger Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Grübel hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Markus Grübel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Analyse der demografischen Entwicklung in Deutschland sind wir uns einig. Die Gesellschaft wird älter. Die Lebenserwartung steigt. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Jüngeren ab. In Zahlen: In den Zeiten der geburtenstarken Jahrgänge gab es rund 1,4 Millionen Geburten im Jahr. Jetzt sind es weniger als 700 000. Das entspricht einem Verhältnis von zwei zu eins. Das heißt, in wenigen Jahren gehen zwei Menschen in Ruhestand, während einer aus der Ausbildung in das Erwerbsleben nachrückt. Das ist eine Herausforderung für die Gesellschaft, insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme, aber auch eine Chance. Im Alter liegen nämlich auch große Potenziale. Wir müssen realistische und differenzierte Altersbilder entwickeln. Wir benötigen Altersbilder, die die Menschen motivieren, Altersbilder, die Alter als Chance begreifen. Alt sein heißt heute nicht in erster Linie, hilfs- oder pflegebedürftig zu sein; nur 5 Prozent der 70- bis 75-Jährigen sind auf fremde Hilfe angewiesen und pflegebedürftig. Die heutigen Seniorinnen und Senioren sind im Durchschnitt besser ausgebildet und vitaler als frühere Generationen. Auch die Werbung greift das auf: "Schönheit kennt kein Alter", sagt die Werbung für ein Körperpflegemittel. Ich möchte ergänzen: Kreativität kennt kein Alter, Engagement kennt kein Alter, Bildung kennt kein Alter. Nun zum vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion. Sie haben einen ungewöhnlichen Weg gewählt. Sie haben Mitte Juni erst einmal einen Antrag geschrieben, in dem Sie ganz viele konkrete Forderungen erhoben haben. Wenige Tage später richten Sie eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung und fragen nach all dem, wozu Sie vorher Position bezogen haben. Die Antworten konnten aber nicht in Ihren Antrag einfließen. Platter gesagt: Sie erklären zuerst den Weg, um dann nach dem richtigen Weg zu fragen. Umgekehrt wäre es wohl sinnvoller gewesen. Dann wären manche Punkte in dem Antrag nicht mehr aufgeführt worden. Die Erkenntnisse und Empfehlungen des fünften Altenberichts haben Eingang in die Arbeit der verschiedenen Ressorts der Bundesregierung gefunden. Eine Vielzahl von Programmen insbesondere aus dem Bundesfamilienministerium fördert zielgruppengenau das Engagement der älteren Menschen und trägt dazu bei, dass die so vielfältig vorhandenen Potenziale der Älteren genutzt werden. Programme wie "Alter schafft Neues - Aktiv im Alter", die Freiwilligendienste aller Generationen und die Mehrgenerationenhäuser fördern das Engagement gerade älterer Menschen. Wir haben jetzt eine Lösung gefunden, wie wir die Förderung der Mehrgenerationenhäuser für die Jahre 2012, 2013 und 2014 ermöglichen können. Die Antragstellung ist ab Sommer möglich. Die Initiative "Wirtschaftsfaktor Alter" greift die Erfahrungen und Anliegen der über 50-Jährigen auf und macht gleichzeitig Unternehmen auf die ökonomischen Chancen der demografischen Entwicklung aufmerksam. Die Initiative "Internet erfahren" will die Nutzung neuer Medien durch Ältere gezielt fördern. Auch dafür gibt es Programme in den Mehrgenerationenhäusern. Der "Freiwilligendienst aller Generationen" und sein Vorläufer, der "Generationsübergreifende Freiwilligendienst", sind beides Modellprogramme mit großem Erfolg. Die Evaluation hat ergeben, dass 64 Prozent der Freiwilligen älter als 50 Jahre sind. In dem Antrag gibt es Punkte, bei denen wir nicht weit auseinander sind, teilweise sogar eng zusammen, zum Beispiel bei der Überprüfung der Altersgrenzen. Diesen Punkt haben wir auch im Koalitionsvertrag festgehalten. Es gibt auch Punkte im Antrag - zum Beispiel eine weitere EU-Antidiskriminierungsrichtlinie -, die wir anders bewerten. Wir hatten über das Thema im Ausschuss und im Plenum mehrfach diskutiert; deshalb brauche ich das nicht näher auszuführen. Im Bereich der Forschung hat die Antidiskriminierungsstelle letztes Jahr eine Expertise zum Thema "Diskriminierung im Alter" vorgelegt. Eine Konsequenz daraus ist, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nächstes Jahr den Schwerpunkt auf Altersdiskriminierung legt. Hier sind wir also schon sehr aktiv. Als Fortentwicklung der Erkenntnisse aus dem fünften Altenbericht hat das Familienministerium den sechsten Altenbericht "Altersbilder in der Gesellschaft" in Auftrag gegeben. Der Bericht und auch die Stellungnahme der Bundesregierung liegen vor. Frau Crone, wir werden noch vor der Sommerpause den sechsten Altenbericht hier besprechen. Ihr Antrag stützt sich aber im Wesentlichen auf den fünften Altenbericht. Der sechste lag damals noch nicht vor. Als einen wichtigen Punkt, den Sie in Ihrem Antrag nicht ansprechen konnten, weil das damals nicht bekannt war, möchte ich den Bundesfreiwilligendienst erwähnen. Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst bieten wir den über 27-Jährigen und damit auch der älteren Generation die Möglichkeit, sich zu engagieren und ihre Potenziale einzubringen. Dieser Dienst steht Männern und Frauen offen. Er dauert in der Regel 12 Monate, mindestens 6 und höchstens 18 Monate, wenn er nicht von einer besonderen pädagogischen Maßnahme begleitet wird. Für die über 27-Jährigen und damit für die Älteren sind 20 Wochenstunden vorgesehen. Zu der 20-Stunden-Regelung haben wir in der Anhörung zum Bundesfreiwilligendienstgesetz die Sachverständigen befragt. Alle Sachverständigen haben einvernehmlich gesagt, dass sie die 20-Stunden-Regelung für richtig halten, weil dadurch eine Verstaatlichung des Ehrenamts verhindert wird. Mitte Mai startet die Informationskampagne mit dem Titel "Zeit, das Richtige zu tun - Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden". Eine der vielfältigen Maßnahmen wird sein, dass ein Bus der Linie 100, die auch hier am Reichstagsgebäude vorbeiführt, mit entsprechenden Informationen versehen wird. Ich hoffe, dass dieses Angebot viele Interessenten auch aus dem Kreis der Älteren findet. Sie sehen also: Es geschieht schon viel, und wir wollen noch mehr anpacken. Es wäre gut, wenn wir hier an einem Strang ziehen würden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Dittrich (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über den Antrag der SPD und nicht über den Altersbericht der Bundesregierung. Das finde ich schade, denn da wäre mehr drin. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das ist uns so wichtig, dass wir das separat machen!) Der Titel des Antrags lautet fast genauso wie der Bericht: "Potenziale des Alters und Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern". Leider schreiben Sie nicht hinein, dass eine Teilhabe auch durch armutsfeste Renten gefördert werden kann. Die besondere Benachteiligung von Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt wird auch in Ihrer Begründung nicht angesprochen. Frauen und Migranten haben nicht 47 Jahre in Vollzeit gearbeitet, um eine Rente ohne Abschläge mit 67 Jahren zu erhalten. Sie bleiben in Minijobs und Teilzeitstellen hängen; sie bleiben im Alter arm. Was bieten Sie diesen Menschen an? Als ersten Punkt fordern Sie, meine Damen und Herren von der SPD, den Freiwilligendienst aller Generationen. Die Benachteiligten auf dem Arbeitsmarkt, die keine eigene existenzsichernde Rente aufbauen können, sind aber genau Ihre Zielgruppe - die Freiwilligen aller Generationen -, und sie werden auch dazu gezwungen sein zu arbeiten, wenn sie ihre Teilrente, ihr Hartz IV oder ihre Grundsicherung aufbessern wollen. Diesen Freiwilligendienst von 16 bis 70 Jahren braucht kein Mensch. (Beifall bei der LINKEN) Die Jugendlichen benötigen stattdessen Ausbildungsplätze. 80 Prozent der Menschen in Deutschland wollen nicht bis 67 arbeiten, und sie wollen auch nicht bis zum Alter von 70 Jahren tätig sein. Hören Sie auf die Gewerkschaften, und verringern Sie das Renteneintrittsalter wieder! Damit schaffen Sie Arbeitsplätze, auch für Jugendliche. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben in der letzten Woche im Bundestag gemeinsam mit der Linken und den Grünen gegen den Bundesfreiwilligendienst gestimmt. Warum fordern Sie jetzt den Freiwilligendienst aller Generationen, wo es noch weniger Geld als Belohnung - zwischen 50 und 150 Euro - gibt? Sind Ihnen denn die älteren Menschen so wenig wert? Wo bleibt das Rentenalter als Lebensabschnitt, der selbstbestimmt und erholsam sein kann, frei vom Zwang der Erwerbstätigkeit? (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem ist es bürgerschaftliches Engagement!) Engagement bedeutet bei diesen Parteien, nicht für sich selbst, sondern für die Gesellschaft, für andere tätig zu sein, und das auch noch mit einem Dienst. Die Älteren fordern das ein, behaupten Sie von der SPD. Mir sind keine Briefe der Gewerkschaften und der Seniorenverbände bekannt, die dies fordern. Die Unternehmen und die Regierungen fordern das, weil sie so mit staatlicher Subvention einen neuen Niedriglohnbereich - Freiwilligendienst aller Generationen - einführen. Kranke, erschöpfte und ältere Menschen und Menschen mit Behinderung werden in Ihrem Antrag nicht bedacht. Wer aber länger fit ist, könnte sich Urlaubswünsche erfüllen und Hobbys nachgehen. Das ist selbstbestimmt, aber das ist nicht vorgesehen. Wenn ein Liedermacher wie Konstantin Wecker Konzerte gegen rechts organisiert, so habe ich nichts dagegen. Er soll singen, solange er möchte. Er kann das auch; denn er ist finanziell abgesichert. Er kann sich frei entscheiden. Setzen Sie sich mit uns für den gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro ein, damit die Beschäftigten eine Rente aufbauen können. (Beifall bei der LINKEN - Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu Horst Janson?) Dann können sie sich entscheiden. Der Freiwilligendienst aller Generationen orientiert sich an Mehrgenerationenhäusern, die zu Pflegestützpunkten werden sollen. Alle Wege der Freiwilligen führen in die Pflege; denn 35 000 Zivis wollen ersetzt werden. Mit Ihrer Forderung nach lebenslangem Lernen und Überprüfung der Altersgrenzen beim bürgerschaftlichen Engagement unterstützt auch die SPD die Altersbilder im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung. Dort geht es um eine Überprüfung der tariflichen Schutzvorschriften für Ältere. Es geht um den Abbau des Kündigungsschutzes. Es geht darum, die noch gewerkschaftlichen Vorstellungen von einem Anspruch auf Rente mit 67 zu beseitigen. Dem Sechsten Altenbericht sind zwei Varianten zu entnehmen: Erste Variante: Das Rentenalter wird, ohne eine Alterszahl zu nennen, erst mit Ende der individuellen Leistungsfähigkeit erreicht. Zweite Variante: Das Rentenalter wird erreicht, wenn das 67. Lebensjahr vollendet ist. Dann wird die individuelle Leistungsfähigkeit überprüft. Warum sollen die Rentnerinnen und Rentner als niedrig Entlohnte bis 70 tätig sein und damit Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst besetzen? Sie leisten doch bereits etwas für die staatliche Gemeinschaft, Stichworte: Einkommensteuer, Medikamentenzuzahlung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 19 Prozent Mehrwertsteuer und eventuell Hundesteuer. Das ist nicht wenig. Fordern Sie mit uns Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Statt eine Teilhabe durch ausreichendes Einkommen und Rente zu fordern, diskriminieren Sie die Älteren durch Ihr Angebot, sich im Freiwilligendienst aller Generationen zu verpflichten, und das - über die gesetzliche Altersgrenze hinaus - bis 70 Jahre. Damit wenden Sie sich gegen die Beschäftigten, die auf ein gesetzliches Rentenalter vertrauen. Wir hingegen sind für eine armutsfeste Rente und einen zwanglosen Lebensabend. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nächste Rednerin ist Nicole Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion. Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft wird älter; das haben hier heute schon mehrere festgestellt. Seniorenpolitik ist längst kein Randthema mehr. Die demografische Entwicklung betrifft uns alle. 2050 wird jeder dritte Bundesbürger älter als 60 Jahre sein. Die Veränderung der Altersstrukturen wurde lange von vielen lediglich als Belastung unserer Sozialsysteme dargestellt. Das ist inzwischen erfreulicherweise anders geworden. Wir sind uns wohl alle darin einig, dass Menschen nicht aufs Abstellgleis geführt werden dürfen, nur weil sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Die meisten Älteren wollen sich nicht von heute auf morgen aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Sie wollen mit ihrer Bildung und ihrem Wissen aktiv bleiben. Das zu ermöglichen, ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. Von der geistigen Fitness profitieren nicht nur die Senioren, sondern alle. Die FDP-Fraktion setzt sich seit langem für ein Ende starrer Altersgrenzen ein. Deshalb unterstütze ich Ihre Forderung, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, Potenziale des Alters und des Alterns zu stärken. Die Teilhabe älterer Generationen - sei es durch Bildung oder durch bürgerschaftliches Engagement - ist auch mein Ziel. Im ersten Teil Ihres Antrags schildern Sie treffend die Situation. Sie haben recht: Diesen demografischen Prozess können wir nur gemeinsam mit den Älteren gestalten. Nie waren Senioren so selbstständig und führten individuell ihr Leben, wie sie es wollten. Ältere Menschen gestalten und prägen die Gesellschaft im Beruf wie in ihrer privaten Zeit. Wir wären dumm, wenn wir auf diese wertvollen Potenziale verzichten würden. Bildung ist für Menschen ein Leben lang die Voraussetzung, um in der sich wandelnden Arbeitswelt Schritt zu halten. Wer fordert, muss fördern. Wer sich mit 50, 60 oder 70 beruflich engagiert, verdient Anerkennung und Dank und muss, wie auch alle jüngeren Arbeitnehmer, motiviert und weitergebildet werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lernen für das Alter umfasst die gesamte Lebensspanne. Dies alles sind Forderungen, die wir, die FDP-Fraktion, mittragen. Allerdings ist der Forderungskatalog im SPD-Antrag überzogen. Vieles darin ist ohnehin überholt oder nicht finanzierbar, etwa der Ausbau der generationenübergreifenden Freiwilligendienste. Wir haben gerade den Bundesfreiwilligendienst auf den Weg gebracht; er ist generationenübergreifend. Zum ersten Mal werden gerade Ältere ermuntert, sich einzubringen. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass ein Tischler in die Kita geht und dort Jungen und Mädchen zeigt, was man alles machen kann. (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Eine Rentnerin oder ein Rentner hat sogar die Möglichkeit, Geld dazuzuverdienen. Ich verweise auch auf den Ausbau der Mehrgenerationenhäuser. Die Ministerin hat erst im Dezember das Pilotprojekt neu ausgeschrieben. Sowohl etablierte Einrichtungen als auch ganz neue Projekte wird der Bund auch künftig tragen. Im Antrag heißt es weiter: Altersgrenzen sollen beim bürgerschaftlichen Engagement überprüft und abgebaut werden. - Daran arbeiten wir doch ebenfalls. Dies ist mir ein wichtiges Anliegen. Außerdem fordern Sie die Bundesregierung auf, Altersdiskriminierung aktiv zu bekämpfen. Was glauben Sie, was die Antidiskriminierungsstelle des Bundes tut? Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle berichtete im Familienausschuss auf meine Frage hin, dass es sich in zwei von drei Beschwerdefällen um Altersdiskriminierung handele, zum Beispiel dass Ältere von Weiterbildungsmaßnahmen ausgeschlossen sind. Es gibt keinen Grund dafür, dass in Betrieben das Recht auf Weiterbildung an bestimmte Altersgrenzen gekoppelt sein soll. Die Antidiskriminierungsstelle legt hier bereits einen klaren Schwerpunkt. (Caren Marks [SPD]: Den die FDP nie wollte!) Ansonsten enthält der Antrag zusätzliche, kostenintensive Programme und Projekte, so wie wir es von der SPD gewohnt sind - ein Wohlfühlprogramm aus Steuermitteln finanziert. (Caren Marks [SPD]: Sie machen lieber Wohlfühlprogramme für Mövenpick!) In einer Zeit, in der wir Politiker alles tun sollten, um unseren Kindern und Großkindern keine gigantischen Schuldenberge zu hinterlassen - auf denen können sie nicht spielen -, tun Sie so, als könnten wir Wohltaten mit dem Füllhorn ausschütten. Ich möchte daran erinnern, dass es schon eine ganze Reihe von guten Maßnahmen gibt. Lebenslanges Lernen wird bereits in vielen Projekten umgesetzt. Ob bei den Landfrauen, dem Kolpingwerk oder den Kommunen - das Weiterbildungsangebot für Senioren ist mittlerweile eindrucksvoll. Viele Angebote sind sogar kostenlos. Ob es ein Computerkurs ist, ein Fremdsprachenkurs oder ein Seniorenstudiengang an der Universität - alles das stärkt die Kompetenz für ein eigen- und mitverantwortliches Leben. (Beifall bei der FDP) Der Sechste Altenbericht enthält wichtige Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für die Politik. Diese umzusetzen, muss unser vorrangiges Ziel sein. Die Bundesregierung hat mit der Initiative "Aktiv im Alter" bereits klar Impulse zur Stärkung älterer Menschen gesetzt. Es werden Kommunen dabei unterstützt, Strukturen auf- oder auszubauen, die eine stärkere Partizipation älterer Menschen ermöglichen. In der Initiative "Wirtschaftsfaktor Alter" unter Federführung des Wirtschaftsministeriums werden Senioren-, Wirtschafts- und Verbraucherpolitik miteinander verbunden mit dem Ziel, die Lebensqualität von älteren Menschen zu erhöhen und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum zu stärken. Die FDP-Fraktion unterstützt das wichtige Ziel, Potenziale des Alters zu stärken. Die Koalition hat bereits wichtige, wegweisende Entscheidungen dazu gefällt. (Caren Marks [SPD]: Oh!) Wir wollen eine Seniorenpolitik, die ältere Menschen als selbstbewusste Personen wahrnimmt und mit allen Rechten und Pflichten einbindet. Dazu braucht es aber keine utopischen Programme, wie von der SPD gewünscht, die nicht finanziert werden können und an der Realität vorbeigehen. Deshalb werden wir den Antrag natürlich ablehnen. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gespräche und Debatten über den demografischen Wandel, über seine Herausforderungen und seine Folgen sind mittlerweile ein Dauerbrenner. Jeder weiß, dass dieses Feuer seit einiger Zeit munter vor sich hinlodert. Der Anteil der Älteren in unserer Bevölkerung steigt. Das ist erfreulich; denn auch unsere Lebenserwartung steigt. Dazu tragen der medizinische Fortschritt genauso wie die besseren Lebensbedingungen bei. Das bedeutet für uns aber auch ganz klar: Wir haben einen politischen Handlungsauftrag. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit Ihrem Antrag machen Sie deutlich, dass Ihnen der Handlungsbedarf durchaus bewusst ist. Ich möchte hier den Blick auf die Potenziale Älterer noch etwas weiten. Das Engagement der Älteren schiebt sich immer weiter über den Beginn des Ruhestandes hinaus. Eine Grenze, sich zu engagieren, ist oft dann erreicht, wenn es die eigene Gesundheit nicht mehr zulässt. Hier sehen wir deutlich, dass außer Engagement und Bildung auch andere Bereiche gefragt sind, damit sich die Potenziale Älterer entfalten können. Altenpolitik ist ein Querschnittsthema. Es wird also höchste Zeit, dass wir es in den Debatten verankern - im Sinne einer bewussten Generationenpolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tun wir dies nicht, wird die Herausforderung des demografischen Wandels schnell zur Überforderung für alle, und aus dem Dauerbrenner wird dann ganz schnell ein Flächenbrand. Zukünftig müssen alle Politikfelder auf ihre generationengerechte Ausgestaltung und die dort vorherrschenden Altersbilder und diskriminierenden Regelungen überprüft werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir sind gefragt in unserer persönlichen Einstellung gegenüber dem Alter, in unserer Rolle als Abgeordnete, wie wir uns öffentlich äußern. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind genauso gefragt wie Familienangehörige. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gilt, ein realistisches Bild des Alters zu entwerfen. Es gibt nicht die Alten; da haben Sie recht, Frau Crone. Das dritte und vierte Lebensalter sind von so großer Unterschiedlichkeit geprägt wie kaum ein anderes Lebensalter zuvor. Deshalb muss auch unser Altersbild facettenreich sein. Es gibt eben nicht nur die fitten Älteren, es gibt auch diejenigen, die einen weitreichenden Unterstützungs- und Pflegebedarf haben. Auch diese müssen wir im Blick haben. Das bedeutet aber auch, dass wir umfassendere Strategien brauchen, um die Potenziale und Ressourcen dieses Personenkreises zu fördern. Die Nationale Engagementstrategie der Bundesregierung sollte ein Grundstein für die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements werden. Die diesbezüglichen Erwartungen waren immens groß, und eine Strategie verspricht ja auch Großes. Doch was dabei herausgekommen ist, spottet wirklich jeder Beschreibung. Von strategischem Handeln auf der Bundesebene ist nichts zu erkennen. Stattdessen folgte eine Inventurliste von Maßnahmen und Modellprojekten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Kein Wort wird darauf verwendet, wie es gelingen soll, die wichtige Frage der Förderung zwischen Bund, Land und Kommune zu diskutieren und zu klären, und kein Wort darüber, wie man sich die eigene Verantwortung zur Infrastruktursicherung vorstellt. Als Trostpflaster stellt man dagegen einen neuen Freiwilligendienst vor. Das kann doch nicht allen Ernstes Ihre einzige Antwort sein! Sie wissen doch sicherlich, dass dabei Trägerprinzipien verletzt werden. Es werden Doppelstrukturen aufgebaut, und das Wissen Älterer über Engagementförderung wird missachtet. Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der Linken geantwortet, dass bürgerschaftliches Engagement ein "Motor für die Entwicklung sozial innovativer Lösungen" sei und die "Entwicklungsfähigkeit unserer Gesellschaft" stärke. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Motor benötigt auch Energie. Die Nationale Engagementstrategie taugt dafür nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Crone [SPD]) Diese Strategie lässt den Motor stottern. Ich befürchte, am Ende würgt sie den Motor sogar noch ab. Dadurch verschwendet man die Potenziale Älterer, anstatt sie im Sinne aller Generationen zu fördern und zu nutzen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch nie sind so viele Menschen so alt geworden wie heute, (Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) und noch nie waren sie dabei so gesund und so gut ausgebildet. Unsere Volkswirtschaft und unsere Gesellschaft insgesamt brauchen ihr Wissen und ihre Erfahrung. Ich habe gerade festgestellt, dass darüber sehr großer Konsens in diesem Hause herrscht. Die ältere Generation hat wachsende Bedeutung für das Wirtschafts- und Arbeitsleben, den Bildungsbereich, die Integrationspolitik und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Es geht um soziale Teilhabe, um den Austausch von Erfahrungen und um ein breites bürgerschaftliches Engagement in einer lebendigen Zivilgesellschaft. Damit die älter werdende Gesellschaft zu einer Chance für jeden Einzelnen und für unser Land wird, hat die Bundesregierung eine Fülle von Initiativen ins Leben gerufen, liebe Frau Scharfenberg. Ich erwähne beispielhaft die Mehrgenerationenhäuser, eine große Erfolgsgeschichte, die wir deshalb auch fortschreiben. Ich erwähne die Freiwilligendienste aller Generationen. Sie sind ausdrücklich für jedes Alter offen und fördern das Miteinander in unserer Gesellschaft. Beispielhaft sind auch die bundesweit 46 Leuchtturmprojekte sowie die ebenfalls geförderten kommunalen Onlinemarktplätze, über die Interessenten ein passendes Angebot in ihrer Region finden können. Ich erwähne ferner die Initiative der Bundesregierung "Alter schafft Neues", die insbesondere der älteren Generation vielfältige Wege aufzeigt, sich nach eigener Wahl für das Gemeinwohl zu engagieren. Dazu gehört auch das Programm "Aktiv im Alter", das vor allem auf die Kommunen zielt. Hier geht es darum, Nachbarschaftshilfen aufzubauen und altersgerechtes Wohnen zu fördern. Auf diese Weise können die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger unmittelbar ihr örtliches Gemeinwesen mitgestalten. Schließlich soll auch die Initiative "Wirtschaftsfaktor Alter" nicht unerwähnt bleiben, die Senioren-, Wirtschafts- und Verbraucherpolitik miteinander verbindet. Denn adäquate Dienstleistungen und Produkte steigern die Lebensqualität älterer Menschen und stärken ihre Rolle als Verbraucher. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit Blick auf diese kurze Aufzählung wird es Sie nicht erstaunen, wenn ich feststelle, dass wir die Politik für die ältere Generation bei der zuständigen Bundesministerin und natürlich auch beim zuständigen Staatssekretär in den besten Händen wissen. (Caren Marks [SPD]: Wie anspruchslos!) Ich füge hinzu: Das gilt auch für die Bundesbildungsministerin. Ich denke dabei an das Programm "Lernen im Lebenslauf", welches an das anschließt, was im Rahmen der Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung umgesetzt wird. Umso mehr erstaunt der Antrag der SPD. Sie rennen hier seitenlang offene Türen ein und beschwören wortreich Dinge, die in unserem Land schon längst gelebte Wirklichkeit sind. Sie legen ein weiteres Mal Zeugnis von Ihrem unerschütterlichen Staatsglauben ab. Wir werden noch ausführlich Gelegenheit haben, im Ausschuss über Ihren Antrag zu sprechen. Aber schon jetzt möchte ich sagen: Es geht um Menschen, die in der Regel ein jahrzehntelanges Berufsleben hinter sich haben und durchaus in der Lage sind, selbstverantwortlich über ihre Aktivitäten und Interessen zu entscheiden. Wir sollten ihnen Angebote machen und ihnen zusätzliche Anreize für ihr freiwilliges Engagement und für ihre individuelle Weiterbildung geben. Aber wir sollten jeden Anschein von Bevormundung und von staatlich gelenkter Zwangsbeglückung der älteren Generation vermeiden. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben es schließlich mit mündigen Frauen und Männern zu tun, die über eine gehörige Portion Lebenserfahrung verfügen und eine beachtliche Lebensleistung vorzuweisen haben. Ich glaube nicht, dass sie noch im Alter auf Schritt und Tritt vom Staat gesagt bekommen möchten, was sie zu tun haben. Unserem Leitbild entspricht eine ältere Generation, die selbstbewusst und eigenverantwortlich über ihre Aktivitäten und ihr freiwilliges Engagement entscheidet. Diesem Leitbild fühlen wir uns verpflichtet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Franz Müntefering für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Franz Müntefering (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Immanuel Kant 50 Jahre alt wurde, wurde er mit der Bemerkung laudatiert "Verehrungswürdiger Greis". Es ist lange her; das würde heute keiner mehr sagen. Heute gibt es in Deutschland 4 Millionen Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Im Jahr 2050 werden es 10 Millionen sein. Heute sind 7 000 Menschen in Deutschland über 100 Jahre alt. Im Jahr 2050 werden es etwa 75 000 sein. Das heißt, es verändert sich ganz viel, und es ist gut, wenn man darüber spricht und sich bewusst macht, was sich da verändert. Alt ist man nicht mehr mit 50. Ich sage: auch nicht mit 70, vielleicht mit 80 oder 85 Jahren. Wir sprechen über Ältere. Das sind die Menschen zwischen 60 und 70 Jahren. Dann kommen die Alten. Die Älteren sind jünger als die Alten. Das zeigt, dass wir die richtigen Worte an dieser Stelle noch gar nicht gefunden haben, und macht deutlich, wie schnell sich diesbezüglich etwas verändert hat. Ich komme zum Ansehen der alten Menschen. Wenn in einer Gesellschaft nur ganz wenige Menschen alt waren, dann galten sie als Weise. Wenn aber ganz viele Menschen alt sind, dann ist sozusagen die Patina dünn, (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und man erkennt schnell, dass sich etwas verändert hat. Deshalb müssen wir lernen, mit dem Alter richtig umzugehen. Wer 70 ist, hat deshalb nicht recht. Er hat deshalb aber auch nicht unrecht. Wer 30 ist, hat nicht recht, nur weil er 30 ist. Aber er hat auch nicht automatisch unrecht. Vielleicht müssen wir uns einfach daran gewöhnen, das Senioritätsprinzip ein bisschen infrage zu stellen und uns klarzumachen, dass die Antwort auf die Frage, wie alt jemand ist, relativ wenig darüber aussagt, ob er recht hat oder nicht recht hat. Das gilt übrigens auch für sein Können; denn Ältere können eine ganze Menge. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wir müssen auch über die Potenziale sprechen. Der erste Punkt, der einem an dieser Stelle einfällt, ist das Versprechen, eine Politik für alte Menschen zu machen. Ich sage dazu: Wir müssen auch an der Stelle fördern und fordern. Denn es gibt in der Demokratie keinen Schaukelstuhl. Wenn man älter wird und der Kopf noch in Ordnung ist, dann hat man eine Mitverantwortung dafür, dass die Gesellschaft funktioniert. Das Schlimmste, was Deutschland passieren könnte, wäre, dass die große Gruppe der Menschen, die älter werden, nur von Mallorca aus Karten schreibt und sagt: "Schickt uns noch zwei Jahrzehnte die Rente! Das werdet ihr noch hinbekommen. Dann schaut mal zu, wie ihr klarkommt!" Wir müssen wissen, dass wir aufeinander angewiesen sind, dass wir diese Probleme miteinander klären müssen. Das zweite Potenzial, um das es geht, liegt in der Prävention. Altwerden fängt jung an. Was wir heute bei den Kindern nicht hinbekommen - gesunde Ernährung, gute Bildung und Selbstbewusstsein -, das kann sich auch nicht auszahlen, wenn sie in ein höheres Alter kommen. Menschen verändern sich nicht so sehr. Wenn wir sagen "Engagiert euch!", dann ist die Frage, ob die Kinder das lernen, solange sie klein und jung sind, damit sie weitermachen, wenn sie ins Alter hereinwachsen, wenn sie das Alter von 65, 67 oder 70 erreicht haben. Prävention ist also etwas ganz Wichtiges. Es gibt so einen schönen Spruch von Voltaire - wir in Deutschland sollten hier zuhören -: Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein. Ich finde das sehr geschickt: Wenn man sich darauf einstellt, dass man die Chance hat, gesund alt zu werden, dann kann man ein gutes Leben haben und etwas leisten. Es ist auch eine Frage der Einstellung, wie man sich diesem Alter nähert und was man sich vornimmt, dann zu tun. Nun will ich aber nicht nur über die schönen Seiten und die philosophischen Aspekte sprechen. Ich will schon ernst nehmen, was eben von der Linken gesagt worden ist: Natürlich geht es hier auch um materielle Sicherheit im Alter. Ich glaube, dass wir deshalb nicht mehr allzu lange Altenberichte diskutieren werden, sondern Gesellschaftsberichte diskutieren müssen; alle Generationen müssen berücksichtigt werden. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen uns richtig bewusst geworden ist, dass sich da etwas verändert, lange darüber gesprochen, dass wir uns mit dem Thema der Älteren beschäftigen müssen, dass wir hier neu denken und organisieren müssen. Jetzt müssen wir darangehen, sämtliche Konsequenzen der demografischen Entwicklung zu betrachten. Alle Generationen sind aufeinander angewiesen. Mich erinnert das ein bisschen an die Debatte über Jungen und Mädchen, die wir vor einer Stunde geführt haben: Dort ist von allen gesagt worden, dass es nicht um einen Gegensatz geht. Auch bei den Generationen geht es nicht um Gegensätze. Alle, die über Generationenkonflikte und -kriege sprechen, machen etwas ganz Gefährliches und Unnötiges. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Man muss deshalb darauf achten, dass wir uns bewusst darüber bleiben, dass wir alle Generationen brauchen, dass diejenigen, die heute älter sind, nicht nur für sich verantwortlich sind - das haben wir in den 80er-Jahren von Hans Jonas gelernt -, sondern auch für die Jüngeren und diejenigen, die danach kommen werden. Ich glaube, dass wir in Deutschland - auch wir im Deutschen Bundestag - bald die Grundsatzdebatte angehen und Handlungskonzepte für ein Land entwickeln müssen, das eine große demografische Veränderung erlebt, die erhebliche Konsequenzen in allen Lebensbereichen haben wird. Da sind wir gerne dabei. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand zieht in Zweifel, dass sich unsere Gesellschaft - die Gesellschaften der Industrienationen insgesamt - in den letzten zwei Generationen entscheidend verändert hat: Sie wird nicht mehr so sehr von Jugendlichen und Kindern geprägt, sondern mehr und mehr von Erwachsenen, vor allen Dingen auch von rüstigen Pensionisten und Rentnern. Dieser Wandel der Gesellschaft fordert uns natürlich heraus. Im Antrag der SPD werden die Herausforderungen benannt. Aber auch schon im Sechsten Altenbericht werden die Herausforderungen genau analysiert und hervorragend dargestellt. Die Bundesregierung hat entsprechend gehandelt. Eine Maßnahme aufgrund des demografischen Wandels ist zum Beispiel die Rente mit 67. Trifft man auf einen rüstigen Alten, einen rüstigen Rentner oder Pensionisten, dann begegnet einem oft ein gutaussehender, strahlender Mensch, der sich darüber freut, dass er den Druck des Berufslebens hinter sich hat und jetzt endlich zu dem kommt, was er schon immer machen wollte. Aber es ist genauso richtig, dass die Gesellschaft auf das Potenzial, auf das Können dieser rüstigen älteren Menschen nicht verzichten kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deshalb glaube ich, dass alle Überlegungen richtig sind, die einen Anreiz dafür bieten, dass sich die älteren Menschen dafür begeistern lassen, sich im Gemeinwesen zu organisieren und einzubringen. Damit die älteren Menschen einen entsprechenden Beitrag leisten können, kommt es darauf an, dass sie sich weiterbilden. Überhaupt meine ich, dass das lebenslange Lernen, die Bereitschaft, die Augen aufzumachen und zu sehen, was auf einen zukommt, und sich danach auszurichten, ein Grundmerkmal gerade im Alter sein sollte. So wird die Erstarrung verhindert, die den älteren Menschen oft genug - manchmal sehr zu Unrecht - vorgeworfen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist nur die eine Seite des Alters, in der die Menschen noch rüstig sind, in der sie Heiterkeit ausstrahlen und bereit sind, in ihrem Beruf weiterzuarbeiten und sich im Gemeinwesen zu engagieren. Aber es gibt auch die andere Seite des Alters. Es gibt viele einsame alte Menschen. Es gibt viele Menschen, die ohne Familie sind, die keinen Anschluss haben, die keine Freunde haben, die allein in ihrer Wohnung im vierten, achten, zehnten Stock eines Hochhauses wohnen und sich ausgegrenzt fühlen. Dies ist eines der großen Probleme der Gesellschaften in einer Industrienation. Johannes Paul II. hat folgerichtig in seinem Schreiben Novo Millennio Ineunte, das er zur Jahrtausendwende herausgegeben hat, auf dieses Problem hingewiesen und es als eines der drängenden Probleme unserer Zeit gesehen. Es ist notwendig, dass es karitative Organisationen gibt, die sich um diese Menschen kümmern, dass sich die Kirchengemeinden ihre Altentreffs erhalten, die sehr hilfreich sein können. Das Mehrgenerationenhaus spielt hier eine große Rolle. Es ist aber auch der Ideenreichtum einer guten Kommunalpolitik gefragt, die bereit ist, auf diese Menschen zuzugehen, sie aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen und sie für eine Mitarbeit im Gemeinwesen zu begeistern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann kommt eine weitere Phase des Alters, in der die Menschen gebrechlich werden, in der sie sich selbst nicht mehr vorstehen können, in der sie hilflos wie ein Kind sind. Dann kommt es zur Krise - nicht nur für diese alten Menschen, sondern auch für ihre Umgebung. Sie sind hilflos wie ein Kind. Bei Kindern weckt diese Hilflosigkeit die Liebe der Mutter und bringt die sorgende Umarmung der Umgebung hervor. Bei den Alten wird oft mit einer spontanen Ablehnung reagiert, die aus einer natürlichen Empfindung heraus kommt, weil das Alter in dieser Phase des Lebens keine Zukunft mehr verspricht, weil das Alter in dieser Phase des Lebens Gebrechlichkeit zeigt, auch auf das eigene Ende hinweist. Hier kommt es darauf an, dass solche Menschen von einer guten Familie umgeben sind, aber auch darauf, dass die Jungen und die rüstigen Alten bereit sind, diesen Menschen gegenüber Verantwortung zu übernehmen. Ich habe einen weiteren Gedanken. Es gibt auch die alten Menschen, deren Lebensbogen eine große Höhe und Weite aufzeigt. Wir erinnern uns an unsere jüngste Vergangenheit, in der alte Menschen, alte Männer bereit waren, Verantwortung für den ganzen Staat zu übernehmen. Wir kennen die großen Staatsmänner gerade aus unserer jüngsten Vergangenheit, die aus einer schier unglaublichen physischen und psychischen Reserve heraus täglich gehandelt und entschieden haben. Ich habe hier das Bild des jetzt amtierenden Papstes vor meinen Augen. Es kommt auch in der Wissenschaft vor. Denken Sie an Einstein. Oder denken Sie an die Literatur, an Bernard Shaw oder an Ernst Jünger. Oder denken Sie an Goethe, der in seinem Alter wunderbar abgeklärte Werke geschrieben hat. Oder denken Sie an einen Mann wie Tizian, der mit 100 Jahren von der Pest dahingerafft werden musste - so möchte ich beinahe sagen - und bis zum letzten Augenblick gemalt hat. Diesen Bogen gibt es auch. Es gibt aus den 60er-Jahren einen Ausspruch von Guardini. Er heißt: Es gehört zu den fragwürdigsten Erscheinungen unserer Zeit, dass sie wertvolles Leben einfachhin mit Jungsein gleichsetzt. Ich meine, dass diese Mahnung bzw. diese Erkenntnis auch heute noch Gültigkeit haben. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2145 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung - Drucksachen 17/5335, 17/5496 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort. (Beifall der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP]) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz: Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt - ich zitiere -: Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung. An diesen Grundsatz knüpfen wir mit dem eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung an. Die Mediation als eine Methode, in geordneter und konstruktiver Weise mit Konflikten umzugehen, ist besonders geeignet, die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger für sich selbst und andere zu stärken. Deshalb wollen wir die Bürger ermuntern, ihre Streitigkeiten vornehmlich eigenverantwortlich zu lösen. Bislang ist die Mediation gesetzlich weitgehend ungeregelt. Nunmehr verpflichtet uns die EU-Mediationsrichtlinie zum Handeln. Anders als bei den meisten Gesetzesvorlagen, die im Deutschen Bundestag behandelt werden, betreten wir rechtliches Neuland. Das bedeutet: Wir konnten nicht auf vorhandenen Strukturen aufbauen, sondern mussten das Mediationsgesetz von Grund auf neu entwickeln. Deshalb haben wir im Rahmen einer Expertengruppe namhafte Vertreter aus Wissenschaft und Praxis in die Vorarbeiten einbezogen. Eine wichtige Hilfestellung lieferte uns das vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht im Auftrag meines Hauses erstellte rechtsvergleichende Gutachten. Hierdurch konnten wir wertvolle Informationen über die Erfahrungen anderer Länder mit der Mediation gewinnen und bei der Erarbeitung des Entwurfs berücksichtigen. Im Bereich der Mediation treffen sehr unterschiedliche Auffassungen aufeinander, die nicht ganz leicht in Einklang zu bringen sind. Bei der Schaffung des Regierungsentwurfs haben wir die verschiedenen Interessen abgewogen und darauf hingewirkt, diese in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei haben wir uns von dem Ziel leiten lassen, möglichst wenig in die Entfaltung der Mediation als eines noch in der Entwicklung befindlichen Konfliktlösungsverfahrens einzugreifen. Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf ein breites und überwiegend positives Echo bei den Verbänden und auch in der Gesellschaft gefunden hat. Auch die Länder begrüßen die mit dem Entwurf verfolgte Zielrichtung. Gleichwohl will ich nicht verhehlen, dass der vorgelegte Entwurf auch in der Kritik steht. Diese Kritik konzentriert sich vornehmlich auf einige wenige, allerdings auch bedeutsame Punkte. Ansprechen möchte ich zunächst das Thema der gerichtsinternen Mediation. Die von verschiedenen Seiten erhobenen Forderungen nach einer kompletten Abschaffung dieser Mediationsform teile ich nicht. Die gerichtsinterne Mediation ist in den letzten Jahren eine feste Größe an deutschen Gerichten geworden. Erfolgsquoten von bis zu 74 Prozent bei Konfliktbereinigung sprechen für sich. Mit dem Mediationsgesetz stellen wir den Ländern das notwendige Instrumentarium zur Verfügung, die gerichtsinterne Mediation fortzuführen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Allerdings wollen wir den richterlichen Mediatoren auch keine weiter gehenden Befugnisse einräumen als ihren außergerichtlich tätigen Kollegen. Bei der Prüfung und Umsetzung von Vorschlägen aus dem parlamentarischen Raum, die auf eine weitere Förderung gerade der außergerichtlichen Mediation abzielen, werden wir gerne unterstützend tätig werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Natürlich greifen wir das Anliegen gern auf, gerade die außergerichtliche Mediation so attraktiv zu machen, dass sie sich entfalten kann. Aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass die finanziellen Rahmenbedingungen den Gestaltungsmöglichkeiten Grenzen setzen. Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch hinsichtlich der Frage, wie die Aus- und Fortbildung der Mediatoren und damit der Zugang zur Mediatorentätigkeit geregelt werden soll. Hier haben wir die verschiedensten Modelle intensiv geprüft, wie zum Beispiel die Schaffung von Zulassungsvoraussetzungen oder einer staatliche Anerkennung. Am Ende haben wir uns mit dem Entwurf gegen eine detaillierte gesetzliche Regelung entschieden. Damit wollen wir gewährleisten, dass der Mediation als einem noch stark in der Entwicklung begriffenen Verfahren genügend Entfaltungsspielraum verbleibt. Zugleich wollen wir neuen bürokratischen Strukturen entgegenwirken, die wiederum mit Kosten verbunden wären. Die Qualität der Mediation und die Transparenz auf dem Mediatorenmarkt sollen im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher durch die Schaffung eines privaten Zertifizierungssystems gefördert werden. Wir zählen dabei auf die Kraft der Selbstregulierung durch die Berufsgruppen und Verbände. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Zivilgesellschaft erfordert die Weiterentwicklung von modernen und effektiven Methoden autonomer Konfliktbeilegung. Ich bin sicher, dass wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf diese Entwicklung befördern und damit auch einen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung der Streitkultur in Deutschland leisten werden. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im zuständigen Ausschuss. Recht herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mediationsrichtlinie der Europäischen Union verfolgt das Ziel, den Zugang von Einzelpersonen und sonstigen Wirtschaftsteilnehmern zu modernen Methoden der alternativen Streitschlichtung zu verbessern. Wir EU-Mitgliedstaaten haben bis Ende Mai dieses Jahres Zeit, diese Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Der uns heute vorliegende Entwurf des BMJ sieht ein entsprechendes Bundesgesetz vor. Ziel des Gesetzes ist es, die Mediation zu fördern und die außergerichtliche Konfliktbewältigung voranzubringen. Wir alle begrüßen grundsätzlich dieses Ziel. Die entscheidenden Vorteile einer Streitbeilegung durch Mediation gegenüber Prozess und Urteil sind folgende: Eine Mediation ist in der Regel kürzer und billiger als ein streitiges Verfahren. Außerdem entscheiden die Konfliktparteien selbst über das Ergebnis. Dies fördert in aller Regel die Zufriedenheit der Beteiligten am Ausgang des Verfahrens. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass die durch eine Mediation entstandenen Lösungen länger halten. Besonders Familienrechtler werden die Stärkung der Mediation zur Streitbeilegung sehr begrüßen. Gerade in hochemotionalen Familienkonflikten bietet die Mediation große Chancen. Sie macht nämlich vor allem dann Sinn, wenn es nicht nur darum geht, einen Streit irgendwie zu klären, sondern auch darum, dass die Beteiligten hinterher noch miteinander auskommen müssen. So weit, so gut. In den bisherigen, wie ich finde, sehr konstruktiven Gesprächen, die überfraktionell stattfanden, haben sich entscheidende Schwierigkeiten bei der Schaffung einer neuen gesetzlichen Regelung der Mediation gezeigt, die im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu klären sein werden. Die Frau Ministerin hat auf einige Punkte bereits hingewiesen. Ich teile diese Auffassung. Ich möchte an dieser Stelle auf drei besonders wichtige Punkte eingehen. Beim Stichwort "Mediation" dachten und denken viele Menschen bis heute an einen Schreibfehler des Begriffs "Meditation". (Heiterkeit und Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD]) Es geht hierbei jedoch nicht darum, bei Räucherstäbchen und Keksen Probleme zu diskutieren. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau, die Zeiten sind vorbei! - Gegenruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade! - Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich denke, so löst die SPD ihre Probleme! - Gegenruf der Abg. Christine Lambrecht [SPD]: Da geht es schon handfester zu!) Der Mediator soll nach dem Gesetzesvorhaben eine sehr entscheidende Aufgabe übernehmen: Er bringt die Streitparteien an einen Tisch und hilft ihnen, selbst zu einer Lösung zu kommen. Der Mediator muss auf die Interessen der Kontrahenten eingehen, und er muss Menschen einschätzen können. Schließlich soll er eine Vereinbarung fixieren, und diese soll dann auch noch vollstreckbar sein, das heißt, die Wirkung einer gerichtlichen Entscheidung haben. Seit das Kabinett den Entwurf des Gesetzes auf den Weg gebracht hat, schießen Mediatorenkurse wie Pilze aus dem Boden. Das bereitet uns Sorge; denn bislang schreibt das geplante Gesetz nicht vor, was ein Mediator gelernt haben muss. Wenn Politik und Gerichtsbarkeit Kontrolle abgeben, der Mediator aber nicht über eine fundierte theoretische Ausbildung und vor allem über keine praktische Erfahrung im Umgang mit Menschen verfügt - was insbesondere bei der professionellen Konfliktbeilegung wichtig ist -, dann ist zu befürchten, dass sich am Ende der Stärkere durchsetzt und unbefriedigende Ergebnisse erzielt werden. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir halten daher eine psychosoziale und bzw. oder einen juristischen Hintergrund und ausreichende berufliche Erfahrung für unbedingt erforderlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jens Petermann [DIE LINKE]) Vor allem, wenn es um Streitigkeiten um Kinder geht, ist besonderes psychologisches Einfühlungsvermögen gefragt. Wir meinen daher, dass es verbindlicher gesetzlicher Anforderungen an die Aus- und Fortbildung der Mediatoren bedarf. Ich möchte nun auf einen weiteren Punkt eingehen, den Sie, Frau Ministerin, bereits angesprochen haben. Nach dem vorliegenden Entwurf soll es unterschiedliche Formen der Mediation geben: Sie kann unabhängig von einem Gerichtsverfahren, im Verlauf des Prozesses oder auch mit einem Richter als Mediator ablaufen. Bei einem Scheitern der Mediation darf derselbe Richter nicht mehr selbst in der Sache entscheiden, wenn es sich um eine gerichtliche Mediation handelt. Gerade die eigentlich nicht gewollte Stärkung der sogenannten gerichtsinternen Mediation sehen wir kritisch. Wir haben Sorge, dass mit der richterlichen Mediation die eigentliche Aufgabe der Justiz in den Hintergrund gedrängt wird. Statt einen Streit zu verkürzen, können Gerichtsverfahren so durchaus auch in die Länge gezogen werden. Es entspricht auch nicht dem Bild des unabhängigen Richters nach dem Grundgesetz, wenn er erst als Mediator auftritt und anschließend nicht in der Sache entscheiden darf. Diese Einschränkung ist jedoch notwendig, um eine Voreingenommenheit des urteilenden Richters zu vermeiden. Die gewünschte Beschleunigung der Streitbeilegung und die gewünschte Kostenersparnis setzen daher voraus, dass der Schwerpunkt des Gesetzes auf der außergerichtlichen Streitbeilegung liegt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Hierfür müssen im Gesetz zusätzliche Kostenanreize für eine außergerichtliche Streitschlichtung geschaffen werden. Damit bin ich beim letzten Punkt angelangt. Eine Mediationskostenhilfe für die Nichtwohlhabenden ist im Gesetzentwurf bislang nicht vorgesehen. Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass das Probleme mit sich bringt, weil das finanziert werden muss. Ich halte die Mediationskostenhilfe insbesondere im Familienrecht für unbedingt angebracht. (Beifall bei der SPD - Otto Fricke [FDP]: Ab welchem Einkommen denn?) - Da gibt es die üblichen Regeln. - An dieser Stelle ist der Gesetzentwurf aus unserer Sicht bislang nicht mutig genug. Wenn das geplante Gesetz parallel dafür sorgt, dass die Mediation im Gericht und zudem auch noch kostenlos angeboten wird, werden die Parteien verständlicherweise sagen: Zur Not machen wir die Mediation eben im Gericht. - Dies würde nicht zu der gewünschten Entlastung der Gerichte führen. Daher müssen auch die Länder ein Interesse daran haben, eine Kostenhilfe für die außergerichtliche Mediation bereitzustellen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jens Petermann [DIE LINKE] - Otto Fricke [FDP]: Da können die rot-grünen Länder ja mal vorgehen!) Der Gesetzentwurf ist ein guter Ansatz und zeigt die Bedeutung, die Mediation in unserer Gesellschaft zukünftig haben soll. Klare gesetzliche Regelungen erhöhen die Transparenz und werden den Zugang zur Mediation erleichtern. Aber dazu bedarf der vorliegende Entwurf der Überarbeitung; denn Sie haben es richtig gesagt: Wir betreten gesetzliches Neuland. - Ich hoffe daher, dass wir konstruktiv zusammenarbeiten und zu einem guten Ergebnis kommen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mediation ist gar nicht ein so neues Verfahren. Bereits im 17. Jahrhundert hat Alvise Contarini im Westfälischen Frieden 1648 als Mediator die Abschlussverhandlungen mitgeführt. Er war von allen Seiten anerkannt und mit hohem Vertrauen ausgestattet. So gesehen hat es einige Zeit gedauert, bis uns der Gesetzesentwurf des BMJ, des Justizministeriums, heute vorgelegt wurde. Aber das liegt nicht an einer zeitlichen Verzögerung durch das Justizministerium, ganz im Gegenteil. (Heiterkeit des Abg. Otto Fricke [FDP]) Es hat vielmehr europarechtliche Gründe, dass es jetzt zu einem Mediationsgesetz gekommen ist. Bereits 1999 hatte der Rat von Tampere beschlossen, dass die Mitgliedstaaten außergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen einführen sollen. 2002 ist mit dem Grünbuch zur außergerichtlichen Streitbeilegung im Grunde der nächste Schritt gegangen worden, bis dann die Richtlinie zur Mediation, die wir heute umsetzen, von der EU erlassen worden ist. Es gibt also einen europarechtlichen Hintergrund; die entsprechende Richtlinie setzen wir jetzt in deutsches Gesetz um. Generell soll der Gesetzentwurf die Mediation stärken, das außergerichtliche Streitverfahren der Mediation befördern, und speziell soll die Richtlinie umgesetzt werden. Kern der Richtlinie sind drei Punkte: Vollstreckbarkeit, Verjährung und Vertraulichkeit. Bezüglich der Vollstreckbarkeit geht es darum, dass die Parteien die am Abschluss getroffene Vereinbarung für vollstreckbar erklären lassen können oder sollen. Bezüglich der Verjährung geht es darum, dass die Parteien, die eine Mediation eingehen, nicht im Nachhinein schlechtergestellt werden, falls die Mediation scheitert und für sie dann gegebenenfalls Fristen abgelaufen sind. Bezüglich des Vertrauensschutzes geht es darum, dass die Dinge, die in einem Mediationsverfahren vor dem Mediator diskutiert werden - dies sind teilweise sehr vertrauliche, sehr intime Sachverhalte -, dann nicht durch den Mediator oder an der Mediation teilnehmende Dritte in die Öffentlichkeit gelangen. Zu Recht hat die Justizministerin weitere Aspekte im Gesetzentwurf ergänzt, nämlich die Ausdehnung auf innerstaatliche Sachverhalte. Das ist richtig. Ich glaube, es wäre zu kurz gegriffen, wenn man gesagt hätte: Wir berücksichtigen nur grenzüberschreitende Sachverhalte. Es war ein richtiger Entschluss, zu sagen: Wir dehnen dies auf deutsche Sachverhalte aus und erstrecken das Mediationsgesetz auf alle Bereiche. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ebenso ist es richtig, dass wir bestimmte Definitionen schaffen, zum Beispiel des Mediators und des Mediationsverfahrens, und auch gewisse Grundsätze festlegen, beispielsweise die Verpflichtungen, die ein Mediator eingehen muss. Das Gesetz leistet also zum einen eine Umsetzung der Richtlinie, zum anderen - zu Recht - eine Ausdehnung auf bestimmte weitere Aspekte. Von daher bedanke ich mich ganz herzlich an dieser Stelle bei der Frau Ministerin und bei Staatssekretär Dr. Stadler für die konstruktiven Gespräche in den letzten Wochen. Der schlanke Gesetzgebungsvorschlag wirft aber zugleich verschiedene Fragen auf. An manchen Stellen wirft er sogar mehr Fragen auf, als er Klärungen schafft. Die Frage, die zuerst aufgeworfen wird, betrifft den Anwendungsbereich. Für welchen Anwendungsbereich gilt dieses Gesetz? Welche Arten der Mediation werden erfasst? Sollen beispielsweise auch Mediationen auf dem Schulhof, wenn ein 18-jähriger Oberstufenschüler zwischen 15- und 16-jährigen Schülern mediiert, erfasst werden? Soll beispielsweise auch die Mediation in einer sechsköpfigen Familie, wenn der ältere Bruder für eine Schwester als Mediator tätig ist, erfasst werden? Das ist unklar. Von einem Gesetz kann man, glaube ich, schon erwarten, dass zumindest sein Anwendungsbereich klar definiert ist; diese Definition muss mindestens in der Begründung erfolgen. Sonst wird das Gesetz sicherlich nicht den Erfolg haben, den wir ihm wünschen. Der zweite Aspekt betrifft die Mediationsarten. Die Kollegin Steffen hat es schon angesprochen: Ganz wichtig ist ein richtig austariertes Verhältnis zwischen der gerichtlichen Mediation und der außergerichtlichen Mediation. Hier muss der Schwerpunkt auf der außergerichtlichen Mediation liegen; denn das ist das, was wir im Kern wollen. Wir wollen nicht, dass Streitigkeiten vor ein Gericht gebracht werden, sondern wir wollen, dass möglichst viele Streitigkeiten bereits im Vorfeld geklärt werden. Es entlastet auch die Staats- und Länderkassen, wenn die Gerichte gar nicht erst bemüht werden, und führt bei den Parteien zu viel größerem Vertrauen. Die Mediation schafft im besten Fall eine Win-win-Situation. In den nächsten Wochen muss es uns gelingen, die außergerichtliche Mediation zu stärken, ohne auf die aus meiner Sicht guten Ansätze der Gerichtsmediation, die insbesondere aus den Bundesländern gekommen sind, zu verzichten. Es muss aber, wie gesagt, eine Stärkung der außergerichtlichen Mediation geben. Dies sieht der Gesetzgebungsentwurf derzeit nicht vor. Wenn man ihn liest, stellt man fest: Er stärkt eher die in Bezug auf die Kosten nicht so günstige Gerichtsmediation. Hier spielt übrigens § 2 Abs. 4 Mediationsgesetz eine große Rolle. Er schließt nämlich die anwaltliche Beratung im Rahmen der Mediation aus, wenn eine Partei dem widerspricht. Hier müssen wir nachbessern. Sonst bekommen wir an dieser Stelle ein Problem mit der anwaltlichen Beratung der Parteien in der Mediation. Der dritte ganz wesentliche Punkt - die Kollegin Steffen hat auch ihn schon angesprochen - ist die Aus- und Fortbildung. Will der Gesetzgebungsentwurf Erfolg haben, will er die Mediation wirklich voranbringen, dann muss die Frage der Ausbildung der Mediatoren geklärt sein. Es kann nicht sein, dass sich weiterhin jeder "Mediator" nennen und ein entsprechendes Schild an seine Tür hängen darf und wir glauben, dadurch würden wir die Mediation befördern. Denken Sie nur an die Rechtschutzversicherer, die sich im Bereich der Mediation gerne engagieren möchten. Sie brauchen aber auch die Sicherheit, dass der Mediator, der einen Fall mediiert, gut ausgebildet ist. (Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Und dass er haftet!) Dies dürfen wir, glaube ich, nicht allein der Selbstregulierung der Verbände überlassen. Denn in den letzten 10, 15 Jahren hat sich gezeigt: Den Verbänden alleine ist es bisher nicht gelungen, hier Standards zu schaffen. Das hat auch die Diskussion gezeigt. In den nächsten Wochen wird es wichtig sein, in § 5 Mediationsgesetz eine klare Regelung zu treffen, gegebenenfalls im Rahmen einer Rechtsverordnung oder einer Verwaltungsvorschrift, die, was die Voraussetzungen angeht, gewisse Mindeststandards und im Hinblick auf die Ausbildung eine gewisse Mindeststundenzahl nennt. Ich denke, für die Ausbildung eines Mediators sollten 120 bis 150 Stunden notwendig sein; eine geringere Stundenzahl ist, glaube ich, nicht möglich. Dies sind unserer Auffassung nach die Kernpunkte, in denen wir in den nächsten Wochen eine Verbesserung des Gesetzentwurfes erzielen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Viele Detailfragen sind noch zu klären. Dabei geht es nach meiner Meinung aber im Wesentlichen um technische Fragen, beispielsweise um die Hemmung von Fristen; ich denke nur an § 4 Kündigungsschutzgesetz. Ein bloßer Verweis auf die BGB-Fristen reicht nicht aus. Hier müssen wir, glaube ich, etwas genauer hinschauen. Eine weitere Frage lautet: Welche Gerichtsbarkeiten sollen einbezogen werden: die Sozialgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit, die Arbeitsgerichtsbarkeit? Wollen wir all diese Gerichtsbarkeiten in dem Gesetz erfassen oder nicht? Das ist bisher etwas unklar. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Vollstreckbarkeit der Abschlussvereinbarung einer Mediation. Soll jeder Mediator, auch ein Soziologe oder Philosoph, eine Mediationsvereinbarung, die später vollstreckbar ist, verfassen dürfen? All diese Fragen müssen wir noch klären, wenn dieses Gesetz Erfolg haben soll. Ich glaube, wir werden sie auch klären, zumal gerade die letzten Fragen eher technischer Art sind. Die beiden zentralen Punkte, die angesprochen worden sind, die Aus- und Fortbildung - dies betrifft § 5 des Mediationsgesetzes - und die Austarierung des Verhältnisses zwischen gerichtlicher Mediation und außergerichtlicher Mediation, sind die Knackpunkte dieses Gesetzes, mit denen wir uns befassen müssen. Ich glaube, wenn wir diese beiden Probleme lösen, dann wird die Mediation Erfolg haben. Frau Ministerin, von parlamentarischer Seite kann ich Ihnen unsere Zusammenarbeit zusichern. Ich glaube, wir werden mit diesem Gesetz einen großen Erfolg erzielen, wenn wir es schaffen, die genannten Probleme gemeinsam zu lösen. Ich hoffe, dass uns dies in den nächsten Wochen gelingen wird. Ich bedanke mich ganz herzlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jens Petermann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin, mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen präsentiert die Bundesregierung leider nur ein halbgares Gericht. Es besteht die Gefahr, dass es ungenießbar ist, also schwer im Magen liegt, und Sie den Adressaten, also den Bürgerinnen und Bürgern, den Betrieben, aber auch den Institutionen, Steine statt Brot geben. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist es nun halbgar, oder sind es Steine? Können Steine halbgar sein?) Der Entwurf aus Ihrem Hause, Frau Ministerin, verdient leider keine Bestnote. Das sagt nicht nur die Opposition, die hier etwas schärfer kritisieren darf, das sieht auch die Koalition so. Es gibt gravierende Mängel. Die Kostenfrage sowie die Frage der Aus- und Weiterbildung sind nicht geklärt. Ich glaube, die bisherige Debatte hat gezeigt, dass hier wirklich Nachbesserungsbedarf besteht. Am 21. Mai 2008 erteilten der Europäische Rat und das Europäische Parlament den Mitgliedsländern die Hausaufgabe, für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen den Zugang zur Mediation zu fördern. Die Frist zur Umsetzung endet demnächst, am 20. Mai dieses Jahres, also in circa fünf Wochen. Die Regierung hatte fast drei Jahre Zeit, die Richtlinie umzusetzen. Das zu diskutierende Ergebnis scheint indes mit heißer Nadel gestrickt. Es entsteht der Eindruck, dass Sie den Auftrag aus Brüssel nicht so recht verstanden haben. Laut Richtlinie soll die Mediation für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen gesichert werden. Explizit ausgeschlossen sind Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten und die Staatshaftung. Diese Ausschlüsse beziehen sich auf Rechtsgebiete, wo es ein starkes strukturelles Ungleichgewicht der Verfahrensbeteiligten gibt. Das hat auch seinen Grund; denn eine Mediation macht nur Sinn, wenn sich die Parteien auf Augenhöhe gegenüberstehen. (Beifall bei der LINKEN) Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass die schwächere Partei regelmäßig über den Tisch gezogen wird. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Das Bundesjustizministerium will nun die gerichtliche, die gerichtsnahe und die außergerichtliche Mediation in den Bereichen Zivilrecht, Familienrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht und Verwaltungsrecht einführen. Fraglich ist dabei, ob die Umsetzung der Richtlinie das überhaupt erfordert. Gerade im Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsrecht besteht ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten. Hat zum Beispiel ein Hartz-IV-Empfänger Probleme mit der Kürzung seiner Regelleistungen, soll er sich künftig erst einmal mit der Behörde bei Kaffee und Kuchen und den berühmten Räucherstäbchen - das Copyright dafür liegt beim Kollegen Ahrendt - an einen Tisch setzen und um eine geringere Kürzung feilschen, obwohl die Kürzung an sich unter Umständen rechtswidrig war. Wenn nun ein Hartz-IV-Empfänger eine Streitigkeit vor dem Zivilgericht austrägt, besteht für ihn die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Das ergibt sich aus dem Justizgewährungsanspruch und dem Sozialstaatsgebot. Hinsichtlich der Mediationskosten schweigt sich der Entwurf allerdings aus. Der Hartz-IV-Empfänger müsste also, wenn er sich auf die Mediation einlässt, mindestens die Hälfte der Kosten des Mediationsgespräches selbst tragen. Das BMJ kann die Höhe der Kosten bisher nur schätzen. Es ist von circa 450 Euro die Rede. Bei einem Regelsatz von 364 Euro, der in unserem eben geschilderten Fall durch die Sanktionen noch gekürzt werden würde, ist das Ganze unbezahlbar. Hier bedarf es eines Rechtsanspruchs auf Mediationskostenhilfe. Ein Forschungsprojekt der Länder, wie es in dem derzeitigen § 6 des Entwurfs geplant wird, ist unzureichend. (Beifall bei der LINKEN) Die im Übrigen sehr spannende Frage, wer sich Mediator nennen darf, bleibt letztlich unbeantwortet. Der Entwurf überlässt es dem Mediator selbst, durch geeignete Aus- und Fortbildung Sachkunde zu erlangen. Das ist mir viel zu beliebig. Für die sachkundige Durchführung einer Mediation - das ist hier schon gesagt worden - braucht man meines Erachtens eine hochqualifizierte Ausbildung in Psychologie und Kommunikation sowie mindestens durchschnittliche Rechtskenntnisse. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Jens Petermann (DIE LINKE): Nein. - Herr Kollege Sensburg hat in der FAZ geäußert, dass es einer verbindlichen Zertifizierung bedarf. Da bin ich mit Ihnen, geschätzter Kollege Sensburg, einer Meinung. Ich kann mich da nur anschließen. Schließlich soll die Mediation auch bundeseinheitlich geregelt sein. Ansonsten droht ein Flickenteppich mit unterschiedlichen Standards wie bereits in der Beamtenbesoldung, und das ist von Nachteil. Die Linke fordert: Mediation muss auf grenzüberschreitende Zivil- und Handelssachen beschränkt sein; Mediationskostenhilfe muss eingeführt werden, und eine bundesweit einheitliche Ausbildung der Mediatoren muss sichergestellt werden. (Beifall bei der LINKEN) Frau Ministerin, bessern Sie den Entwurf insoweit nach. Beachten Sie dabei auch unseren Entschließungsantrag. Dann können wir die Regelung mittragen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir diskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung. Heribert Prantl hat die Intention dieses Gesetzentwurfs in der Süddeutschen Zeitung als "juristischen Paradigmenwechsel" geadelt. Was müssen wir gesetzlich regeln, damit Mediation ein effektiver Bestandteil dieser Gesellschaft wird? Wir müssen uns zunächst im Klaren darüber sein, wo und wie wir Mediation und andere Konfliktlösungsmethoden vorrangig verankern wollen. Wollen wir sie in den Gerichtssälen bei den Richtern oder außerhalb des Gerichtsverfahrens bei freiberuflichen Mediatorinnen und Mediatoren oder Beratungsstellen integrieren? (Mechthild Dyckmans [FDP]: Warum "oder"? - Otto Fricke [FDP]: Wie wäre es mit "oder/ und"?) In dem Gesetzentwurf werden beide Modelle definiert. Die Begrifflichkeit orientiert sich aber am Wort "Gericht", indem von außergerichtlicher, gerichtsnaher und gerichtsinterner Mediation ausgegangen wird. Die gerichtsinterne Mediation wird dabei durch Kostenfreiheit privilegiert. Meine Damen und Herren, das Mediationsverfahren gewinnt seine Wirksamkeit durch Eigenverantwortlichkeit der Parteien und durch die Gesprächsleitung eines allparteilichen Mediators. In den Sitzungen können die Parteien ihre Interessen und Bedürfnisse im direkten Gespräch selbst herausarbeiten. Normalerweise dauert ein Mediationsverfahren zwischen drei und acht Sitzungen à 1,5 Stunden. Es erstreckt sich über mehrere Wochen, und am Ende kann eine gültige, von allen Parteien unterzeichnete Vereinbarung stehen. Wie stellt sich der Vergleich zwischen richterlicher und außergerichtlicher Mediation dar? Der Richterberuf ist aufgrund hoher Fallzahlen und gekürzter Richterstellen durch einen enormen Zeit- und Erfolgsdruck geprägt. (Otto Fricke [FDP]: Böse Länder!) Die Modellprojekte der richterlichen Mediation zeigen, dass dort die Mediation in ein bis zwei Sitzungen durchgeführt wird. Oft hat der Richter die Akte vorher gelesen, lässt sich die Interessenlage also nicht von den Parteien erklären, und am Ende gibt es einen Vergleichsvorschlag. Wir verkennen nicht, dass zahlreiche Richterinnen und Richter viel Zeit und Geld investiert haben, um eine Mediationsausbildung zu absolvieren. Innerhalb der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit arbeiten sie mit viel Engagement, erzielen auch gute Ergebnisse, aber das Verfahren entspricht doch eher dem Modell eines Güterichters, wie wir es aus Thüringen und Bayern kennen, das in § 278 Abs. 5 ZPO verankert ist, und nicht der Mediation, wie sie außerhalb der Gerichte durchgeführt wird. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Völlig falsch!) Wenn wir eine eigenverantwortliche Konfliktlösung und die Entlastung der Justiz erreichen wollen, dann müssen wir weiterdenken. Dann müssen wir auch an die Punkte denken, die die Kolleginnen und Kollegen schon angesprochen haben, nämlich daran, wie wir die Aus- und Fortbildung von Mediatorinnen und Mediatoren sichern können. Wir müssen die Grundzüge klar artikulieren. Ich weiß, dass große Mediations- und Anwaltsverbände schon an Qualitätsstandards arbeiten und eine qualitätsvolle Ausbildung anbieten. Es reicht aber nicht aus, diese Entwicklung nur dem freien Markt zu überlassen, wie es die Bundesregierung vorschlägt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ist die Qualität der Mediation erst einmal gesichert, dann wird es der Justiz sicher leichter fallen, Streitfälle an geeignete Mediatorinnen und Mediatoren nach außen zu verweisen. Das hätte viele Vorteile. Die Koordinationsstellen, die schon an den Gerichten existieren, könnten genutzt werden, um Fälle auf ihre Geeignetheit hin zu überprüfen. Dort arbeiten erfahrene Richterinnen und Richter, die Mediationsfälle bearbeitet haben. Ein ähnliches Modell kennen wir aus den Niederlanden. Auch dort werden häufig Mediationsfälle in die freie Mediation verwiesen. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Das ist doch auch heute schon möglich!) Für die Mediatorinnen und Mediatoren bestünde ein Anreiz, an dem Projekt mitzuwirken. Wir könnten die Mitwirkung auch mit der Verpflichtung zu einer Evaluation verbinden. Es entstünde ein positiver Kreislauf: Wir könnten die Gerichte effektiv entlasten, die außergerichtliche Mediation würde in Anspruch genommen, die Konfliktlösungen würden immer nachhaltiger, und die Gerichte würden weiter entlastet. Das führt mich zu dem letzten Schritt, den wir aus meiner Sicht gehen müssen: die Einführung einer Mediationskostenhilfe. Das würde Mediation unabhängig vom Einkommen ermöglichen und durch die Anbindung an die Gerichte die notwendige Qualitätssicherung bieten. Die Bundesregierung führt immer wieder an, das sei nicht finanzierbar und falle in die Länderzuständigkeit. Wir wissen aber, dass zum Beispiel ein streitiges Familiengerichtsverfahren mit Regelungen zum Sorgerecht, zum Umgang und zum Unterhalt sehr viel Zeit, Geld und Nerven kostet. Ich denke, auch die Bundesländer sollten ernsthaft darüber nachdenken, zumindest in Modellprojekten eine Mediationskostenhilfe einzuführen; denn die Mediation würde mit Sicherheit auch die Justizhaushalte entlasten. (Otto Fricke [FDP]: Das können ja die Rot-Grünen machen!) Aus unserer Sicht ist der Gesetzentwurf leider in der aktuellen Form nicht ausgewogen genug. Deswegen können wir ihm in dieser Form nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat der Kollege Silberhorn das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung. Das schrieb das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007. In der Tat führen streitige Verfahren zwar zur Klärung einer Rechtsfrage, aber nicht notwendig zu einer hinreichenden Befriedung der Parteien. Das mag daran liegen, dass unsere Zivilverfahren stark formalisiert sind und auch in materieller Hinsicht unser Zivilrecht schrecklich logisch ist. Jeder Student lernt in seiner ersten Stunde Zivilrecht, die Frage zu beantworten, wer von vom was woraus verlangen kann. Wer diese Frage stellt, wird in unserem Zivilrecht eine Antwort finden. Allerdings ist die Wirklichkeit oft so komplex, dass es mit der Beantwortung dieser Frage allein nicht getan ist. So können ordentliche Gerichtsverfahren oft wenig Rücksicht auf die Ursachen einer Streitigkeit und auf die Befindlichkeiten der Parteien nehmen. In diesem Zusammenhang begrüße ich es, dass wir nun die Mediation in allen Formen - außergerichtlich, gerichtlich und gerichtsnah - auf eine neue rechtliche Grundlage stellen. Wir setzen damit zugleich die EG-Richtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen um, eine Richtlinie, die sich zu Recht auf grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen beschränkt. In Deutschland finden sich bislang Regelungen zu konsensualen Konfliktlösungen nur vereinzelt, beispielsweise im Familienrecht und im Rahmen der Güteverhandlungen in Zivilrechtsstreitigkeiten. Wir stellen das nun auf eine deutlich breitere Grundlage. Der Anwendungsbereich des Mediationsgesetzes wird nahezu alle Rechtsgebiete erfassen. Weshalb die Finanzgerichtsbarkeit nicht dabei ist, kann vielleicht noch überprüft werden. Dass beispielsweise ausdrücklich das Markengesetz genannt ist, finde ich durchaus mutig, weil in diesem Rechtsbereich, in dem es häufig um hohe Streitwerte und wettbewerbsrechtliche Bezüge geht, oft um jeden Quadratmillimeter gekämpft wird. Aber immerhin: Wir haben einen sehr breiten Anwendungsbereich. Das zeigt, dass es völlig ausreichend ist, wenn sich die Europäische Union mit Mindestharmonisierung befasst. Wir sind selbst in der Lage, die Gelegenheit zu nutzen, das Weitere in eigener Zuständigkeit zu regeln. Wir brauchen in diesem Bereich keine Vollharmonisierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Gesetzentwurf soll zunächst einmal das Bewusstsein für die Möglichkeiten schaffen, Konflikte im Einvernehmen beizulegen. Dazu soll schon in der Klageschrift erklärt werden, ob der Versuch einer Mediation oder eines anderen Verfahrens zur außergerichtlichen Konfliktbeilegung unternommen worden ist oder ob Gründe entgegenstehen. Diese Verfahren der Mediation sind bei rechtsuchenden Bürgern noch nicht sehr stark verankert. Ich denke, das Gesetz wird einen Beitrag dazu leisten. Die streitenden Parteien sollen im Rahmen der Mediation eigenverantwortlich zu einer Einigung über ihre Streitigkeit gelangen. Das setzt voraus, dass dieses Verfahren in einem vertraulichen Rahmen geführt werden kann. Zu diesem Zweck ist es richtig, genauso eine Verschwiegenheitspflicht des Mediators zu vereinbaren wie ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht zu geben. Wir sollten vielleicht noch einmal die Frage, die an uns von vielen Seiten herangetragen worden ist, aufwerfen, inwieweit ein Beweisverwertungsverbot realisiert werden kann. Das wird nicht ganz einfach; aber das Anliegen, in einem solchen Verfahren die Vertraulichkeit zu wahren und als Partei eines Mediationsverfahrens nicht in einem streitigen Gerichtsverfahren zu scheitern, müssen wir ernst nehmen. Die Vollstreckbarkeit der Vereinbarungen soll erleichtert werden. Ob das auf die Zustimmung der Gerichte stößt, werden wir nochmals diskutieren können. Gerade im außergerichtlichen Mediationsverfahren ist es nicht ganz einfach, zur Vollstreckbarkeit zu kommen. Aber hier ist ein sinnvoller Ansatz gewählt. Ich begrüße ebenfalls, dass wir die gerichtsinterne Mediation hier regeln. Die Frage, ob man dadurch tatsächlich zu einer Entlastung der Gerichte und zu effizienteren Verfahren kommen kann, wird sich den Bundesländern selbst stellen und auch von diesen zu beantworten sein. Es ist von unserer Seite aus richtig, den Ländern diese Möglichkeit an die Hand zu geben. Ich denke, wir können den Bundesländern selbst überlassen, ob sie der Meinung sind, dass dieses Verfahren für sie eine Effizienzsteigerung und Erleichterung ist oder ob nicht durch den höheren Zeitaufwand oder höhere Kosten auch höhere Belastungen entstehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist aber insbesondere, die Möglichkeiten der außergerichtlichen Mediation zu erweitern. Die gerichtsinterne Mediation findet nun schon seit geraumer Zeit, wenn auch erprobungsweise, mit Erfolg statt. Die Frage, ob hinreichende Anreize bestehen, zu einer außergerichtlichen Mediation zu kommen, müssen wir uns noch einmal vorlegen. Es ist jedenfalls ernst zu nehmen, wenn viele sagen, dass die Kostentragungspflicht der Parteien im außergerichtlichen Mediationsverfahren ein Wettbewerbsnachteil sein kann. Dieser Wettbewerbsnachteil darf jedenfalls nicht so weit gehen, dass er prohibitiv wirkt und die Parteien überhaupt nicht die Möglichkeit der Mediation in Anspruch nehmen. Die Vorschläge, eine Gebührenanrechnung auf streitige Gerichtsverfahren zu erwägen, können wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens überdenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Ausbildung der Mediatoren ist schon angesprochen worden. Nach dem Gesetzentwurf wird die Aus- und Fortbildung in die Verantwortung des Mediators gelegt. Das, Frau Bundesministerin, ist in der Tat mutig. Wir könnten uns durchaus vorstellen, die Entwicklung von Mindeststandards zu erwägen, wie sie von verschiedener Seite an uns herangetragen werden. Ich jedenfalls teile das Anliegen, das hier schon mehrfach vorgetragen worden ist. Wir reden hier nicht über eine esoterische Veranstaltung, sondern über die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten. In diesem Zusammenhang muss die Qualitätssicherung ein wichtiger Punkt sein. Ich weise allerdings auch darauf hin, dass beispielsweise der Deutsche Anwaltverein davon ausgeht, diese Qualitätssicherung werde sich schon einstellen - nach dem Motto: Qualität setzt sich durch. Das mag durchaus so sein; aber dann sollten wir auch die Frage beantworten, wie es mit der Haftung der Mediatoren steht. Wenn wir es weitgehend in die Verantwortung der Mediatoren stellen, mit welcher Ausbildung und mit welcher Erfahrung sie diese Aufgabe übernehmen, dann muss auch sichergestellt sein, dass bei einer mangelnden Beratung der Mediator für das haftet, was er zwischen den Parteien vermittelt; (Otto Fricke [FDP]: Also Haftpflicht!) denn es kann am Ende nicht der rechtsuchende Bürger darunter leiden, dass er mangelhaft beraten wird. Es besteht also ein Zusammenhang: Wenn man die Ausbildung weitgehend freistellt, dann muss man die Frage der Haftung beantworten. Ich bin auch der Auffassung, dass rechtsberatende Berufe immer für Mediation infrage kommen; denn dieses Verfahren zur Streitbeilegung ist ein Bestandteil der Rechtspflege. Deshalb ist es wichtig, dass Parteien, die eine Vereinbarung treffen, nicht nur in Kenntnis der Sachlage, sondern auch in Kenntnis der Rechtslage handeln. Wir haben also viel Potenzial für konsensuale Streitbeilegungen in Deutschland. Dieser Gesetzentwurf ist ein guter Grundstein dafür. Wir sollten die offenen Fragen in einem guten Miteinander im parlamentarischen Verfahren beraten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/5335 und 17/5496 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern - Drucksache 17/5099 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das bedeutet für uns Parlamentarier eine enorme Verantwortung. Ich weiß, dass nicht nur bei uns Grünen vor jedem neuen Einsatz und vor jeder Verlängerung eines Einsatzes schwierige Debatten stattfinden, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. Grundlage für unsere persönliche Gewissensentscheidung sind die Informationen, die uns die Bundesregierung zukommen lässt. Die Qualität dieser Informationen ist allerdings in Anbetracht der Tragweite unserer Entscheidungen in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir eine deutlich verbesserte Unterrichtungs- und Evaluationspraxis seitens der Bundesregierung einfordern. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz legt fest, dass die Bundesregierung den Bundestag regelmäßig unterrichtet. In der Gesetzesbegründung heißt es: Es soll über vorbereitende Maßnahmen, Planungen und den Verlauf von Einsätzen sowie Entwicklungen im Einsatzland berichtet werden. Jährlich und nach Abschluss der Einsätze ist ein Evaluationsbericht vorzulegen. In Ausnahmefällen findet die Unterrichtung über die Obleute statt. - Die tatsächliche Praxis der Unterrichtung wird diesem Anspruch nicht gerecht. Die wöchentliche Aufzählung von lagerelevanten Vorfällen im Verteidigungsausschuss kann eine Analyse der Entwicklungen nicht ersetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan 2010 war der erste seiner Art, obwohl der Einsatz schon neun Jahre andauerte und meine Fraktion einen solchen Bericht seit Jahren immer wieder angefordert hatte. (Zuruf von der FDP: Wir machen es endlich!) Wir wollen aber nicht nur vergangene Einsätze auswerten, sondern auch konkrete Kriterien für zukünftige Einsätze ermitteln. Oft geht es in der parlamentarischen und öffentlichen Debatte um die Frage der völkerrechtlichen Legitimität, aber viel zu selten um die Frage der Wirksamkeit militärischer Mittel. Dabei ist völkerrechtliche Legitimität zweifelsohne eine erforderliche, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für einen Militäreinsatz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ob ein Militäreinsatz erfolgreich ist oder nicht, kann nur dann bestimmt werden, wenn ein konkretes Ziel gesetzt wurde. An der Erreichung dieses Ziels müssen sich dann die eingesetzten Mittel messen lassen. Ich denke, wir sind uns alle darüber im Klaren, dass in Afghanistan viele Fehler gemacht worden sind. Daher ist es auch so wichtig, aus diesen Fehlern zu lernen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) 2001 sind die Bündnispartner aus lauter Solidarität in einen gemeinsamen Einsatz gegangen, ohne zuvor ein gemeinsames Ziel zu definieren und sich darüber einig zu werden, mit welchen Mitteln man das Ziel erreichen will. Jeder hat das gemacht, was er gerade konnte oder für sinnvoll hielt, bis klar war, dass keine Strategie die schlechteste Strategie war. Trotz dieser Erfahrung haben sich die Bündnispartner auch hinsichtlich der Flugverbotszone über Libyen wieder einmal nicht auf gemeinsame Ziele einigen können. Wir fordern also mit unserem Antrag klare Prüfkriterien für Auslandseinsätze und aussagekräftige Fortschrittsberichte inklusive der Auswertung ziviler Maßnahmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu ist es aber auch erforderlich, Geheimhaltung auf das zu beschränken, was wirklich geheimhaltungsbedürftig ist. Es ist nachvollziehbar, dass in sicherheitsrelevanten Bereichen eine vertrauliche Einstufung notwendig sein kann. Dafür gibt es aber im Wesentlichen nur zwei relevante Gründe: der Schutz involvierter Personen und der laufender Operationen. In der Praxis sieht es leider so aus, dass jeder, der einen Bericht schreibt, selbst über die Einstufung dieses Berichts entscheidet und anschließend niemand mehr prüft, ob das eigentlich wirklich erforderlich war. Am Ende werden dann nur noch die Obleute geheim unterrichtet, die dann nicht einmal mehr ihre Ausschusskollegen informieren dürfen. Das ist nicht im Sinne einer transparenten parlamentarischen Kontrolle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Überall, wo es irgendwie möglich ist, sollte das Parlament als Ganzes über den Verlauf der Einsätze schriftlich und öffentlich informiert werden; denn wer Verantwortung übernehmen soll, ist auf eine qualifizierte Unterrichtung angewiesen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Kiesewetter hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Keul, Sie fordern in Ihrem Antrag eine andere, eine umfassendere Berichterstattung gegenüber dem Parlament. Ich möchte Ihnen einmal kurz darstellen, wie sich die Berichterstattung in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Im Jahr 2000 hat Ihre Fraktion verlangt, dass der Kosovo-Einsatz nicht mehr jährlich mandatiert wird, um jährliche namentliche Abstimmungen im Rahmen eines Beschlusses zu vermeiden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die erreicht hat, dass gerade beim Kosovo-Einsatz eine jährliche Mandatierung erfolgt. Wir haben uns damals für die Rechte des Parlaments eingesetzt. Ich möchte noch einen anderen Punkt erwähnen. Es kommt darauf an, wie die Mandate formuliert sind. Es war im Jahr 2003, als Außenminister Fischer sich rechtfertigen musste, weil die Mandatsformulierung damals so zweideutig war, dass Drogenbekämpfung eine Aufgabe der Bundeswehr hätte sein können. Das haben wir mit einer aufwendigen Protokollerklärung verhindert. - Diese Zeiten sind vorbei. Ich freue mich, dass Sie den Evaluierungsbericht Afghanistan angesprochen haben. Wir machen Fortschritte. Das ist auch ein Verdienst dieses Parlaments. Ich möchte kurz auf Ihre Kritik an den Berichtspflichten eingehen. Die Berichtspflichten haben natürlich auch - Sie haben es angesprochen - Geheimhaltungsschutzgründe. Es geht ebenfalls darum, dass das jetzige Obleuteverfahren eingehalten wird. Wenn es gewünscht wird, kann ich nachher gerne einzelne Obleuteinformationen, insbesondere was Spezialkräfte angeht, darlegen. Offensichtlich ist es nur Ihr Wunsch, entsprechende Informationen über den Einsatz der Spezialkräfte zu erhalten. Dazu aber haben Sie Ihre Obleute. Ich möchte auf das eigentliche Thema, den Kriterienkatalog, eingehen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns darüber unterhalten, was die Prüfsteine für einen Auslandseinsatz sind. Grundsätzlich gilt für uns, die CDU/ CSU-Fraktion, dass jeder Einsatz seine politische und militärische Besonderheit hat. Ich möchte fast sagen: Jeder Einsatz hat seine eigene Geografie. Die sachlichen und politischen Ausgangslagen sind unterschiedlich. Ein Schema eines Kriterienkatalogs entspricht nicht dem Grundsatz, dass jeder einzelne Einsatz eine besondere sicherheitspolitische Herausforderung ist und es damit auch spezieller sicherheitspolitischer Lösungsansätze bedarf. Ich sage auch ganz offen: Der außenpolitische Handlungsspielraum muss erhalten bleiben. Deswegen müssen wir jeden Einzelfall konkret prüfen. Wir brauchen Ermessensspielräume. Ich nehme einfach einmal das Beispiel "Responsibility to Protect". Wäre dies ein maßgebliches Kriterium für die Beteiligung an Auslandseinsätzen, müssten wir tatsächlich überall dort intervenieren, wo Menschenrechte massiv verletzt werden. Dies würde zu einer Überforderung nicht nur unserer Streitkräfte, sondern auch unserer Gesellschaft führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte einen Bogen schlagen. Natürlich kann ein Kriterienkatalog hilfreich sein; er kann Orientierung geben. Dem ist auch unsere Fraktion nachgekommen. Ich verweise darauf, dass Herr Schockenhoff im Jahr 2006 einen Zehnpunktekatalog vorgelegt hat. Ich möchte sieben Bausteine nennen, die für unsere Debatte ganz hilfreich sind. Erster Baustein: völkerrechtlicher Rahmen. Liegt ein Mandat der Vereinten Nationen vor? Ist es ein Einsatz im Rahmen der kollektiven oder der Selbstverteidigung? Ist es ein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungen? Zweiter Baustein: das politische Ziel. Frau Keul, Sie haben vorhin zu Recht gefragt: Was ist die Exit-Strategie? Was ist das Ziel eines Einsatzes? Wie realistisch ist der Einsatz? Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Zeitraum kann der Einsatz erfolgreich beendet werden? Für uns Deutsche ist besonders wichtig: Mit welchen Partnern gehen wir in den Einsatz? Dritter Baustein: deutsche Interessen. Sind durch den Konflikt deutsche Interessen betroffen? Ein deutsches Interesse ist immer, abgesehen von der Evakuierung deutscher Staatsbürger, die Aufrechterhaltung des Prinzips "Keine Alleingänge". Es gibt keine deutschen Sonderwege bei Auslandseinsätzen. Sind die Einsatzregeln so gestaltet, dass unsere Interessen und auch das politische Ziel umsetzbar sind? In dem Zusammenhang nehme ich noch einmal den Gedanken einer nationalen Sicherheitsstrategie auf, den unsere Fraktion im Jahr 2008 sehr deutlich formuliert hat. Vierter Baustein: Was sind die Konsequenzen eines Einsatzes oder Nichteinsatzes? Welche Folgen hat es, wenn wir nicht eingreifen? Wie bedeutsam ist unser deutscher Beitrag zum Gelingen einer Mission? - Das sind Fragen, die wir uns auch aktuell stellen. Fünfter Baustein: die zivile Krisenprävention. Frau Keul, Sie haben den Punkt zu Recht angesprochen. Welche nichtmilitärischen Maßnahmen bzw. Maßnahmen der zivilen Krisenprävention werden zur politischen Lösung des Konflikts ergriffen, und ist die Wahl der Mittel verhältnismäßig? Sechster Baustein: Welche Risiken bestehen für die Einsatzkräfte? Wir haben nicht nur die Verantwortung für die Umsetzung der politischen Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen; wir haben auch eine Verantwortung gegenüber den Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfern, die wir in die Einsätze schicken. Welche Risiken bestehen für sie, und wie können sie begrenzt werden? Siebter Baustein. Damit spreche ich die öffentliche Kommunikation an. Dabei geht es um die Stichworte "Überforderung, politisch wie finanziell" und "Kommunikationsbedarf". Wir müssen auch darüber nachdenken, wie weit unsere Einsätze gehen können. Was können wir uns leisten? Vor allen Dingen - damit schlage ich den Bogen zur Evaluierung -: Welche Lektionen lernen wir aus den Einsätzen? Somit sind diese sieben Bausteine nicht als Checkliste zu verstehen. Mein Kollege Reinhard Brandl wird noch einen anderen Gesichtspunkt einbringen. Wenn Sie von den Streitkräften sprechen, so sprechen wir auch von der Verantwortung des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin in Uniform. Das ist auch eine verantwortungsethische Frage, auf die wir nachher eingehen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Auf jeden Fall muss über jeden Einsatz neu entschieden werden. Sie fordern in dem Zusammenhang einen Gesamtbericht unabhängiger Experten. Ich sage ganz offen: Sicherheitspolitik kann man nicht outsourcen. Wir, das Parlament, haben die Verantwortung. Wir können uns natürlich Expertise ins Haus holen - wir haben auch schon viele Anhörungen durchgeführt -, aber ich warne davor, dass wir als Parlament unsere Verantwortung abgeben. Wir müssen dazu stehen und dürfen nicht sagen: Die Wissenschaftler haben uns das empfohlen. Allerdings - ich komme zum Schluss - ist Ihr Antrag in einem Punkt hilfreich, und das ist der bilanzierende Gesamtbericht. Wir als Union haben im letzten Jahr selbst gefordert - das waren einige Kollegen von mir und auch ich -, dass die Unterrichtung des Parlaments umfassender geschieht, dass vielleicht ein Ministerium federführend beauftragt wird, aber dass wir ganzheitlicher informiert werden, aus entwicklungspolitischer Sicht, aus wirtschaftlicher Sicht und natürlich - das ist bisher auch immer sehr gut geschehen - aus verteidigungspolitischer Sicht. Das halte ich für ganz entscheidend. Diesen Punkt aus Ihrem Antrag können wir mittragen, aber die anderen Punkte aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. Wir sind aber offen für Vorschläge, wie wir die Unterrichtung des Parlaments verbessern können. Das ist die Auffassung und Erwartung der Union. Aber es gilt: Sicherheitspolitik kann man nicht outsourcen und auch nicht katalogisieren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Groschek für die SPD-Fraktion. Michael Groschek (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kiesewetter hat mit dem letzten Punkt einen Hinweis darauf gegeben, wo die Schwachstelle beim Antrag der Grünen ist. Bei der Überschrift fängt es an. Die Prüfkriterien für einen Einsatz erinnern doch zu stark an eine Katalogisierung, bei der es dann nach dem Motto geht: Wenn acht von zehn Punkten gegeben sind, dann ja; wenn es sieben und weniger sind, dann nein. (Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) Darüber besteht bei uns noch Diskussionsbedarf. Ansonsten finden wir den Antrag wichtig und richtig, was die Verdichtung und die wachsende Transparenz von Informationen angeht. Ich komme auf einen Punkt zu sprechen, bei dem wir uns, zumindest wir aus dem Verteidigungsausschuss, an die eigene Nase fassen müssen. Ich sehe den Herrn Staatssekretär Kossendey und habe seine wiederholten Mahnungen im Ohr, dass sich der Ausschuss doch bitte einmal intensiv und zeitlich angemessen mit dem Stichwort "Atalanta" befasst. Der Bitte ist der Ausschuss bislang nur rhetorisch nickend, aber nicht de facto gefolgt. Zur Wahrheit gehört, glaube ich, nicht nur die Informationspflicht der Bundesregierung, die in ihren Defiziten hier richtig beschrieben ist, sondern auch das politische Management von Ausschussdiskussionen, um unserer Verantwortung auf der anderen Seite gerecht zu werden. Wenn wir die Diskussionskultur so beleben, kommen wir ein ganzes Stück weiter. Jetzt konkret zum Antrag. Jeder Einsatz ist ein Unikat. Das muss man bei den Einsätzen berücksichtigen. Man kann eine Zustimmung nicht nach Schema F geben. Ich komme zum Schluss noch auf eine andere Perspektive zu sprechen, mit der man das Problem lösen kann. Die Problembeschreibung wurde auch schon im Antrag gegeben. Ich finde, Herr Kiesewetter, Sie haben zu Unrecht auf Rot-Grün gezeigt, nach dem Motto: Da war die CDU schon weiter, angefangen beim Kosovo. - Ich denke, es war schon eine gemeinsame Leistung, sich nach der Vereinigung in einem sehr schwierigen Prozess des Learning by Doing in der neuen Rolle gesteigerter Verantwortung zurechtzufinden und diese zu praktizieren. Dann wurde ein Gesetz über die parlamentarische Beteiligung auf den Weg gebracht. Damit haben wir seit 2005 eine klare gesetzliche Grundlage, wie ein Beschluss mit Parlamentsbeteiligung zu fassen ist. Auf dieses Gesetz und auf unsere Erfahrungen können wir uns stützen. (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Richtig!) Bisher haben wir die Verpflichtung zur umfassenden Information. Wir haben die Verpflichtung, über Einsätze schon im Stadium der Vorplanung zu diskutieren. Aktuell besteht das Problem: Welche Libyen-Einsätze werden von wem mit welcher Legitimation wo vorbereitet? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist ein Hinweis darauf, dass aktuell Defizite festzustellen sind. Wir haben Informationspflichten in Bezug auf den jeweiligen Verlauf, und wir haben Informationspflichten im Rahmen einer Jahresbilanz. Ich glaube, diese bilanzierenden Berichte sind ein Pferdefuß; sie werden noch nicht hinreichend praktiziert, und es besteht großer Nachholbedarf. Die formale Obleuteunterrichtung ist in Ordnung, aber sie kann nicht reichen. Die Parlamentsarmee ist ein Verfassungsgebot, und sie ist unteilbar. Es gibt keine Armee in der Armee und schon gar keine Armee neben der Armee. Deshalb ist auch die KSK integraler Bestandteil dieser Parlamentsarmee und entsprechend in ihrem Tun und Handeln rechenschaftspflichtig. Wir sind rechenschaftspflichtig, was die Wahrnehmung unserer Verantwortung gerade bei diesen Einsätzen angeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das heißt aber auch, dass wir mit dieser Verantwortung sorgfältig umgehen müssen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Groschek, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele? Michael Groschek (SPD): Bitte. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Kollege. - Da Sie gerade bei dieser Frage sind: Ich hatte nachgeschaut, seit wann der Kollege Kiesewetter Mitglied dieses Hauses ist und ob er das wissen kann; aber er kann es offenbar nicht wissen: Die Verantwortung bezieht sich auf das ganze Parlament, nicht auf einen Ausschuss und schon gar nicht auf die Obleute eines Ausschusses. Deshalb muss auch das ganze Parlament über alle Einsätze informiert werden. (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Ist das eine Zwischenfrage an mich, oder? - Heiterkeit bei der CDU/CSU) Michael Groschek (SPD): Billard! Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Frage kommt jetzt. - Ist Ihnen bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung ausdrücklich festgestellt hat, dass "Parlamentsarmee" heißt: eine dem gesamten Parlament verantwortliche Armee - das bedeutet, dass das gesamte Parlament informiert werden muss -, und dass es nicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entspricht, wenn die jetzige Bundesregierung irrtümlicherweise meint, dass sie, wenn sie einzelne Leute wie zum Beispiel Obleute informiert hat, ihrer Informationspflicht ausreichend nachgekommen ist? Michael Groschek (SPD): Kollege Ströbele, da kann ich Ihnen nur antworten: Ja. Im Übrigen teile ich Ihre Einschätzung, dass die Obleuteunterrichtung im Sinne dieser Rechtsprechung nicht ausreichend ist. Ich komme zum Antrag zurück. Ich war bei dem Stichwort "wechselseitige Verantwortung". Die Soldatinnen und Soldaten des KSK tragen ganz besondere Risiken. Sie sind bei ihren Einsätzen unmittelbar mit tödlicher Bedrohung konfrontiert. Deshalb haben wir die große Verantwortung, bei dem Bedürfnis, den gläsernen Soldaten zu schaffen, Grenzen zu ziehen und zu akzeptieren. Die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten kann nicht in Kompromissen zwischen Opposition und Regierung verhandelt werden. Da muss man Fingerspitzengefühl haben. Deshalb sagen wir Ja; aber nach Einsätzen müssen die Grundzüge im Parlament evaluierbar und kritisierbar sein, um im Zweifel Konsequenzen für künftige Einsätze ziehen und im Rahmen parlamentarischer Verantwortung korrigierend eingreifen zu können. Ich habe Soldatinnen und Soldaten so kennengelernt, dass sie gesagt haben: Die Parlamentsverantwortung ist ein hohes Gut. Seitdem es gefährliche Auslandseinsätze gibt, wissen wir, wie wichtig die Verantwortung des Parlamentes für uns im Einsatz ist. - Wir haben daher eine Verpflichtung, dieser Verantwortung auch durch das Einfordern neuer Informationsqualitäten bestmöglich nachzukommen. Ich komme zum Punkt zwei, der uns wie das Einfordern eines Kriterienkatalogs vorkommt. Wir sagen: Das macht keinen Sinn. Wenn man den Punkt zwei mit dem Punkt drei zusammennimmt, dann wird das eigentliche Problem deutlich, das Sie mit diesen Instrumenten hilfsweise lösen wollen. Unser gemeinsames Problem ist das Fehlen einer aktualisierbaren sicherheitspolitischen Agenda. Es gibt viel Stückwerk und Schubladen nebeneinander. Wir leiden manchmal eher an zu viel parallel laufender schriftlicher als an systematischer und zielgerichteter Unterrichtung. Deshalb muss es unser gemeinsames Interesse sein, eine sicherheitspolitische Agenda, nationale Interessen beachtend, zu schaffen und in eine europäische sowie in eine Bündnisperspektive - Stichwort "NATO" - einzubetten. Es gibt viele aktuelle Hinweise, die genau dieses Defizit belegen: angefangen von der Bundeswehrreform, die ohne eine konzeptionelle Einbettung gestartet wurde, bis hin zu der Diskussion über Libyen. Die Enthaltung im Sicherheitsrat ist strategisch überhaupt nicht einzuordnen, sondern sie erscheint wie ein Zufallsprodukt. (Beifall bei der SPD) Das zeigt, dass wir ganz dringend eine Agenda der vernetzten Sicherheitspolitik brauchen, die dann Grundlage für eine gemeinsame Formulierung sicherheitspolitischer Schritte sein kann. Das ist der entscheidende Punkt. Kollege Kiesewetter, Ihre Schlussbemerkung zielt in diese Richtung. Ich würde mich freuen, wenn wir in den Ausschussdiskussionen über eine sicherheitspolitische Agenda einen Verständigungsprozess organisieren könnten, wie er auch in manch anderen Bereichen möglich geworden ist. Ich will mir einen Hinweis noch erlauben. Bei den Bausteinen und Kriterien für eine denkbare Einsatzorientierung haben Sie ein wesentliches Merkmal vergessen, das aber unter anderem bei der Stimmenthaltung im Sicherheitsrat eine Rolle zu spielen schien. Das war der Hinweis darauf, dass wir nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in den Einsatz schicken, haben, sondern dass wir auch eine gemeinsame Verantwortung für die potenziellen Opfer einer solchen Auseinandersetzung tragen, gleich welcher Herkunft und unabhängig davon, ob sie in Uniform oder in Zivil im Rahmen eines solchen Einsatzes sterben. Man muss sich daher fragen, wie adäquat der Mitteleinsatz ist, wenn es gilt, Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz zu schicken. Frau Keul, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wir hoffen, dass wir diesen Punkt in einem Diskussionsprozess auflösen können. Wir teilen Ihr Bedürfnis nach dichterer und transparenterer Information und appellieren an uns Parlamentarier, die Informationspflichten wahrzunehmen. Wir hoffen, dass wir beim Formulieren einer sicherheitspolitischen Agenda einen Schritt nach vorne kommen; denn sie fehlt an allen Ecken und Kanten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmigung neuer Auslandsmandate - das ist vorhin schon von allen Rednern gesagt worden - oder eine Einsatzverlängerung liegt nicht in der Hand der Regierung. Nein, die Entscheidung, deutsche Soldaten in Auslandseinsätze zu schicken, muss vom Parlament getroffen werden. Die Parlamentsarmee ist deshalb ein starkes Symbol für die demokratische Willensbildung und zeigt den großen Einfluss des deutschen Parlaments. Dieses Privileg ist natürlich nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Verpflichtungen verbunden. Dabei sind wir uns selbstverständlich der großen Verantwortung bewusst, die mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz einhergeht. Die Grundvoraussetzung für eine gewissenhafte Entscheidung ist die sehr gute Versorgung mit Informationen, Informationen zu Situationen im Einsatzgebiet, Informationen zum Zweck des Einsatzes oder zur Einsatzgestaltung. Jede einzelne Einsatzentscheidung muss im Vorfeld genauestens analysiert werden. Aus diesem Grunde versorgt uns die Bundesregierung auf vielfältige Weise mit den wichtigsten Informationen dazu. Die Bundesregierung fokussiert in der wöchentlichen Ausgabe der "Unterrichtung des Parlaments" eine zeitnahe Unterrichtung zu den laufenden Bundeswehreinsätzen. Damit wird allen interessierten Parlamentariern die Möglichkeit zur Beobachtung der verschiedenen Einsätze gegeben. Ich halte den Aspekt der Aktualität für besonders wichtig. Deshalb begrüße ich die derzeitige Gestaltung der Unterrichtung sehr. Ein Gesamtbericht, wie er vom Antragsteller gefordert wurde, kann nicht im Sinne einer zeitnahen Erfassung der Lage sein; das haben wir bereits bei anderen Diskussionen festgestellt. Der geforderte zeitnahe Evaluierungsbericht kann auch nicht im Sinne einer rationalen Beurteilung des Einsatzes betrachtet werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ein Evaluierungsbericht würde höchstens dann Sinn machen, wenn er mittel- bis langfristig ausgerichtet wird. Der Erfolg der meisten Einsätze der Bundeswehr lässt sich nämlich erst im Laufe der Zeit erkennen; das ist die Realität. Schon allein die Forderungen nach einem Kriterienkatalog sowie nach konkreten und überprüfbaren Zielvorgaben in diesem Antrag führen aufs Glatteis. Wie die Fachpolitiker unter uns wissen, finden sich in der Geschichte keine zwei exakt gleichen Auslandseinsätze wieder. Jeder Einsatz ist speziell und ist mit speziellen Herausforderungen verbunden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aus diesem Grund kann ein einzelner Kriterienkatalog niemals die Komplexität der Situation angemessen widerspiegeln. Jeder Einsatz muss individuell betrachtet werden und darf nicht durch ein uniformes Raster gestrichen werden. Konkrete und überprüfbare Zielvorgaben sind natürlich insbesondere im Militärbereich leicht aufzustellen. Die Frage, die sich stellt, ist jedoch: Wie sinnvoll ist ein solches Vorgehen? Ich bin davon überzeugt, dass das nicht sonderlich sinnvoll ist, denn alle quantifizierbaren Erfolge lassen in keinem Fall Rückschlüsse auf zivilgesellschaftliche Erfolge von Auslandseinsätzen zu. Der Einfluss des Einsatzes auf die Regierungsführung, die politische Stabilität eines Landes oder das Vertrauen der Bevölkerung in eine Verbesserung der Lage können mittels der in diesem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen nicht beurteilt werden. Deutlich beurteilt werden kann aber die Forderung im Antrag nach einem unabhängigen Expertengremium. Es handelt sich hierbei um die Berichtsfunktion dieses Gremiums. Die Aufstellung eines Mandats sowie die Beurteilung und Unterrichtung über Auslandseinsätze deutscher Soldaten sind ureigene Aufgaben der Bundesregierung. An dieser Stelle haben Dritte keine Legitimation zu erwarten. Hier darf und wird keine Ausgliederung der Verantwortung stattfinden; mein Kollege hat das vorhin gesagt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sicherheitspolitik kann nicht ausgegliedert werden. Ich kann zusammenfassend sagen: Einige der Forderungen der Antragsteller erfüllt die Bundesregierung bereits in hohem Maße. Die anderen Forderungen, die in Ihrem Antrag enthalten sind, können bei aller wohlgemeinten Intention nicht rational umgesetzt werden. Bei allem Verständnis: Die geplante Umsetzung ist so nicht möglich. Der Antrag ist daher abzulehnen. Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Bemerkung machen. Sie haben das Thema Afghanistan und den Fortschrittsbericht angesprochen. Sie haben all die Jahre natürlich darüber geredet, aber wir haben letztendlich gehandelt. Wir haben geliefert, nicht Sie. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Gehrcke für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die ganze Zeit geknobelt: Wie argumentiere ich bei diesem Antrag? Ich habe bislang keinem Auslandseinsatz zugestimmt und habe auch nicht vor, das zu machen. Ich bin stolz darauf, dass dies nicht nur eine individuelle Haltung ist, sondern auch die Haltung meiner Fraktion: Wir haben keinem Auslandseinsatz zugestimmt und werden es auch nicht tun. (Beifall bei der LINKEN - Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Dann brauchen Sie auch keine Kriterien!) - Eben. Das war ja mein Problem. Im Antrag werden jetzt Prüfkriterien präsentiert. Ich bin trotz meiner grundsätzlichen Position, die ich gerade deutlich gemacht habe, dafür, dass man ernsthaft darüber redet. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Mich persönlich bewegen hier zwei Motive: Erstens. Ich will mit solchen Prüfkriterien die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr schwerer, wenn nicht sogar unmöglich machen. Das kann man erreichen, wenn man es schlau anfängt. Zweitens. Ich möchte eine Kräfteverschiebung mit befördern, weg vom Regierungshandeln, hin zu den Parlamentsrechten. Das ist hier immer umstritten gewesen. Das sind die Motive, die mich bewegen, überhaupt ernsthaft bei dieser Frage mitzudiskutieren. Man kann sich verschiedene Sachen anschauen, die im Antrag enthalten sind. Der erste Punkt, bei dem ich glaube, dass der Antrag völlig berechtigt ist, ist folgender: Ich halte die Unterrichtung des Parlaments über die Auslandseinsätze inhaltlich wie formal für völlig ungenügend und nicht zu akzeptieren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auch die Sonderbehandlung, das Obleutesystem - die Fraktionsvorsitzenden haben dem ja zugestimmt -, halte ich für völlig inakzeptabel. Man erfährt nämlich überhaupt nichts. Wir werden morgen um 7.30 Uhr wieder im U-Boot im Verteidigungsministerium sitzen. Dann glaubt man, man hat etwas erfahren, geht raus, geht ins Cafe, weil man nicht mitschreiben kann, guckt sich an, was man erfahren hat, und stellt fest: Es stand alles schon in der Zeitung. Die Regierung informiert nicht vernünftig. Sie informiert nicht präzise. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte auch nicht, dass zwei Kategorien von Abgeordneten entstehen, Abgeordnete, die etwas erfahren, und Abgeordnete, denen etwas verschwiegen wird. Diejenigen, die etwas erfahren, werden sogar unter Druck gesetzt und dürfen noch nicht einmal ihren Kollegen in den Ausschüssen mitteilen, was sie erfahren haben. Es ist absurd, wenn man gefragt wird: "Wie ist es mit der KSK?", und man noch nicht einmal sagen darf, ob die da oder nicht da sind, weil selbst das geheim ist. Das muss unbedingt geändert werden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, dass man erst jetzt über eine Bilanzierung von Auslandseinsätzen redet. Dieses Parlament hat Auslandseinsatz auf Auslandseinsatz beschlossen. Aber keiner hat am Ende wirklich kritisch nachgefragt: Welches sind die Ergebnisse der Einsätze? Was ist moralisch, politisch, menschlich zerstört worden? Was ist mit den Einsätzen erreicht worden? Auch das halte ich für völlig inakzeptabel. Ich möchte auch gern, dass am Parlamentsbeteiligungsgesetz Veränderungen vorgenommen werden. Darüber müsste man ernsthaft reden. Das Parlament muss ein größeres Recht erhalten, Auslandseinsätze zu beenden - auch mitten im Einsatz - und die Armee zurückzuholen. (Beifall bei der LINKEN - Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Recht hat es ja!) Es muss das Recht haben, solche Auslandseinsätze zu verbieten. Wir diskutieren doch nicht im luftleeren Raum. Schauen wir uns einmal das Trauerspiel um den Libyen-Einsatz an. Das ist doch eine Katastrophe, was dort abläuft. Bei der Beschlussfassung müssen die Fraktionen das Recht haben, zu Anträgen der Bundesregierung Alternativanträge zu stellen. Wir haben ja nur das Recht, Ja oder Nein zu sagen. Außer einer Entschließung gibt es keine materiellen Rechte. Ich glaube, dass man über solche Fragen reden muss. Zum Schluss, liebe Kollegen der Grünen: Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich mich an meinen Lieblingsroman erinnert: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Schwejk war entschieden dafür, dass der Krieg Regeln erhält. Ich bin entschieden dafür, dass der Frieden Regeln erhält. Sie hatten einmal gute Positionen. Wenn Sie ordentlich arbeiten und wieder darauf zurückkommen, wäre das ein echter Fortschritt in diesem Hause. Danke sehr. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Brandl für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidungen über Auslandseinsätze, die wir hier in diesem Saal zu treffen haben, sind mit die schwerwiegendsten Entscheidungen, die von diesen Abgeordneten zu treffen sind. Schwerwiegend sind sie besonders deshalb, weil es neben den politischen Fragen auch ethische Aspekte des Handelns und des Nichthandelns abzuwägen gilt, und zwar in jedem einzelnen Fall. Die Kollegen haben es vorhin angesprochen: Jeder Fall ist anders. Wenn wir eines aus der Geschichte lernen können, dann ist es doch, dass wir heute nicht vorhersehen können, vor welchen Fragen wir in einem Jahr, geschweige denn in fünf oder in zehn Jahren stehen. Die Situation in Libyen ist heute doch ganz anders gelagert, als sie damals in Afghanistan war oder wie sie auf dem Balkan war. Die Situation war vor einem Jahr auch nicht vorhersehbar. Klar ist, dass unsere Entscheidungen weder nach außen noch nach innen willkürlich wirken dürfen. Wir brauchen für unsere Außenpolitik und die Entscheidungen über Auslandseinsätze eine klare politische, wertorientierte Linie. Die Frage ist, inwieweit wir diese Linie anhand einer Checkliste in die Zukunft vorzeichnen können. Meine Einschätzung dazu ist: Angesichts der Komplexität und der Unterschiedlichkeit der einzelnen Einsätze und der einzelnen Anfragen, die uns gestellt wurden, muss man sagen: Wir können es nicht. Natürlich gibt es politische Leitplanken, an denen wir uns orientieren können, wie zum Beispiel das Vorhandensein eines völkerrechtlichen Mandats. Der Kollege Kiesewetter hat vorhin in seiner Rede sechs weitere solcher Leitplanken genannt. Vermutlich, Frau Kollegin Keul, haben Sie in Ihren Fraktionen - - (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur eine!) - Ich habe gleichzeitig auch die SPD gemeint. Es tut mir leid. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch fast das Gleiche!) Vermutlich haben Sie, Frau Kollegin Keul und Herr Kollege Groschek, in Ihren Fraktionen ähnliche oder andere Punkte, an denen Sie sich orientieren. Das ist auch richtig. Ich stimme Ihnen und dem Kollegen Kiesewetter zu, dass wir in der Frage der Unterrichtung des Parlaments eine ganzheitliche, ressortübergreifende Information brauchen. Wir können heute aber nicht festschreiben, welche Kriterien mit welcher Gewichtung in einem nicht bekannten Fall in der Zukunft maßgeblich sein sollen. Wenn ich dann irgendwann einmal zu einem Einsatz Nein sage, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na gut, machen Sie doch!) dann will ich mir auch nicht vorhalten lassen: Aber du musst doch, alle Kriterien, denen du damals zugestimmt hast, sind erfüllt. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist damit nicht gemeint!) Jenseits aller politischen Kriterien ist eine solche Entscheidung immer auch eine Gewissensentscheidung. Die Freiheit dazu möchte ich mir nicht nehmen lassen. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die will ich Ihnen auch nicht nehmen!) Welche Leitlinien für das Gewissen gelten, muss jeder Abgeordnete mit sich selbst vereinbaren. Auch das ist nicht einfach. Der Herr Kollege Kiesewetter hat heute eine Reihe von politischen Kriterien hergeleitet. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leitplanken! - Roderich Kiesewetter [CDU/ CSU]: Bausteine!) - Ob Sie es Kriterien oder Leitplanken nennen, Frau Kollegin Keul, ist eigentlich egal. - Es geht uns darum, dass es keine Checklisten gibt, an denen man abhaken kann: 80 Prozent sind erfüllt, was machen wir dann? Stimmen wir zu, oder stimmen wir nicht zu? (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht auch nicht "Checklisten für Bundeswehr-Auslandseinsätze"!) - Ja, da steht "Prüfkriterien". Aber wenn Sie den Antrag lesen, sehen Sie, dass genau das darin steht. Es gibt neben den politischen Leitplanken, die Herr Kollege Kieswetter angesprochen hat, auch noch ethische Leitplanken. Für mich persönlich war es sehr hilfreich, dass sich auch die Kirchen mit diesem Thema intensiv beschäftigt haben. Bevor ich ins Parlament kam, war mir das gar nicht so sehr bewusst. Ich habe danach das Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz "Gerechter Friede" gelesen. Darin wird die Gewaltanwendung als letztes Mittel der Politik als nur dann zulässig beschrieben, wenn sie zeitlich begrenzt ist, mit klarer Zielsetzung auf das internationale Gemeinwohl ausgerichtet ist (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na bitte!) und in der Verantwortung einer internationalen Autorität, das heißt der Vereinten Nationen, erfolgt. Alle anderen Mittel müssen entweder unanwendbar oder unwirksam sein. Der Waffeneinsatz darf nicht mehr Übel hervorbringen als das zu beseitigende Übel selbst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Aber, Frau Kollegin Keul, auch das sind nur Leitplanken, die uns die konkrete Entscheidung im Einzelfall nicht abnehmen. Über den jeweiligen Einzelfall müssen wir selbst nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5099 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts - Drucksache 17/3617 - Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) - Drucksache 17/5512 - Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Sonja Steffen Stephan Thomae Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sonja Steffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen - Drucksachen 17/2411, 17/5512 - Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Sonja Steffen Stephan Thomae Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stephan Thomae (FDP): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Am 10. Oktober 2006 machten Polizeibeamte in Bremen einen grausigen Fund: Sie entdeckten im Kühlschrank der Wohnung eines drogenabhängigen Vaters die Leiche eines kleinen Kindes. Der kleine Kevin, geboren im Januar 2004, hat in seinem kurzen Leben Bekanntschaft gemacht mit Kliniken, mit Heimen, mit Sozialarbeitern, aber die notwendige Fürsorge hat er nicht erfahren. Als Kevin acht Monate alt war, äußerte die Polizei gegenüber dem Jugendamt den Verdacht auf einen gravierenden Fall der Kindesmisshandlung. Als Kevin neun Monate alt war, wurde er mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Als Kevin elf Monate alt war, kam er in die Obhut eines Kinderheimes. Als er 18 Monate alt war, starb seine drogensüchtige Mutter. Das Jugendamt erhielt die Vormundschaft über ihn, und er wurde zurück in die Obhut seines Vaters gegeben. Im Oktober 2006 wurde seine Leiche im Kühlschrank des Vaters gefunden. Wir haben in der Politik die Aufgabe, die Konsequenzen hieraus zu ziehen, indem wir zunächst die Ursachen eines solchen Falles analysieren und ihn einer genauen Betrachtung unterziehen. Der Vater nahm Termine, die das Jugendamt anberaumt hatte, nicht mehr wahr. Der Amtsvormund, der für Kevin verantwortlich war, hatte 200 Vormundschaftsfälle zu betreuen. Er hatte kaum persönlichen Kontakt zu seinem Mündel, was bei dieser großen Fallanzahl, die er zu bewältigen hatte, fast nicht verwundern kann. Kevin füllte eine dicke Akte beim Jugendamt; aber diese dicke Akte konnte sein kurzes Leben nicht retten. Die Regierung und wir als Gesetzgeber wollen heute mit der zweiten und dritten Beratung eines Gesetzes zur Verbesserung der Vormundschaftsregelungen die Konsequenzen daraus ziehen. Es gibt zwei wichtige Punkte, derer wir uns heute in dem Ihnen vorliegenden Entwurf der Bundesregierung annehmen wollen. Punkt eins betrifft die Regelung, dass ein Vormund ein Mündel in der Regel einmal monatlich in seiner gewöhnlichen Umgebung, also zu Hause, besuchen muss. Im Einzelfall kann das auch mehr oder weniger häufig sein. Es kann auch in Betracht kommen, dass dieser Kontakt an anderen Orten stattfindet. Dieser Punkt, dass der Kontakt nicht unbedingt zu Hause stattfinden muss, ist in Ihrem Antrag ebenso enthalten wie im Gesetzentwurf der Regierung; Frau Kollegin Steffen wird sich nachher noch dazu äußern. Im Einzelfall kann von dieser Regel abgewichen werden. Wir haben Vertrauen zu den Mitarbeitern der Jugendämter, dass sie bestimmen können, wo ein problemloser oder ein problembehafteter Fall vorliegt. Wir wollen hier die Jugendämter nicht in ein zu enges Korsett zwängen. Punkt zwei. Wir wollen die Fallzahl pro Amtsvormund auf 50 begrenzen. Der Antrag der SPD-Fraktion sieht eine Begrenzung auf 40 Fälle vor. Man kann natürlich immer eine Unterbietung vornehmen. Egal wo man diese Grenze ansetzt, kann man immer versuchen, diese Zahl zu unterbieten. Der Hintergrund ist aber der, dass wir in vielen Bundesländern gute Erfahrungen mit einer Begrenzung auf 50 Fälle gemacht haben. Wir haben Vertrauen in die Mitarbeiter der Jugendämter, dass sie mit dieser Größenordnung verantwortungsvoll umgehen können. Bei 200 Fällen allerdings - das ist uns allen klar - ist ein verantwortungsvoller Kontakt auch für den fürsorglichsten und gewissenhaftesten Mitarbeiter nicht mehr möglich. Da ist auch der fürsorglichste Jugendamtsmitarbeiter überlastet. Das Problem liegt also nicht in dem Unterschied zwischen 40 und 50 Fällen, sondern in dem zwischen 50 und 200 Fällen. Dieses Problem lösen wir mit unserem Gesetzentwurf. Eine geringfügige Überschneidung ist, glaube ich, nicht das Problem. Das ist der Kernpunkt, in dem wir uns - darüber freue ich mich sehr - in diesem Hohen Hause weitgehend einig sind. Das sind die beiden Kernpunkte des heute zu verabschiedenden Gesetzentwurfs. Ich erlaube mir, abschließend einen Ausblick zu geben; denn wir wollen nicht bei dem stehen bleiben, was wir heute zur Vermeidung von Fällen wie dem von Kevin beschließen wollen. Im Zusammenhang mit den Vormündern wollen wir auch eine Leitbilddiskussion führen. Diesbezüglich wollen wir weitere Korrekturen vornehmen, zum Beispiel bei der Frage, ob ein Vormund auch das Sorgerecht für seine Mündel erhalten soll. Das würde eine Änderung des § 1800 BGB bedeuten. Wir wollen auch darüber diskutieren, ob ein Vormund in gerichtlichen Verfahren als Beteiligter zwingend angehört werden muss. All das wollen wir weiter besprechen. Wir wollen uns den Anregungen, die vonseiten der Opposition kommen werden, nicht verschließen. Im Rahmen des Gesetzesvorhabens, das heute auf der Agenda steht, haben wir alle Anregungen aufgenommen. An dieser Stelle möchte ich deshalb allen Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen meinen Dank für die konstruktive Mitwirkung bei diesem, wie ich meine, auch menschlich sehr wichtigen Gesetzesvorhaben aussprechen. Im Anschluss an den Dank möchte ich die Bitte aussprechen, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf in diesem Parlament eine breite Zustimmung erfährt. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Sonja Steffen von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt sind wir uns fraktionsübergreifend einig: Der Schutz unserer Kinder hat oberste Priorität, und der Gesetzgeber muss alles daransetzen, dass Fälle wie der des kleinen Kevin, dessen trauriges Schicksal Herr Thomae uns vorhin geschildert hat, zukünftig verhindert werden, (Beifall bei der SPD) jedenfalls soweit dies mit staatlicher Hilfe möglich ist. Wir begrüßen daher jede gesetzliche Änderung, die dazu dient, die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber Kindern zu verbessern. Vormünder spielen in diesem Bereich eine ganz zentrale Rolle. Im Fall von Kevin - auch das hat der Kollege Thomae vorhin schon gesagt - kamen auf zweieinhalb Planstellen bei der Sozialbehörde rund 650 Mündel. Das bedeutet für jeden Vormund 260 zu betreuende Kinder. Eine verantwortungsvolle Wahrnehmung der mit einer Vormundschaft verbundenen Aufgaben ist unter solchen Umständen unmöglich. (Beifall bei der SPD) Zu Recht stehen daher bei dem vorliegenden Gesetzentwurf der persönliche Kontakt mit dem Mündel und die Begrenzung der Vormundschaftsfälle im Vordergrund. Allerdings sind wir uns nicht mehr einig - darauf haben Sie schon hingewiesen -, wenn es um die konkrete Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen geht, insbesondere wenn es um die Fallobergrenze geht. In dem vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, dass ein vollzeitbeschäftigter Beamter oder Angestellter höchstens 50 Vormundschaften führen soll. "Soll" in einer gesetzlichen Regelung heißt zwar in der Regel "muss"; Überschreitungen sind in Ausnahmefällen jedoch möglich. Aus unserer Sicht wäre hier eine Mussvorschrift erforderlich gewesen, um eine tatsächliche Schallgrenze zu setzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir bleiben daher bei der Forderung unseres heute ebenfalls zur Abstimmung vorliegenden Antrags, die Obergrenze auf 40 Vormundschaften in Form einer Mussvorschrift festzulegen. (Beifall bei der SPD) Die Aussagen der Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung - viele von uns waren dabei - haben uns in dieser Position bestärkt; denn es bestanden aufseiten der Experten große Zweifel im Hinblick auf die praktische Einhaltung der Fallobergrenze und der Durchführung des gleichzeitig vorgeschriebenen monatlichen Kontaktes. Ich will Ihnen das einmal anhand eines Zahlenbeispiels erklären: Ein vollzeitarbeitender Vormund mit 50 Mündeln müsste nach Ihren Vorgaben zum monatlichen persönlichen Kontakt pro Jahr 600 Besuche organisieren. Bei 220 Arbeitstagen bedeutet das, dass pro Tag zwei bis drei Mündel besucht werden müssen. Wenn man bedenkt, dass jeder Besuch der Planung bedarf, dass sich viele Mündel weit weg von der Behörde aufhalten, dass sie in Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht sind, dann wird klar, dass das im Grunde genommen kaum möglich ist. Es kann sich nur um sehr kurze Kontrollbesuche handeln, die den unterschiedlichen Situationen, in denen sich die Mündel befinden, und der Personensorge nicht gerecht werden können. Vor diesem praktischen Hintergrund wurde der monatliche Kontakt im vorliegenden Entwurf - auch das haben Sie schon gesagt - als Regelausnahmevorschrift ausgestaltet. Das lässt natürlich einen Freiraum zu. Wie sich dieser Freiraum in der Praxis allerdings tatsächlich auswirken wird, bleibt abzuwarten. Wir hätten uns hier eine stärker am Wohl des Mündels orientierte Vorschrift mit einem klar festgeschriebenen vierteljährlichen Kontakt gewünscht. (Beifall bei der SPD) Denn die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Kontakt richten sich nach der individuellen Fallgestaltung. Die Kontakte sind vom Einzelfall und von der Situation vor Ort abhängig. Ausschlaggebend für die Intensität der persönlichen Kontakte zwischen Vormund und Kind sollte immer der Bedarf des Kindes sein. Andererseits sollte gewährleistet sein, dass der Vormund auch bei augenscheinlich unproblematischen Situationen im Lebensbereich des Kindes regelmäßige Besuche vornimmt; denn die Neuregelung soll es dem Mündel ermöglichen, in seinem Vormund eine zuverlässige Bezugsperson zu finden. Die Umsetzung eines monatlichen Kontaktes läuft Gefahr, für den Vormund und für das Mündel zu einer oft nicht nötigen Pflichtveranstaltung zu werden. Den Vormündern ist hier ein größerer zeitlicher Spielraum innerhalb verbindlicher und praktisch erreichbarer Eckdaten zu überlassen. (Beifall bei der SPD) Die Einführung einer als Mussvorschrift festgeschriebenen vierteljährlichen Regelung wäre aus unserer Sicht zielführender gewesen als ein im Regelfall monatlicher Kontakt, der vermutlich schon bald eine Ausnahme sein wird. Um auch hier noch einmal ein Rechenbeispiel zu bringen: Bei unserem Vorschlag, vierteljährlicher Kontakt und Fallzahlobergrenze 40, wäre es möglich, einen Besuch pro Arbeitstag zu organisieren. Dann findet man zu vernünftigen Lösungen. Einige der in unserem Antrag angeregten Änderungen, wie beispielsweise die Einführung eines Anhörungsrechts für den Vormund vor dem Familiengericht, hat das BMJ mit dem Hinweis auf die geplante Gesamtreform des Vormundschaftsrechts vorerst abgelehnt bzw. verschoben. Herr Thomae hat hier schon eine Diskussion angekündigt. Wir hoffen, dass wir in der Opposition uns dort einbringen können. Sie können sich sicher sein, dass wir dies an der einen oder anderen Stelle mit Nachdruck versuchen und hoffentlich auch erfolgreich tun werden. Denn es bleibt noch einiges zu tun, wenn wir die Vormundschaft und die Betreuung grundsätzlich verbessern wollen. Es gibt noch ein weiteres Problem. Es bleibt schließlich offen, inwiefern der Bundesrat bei der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes mitzureden hat. Nicht nur der Bundesrat, auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages geht bei dem Gesetzentwurf von einer Zustimmungspflicht aus. Die Bundesregierung bleibt jedoch bei ihrer Haltung, dass der Bundesrat nicht zustimmen muss. Wir befürchten daher, dass der Gesetzentwurf an der Zustimmungspflicht des Bundesrates scheitern könnte. Es wäre daher vielleicht klüger gewesen, sich im laufenden Reformverfahren mit den Ländern zusammenzusetzen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) um eine bessere Praktikabilität des Gesetzes und damit eine breite Zustimmung auf Länderebene zu erreichen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insgesamt - darin sind wir uns einig; das möchte ich hier noch einmal betonen - geht der Gesetzentwurf mit seiner Absicht des stärkeren Kinderschutzes in die richtige Richtung. Allerdings geht er uns nicht weit genug. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ute Granold (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute mit einer Gesetzesänderung zum Vormundschafts- und Betreuungsrecht. Wir haben in den letzten Wochen, denke ich, auf sehr sachlicher Basis versucht, hier gemeinsam einen Weg zu finden, einen ersten Schritt zu tun. Ich denke, er geht in die richtige Richtung. Es geht um das Wohl und die Interessen minderjähriger Kinder, die unter Vormundschaft stehen. Es geht um Menschen, die des besonderen Schutzes des Staates bedürfen. Es geht um Kevin und viele andere Kinder, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Es geht bei diesem Gesetz darum, Vernachlässigung und Missbrauch rechtzeitig zu erkennen und verhindern zu helfen. Die Vormundschaft umfasst die gesamte elterliche Sorge, das heißt Fälle, wo den Eltern die Sorge entzogen und diese in der Regel auf das Jugendamt übertragen wurde. Wir hatten in Deutschland 2007 30 547 Fälle, 2009 waren es 31 082 Fälle. Wir haben in der letzten Wahlperiode einiges in diesem Bereich getan. Ich erinnere daran: § 1666 BGB, das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei der Gefährdung des Kindeswohls. Vorher sah die Praxis so aus, dass, wenn ein Gericht eingeschaltet wurde, das letzte Mittel im Entzug der elterlichen Sorge bestand. Wir wollten die Möglichkeit schaffen, dass die Gerichte schon früher eingeschaltet werden. Wir wollten ein möglichst frühes und niederschwelliges Tätigwerden, das für die Kinder und für die Eltern gut ist. So wurden zum Beispiel das Gebot, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, und das Gebot, Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen, eingeführt. Ich denke, in diesem Bereich ist das materielle Recht zum Positiven geändert worden. Im Anschluss daran haben wir das Familienverfahrensgesetz in Kraft gesetzt - das FGG haben wir aufgehoben - und damit begleitend dazu beigetragen, dass den Verfahren, die Kinder betreffen, Vorrang eingeräumt wird. Sie müssen innerhalb eines Monats durchgeführt werden. Damit haben wir ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot in das Gesetz aufgenommen. An dieser Stelle ist es ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass die allermeisten Eltern ihrer Sorgepflicht nachkommen, ihre Kinder verantwortlich erziehen und sie liebevoll betreuen und versorgen. Der Schutzauftrag des Staates ist den Fällen vorbehalten, in denen es im jeweiligen Elternhaus Defizite gibt. Wir haben einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf erkannt, sowohl aufgrund der Empfehlungen der Arbeitsgruppe, die vom Justizministerium eingesetzt wurde, nachdem wir den § 1666 BGB geändert haben, als auch aufgrund der Evaluierung des Betreuungsrechtänderungs-gesetzes, das wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg gebracht haben. Der zentrale Punkt - er wurde schon angesprochen - ist der persönliche Kontakt des Vormundes zum Mündel bzw. des Betreuers zu seinem Schützling, dem Betreuten. Dieser Kontakt muss im Gesetz verankert werden. Das ist für uns ein wichtiger Punkt, der sofort umgesetzt werden soll. Hinzu kommt, dass dieser Kontakt auch kontrolliert wird; dies muss deshalb auch in den jährlichen Bericht des Vormundes, des Betreuers, aufgenommen werden. In einem weiteren Schritt untersteht das Ganze der Kontrolle, der Aufsicht durch das Familiengericht. Weil uns dies so wichtig ist, haben wir festgelegt: Wenn der persönliche Kontakt im Falle der Betreuung nicht eingehalten wird, ist dies ein Grund, den Betreuer zu entlassen. Ebenso bedeutsam wie der persönliche Kontakt ist die Begrenzung der Zahl der Mündel, um die sich ein Vormund zu kümmern hat. Wir haben im Rechtsausschuss eine umfassende Anhörung durchgeführt; das wurde schon angesprochen. In Anbetracht der Ergebnisse dieser Anhörung haben wir einige Änderungen am Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vorgenommen. Auch unter Einbeziehung der Änderungsanträge von SPD und Linken haben wir dem Rechtsausschuss einen Beschlussvorschlag vorgelegt, von dem wir denken, dass wir ihn umsetzen können. Dabei war für uns der alleinige Maßstab das Wohl des Kindes bzw. des Mündels. Der persönliche Kontakt wurde bereits angesprochen. Wir haben im Gesetz die Regelung getroffen, dass der Kontakt im Regelfall monatlich zu erfolgen hat, dass im Einzelfall aber auch kürzere oder längere Besuchsabstände erforderlich sein können. Das Interesse des Kindes und die Situation des Mündels sollen bei der jeweiligen Regelung berücksichtigt werden, und die notwen-dige Flexibilität soll gewährleistet sein. Weil uns sehr wichtig ist, dass der Kontakt in der Praxis tatsächlich erfolgt, haben wir festgelegt, dass die Fallzahl auf 50 Vormundschaften pro Vormund begrenzt ist. Diese Fallzahl ist auch von den Sachverständigen in der Anhörung als praktikabel beurteilt worden; diese Regelung muss von den Jugendämtern umgesetzt werden. Es sind also nicht 200 oder, wie es zurzeit durchschnittlich der Fall ist, 120 Vormundschaften pro Vormund, sondern 50. Hätten wir die Fallzahl auf 40 festgelegt, hätten Sie vielleicht 30 gefordert. Wir meinen, die Begrenzung auf 50 Vormundschaften pro Vormund ist in Ordnung. Wir haben diese Regelung als Sollvorschrift ausgestaltet, das heißt, 50 Vormundschaften pro Vormund sind der Regelfall. Wenn es aus jugendamtsinternen Gründen für kurze Zeit ein oder zwei Fälle mehr sein sollten, dann ist auch dies akzeptabel. Aber grundsätzlich ist die Zahl der Vormundschaften pro Vormund auf 50 begrenzt. Diese Begrenzung ist für uns unverzichtbar und stellt die absolute Obergrenze dar. Wenn Sie dies als "Schallmauer" bezeichnen wollen - auch in der Anhörung hieß es, die Fallzahl 50 sei akzeptabel, da realistisch und umsetzbar -, dann soll es so sein. Wir haben deutlich gemacht, dass wir alles Weitere, worüber wir diskutiert haben, gemeinsam mit der Opposition, in einem zweiten Schritt bei der Reform bzw. der Modernisierung des Vormundschaftsrechts, das noch aus dem vorletzten Jahrhundert stammt, umsetzen wollen. Dazu gehört das Leitbild, das Berufsbild ebenso wie das Tätigkeitsfeld des Vormundes. Die Beteiligung des Mündels wurde bereits angesprochen. Bei der Anordnung bzw. der Führung der Vormundschaft soll das Mündel dann auch abhängig von geistiger Fähigkeit und Reife an Entscheidungen des Vormundes beteiligt werden. Ein eigenes Anhörungsrecht des Vormundes in familiengerichtlichen Verfahren ist ein weiterer Aspekt, über den wir gerne noch diskutieren können. Über einige wenige Punkte, die ich gerade erwähnt habe, haben wir schon im Berichterstattergespräch diskutiert. Auch diese Vorhaben werden wir auf den Weg bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch auf das Inkrafttreten des Gesetzes zu sprechen kommen - ich denke, dieser Punkt wird vom Kollegen von der Linken noch angesprochen -: Es ist ein zweistufiges Verfahren vorgesehen. Zum Inkrafttreten. Wir haben das - nach eingehender Diskussion und nachdem wir es auch noch einmal überprüft haben - als richtigen Weg empfunden. Wir sagen: Der persönliche Kontakt des Vormundes mit dem Mündel, aber auch die jährliche Berichtspflicht sind so wichtig, dass dies mit Inkrafttreten des Gesetzes, das heißt mit dem Tag der Verkündung, umgesetzt werden muss. Zu allem anderen - das heißt zur Fallzahlbegrenzung und zur Aufsicht durch das Familiengericht - sagen wir, dass ein Jahr Zeit gegeben werden muss, um die nötige Organisation in den Behörden bzw. bei den Gerichten zu ermöglichen. Das ist auch realistisch. Die SPD hat zwar beantragt, dass es kein Jahr sein soll, sondern neun Monate. Darauf wird es, denke ich, aber nicht ankommen. Wir wollen in einem zweiten Schritt - das wäre nach einem Jahr - das Weitere, was uns ein Anliegen ist, auf den Weg bringen. Die Beteiligung des Bundesrates wurde angesprochen. Wir sind nach mehrfacher Überprüfung - dazu wurden bereits einige Ausführungen gemacht; einige meinten, es bedürfe einer Zustimmung des Bundesrates - zu der Ansicht gelangt, dass eine solche Zustimmung nicht erforderlich ist. Nach Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes ist die Führung einer Vormundschaft keine vergleichbare Dienstleistung im Sinne der Vorschrift. Bislang sind im Gesetz die Vormundschaft und auch die Kontakte zum Mündel geregelt. Die Aufgaben des Vormundes sind konkretisiert worden. Die Fallzahlfestschreibung ist ebenfalls eine Konkretisierung, keine Erweiterung. Wir meinen daher, dass das Gesetz nicht zustimmungspflichtig ist. Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was die Kollegin Hönlinger vielleicht noch ansprechen wird. Das ist die Frage der Trennung zwischen Vormundschafts- und Betreuungsrecht. - Ja, ich habe eine lange Redezeit; die muss ich ausnutzen. (Beifall der Abg. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU] - Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie können mir ja was abgeben!) - Es ist so! Eine große Fraktion hat eine lange Redezeit, und wir von der Union haben jetzt keinen zweiten Redner. Ich meine daher, es ist sinnvoll, dass man auf das, was diskutiert wurde, auch eingeht; das ist gut so. Bei der Trennung zwischen Vormundschaft und Betreuung gebe ich Ihnen grundsätzlich recht. Es hat sich mit der Änderung des Betreuungsrechtes in der letzten Wahlperiode - es wurde übrigens jetzt von der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen hierzu geantwortet - gezeigt, dass wir überhaupt weltweit eines der modernsten Betreuungsrechte haben. Das war natürlich auch ein großes Lob an die Bundesregierung. Das haben wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg gebracht. Die angesprochene Trennung ist grundsätzlich richtig. Es ist aber durch die Evaluierung festgestellt worden, dass der persönliche Kontakt zwischen Betreuern und Betreuten - das sind in der Regel ältere Menschen - durch dieses Gesetz zurückgegangen ist. Der persönliche Kontakt hat gelitten. Uns ist es wie bei den Kindern auch bei den Betreuten sehr wichtig, dass der persönliche Kontakt vorhanden ist. Deshalb gibt es die Verweisung von der einen Vorschrift zur anderen. Wir wollen mit diesem Schritt sicherstellen, dass der persönliche Kontakt zu den älteren betreuten Menschen da ist. Deshalb haben wir im Gesetz diese Verbindung geschaffen. Auch im Betreuungsrecht gibt es eine vom BMI eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wenn deren Evaluierung ausgewertet ist, wollen wir auch hier in einem weiteren Schritt, aufbauend auf dem jetzigen Gesetz, die Änderungen, die unter anderem vom Bundesverband der Berufsbetreuer an uns herangetragen wurden, beraten und das Erforderliche auf den Weg bringen. Wir als Gesetzgeber wollen die Mündel schützen und dafür Sorge tragen, dass es unseren Kindern gut geht. Aber wir wissen auch, dass das alleine nicht reicht. Der Kollege Thomae hat den Fall Kevin angesprochen. In meinem Mainzer Wahlkreis wurde gerade wieder ein Fall abgeurteilt. Das Kind war sechs Wochen alt. Trotz einer engmaschigen Kontrolle durch das Jugendamt, die Hebamme und Jugendhilfeeinrichtungen war es - auch wegen Überforderung - nicht möglich, das Kind zu schützen. Es ist dann zu Tode gekommen. Das heißt, wir müssen versuchen, sehr schnell zu schauen, ob die Eltern überfordert sind und ob das Kind der Hilfe bedarf. Auch als Nachbarn sollte man darauf schauen, ob es Probleme in der Familie gibt: Wie geht es der Mutter? Wie geht es den Geschwisterkindern? Und vieles andere mehr ist in dieser Hinsicht von Bedeutung. Unser Anliegen heute ist also nur ein Baustein von vielen, wenn es darum geht, denen zu helfen, die die schwächsten Glieder unserer Gemeinschaft sind und keine große Lobby haben. Wir müssen in jedem Bereich - auch im Jugendhilferecht - begleitend als Gesetzgeber da sein und korrigieren, wo es Fehlentwicklungen gibt. Deshalb ist es für uns gemeinsam sehr wichtig, dass wir in einem zweiten Schritt sowohl im Vormundschaftsrecht als auch im Betreuungsrecht weitere Verbesserungen vornehmen und das Gesetz, das in der Tat schon sehr alt ist, den heutigen Verhältnissen anpassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir würden uns freuen, wenn Sie in einem heutigen ersten Schritt diesem Gesetz zustimmen würden, damit wir dann in den weiteren Beratungen das, was wir schon im Ausschuss bzw. in den Berichterstattergesprächen diskutiert haben, noch auf den Weg bringen können. Vielleicht kann die SPD dann doch zustimmen. Ob die Fallobergrenze bei 50 oder 40 liegt, ob es nun neun Monate sind oder ob es ein Jahr bis zum Inkrafttreten des Gesetzes ist: Das sind Kleinigkeiten. Die Richtung ist richtig. Es wäre ein gutes Zeichen für die, die betroffen sind, und für die, die mit den Kindern arbeiten. Das sind insbesondere die Mitarbeiter der Jugendämter, die wirklich eine sehr, sehr gute und vorbildliche Arbeit leisten. Insofern sollten wir hier in diesem Hause sagen: Wir bringen in einem ersten Schritt ein Gesetz auf den Weg, das für alle nur das Beste will. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Thomae hat den Grund für den Gesetzentwurf zutreffend beschrieben: Fälle wie der von Kevin und anderen sollen verhindert werden, der Kontakt zwischen Mündel und Vormund soll gestärkt werden. Nach dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, sollen persönliche monatliche Kontakte stattfinden. Das ist eine Sollvorschrift. Nach einer Einzelfallprüfung kann der Zeitraum kürzer oder länger ausfallen. Die Pflege und Entwicklung des Mündels ist durch den Vormund persönlich zu fördern und durch ihn zu gewährleisten. Hier wird also eine Aufgabenerweiterung vorgenommen, die ganz erheblich ist. Die Fallobergrenze ist angesprochen worden. Das ist auch als Sollvorschrift ausgestaltet, das heißt, ein Abweichen nach oben ist ebenso möglich. Über die Kosten, die auf die Kommunen zukommen, ist überhaupt nicht gesprochen worden. Die Kommunen haben sich gemeldet und gesagt: Um Gottes Willen, liebe Bundesregierung, hier kommen teilweise Personalkosten auf uns zu, die um 100 Prozent über denen liegen, die wir jetzt haben. Die Regierung sagt: Wir reden über die Kosten nicht. - Die Aufgabenerweiterung soll sofort erfolgen, während es zur Fallobergrenze von 50 erst in einem Jahr kommt. Erst also die Aufgaben und dann die Struktur? Ich kann die Kinder nicht auf die Wiese schicken und sagen: So, jetzt seid ihr alle da, jetzt baue ich einen Kindergarten um euch herum. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD]) Es hieß, es gebe eine breite Zustimmung in diesem Haus. Frau Granold, Sie sagten auch noch: Vielleicht kann die SPD zustimmen; das wäre ein deutliches Signal. Wir haben einen Änderungsantrag in den Ausschuss eingebracht und nach der Sachverständigenanhörung übereinstimmend feststellen können, dass die Zahl 50 wirklich als kritische Marke klassifiziert worden ist. Es hieß - ich zitiere einmal -: Die Einführung einer Fallobergrenze von 50 ist unverzichtbar, aber aufgrund der Arbeitsbelastung praktisch nicht umsetzbar. Das ist hier ja vorgerechnet worden. Von anderer Seite hieß es dann: 30 bis 40 Fälle sind angesichts der persönlichen Amtsführung die Grenze, und die Fallobergrenze von 50 muss in Form einer Mussvorschrift und nicht einer Sollvorschrift festgelegt werden. Ein Grund dafür, das Ganze abzulehnen, war im Wesentlichen die Finanzierung. Es hieß, eine Fallobergrenze von 40 sei nicht zu finanzieren. Darüber, wie die Fallobergrenze von 50 finanziert werden soll, ist aber nie gesprochen worden. Die Zustimmung des Bundesrats ist nach Meinung meiner Fraktion ebenfalls erforderlich. Durch die Pflicht der Länder, eine geldwerte Sachleistung oder vergleichbare Dienstleistung mit einer nicht unerheblichen Kostenbelastung zu erbringen, wird eine Zustimmungspflicht nach Art. 104 a Abs. 4 Grundgesetz begründet. Das hat auch der Bundesrat so gesehen, und auch ein vom Wissenschaftlichen Dienst in Auftrag gegebenes Gutachten und eine Stellungnahme besagen: Das ist zustimmungspflichtig; die Länder müssen beteiligt werden. In unserem Änderungsantrag fordern wir, wie gesagt, aufgrund der Sachverständigenanhörung eine Fallobergrenze von 40. Außerdem sollte die Anhörung des Jugendlichen in dem Verfahren zwingend vorgeschrieben werden, sofern das aufgrund des Alters und des Entwicklungsstandes möglich ist. Ein ganz wesentlicher Faktor ist: Das Personal sollte aus sozialpädagogischen Fachkräften bestehen. Dazu hieß es: Das kommt in der zweiten Stufe. Ebenso haben wir gesagt: Es müssen Interessenskonflikte vermieden werden, das heißt, der Vormund darf nicht gleichzeitig Leistungsträger für Sozialleistungen sein, um hier Interessenskonflikte zu vermeiden. Es hieß: Das kommt auch erst in der zweiten Stufe. Durch das Inkrafttreten - Frau Granold hat es angesprochen; ich habe das auch schon gesagt - wird ein ungemeiner Druck entstehen. Denn wie wollen Sie einem Amtsvormund des Jugendamtes klarmachen: "Du hast 200 oder 250 Mündel - die Zahlen sind ja schon genannt worden -, bekommst von jetzt auf gleich einen erweiterten Aufgabenkreis zugewiesen und bist für die Pflege und Entwicklung dieser 200 oder 250 Mündel letztlich persönlich haftbar, die Strukturen, um das zu gewährleisten, bieten wir dir aber nicht, die lassen wir erst in einem Jahr in Kraft treten, wobei wir nicht geklärt haben, wie das Ganze finanziell zu leisten ist"? Deshalb denkt die Linke, dass man den Jugendämtern insgesamt ein Jahr Zeit geben müsste, um dieses Gesetz dann tatsächlich auch strukturell umzusetzen. Alles in allem bedeutet der Gesetzentwurf eine Verbesserung der gesetzlichen Vorgaben, wobei diese wohl kaum tatsächlich umsetzbar sein werden. Deshalb kann vonseiten der Linken keine Zustimmung erfolgen, und wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. An Frau Granold und Herrn Thomae gerichtet: Hätten Sie dem Änderungsantrag der Linken in den Berichterstattergesprächen zugestimmt, dann hätten wir mit den Ländern die Finanzierung klären können, dann hätten wir die Personalbedarfe klären können, dann würde hier Fachpersonal tätig werden, dann hätten wir in diesem Haus wirklich eine breite Zustimmung, vielleicht sogar eine Einstimmigkeit, zu diesem Gesetzentwurf und dann wäre ein wirklich deutliches Signal an die betroffenen Jugendlichen ausgesendet worden. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über Änderungen im Vormundschaftsrecht. Zentrale Frage ist, wie wir den Schutz des Mündels realistisch verbessern und die Qualität der Vormundschaft sichern können. Der erste Ansatzpunkt dafür ist die Begrenzung der Fallzahlen für die Vormundschaft. Die Bundesregierung sieht in ihrem Gesetzentwurf eine Sollvorschrift vor. Die Amtsvormundschaften sollen auf 50 Mündel pro Vormund beschränkt werden. Im Einzelfall ist es also möglich, dass ein Vormund übergangsweise mehr als 50 Mündel betreut. Meine Fraktion unterstützt in der jetzigen Lage den Gesetzentwurf. Er gibt den Kommunen eine klare Grenze nach oben vor, und er berücksichtigt auch, dass die Kommunen Zeit und Raum brauchen, Herr Kollege Wunderlich, um ihre finanzielle und personelle Situation an die Neuregelung anzupassen. In dem zweiten Schritt, den die Bundesregierung angekündigt hat, sollte aber unbedingt klargestellt werden, wie wir die Sollvorschrift zu einer Mussvorschrift umgestalten können. Denn es ist auf Dauer unerlässlich, dass die Fallzahlen auf 50 beschränkt werden. Das haben auch alle Sachverständigen in der Anhörung bestätigt. Hier müssen wir handeln, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt ist die Verpflichtung des Vormunds zum persönlichen Kontakt mit dem Mündel. In der Regel, so der Gesetzentwurf, soll der persönliche Kontakt zwischen Vormund und Mündel einmal im Monat stattfinden. Dieser monatliche Kontakt wird auch dem Schutz und den Interessen des Mündels gerecht. Missstände können frühzeitig erkannt und helfende Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden. Die Gerichte haben auch einen klaren Maßstab für die Überprüfung der vormundschaftlichen Tätigkeit. Laut Gesetzentwurf kann der Besuchsabstand in Ausnahmefällen verkürzt oder verlängert werden. Das kann für die Individualität der vormundschaftlichen Arbeit sinnvoll sein. Allerdings sollte die Bundesregierung auch über ein geeignetes Instrumentarium nachdenken, um eine Überprüfung bzw. einen Nachweis zu ermöglichen. Das könnte zum Beispiel eine Berichtspflicht des Vormunds gegenüber dem Gericht oder auch eine Zustimmungspflicht des Gerichts für längere Besuchsabstände sein. Frau Kollegin Granold, wir Grünen haben tatsächlich Probleme damit, dass auch Änderungen im Betreuungsrecht vorgesehen sind. Wir meinen, dass wir grundlegend über das Betreuungsrecht nachdenken müssen und dass sogar die UN-Behindertenrechtskonvention eine grundlegende Reform erfordern könnte. Wir meinen, dass Regelungen zum Betreuungsrecht nicht am Rande anderer Gesetze getroffen werden sollten. An diesem Punkt können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Insgesamt begrüßen wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung, soweit er das Vormundschaftsrecht betrifft. Für eine umfassende Reform ist der angekündigte zweite Schritt dringend erforderlich. Zu den bereits genannten Punkten der zwingenden Begrenzung der Fallzahlen auf 50 und der Kontrolle des persönlichen Kontakts zwischen Vormund und Mündel kommen aus unserer Sicht drei weitere hinzu. Erstens. Interessenkollisionen innerhalb der Jugendämter sollten überprüft werden. Zum Beispiel sollten Fachkräfte, die finanzielle Aufgaben des Jugendamts als Sozialleistungsträger wahrnehmen, von der Führung von Amtsvormundschaften ausgeschlossen sein, soweit sie die Person ihres Mündels betreffen. Zweitens. Dem Vormund sollte ein eigenes Anhörungsrecht im familiengerichtlichen Verfahren eingeräumt werden, um eine umfassendere Beurteilung zu ermöglichen. Drittens sollte geprüft werden, inwieweit dem Mündel gegen Entscheidungen seines Vormunds eine Beschwerdemöglichkeit eingeräumt werden kann. Meine Damen und Herren von der Koalition und von der Regierungsbank, wir werden Sie an die offenen Punkte erinnern. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5512, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3617 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen". Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5512, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2411 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeerpolitik - Drucksache 17/5487 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Günter Gloser (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst vier Monate sind vergangen, seit der junge Arbeitslose Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 mit seiner Selbstverbrennung den Anlass für die Jasmin-Revolution in Tunesien gab. Gespannt verfolgen wir seither den mutigen Aufstand der Bevölkerung vieler arabischer Staaten gegen die korrumpierten Machthaber und für die Verbesserung der eigenen Lebensperspektiven. In Tunesien und Ägypten gibt es bereits hoffnungsvolle politische Reformen, und in der gesamten Region wird um politische Teilhabe und um mehr Demokratie gerungen. Die arabische Welt, ja die Welt insgesamt, ist jedenfalls nicht mehr dieselbe wie vor dem 17. Dezember 2010. Und wir Europäer? Müssen wir uns nicht angesichts der neuen politischen Situation bei unseren südlichen Nachbarn schnell und grundsätzlich neu positionieren? Ich meine: Ja. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion ist ein Beitrag zu diesem Prozess und ruft zu einem wirklichen Neubeginn der deutschen und europäischen Nachbarschaftspolitik gegenüber der südlichen Mittelmeerregion auf. Ich schließe mich einer Botschaft an, die lautet: Wir glauben an die Zukunft der Region. - Das hat vor wenigen Tagen ein deutscher Unternehmer bei einer Debatte im Haus der Wirtschaft gesagt. Er hat hinzugefügt, dass wir etwas für diese Region tun müssen. Ich glaube, dass auch wir aus mindestens drei Gründen etwas tun müssen: Erstens, weil wir selbst in der Vergangenheit die Chancen für die Verbesserung der Menschenrechte und für eine demokratische Entwicklung in der Region falsch eingeschätzt haben. Damit meine ich Vertreter aller EU-Staaten und Politiker jeder politischen Couleur. Zweitens, weil die Menschen in unserer Nachbarschaft verdient haben, dass sie nach ihrem mutigen Kampf für die Freiheit nicht im Stich gelassen werden. Und drittens, weil eine jetzt unterlassene Unterstützung für die Entwicklung im Norden Afrikas uns selbst in Zukunft sehr teuer zu stehen kommen würde und wir besser zum gegenseitigen Vorteil handeln sollten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Manfred Grund [CDU/CSU]: Und was machen wir konkret?) Nur wenn es uns gelingt, gemeinsam mit den Menschen in dieser Region eine soziale und wirtschaftliche Lebensperspektive zu entwickeln, wird es auch für den gesamten Mittelmeerraum und letztlich die ganze EU eine stabile und friedliche Zukunft geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die einmalige historische Chance, einen Beitrag zu Frieden, Freiheit und Entwicklung im Norden Afrikas zu leisten. Wir haben aber auch die einmalige Chance, unsere eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Region im Wettstreit mit anderen Entwicklungsmodellen zu verfolgen. In dieser Zeit ist nicht Kleinmütigkeit gefragt. Deshalb wiederhole ich die Idee, die Frank-Walter Steinmeier und ich schon vor einigen Wochen in einer ersten Reaktion genannt haben, nämlich einen Marshallplan für den Mittelmeerraum aufzulegen. Natürlich nicht etwas Vergleichbares zu dem, den es nach dem Zweiten Weltkrieg gab, aber wir müssen deutlich machen, welche Dimension der Unterstützung notwendig ist, und den epochalen Wandel mit einem angemessenen, großen europäischen Projekt begleiten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die friedlichen Revolutionen in der arabischen Welt müssen erfolgreich weitergehen. Den Menschen muss es gelingen, die Forderung nach mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Wohlstand auch umzusetzen. Das ist ja keinesfalls gesichert, wie wir in den letzten Wochen verfolgen konnten. In manchen Ländern sind die herrschenden Eliten verlockt, die Diktatur fortzusetzen, selbst wenn die Diktatoren entmachtet sind. Die Region und die Welt stehen vor einer historischen Systementscheidung. Wird der Wandel zu Demokratie und Freiheit gelingen, oder werden nur andere, wieder autoritäre Regime an die Macht kommen? Orientieren sich die Menschen in Zukunft an Europa, oder wählen sie lieber das chinesische Modell, das autoritäre Führung mit wirtschaftlicher Liberalisierung verbindet? - Ich glaube, das wäre der falsche Weg; das ist ein Holzweg. Was sich in den letzten Tagen in Syrien zugetragen hat, zeigt es wieder: Allein mit wirtschaftlicher Liberalisierung kann man keine politische Liberalisierung herbeiführen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Entscheidung liegt also bei den Menschen vor Ort. Wir dürfen in der Situation nicht abseitsstehen. Wir müssen vielmehr alles tun, um die friedlichen Revolutionen zu unterstützen. Europa darf nicht in Kleinmut verharren, Europa muss der historischen Herausforderung durch neue Konzepte gerecht werden. Leider ist von diesen Konzepten bisher nicht viel zu erkennen. Zwar hat die Europäische Kommission in einer Mitteilung zur Reform der Nachbarschaftspolitik gezeigt, dass sie die Herausforderungen erkannt hat; die EU bleibt aber in ihren bisherigen Instrumenten genauso gefangen wie in der sehr engen Budgetplanung; diese ist ja von 2007 bis 2013 festgeschrieben. Aber wir brauchen nicht nur neue Konzepte, wir brauchen auch zusätzliche Mittel, zum Beispiel für einen regionalen Entwicklungsfonds. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist natürlich, dass der deutsch-französische Motor in dieser Frage sehr stark stottert. Frankreich geht einen nationalen Weg, Deutschland hat sich durch die Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einige Sympathien bei den Reformern im arabischen Raum verscherzt. Insgesamt gibt die EU kein gutes Bild ab. Und um Europas Glaubwürdigkeit in der Region steht es momentan nicht zum Besten. Ich denke aber, mit dem Projekt einer kohärenten Nachbarschaftspolitik könnte Europa in der Mittelmeerregion zerschlagenes Porzellan wieder zusammenfügen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was müssen wir also tun? (Manfred Grund [CDU/CSU]: Gute Frage!) Ich denke, wir müssen gemeinsame Wege mit den Staaten Nordafrikas gehen. (Iris Gleicke [SPD]: Dafür interessiert sich die Bundesregierung überhaupt nicht! Die Bänke sind leer!) Ich greife hier ganz bewusst und deutlich, weil diese Diskussion in den letzten Tagen etwas an Dynamik gewonnen hat, den Vorschlag von Experten auf, Tausende befristete EU-Arbeitsvisa für arabische Akademiker auszustellen. Diese könnten nach einer befristeten Beschäftigung in der Europäischen Union günstige Kredite für Existenzgründungen in ihrer Heimat erhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Damit würde der Perspektivlosigkeit gut ausgebildeter junger Menschen in der Region etwas entgegengesetzt, aber auch dem Fachkräftemangel in der EU. Das ist auch für uns wieder von Bedeutung. Selbst aus der deutschen Wirtschaft höre ich positive Signale, die besagen: Das ist ein Beispiel für eine neue Partnerschaft. - Wir sollten keine Angst haben, aber wir sollten auch nicht mit kleinen Zahlen hantieren. Auch der Ruf nach Hilfe zur Selbsthilfe wird nicht reichen, um die Probleme in der arabischen Welt - insbesondere auf dem Arbeitsmarkt - zu lösen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ein weiteres Projekt ist die Energiepartnerschaft. Das könnte gerade im Hinblick auf die Katastrophe von Fukushima ein ganz wichtiger Punkt zwischen der EU und Nordafrika sein. Dezentral erzeugte, erneuerbare Energie und qualifizierte Arbeitsplätze in der Region können für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen. Stromimporte in die EU können dazu beitragen, die ambitionierten Klimaschutzziele zu erreichen. Deshalb, weil es eine epochale Herausforderung ist - ich wiederhole eine Forderung -, wäre es auch an der Zeit, dass die EU endlich einen Sondergipfel mit den reformbereiten arabischen Staaten organisiert und damit ihren Willen zur Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt. Ein weiterer Punkt ist die auswärtige Kulturpolitik. Auch hier müssen in den nächsten Jahren mehr Mittel eingesetzt werden, um die Reformbestrebungen in den arabischen Ländern zu unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch das wiederholt, aber dennoch wichtig - heute vielleicht eineinhalb Stunden früher als bei der letzten Debatte -: Wir müssen auch die Handelshemmnisse aufheben, damit diese Länder auch Zugang zu Dienstleistungen und Agrarprodukten bekommen. Als Letztes noch ein Wort zur aktuellen Flüchtlingsfrage: Es ist ein Trauerspiel, wie hier die Europäische Union vorgeht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man muss sich das einmal vorstellen: Es ist gegenüber einem Land wie Tunesien, das bei 10 Millionen Einwohnern 240 000 Flüchtlinge aufgenommen hat, blamabel, wenn seitens der EU mit ihren über 500 Millionen Einwohnern behauptet wird, sie sei nicht in der Lage, 25 000 Flüchtlinge, die sich derzeit auf Lampedusa aufhalten, vorübergehend unterzubringen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das versteht in Tunesien und auch in Ägypten kein Mensch. Sonntagsreden helfen diesen Menschen nicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir von der Bundesregierung und der EU-Kommission an Vorschlägen zur Mittelmeernachbarschaftspolitik bisher gesehen und gehört haben, reicht nicht aus. Wir müssen einen wirklichen Neubeginn wagen. Die Region ist zu nahe und die Chance ist zu groß, als dass wir untätig oder kleinmütig bleiben dürften. In diesem Sinne fordere ich Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Hörster von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Joachim Hörster (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit großer Aufmerksamkeit die Ausführungen des Kollegen Gloser verfolgt, mit dem ich auch auf anderer Ebene - nämlich in den Parlamentariergruppen - gut zusammenarbeite. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt keine Fraternisierung!) Ich finde, es gibt einen Punkt, in dem sich unsere Auffassungen gravierend unterscheiden: Sie suchen die Schuld für Fehlentwicklungen vorwiegend bei der Europäischen Union. Sie lassen der Europäischen Union Schuldzuweisungen zukommen, ohne dass auf der anderen Seite danach gefragt wird, was die betroffenen arabischen Länder mit den Chancen und Möglichkeiten machen, die die Europäische Union angeboten hat. Vielleicht stört es einen Sozialdemokraten ein bisschen, dass auf dem Europäischen Rat in Essen im Jahre 1994 unter dem Vorsitz von Helmut Kohl der Grundstein für die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union gelegt worden ist (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gipfel ist gescheitert!) und dass daraus der Barcelona-Prozess entstanden ist. (Günter Gloser [SPD]: Essen ist eine schöne Stadt!) - Ich empfehle Ihnen, Herr Kollege Gloser, sich aus purer Kollegialität etwas zurückzuhalten. - Es stört Sie vielleicht außerdem, dass es dann, nachdem im Jahre 1995 der Barcelona-Prozess in Gang gesetzt worden war, in Stuttgart die Europa-Mittelmeer-Konferenz der EU-Außenminister gegeben hat. All diese Veranstaltungen haben in Deutschland stattgefunden. Mithilfe von Deutschland sind also von der Europäischen Union eine ganze Reihe von Initiativen ergriffen worden. Wir haben den Barcelona-Prozess eingeleitet. Diesen haben wir auch ernst gemeint. Wir haben in einer ganzen Reihe von Fällen echte Fortschritte in den arabischen Ländern erreicht. Wir haben eine gemeinsame Sicherheits- und Stabilitätspolitik für den arabischen Raum betrieben. Wir haben eine gemeinsame Handelspolitik betrieben. Schwierigkeiten hatten wir - darüber haben wir uns oft genug unterhalten - damit, dass der Korb III, die Entwicklung der Zivilgesellschaft, etwa in Tunesien, Algerien, Ägypten oder Syrien, massiv abgebremst worden ist. Wir haben beim Abschluss des Vertrages zum Barcelona-Prozess durchgesetzt, dass Syrien auf Massenvernichtungswaffen verzichtet. Dass es sich aber zur Demokratie verpflichtet, haben wir nicht durchgesetzt. Da hat es eine Reihe von Schwachpunkten gegeben. Es musste allerdings eine Güterabwägung vorgenommen werden. So mussten wir uns fragen: Welche Möglichkeiten haben wir, um auf diese Länder einzuwirken? Und: Führt eine Einwirkung zur Destabilisierung der Region oder nicht? Bei all den Vorgängen, die jetzt stattfinden - im Ganzen halten wir sie für sehr sympathisch und wollen sie auch unterstützen -, wissen wir nicht, wie sie enden werden. Das sollte uns nicht daran hindern, zu handeln, aber es sollte uns dazu veranlassen, klug zu handeln. Wir haben seinerzeit verlangt, dass in Palästina freie, allgemeine und geheime Wahlen stattfinden. Dann ist gewählt worden, und die Hamas hat 64 Sitze im Parlament erhalten. Damit hatte sie einen Sitz mehr, als für die absolute Mehrheit notwendig ist. Die Folge war, dass die Vereinigten Staaten und die Europäer unisono gesagt haben: Ihr habt zwar demokratisch gewählt, mit den neuen Regierungsvertretern verhandeln wir aber nicht; das ist nicht unser Feld. Wir müssen uns fragen: Sind wir bereit, jede Entwicklung in einem dieser arabischen Länder zu akzeptieren, selbst wenn nach demokratischen Wahlen Personen an die Macht kommen, die gar nicht daran denken, ihre Macht wieder abzugeben? Das alles sind Überlegungen, die wir in dem Zusammenhang anstellen müssen. Es sind deswegen nicht Schnellschüsse gefragt, sondern kluge Überlegungen. Ich finde, die im Barcelona-Prozess angelegte Entwicklung der Zusammenarbeit war gar nicht so falsch. Was sich in der Mittelmeerunion später herauskristallisiert hat - auch aufgrund der Vorschläge, die Sarkozy gemacht hat -, ist auch nicht so schlecht. Zu all diesen Vorgängen gibt es eine bedeutende Rede vom 19. Juni 2009, die der damalige Staatsminister Gloser in der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Mittelmeerdialog gehalten hat. Er hat da ausgeführt: Und den zentralen Verdienst des Barcelona-Prozesses dürfen wir nicht unterschätzen: Das ist die Fortsetzung des Dialogs zwischen allen Beteiligten trotz der immer wiederkehrenden Schwierigkeiten im Nahostfriedensprozess. Ich teile diese Meinung vollinhaltlich, und sie gilt auch heute noch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Herr Gloser hat weiter ausgeführt: Wir wollen mit unseren Partnern gemeinsam obliegende Herausforderungen angehen. Ich nenne nur beispielhaft den Schutz des Klimas und der Umwelt, die Auswirkungen der Migration oder die demographische Entwicklung in unseren Ländern. Wir haben also die Probleme erkannt, und die Probleme sind auch behandelt worden. Wir waren aufgrund der politischen Strukturen in den arabischen Ländern aber nicht in der Lage, so Einfluss zu nehmen, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend entwickelt hätten. Herr Gloser, Sie haben dann lobende Worte dafür gefunden, dass Ägypten gleichberechtigt mit Frankreich in Abstimmung mit der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft der Union für das Mittelmeer vorsteht. - Ägypten war damals Mubarak. Ich werfe Ihnen, Herr Gloser, nicht vor, dass Sie das lobend erwähnt haben. Wir hatten ja keinen anderen; das gebe ich zu. Ob Sie regiert haben oder ob wir regiert haben: Wir haben doch versucht, aus der Situation das Beste im Interesse dieser Länder zu machen. (Lachen bei der LINKEN - Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Im Interesse des deutschen Kapitals! In dem Interesse haben Sie gehandelt!) Diesen Erfolg würde ich ungern unter den Scheffel stellen; den würde ich ungern leugnen. Ich glaube, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzen können, auch unter den veränderten Bedingungen, wenn - hoffentlich - Demokratie entsteht. In Ägypten muss man ja im Augenblick befürchten, dass das nicht gelingt, da nur zwei politische Organisationen das Organisations-Know-how zur Bildung von politischen Parteien haben, die bisherige Regierungspartei und die Muslimbrüder, die nicht dafür bekannt sind, dass sie demokratische Werte besonders respektieren oder fördern. (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wissen Sie doch gar nicht! Sie haben doch nicht mit den Muslim Brothers geredet!) - Doch, habe ich, mehrfach. Es war politisch zwar nicht erwünscht, aber ich habe mir die Freiheit genommen. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das glaube ich!) Wenn ich all diese Entwicklungen sehe, komme ich zu dem Schluss: Wir sollten versuchen, einen positiven Einfluss darauf zu nehmen unter der Maßgabe, dass die Menschen dort im Prinzip selbst bestimmen müssen, wie sie es haben wollen. Wir sollten uns allerdings nicht in die Ecke der Schuldigen und der Büßer bringen lassen, (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Doch!) weil wir da nicht hingehören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben uns nämlich gewaltig angestrengt, aber die anderen haben die Angebote nicht angenommen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Sevim Daðdelen von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN - Heike Hänsel [DIE LINKE]: Jetzt hören Sie mal gut zu!) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum hatte die im Juli 2008 in Paris gegründete Mittelmeerunion vor einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen, da wurde sie durch die Dynamik des demokratischen Aufbegehrens in Nordafrika eigentlich schon zur Makulatur. Erneut bestätigte sich, dass im Ernstfall, wenn es um die Einforderung demokratischer Teilhabe in Afrika geht, die EU uns Schweigen als Gold serviert. Das ist auch kein Zufall. Die Mittelmeerunion richtete sich nämlich nicht, wie eben gesagt wurde, an die gesellschaftlichen Akteure in der Region, sondern war von Anfang an ein rein zwischenstaatliches Forum. Als Garanten für die europäischen Interessen und Werte galten dabei der Tunesier Ben Ali als Präsident dieser Union und dessen ägyptischer Kollege Mubarak als Vizepräsident dieser Union. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Genau!) Der französische Präsident Sarkozy besaß mehr Witz als Verstand, als er damals noch um die Teilnahme Gaddafis buhlte. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Illustre Runde!) In dem vorliegenden Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD findet sich leider kein Wort dazu. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass beide, Ben Ali und Mubarak, jahrzehntelang ihren Platz in der sozialdemokratischen Internationale an der Seite der SPD hatten. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber wirklich eine olle Kamelle!) Es findet sich kein Wort dazu, dass man diese Diktatoren jahrzehntelang mit Waffen, Ausbildungs- und Ausstattungshilfe beliefert hat. Es ist - das muss ich schon sagen - an Heuchelei kaum zu überbieten, wenn Sie beim Thema Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum den Samariter mimen. Wir unterstützen ja den Willen, Flüchtlinge aufzunehmen. Aber wenn Sie in Ihrem Antrag an Rückübernahme - sprich: einem Abschiebeabkommen der EU - festhalten, geht das meines Erachtens nicht. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, die Menschen in Nordafrika können sich von Sympathiebekundungen nichts kaufen. Das Versagen Europas angesichts der Umbrüche in der arabischen Welt darf nicht nachträglich in eine Tugend umformuliert werden. Die Zukunft Afrikas darf nicht weiterhin auf Konferenzen in Paris, Berlin oder Brüssel entschieden werden. Diese Politik muss ein für allemal der Vergangenheit angehören. (Beifall bei der LINKEN) Der SPD-Antrag beweist, dass aus der Vergangenheit keine Lehren gezogen wurden. Es geht nicht darum, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, europäische Werte und Ziele in der unmittelbaren südlichen Nachbarschaft politische Praxis werden zu lassen. Ihr Antrag entspricht einem Doppeldenk frei nach George Orwell zwischen Feststellungs- und Forderungsteil. Sie sprechen von Sympathie, Demokratie und Werten und meinen lediglich strategische Interessen Europas, besser gesagt der Europäischen Union. Das haben Sie hier ja auch weiter ausgeführt. Sie sprechen von Unterstützung und beschäftigen sich nur mit der Lösung europäischer Probleme wie der Energieversorgung und der Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Sie sprechen von Demokratie und Wohlstand und meinen Freihandelszone. Sie sprechen von Freiheit und meinen Migrationskontrolle in Form von Rückübernahmeabkommen. Das lehnt die Linke ab. (Beifall bei der LINKEN) Bei all den guten Vorschlägen stecken Sie somit immer noch mit beiden Füßen in der Vergangenheit. Der von Ihnen vorgeschlagene Neustart ist in Wirklichkeit der Versuch der Wiederbelebung einer Politik, der der demokratische Aufbruch längst einen klinischen Tod bescheinigt hat. Diese Politik ist gescheitert, weil sie sich an den nationalen Kapitalinteressen in Europa und nicht am Gemeinwohl der betroffenen Menschen in Nordafrika orientierte. Es muss um die Menschen in Nordafrika mit ihren Bedürfnissen und Interessen gehen und nicht um die Steigerung der Profite der Großkonzerne in Europa und der deutschen Unternehmen, der Sie so unmissverständlich zustimmen. (Beifall bei der LINKEN - Dietmar Nietan [SPD]: Das steht nun wirklich nicht in dem Antrag! - Iris Gleicke [SPD]: Man muss davon ausgehen, dass Sie nicht lesen können!) So ist es auch kein Zufall, dass Sie die Zivilgesellschaft in Nordafrika noch nicht einmal fragen, sondern den Menschen mit einem fertigen Konzept regelrecht drohen. In Ihrem Antrag ist denn auch die Rede von einem "wirksamen Hebel", der bei richtiger Anwendung vorhanden ist. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Der wahre Maßstab für einen Neubeginn wäre die Einlösung des Freiheits- und Demokratieversprechens und des Versprechens eines sozialen Europas gegenüber den Menschen in den arabischen Staaten. (Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund [CDU/CSU]: Es fehlen nur noch die Mindestlöhne!) Dass Sie dazu nichts beizutragen haben, überrascht nicht wirklich. Dass Sie dies aber für alle offensichtlich auch noch aufschreiben, überrascht dann schon. Es scheint noch ein weiter Weg zu sein, bis Sie wieder zu einer Sozialdemokratie zurückgekehrt sind, (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Mach dir mal keine Sorgen!) die einst unter internationaler Solidarität nicht Marktöffnung und Konzerninteresse verstand. Die Menschen in Nordafrika brauchen keine neuen einseitigen Verträge. Die Menschen in Nordafrika brauchen echte und ehrliche Solidarität. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Rainer Stinner (FDP): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine das ganz ernst: Es ist schon ein Fortschritt, dass wir uns bei dieser Debatte nicht um ein weiteres Land kümmern müssen, wie wir es bedauerlicherweise in den letzten Wochen im Wochenrhythmus erlebt haben. Das gibt uns Gelegenheit, uns damit zu beschäftigen, wie es weitergeht und was wir tun können. Ich glaube, wir sind alle der Meinung, dass es richtig ist, die Instrumente zu überprüfen, die in den letzten Jahren eingeführt worden sind. Die SPD macht das in ihrem Antrag sehr ausführlich. Manchmal grenzt das, was Sie da betreiben, an Selbstgeißelung, wenn man bedenkt, wer in den letzten Jahren Verantwortung gehabt hat. Aber Herr Hörster hat ja völlig zu Recht ausgeführt: Im Prinzip haben wir alle gleichermaßen daran mitgewirkt, diese Rahmenbedingungen zu schaffen, und deshalb brauchen wir uns hier auch nicht gegenseitig die Augen auszuhacken. Wir müssen aber daraus lernen und uns überlegen, wie wir in Zukunft vorgehen wollen. Die Bundesregierung hat, wie ich finde, schnell und unbürokratisch gehandelt. Ich will Ihnen einige Zahlen präsentieren: Die Bundesregierung hat für den demokratischen Übergang 17 Millionen Euro zur Unterstützung verarmter Regionen in Tunesien und 30 Millionen Euro zur Deckung der dringendsten humanitären Bedürfnisse der Flüchtlinge bereitgestellt. Die politischen Stiftungen sind gestärkt worden: Sie bekommen mehr Geld und sollen stärker einbezogen werden. Minister Niebel hat in seinem Ministerium einen Fonds in Höhe von 40 Millionen Euro aufgelegt, mit dem die Mittelmeerländer in den Bereichen Demokratieförderung, Bildung und Wirtschaftsförderung unterstützt werden. Die Europäische Union hat am 8. März einen Maßnahmenkatalog verabschiedet. Der Kollege Lischka von der SPD hat eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, was denn mit dem Geld gemacht worden sei. Er hat als Antwort darauf einen dicken Katalog vorgelegt bekommen, in dem seitenlang die Projekte beschrieben werden, die die Bundesregierung unterstützt; wobei es gar keine Frage ist, dass das zum Teil auch unter Ihrer Ägide angestoßen wurde. All das zeigt, dass finanziell schon sehr viel getan wird. Ich glaube deshalb, dass wir mit dem Ruf nach mehr Geld nicht weiterkommen. Lieber Herr Gloser, ich bin auch hinsichtlich Ihres Vorschlages bezüglich eines Marshallplans skeptisch; denn mit dem Begriff "Marshallplan" verbinden wir zunächst einmal - ich sage es einmal platt - fette Kohle. Der Marshallplan hatte damals ein Volumen von ungefähr 11 Milliarden Dollar. Das entspricht einem heutigen Wert - kluge Leute haben das ausgerechnet - von 75 Milliarden Dollar. Herr Gloser, der Unterschied zu damals ist, dass die Absorptionskapazität in den Ländern, um die es geht, eine völlig andere ist als die, die es damals in Europa gegeben hat. Ich meine das in zweierlei Hinsicht: zum einen infrastrukturell und zum anderen in Bezug auf die gesellschaftlichen Strukturen und auf das Staatswesen. Diese besitzen nicht die entsprechende Absorptionskapazität. Ich glaube daher, dass wir allein mit Geld nicht weiterkommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unsere Bemühungen werden einen langen Atem erfordern. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass die Bundesregierung schon in den nächsten zwei oder drei Jahren wesentliche Dinge in der Region so verändern kann, dass man dort nachhaltige Erfolge sehen wird. Wir wissen aber, dass wir schnell an den richtigen Hebeln ansetzen müssen. Diese Hebel sind bekannt: Erstens. Humanitäre Maßnahmen - auf diese Weise handelt die Bundesregierung bereits; da sind wir uns alle einig - müssen dort, wo sie notwendig sind, im Vordergrund stehen. Zweitens. Wir müssen den Aufbau von politischen Strukturen unterstützen; diese sind ja die Voraussetzung für einen politischen Wandel. Dazu hatte ich ja bereits vorhin im Zusammenhang mit dem Marshallplan etwas gesagt. Wir können nicht erwarten, dass sich etwas entwickelt, wenn es keine entsprechenden Strukturen, Entscheidungsprozesse etc. gibt. Das betrifft sowohl die administrativen Strukturen als auch die grundlegenden Infrastrukturen wie Straßen, Stromversorgung etc., die noch aufgebaut werden müssen. Drittens. Natürlich ist es völlig richtig, dass die lokale Wirtschaft aufgebaut werden muss. Es wird Sie nicht verwundern, dass ich als Vertreter der FDP darauf besonderen Wert lege. Unser liberales Credo - ich sage das, auch wenn man es nicht hören mag - lautet: Wirtschaft ist nichts alles, aber ohne Wirtschaft ist leider sehr vieles nichts. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das gilt auch insbesondere für diese Region. Deshalb müssen wir schauen, wie wir schnell einen Beitrag dazu leisten können, dass sich die Wirtschaft entwickelt. Dazu gehören die Unterstützung des Mittelstandes und der Aufbau von Unternehmen. Natürlich ist genauso wichtig, zur Kenntnis zu nehmen - Sie haben es vorhin gesagt; da liegen wir gar nicht weit auseinander -, dass sich die Bundesregierung in den nächsten Wochen und Monaten innerhalb der Europäischen Union in einen ziemlich harten Kampf begeben muss, um dafür zu sorgen, dass die EU ihre Märkte öffnet. Wirtschaftliche Entwicklung heißt: Wandel und Handel zwischen Ländern. Unser Credo ist: Uns geht es besser, wenn es diesen Ländern ebenfalls besser geht und umgekehrt. Ich wünsche der Bundesregierung bei der Auseinandersetzung um diese Frage viel Glück und Durchhaltevermögen. Wir alle wissen, dass es schwer wird. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam die Bundesregierung unterstützen und sie nicht kleinteilig kritisieren. Viertens. Wir müssen gesellschaftliche Strukturen aufbauen. Das ist leichter gesagt als getan. Die Stiftungen können dazu einen Beitrag leisten. Sie werden dafür auch allenthalben gelobt. Aber lassen Sie uns auch da realistisch sein, meine Damen und Herren: Die Stiftungen erreichen nur einen geringen Anteil, zum Teil im Promillebereich, der Bevölkerung in den einzelnen Ländern. Schauen Sie sich einmal Ägypten an. Dort sind alle guten Willens, aber natürlich können wir nicht erwarten, dass die Arbeit der deutschen Stiftungen allein einen wesentlichen Umschwung bewirkt und für den Aufbau gesellschaftlicher Strukturen sorgt. Da würden wir uns überheben. Aber wir müssen es natürlich versuchen. Fünftens. Wir müssen Strukturen für die Ausbildung schaffen. Hier ist von Ihnen angeregt worden - ich begrüße das -, einmal zu überlegen, ob wir nicht jungen ausgebildeten Leuten eine zeitweilige Lern- und Arbeitsphase in Deutschland ermöglichen. Das ist völlig richtig. Auch hier müssen wir uns dessen bewusst sein: Das kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die Flüchtlinge, die uns jetzt entgegenkommen, sind nicht diejenigen, von denen wir jetzt gesprochen haben. Auch das müssen wir fairerweise zur Kenntnis nehmen. Meine Damen und Herren, es ist in unserem Interesse, dass sich diese Region entwickelt. Das entspricht der Leitlinie der Europäischen Union für die europäische Nachbarschaftspolitik, in deren Rahmen zwischen 2007 und 2013 immerhin 7 Milliarden Euro in die Region verbracht werden: Es geht uns besser, wenn es dieser Region besser geht. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen. Das wird schwer sein; wir werden schrittweise vorgehen müssen. Die Bundesregierung hat damit angefangen; wir werden sie dabei unterstützen. Wir alle wissen aber: Es bedarf eines langen Atems, um dorthin zu kommen, wohin wir wollen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel vom Bündnis 90/Die Grünen. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte kurz vorwegschicken: Ich bin mit der Uhrzeit, zu der wir über dieses Thema diskutieren, nicht ganz einverstanden. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten einen Platz am frühen Morgen gehabt, nicht erst am späten Abend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Uta Zapf [SPD]) Ich bin aber mit dem Zeitpunkt der Einbringung dieses Antrags sehr einverstanden - er ist absolut richtig -: Es ist ein historischer Zeitpunkt, also genau der richtige Zeitpunkt, um hier im Deutschen Bundestag über das Thema zu reden. Ich möchte auch betonen, dass die Notwendigkeit einer neuen Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas von allen Fraktionen in diesem Haus gesehen wird; das ist sicherlich gut. Es ist auch gut, dass sich die Bundesregierung im März dazu bekannt hat, dass sie eine klare Antwort auf die Umbrüche in diesen Ländern liefern will. Wir bitten daher alle Mitglieder der Bundesregierung, nicht wieder in alte Reflexe zu verfallen, also nicht die Flüchtlingsabwehr an den Anfang der neuen Zusammenarbeit zu stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Uta Zapf [SPD]) Das wäre ein vollkommen falsches Signal, wenn es darum geht, die Aufbruchstimmung in diesen Ländern aufzunehmen. Wenn wir Partnerschaften anbieten wollen - das beschreiben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem Antrag in der Tat sehr gut -, dann müssen wir die Instrumente der Partnerschaft nutzen. Eine Rhetorik, bei der man von "Schleusen" und Ähnlichem redet, hilft da sehr wenig. Der SPD-Antrag verweist auf die drei Dimensionen des Barcelona-Prozesses, an die sich jetzt mit verstärkter Intensität anknüpfen lässt. Richtig ist ebenfalls, dass es einen signifikanten Unterschied zu den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa nach 1989 gibt, denn wir können den Ländern Nordafrikas kaum eine Beitrittsperspektive bieten. Daher müssen wir die anderen Möglichkeiten der Zusammenarbeit voll ausschöpfen. In den Ländern Nordafrikas ist das Wort "Stabilität" inzwischen ein Schimpfwort. Ich bin gerade heute aus Kairo zurückgekommen. Dort habe ich erfahren, dass sich die Menschen dort, vor allem jene, die die Revolution maßgeblich mitgetragen haben, eine ideelle und institutionelle Anerkennung ihres Mutes wünschen. Denn den haben sie über Wochen hinweg bewiesen: Sie waren unendlich mutig und haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um Ägypten von Mubaraks Herrschaft zu befreien. Jetzt gilt es, ihnen eine solche Anerkennung und kontinuierliche Unterstützung zukommen zu lassen. Da bin ich mir nicht sicher, ob ein Marshallplan die richtige Antwort ist. Die Anerkennung kann aus unserer Sicht auf verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden: Zunächst einmal ist es wichtig, dass alle politischen Entscheidungsträger - angefangen bei Lady Ashton, die ab heute für zwei Tage Kairo besucht - immer auch die NGOs, also die Nichtregierungsorganisationen, die Menschenrechtsanwälte und die treibenden Revolutionskräfte aus der Jugend treffen. Das war bei Lady Ashtons erstem Besuch nicht der Fall und scheint erstaunlicherweise auch dieses Mal nicht geplant zu sein. Zweitens müssen die westlichen Politikerinnen und Politiker bei Besuchen die Rolle des Militärs und seine eigenen Interessen stärker hinterfragen. Drittens müssen dringend die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen in Ägypten geschaffen werden: Parteien müssen zugelassen werden. Dabei ist es entscheidend, dass die Barrieren für die Registrierung von neuen Parteien möglichst niedrig gehalten werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen über ihre Rechte und Pflichten als Wähler informiert werden. Da leisten alle Stiftungen hervorragende Arbeit; das sollten wir nicht unterschätzen. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nein, das unterschätzen wir nicht! Auf keinen Fall!) Wir müssen an genau dieser Stelle ansetzen. Wahlkommissionen müssen geschult werden. Die Menschen dürfen am Ende nicht das Gefühl haben, unsichtbare Mächte oder das Militär hätten ihnen durch Fälschung der Wahlen die Errungenschaften der Revolution entzogen. Das wäre ein fataler Rückschlag. Ägypten besitzt in der arabischen Welt eine Vorbildfunktion für viele andere Staaten, deren Bevölkerung noch schwankt, ob sich ein Weiterkämpfen lohnt oder nicht. Wenn das ägyptische Modell nicht überlebt, werden viele Demonstrantinnen und Demonstranten in anderen Ländern den Mut, für die Freiheit zu kämpfen, schnell verlieren. Wichtig ist - darauf beziehen Sie sich auch in Ihrem Antrag -: Wir müssen die Ebenen der interparlamentarischen Zusammenarbeit von Demokratien nutzen. Eine junge Demokratie mit vielen neuen und unerfahrenen Parlamentarierinnen und Parlamentariern ist äußerst verletzlich. Wir sollten insbesondere unseren Kollegen nach der Wahl Unterstützung in jeder Form zukommen lassen. Dann muss selbstverständlich - ich glaube, es ist uns noch nicht ganz klar, was das bedeutet - die Rehabilitierung vieler Inhaftierter der Revolution, die derzeit in schwierigen und undurchsichtigen Prozessen abseits jeglicher Öffentlichkeit und meist ohne rechtlichen Beistand vor einem Militärgericht stehen, unbedingt von uns, von westlichen Politikern angemahnt werden. Der Militärrat scheint ein starkes Eigenleben zu führen, ohne sich mit anderen innerhalb der Übergangsregierung abzustimmen. Durch diese Entwicklung, wird sie nicht genau beobachtet, besteht die Gefahr, dass viele der ersten Errungenschaften wie die Presse-, die Medien- und die Versammlungsfreiheit wieder aufs Spiel gesetzt werden. Nur durch eine enge Kooperation, die auf Dauer angelegt ist, können wir das verhindern. Die EU und auch die deutsche Außenpolitik könnten jetzt an dieser Stelle viel Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, indem sie die Demokratisierungsbemühungen und den gesellschaftlichen Wandel in Nordafrika unterstützen. Die Nachricht von der Festnahme Mubaraks ist sicherlich eine gute, reicht aber allein noch nicht aus. Für den weiteren Verlauf der Umwälzungen ist auch die kritische wirtschaftliche Lage von Bedeutung, die die politischen Gestaltungsspielräume in Tunesien und Ägypten stark einengt. Europa hat deshalb auch eine Verantwortung, soziale und ökonomische Reformen in diesen Ländern zu unterstützen. Auch da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die aus unserer Sicht noch deutlicher hätte ausfallen können, richtig. Wir sind gern bereit, Menschen mit guter Ausbildung eine Migration - auch mit einer Arbeitsperspektive - anzubieten. Eine richtig konzipierte zirkuläre Migration kann hier eine Lösung darstellen. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Die Nützlichen wollen Sie reinholen! Der Rest kann ersaufen!) Wir müssen uns in der EU darüber verständigen, wie ein Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie zwischen der EU und den Staaten Nordafrikas aussehen soll. Vizepräsident Eduard Oswald: Das wäre ein guter Schlusssatz gewesen. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir brauchen eine Euro-Mediterrane Mobilitätspartnerschaft mit Weitblick, die die Vergabe von Visa erleichtert, Bildungschancen ermöglicht und den Arbeitsmarkt gezielt für junge Menschen aus Nordafrika öffnet. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Wolfgang Götzer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen vergeht keine Woche, in der wir uns nicht mit den Umbrüchen in der arabischen Welt beschäftigen. Letzte Woche hatten wir im Auswärtigen Ausschuss eine sehr interessante Anhörung, die uns einmal mehr sehr deutlich gezeigt hat, wie unübersichtlich und differenziert die Lage in den einzelnen Länder in der Region ist. Nach wie vor ist unklar, wohin sich die einzelnen Länder entwickeln. Nur in Tunesien und Ägypten hat bisher ein Machtwechsel, eine Entmachtung der alten Regime stattgefunden. Was am Ende des Prozesses in beiden Ländern steht - etwa eine rechtsstaatliche Demokratie -, ist noch offen. In den übrigen Ländern ist nur eines klar und den Aufständischen gemeinsam, nämlich die Forderung nach besserer Zukunftsperspektive und einer Entmachtung der alten Regime. Deshalb glaube ich, dass es noch zu früh ist, eine umfassende Neuausrichtung unserer Politik gegenüber der arabischen Welt zu konzipieren, wie es in dem Antrag der SPD anklingt. Sie verwenden in der Überschrift das Wort "Neubeginn". Wie gesagt, ich halte das für verfrüht und vor allem auch für etwas vollmundig - wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben. (Günter Gloser [SPD]: Ist erlaubt!) Im Moment ist wichtig - das haben wir, die Koalitionsfraktionen, in dem Antrag zum Ausdruck gebracht, der am 24. März beschlossen wurde -: Wir unterstützen den demokratischen Wandel in der arabischen Welt. Wir tun dies zum einen, weil die Menschen dort ein Recht auf ein Leben in Freiheit und in Würde haben, und zum anderen, weil es auch in unserem Interesse liegt, dass in diesen Ländern Rechtsstaatlichkeit herrscht und sich Wohlstand entwickelt. Denn diese Region ist von strategischer Bedeutung für unsere innere und äußere Sicherheit. Wir brauchen also die Unterstützung des Transformationsprozesses durch uns und durch alle EU-Staaten - das ist eine gesamteuropäische Aufgabe -, aber auch die Klarstellung, dass die Eigenverantwortung der Länder in der arabischen Region entscheidend ist. Wohin der Weg wirklich führt, können wir nicht beeinflussen. Wir leisten nicht nur beim Aufbau von Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit humanitäre Hilfe. Wir schaffen auch Zukunftsperspektiven für die Menschen, vor allem für die jungen Menschen in der Region. Herr Kollege Gloser, ich rede von Hilfe vor Ort und nicht in Europa. Diese kommt in Ihrem Antrag leider nicht zum Ausdruck. (Beifall bei der CDU/CSU - Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum das denn nicht? Das ist doch Quatsch!) Wir brauchen Arbeitsplätze in den Heimatländern und nicht in der Europäischen Union. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen die Amerikaner demnächst auch: Lassen Sie doch die deutschen Studenten an deutschen Unis studieren!) Die Maßnahmen zur Hilfe und Förderung des Transformationsprozesses müssen nach Spielregeln von Good Governance erfolgen. Wir haben keinen Zweifel daran, dass die bisherige europäische Nachbarschaftspolitik bezüglich der südlichen Nachbarn der EU hinter der strategischen Zielsetzung zurückgeblieben ist. Das gilt auch für die Mittelmeerunion. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie doch vergessen!) Da muss sich einiges verbessern. Es muss sich aber auch in bilateraler Hinsicht mehr tun. Denn es ist erfahrungsgemäß nicht leicht, alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union in dieser Frage auf eine Linie zu bekommen. Da die Formulierung in Ihrem Antrag nicht eindeutig und daher missverständlich ist, möchte ich noch eine Klarstellung anbringen: Es gibt keine EU-Beitrittsperspektive für die Länder Nordafrikas. Ich weiß nicht, ob Sie das mit Ihrem Antrag verklausuliert gemeint haben. Wir stellen das jetzt jedenfalls klar. Abschließend ein letztes Wort zur Flüchtlingsfrage: (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: "Abschottungsfrage" meinen Sie!) Es ist in den letzten Tagen viel von der eingeforderten Solidarität Deutschlands die Rede. Wir zeigen durch die Aufnahme von Flüchtlingen, die beispielsweise in Malta angekommen sind, dass wir solidarisch sind. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 100!) Wenn etwas unsolidarisch ist, dann ist es das Verhalten Italiens. Herr Kollege Gloser, Ihre Aufforderung im SPD-Antrag zu solidarischem Verhalten ist nicht an die Bundesregierung zu richten, sondern an Italien. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Günter Gloser [SPD]: An die EU!) - Sie fordern aber die Bundesregierung auf; den Antrag habe ich gelesen. Dass Italien die rund 25 000 Flüchtlinge aufnehmen soll, ist gerecht unter dem Gesichtspunkt der fairen Lastenverteilung. Die Zahlen der Asylbewerberzugänge zeigen, dass im Jahr 2010 auf Deutschland mehr als 40 000 und auf Italien 6 500 Asylbewerber entfallen sind. Deutschland hat allein infolge des Balkan-Krieges etwa zwanzigmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie jetzt Italien. Da kann man weiß Gott nicht von unsolidarischem Verhalten Deutschlands sprechen, vielmehr von dem Italiens. (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber es ist eine faire Lastenverteilung, wenn wir 100 nehmen?) Ich möchte an dieser Stelle - damit möchte ich schließen - dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich für seine klare Haltung in dieser Frage ausdrücklich danken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Holmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, Michael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Strategie der Europäischen Union für den Donauraum effizient gestalten - Drucksache 17/5495 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das ebenfalls so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Karl Holmeier für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktionen zur Strategie der Europäischen Union für den Donauraum. Was ist das eigentlich? Wozu ist diese Strategie notwendig? Und warum brauchen wir dazu einen Antrag? Am 8. Dezember 2010 hat die EU-Kommission einen Vorschlag für die Donauraumstrategie vorgestellt, und zwar in Form einer 16-seitigen Mitteilung sowie eines 89 Seiten umfassenden Aktionsplans. Die Donaustrategie ist die zweite makroregionale Strategie der Europäischen Union und befasst sich mit der Zukunft einer Region, die fast 115 Millionen Einwohner zählt und von der Fläche etwa ein Fünftel der Europäischen Union ausmacht. Sie umfasst acht EU-Mitgliedstaaten und sechs Nichtmitgliedstaaten. Die Donaustrategie ist nach dem Vorbild der Ostseestrategie eine Initiative zur nachhaltigen Entwicklung des Donauraums durch eine bessere Koordinierung der Mitgliedstaaten in verschiedenen Politikbereichen und vor allem durch eine verbesserte grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Wir sind daher als nationale Parlamentarier gefordert, uns zu dieser umfangreichen Strategie zu positionieren. Ich freue mich, dass ich Ihnen heute diesen Antrag der Koalitionsfraktionen vorstellen darf. Aus unserer Sicht müssen bei der Verabschiedung der Strategie folgende Punkte dringend beachtet werden: An oberster Stelle steht dabei die strikte Einhaltung der sogenannten drei Neins; das heißt, es darf keine neuen Institutionen geben, keine neuen Rechtsetzungsakte und vor allem keine zusätzlichen Finanzmittel. Mindestens ebenso wichtig wie die Einhaltung der drei Neins ist die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips. In unserem Antrag machen wir daher klar, dass die Donaustrategie nicht in Bereiche hineinragen darf, die genauso gut auf nationaler Ebene geregelt werden können. Vielmehr muss sie sich auf Handlungsfelder konzentrieren, in denen ein echter Mehrwert - ich betone: ein echter Mehrwert - für den Donauraum erzielt werden kann. Hierzu gehört beispielsweise die dringend notwendige Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur, sowohl im Bereich Schiene als auch in den Bereichen Straße und Wasserstraße, sowie die Vernetzung dieser Verkehrsträger. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Spatz [FDP]) Besonders die Stärkung des grenzüberschreitenden Güterverkehrs ist für die wirtschaftliche Entwicklung des Donauraums von enormer Bedeutung. Neben dem Güterverkehr darf aber auch der Personenverkehr nicht vernachlässigt werden. Ich begrüße daher ausdrücklich den Vorschlag der Europäischen Kommission, die Reisezeiten im Personenverkehr zwischen Großstädten zu verkürzen. Auch hier haben wir einiges nachzuholen. So gibt es beispielsweise leider immer noch keine attraktive Bahnverbindung zwischen den europäischen Metropolen München und Prag. Beide Städte liegen im direkten Einzugsbereich der Donau. Beide Städte haben eine herausragende europäische Bedeutung, sind aber nur sehr unzureichend miteinander vernetzt. Im Rahmen eines neuen transeuropäischen Verkehrs-projekts von Prag über die Donaustadt Regensburg über München bis zur Adriaküste könnte diese Lücke im europäischen Netz geschlossen werden. Weitere Handlungsfelder der Donaustrategie sind unter anderem die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung, die Förderung von Austauschprogrammen vor allem im Bereich der Berufsausbildung, die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen, die Stärkung des interkulturellen Dialogs zwischen jungen Menschen und die Unterstützung von Austauschprogrammen für Studenten und Wissenschaftler. Meine Damen und Herren, kürzlich hat der Europaausschuss eine Delegationsreise nach Ungarn unternommen. Ich darf Ihnen berichten, dass zum Beispiel bei der deutschsprachigen Andrassy-Universität in Budapest das Vorhaben auf Gründung eines Donaujugendwerks nach dem Vorbild des Deutsch-Französischen und des Deutsch-Polnischen Jugendwerks vorgestellt wurde. Außerdem plant die Universität die Etablierung eines neuen Donaustudiengangs. Diese Projekte finden sich in der Donaustrategie wieder und leisten auf diese Weise einen bedeutenden Mehrwert für die europäische Integration und den Zusammenhalt im Donauraum. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein kleiner Beitrag konnte aufgrund dieser Reise zwischenzeitlich geleistet werden: Die Studenten baten damals um ein Abonnement von deutschen Zeitungen. Ich danke der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die sich bereit erklärt hat, die Kosten der Abos für die Universität zu übernehmen. Abschließend möchte ich auf zwei Punkte eingehen, die aus meiner Sicht im Vorschlag der Europäischen Kommission zur Donaustrategie zu kurz kommen: die Entwicklung des ländlichen Raums und die Stärkung der Landwirtschaft. Der Donauraum ist maßgeblich ländlich geprägt. Viele Vorhaben der Donaustrategie haben daher indirekt mit der Förderung ländlicher Regionen zu tun. Die Stärkung und Entwicklung des ländlichen Raums als Ziel sucht man in der Strategie der Europäischen Union jedoch vergebens. Aus meiner Sicht ist es unerlässlich, einen eigenen Schwerpunktbereich zum ländlichen Raum aufzunehmen, der sich mit allen für den ländlichen Raum typischen Belangen befasst. (Beifall bei der CDU/CSU) Gleiches gilt für die Landwirtschaft als ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im ländlichen Raum. Hier erwarten die Koalitionsfraktionen eine stärkere Gewichtung. An der Themenbreite der Donaustrategie sehen Sie, wie wichtig die Auseinandersetzung und die Befassung des Deutschen Bundestages mit diesem Thema ist. Ich konnte bei weitem nicht alle Themen aufgreifen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Schade!) Dafür hätte ich nicht 7, sondern 70 Minuten gebraucht. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Um Gottes willen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Wir haben Verständnis dafür, dass Sie das nicht beantragt haben, Herr Kollege. (Heiterkeit) Karl Holmeier (CDU/CSU): Ich danke allen, die an der Einbringung dieses umfassenden Antrags beteiligt waren, für ihre Unterstützung. Ich bitte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, den Prozess bis zur endgültigen Verabschiedung der Donaustrategie beim Europäischen Rat im Juni dieses Jahres kritisch und konstruktiv zu begleiten und unserem Antrag zur Strategie für den Donauraum zuzustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Wir haben zu danken, Kollege Karl Holmeier. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dietmar Nietan. Bitte schön, Herr Kollege. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dietmar Nietan (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die Strategie für den Donauraum für diese Makroregion eine große Chance bedeuten kann. Ich sage ausdrücklich "bedeuten kann", weil ich glaube, dass diese Strategie der Europäischen Union noch präzisiert werden muss. Ich glaube, dass sie konsistent in andere Politiken eingebaut werden muss, damit sie ihre Wirkung entfalten kann. Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir heute im Parlament darüber diskutieren; denn das ist eine wichtige Strategie, die ein großes Entwicklungspotenzial in sich birgt. Ich halte es auch für richtig, dass im Koalitionsantrag gefordert wird, dass die Entwicklungspotenziale, die in dieser Makroregion schlummern, gehoben werden. Allerdings möchte ich auch dies betonen: Ob uns das am Ende des Tages gelingt, hängt nicht allein davon ab, wie die Donaustrategie formuliert ist - in dem Aktionsplan finden wir teilweise sehr gute und konkrete Projekte -, sondern das hängt am Ende auch davon ab, wie mutig die Europäische Union und damit wir alle sind, wenn es darum geht, auf wichtigen, großen Politikfeldern der EU Reformen vorzunehmen. Das ist erforderlich, damit die Donaustrategie eingebunden in andere Politiken und Strategien eine Chance hat. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Nachbarschaftspolitik, die Gemeinsame Agrarpolitik, die Kohäsionspolitik und letztlich auch die Frage der zukünftigen Haushaltsgestaltung. Die Entwicklung in diesen Politikfeldern darf man nicht getrennt sehen von dem, was wir gemeinsam an positiver Entwicklung für den Donauraum erreichen wollen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]) Ich finde es hervorragend, dass sich die Donaustrategie, die nach ihrer derzeitigen Ausgestaltung 14 Staaten umfasst, nicht nur auf EU-Mitgliedstaaten und direkte Anrainer der Donau bezieht, sondern auch Länder berücksichtigt, die nicht oder noch nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Ich finde es auch sehr gut, dass in dem Antrag von CDU/CSU und FDP ausdrücklich unterstrichen wird, dass die Expertise nichtstaatlicher Akteure eine große Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung der Donaustrategie spielen soll. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass an der einen oder anderen Stelle des Antrags der Koalitionsfraktionen noch etwas stärker herausgearbeitet worden wäre - das steht ohne Zweifel drin -, dass im Zusammenhang mit den nichtstaatlichen Akteuren nicht nur die Unternehmensverbände und IHKs eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch die Zivilgesellschaft (Beifall bei der SPD) und die Donaustrategie daher in der Zivilgesellschaft verankert sein muss und sie den Austausch und die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften im Donauraum fördern muss. Ich möchte deshalb ausdrücklich betonen, dass ich es für eine hervorragende Idee halte, ein Donaujugendwerk zu installieren. Das ist, glaube ich, genau der richtige Weg, um gerade auch die nächste Generation für dieses Projekt zu begeistern und dazu zu befähigen, in der Region eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu betreiben. Abseits der Frage, wie man ein solches Jugendwerk am Ende institutionalisiert, halte ich es für wichtig, dass man sehr schnell damit beginnt, dieses Jugendwerk zu gründen und es mit Leben zu füllen. Denn das wäre, glaube ich, ein Symbol für die nach vorne gerichtete Donaustrategie. (Beifall bei der SPD) Eine entscheidende Frage, die sich mir stellt, ist natürlich: Wie gelingt es uns, der gesamten Makroregion mit der Donaustrategie eine gute Perspektive zu geben? Wie kann man einen Mehrwert für eine nachhaltige Entwicklung in der Region schaffen? Ich möchte noch einmal aufgreifen, was ich gerade schon angeführt habe. Ich glaube, nur wenn sich die europäische Donaustrategie konsistent in eine Weiterentwicklung wichtiger EU-Politikfelder einfügt, wird sie am Ende erfolgreich sein. Deshalb müssen wir uns die Fragen stellen - das ist ein Punkt, der in diesem Antrag zu kurz kommt; über diesen Punkt müssen wir sicherlich über diesen Antrag hinaus auch hier im Parlament weiter ringen -: Welche Initiativen werden aus Deutschland kommen, um die Kohäsionspolitik, die Strukturpolitik weiterzuentwickeln, die Rolle der Regionen zu stärken und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit neuen zielführenden Instrumenten zu bestücken, nicht nur die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen EU-Mitgliedstaaten, sondern gerade auch zwischen EU-Mitgliedstaaten und Nicht-EU-Mitgliedstaaten? Welche Ziele geben wir der Kohäsionspolitik in Zukunft? Wie präzisieren wir die Instrumente? Wie statten wir sie mit Mitteln aus? Ich glaube, nur wenn sich die Kohäsionspolitik weiterentwickelt, wird es einen Rahmen geben, in dem sich die Donaustrategie erfolgreich entfalten kann. Ebenfalls zu Recht betonen die Koalitionsfraktionen, dass die Entwicklung im ländlichen Raum ein ganz entscheidender Punkt ist. Aber wenn man das so betont, wird man nicht um folgende Fragen herumkommen: Wie werden wir uns als Bundesrepublik Deutschland in die Diskussion über die grundsätzlich notwendigen Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik einbringen? Wie schaffen wir es, noch stärker als bisher von den direkten Subventionen hin zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum zu kommen? Ebenfalls geht es darum - darauf wird rekurriert -, das Ganze in die EU-Strategie 2020 einzubinden. Aber das kann nur gelingen, wenn die EU-Strategie 2020 nicht allein auf Wettbewerbsfähigkeit achtet, sondern auch Wohlstand und Prosperität für die gesamte Region und nicht nur für die EU-Mitgliedstaaten beinhaltet. Ich habe den Finanzrahmen angesprochen. Wir werden sicherlich auch darüber diskutieren müssen, wie die einzelnen Politiken im Finanzrahmen von 2014 bis 2020 neu strukturiert werden, damit die benötigten Mittel mit entsprechenden Prioritäten versehen zur Verfügung gestellt werden können. Zum Schluss erlauben Sie mir noch den Hinweis auf zwei Politiken, die ich bisher nicht genannt habe, aber jetzt noch einmal betonen möchte. Wir haben mit der Donaustrategie den großen Vorteil, dass wir damit zum Beispiel auch die Staaten des sogenannten Westbalkans ansprechen. Ich glaube, die Donaustrategie ist am Ende nur glaubwürdig, wenn wir in der europäischen Erweiterungspolitik deutlich machen, dass die Perspektive der EU-Erweiterung für diese Staaten weiterhin besteht, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Link [Heilbronn] [FDP]) dass nach Kroatien nicht Schluss ist, sondern dass wir uns ernsthaft darum bemühen, diesen Staaten diese Perspektive zu geben. Ich glaube, wenn das konsistent der Fall ist, ist auch die Donaustrategie für diese Staaten eine glaubwürdige Strategie, eine Strategie, in die sie sich sicherlich gerne einbringen werden. Wir werden nicht nur im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Nordafrika - darüber haben wir hier im Plenum ja gerade eine Diskussion geführt -, sondern auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der Republik Moldau, in der Ukraine und in Belarus darüber diskutieren müssen, wie wir die europäische Nachbarschaftspolitik so reformieren, dass sie sich entfaltet und zu Stabilität, Prosperität und Entwicklungschancen für die Menschen in den Nachbarstaaten führen kann. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt: Haben wir den Mut, diese wichtigen EU-Politiken über die Donaustrategie hinaus so zu reformieren, dass sie den Menschen dienen? Ich glaube, nur wenn wir beides tun, wird die Donaustrategie Erfolg haben. Das sollten wir uns alle gemeinsam wünschen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Dietmar Nietan. - Jetzt spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Joachim Spatz. Bitte schön, Kollege Spatz. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde verschiedentlich schon gesagt: Der alte Kulturraum Balkan/Donau ist ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Geschichte und der europäischen Zukunft. Deshalb ist es wichtig und folgerichtig, dass sich die Europäische Union um diesem Raum ähnlich wie um den Ostseeraum, der auch eine gewachsene Kulturregion ist, kümmert. Eines möchte ich gleich zu Beginn betonen - auch der Kollege Nietan hat dies angesprochen -: Natürlich ist diese Strategie nur glaubwürdig, wenn auch der Westbalkan eine Perspektive innerhalb der Europäischen Union hat. Allerdings glaube ich, dass daran niemand in diesem Hause zweifelt. Entschlossene Schritte in diese Richtung gehen wir jedenfalls. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde es richtig und wichtig, dass sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten dieser Aufgabe stellen. Dabei will man keine neue Institution schaffen, keine neuen, zusätzlichen Mittel rekrutieren und ohne neue Rechtsetzungsakte auskommen. Das heißt, man stellt sich dieser Aufgabe, ohne sofort nach dem Füllhorn der zentralen Umverteilung zu rufen. Das ist in Zeiten wie diesen, in denen wir über Stabilisierungsmechanismen und Ähnliches diskutieren, ein bemerkenswerter und unterstützenswerter Vorgang. Auch dies sei betont. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) An der Strategie für den Donauraum sind nicht nur EU-Mitgliedstaaten, sondern auch sechs Nichtmitgliedstaaten beteiligt. Dies zeigt ganz deutlich, dass Europa in der Lage ist, über seine Grenzen hinaus zu denken und die Anrainerstaaten an der ökonomischen Prosperität, die diese Region durch die engere Kooperation mit der EU erfahren wird, teilhaben lassen will. Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Prinzip der Subsidiarität auch hier gelten soll. Dies hat zur Folge, dass Bundesländer wie Baden-Württemberg und Bayern die Expertise, die sie bei diesem Thema seit vielen Jahren haben, einbringen können. Vier Säulen sind wichtig: die Anbindung des Donauraums an den zentraleuropäischen Raum, der Umweltschutz im Donauraum - auch dies ist ein wichtiges Thema -, der Aufbau von Wohlstand und die Stärkung der inneren Sicherheit, Stichwort "Bekämpfung organisierter Kriminalität"; dies ist besonders wichtig, wenn man die Aufnahme der Staaten des Westbalkans in die EU weiter vorantreiben will. Diese vier Säulen sind Kernbestandteile der Strategie. Ein zentraler Punkt ist die Befähigung der Länder des Westbalkans zur Wettbewerbsfähigkeit. Es sei daran erinnert: Das ist kein Nebenkriegsschauplatz, Herr Kollege Nietan, sondern ein Hauptkriegsschauplatz. Denken Sie nur an die Diskussionen, die wir in Bezug auf andere Länder der Euro-Zone führen. Ich denke, eine zentrale Weichenstellung für die nächsten Jahre besteht darin, die Länder des Donauraums zu befähigen, aufgrund eigener wettbewerbsfähiger Strukturen wirtschaftlichen Anschluss an Zentraleuropa zu finden. Am Ende der Reise sollte natürlich ihre Mitwirkung an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion stehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wurde bereits angesprochen. Der wesentlichste Punkt ist meiner Meinung nach allerdings der Ausbau der Infrastruktur beim Energietransfer. Wenn der Donauraum im Hinblick auf den Austausch von Strom, Gas und anderen Energieträgern an Zentraleuropa gut angebunden wird, ist zu erwarten, dass sich dort eine vernünftige Infrastruktur entwickelt. Auch für diesen Raum wird es unumgänglich sein, seine Energiewirtschaft umzustellen. Das Jugendwerk und der Austausch von Studierenden wurden bereits angesprochen. In diesem Bereich kann man bereits den ersten greifbaren Erfolg vermelden: Schon bevor die Strategie zu Papier gebracht wird, wurden entsprechende Aktivitäten eingeleitet. So wird die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, morgen in Budapest den Partnerschaftsvertrag zwischen Bayern, Baden-Württemberg, der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Andrassy-Universität in Budapest unterzeichnen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschsprachig! Sie diskriminieren sonst die Schweiz und das Tessin!) - Ja, es ist eine deutschsprachige Universität in Budapest. Ich finde, dass wir im Übrigen - vielleicht weil wir am Rande dieser Region liegen - nicht unterschätzen sollten, für wie wichtig die betreffenden Länder diese Strategie halten. Es ist ein wichtiges Zeichen für die europäische Integration, dass wir die partnerschaftliche Hand in fairer Art und Weise ausstrecken. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. - Als Nächster hat unser Kollege Dr. Diether Dehm das Wort. Bitte schön, Kollege Diether Dehm, für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Donaustrategie bzw. das, was die Kommission da will, stellt wirtschafts- und verkehrspolitische Ziele über den Erhalt von Ökosystemen und verschärft außerdem die vorhandenen sozioökonomischen Gegensätze zwischen den acht EU-Staaten und den sechs Donauanrainern weiter. Der Koalitionsvertrag fällt noch hinter den Vorschlag der Kommission zurück. Bis 2020 sollen die Kapazitäten für den Güterschiffsverkehr verdoppelt werden. Dazu sollen bestehende Engpässe für die Schifffahrt beseitigt werden. Die Donau soll ganzjährig für große Binnenschiffe mit einem Tiefgang von bis zu 2,50 Metern schiffbar sein. Das bedeutet Flussbegradigung, Vertiefung von Fahrrinnen und Aufstauungen. Die Engpässe, die da einbetoniert werden sollen, sind aber auch Auenlandschaften. Wir halten Güterschiffe durchaus für eine zukunftsfähige Verkehrsform. Sie sollte aber kein Bauplan für ein soziales und ökologisches Desaster sein. (Beifall bei der LINKEN) Die Umweltziele bleiben unkonkret. Aber es gibt bereits eine konkrete Finanzierung für NAIADES und die TEN-Projekte bzw. für den Straßen- und Schienenverkehr. Bayern plant so den Donauausbau mit Staustufen im einzig unverbauten Abschnitt zwischen Straubing und Vilshofen. Die Linke ist dagegen und steht an der Seite der Umweltinitiativen vor Ort. (Beifall bei der LINKEN) In Mittel- und Südosteuropa ist die Wirtschaft noch stärker eingebrochen als sonst in Europa. Das gilt besonders für Ungarn und Rumänien, die im Gegenzug für IWF-Kredite brutale Verarmungsprogramme einleiten mussten. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche rechnet zwar ab diesem Jahr mit Wachstumsraten von durchschnittlich 3 Prozent, unterstreicht aber, dass diese Staaten fünf bis sieben Jahre an sozioökonomischer Entwicklung verloren haben. Wie sollen mit den brutalen Sparprogrammen der Europa-2020-Strategie, auf die die Kommission als Ausweg verweist, Bildung und Beschäftigung ausgebaut werden? Die Kommission veranschlagt die Gesamtkosten der Donaustrategie auf rund 100 Milliarden Euro, die 2014 bis 2020 durch Einschnitte im Kohäsionsfonds, beim Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und beim Sozialfonds aufgebracht werden sollen. Der Förderfokus wird weiter auf Privatisierung und Wettbewerbsfähigkeit zulasten von nötigen sozialen Ausgleichsprogrammen eingeengt. Monopolkapitalistische EU-Politik beantwortet nirgendwo die Frage: Wie sind Wirtschafts- und Binnennachfrage anzukurbeln, wenn man sie gleichzeitig - an der Donau, in Griechenland, Portugal und letztlich auch in Deutschland - kaputtkürzt? (Zuruf von der CDU/CSU: Seit wann fließt die Donau in Kuba?) - Ich habe schon intelligentere Zwischenrufe gehört. - So profitieren von diesem gigantischen Infrastrukturprogramm in erster Linie Konzerne und Großbanken aus Kerneuropa - besonders deutsche und österreichische -, die die Märkte bereits beherrschen. Eine nachhaltige soziale und ökologische Integration der Region kann nur mit der von Gewerkschaften und uns geforderten sozialen Fortschrittsklausel sowie der grundlegenden Revision der Lissabon-Verträge erreicht werden. (Beifall bei der LINKEN) Die EU muss ihre Grundrichtung komplett ändern, sozial und ökologisch werden und nicht nur in der Donauregion endlich zu den Menschen kommen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Dehm. - Jetzt spricht als Nächste auf unserer Rednerliste für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Viola von Cramon-Taubadel. Bitte schön, Sie sind erneut im Einsatz. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Donau verbindet. Sie verbindet EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland mit EU-Anwärtern wie Kroatien und mit den Ländern der EU-Nachbarschaftspolitik, der Ukraine und Moldau. Es ist daher folgerichtig - wir unterstützen das sehr -, dass die EU-Kommission eine gemeinsame Strategie für diese Region entworfen hat. Ich glaube, schon gestern haben die EU-Außenminister genau diese Strategie beschlossen. Aber vielleicht haben Sie eben über eine andere Vereinbarung gesprochen, Herr Spatz. (Joachim Spatz [FDP]: Das war in der Tat eine andere Vereinbarung!) Die Umsetzung soll nun schnell beginnen, damit die Lebensqualität der etwa 115 Millionen Menschen in diesem Gebiet, wie Sie auch geschrieben haben, langfristig verbessert werden kann. Was haben wir uns nun unter dieser Donaustrategie vorzustellen? Es heißt dort: Eine dynamische Donauregion unter Beachtung des Naturschutzes und der Biodiversität soll gefördert werden. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das muss Ihnen doch gefallen!) Dafür hat die EU-Kommission selbstverständlich die volle Unterstützung von uns Grünen. (Joachim Spatz [FDP]: Da hättet ihr applaudieren müssen!) Weiterhin wird betont, für die Strategie keine neuen EU-Gelder zu erheben, keine neuen EU-Vorschriften zu erlassen und keine neuen EU-Strukturen zu schaffen. Vielmehr soll es zu einer verstärkten regionalen Kooperation kommen. Auch diesen Ansatz unterstützen wir. Es gibt allerdings einen Knackpunkt, auf den ich Sie gerne hinweisen möchte. Das Hauptproblem der Donaustrategie liegt - Herr Dehm hat das eben schon angesprochen - in den eklatanten Widersprüchen, also in einem Zielkonflikt. So soll auf der einen Seite die Donau schiffbarer gemacht werden. Die Zielvorgabe lautet, den Frachtverkehr bis 2020 um mindestens 20 Prozent zu steigern. Damit verbunden sind die geplanten Begradigungen und Staustufen, um den flachen Fluss für die großen Frachtkähne befahrbar zu machen. Gleichzeitig - ich denke, das liegt uns Grünen wirklich besonders am Herzen - soll das Erreichen des anderen Ziels, die Biodiversität, gefördert werden. Wer sich einmal die Statistiken anschaut und sieht, wie viele Arten täglich verloren gehen, der oder die weiß, wie wichtig die Erreichung genau dieses Ziels nicht nur für das Donaugebiet, sondern für den gesamten europäischen Kontinent ist. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!) - Ich meine das ernst. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Gut, dass Sie das dazusagen!) Die Natur im Donaugebiet ist ein besonders schützenswerter und einmaliger Naturraum hier in Europa (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) - das wissen Sie aus Bayern wahrscheinlich noch besser als ich -; denn mehr als 300 Vogelarten leben hier, und viele von ihnen sind sehr selten. Nun zurück zur Schlüsselfrage, wie dieser Zielkonflikt zu überwinden ist. Sogar die Bundeskanzlerin hat in einem Statement genau diese Herausforderung als das Spannungsfeld der Strategie ausgemacht: Wie lassen sich Naturschutz und Gütertransport auf dem Fluss vereinbaren? Antworten darauf, wie dieses Spannungsverhältnis aufzulösen ist, finden wir in Ihrem Antrag keine. Das ist das Bedauerliche, weswegen wir uns am Ende auch enthalten werden. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Oh! Das ist ja überraschend!) Sie sagen nur, was nicht geschehen darf, bieten in Ihrem Antrag allerdings keine Lösungsvorschläge an. Für uns Grüne ist klar: Ein Schutz des Donauraums über die Grenzen der 14 Anrainerstaaten hinweg ist dringend nötig. Aber eine Flussbegradigung und Staustufen sind unnötige Eingriffe. Vielmehr sollten wir darin investieren, die Schiffe dem Fluss anzupassen - nicht umgekehrt. Ingenieure werden Ihnen sagen, dass es durchaus möglich ist, Schiffe so zu konstruieren, dass die gleichen Lasten getragen werden können und die Donau dennoch in ihrem ursprünglichen, natürlichen Zustand befahren werden kann. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass sich die deutsche Delegation beim Treffen des Rates der Europäischen Union am 8. April gegen die Beseitigung der Engpässe der Donau ausgesprochen hat. Sie sehen: Ab und zu erkennen wir es sogar an, wenn sich die Regierung richtig verhält. Der Schutz der Umwelt muss aus unserer Sicht Priorität behalten. Nur wenn der Umweltschutz gelingt, werden auch die anderen Ziele der Strategie erreicht. Am Ende komme ich nun zu den großen Chancen der Strategie. Die größte Chance liegt für uns im nachhaltigen, grenzüberschreitenden Tourismus. Das ist ein Projekt mit großer Priorität. Als eine wichtige Voraussetzung genau hierfür - damit komme ich wieder auf den Naturschutz zurück - muss es eben eine Verbesserung des Naturschutzes und vor allem auch eine Verbesserung der Wasserqualität geben. Die biologische und kulturelle Vielfalt des Donauraums bietet ein enormes Potenzial und hat eben auch eine existenzielle Bedeutung für den Ökotourismus. Nachhaltiger Tourismus kann maßgeblich - auch das wissen Sie - zur Wirtschaftsförderung beitragen. Natürliche und kulturelle Ressourcen werden geschützt, indem auf die umweltgerechte Gestaltung von touristischer Infrastruktur gesetzt wird. Genau darauf kommt es aus unserer Sicht in der Donauregion und in dieser Strategie an. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Wir haben zu danken. - Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Gunther Krichbaum für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Donau hat viele Gesichter: Für die einen ist sie eine Grenze, für die anderen eine lebensnotwendige Verkehrsader und für Dritte ohne jeden Zweifel auch ein tolles Naherholungsgebiet. Was die Grenze angeht - damit sind wir schon mittendrin -, wird ersichtlich, dass es letztlich darauf ankommt, was wir aus der Donau machen. Allein zwischen Bulgarien und Rumänien erstreckt sich der Grenzverlauf entlang der Donau über eine Länge von 380 Kilometern. Aber es gibt nur eine einzige Brücke. Schon daraus wird ersichtlich, dass diese beiden Länder so gut wie nichts miteinander zu tun haben. Sie haben weder ein gutes noch ein schlechtes Verhältnis zueinander; sie haben gar kein Verhältnis zueinander. Genau an dem Punkt kann die Donaustrategie ansetzen. Was die Verkehrskapazitäten angeht, muss sich in der nächsten Zeit in der Tat erheblich mehr tun. Dazu nur zwei Zahlen: Während sich der schiffbare Verlauf des Rheins über 700 Kilometer erstreckt, sind es auf der Donau immerhin 2 200 Kilometer. Was die Frachtgüter angeht, fällt aber auf, dass auf der Donau 60 Millionen bis 70 Millionen Tonnen im Jahr befördert werden, während es auf dem Rhein bei einem Drittel der Länge immerhin 350 Millionen Tonnen sind. Das entspricht einem Verhältnis von circa 1 zu 20. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rotterdam an die Donau!) Das bedeutet, dass es zum einen in den Anrainerstaaten unterschiedliche Voraussetzungen gibt und dass es zum anderen an schiffbaren Abschnitten fehlt. Deswegen werden wir langfristig nicht darum herumkommen, darüber zu diskutieren, inwieweit die Donau vertieft werden muss. Die Transportkapazitäten müssen schon deswegen ausgebaut werden, weil wir zunehmend auch im Straßenverkehr an unsere Kapazitätsgrenzen kommen. Unter anderem daran zeigt sich die Wichtigkeit. Die Donau ist auch Energieträger und Energiebringer. Das wird vor allem in Österreich deutlich. In Österreich hat die Donau auf ihrer Gesamtlänge ein Gefälle von circa 10 Metern. Das heißt, sie ist faktisch ein Gebirgsfluss. Das ermöglicht es, dass zahlreiche Wasserkraftwerke zur Deckung des Strombedarfs in Österreich beitragen. Auch hier gibt es Möglichkeiten des Ausbaus, nicht unbedingt entlang der Donau in Österreich, wohl aber bei den Zuflüssen. Das spielt für eine Energiestrategie in Europa eine zunehmend wichtige Rolle. Es gibt in der Tat sehr viele Facetten, bis hin zu der kulturellen Verbindung. Das ist der eigentlich Charme der Donauraumstrategie, die von Ländern wie Baden-Württemberg und Bayern entwickelt wurde. Die Initiative ging damals von der EU-Regionalkommissarin Danuta Hübner und dem damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger aus. Ich erwähne das deswegen, weil es zeigt, dass sehr wohl auch die Bundesländer dafür Sorge tragen können, dass aus solchen Ideen eines Tages eine gesamteuropäische Strategie entstehen kann. Die Bundesländer können sich in Europa durchaus aktiver einbringen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Donauraumstrategie hat aber - das haben manche Redner bereits erwähnt - ihren besonderen Charme darin, dass sie Nicht-EU-Länder mit EU-Ländern verbindet. Ja, es wäre deutlich zu kurz gesprungen, wenn man die Donauraumstrategie nur als ein Infrastrukturprojekt definieren würde. Sie muss eine Anstoßwirkung haben, als Katalysator wirken, insbesondere was die Erweiterungspolitik der Europäischen Union angeht. Länder wie die Republik Moldau und Serbien brauchen eine Perspektive in dieser Richtung. Für die Gesamtentwicklung solcher Länder ist dies unabdingbar. Diese Länder rücken näher zusammen. Das ist von unserer Seite zu begrüßen. Wir wollen deswegen die Donauraumstrategie dahin gehend fördern, dass sie ein Ansporn zur sogenannten Good Governance ist, dass sie eben die gute Regierungstätigkeit in den Ländern zu befördern hilft. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, es sollte nicht nur eine Binnenstrategie der Europäischen Union sein, sondern insbesondere auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Bürgerinnen und Bürger enger zusammenrücken und Städtepartnerschaften entstehen. Dazu ein letztes Beispiel. Wir stellen fest, dass Baden-Württemberg über 490 Städtepartnerschaften mit Frankreich hat, während Gesamtdeutschland mit Serbien gerade einmal drei Städtepartnerschaften hat. Auch das sollte uns zu denken geben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Gunther Krichbaum. - Gunther Krichbaum war der letzte Redner in dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/5495 mit dem Titel "Strategie der Europäischen Union für den Donauraum effizient gestalten". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen - Drucksachen 17/1965, 17/4628 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Burkhard Lischka Harald Leibrecht Heike Hänsel Ute Koczy b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Afghanistan - Drucksachen 17/3866, 17/4629 - Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Johannes Pflug Patrick Kurth (Kyffhäuser) Wolfgang Gehrcke Dr. Frithjof Schmidt Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2 - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Namen der Redner liegt dem Präsidium vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 a. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4628, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1965 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 b. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4629, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3866 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Bündnis 90/ Die Grünen. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz - HolzSiG) - Drucksache 17/5261 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) - Drucksache 17/5498 - Berichterstattung: Abgeordnete Alois Gerig Petra Crone Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.3 - Alle Kolleginnen und Kollegen sind einverstanden, wie ich sehe. Die Liste der Namen der Redner liegt uns vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5498, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5261 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Keiner. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln - Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern - Drucksache 17/5475 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen.4 - Sie sind alle einverstanden. Die Liste der Namen der Redner liegt uns vor. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5475 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Illegale Landnahme verhindern, Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in Entwicklungsländern sichern - Drucksache 17/5488 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden - Drucksache 17/4533 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor. Helmut Heiderich (CDU/CSU): In den vergangenen drei Jahren haben Investoren aus Industrie- und Schwellenländern in Afrika rund 20 Millionen Hektar Ackerland gepachtet bzw. gekauft. Diese Landnahme, auch "Land Grabbing" oder "Offshore Farming" genannt, ist gerade in Afrika besonders ausgeprägt, da dort sowohl ausreichend landwirtschaftliche Flächen als auch genügend preiswerte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Die Herkunft der zum Teil privaten, aber auch staatlichen Investoren ist so vielfältig wie ihre Beweggründe. Sie stammen zum Beispiel aus der arabischen Welt, die besonders mit Wasser- und Ackerlandmangel zu kämpfen hat, aber vor allem aus asiatischen Ländern, wie China und Indien, die ihrem rasanten Bevölkerungswachstum und dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise (um 15 Prozent zwischen 2007 und 2009) begegnen müssen. So kostet etwa Weizen international heute mit gut 330 Dollar pro Tonne über 50 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Auch die Spekulationen mit Nahrungsmitteln führen zu massiven Preissteigerungen, deren Raten von Wissenschaftlern auf 20 Prozent bis 40 Prozent eingeschätzt werden. Finanzinvestoren suchen verstärkt nach Anlagemöglichkeiten in vermeintlich sicheren und profitablen Sachwerten, und dazu gehören nicht nur Gold, sondern zum Beispiel auch Weizen, Mais, Soja und Zucker. Die steigende Nachfrage treibt die Preise in die Höhe - mit fatalen Folgen für arme Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern. Daneben macht sich der steigende Lebensstandard vieler Einwohner von Schwellenländern, die verstärkt höherwertige Nahrungsmittel wie Fleisch und Milch nachfragen, bemerkbar. Der daraus entstehende größere Bedarf an Getreide für Tierfutter lässt zusätzlich die Preise für Grundnahrungsmittel klettern. In der Tat kann eine ausländische Investition in Agrarflächen mit enormen Chancen für die einheimische Bevölkerung verbunden sein: Investitionen in die Landwirtschaft sowie der Einsatz moderner Technik können zu deutlichen Steigerungen der Nahrungsmittelproduktion führen. Außerdem können zusätzliche Einnahmen durch Verkaufserlöse, Pachterträge und Steuern erzielt werden; es können neue Märkte entstehen, und die Zahl der Beschäftigten kann deutlich ansteigen, wenn die Investition mit einer Strategie zur Armutsbekämpfung verbunden ist. Es gibt diese positiven Fälle, wie beispielsweise in Malawi, wo Tausende ortsansässige Arbeiter beschäftigt werden und ein Großteil der Wertschöpfung im Land verbleibt. Die Realität sieht aber oftmals anders aus: Tatsächlich finden Investitionen vor allem in den Ländern statt, in denen diktatorische und korrupte Regierungen herrschen. Es gibt Beispiele, wo bestechliche Beamte Landflächen als unfruchtbar eingestuft haben, nur um diese besser an ausländische Investoren verkaufen zu können. Andererseits lassen sich viele Länder auf diese Geschäfte ein, weil sie sich in den ländlichen Regionen Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und Verkehrsinfrastruktur erhoffen. Außerdem möchte man vom Know-how der ausländischen Fachkräfte profitieren. So kommt es häufig vor, dass Länder, die im besonderen Maße vom Hunger betroffen sind, Investoren gegenüber am großzügigsten mit ihrem Ackerland umgehen. Die betroffenen Kleinbauern werden dann aber bei der Landverteilung nicht berücksichtigt und damit oftmals zu Opfern von Vertreibung und Ausbeutung. In Äthiopien gibt es zum Beispiel kein Privateigentum an Land - alles Land gehört dem Staat. Die Regierung kann es so problemlos an Investoren vergeben. 3,6 Millionen Hektar - das entspricht der Größe Belgiens - hat Äthiopien für Investoren inzwischen bereitgestellt. Der "Tagesspiegel" berichtete am 3. April 2011 von enttäuschten äthiopischen Kleinbauern: "Als die Behörden ihnen das erste Mal von den ausländischen Investoren erzählten, hätten sie Strom, bessere Gesundheitsversorgung, Schulen, Straßen und Wasser versprochen, doch nichts davon sei gekommen. Stattdessen habe man ihnen das Land weggenommen, auf dem sie Sesam und Mais anbauten und auf denen ihr Vieh weidete." Nicolas Sarkozy hat das Problem der Rohstoffpreise und der Lebensmittelsicherheit zu einer Priorität der G 20 in diesem Jahr erklärt. Die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, neue Anbaumethoden und die Verbesserung bei Marktzugang und Infrastruktur sind Herausforderungen, denen sich jedes Land stellen muss, wenn es dauerhaft Hunger und Armut beseitigen möchte. Genau dies verfolgen wir mit unserem Antrag. Besserer Zugang der Bauern zu den Märkten kann dazu beitragen, die Effizienz der Lebensmittelversorgung zu steigern. Eine bessere staatliche Verwaltung ist Voraussetzung, damit Investitionsprogramme der einheimischen Bevölkerung zugutekommen. Eine verbesserte Infrastruktur für Lagerung und Transport kann hohe Verluste vermeiden. Deshalb müssen wir in Zukunft Verstöße gegen das Recht auf Besitz und Eigentum noch gezielter thematisieren, insbesondere im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wollen wir die Partnerländer noch stärker bei einer zukunftsorientierten Landbewirtschaftungspolitik unterstützen, um die Ernährung der Bevölkerung vor Ort und global zu verbessern und auch um das Klima und die Ressourcen für nachkommende Generationen zu schonen. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit und kaum funktionierende Institutionen, insbesondere in vielen afrikanischen Ländern, machen die Durchsetzung von Landrechten lokaler Gruppen jedoch oft schwierig, manch-mal sogar unmöglich. Daher wollen wir die Etablierung von Beschwerdemechanismen und die Stärkung bereits vorhandener Menschenrechtsinstitutionen vor Ort fördern. Vor dem Hintergrund des riesigen globalen Interesses an Land müssen wir so zu einer Stärkung von Good-Governance-Strukturen beitragen. Es kann doch nicht sein, dass internationale Investoren auf Kosten der einheimischen Bevölkerung Millionengewinne machen und wir parallel dazu als Industrieländer die Ausgaben bei der Nahrungsmittelhilfe andauernd drastisch erhöhen müssen. Die deutschen Auslandsvertretungen in den betreffenden Ländern müssen künftig noch stärker darauf hinwirken, dass Staaten, die über keine ausreichenden gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Eigentum verfügen, einen verbindlichen Rechtsrahmen schaffen. Im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit und des Rechtsstaatsdialogs wollen wir Unterstützung bei der Ausgestaltung dieses Gesetzgebungsprozesses - etwa in den Bereichen Immobiliarrecht, Sachenrecht, Grundbuch- und Katasterwesen, Staatshaftungsrecht oder Entschädigungsregelungen - geben. Um Korruption und Menschenrechtsverstöße zu verhindern, wollen wir bei der Gestaltung der Verträge von ausländischen Investoren mit Regierungen künftig darauf hinwirken, dass sie beim Verkauf oder der Verpachtung von Flächen die Belange der betroffenen ortsansässigen Bauern und die Risiken für die Umwelt berücksichtigen. Die Entwicklung und Stärkung der Zivilgesellschaft ist für uns von zentraler Bedeutung, ebenso wie die Aufklärung der Bevölkerung über ihre Rechte. Insbesondere Frauen soll Hilfestellung für die Bewirtschaftung von Eigentum und Besitz angeboten werden. Gemeinsam mit unseren EU-Partnern treten wir zudem bei den Vereinten Nationen für ein Zusatzprotokoll ein, das den Schutz des Eigentums vor unberechtigten Eingriffen durch private Dritte oder den Staat garantiert und angemessene Entschädigungen im Falle von Enteignungen vorschreibt. Wenn wir konsequent und mit langem Atem auf die Einhaltung dieser Standards drängen, stellen FDIs - Foreign Direct Investments - kein Risiko oder eine Bedrohung dar, sondern können eine wirkliche Chance für Entwicklungsländer und die Bekämpfung des Hungers in der Welt sein. Johannes Röring (CDU/CSU): Die Nutzung von Grund und Boden für die Erzeugung von Lebensmitteln stand schon 1992 bei der "Agenda 21"-Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro ganz oben auf der Tagesordnung. In Kapitel 14 der Agenda werden bedeutende Themen für die Zukunftsfähigkeit der Agrarwirtschaft besonders in Schwellen- und Entwicklungsländern genannt, darunter auch die Bodenordnung, Eigentumsfragen und die Bodenerhaltung. Aktuell sehen wir in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern einen zunehmenden Wettbewerb um die Nutzung von Grund und Boden. Grund dafür ist, dass wir eine stark wachsende Weltbevölkerung und die damit einhergehende gestiegene Nachfrage nach Rohstoffen erkennen. Wir sehen ein verändertes Konsumverhalten in den sich entwickelnden Regionen der Welt, besonders in Asien. Auch die Nachfrage nach Bioenergie sowie der Klimawandel, durch den immer mehr Flächen durch Erosion und Wüstenbildung unfruchtbar werden, sind Faktoren für diese Entwicklung. Wie dramatisch dieser Entwicklungszustand ist, zeigen die Nahrungsmittelkrisen der letzten Jahre und eine zunehmende Anzahl von hungernden Menschen auf der Welt. Eine Folge dieser Entwicklung, die je nach Bewertung entweder mit "Land Grabbing" oder "Direct Investment in Land" überschrieben wird, ist der Kauf oder die Anpachtung von Flächen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Wir sehen, besonders in Afrika, aber auch in Teilen Asiens, meist zwei Arten von Käufern von Landbesitz, die zu unterscheiden sind. Auf der einen Seite stehen Länder wie etwa Saudi-Arabien, China, Japan oder Südkorea, die vor allem daran interessiert sind, Nahrung für deren eigene Bevölkerung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu sichern. All diese Länder leiden unter einem Mangel an Wasser und fruchtbaren Ackerböden. Auf der anderen Seite sind jedoch auch vermehrt Privatkonzerne, Finanzinvestoren und Hedgefonds in das "Land Grabbing" eingestiegen. Diese Käufer kaufen Agrarland oftmals aufgrund der in den nächsten Jahren zu erwartenden Verknappung und erhoffen sich dadurch hohe Renditen durch ihre Investitionen. Wir sehen bei dieser Landnahme sowohl positive als auch negative Entwicklungen für die betroffenen Staaten, die wir in unserem Antrag ja auch ausführlich beschrieben haben. Allerdings sollten wir uns viel mehr die Frage stellen, warum diese Staaten ihre Flächen nicht selber nutzen. Die große Herausforderung von unserer Seite besteht nun eigentlich darin, Unterstützung anzubieten, damit insbesondere afrikanische Staaten in der Lage sind, die landwirtschaftliche Produktion in den eigenen Händen zu behalten. Eine Modernisierung und erhöhte Effektivität und Effizienz der ortsansässigen Landwirtschaft würden dabei helfen, "Land Grabbing" unattraktiv zu machen. Dabei denke ich insbesondere an Know-how-Transfer, Verbesserung von Anbaumethoden und Unterstützung bei der Ausbildung von Fachkräften. Dies würde die Unabhängigkeit von der Praxis des "Land Grabbing" ermöglichen. Die politische Umsetzung, hin zu einer erfolgreichen Landwirtschaft, hängt auch entscheidend von einer guten Regierungsführung ab, weshalb wir auch besonderes Augenmerk auf diesen Bereich legen. Mangelnde Rechtssicherheit im Bezug auf Besitzverhältnisse sehen wir als wichtigen Hinderungsgrund einer erfolgreichen Entwicklung der am wenigsten entwickelten Länder an. Die Bundesregierung setzt sich aktiv für den Aufbau von rechtsstaatlichen Normen in Ländern der Dritten Welt ein. Wir hoffen dadurch, unseren Partnerländern nicht nur die Möglichkeit zu eröffnen, die Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen, sondern auch das landwirtschaftliche Potenzial ihres Landes selbstständig nutzen zu können. Landwirtschaft ist ein Wirtschaftsfaktor, der auch und besonders in Afrika Wohlstand in ländlichen Räumen mehren kann. Denn perspektivisch müssen diese Länder die Vorteile von ihrem fruchtbaren Grund und Boden selber nutzen. Sie sollten zunächst in der Lage sein, sich selbst zu versorgen, um dann im nächsten Schritt Überschüsse zu produzieren, mit denen sie Handel treiben können, um so die wirtschaftliche Entwicklung, besonders in den ländlichen Gebieten, antreiben zu können. Durch die Zunahme von Investitionen in die Ressource Boden ergeben sich politische Handlungsfelder, die besonders auf den Gebieten der Land- und Wasserrechte, der sinnvollen Förderung und der notwendigen Investitionen in die Landwirtschaft und in den ländlichen Raum liegen. All diese Aspekte betonen wir in unserem Antrag. Wir wollen verantwortungsvoll getätigte und notwendige Investitionen in den Agrarsektor, bei denen die lokalen, nationalen Rechte und der Schutz der dort lebenden Menschen und der dort verfügbaren Ressourcen sichergestellt werden müssen. Wir wollen nicht, dass der Ackerboden in den Ländern der Dritten Welt Spekulationsobjekt ist. Das Ziel unserer Politik muss es sein, den Stellenwert der Landwirtschaft zu erhöhen und so den Menschen die Möglichkeit zu geben, Ernährungssicherheit zu gewährleisten und langfristig Strukturen aufzubauen, die Wohlstand ermöglichen. Dr. Sascha Raabe (SPD): Heute diskutieren wir zwei Anträge, die sich inhaltlich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen, im Wesenskern aber ein immer wieder auftretendes Phänomen aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. Es geht um Spekulationen, Spekulationen um landwirtschaftliches Nutzland und um Nahrungsmittel, die an den großen Warenterminbösen dieser Welt gehandelt werden. Gemein ist beiden Themenfeldern, dass die jeweiligen Spekulationen - sofern sie keinen Regelungen unterlegen sind und unkontrolliertes Ausmaß annehmen - verheerende Folgen für die Menschen in den Entwicklungsländern haben. Hieß es früher noch: "Mit Lebensmitteln spielt man nicht", müsste es heute heißen: "Mit Lebensmitteln spekuliert man nicht." Denn Hunger und Armut entstehen, weil an anderer Stelle mit dem Essen spekuliert wird. Im Februar 2011 erreichten die Lebensmittelpreise nach Angabe der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, UN Food and Agricultural Organisation, FAO, einen neuen Rekordhöchststand. Innerhalb eines Jahres schnellten die Preise für Grundlebensmittel wie Weizen mit 74 Prozent oder Mais mit sogar 87 Pro-zent unkontrolliert in die Höhe. Welche Auswirkungen diese Preisexplosionen für die Menschen in den Entwicklungsländern haben, lässt sich schnell beantworten, wenn man weiß, dass die meisten Menschen in den Entwicklungsländern bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen. Solche rasanten Preisentwicklungen sind dann fast nicht mehr zu stemmen und ziehen gravierende Folgen nach sich. Schon nach der enormen Preisexplosion im Frühjahr 2008 stellte die Weltbank fest, dass über 150 Millionen Menschen aufgrund der Preisentwicklungen der Grundnahrungsmittel unter die Armutsgrenze gefallen sind. Aber auch ein Einbruch wirtschaftlichen Wachstums verbunden mit Unruhen und politischen Turbulenzen resultieren aus dem mangelnden Zugang zu Lebensmitteln. Welche Auswirklungen der diesjährige erneute Preisanstieg haben wird, lässt sich schnell erahnen. Die Ursachen dieser Preisentwicklungen sind vielfältig. Zum einen führen die stetig wachsende Weltbevölkerung und die veränderten Ernährungsgewohnheiten - vorwiegend der steigende Fleischkonsum der Menschen in asiatischen Schwellenländern - zu einem erhöhten Lebensmittelbedarf. Zum anderen tragen der vermehrte Anbau von Bioenergieträgern, die durch Erosion und Versalzung für die Landwirtschaft unwirtschaftlich gewordenen Flächen und die zunehmenden Ernteausfälle, bedingt durch vom Klimawandel verursachte Naturkatastrophen, zu einer Verringerung der fruchtbaren Landflächen und Produktionsmengen von Nahrungsmitteln bei. Diese vorwiegend strukturellen Faktoren führen erstens zu einem erhöhten Bedarf an begrenzten Ressourcen wie Lebensmittel und pflanzliche Energieträger. Zweitens wird fruchtbares Land zu einem noch kostbareren Gut. Begehrte Güter rufen Spekulanten auf die Tagesordnung, die versuchen, sich am Bedarf knapper Güter zu bereichern. Leider ist das nicht nur an den Finanzmärkten der Fall, sondern auch an den zur Ermittlung des Preises für Grundnahrungsmittel zuständigen Warenterminbörsen. Viel wurde in den letzten Wochen und Monaten über Warenterminbörsen geredet, geschrieben und diskutiert und dabei versucht herauszufinden, welchen Anteil die Spekulationen in Bezug auf die hohe Volatilität der Preis-entwicklung haben. Hier teile ich die Meinung der Nichtregierungsorganisation Oxfam, die exzessiven Spekulationen mit Agrarrohstoffen seien für die extremen Preissprünge mitverantwortlich. Selbst die Weltbank geht in einem Papier von 2010 davon aus, dass Indexfonds einen wesentlichen Anteil an den Preisexplosionen haben. Grundsätzlich geht es nicht darum, den Handel und die Spekulationen an den Warenterminbörsen zu unterbinden. Das wäre falsch und marktwirtschaftlich nicht dienlich. Genauso falsch wäre es aber, alles so zu belassen, wie es ist. Denn aktuell "funktionieren" die Warenterminbörsen im Sinne der Steuerung von wareninteressiertem Angebot und Nachfrage nicht. Daher bedarf es klarer Regelungen und einer erhöhten Transparenz in den und abseits der Warenbörsen. Es muss eindeutig feststellbar sein, welche Akteure am Markt zu welchen Konditionen aktiv sind. Die Einführung von Positionslimits ist dabei nur eine von vielen notwendigen Maßnahmen, um der maßlosen Spekulation Einhalt zu bieten. Daher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion mit einem Antrag - Drucksache 17/3413 - gegen diese Spekulationen ein Zeichen gesetzt. Bei der Spekulation mit agrarischer Landfläche stehen wir vor einem ähnlichen Problem. Staatliche Akteure - vorwiegend aus Schwellenländern und arabischen Ländern -, insbesondere aber private Investoren aus Industrie- und Schwellenländern versuchen, mit langfristigen Pacht- oder Kaufverträgen großer Agrarflächen in Entwicklungsländern die Eigenversorgung mit Nahrungsmitteln und Energiepflanzen zu sichern. Fast 90 Prozent der Investitionen im Bereich "Land Grabbing" werden von privaten Kaufinteressenten - die Investoren sind zum einen dem Bereich Agrobusiness, zum anderen der Finanzindustrie zuzuordnen - getätigt, die dabei auch mit der Erwartung steigender Landpreise in Agrarflächen als Spekulationsgut investieren, und das aus gutem Grund: Die Welthungerhilfe stellt in einem Bericht fest: "Bis 2030 müsste die heute verfügbare landwirtschaftliche Fläche um 515 Millionen Hektar wachsen, um eine ausreichende Produktion von Agrar- Energie- und Forsterzeugnissen zu sichern." Das entspräche ungefähr der Hälfte der Fläche Europas. Gerade die in Deutschland aufkeimende Debatte um die Bio-kraftstoffbeimischung E10 zeigt, dass der Anbau von Biokraftstoffen in Konkurrenz zum Anbau von Nahrungsmitteln steht und damit unbewusst auch vermehrt zum Kauf von Landflächen beiträgt. Das kann politisch nicht gewollt sein. Zwar hat es schon immer ausländische Landpacht oder Landkäufe gegeben, und neben der zu Recht angebrachten Kritik gibt es bei Direktinvestitionen in Land auch viele positive Effekte, auf die im Einzelnen einzugehen ich verzichte. Neu sind jedoch das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieses Landerwerbs, und das ist ungesund. Laut einer Studie von FAO/IFAD wurden allein seit 2004 in nur fünf afrikanischen Ländern Vereinbarungen über mehr als 2,5 Millionen Hektar Land abgeschlossen. Schätzungen des International Food Policy Research Institut, IFPRI, gehen davon aus, dass innerhalb der letzten 5 Jahre Verkäufe und Verpachtungen von 15 bis 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche in Entwicklungsländern getätigt wurden. Doch diese Einschätzung erscheint recht konservativ. Die Weltbank hat in ihrer neuesten Studie ermittelt, dass es in über 450 Projekten mit insgesamt 46,6 Millionen Hektar weltweit bereits weit großflächigere Landakquise gibt als angenommen. Mit ein Grund für diese rasante Entwicklung sind die auf den Finanzmärkten als Investment getätigten Land-Deals. Die Erwartung steigender Renditen bei Investitionen in Land scheint Anleger zu locken, die auf den Kaufpreis spekulieren. Investmenthäuser wie Morgan Stanley oder Goldman Sachs sind dick im Geschäft, so dick, dass in einem Artikel in der "Wirtschaftswoche" unreflektiert den Lesern die Investition in Landfläche schmackhaft gemacht wurde, ohne auf die möglichen negativen Folgen der Investitionen in Ackerfläche hinzuweisen - und die können verheerend sein. Oftmals werden beim Erwerb von Landflächen - bewusst oder unbewusst - Landrechte der lokalen Bevölkerung missachtet, die Einbindung oder eine Beteiligung der ansässigen Dorfgemeinschaften oder Kleinbauern findet so gut wie nicht statt. Das Recht auf Eigentum ist in vielen dieser Länder nur selten einklagbar - sodass Kleinbauern, die jahrzehntelang ihren Acker bewirtschafteten, von ihrem Land vertrieben werden. Mögliche Ausgleichszahlungen liegen meist ein Vielfaches unter dem Wert des verkauften oder verpachtenden Landes. Dabei bildet vor allem in Afrika für viele Haushalte die Verfügbarkeit über Land die eigentliche Lebensgrundlage. Trotz dieser existenziellen Relevanz fehlen klare gesetzliche Grundlagen, die die Menschen vor meist illegitimen Landverlusten schützen. In Sambia beispielsweise ist ein Viertel der ländlichen Bevölkerung landlos. Daher ist es richtig und wichtig, die Verbesserung der gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Eigentum in den jeweils betroffenen Staaten einzufordern. Allerdings muss dabei sehr sensibel vorgegangen werden, wenn es gilt, festzustellen, welches Land legal und welcher Besitztum illegal erworben wurde. Hier müssen aus dem jeweiligen spezifischen historischen Kontext die ursprünglich vorhandenen Besitztümer mit den aktuellen Besitzansprüchen in Einklang gebracht werden. So wie ein nicht vorhandener Landtitel den Anspruch auf Landbesitz nicht zwangsläufig auszuschließen hat, bedeutet es im Umkehrschluss nicht, dass ein bereits erworbener Landtitel legalen Landbesitz definiert. Denn in vielen Entwicklungsländern existiert seit Jahrzehnten eine himmelschreiende Ungerechtigkeit bei der Landverteilung. Viele Großgrundbesitzer haben zwar Landtitel, diese sind aber nicht gerecht erworben worden. Deswegen müssen Landreformen teils gegen den Willen der Großgrundbesitzer auch künftig möglich sein. Deshalb ist an dieser Stelle die zweite Forderung des Koalitionsantrages zumindest sehr missverständlich. Bei einer neuen Vergabe von Landtiteln ist somit sehr sensibel abzuwägen, wem das Recht auf Eigentum zugesprochen werden kann und wem nicht. Genauso wichtig wäre es aber auch, auf mehr Transparenz beim Vertragsabschluss von Landkäufen oder Pachtverträgen zu pochen - so wie es im Bereich der extraktiven Rohstoffe durch Extractive Industries Transparency Initiative, EITI, bereits eingefordert wird. Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist daher in seinen Forderungen nicht falsch, jedoch einseitig und unzureichend, unzureichend deshalb, weil die Forderungen nur auf die Stärkung lokaler Regelungen abzielen. Die Umsetzung solcher Gesetzesvorhaben ist jedoch meist langwierig und selten erfolgreich. Wichtig wäre, an die Verantwortung unternehmerischen Handelns - insbesondere der westlichen und arabischen Investoren - zu appellieren. Die Selbstverpflichtung von Investoren ist ein zusätzliches geeignetes Instrument, bei dem die Einbindung der lokalen Bevölkerung in für sie relevante Entscheidungsprozesse möglich ist. Die FAO arbeitet aktuell an einer neuen Version der Voluntary Guidelines, die in den kommenden Tagen veröffentlicht werden soll. Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden diesen Prozess begleiten und uns dafür einsetzen, dass durch die Anerkennung solcher freiwilligen Leitlinien der öffentliche Druck dazu führt, beispielsweise das Menschenrecht auf Nahrung durchzusetzen. Neben diesen flankierenden freiwilligen Maßnahmen wäre es jedoch noch wichtiger, die lokale Bevölkerung durch verbindliches internationales Recht vor den negativen Auswirkungen von Agar-investitionen zu schützen. Diese Perspektive findet sich in den Forderungen des Koalitionsantrages nicht. Im Rahmen der G-20-Verhandlungen bestünde die Möglichkeit, gegen sittenwidrigen und menschenverachtenden Landraub vorzugehen. Die Verankerung internationaler Regelungen gilt es auch deshalb zu forcieren, damit die durchaus vorhandenen positiven Effekte von Investitionen in Land in die richtigen Bahnen gelenkt werden und dort ankommen, wo sie benötigt werden: bei den Menschen vor Ort. Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Die Preisexplosion bei Grundnahrungsmitteln ist dramatisch: Allein der Preis für Weizen lag im März 2011 um mehr als die Hälfte über dem Niveau von 2010. Russland hat sein im August 2010 eingeführtes Exportverbot von Weizen bis heute noch nicht zurückgezogen. Die Nahrungsmittelpreise liegen seit langem auf schwindelerregenden Höhen: Der VN-Index für die weltweiten Nahrungsmittelpreise stand im ersten Halbjahr 2010 nur rund 14 Prozent unter seinem Rekordwert des Krisenjahres 2008 und war damit fast doppelt so hoch wie noch im Jahr 2000. Eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Hunger. Jedoch ist im letzten Jahr diese Zahl um 98 Millionen gesunken. Das entspricht der Bevölkerung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammen. Das energische und fordernde Handeln von einzelnen Staaten wie Deutschland und der Weltgemeinschaft haben erfolgreich dazu beigetragen, den drastischen Anstieg der Zahl der hungernden Menschen zu stoppen. Aber dies bedeutet nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Immerhin leiden immer noch knapp eine Milliarde Menschen an Hunger. Wir müssen den Hunger weiter bekämpfen, um Stabilität und den Weltfrieden zu sichern und um das Leben und die Würde der Menschen zu schützen. Die Tatsache, dass alle sechs Sekunden ein Kind an Unterernährung oder den damit verbundenen Problemen stirbt, bleibt die größte Tragödie in der Welt. Die Ursachen des Hungers sind vielseitig: Anhaltendes Bevölkerungswachstum, Klimawandel und die ohnehin steigende Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln sowie nach Agrarrohstoffen zur Energiegewinnung haben eine völlig neue Epoche eingeleitet. Land ist eine immer knapper werdende Ressource, die in Konkurrenz mit den verschiedensten Nutzungsinteressen steht: Die wachsende Weltbevölkerung, steigende Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln, ökologische Belastungen, die Energiepolitik verschiedener Staaten und der Klimawandel sorgen für eine starke Rivalität der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Seit dem Jahr 2010 übersteigt die weltweite Nachfrage nach Getreide fast jedes Jahr das Angebot. Das Zeitalter der weltweiten Nahrungsmittelüberschüsse ist vorbei. Insgesamt hat dies zu einer Entwicklung geführt, die je nach Bewertung entweder als "Land Grabbing" oder als "Direct Investment in Land" bezeichnet wird. Staatliche Akteure, private Investoren aus Industrie- und Schwellenländern sowie inländische private Investoren sichern sich mittels langfristiger Pacht- oder Kaufverträge große Agrarflächen in Entwicklungsländern, um dort Nahrungsmittel oder Energiepflanzen für den Export anzubauen. Landwirtschaft wird zunehmend nicht mehr nur zur Nahrungsmittelgewinnung betrieben. Vor allem finanzschwache Länder in Afrika und Asien, vereinzelt auch osteuropäische Staaten haben die verstärkte Nachfrage nach Ackerflächen erfahren müssen. Zu beobachten ist dieser Prozess insbesondere in Staaten mit schwachen demokratischen Strukturen und intransparenter Verwaltung. Dringend benötigte Investitionen haben in der Landwirtschaft der Entwicklungsländer jahrzehntelang gefehlt. Daher kann der derzeitige Trend zu mehr ausländischem Engagement im Agrarsektor der Entwicklungsländer grundsätzlich auch als große Chance begriffen werden. Kapital- und Technologietransfer unter-stützen landwirtschaftliche Produktionssteigerung und sorgen für eine Verbesserung beim Marktzugang und der Infrastruktur. Werden Direktinvestitionen in Land und Landwirtschaft in Strategien der Armutsreduzierung eingebunden, können zusätzliche Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für die Bevölkerung geschaffen werden. Es gibt viele positive Beispiele nachhaltiger Investitionen in den Agrarsektor in Entwicklungsländern. So profitieren beispielsweise bei der "Cotton made in Africa"-Initiative, die von dem Hamburger Unternehmer Michael Otto gegründet wurde, Farmer in Afrika genauso wie europäische Firmen - die einen, da hohe Umwelt- und Sozialstandards wie die Förderung von Schulbesuchen der Kinder eingehalten werden, und die anderen, da sie zuverlässig hochwertige Ware erhalten. Doch es gibt auch zahlreiche negative Fälle: Bauern werden von ihrem Land vertrieben, ohne sich dagegen wehren zu können. Sie haben entweder keine formalen Besitztitel, oder korrupte Behörden verwehren ihnen die Durchsetzung ihrer Rechte. Entschädigungs- oder Ausgleichszahlungen bleiben den enteigneten Bauern verwehrt. Damit verlieren ganze Dörfer ihre Lebensgrundlage. Verschärfend kommt hinzu, dass auf diesen Flächen häufig Monokulturen angebaut werden, sodass Konflikte um die Nutzungsrechte für das oftmals knappe Wasser oder Umweltbelastungen vorprogrammiert sind. Was müssen wir nun verändern, damit wir die positiven Seiten der Investitionen nutzen und die negativen Auswirkungen verringern können? Als Erstes müssen wir uns alle des Problems bewusst werden. Daher gilt es, sich kohärent in der Außen- und Entwicklungspolitik für den Schutz von Besitz und Eigentum einzusetzen. Ich denke, damit sind wir mit unseren beiden Bundesministern Herrn Dr. Westerwelle und Herrn Niebel schon ein sehr gutes Stück vorangekommen. Auf das Menschenrecht auf Nahrung und das Menschenrecht auf Eigentumsfreiheit haben beide im Rahmen ihrer Politik, ob im Inland, im Ausland oder bei internationalen Organisationen, erfolgreich einen Fokus gesetzt. Zum Zweiten müssen wir sowohl bei Staaten als auch bei Unternehmen, die an offizieller Landnahme beteiligt sind, offiziell protestieren. Gerade deutsche Unternehmen müssen hier sensibilisiert und in die Verantwortung genommen werden! Und zum Dritten müssen wir Staaten und Unternehmen bei der Umsetzung einer nachhaltigen Investitionspolitik aktiv unterstützen. Wir müssen beraten, begleiten und beim Aufbau der Verwaltung, des Justiz- und Polizeiwesens und eines funktionierenden Vergabesystems mit unserem Wissen assistieren. Partnerländern müssen wir bei einer zukunftsorientierten Landnutzungsplanung behilflich sein und ihnen beim Abbau von Defiziten bei der tatsächlichen Durchsetzung von Recht und Eigentum helfen. Damit wird die Ernährung der Bevölkerung erheblich verbessert sowie das Klima und die Ressourcen für nachkommende Generationen geschont. Good Governance ist der Schlüssel zu einem fairen Wirtschaftssystem, das alle Menschen partizipieren lässt und Wohlstand für die gesamte Bevölkerung schafft. Als Berichterstatterin der FDP-Bundestagsfraktion für Frauen in Entwicklungsländern möchte ich hierauf noch einmal besonders eingehen: Frauen besitzen in Entwicklungsländern trotz ihrer bedeutenden Rolle in der Landwirtschaft und bei der Versorgung ihrer Familien nur 10 Prozent der Anbauflächen und nur 1 Prozent aller Landtitel. Jedoch produzieren sie 80 Prozent der Grundnahrungsmittel. Oftmals haben sie keine oder nur mangelhafte Besitzrechte. Sicherer Zugang zu Land verbessert nicht nur ihre ökonomische Situation, sondern stärkt auch ihre soziale und politische Stellung in der Gesellschaft. Daher müssen wir Staaten dabei unterstützen, gerade Frauen einen gerechten Zugang zu Eigentum zu verschaffen. Auch müssen wir weiter im Rahmen der Welternährungsorganisation FAO und anderen internationalen Initiativen konstruktiv mitarbeiten und die Ausgestaltung freiwilliger Leitlinien zum Eigentumsrecht vorantreiben. Und wir müssen uns mit noch mehr internationalen Partnern für die Eigentumsfreiheit verbünden und verbindliche Verträge mit anderen Staaten abschließen. Was wir aber nicht dürfen, ist, bevormunden und übergehen. Wir müssen die Menschen, die Unternehmen und die Staaten bei dem Kampf gegen den Hunger mitnehmen. Wir müssen sie mit unseren Argumenten überzeugen und einen gemeinsamen Pakt für die Eigentumsfreiheit schließen! Daher bitte ich Sie ganz herzlich um Unterstützung für unseren Antrag. Niema Movassat (DIE LINKE): Niemals waren Nahrungsmittel so teuer wie derzeit. Der Preisindex der Welternährungsorganisation FAO liegt aktuell bei mehr als 230 Punkten, dem höchsten Wert seit der Einführung im Jahr 1990. Dies ist kein Wunder, schließlich sind die Preise für Grundnahrungsmittel in den letzten zwölf Monaten explosionsartig gestiegen: für Weizen zum Beispiel, welches zusammen mit Mais und Reis das meistangebaute Getreide der Welt ist, um 45 Prozent, für Mais um 42 Prozent und für Öl und Fette sogar um 56 Prozent. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Millionen Menschen in den Hunger getrieben werden. Proteste gegen diese Entwicklung gibt es weltweit. In der indischen Hauptstadt Delhi gingen Ende Februar bis zu 200 000 Menschen auf die Straße, um gegen die explodierenden Nahrungsmittelpreise und ungenügende Gegenmaßnahmen zu protestieren. Im Norden Afrikas begehren die Menschen nicht nur gegen autoritäre Regime auf. Sie demonstrieren auch gegen Hunger und Armut. Die Bilder gleichen denen der mexikanischen Tortilla-Revolte von 2007. Ein neuer preistreibender Faktor sind die Spekulationen mit Nahrungsmitteln. Diese treiben die Preise für Lebensmittel immer höher. Dies trifft die Menschen natürlich auch hierzulande, insbesondere die ärmeren Teile der Bevölkerung. Wesentlich stärker betroffen aber sind die Menschen in den Entwicklungsländern, die bis zu 70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Steigen die Preise für Nahrungsmittel dort an, bedeutet das Hunger und Tod für die Bevölkerung. Laut UNCTAD-Chefvolkswirt Heiner Flassbeck bewegen sich die Preise von Nahrungsmitteln, die an den Börsen gehandelt werden, im Gleichschritt mit Aktien, Währungen oder Öl. Da aber nur Finanzmarkttitel untereinander so stark korrelieren können, sind die hohen Soja- oder Weizenpreise eine Folge spekulativer Investitionen. Mit ihren Erwartungen, mit ihren Wetten auf die Zukunft, treiben die Spekulanten die Preise hoch und machen Profite auf Kosten der Ärmsten. Die Beispiele dafür sind zahlreich. Im Jahr 2008, dem Jahr der letzten großen Nahrungsmittelkrise, kauften Finanzinvestoren die komplette Weizenproduktion der kommenden zwei Jahre auf. Damit heizten sie die Preisspirale massiv an. 2010 wurde der Kakao zum Spielball der Spekulanten. Ein Londoner Handelshaus und Hedge-Fonds-Betreiber kaufte binnen kürzester Zeit nahezu alle Warenbestände an Kakao auf und trieb den Preis pro Tonne schlagartig um mehr als 300 Dollar in die Höhe. Allein Goldman Sachs machte 2009 mit Rohstoffderivaten 5 Milliarden Dollar Gewinn, darunter in steigendem Maße durch Agrarrohstoffderivate. Ähnlich war es bei Merrill Lynch und der Deutschen Bank. Diese Preissteigerungen lohnen sich auch für die großen Lebensmittelkonzerne. So konnte Nestlé seinen Reingewinn 2010 auf 26 Milliarden Euro mehr als verdreifachen, auch Danone und Unilever machten glänzende Geschäfte. Börsenblätter und Banken wie die Deutsche Bank rieten postwendend explizit zum Investment in Nahrungsmittelfirmen. Dabei mutet es schon fast zynisch an, dass gerade die Unternehmen, die sich der Nahrungsmittelproduktion verschrieben haben, durch ihr Profitstreben direkt an der Bedrohung der Ernährungssicherheit eines Großteils der Menschheit mitwirken. Nicht zuletzt deswegen fordern wir in unserem Antrag zum Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln, die Erzeugung und den Handel von Agrarrohstoffen mittelfristig vollständig von den Finanzmärkten zu entkoppeln und stattdessen politisch auf der Grundlage internationaler Abkommen und im Interesse von Ernährungssicherheit und -souveränität zu regulieren. Verlierer in puncto hohe Nahrungsmittelpreise waren und sind gerade diejenigen, die von Experten als der Schlüssel zur globalen Ernährungssicherung gesehen werden: die Kleinbauern. Sie besitzen zu kleine Anbauflächen, um ausreichend Nahrung zu produzieren, und sie sind zu schlecht an lokale Märkte angebunden, um Gewinne zu erwirtschaften. Ihre Erträge reichen oftmals noch nicht einmal für die Selbstversorgung aus. Sobald die eigenen Ernteerträge aufgebraucht sind, müssen Kleinbauern wie auch Landlose Nahrungsmittel auf dem Markt kaufen. Wer jedoch mit weniger als einem Dollar pro Tag seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, kann sich bei hohen Nahrungsmittelpreisen selbst die Grundnahrungsmittel kaum noch leisten. Eines wird bei alledem klar: Mit einem "Weiter so!" und mit nur marginalen Änderungen an den herrschenden Strukturen lässt sich die Ernährung in den Entwicklungsländern nicht sichern. Um die Grundnahrungsmittelpreise stabil zu halten und den Hunger in der Welt wirksam zu bekämpfen, müssen sich die Regierungen endlich durchringen, die Gier an den Märkten nachhaltig einzudämmen. Dafür müssen die Agrarbörsen umgehend streng reguliert und transparent gemacht werden. Da auch die aktuellen Zahlen für europäische Fleischexporte, für illegale Landnahme und den Anbau von Agrotreibstoffen alle Rekorde brechen, muss sich die Bundesregierung endlich gegen die aggressive Freihandelspolitik der EU gegenüber den Ländern des Südens stellen, gegen Agrarexportsubventionen, gegen Landraub und gegen die Produktion von Agrotreibstoffen. Sie muss aktiv eintreten für die Stärkung regionaler Märkte, für die Entwicklung ländlicher Regionen und für umfassende Landreformen - wie die Fraktion Die Linke es seit langem fordert. Die Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung und damit die ernsthafte Bekämpfung von Armut und Hunger kann nur gelingen, wenn die Geschäfte mit dem Hunger beendet werden. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist erfreulich, dass sich die Fraktionen der Union und FDP nun auch dem überaus wichtigen Thema der großflächigen Landnahme in Entwicklungsländern annehmen. Bereits vor zwei Jahren hatten wir Grünen hierzu einen Antrag eingereicht und durch diverse Fachveranstaltungen, Pressemitteilungen und Anhörungen auf die Dringlichkeit der Problematik hingewiesen. Endlich scheinen wir die Regierungskoalition überzeugt zu haben. Dennoch greift der Antrag in vielen Punkten zu kurz. Die menschenrechtliche Frage wird sehr einseitig beleuchtet. So wird das Recht auf Nahrung nur ein einziges Mal erwähnt, während das Recht auf Eigentum den ganzen Text wie einen ultimativen Imperativ durchzieht. Dabei geht es bei dem Phänomen - neben zahlreichen anderen ökonomischen, sozialen und ökologischen Aus-wirkungen - im Besonderen um die Frage der Ernährungssicherheit der lokalen Bevölkerung. Werden riesige Landstriche von ausländischen oder nationalen Investoren aufgekauft oder gepachtet und stehen somit nicht mehr für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Selbstversorgung der dort wohnenden Menschen zur Verfügung, dann ist das eine eklatante Beschneidung des Rechts auf Nahrung. Auch die "Grundprinzipien und Leitlinien zu Zwangsräumungen und Zwangsvertreibungen" des UN-Menschenrechtsrats werden nicht erwähnt, obwohl groß angelegte Landinvestitionen häufig die zwangsweise Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern nach sich ziehen. Wie bereits erwähnt, preist der Antrag stattdessen das Recht auf Besitz und Eigentum als Allheilmittel im Kampf gegen "Land Grabbing" an. Gewiss kann die Verbriefung von Landnutzungsrechten in einigen Fällen Kleinbäuerinnen und -bauern mehr Planungssicherheit geben, zumal sich heute viele der von Landnahme Betroffenen nicht wehren können, da sie über keine offiziellen Titel verfügen, obwohl ihre Familien das Land über Generationen hinweg bewirtschafteten. Allerdings ist hier große Vorsicht geboten. Denn allein die juristische Absicherung von Landbesitz bedeutet noch keine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und Ernährungssituation der neuen Titelhalterinnen und -halter. Werden nicht gleichzeitig andere ungerechte lokale und globale Wirtschaftsstrukturen angegangen, ist es wahrscheinlich, dass die Betroffenen schnell wieder in die Schuldenfalle geraten und aus der Not heraus ihr Land an Investoren verkaufen oder verpachten. Durch die Formalisierung des Landbesitzes wird der Ausverkauf von Land in solchen Fällen sogar erleichtert. Ein Ausbrechen aus dem Teufelskreis aus Land- und Arbeitslosigkeit, Verstädterung, Verelendung und politischer Ohnmacht ist damit jedenfalls nicht in Sicht. Ein besonderes Augenmerk ist auch auf nomadisch lebende Viehhirten zu legen. Bei der Ausstellung formeller Landtitel kann es hier leicht zur Benachteiligung dieser Gruppen kommen, da die exakten Ausmaße der Landflächen, die sie für ihre Herden benötigen, schwer abzustecken sind. Des Weiteren gehen die Antragstellerinnen und -steller nicht darauf ein, wie mit kollektiv genutztem Land, das auf Gewohnheitsrecht basiert, umgegangen werden soll. Dass hier zwei grundsätzlich verschiedene Verständnisse von Land - einerseits die Idee von Land als Allgemeingut, das auch kulturelle und soziale Dienste erfüllt, und andererseits von Land als reine Ware - aufeinanderprallen, wird schlichtweg unter den Teppich gekehrt. Das ist ein nicht unerhebliches Versäumnis, da diese Formen von Landnutzung in großen Teilen des globalen Südens eine bedeutende Stellung einnehmen. Umso wichtiger ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der betroffenen Landbevölkerung bei jedem Land-Deal. Der vorliegende Antrag hält dies wohl nicht für nötig; Regierungen sollen nur dahin gehend beraten werden, dass "die Belange der betroffenen ortsansässigen Bevölkerung und die Risiken für die Umwelt berücksichtigt werden". Das ist eindeutig unzureichend. Erfahrungen aus Landtitelprogrammen in Südostasien zeigen, dass in jenen Regionen, die nicht unter die Programme fielen, die Lebensgrundlage von Kleinbäuerinnen und -bauern ohne solche verbrieften Rechte sogar eher gefährdet als geschützt wurde. Denn nun war es für Großplantagenbetreiber leichter, das Land an sich zu reißen - schließlich gehöre es offiziell niemandem. Die rechtliche Eintragung von Besitz und Eigentum kann ohne vorherige Umverteilung sogar zu einer Zementierung extremer Verteilungsungleichheiten führen. In unserem Antrag fordern wir Agrarreformen, die auch Umverteilung einschließen, da diese einen essenziellen Bestandteil für eine gerechtere Landpolitik vor allem in ländlichen Regionen darstellen. In dem Antrag der Regierungskoalition geht eine Umverteilung völlig unter - außer mit dem Vermerk, dass "ein transparentes und rechtsstaatliches Vergabesystem zu errichten sei, das es ermöglicht, Eigentum und langfristige Bewirtschaftungsrechte zu erwerben". Dabei bleibt unklar, ob hiermit ein rein marktwirtschaftliches System angestrebt wird, was wiederum ein Schlag ins Gesicht der Ärmsten der Armen ist, die sich auf diesem Weg niemals eigenes Land leisten können. Was die Forderung zum Engagement auf internationaler Ebene angeht, bleibt die Formulierung schwammig. Es wäre gut zu wissen, zu welchen "anderen internationalen Initiativen" neben den freiwilligen Leitlinien der FAO genau beigetragen werden soll. Vermutlich wird hier auf die Weltbank-Prinzipien zu verantwortlichem Investment angespielt, also auf die RAI-Prinzipien. Beide Prozesse in gleichem Maße zu unterstützen, halten wir für wenig sinnvoll, da so Parallelstrukturen geschaffen werden und die Autorität der freiwilligen Leitlinien aufgeweicht wird. Wir sprechen uns klar für die FAO-Richtlinien aus, für deren weitere Ausgestaltung die Bundesregierung dringend mehr finanzielle und organisatorische Kapazitäten zur Verfügung stellen sollte. Insgesamt lässt sich sagen, dass trotz des Hinweises auf die Gefahren von ausländischen Direktinvestitionen - dieser Begriff wird trotz des Antragstitels bevorzugt - die Landnahmen in ein unangemessen mildes Licht gestellt werden. Die bisher größte Konferenz zu dem Thema, zu der sich 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor wenigen Tagen in Sussex versammelten, kam zu dem Schluss, dass der Hunger nach Land gewaltige und unumkehrbare negative Auswirkungen auf Umwelt und Menschen der betroffenen Länder hat. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5488 und 17/4533 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strategie statt Streit - Fachkräftemangel beseitigen - Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100 - Berichterstattung: Abgeordneter Johannes Vogel (Lüdenscheid) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.5 - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/5100. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4615. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Fraktion Die Linke. - Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen worden. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3198. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das sind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze - Drucksache 17/4978 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) - Drucksache 17/5509 - Berichterstattung: Abgeordneter Anton Schaaf - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5513 - Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz (Herborn) Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Seit vielen Jahrzehnten ist die Europäische Union ein Garant für Freiheit, Sicherheit und wirtschaftlichen Erfolg in ganz Europa. Als exportorientierte und größte Volkswirtschaft in Europa profitiert Deutschland in besonderem Maße vom freien Welthandel, vom europäischen Binnenmarkt und der EU-Erweiterung. Eine starke Europäische Union ist die beste Voraussetzung für Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit in unserem Land. Daher brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen für unternehmerische Initiativen, für Innovationen in Wissenschaft und Technik und ein leistungsfähiges Bildungssystem. Nur so können wir auf Dauer neue Arbeitsplätze auch in Deutschland schaffen und den Erhalt unserer sozialen Sicherheit gewährleisten. Wohlstand und Stabilität sind aber keine Selbstverständlichkeit. Das haben die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Schuldenkrise der Mitgliedstaaten gezeigt. Europas Rahmenbedingungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sind einem ständigen Prozess von Veränderung, Verwerfung und Neuorientierung unterworfen. In weniger als drei Wochen fallen auch in Deutschland die letzten Zugangsbarrieren zu Europas Arbeitsmärkten, und die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt auch für uns uneingeschränkt. Viele Stimmen in Deutschland warnen schon seit langem vor einer "Billigkonkurrenz" aus den Nachbarländern und vor "Sozialdumping". Diese Panikmache halte ich für nicht berechtigt. Denn alle Experten sagen uns, dass mit einem "Massenansturm" und gravierenden Verwerfungen für unseren Arbeitsmarkt nicht zu rechnen ist. Sorgen und Ängste in Deutschland, aber auch in unserem Nachbarland Polen, in Bezug auf die bevorstehende Öffnung des Arbeitsmarktes nehmen wir ernst. Ich plädiere jedoch für mehr Gelassenheit und für eine offene Willkommenskultur. Gäbe es keine Gemeinschaftsvorschriften über die soziale Sicherheit, so wäre die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedroht. Denn es bestünde die Gefahr, dass Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen im Hinblick auf die soziale Sicherheit unzureichend geschützt wären. Personen, die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich frei innerhalb der Europäischen Union zu bewegen, werden mit vielfältigen Fragen und Problemen im Hinblick auf ihre soziale Sicherheit konfrontiert: Wie ist es um die Rentenansprüche eines Arbeitnehmers bestellt, der mehrere Jahre lang in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet hat? Welcher Mitgliedstaat ist zur Zahlung von Fami-lienleistungen für Kinder verpflichtet, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen? Welcher Mitgliedstaat ist zur Zahlung von Arbeitslosenleistungen für Grenzgänger verpflichtet? Die nationalen Sozialgesetze geben auf diese Fragen oft nur unzureichende oder überhaupt keine Antworten: Viele Arbeitnehmer liefen Gefahr, dass sie in zwei Mitgliedstaaten gleichzeitig oder gar nicht versichert wären oder erworbene Ansprüche auf Sozialleistungen verlören, ohne neue Ansprüche aufbauen zu können. Aus diesem Grund sind gemeinsame Regelungen innerhalb der Europäischen Union notwendig, die einen wirksamen und umfassenden Schutz gewährleisten. Die Gemeinschaftsvorschriften für den Bereich der sozialen Sicherheit ersetzen die bestehenden nationalen Sozialversicherungssysteme nicht durch ein einheitliches europäisches System. Eine derartige Harmonisierung wäre unmöglich, da die Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Staaten der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums zu groß sind. Aber auch Staaten mit vergleichbarem Lebensstandard weisen unterschiedliche Sozialversicherungssysteme auf, die auf etablierte Traditionen zurückgehen, die fest in der nationalen Kultur und den nationalen Gepflogenheiten verwurzelt sind. Daher kann jeder Mitgliedstaat selbst darüber entscheiden, wer nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu versichern ist, welche Leistungen zu welchen Bedingungen gezahlt werden, wie diese Leistungen berechnet werden und welche Beiträge zu zahlen sind. Anstelle einer Harmonisierung der einzelstaatlichen Sozialversicherungssysteme sehen die Gemeinschaftsvorschriften über die soziale Sicherheit lediglich eine Koordinierung der Systeme vor. In den Gemeinschaftsvorschriften über die Koordinierung der sozialen Sicherheit sind gemeinsame Regeln und Grundsätze festgelegt, die von allen nationalen Behörden, Sozialversicherungsträgern und Gerichten beachtet werden müssen. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Anwendung der unterschiedlichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat, die von ihrem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht innerhalb der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums Gebrauch machen. Es geht also nicht darum, die besonderen Merkmale der Systeme der einzelnen Mitgliedstaaten zu beseitigen, sondern darum, einzelne Aspekte der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu korrigieren, die sich für Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen ungünstig auswirken können. Die einschlägigen Regelungen, die es seit mehr als 30 Jahren gibt, sind in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der zugehörigen Durchführungsverordnung Nr. 574/72 enthalten. Diese Verordnungen wurden seit ihrer Verabschiedung im Jahre 1971 mehrfach angepasst, um den Änderungen in den nationalen Rechtsvorschriften Rechnung zu tragen, eine Reihe von Bestimmungen zu verbessern, Unzulänglichkeiten zu beheben oder die besondere Situation bestimmter Personengruppen zu berücksichtigen. Im Jahr 1998 legte die Kommission einen Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfachung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vor, um sie "effizienter und nutzerfreundlicher" zu machen. Der Rat und das Europäische Parlament haben die Beratungen über diesen Vorschlag bis jetzt noch nicht abgeschlossen. Die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 stellen in dreifacher Hinsicht sicher, dass die Anwendung der verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Gebrauch machen. Dies geschieht in folgender Weise: Die Gleichbehandlung aller Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ist in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gewährleistet. Alle erforderlichen Versicherungs-, Aufenthalts- und Beschäftigungszeiten werden berücksichtigt, nämlich durch die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten. Wenn ein Wanderarbeitnehmer eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufnimmt, werden die Zeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit in anderen Mitgliedstaaten erworben wurden. Auf diese Weise gehen erworbene Leistungsansprüche nicht verloren. Schließlich werden Sozialleistungen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen ungeachtet des Beschäftigungs- oder Wohnorts garantiert. Der durch die Gemeinschaftsbestimmungen vorgesehene Personenkreis ist umfassend geschützt. Die Gemeinschaftsbestimmungen gelten für alle europäischen Bürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat bewegen, und zwar unabhängig vom Grund und der Dauer ihres Aufenthalts. Diese gemeinschaftlichen Regeln gelten für alle gesetzlichen Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft - für Geld- und für Sachleistungen -, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Invalidität, bei Alter und im Todesfall, bei Arbeitslosigkeit sowie für Familienleistungen. Dagegen werden Sozialhilfe, Krankengeld, Leistungen an Kriegsversehrte und deren Hinterbliebene, Betriebsrenten und Vorruhestandsregelungen nicht durch Gemeinschaftsvorschriften abgedeckt. Wie ich schon in der Debatte zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes ausgeführt habe, hat die Europäische Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bereits einen ganzen Sockel verbindlicher Mindeststandards im Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie im Arbeitsrecht verabschiedet. Die Europäische Union hat auch Regeln für die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkung der Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Betriebsrat gehört ebenso dazu wie der "soziale Dialog". Bereits mit der Lissabon-Strategie haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Beschäftigungs- und Sozialpolitiken besser zu koordinieren. Um mehr und bessere Arbeitsplätze in Europa zu schaffen, arbeiten die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft seit langem an einer koordinierten Beschäftigungsstrategie und stimmen ihre Beschäftigungspolitik aufeinander ab. Diese Koordinierung hat über die Lissabon-Strategie ein ganz starkes Momentum bekommen. Kernstück dieses Prozesses sind die beschäftigungspolitischen Leitlinien als wesentlicher Bestandteil der EU-2020-Strategie, die die Lissabon-Strategie abgelöst hat. Wir können also festhalten: Es gibt durchaus einen Sockel von sozialen Standards, Regeln für die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Regeln für die Koordinierung der sozialen Sicherheit, finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozialen Kohäsion und europäische Ziele im Bereich der Koordinierung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken. Der Koordinierung der sozialen Sicherung in den Mitgliedstaaten kommt daher eine erhebliche Bedeutung zu. Die soziale Sicherung in der Europäischen Union ist in den neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit geregelt. Ziel dieser Verordnungen ist es, die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten zu koordinieren, damit niemand, der von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Union Gebrauch macht, hierdurch unangemessene sozialrechtliche Nachteile hat. Diese Verordnungen sind ein wichtiges Beispiel für ein Handlungsfeld der europäischen Sozialpolitik. Denn nur durch verbindliche Regelungen auf europäischer Ebene kann sichergestellt werden, dass das Recht auf Freizügigkeit - eine der großen europäischen Grundfreiheiten - im Hinblick auf die soziale Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Selbstständigen bei ihren erworbenen Anwartschaften angemessen flankiert wird. Zahlreiche Zuständigkeitsfragen wurden nicht mehr in den Anhängen der Durchführungsverordnung geregelt, sondern sollen in eine öffentlich zugängliche Datenbank eingetragen werden. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sollen entsprechende Aufgabenzuweisungen durch innerstaatliche Regelungen vorgenommen werden. Auch bedingt die Ablösung der bisherigen Verordnungen entsprechende Änderungen im Sozialgesetzbuch und anderen Gesetzen sowie der darin enthaltenen Verweisungen. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa regelt diese verwaltungsmäßige Durchführung der neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/ 2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa. Insbesondere werden damit künftig pflichtversicherte Rentner auch mit ihrer ausländischen Rente zur Beitragszahlung herangezogen. Im Fall von Entsendungen werden dabei die Beschäftigungsländer durch den Spitzenverband Bund und Krankenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung benachrichtigt. Mit diesen Maßnahmen wird dem Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen im Bereich der Krankenversicherung von Rentnern entsprochen. Wesentlicher Zweck des Gesetzentwurfes ist die Feststellung der zuständigen Behörden, Träger sowie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der Anwendung und Durchführung der EU-Verordnungen. Verbindungsstelle für den europaweiten Datenaustausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen soll die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungshilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten koordinieren. Des Weiteren sind eine Verbindungsstelle für Familienleistungen sowie eine Koordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenversorgung vorgesehen. Insgesamt sollen fünf Zugangsstellen als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Datenaustausch geschaffen werden, die alle in der EU-Verordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken. Im Gesetz sind auch Anpassungen des Dritten, Sechsten, Siebten und Elften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Gesetzes über die Altersversicherung der Landwirte vermerkt, die sich aus der Umsetzung der EU-Verordnungen ergeben. So wie sich Europa also nach außen neu ausrichtet, so muss es das auch nach innen schaffen. Denn die Sicherung von Wohlstand, Wachstum, Beschäftigung und sozialer Sicherheit - kurz: die Erhaltung und Entwicklung unseres europäischen Sozialstaatsmodells, und zwar unter den Bedingungen der Globalisierung - ist das, was die Bürger von Europa und von ihren Regierungen erwarten. Mit der EU-2020-Strategie wollen wir die Europäische Union zu einem Wirtschaftsraum machen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. Anton Schaaf (SPD): Mit dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und der damit verbundenen Änderung anderer Gesetze soll eine innerstaatliche gesicherte Rechtsgrundlage hergestellt werden, die den zuständigen Behörden, Trägern und Verbindungsstellen zu mehr sozialer Sicherheit verhelfen soll. Mit dem Gesetz werden die zuständige Behörde, die Verbindungsstellen für berufsständische Versorgungseinrichtungen und für Familienleistungen sowie die Zugangsstellen für den grenzüberschreitenden elektronischen Datenausgleich festgelegt. Außerdem wird die Benachrichtigung der Träger des Beschäftigungslandes im Fall von Entsendungen geregelt. Bei den Änderungsanträgen geht es um ein Rückkehrrecht in die gesetzliche Krankenversicherung der bei einer internationalen Organisation Beschäftigten, die verwaltungsinterne Beteiligung von Verbindungstellen bei der Festlegung des anwendbaren Rechts, die Datenübermittlung und die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft sowie um Folgeänderungen aufgrund des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Durch die Herausnahme der vom Gesundheitsausschuss beantragten Änderungen bei Übernahme in das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze können wir dem vorliegenden Gesetz zustimmen. Das Gesetz dient dem bereits verankerten Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, in diesem Fall den Beziehern einer ausländischen Rente. Diese soll künftig zur Beitragsfinanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden. Ab dem 1. Juli 2011 sollen in Deutschland damit auch für Renten aus dem Ausland Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt werden. Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversicherung der Rentner, nicht aber mit ihren ausländischen Renten im Sinne von § 228 SGB V. Bei pflichtversicherten Rentenbeziehern, die sowohl eine deutsche als auch eine ausländische Rente beziehen, wurde deshalb bislang lediglich die deutsche Rente zur Berechnung der Beiträge zu ihrer Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen. Dieses eher technische Gesetz soll es erleichtern, die Verfahren der Leistungen in grenzübergreifenden Sachverhalten besser zu koordinieren. Die Einbeziehung ausländischer Renten in die Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner führt zu geringfügigen Mehreinnahmen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Insbesondere durch die Einführung des elektronischen Datenaustauschs wird mit Mehrausgaben bei den zuständigen Leistungsträgern - das sind die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit, örtliche Familienkassen und örtliche Elterngeldstellen - sowie bei den Verbindungsstellen gerechnet, die sich in den Jahren 2011 und 2012, in denen die benötigte Software entwickelt wird, schätzungsweise auf rund 2 bis 3 Millionen Euro und in den Folgejahren auf circa 1 Million Euro belaufen werden. Sich hieraus ergebende Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt werden in den jeweiligen Einzelplänen im Rahmen der bestehenden Ansätze aufgefangen. Den Mehraufwendungen stehen Effizienzzuwächse in der Zusammenarbeit zwischen den inländischen und den ausländischen Stellen gegenüber. Für Bürgerinnen und Bürger werden durch das Gesetz keine Informationspflichten eingeführt, geändert oder aufgehoben. Für Unternehmen wird durch das Gesetz eine neue Informationspflicht eingeführt. Unternehmen müssen der Bundesagentur für Arbeit im Fall der Arbeitslosigkeit ehemaliger beschäftigter Grenzgänger und anderer Personen, die im Ausland Leistungen bei Arbeitslosigkeit beantragen wollen, die für deren Leistungsanspruch maßgeblichen Tatsachen mitteilen. Für die Verwaltung wird eine Meldepflicht neu eingeführt. Da die vorgesehene Übermittlung der in den Entsendebescheinigungen enthaltenen Daten in einem automatisierten Verfahren über den GKV-Spitzenverband, Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung - Ausland, erfolgt, wird sich der Mehraufwand in überschaubaren Grenzen halten. Klar ist, dass Neuregelungen nicht kostenlos umzusetzen sind. Natürlich ist der Gleichstellung der europäischen Bürger und Bürgerinnen in Form der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa Rechnung zu tragen, wenn es um Neuregelungen geht. Dies darf aber nicht mit dem Ziel einhergehen, insgesamt in Europa eine schrittweise Durchsetzung eines niedrigen Niveaus der sozialen Sicherheit zu etablieren, was an vielen Stellen der europäischen Handlungen leider allzu deutlich wird. Die SPD-Fraktion begrüßt, dass die EU-Kommission eine Gleichstellung der Europäer in den Blick nimmt. Da es in allen Mitgliedstaaten immer mehr ältere Menschen gibt, stehen die aktuellen Systeme für die Alterssicherung unter massivem Druck. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat diesen Druck noch weiter verstärkt. Unabhängig von der Koordination der sozialen Sicherheit in Europa ist es für die SPD ein Grundsatz, dass die Finanzierung und Bereitstellung von Renten in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben muss. Wir werden es nicht zulassen, dass europaeinheitliche Standards zu einer Verschlechterung guter Systeme einiger Mitgliedstaaten führen. Im Konfliktfall müssen die sozialen Belange der Menschen Vorrang haben. Ich begrüße die Bereitschaft, die Änderungen aufzunehmen, die es ermöglicht haben, den Gesetzentwurf im Ausschuss für Arbeit und Soziales einstimmig anzunehmen. Sebastian Blumenthal (FDP): Zum 1. Mai wird die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU hergestellt. Um diesen Prozess sozialpolitisch auf nationaler Ebene zu flankieren, werden wir mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz unseren nationalen Beitrag dazu leisten, die sozialen Sicherungssysteme in Europa zu koordinieren. Im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze werden von der Bundesregierung die Detailregelungen formuliert, um die entsprechenden EU-Vorgaben in nationales Recht umzusetzen. Seitens der christlich-liberalen Koalition haben wir unser Hauptaugenmerk darauf ausgerichtet, die Sicherheit unserer sozialen Versorgungssysteme zu erhalten und zu stärken. Im Bereich der Alterssicherungssysteme werden Rentnerinnen und Rentner endlich gleichgestellt - unabhängig davon, ob sie Renten aus dem Inland oder aus dem Ausland beziehen. Die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung werden damit gestärkt, indem pflichtversicherte Rentnerinnen und Rentner künftig auch mit ihrer ausländischen Rente zur Beitragsfinanzierung ihrer Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden. Die Versichertengemeinschaft wird dadurch dauerhaft und nachhaltig geschützt. Die Höhe der zu zahlenden Beiträge wird dabei derart festgelegt, dass die Leistungsempfänger von Alterssicherungssystemen im Ausland keine höhere Belastung erfahren als die Bezieher von gleich hohen Rentenzahlungen im Inland. Wir haben als christlich-liberale Koalition dafür Sorge getragen, zum einen die Versicherten - und damit die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler - zu schützen und zum anderen die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger vor zusätzlichen Bürokratie- und Kostenbelastungen zu schützen. Von daher erachten wir es als außerordentlich wichtig, wie der nationale Normenkontrollrat den Gesetzentwurf im Hinblick auf Bürokratie-kosten bewertet, die sich durch Informationspflichten ergeben. Nach aktuell vorliegenden Kostenschätzungen entstehen auf Verwaltungsseite Bürokratiekosten in Höhe von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Da die vorgesehene Übermittlung von Daten im automatisierten Verfahren erfolgen soll und die daraus resultierenden Bürokratiekosten nachvollziehbar abgebildet werden, wird sich die Kostensteigerung in sehr engen Grenzen halten. Und für uns als FDP ist am allerwichtigsten: Der Normenkontrollrat stellt klar, dass mit dem Entwurf "für Bürgerinnen und Bürger keine Informationspflichten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben werden". Von daher werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen und hoffen auf eine breite Zustimmung - auch von den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen in diesem Haus. Mit dieser Debatte kommt das parlamentarische Verfahren zum vorliegenden Gesetzentwurf zum Abschluss. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen friedliche und ereignisreiche Feiertage - gleich, ob Sie die Osterfeiertage im Kreise der Familie und Freunde verbringen oder den 1. Mai gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen auf Kundgebungen zubringen. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Mit ihrem Gesetzentwurf legt die Bundesregierung Detailregelungen zur Umsetzung der EU-Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und zur Festlegung der Modalitäten zur Durchführung dieser Verordnung fest. Die EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit regelt die Anwendung der nationalen Sozialversicherungssysteme in Europa, konkret in den 27 Mitgliedstaaten der EU plus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, "Europäischer Wirtschaftsraum". Die nationalen Sicherungssysteme werden durch die Verordnung nicht ersetzt, sondern zueinander kompatibel gemacht. Ursprünglich wurde ein diskriminierungsfreier Zugang von EU-Ausländerinnen und Ausländern zu den nationalen Sozialversicherungssystemen festgelegt. Mittlerweile ist dieser Grundgedanke durch die VO 883/04 weitergeführt worden. Es gelten dabei vier Grundprinzipien: Erstens. Menschen unterliegen zu jedem Zeitpunkt immer nur den Vorschriften eines Landes und zahlen nur in einem Land Beiträge. Die substanziellen Rechtsvorschriften werden in dem jeweiligen Land festgelegt. Zweitens. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung. Das heißt: Von der Koordinierung umfasste Personen haben dieselben Rechte und Pflichten wie die jeweils Einheimischen. Drittens. Wenn eine Leistung beansprucht wird, werden Versicherungs-, Beschäftigungs- und Aufenthaltszeiten in anderen Ländern gegebenenfalls berücksichtigt. Viertens. Wenn ein Anspruch in einem Land besteht, kann dieser auch in einem anderen Land ausgezahlt werden - Leistungen sind also "exportierbar". Ich möchte einen Aspekt herausgreifen. Künftig sollen Grenzgängerinnen und Grenzgänger auch auf ihre ausländischen Renten Beiträge an die Krankenversicherung entrichten. Die Linke hält das für richtig, und zwar aus einem einfachen Grund: Wir sind der Auffassung, dass alle Bürgerinnen und Bürger mit allen ihren tatsächlichen Einnahmen im vollen Umfange einen Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung leisten sollen, der ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Wir Linken wollen eine solidarische Kranken- und Pflegeversicherung einführen. Mit dieser Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wird die Bemessungsgrundlage auf alle Einnahmen ausgedehnt und die Versicherungspflichtgrenze ebenso abgeschafft wie die Beitragsbemessungsgrenze. Unsere Vorstellungen zu einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung haben wir Ende März 2010 in den Bundestag eingebracht. Die Linke hat also an der Koordinierung der sozialen Systeme in Europa nichts auszusetzen. Die konkret in diesem Gesetz vorgesehenen Änderungen erscheinen unproblematisch. Wer allerdings ein wirklich soziales Europa will, also ein Europa auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der muss mehr tun, als hier und da zu koordinieren. Wir brauchen endlich eine soziale Fortschrittsklausel im Vertragswerk der Europäischen Union, die klarstellt, dass alle EU-Bürgerinnen und Bürger soziale Grundrechte haben und nicht einfach nur Rangiermasse von Kapitalinteressen sind. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stärkere Personenfreizügigkeit innerhalb der Mitgliedsländer der Europäischen Union erfordert auch eine stärkere Abstimmung der sozialen Sicherungssysteme. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu einem "sozialen Europa", in dem mobile Arbeitskräfte ausreichende und vor allem lückenlose Schutzrechte und Absicherungen erhalten. Sofern grundlegende datenschutzrechtliche Belange beachtet werden, kann der Abgleich von Versichertendaten auch ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Schwarzarbeit und Sozialversicherungsbetrug sein. Die eher technische Aufgabenstellung wird durch den vorliegenden Entwurf insgesamt recht ordentlich gelöst, deshalb werden wir dem Gesetzentwurf zur Koordinierung der sozialen Sicherheit in Europa zustimmen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es den Koalitionsfraktionen nicht gut bekommt, wenn die Opposition zu wenig Anlass zur Kritik sieht. Nach den fraktionsübergreifend im Grundsatz positiven Debattenbeiträgen legten CDU/CSU und FDP einen Änderungsantrag zur Beratung in den Ausschüssen vor. Dieser Änderungsantrag sollte unter anderem einen neuen § 295 a im Sozialgesetzbuch V schaffen, durch den die Datenverarbeitung bei besonderen Versorgungsformen geregelt werden sollte, unter anderem bei der hausarztzentrierten Versorgung. Die Aufnahme dieses Punktes war völlig daneben. Erstens handelt es sich dabei um ein komplexes Thema, das seit Jahren auf eine Lösung wartet. Die Einschätzungen über die Rechtssicherheit und Zulässigkeit der vorgeschlagenen Regelung gehen allerdings unter sachkundigen Experten auseinander. Dies zeigt auch die Debatte zwischen dem Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit und seinem Amtskollegen aus dem Land Schleswig-Holstein. Damit beschleicht einen das Gefühl, hier solle unbemerkt eine seit Monaten ausstehende Regelung durchgewunken werden. So geht das natürlich nicht. Für uns hat der Datenschutz einen besonderen Stellenwert. Genau deshalb ist es aber - zweitens - ein Unding, dieses Regelungsvorhaben als Unterpunkt eines Änderungsantrages zu einem gänzlich anderen Thema einzubringen. Ohne Not, ohne begründeten Zeitdruck und ohne zwingenden inhaltlichen Grund sollte der vorliegende Gesetzentwurf quasi als "Omnibus" für sonstige Regelungsbedarfe verwendet werde. Ich finde, das wird der Sache nicht gerecht. Es ist handwerklich wirklich schlecht, wenn die Ablehnung einer an sich nicht schlechten Vorlage in Kauf genommen wird, weil man sie mit anderen Themen überfrachtet. Das zeigt - drittens - auch mangelnden Respekt vor dem Parlament und seinen Ausschüssen. Die Strukturen und Verfahren des Deutschen Bundestages sind darauf angelegt, zwischen den Lesungen die parlamentarischen Initiativen durch Beratung und Änderungsanträge zu verbessern. Aber sie sind nicht dafür gedacht, gänzlich neue Themen hinzuzustellen. Sachgerechte Beratung sieht anders aus. Am Ende haben CDU/CSU und FDP ihr hemdsärmeliges Vorgehen offenbar eingesehen. Der besagte Punkt 1d des Änderungsantrags wurde gestrichen. Die verbleibenden Punkte sind insgesamt unproblematisch und haben in den Ausschüssen auch die Zustimmung der Grünen gefunden. So sollen Rückkehrende aus internationalen Organisationen demnach unter den gleichen Voraussetzungen wie Auslandsrückkehrende Zugang zur GKV erhalten, wenn sie innerhalb von zwei Monaten eine neue Beschäftigung im Inland aufnehmen. Dem steht nichts entgegen. Die "Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen" soll bei der Festlegung des anzuwendenden Rechts beteiligt werden, soweit der von ihr betreute Personenkreis betroffen ist. Auch gegen diese Anregung vonseiten des Bundesrates ist nichts einzuwenden. Schließlich soll die zuständige Datenstelle gegebenenfalls Informationen an die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft zum Zwecke der Einziehung von Beiträgen und der Gewährung von Leistungen übermitteln. Dies ist als Schritt zur Verhinderung von Schwarzarbeit und zur Gewährleistung sozialer Arbeitnehmerrechte zu begrüßen. Wir, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, werden dem Gesetzentwurf daher auch in seiner geänderten Form zustimmen. Als überzeugte Europäerinnen und Europäer werden wir uns Regelungen nicht entgegenstellen, welche die europaweite Mobilität von Arbeitnehmenden durch eine bessere Koordinierung sozialer Absicherung ergänzt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch nochmals sagen: Hier gibt es noch einiges zu tun. Beispielsweise sollte die Bundesregierung dafür Sorge tragen, dass auch Ansprüche aus Betriebsrenten in ein anderes europäisches Land mitgenommen werden können. Kollege Wadephul hat diesen Aspekt in seiner Rede zur Einbringung des Gesetzentwurfes ebenfalls erwähnt. Nun müssen den Worten allerdings noch Taten folgen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen somit zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5509, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4978 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch keine. Der Gesetzentwurf ist somit einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes - Drucksache 17/4805 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) - Drucksache 17/5511 - Berichterstattung: Abgeordneter Thomas Bareiß - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5514 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Luther Klaus Brandner Ulrike Flach Roland Claus Priska Hinz (Herborn) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.6 Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt dem Präsidium vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5511, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4805 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und Bünd-nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Ein Kollege stimmt dagegen. Enthaltungen? - Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das sind die Fraktion der SPD und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.7 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen - Drucksache 17/5044 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD 10 Jahre UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten - zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Katja Keul, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10 Jahre UN-Resolution 1325 - Frauen, Frieden und Sicherheit - Nationaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung - Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484, 17/5092 - Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Edelgard Bulmahn Dr. Bijan Djir-Sarai Sevim Daðdelen Kerstin Müller (Köln) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.8 - Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt uns hier vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5044 mit dem Titel "Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen". Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen CDU/CSU und FDP. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abgelehnt. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/5092. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3176 mit dem Titel "10 Jahre UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Sicherheit'". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Fraktionen CDU/CSU, FDP und Die Linke. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3205 mit dem Titel "Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Sicherheit' einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Die Linksfraktion und ein Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2484 mit dem Titel "10 Jahre UN-Resolution 1325 - Frauen, Frieden und Sicherheit - Nationaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linke. Gegenprobe! - SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Einführung eines Ordnungsgeldes - Drucksache 17/5471 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.9 - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Auch hier verzichte ich auf das Vorlesen der Namen der einzelnen Redner. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5471 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. - Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist das somit beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Nein zur Todesstrafe - Hinrichtung von Troy Davis verhindern - Drucksache 17/5476 - Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor. Michael Frieser (CDU/CSU): Für uns Deutsche und die große Mehrzahl der europäischen Länder ist die Todesstrafe Geschichte, kein Thema mehr, über das wir in Pro und Kontra diskutieren. Nach unserer Vorstellung, nach unserem christlich geprägten Menschenbild ist die Todesstrafe eine grausame und unmenschliche Strafe. Der Mensch kann nicht Richter über Leben und Tod anderer Menschen sein, ohne immer auch über sich selbst zu richten. Die Todesstrafe verstößt gegen das Grundrecht auf Leben und die unantastbare Würde des Menschen. Aber gerade hier erleben wir in bedrängender Weise die Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit der politischen und kulturellen Verhältnisse in unserer Welt. Noch immer gibt es eine Vielzahl von Ländern, die an der Todesstrafe festhalten. Wir sehen aber auch, wenn die jeweils von einem konkreten Fall ausgelöste Welle von Emotionen wieder ein Stück weit abgeebbt ist, dass in den letzten Jahren nicht nur hier in Europa, sondern weltweit erhebliche Fortschritte erreicht worden sind. Auch in den Ländern, die zurzeit noch an der Todesstrafe festhalten, beginnen unsere Argumente zu wirken. Kein System ist vor einem Fehler sicher. Die Angst vor einem öffentlichen, weltweit diskutierten Justizirrtum ist groß. Eine Gesellschaft, die - und sei sie noch so rechtstaatlich und demokratisch legitimiert - für sich das Recht in Anspruch nimmt, über Leben und Tod eines Menschen zu entscheiden, stellt mit jedem konkreten Fall ihre eigenen Existenzgrundlagen infrage. Niemand kann den Fehler korrigieren, wenn einmal doch ein Unschuldiger getötet wurde. Ein Todesurteil, einmal vollstreckt, kann nicht mehr revidiert werden. Dies sollte letztlich jeden Menschen, sei er auch noch so sehr durch ein schreckliches Verbrechen aufgewühlt, überzeugen und seinen Ruf nach harter Strafe mäßigen. Troy Davis wurde für den Mord an einem Polizeibeamten zum Tode verurteilt. Die Verurteilung beruhte ausschließlich auf Aussagen von Augenzeugen. Seither haben sieben von neun Belastungszeugen ihre Aussagen widerrufen. Der Zeuge, der Davis' Tat zur Anzeige gebracht hatte, war zwar am Tatort, stand aber ursprünglich selbst unter dem Verdacht, den Mord begangen zu haben. Das allein zeigt schon, auf welch unsicherer Grundlage hier ein Mensch zum Tode verurteilt werden soll. In den Grundsätzen, Argumenten und Zielen unserer Menschenrechtspolitik sind wir uns über die Fraktionen hinweg einig. Weniger einig sind wir uns dagegen in der Einschätzung, dass auch Menschenrechte etwas Dynamisches sind, dass man sie politisch nur mit Augenmaß, nur durch das behutsame, aber hartnäckige Bohren dicker Bretter durchsetzen kann, vor allem aber, dass eine Menschenrechtspolitik, die sich - in den Begriffen Max Webers - von einer Verantwortungsethik leiten lässt, die sich auf den konkreten nächsten Schritt konzentriert und auch Teilerfolge akzeptiert, letztlich zu besseren Ergebnissen führt als eine gesinnungsethische Alles-oder-Nichts-Politik, die ihren Anhängern zwar das Gefühl moralischer Überlegenheit gibt, aber mehr Porzellan zerschlägt, als ihnen selbst lieb sein kann. Der hier vorliegende Antrag akzentuiert diejenigen politischen Handlungsmuster, welche in der Sicht von Union und FDP als der Sache nicht dienlich, tendenziell kontraproduktiv und letztlich parteipolitischer Instrumentalisierung dienend angesehen werden: die Bindung politischer Einflussnahme und Aufklärungsarbeit an Einzelfälle; die Auswahl der Einzelfälle nach Ländern in der Weise, dass das Thema Todesstrafe mit einer Kritik der deutschen Außenbeziehungen zu bestimmten Staaten verbunden werden kann. Einen Antrag zur Aufhebung einer Todesstrafe im Libanon oder im Iran scheint die Linke dagegen stets zu vermeiden. Vor allem Punkt 5 der Feststellung, dass der Deutsche Bundestag seine Überzeugung bekräftigen solle, dass sich die Einhaltung der Menschenrechte und die gleichzeitige Verhängung der Todesstrafe mit Hinweis auf die USA zwingend gegenseitig ausschließen, kann in dieser Form nicht die Zustimmung von Union und FDP finden. Schließlich sind die USA diejenigen, die erstmals die Menschenrechte in der Bill of Rights proklamiert haben. Sie jetzt aufgrund eines einzigen Problempunkts mit diktatorisch regierten Unrechtsstaaten in eine Ecke der Menschenrechtsverletzer mit Staaten wie Nordkorea, China oder auch dem Iran zu stellen, ist absurd. Aber auch die Forderung, sich in Gesprächen auf bilateraler Ebene und im Rahmen der EU gegenüber den USA für ein umgehendes Moratorium als ersten Schritt zur Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen, sollte hier nicht ernsthaft aufgestellt werden. Die Empfehlung an die USA, die Todesstrafe abzuschaffen, ist seitens der Bundesrepublik wie auch der EU stets ausgesprochen worden. Aber wie die USA dies umsetzt und wann, ist Sache dieses souveränen Staates. Die Forderung nach dem Mittel (Moratorium) und der Zeit (unmittelbar, sofort) halte ich für eine unzulässige Einmischung in die Innenpolitik dieses Staates. Um es hier erneut klarzustellen: Der Bundestag hat bereits unter anderem mit der Drucksache 17/257 vom 16. Dezember 2009 beschlossen, sich weltweit für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen. Die Abschaffung von Todesstrafe und Folter waren Kernbestandteile dieses Beschlusses. Ich möchte aus unserem früheren Antrag und Beschluss "Menschenrechte weltweit schützen" zitieren: Gleich zu Anfang nehmen wir klar und unmissverständlich zur Todesstrafe Stellung: Unveräußerliche Prinzipien wie körperliche und geistige Unversehrtheit, Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind in vielen Teilen der Welt gefährdet. Die grausamste und unmenschlichste Form der Bestrafung, die Todesstrafe, wurde in vielen Staaten der Welt abgeschafft. Darunter sind alle Staaten der Europäischen Union. Doch immer noch wird die Todesstrafe verhängt bzw. vollstreckt, und dies nicht nur in autoritären Regimen wie Iran, China oder Sudan, sondern auch in Demokratien wie den USA und Japan. Es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund, der die Todesstrafe rechtfertigt; zudem können Fehlurteile nie ganz ausgeschlossen werden. Ein Grundanliegen deutscher Menschenrechtspolitik bleibt deshalb die Aussetzung und in letzter Konsequenz die Abschaffung der Todesstrafe. Damit haben wir die Todesstrafe klar abgelehnt. Menschenrechtliche, rechtsstaatliche und humanitäre Gründe sprechen mit einer Stimme gegen die Todesstrafe. Aber wir wissen auch, dass wir hier einen langen und schweren Weg angetreten haben. Unser Antrag heute geht einen weiteren Schritt in eine Richtung, die wir alle für richtig halten - zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, ich verstehe Ihr Engagement und schätze Ihren guten Willen. Aber aufgrund dieser Gleichmacherei völlig unterschiedlicher Länder und Regierungsformen müssen Union und FDP Ihren Antrag in der vorliegenden Form ablehnen. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die SPD tritt seit langem für die weltweite Bekämpfung der Todesstrafe ein. Als Abgeordnete und Menschenrechtspolitikerin ist dies für mich eine der wichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben. Deshalb hatte die SPD-Bundestagsfraktion im Juni 2010 gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen den Antrag "Todesstrafe weltweit abschaffen" eingebracht. Die Regierungskoalition hatte unseren Antrag - obwohl wir gerne einen interfraktionellen Antrag daraus gemacht hätten - aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgelehnt, um dann schnell noch einen eigenen, in wesentlichen Teilen von uns abgeschriebenen Antrag einzubringen. Deutsche Wirtschaftspartner, die ziemlich exzessiv die Todesstrafe verhängen, wie die USA oder China, sind in der Version Ihres Antrages allerdings aus der kritischen Würdigung rausgeflogen - ebenso wie der Iran. Damit aber nicht genug: Auch den gemeinsam mit den Grünen und Linken eingebrachten Antrag zu der damals von der Steinigung bedrohten Iranerin Sakineh Ashtiani haben Sie abgelehnt. Verehrte Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, wir haben es Ihnen damals schon ins Stammbuch geschrieben: Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre persönlichen Befindlichkeiten auch in diesem Fall über die Sache stellen, nämlich über den Kampf gegen die Todesstrafe. Dieser Kampf bleibt aktuell. Zwar gibt es einen weltweiten Trend zur Abschaffung der Todesstrafe, doch 58 Staaten halten noch an der Todesstrafe fest, und circa 25 von ihnen vollstrecken sie auch noch heute. In dem kürzlich erschienenen Jahresbericht von Amnesty International "Todesstrafen und Hinrichtungen 2010" ist China wieder der grausame Rekordhalter. China exekutiert mehr Menschen als alle anderen Staaten zusammen. Im Reich der Mitte sind Todesstrafen Staatsgeheimnis. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass allein in China jährlich bis zu 5 000 Menschen hingerichtet werden. Diejenigen, die sich aufgrund kleinster Vergehen in den Arbeitslagern zu Tode arbeiten, werden da noch nicht mitgerechnet. Außerhalb Chinas sind weltweit im Jahr 2010 mindestens 527 weitere Menschen der Todesstrafe zum Opfer gefallen. Auf den vorderen Plätzen dieser grausamen Hitliste der Todesurteile verhängenden und vollstreckenden Staaten sind der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die USA und der Jemen. Weltweit warten noch mehr als 17 800 Menschen auf den Tod durch den Staat. Drei davon sind übrigens Deutsche. Sie wurden wegen Mordes in den USA zum Tode verurteilt. Staaten sprechen ihnen das Recht auf Leben ab. Sie werden enthauptet, vergiftet, erschossen, gesteinigt oder verschwinden einfach. Die Delikte muten bisweilen grotesk an: In Laos und einer Reihe anderer Länder steht beispielsweise auf Drogenbesitz die Todesstrafe, in zahlreichen muslimischen Ländern auf Ehebruch, Apostasie oder die Beleidigung des nationalen Ehrgefühls. In der chinesischen Provinz Guangdong müssen selbst Handtaschendiebe um ihr Leben fürchten. Und vor ein paar Tagen wurde das Gerücht verbreitet, dass im ugandischen Parlament erneut versucht wird, Homosexualität unter bestimmten Bedingungen mit der Todesstrafe zu "bestrafen". Troy Davis, der in dem Linken-Antrag thematisierte Todeskandidat aus den USA, steht in diesen Tagen zum wiederholten Mal vor der Vollstreckung seines Todesurteils. Und er könnte - so die Vermutung vieler Experten - unschuldig sein. Seit er 1991, also vor 20 Jahren, ausschließlich auf der Grundlage von Zeugenaussagen wegen des Mordes an einem weißen Polizisten zum Tode verurteilt wurde, sitzt er in der Todeszelle. Weder eine Tatwaffe noch DNA-Spuren oder andere stichhaltige Beweise wiesen auf ihn hin. Im Laufe seiner bereits drei angestrengten Berufungsverfahren - das letzte wurde erst kürzlich vom Obersten Bundesgerichtshof abgelehnt - zogen sieben der insgesamt neun Zeugen ihre Aussagen zurück. Sie hätten im Prozess gegen einen angeblichen Polizistenmörder Angst bei ihren Aussagen gehabt. Ich bin generell gegen die Todesstrafe, aber selbst wenn sie für die USA rechtsstaatlich legitim ist, so dachte ich, auch in den USA gilt "in dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten. Ich kann die Ablehnung eines neuen Verfahrens beim besten Willen nicht nachvollziehen. Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Menschenrechte, das sind die Stichworte, die viele Amerikaner persönlich als die Maxime ihres Handelns bezeichnen. Aber auch die USA als Staat möchte Vorbild sein für die Welt. Nicht erst seit heute zweifle ich daran, wie diese Grundsätze mit der Exekution von Menschen, mit Guantanamo oder mit der grausamen und unmenschlichen Behandlung des Wiki-Leaks-Informanten Bradley Manning zusammengehen. Was den Antrag der Linken betrifft, werden wir uns bei aller Zustimmung zur Abschaffung der Todesstrafe und zum Einsetzen von Moratorien enthalten. Ihre Forderung an die Bundesregierung, den USA das Angebot zu machen, Troy Davis in Deutschland aufzunehmen, halte ich nicht für den richtigen Weg. Was im Falle der Uriguren aus Guantanamo zweifellos richtig gewesen wäre, wollen Sie hier offensichtlich als Regelfall einführen. Ich bin der Ansicht, dass die USA selbst die Verantwortung für den Fall übernehmen müssen. Unsere Aufgabe ist es, in den diplomatischen Beziehungen mit den USA stetig für die Einsetzung eines Moratoriums zu werben. Das Ziel muss die Abschaffung der Todesstrafe sein. Der Menschenrechtsbeauftragte im Auswärtigen Amt, Markus Löning, hat den weltweiten Kampf gegen die Todesstrafe zu seinem "persönlichen Schwerpunkt" erklärt. Dafür hat er meinen hohen Respekt. Er sollte diesen Fall zu "seinem" machen. Pascal Kober (FDP): Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag der Linken zur drohenden Hinrichtung von Troy Davis. Die FDP lehnt die Todesstrafe unter allen Umständen ab - völlig unabhängig von der Frage der Schuld oder Unschuld der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktionen dieses Hauses sind sich in diesem Punkt einig. Die Todesstrafe ist mit der Würde des Menschen unvereinbar, sie verletzt das unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Weder hat sie eine abschreckende Wirkung bei der Verbrechensbekämpfung noch kann sie aus dem Motiv der Sühne oder der Gerechtigkeit heraus begründet werden. Dass im Fall von Troy Davis, wie von Menschenrechtsorganisationen berichtet wird, sieben von neun Zeugen mittlerweile ihre Zeugenaussage widerrufen haben sollen, erinnert uns daran, dass kein Justizsystem dieser Welt und kein Gerichtsverfahren gegen Irrtümer gefeit ist. Vor diesem Hintergrund ist die Todesstrafe schon allein wegen ihrer Unumkehrbarkeit mit unserem liberalen Rechtsstaatsverständnis nicht vereinbar. In den letzten Jahren war ein wachsender Widerstand gegen die Todesstrafe zu verzeichnen, sodass sich mittlerweile 65 Staaten zu ihrer vollständigen Abschaffung verpflichtet haben und 150 Staaten auf ihre Anwendung verzichten. Dass auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution über ein Moratorium zur Vollstreckung der Todesstrafe vergangenes Jahr mit großer Mehrheit verabschiedet hat, bestätigt den Trend in Richtung ihrer weltweiten Abschaffung. In zahlreichen Ländern sind Todesurteile und die Hinrichtung von Menschen jedoch noch immer Realität. 47 Staaten sehen die Todesstrafe noch als Strafform vor. Dazu gehören auch die USA, einer unserer engsten Verbündeten. Dort existiert sie weiterhin in 33 Bundesstaaten als grausames und unmenschliches rechtliches Relikt in einer ansonsten so modernen Nation. Ich bin zwar ein großer Freund der USA, aber diese Tatsache macht mich immer wieder aufs Neue fassungslos. Vergangenes Jahr wurden 46 Menschen in den USA hingerichtet. Damit gehört das Land gemeinsam mit China, Iran, Saudi-Arabien, Pakistan, Nordkorea und Irak zu den sieben Staaten, die derzeit für 95 Prozent aller Hinrichtungen weltweit verantwortlich sind. Wollen die USA in Sachen Menschenrechte eine Vorbildfunktion für andere Länder übernehmen, müssen sie zu Hause für eine möglichst konsequente Ächtung der Menschenrechte sorgen. Teil unserer Menschenrechtspolitik gegenüber den USA muss es sein, sie auf diesem Weg zu unterstützen. Die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ist ein erklärtes Ziel liberaler Menschenrechtspolitik und ein Arbeitsschwerpunkt dieser Bundesregierung. Schon unser Koalitionsvertrag hält dieses Ziel schriftlich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine aktive Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese Praxis in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf Aussetzung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken. In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise daran erinnern, dass Gesundheitsminister Philipp Rösler im Januar für einen Lieferboykott des häufig in Todesspritzen enthaltenen Wirkstoffs Thiopental geworben hat. Er warnte vor dem möglichen Missbrauch dieses Narkosemittels zur Hinrichtung und appellierte an den Großhandel, solchen Lieferungsersuchen aus den USA nicht nachzukommen. Auch Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, war Anfang Februar in den USA, um sich über die aktuelle Diskussion zur Todesstrafe zu informieren und sich mit ihren Verfechtern zu treffen. Mit seiner Kritik ist er mitnichten auf taube Ohren gestoßen. Wie er uns berichtet hat, existiert dort selbst in konservativen Kreisen eine Debatte über die Todesstrafe, die nicht frei von Skepsis ist. Wir begrüßen auch die Entscheidung von Pat Quinn, Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois, der am 9. März die Todesstrafe in diesem Bundesstaat abgeschafft hat. Die Tatsache, dass die Debatte um die Abschaffung der Todesstrafe in Illinois von einer Gruppe von Studenten 1999 angestoßen worden ist, zeigt, wie wichtig das Engagement der Zivilgesellschaft bei der Durchsetzung von Menschenrechten ist. Diese Entscheidung in Illinois ist geeignet, einen Bewusstseinswandel auch in den anderen 33 US-Bundesstaaten, die bis heute an der Todesstrafe festhalten, herbeizuführen. Hier den Dialog mit Menschenrechtsaktivisten in den USA aufrecht zu halten verspricht eher Erfolge, als nur mit dem moralischen Zeigefinger über den Atlantik zu winken. Ich denke, ich habe damit deutlich gemacht, dass die FDP das grundsätzliche Anliegen, die Todesstrafe weltweit abzuschaffen, nicht nur teilt, sondern sich auch aktiv dafür einsetzt. Insofern kann ich dem ersten Teil des Antragstitels "Nein zur Todesstrafe!" voll zustimmen. In einem anderen Punkt widerspricht dieser Antrag jedoch einem unserer Grundsätze. Nach unserer Auffassung sollte nämlich kein einzelnes Todesurteil und keine Hinrichtung einer einzelnen Person herausgestellt werden. Denn jede Hinrichtung, auch jene der Tausenden Namenlosen, ist eine zu viel. Schließlich wenden wir uns nicht nur in diesem Fall gegen die Todesstrafe, sondern verfolgen deren gänzliche Abschaffung in den USA und weltweit. Dies geht weit über Ihren Antrag hinaus. Indem Sie hingegen Einzelpersonen herausstellen, werden Sie einerseits der Tragweite dieser Problematik nicht gerecht. Andererseits ist es uns als Bundestag nicht möglich, Abgrenzungen vorzunehmen, für welche von der Hinrichtung konkret bedrohte Person wir uns einsetzen und für welche nicht. Die Entscheidung gegen Ihren Antrag ist ausdrücklich keine Entscheidung gegen Troy Davis. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, der weltweiten Ächtung und einem völkerrechtlichen Verbot der Todesstrafe näher zu kommen. Annette Groth (DIE LINKE): Für viele von uns war die Nachricht, dass der Supreme Court das Berufungsverfahren des seit 20 Jahren inhaftierten Häftlings Troy Davis aus dem Bundesstaat Georgia abgelehnt hat, sehr erschütternd. Mehrmals hat Troy Davis vergeblich beantragt, dass sein Verfahren wieder aufgenommen wird, da er neue, entlastende Beweise vorlegen möchte. Dies wurde ihm immer verweigert. Mit der Ablehnung durch den Supreme Court ist eine Neuverhandlung nun definitiv ausgeschlossen. Die letzten zwanzig Jahre der Haft von Troy Davis waren von traumatischen Erlebnissen geprägt. Dreimal wurde ein Termin für die Hinrichtung von Troy Davis festgesetzt und jeweils erst in letzter Minute verschoben. Jedes Mal musste sich Davis mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod auseinandersetzen und konnte dann wieder Hoffnung schöpfen. In diesen zwanzig Jahren seiner Haft hat sich Troy Davis zu einem Symbol für den Kampf gegen die menschenverachtende und inhumane Todesstrafe entwickelt. Troy Davis war im Jahr 1991 allein aufgrund von Zeugenaussagen wegen Mordes an dem Polizisten Mark McPhail zum Tode verurteilt worden, obwohl niemals eine Tatwaffe, DNA-Spuren oder andere konkrete Tathinweise gefunden wurden. Viele haben sich für das Leben von Davis eingesetzt: das Europäische Parlament, der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu sowie Papst Benedikt XVI. Laut Amnesty International gibt es nur in China, dem Iran, Saudi-Arabien und Pakistan mehr Exekutionen als in den Vereinigten Staaten. Angehörige von Minderheiten und sozial Benachteiligte werden in den USA überproportional häufig zum Tode verurteilt und hingerichtet. Weltweit gibt es seit einigen Jahren einen Trend zur Ächtung der Todesstrafe. Die Annahme der Resolution gegen die Todesstrafe durch die 62. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 2007 hat deutlich gezeigt, dass die Abschaffung der Todesstrafe von der Mehrzahl der Staaten unterstützt wird. Der dänische Pharmakonzern Lundbeck, Hersteller des Präparates Nembutal Pentobarbital Sodium, kurz Pentobarbital, weigert sich, in seine Verträge eine Klausel einzufügen, mit der ausgeschlossen wird, dass Pentobarbital an die Todeskammern in den US-Bundesstaaten weitergegeben werden darf. Pentobarbital soll das bisher in den USA eingesetzte Narkosemittel Thiopental der US-Firma Hospira für die Vollstreckung der Todesstrafe ersetzen. Eine solche Ausschlussklausel verweigert die Firma Lundbeck mit dem Argument, man könne "das komplexe Vertriebssystem letztendlich nicht kontrollieren". Es ist völlig inakzeptabel, dass eine Firma in der Europäischen Union, in der alle Staaten die Ächtung der Todesstrafe vereinbart haben, mit diesem Mittel zur Vollstreckung der Todesstrafe beiträgt. Dafür sollte die Firma Lundbeck boykottiert werden. Trotz der seit vielen Jahren über ihm schwebenden Hinrichtung hat Troy Davis seine Hoffnung auf ein faires Verfahren niemals verloren. Wir befürchten, dass die Vollstreckung der Todesstrafe jetzt unmittelbar droht. Wir freuen uns sehr, dass sich weltweit viele Menschen gegen die Hinrichtung von Troy Davis engagieren und hier in Deutschland ein breites Bündnis von Organisationen und Initiativen einen Aktionstag für die Rettung von Troy Davis plant. Auch in den letzten Jahren haben Hunderttausende Menschen gezeigt, dass sie gegen die Todesstrafe kämpfen. Alleine im Jahr 2009 haben in einer Mail-Aktion mehr als 200 000 Menschen an den Gouverneur von Georgia geschrieben, um gegen die Verhängung der Todesstrafe gegen Troy Davis zu protestieren. Wir alle können Druck auf die Regierung der USA ausüben. Deshalb bitten wir Sie, dem Antrag der Fraktion Die Linke zuzustimmen, um für die Begnadigung von Troy Davis ein starkes Zeichen zu setzen. Die Fraktion Die Linke unterstützt die Haltung der Bundesregierung, wonach die Todesstrafe weder ethisch noch rechtspolitisch zu rechtfertigen ist. Deshalb bitten wir Sie, sich weiterhin weltweit für die Ächtung und die Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen. Wir wollen uns nicht in die Verfahren der US-Gerichtsbarkeit einmischen. Wir appellieren jedoch an die Verantwortlichen, im Rahmen der Möglichkeiten des US-Rechts eine Begnadigung oder die Umwandlung der Todesstrafe von Troy Davis in eine Haftstrafe zu erwirken. Vom Deutschen Bundestag wünschen wir uns, dass er - als klares Zeichen gegen die Todesstrafe - den USA auch ausdrücklich anbietet, Troy Davis in Deutschland Aufnahme zu gewähren. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit nunmehr 20 Jahren wartet der US-Amerikaner Troy Davis nach mehreren kräfteaufreibenden Gerichtsverfahren darauf, dass sein Todesurteil vollstreckt wird, das 1991 wegen des Mordes an einem Polizisten gegen ihn verhängt wurde. Aber nicht erst die Fraktion Die Linke hat mit ihrem Antrag auf eklatante Mängel im Verfahren hingewiesen. Es sind vielmehr die Familie des Verurteilten, die vielen freiwilligen Freunde und Helfer, die Menschenrechtsorganisationen und -verteidiger, die sich mit all ihren Kräften, ihren Ängsten und in ihrer Verzweiflung erwehren und dem Verurteilten beistehen. Mit der Ablehnung eines Antrages zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch den Supreme Court am 28. März 2011 scheint der letzte Funken Hoffnung erloschen: Die Behörden des Bundesstaates Georgia sind nun berechtigt, einen endgültigen Termin zur Vollstreckung des Urteils anzuberaumen. Davis kann jetzt nur noch hoffen, dass ein Begnadigungskomitee die Todesstrafe in lebenslange Haft umwandelt. Und ich hoffe sehr, dass diese Umwandlung vorgenommen wird. Denn solange man an der Todesstrafe festhält, lässt sich das Risiko, Unschuldige hinzurichten, nicht ausschließen. In der Causa Davis scheint das Risiko, einen Unschuldigen zu töten, besonders hoch zu sein. Im Antrag der Linken werden die Zweifel am Verfahren ja hinreichend angesprochen. Gerade in einer solchen Frage ist es angezeigt, sich auf das rechtstaatliche Prinzip "in dubio pro reo" zurückzubesinnen. Einem Bericht von Amnesty International zufolge sind seit 1973 in den USA 139 zum Tod verurteilte Gefangene aus der Todeszelle entlassen worden, nachdem in Revisionsverfahren ihre Unschuld festgestellt wurde. Diese Menschen saßen viele Jahre unschuldig im Todestrakt. Einige standen nur wenige Stunden vor ihrer drohenden Hinrichtung. Andere Gefangene werden hingerichtet, obwohl starke Zweifel an ihrer Schuld bestehen. Letztlich speist sich die Kritik an der Todesstrafe aus der Wahrung und Achtung der allgemeinen Menschenrechte. In Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist das Recht auf Leben verbürgt. Das Recht auf Leben ist das fundamentalste Menschenrecht, weil das Leben des Menschen die notwendige Bedingung für seine körperliche und psychische Integrität darstellt. Es ist eine Vorbedingung, um alle anderen Menschenrechte genießen zu können. Selbst die Würde einer Person ist ohne den Eintritt in das Leben undenkbar. Hinrichtungen sind dagegen archaische, vormoderne und anti-aufklärerische Methoden des Strafvollzuges. Der Staat muss sich vielmehr zum Leben bekennen. Er ist dafür da, das Leben und die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Freiheitsstrafe ist ein Mittel, mit dem der Staat die Gesellschaft vor jenen zu bewahren versucht, von denen eine Gefahr ausgeht. Die Todesstrafe ist hingegen ein Akt der Rache. Mit Abschreckung ist sie nicht zu begründen: Zahlreiche empirische Studien widerlegen die Annahme, dass die Todesstrafe als Kriminalsanktion eine präventive Wirkung entfaltet. Kurzum: Die Todesstrafe ist irrational und ein anti-aufklärerisches Übel. Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregierung dazu auf, an die USA zu appellieren, sich für eine Begnadigung Troy Davis' einzusetzen, bilaterale Gespräche mit den USA zu suchen, um unter Hinweis auf unkalkulierbare Risiken und menschenrechtliche Bedenken für die Abschaffung der Todesstrafe einzutreten, und in ihrer Arbeit gegen die Todesstrafe weltweit nicht nachzulassen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5476. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist somit abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex - Drucksache 17/5470 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.10 - Ich sehe, Sie sind einverstanden. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit - Sie werden es nicht glauben, aber es ist wahr - am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Der eine oder andere hätte vermutlich hier noch gern weitergearbeitet, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aber es gibt ja noch die Bürotätigkeit. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. April 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22.05 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Arnold, Rainer SPD 14.04.2011 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Becker, Dirk SPD 14.04.2011 Binding (Heidelberg), Lothar SPD 14.04.2011 Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 14.04.2011 Dr. Danckert, Peter SPD 14.04.2011 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 14.04.2011 Friedrich, Peter SPD 14.04.2011 Gerster, Martin SPD 14.04.2011 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Kampeter, Steffen CDU/CSU 14.04.2011 Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Lange (Backnang), Christian SPD 14.04.2011 Leutert, Michael DIE LINKE 14.04.2011 Möller, Kornelia DIE LINKE 14.04.2011 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Roth (Esslingen), Karin SPD 14.04.2011 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 14.04.2011 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.04.2011 Schuster, Marina FDP 14.04.2011* Süßmair, Alexander DIE LINKE 14.04.2011 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Ulrich, Alexander DIE LINKE 14.04.2011 Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Weinberg, Harald DIE LINKE 14.04.2011 Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 14.04.2011* Werner, Katrin DIE LINKE 14.04.2011* Dr. Westerwelle, Guido FDP 14.04.2011 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.04.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 14.04.2011 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Michael Groß (SPD): Nach den Versäumnissen der Bundesregierung, rechtzeitig für den deutschen Steinkohlebergbau eine Regulierung im europäischen Beihilferecht bei der EU-Kommission in Brüssel zu erwirken, folgte ein schlechter Kompromiss, nachdem nun die Revisionsklausel ersatzlos gestrichen werden soll. Damit müssen die wenigen noch bestehenden deutschen Steinkohlebergwerke einen Stilllegungsplan und einen konkreten Stilllegungszeitpunkt vorlegen, damit weiterhin Beihilfen gewährt werden können. Mit der jetzigen Lösung der derzeitigen Regierungspolitik müssen Steinkohlebergwerke nicht nur rentabel und beihilfefrei arbeiten wie andere Unternehmen, sondern sind zusätzlich verpflichtet, die Beihilfen aus den vergangenen Jahren zurückzuzahlen. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass angesichts weltweiter Rohstoffknappheit, steigenden Energiebedarfs und des Ausstiegs aus der Atomkraft in Deutschland die Rentabilität deutscher Steinkohlebergwerke durchaus in naher Zukunft realistisch sein kann. Die deutschen Bergbaumaschinentechnologie ist weltmarktführend und genießt hohes internationales Ansehen. Der Technologieexport kann einen sinnvollen Beitrag zur Wirtschaftlichkeit unserer Steinkohlebergwerke leisten. Die Sicherheitsstandards sind weltweit vorbildlich. Die heimische Steinkohleförderung liegt zurzeit bei 23 Prozent des bundesweiten Verbrauchs. Zukünftig wird dieser Bedarf ausschließlich durch Importkohle gedeckt werden, die über weite klimaschädliche Transportwege nach Deutschland gelangt, Kohle, die billiger auf den Markt gelangt, da sie in vielen Förderländern unter menschenunwürdigen und unsicheren Lebens- und Arbeitsbedingungen gefördert wird. Die heimische Steinkohle weist Lagerstätten hochwertiger Kokskohle auf. In der Stahlerzeugung ist Kokskohle nicht zu substituieren. Etwa 18 Prozent des deutschen Stroms wird mit Steinkohle produziert. Als Brücke in das Zeitalter der erneuerbaren Energien sind hocheffiziente, lastflexible Kohlekraftwerke derzeit nicht verzichtbar, bis die Maßnahmen zu Energieeffizienz greifen und der Strombedarf aus erneuerbaren Energien vollständig abdeckt wird. Im Bergbau und in der Wertschöpfungskette des Steinkohlebergbaus bestehen mehr als 10 000 Arbeitsplätze und kaum ersetzbare Ausbildungsplätze, hauptsächlich im Kreis Recklinghausen, die jetzt infrage gestellt sind. Die Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes wird automatisch zu massiven weiteren sozial- und arbeitsmarktpolitischen Verwerfungen im Kreis Recklinghausen führen. Dieter Jasper (CDU/CSU): Ich erkläre hiermit, dass ich dem Gesetz zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes in der vorliegenden Form nicht zustimme. Dies möchte ich folgendermaßen begründen: Mit dem heutigen Gesetzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition eine normative Voraussetzung, damit aus europäischer Sicht in Deutschland ein subventionierter Steinkohlenbergbau bis ins Jahr 2018 ermöglicht wird und sichergestellt werden kann. Inhaltlich bedeutet dieser Gesetzentwurf, dass die sogenannte Revisionsklausel ersatzlos gestrichen wird. Zum Hintergrund: Im Jahr 2007 wurde eine kohlepolitische Verständigung getroffen, in der die Bundesregierung, das Land NRW, das Saarland, die RAG und die IGBCE den sozial-verträglichen und geordneten Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau bis zum Jahr 2018 regelten. Diese Vereinbarung beinhaltete auch die sogenannte Revisionsklausel, die festlegte, dass dieser Beschluss im Jahr 2012 noch einmal überprüft werden sollte. Völlig überraschend forderte die Europäische Kommission im letzten Jahr einen früheren Ausstieg aus der Kohleförderung bis zum Jahr 2014. Dies hätte für Deutschland und gerade auch für meine Heimatregion dramatische wirtschaftliche und soziale Konsequenzen gehabt. In Ibbenbüren im Tecklenburger Land liegt eine der letzten Steinkohlenzechen in Deutschland. Hier wird schon seit langer Zeit hochwertige Anthrazitkohle gefördert. Diese wird zu einem großen Teil im direkt anliegenden hocheffizienten Kohlekraftwerk verfeuert und zum anderen Teil für den regionalen Wärmemarkt verwendet. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Bergbaus für die Stadt Ibbenbüren und die umliegenden Bergbaugemeinden Mettingen, Recke, Hopsten, Hörstel und Westerkappeln ist enorm. In der Bevölkerung und über alle gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg herrscht eine hohe Akzeptanz. Im Bergbau sind derzeit direkt über 2 300 Menschen beschäftigt, im Bereich der Zulieferbetriebe sind im Laufe der Zeit mehrere Tausend Arbeitsplätze entstanden. Auch im Bereich der Ausbildung leistet die Zeche ganz hervorragende und unverzichtbare Arbeit. Als der Vorschlag der EU-Kommission bekannt wurde, führte dies natürlich zu großer Unruhe und Irritation in unserer Region. Ein Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau bereits im Jahr 2014 hätte dazu geführt, dass es zu betriebsbedingten Kündigungen gekommen wäre und auch sonst massive wirtschaftliche und soziale Probleme entstanden wären. In dieser Situation habe ich mich unmittelbar an unsere Bundeskanzlerin gewandt und um Hilfe und Unterstützung gebeten. Unter Einsatz aller Kräfte und durch tatkräftige Unterstützung des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Hintze konnte erreicht werden, dass der Beschluss der EU revidiert wurde. Die Unterstützung der heimischen Steinkohlenförderung bis ins Jahr 2018 wurde unter bestimmten Bedingungen auf europäischer Ebene akzeptiert. Eine dieser Bedingungen für die notwendige europäische Regelung war, dass die Revisionsklausel aus dem nationalen Gesetz gestrichen und der Ausstieg somit unumkehrbar gemacht wird. Dieser Forderung wird mit dem heutigen Gesetzentwurf Genüge getan. Aus europäischer Sicht darf es nach 2018 keinen subventionierten Steinkohlenbergbau in Deutschland mehr geben, sodass es auch keiner weiteren Prüfung im Jahr 2012 bedarf. Hier handelt die christlich-liberale Regierungskoalition konsequent und richtig, da es an vorderster Stelle darum geht, die auf europäischer Ebene gefundene Einigung nicht zu gefährden, die nur unter größten Mühen gefunden werden konnte. Für mich persönlich stellt sich die Situation aber etwas komplexer dar: Die Revisionsklausel ist juristisch überflüssig geworden, und ihre Streichung dient dem Zweck der Bestandssicherung auch des Steinkohlenbergbaus bei uns im Tecklenburger Land. Politisch gehört sie aber meines Erachtens auf die Tagesordnung der zukünftigen Energiepolitik, und deshalb kann ich einer Streichung nicht zustimmen. Ich möchte ein deutliches Signal setzen, dass die Zukunftschancen der Steinkohle nicht nur jetzt, sondern auch nach 2018 erkannt und genutzt werden müssen. Dazu müssen wir die weitere Entwicklung im Fokus haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die heimische Steinkohle weiterhin als nationale Energiereserve benötigen und somit den Zugang zu den Lagerstätten erhalten sollten. In einem zukunftsorientierten Energiemix brauchen wir neben den regenerativen Energien auch hochmoderne und effiziente Kohlekraftwerke, in denen dann auch die heimische Steinkohle verströmt werden kann. Gerade jetzt, wo alle möglichen Energieformen auf dem Prüfstand stehen und wir uns fragen müssen, wie eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für unser Land zukünftig gestaltet werden kann, dürfen wir uns diese Möglichkeit eines heimischen Energieträgers nicht verbauen. Grundsätzlich ist es richtig, die jetzt gefundene europäische Vereinbarung endgültig zu ratifizieren. Aber wir dürfen die weitere wirtschaftliche Entwicklung nicht aus den Augen verlieren und müssen uns bewusst sein, dass wir in unserem rohstoffarmen Land mit der Steinkohle einen der ganz wenigen grundlastfähigen Energieträger verfügbar haben. Diesen sollten wir nicht vorschnell aufgeben. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) - Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) - Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG) (Tagesordnungspunkt 3 a bis c) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Angesichts der anspruchsvollen Debatte will ich nur kurz mit einigen Bemerkungen begründen, warum ich ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik ethisch und verfassungsrechtlich für geboten halte. In der Debatte wurden gewichtige Gesichtspunkte vorgetragen, wie zuvörderst der Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind oder die Gefahr eines Rutschbahneffektes, wenn wir die PID bei bestimmten Erbkrankheiten zulassen. Gerade das Schicksal der betroffenen Familien treibt uns alle um. Verfassungsrechtlich und ethisch muss aber meines Erachtens der Schutz des menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen und die Frage beurteilt werden, ob er ggf. mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden muss. Mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht menschliches Leben und ist genetisch die Identität eines Menschen individuell festgelegt. Und jedes menschliche Leben ist zu schützen. Dies entspricht nicht nur christlicher Überzeugung, es entspricht - und darauf kommt es hier an - meines Erachtens der Logik der ersten drei Artikel unserer Verfassung und der Logik der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes hierzu. Oft wird ja die PID-Problematik mit der Abtreibung verglichen. Dies verbietet sich hier genauso wie bei der Diskussion um embryonale Stammzellen. Die PID ist die bewusste und gewollte künstliche Erzeugung von acht Embryonen zum Zwecke des Aussortierens und kein existenzieller Konflikt. In meiner Rede zur Stichtagsregelung für den Import embryonaler Stammzellen hatte ich ausgeführt: Bei der Frage der Abtreibung steht das Leben der Mutter mit dem Leben des Kindes in einem direkten, unauflösbaren Konflikt. ... Die Abtreibung bleibt auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 StGB Unrecht, auch wenn sie nicht in jedem Fall strafrechtlich verfolgt wird. Das ist eine ganz klare ethische Linie. Lediglich bei den Instrumenten, also dabei, wie wir das menschliche Leben in diesen Situationen schützen, hat das Bundesverfassungsgericht uns, dem Gesetzgeber, erlaubt, nicht in jedem Fall zum Mittel des Strafrechts zu greifen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die Vorgabe des Grundgesetzes sind klar. Beim Luftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber noch einmal ermahnt: Leben ist nicht gegen Leben abzuwägen; nicht einmal Leben, das wir dem Tod geweiht glauben, darf geopfert werden, um anderes menschliches Leben zu retten. Nun geht es aber bei der PID um eine Abwägung Leben gegen Leben Es geht eben nicht um Paare, die ihren Kindern das Leid durch eine von ihnen vererbte Krankheit ersparen. PID ist keine Diagnose, die eine Behandlung zum Ziel hat. Sie wendet nicht Leid von Eltern oder ihrem Kind ab, sondern wendet das Kind selbst ab. Es geht um den Wunsch eines Paares oder einer Frau, ein Kind zu bekommen, das bestimmte genetische Anlagen nicht aufweist. Es geht um den Wunsch und nicht das Recht auf ein Kind. Dieser Wunsch verdient unseren Respekt, und die Situation der Betroffenen hat unser aller Mitgefühl. Dieser Wunsch darf aber nicht um jeden Preis realisiert werden, nicht um den Preis, dass menschliches Leben zur Disposition gestellt wird und Menschen, die Abgeordneten, die Ärzte oder Mitglieder von Ethikkommissionen darüber entscheiden, welches men-schliche Leben noch gelebt werden kann und welches nicht. Menschen dürfen sich nicht zum Richter über das Lebensrecht anderer aufschwingen. Wir dürfen nicht eine Debatte über lebenswertes und weniger lebenswertes Leben bekommen. Deshalb bin ich dafür, die PID generell nicht zuzulassen. Ich verkenne nicht, dass es im Antrag von Priska Hinz und René Röspel unter anderem um einen anderen Ansatz geht. Man hat dort versucht, die PID auf nicht lebensfähiges Leben zu beschränken. Gesetzgeberisch ist der Vorschlag meines Erachtens in dieser Hinsicht aber nicht ganz gelungen, und es erscheint mir auch nicht geklärt, ob diese Unterscheidung medizinisch so überhaupt möglich ist. Michael Brand (CDU/CSU): Weil wir heute eine Debatte über eine sehr zentrale Grundsatzfrage mit großem Engagement führen, muss es um Klarheit auch bei den Grundsätzen gehen. Die Argumente werden nach bestem Wissen und Gewissen vorgetragen. Dies tue ich heute in großer Klarheit und mit großem Engagement, weil wir doch alle um uns herum sehen, was sich aus einer sogenannten begrenzten Ausnahmeregelung entwickeln kann. Wer sich heute mit Hinweis auf die derzeit noch nicht flächendeckenden Risiken in Europa optimistisch zeigt, der muss nur einen Blick in die Prospekte von Reproduktionskliniken mit der Darstellung von Wunschmerkmalen der gewünschten Kinder werfen. Dort erhält man einen Blick in die Zukunft, und es ist ein sehr skeptischer Blick. Es ist zweifelsfrei eine große Belastung, einen Kinderwunsch nicht gefahrlos erfüllt zu bekommen. Es ist aber eine weit größere Belastung, ein Menschenleben abzutöten, weil es Risiken in sich birgt, und zwar solche, die entweder in dessen Lebenszyklus geheilt werden können oder teils gar nicht eintreten, während dieses Leben eben auch mit diesen Merkmalen ein ebenso wertvolles ist wie das eines jeden Einzelnen von uns. Wir sprechen bei der PID über jährlich 200 bis 300 Fälle bei einer Bevölkerung von über 80 Millionen. Wollen wir einen Grundpfeiler des Schutzes für menschliches Leben für Millionen von ungeborenen Kindern aufweichen, hier sozusagen als Einfallstor für die Selektion menschlichen Lebens, mit dem Risiko, dass dies schwere Folgen hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung des Schutzes von menschlichem Leben bedeuten kann? Finden wir keine anderen Optionen, zum Beispiel die Erleichterung von Adoptionen, Hilfe für Menschen mit Behinderung, psychologische Hilfe und weitere Ansätze, um diesem Personenkreis zu helfen, eben ohne die Büchse der Pandora zu öffnen, mit allen großen Risiken? Es wird hier immer wieder verlangt, das medizinisch Mögliche zu unternehmen. Ja, es stimmt, und das gehört zu einer modernen und menschlichen Gesellschaft: Wir wollen, wir sollten das medizinisch Mögliche ermöglichen. Aber nie, ich wiederhole: nie dürfen wir das moralisch-ethisch Unmögliche nur deshalb möglich machen, weil es inzwischen medizinisch möglich geworden ist. Dabei geht es nicht nur um den Druck auf die Frauen, sich vor einem möglicherweise behinderten Kind durch dessen Selektion zu schützen - übrigens oftmals unter sanften oder auch massiven Druck gesetzt aus dem eigenen Umfeld oder auch vom Partner. Das gilt auch für den Rechtfertigungsdruck nach der Geburt eines behinderten Kindes. Es geht auch um die Frage, ob wir unsere Kinderwünsche über alles stellen und dabei noch die Kinder nach gewünschten Eigenschaften auswählen. Niemand verkennt das Leid von Eltern. Unser Respekt, unsere Zuneigung geht aber auch zu den Eltern, die sich ihrer Kinder so annehmen, wie diese Kinder sind, die sie im echten Sinne bedingungslos, das heißt ohne Anspruch auf Vollkommenheit lieben. Wir dürfen aus behinderten Kindern nie ein solches Problem machen, dass gar die Selektion dieser Kinder in Kauf genommen wird. Es bleibt unverrückbar, dass mit einer weiteren Zulassung der Selektion und der damit unvermeidlich, ich wiederhole: unvermeidlich verbundenen Tötung des nicht zum Überleben ausgewählten menschlichen Lebens eine Büchse der Pandora nicht mehr geschlossen wird. Wir haben als Parlamentarier, als Christen, als Menschen die Möglichkeit, diese Büchse der Pandora wieder zu schließen. Wir sollten diese Kraft aufbringen. Jeder hier hat sicher Kontakt mit behinderten Mitmenschen, mehr oder weniger. Ich selbst habe diesen Kontakt regelmäßig. Haben Sie sich vor diese Menschen schon mal hingestellt und ihnen gesagt, dass sie eventuell in einer nicht allzu fernen Zukunft zu einer kleiner werdenden Minderheit zählen werden, weil es immer mehr Menschen geben wird, deren Leben vor der Geburt beendet werden wird, weil ihre Nachteile unerwünscht sind? Es gibt die Warnungen der Ethiker, der Kirchen, von Ärzten, Wissenschaftlern, Verbänden wie Lebenshilfe, VdK, von Betroffenen selbst, in der Tat viele warnende Stellungnahmen - und es gibt die normalen, menschlichen Reaktionen. Zu den zutiefst menschlichen Eigenschaften und Reflexen gehört, menschliches Leben schützen zu wollen, retten zu wollen. Dieser zutiefst menschliche Reflex würde durch die Aufweichung dieser Schutzfunktion für das menschliche Leben bedroht, und wir brauchen diesen Reflex und diesen Schutz. Ob dies, wie bei mir, auch aus christlichem Fundament oder von anderen Quellen her gespeist wird, das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, dass wir die Achtung vor uns Menschen nicht verlieren. Das geschieht nicht mit einem lauten Knall, es geschieht meist Stück für Stück. Die Relativierung ist bereits unterwegs, und wir müssen uns ihr mit Kraft entgegenstemmen, um die Achtung vor dem menschlichen Leben und seinen Schutz aktiv zu bewahren. Nicht nur wir Christen wissen: Der Mensch wird nicht, er ist es von Anfang an. Er hat uneingeschränkte Würde von Anfang bis zum Ende, ohne jede Einschränkung. Die Diagnostik soll helfen, um zu heilen, nicht um zu töten. In meiner Heimat treffe ich vielfach Menschen mit Behinderung, die mit all ihrer Verschiedenheit uns alle sehr bereichern. Wir beschließen die UN-Konvention für Inklusion, um Behinderte nicht aus unserem Alltag auszuschließen. Wer hier bei PID mit Kriterien eingrenzt, der grenzt auf der anderen Seite natürlich auch aus. Diese Verantwortung kann man nicht wegdrücken auf Kommissionen; das ist unsere Verantwortung hier im Parlament, dies zu entscheiden und das Leben zu schützen. Wir haben mit dem Embryonenschutzgesetz bewusst eine besonders hohe Hürde gesetzt; die dürfen wir nicht reißen. Denn es muss auch hier deutlich gesagt werden: Die Öffnung würde nicht beim ersten Schritt stehen bleiben, es würde - wie immer bisher - ausgeweitet. Wir müssen das Ende bedenken, bevor wir den Beginn der Einführung der PID beschließen können. Ich will, dass wir mit allen Menschen zusammenleben. Ich will, dass auch behinderte Menschen in ihrem menschlichen Reichtum, ihrer Passion und ihrem unveräußerlichen Recht von uns allen als Gesellschaft angenommen werden. Ich verkenne das Leid des Personenkreises von 200 bis 300 Personen nicht. Aber ich kann und ich will lieber diese um Verzicht bitten, als die Selektion behinderter Menschen zuzulassen. Der Gesetzgeber würde mit der Zulassung der PID den fatalen Weg nach unten, zu immer weniger Schutz des menschlichen Lebens weiter fortsetzen. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat 2001 zu Recht gesagt: "Wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt." Gerade in den großen Grundfragen müssen wir es uns zu Recht sehr schwer machen. Das habe ich getan. Und eine schwere, eine schwerwiegende Entscheidung getroffen habe ich auch: Die Würde des Menschen ist unantastbar, auch von großem Leid anderer unantastbar. Schützen wir die Würde von uns Menschen, lassen wir hier keine Ausnahmen zu! In voller Kenntnis und Anerkenntnis des Dilemmas schützen wir die elementaren Rechte von uns Menschen. Und wir sollten uns auch hier nicht zum Richter über Leben und Tod aufschwingen. Denn wir sollten nicht und dürfen nicht Gott spielen. Norbert Geis (CDU/CSU): Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen, unabhängig davon, ob sich die Verschmelzung in der natürlichen Begegnung von Mann und Frau ereignet oder ob sie im Reagenzglas künstlich herbeigeführt wird. Die Technizität des Vorganges ändert nichts am Ergebnis: Beide Male beginnt das Leben des Menschen mit der Vereinigung von Ei- und Samenzellen. Es gibt den Einwand, der Embryo im Reagenzglas beginne sein menschliches Leben erst dann, wenn die Implantation und die Einnistung erfolgt sei. Diese Behauptung, die Einnistung sei neben der Vereinigung von Ei- und Samenzellen gleichrangig kausal für den Beginn des Lebens, ist nicht zu halten. Das wird an der Situation der Leihmutter deutlich. Sie gilt nach unserer Rechtsordnung nicht als Mutter des Kindes. Mutter bleibt die Frau, die das Ei "spendet". Ebenso bleibt Vater, der den Samen "spendet". Allein von diesen beiden kommt die genetische Bestimmung des neuen menschlichen Lebens. Die Gene sind es, die den einzelnen Mensch von jedem anderen unterscheiden und ihn sein Leben lang bestimmen. Dass viele weitere Schritte dazukommen müssen, damit der Mensch heranwachsen kann, steht außer Frage. Für den Embryo sind diese ersten Schritte die Implantation und die Einnistung. Diese sind aber nicht der Ursprung des Lebens. Wir alle haben als Embryo begonnen. Wären wir in diesem Stadium getötet worden, wären wir heute nicht da. Uns gäbe es nicht. Das hat zur Folge, dass dieses menschliche Leben, das in einer besonderen Weise schutzbedürftig ist, auch geschützt werden muss. In der Tat steht der Mensch von Anfang an, ab der Vereinigung von Ei- und Samenzelle, unter dem Schutz der Verfassung. Im ersten Urteil zum Abtreibungsrecht vom 25. Februar 1975 stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass der Schutz der Verfassung dort gilt, "wo menschliches Leben existiert". Von Anfang an, so stellt das Verfassungsgericht fest, kommt dem Menschen Würde zu. Dies, weil er Mensch ist, unabhängig davon, ob er sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst auch wahren kann. Die Wahrung der Würde des Menschen heißt, dass der Mensch im innersten Kern seines Wesens unantastbar und unverfügbar ist. Der Mensch kann nicht als Sache behandelt werden. Weil der Embryo Mensch ist, hat er das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz hat jeder Mensch, auch der ungeborene Mensch und der Embryo im Reagenzglas dieses Recht. Auch dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 klargestellt, dass nämlich der Staat unabhängig vom Status des Menschen verpflichtet ist, dieses Leben zu schützen, vom Anfang bis zum Ende. Auch der Schutz vor Diskriminierung gemäß Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz gilt nicht nur für jeden Erwachsenen, sondern auch für den Embryo. Die Tötung des Embryos verstößt also auch unter diesem Gesichtspunkt gegen die Verfassung. Weil der Staat verpflichtet ist, die Grundrechte zu wahren, hat er mit dem Embryonenschutzgesetz Regelungen getroffen, die das Leben und die Integrität des Embryos schützen sollen. Die PID verstößt gegen die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes. Mit der PID wird danach geforscht, welche der im Reagenzglas befruchteten Eizellen genetisch belastet sind. Es geht dabei allein darum, die mit genetischen Fehlern behafteten Embryonen auszusortieren und sie nicht in den Uterus der Frau zu übertragen, sondern sie zu vernichten oder sonst wie dem Untergang anheimzugeben. Zu keinem anderen Zweck wird die PID eingesetzt. Sie ist, wenn sie Erbkrankheiten feststellt, das Todesurteil für den Embryo. Deshalb galt die PID in Deutschland gemäß dem Embryonenschutzgesetz als verboten. Der Bundesgerichtshof hat jedoch mit seinem Urteil vom 6. Juli 2010 entschieden, dass die PID nicht gegen das Embryonenschutzgesetz verstößt. Die PID sei vielmehr darauf gerichtet, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Dies ist jedoch eine völlige Verkennung der Absicht, mit der die PID durchgeführt wird. Sie hat keinen anderen Sinn und Zweck, als die "schlechten Embryonen" von den "guten" zu trennen und sie dann zu vernichten. Es ist völlig unerklärlich, wie die Richter zu einer solchen Verkennung der Logik der PID kommen können. Ein falsches Urteil! Ebenso ist der Hinweis des Gerichtes, dass es, weil es nach dem Embryonenschutzgesetz auch erlaubt sei, Samenzellen auszusondern, wenn Erbkrankheiten festgestellt wurden, deshalb auch erlaubt sein müsse, Embryonen mit Erbfehlern auszusondern, nicht nachvollziehbar. Die Samenzelle ist kein Embryo. Zu dieser Unterscheidung müsste der BGH eigentlich fähig sein. Das Urteil des BGH zwingt aber dazu, gesetzlich klarzustellen, dass die PID in Deutschland verboten ist. Dabei kann aus Achtung vor dem Leben des Embryos im Reagenzglas nur ein striktes Verbot der PID infrage kommen. Durch die PID wird das Tor zu einer Qualitätskontrolle eröffnet. Am Ende geht es dann nicht mehr nur um die Aussonderung von erbkranken Embryonen, sondern der Weg führt dann hin zur Geschlechtskontrolle oder zur Frage, welches Baby mit welchem Design es denn sein darf. Sicherlich will keiner der vorgelegten Gesetzentwürfe eine solch abartige Entwicklung gestatten. Man sollte jedoch den Anfängen wehren. Das gilt auch für den Gesetzentwurf, der für eine eng begrenzte Zulassung der PID plädiert, wie von dem Gutachten der Leopoldina vom 18. Januar 2011 vorgeschlagen wird. Wer die Tötung zulässt, auch nur im begrenzten Umfang, öffnet das Tor, wie dies die Erfahrung aus der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch lehrt. Dann ist kein Halten mehr. Was heißt schon "eng begrenzte" Zulassung der PID! Wo ist die Zulassung begrenzt, und wo geht sie zu weit? Aber selbst wenn die Fälle der möglichen Zulassung gesetzlich genau festgeschrieben werden könnten, bliebe doch die Tatsache, dass ein unschuldiges menschliches Leben getötet wird. Niemandem aber darf das Leben genommen werden, nur weil er behindert ist. Das Argument wird immer wieder bemüht, zwischen dem Verbot der PID und dem Abtreibungsstrafrecht bestehe ein "Wertungswiderspruch". Der Embryo im Reagenzglas werde besser geschützt als das Kind im Mutterleib. Diese Argumentation ist falsch. Nach dem Abtreibungsrecht existiert, wie bei dem Verbot der PID auch, keine Erlaubnis, ein Kind, nur weil es behindert ist, abzutreiben. Außerdem ist es sehr fraglich, ob die sehr problematische Abtreibungsregelung als Maßstab herangezogen werden darf. Die Tötung eines unschuldigen Kindes durch Abtreibung kann nicht in irgendeiner Weise als ein "Wert" angesehen werden, zu dem der Schutz des Embryos im Reagenzglas im Wertungswiderspruch stehen kann. Die Tötung eines unschuldigen Menschen und der Schutz des Lebens sind unüberbrückbare Gegensätze, die sich in ihrem "Wert" nicht widersprechen können, weil die Tötung eines Unschuldigen unter keinem Aspekt ein Wert ist. Dies wäre sonst ein Widerspruch zu unserer gesamten Rechtsordnung. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Paare wünschen sich eigene gesunde Kinder. Wir sollten respektieren, dass dies auch für Paare gilt, bei denen ein Partner Überträger einer schweren Erbkrankheit ist. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) kann für diese Paare eine Hilfe darstellen, gesunde Kindern zu bekommen. Sie ist gleichwohl keine Garantie dafür, denn niemand kann gesunde Kinder garantieren. Der Bundesgerichtshof hat im Sommer des vergangenen Jahres entschieden, dass in Deutschland nach dem bis jetzt noch geltenden Recht die Präimplantationsdiagnostik zulässig ist. Gleichzeitig hat der Gerichtshof den Bundestag aufgefordert, eine eigenständige rechtliche Regelung zu verabschieden. Das Gericht hatte aufgrund der Selbstanzeige eines Berliner Arztes entschieden. Dieser hatte in 2005 bei drei Paaren, die mit dem Wunsch nach einem gesunden Kind zu ihm gekommen waren, eine Präimplantationsdiagnostik durchgeführt. Einem Paar konnte er helfen. Die Selbstanzeige des Berliner Arztes war ein Hilferuf im Namen von Paaren, bei denen ein Partner Überträger einer schweren Erbkrankheit ist. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag jetzt auf dem Weg ist, über den zukünftigen Umgang mit der PID zu entscheiden. Ich setze mich dafür ein, dass klare rechtliche Regelungen zur Zulassung der PID in begründeten Einzelfällen formuliert werden. Die seit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes erfolgten Entwicklungen der Reproduktionsmedizin müssen im Gesetz berücksichtigt werden. Im Jahr 2009 wurden in Deutschland etwa 650 000 Kinder geboren und 110 000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, darunter einige Hundert Spätabtreibungen als Folge der Ergebnisse der genetischen Pränataldiagnostik. Schon 1999 hat die Bioethik-Kommission von Rheinland-Pfalz ausgeführt: Es wäre ein Wertungswiderspruch, den Paaren, bei denen das Risiko der Übertragung eines Gendefekts festgestellt wurde, die PID aus Rechtsgründen zu verwehren und dann diesen Paaren gleichwohl die Durchführung der Pränataldiagnostik zu erlauben, die im Fall einer festgestellten Indikationslage zum Schwangerschaftsabbruch führen kann. Eine humangenetische Beratung von Paaren hat es schon gegeben, als noch niemand an Untersuchungsmethoden, die auf der Analyse des Genoms beruhen, überhaupt gedacht hat. Mit der Methode der Stammbaumuntersuchung ist schon vor mehreren Jahrzehnten festgestellt worden, dass bestimmte Krankheiten vererbt werden und welcher Erbgang ihnen zugrunde liegt. Menschen aus Familien, in denen eine solche Disposition gegeben ist, wissen in aller Regel darüber Bescheid. Deshalb meine ich, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied gibt zwischen der Entscheidung eines Paares, nach einer Pränataldiagnostik aufgrund einer festgestellten Erbkrankheit einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, und seiner Entscheidung, zur Vermeidung eines erbkranken Kindes eine PID durchzuführen. Die befruchtete Eizelle, die Zygote, kann sich nur dann zu einem Menschen entwickeln, wenn sie sich erfolgreich in der Gebärmutter einnistet. Menschliches Leben entsteht nur in enger Beziehung mit seiner Mutter. Die Zygote allein ist nicht lebensfähig, sie ist nicht autonom. Nur etwa 30 Prozent der menschlichen Zygoten überleben unter natürlichen Bedingungen, die übrigen sterben ab. Eine Zygote, die sich noch nicht in der Gebärmutter eingenistet hat, ganz unabhängig davon, ob sie unter natürlichen Bedingungen oder in der Petrischale entstanden ist, kann daher nicht mit der Würde des Grundgesetzes ausgestattet sein. In Großbritannien, Frankreich, Belgien und Polen ist die PID erlaubt. Dortige Erfahrungen zeigen, dass die Furcht vor dem Designerbaby unbegründet ist. Ich kann nicht erkennen, warum dies in Deutschland anders sein sollte. Menschen mit Behinderung sind in unserer Gesellschaft willkommen und sollen auch in Zukunft willkommen sein. Daran hat die Nutzung der Pränataldiagnostik nichts geändert und wird auch der Einsatz der Präimplantationsdiagnostik nichts ändern. Ich sehe keinen Grund, warum wir die PID verbieten sollten. Ich meine, wir sollten die PID auch in Deutschland unter bestimmten Bedingungen zulassen. Angesichts der emotionalen Not von Paaren mit einer erblichen Belastung, die sich eigene Kinder wünschen, sollten wir für die Anwendung der PID einen rechtlichen Rahmen schaffen. Die Eingrenzung der Zulassung der PID ist schwierig, aber diese Schwierigkeit kann keine Begründung für ein vollständiges Verbot sein. Ich bin vielmehr dafür, mit dieser inzwischen entwickelten medizinischen Möglichkeit Paaren einen Weg zu öffnen, auf dem sie gesunde Kinder bekommen können, auch wenn sie Überträger schwerer Erbkrankheiten sind. Ich meine, wir können Vertrauen in den verantwortungsvollen Umgang von Eltern und Ärzten mit der PID haben. Deshalb gehöre ich zu den Mitunterzeichnern des Gesetzentwurfs zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz - PräimpG). Maria Michalk (CDU/CSU): Die Präimplantationsdiagnostik ist ein Verfahren zur technischen Optimierung der künstlichen Befruchtung. Medizinisch gesehen würde die PID nach meinem Verständnis zu einem Instrument der Qualitätskontrolle für Embryonen werden und zur Selektion führen - gewollt oder ungewollt. Gesunde Kinder zu haben, ist ein uralter Menschheitswunsch. Deshalb hat sich medizinischer Fortschritt von jeher auch mit Fragen der Optimierung von Schwangerschaft und Geburt befasst. Diesem Streben verdanken wir grundsätzlich auch heute noch unseren gewohnten sehr hohen Standard in all diesen Fragen. Doch der Mensch will immer mehr. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Entscheidung für oder gegen PID ein Meilenstein für das Leben von uns Menschen hier auf dieser Erde sein wird. Das Ringen um die bestmögliche Lösung wird strittig geführt. Das ist gut so. Es geht letztlich darum, ob eine Gesellschaft, in der der Staat darüber entscheidet oder andere, letztlich Fachleute, darüber entscheiden lässt, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht, ihre Menschlichkeit verliert. Deshalb steht auch die Frage dahinter, ob medizinischem Optimierungsbestreben Grenzen gesetzt werden müssen oder nicht. 4 bis 5 Prozent aller Kinder, die geboren werden, kommen mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung zur Welt. Deren Existenzberechtigung verhandeln wir hier. Diese Kinder würden bei einer eingeschränkten Zulassung der PID keine Chance haben, das Licht der Welt zu erblicken. Ich kann mir gut vorstellen, dass Menschen, die mit einer Behinderung zur Welt gekommen sind und vielleicht heute unsere Debatte verfolgen, unsere Argumente nicht nachvollziehen können. Denn sie müssen sich die Frage stellen, ob sie selbst unter diesen Umständen überhaupt auf dieser Welt wären und nicht vorher aussortiert worden wären. Diese Frage ist nicht nur schmerzhaft, sondern schlichtweg diskriminierend. Ich bin für die Positionierung des Deutschen Behindertenrates dankbar, denn wir wissen, dass auch unter den Menschen mit Behinderung eine sehr ernste und differenzierte Diskussion geführt wird. Es darf keine Einteilung in lebenswertes und lebensunwertes Leben geben. Leben mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen ist eine selbstverständliche Lebenswirklichkeit. Behinderung ist kein persönliches Problem. Deshalb darf es keine Schuldzuschreibungen und Diskriminierungen von Menschen mit Behinderung geben, auch nicht gegenüber den Eltern. Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Gemeinschaft muss Selbstverständlichkeit werden und geht uns alle an. Familien mit behinderten Kindern, behinderte, chronisch kranke und alte Menschen müssen selbstverständlich ihre selbstbestimmte Lebensführung haben und dabei unterstützt werden. Ihr Leben muss deutlich einfacher werden. Notwendige Hilfen müssen individuell, passgenau und vor allem ohne bürokratischen Aufwand erfolgen. Auf diese Themen müssen wir uns noch viel mehr konzentrieren. Eine offene, tolerante Gesellschaft, die Menschen mit Behinderung von Anfang an in alle Lebensbereiche einbezieht - und das ist in Deutschland durchaus Realität -, muss am Ende dieser Debatte die Frage, ob und wie die Geburt von Kindern mit einer möglichen Behinderung frühzeitig verhindert wird, nach meiner festen Auffassung mit einem eindeutigen Nein beantworten. Für mich persönlich steht das Nein zur PID fest. Ich lasse mich davon leiten, dass Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Deshalb sind Experimente ab diesem Stadium nach meiner christlichen Überzeugung unzulässig. Trotzdem bleibt für die Wissenschaft und Medizin ein großes Feld für mögliche Erkenntnisse zum Wohl des Menschen. Wolfgang Neškovic (DIE LINKE): Der Mann ist schwerstkrank. Die Krankheit ALS zerfrisst sein Nervensystem. Die Gliedmaßen sind wie nutzlose Gewichte. Ein Luftröhrenschnitt nahm ihm die Stimme. Mimik und Gestik sind erlahmt. Professor Stephen Hawking ist der bekannteste Astrophysiker der Welt. Sein gefesselter Leib ist ein schwerer Pflegefall. Aber sein Geist kann mühelos fliegen. Viele Millionen Menschen verehren ihn weltweit. Mediziner vermuten hinter ALS eine Erbkrankheit. Sie nehmen an, dass mehrere defekte Genabschnitte für das Leiden verantwortlich zeichnen. Hawking wurde im Jahre 1942 geboren. Zu jener Zeit war die Weitergabe von Erbinformationen noch nicht ausreichend begriffen. Niemand konnte wissen, dass Hawking einmal ALS bekommen würde. Keiner wollte das verhindern. Zum Glück. Was wüssten wir heute über das Weltall, wenn man Hawkings Erbanlagen aus einer Petrischale in den Müll geworfen hätte? Genau das geschieht bei der Präimplantationsdiagnostik (PID), über deren Zulässigkeit derzeit der Deutsche Bundestag berät. Fraktionsübergreifend hat dies derzeit zu zwei Gruppenanträgen geführt. Der eine wirbt für eine beschränkte Zulassung. Der zweite, den auch der Verfasser unterstützt, strebt ein Verbot der PID an. Viele Paare sehnen die Legalisierung des PID-Verfahrens herbei. Manche von ihnen haben bereits ein krankes oder behindertes Kind. Die PID kann ihnen den Wunsch nach gesundem Nachwuchs erfüllen. Bei dem Verfahren werden mehrere Eizellen der Mutter künstlich mit den Spermien des Vaters befruchtet und dann nach drei Tagen untersucht. Nur die gesunden "Wunscheizellen" werden dann der Mutter zur Austragung verpflanzt. Alles andere landet im Abfall. Befürworter des Verfahrens finden dafür Argumente: Der Embryo sei in seiner Urform nicht mehr als ein Zellhäuflein. Doch das war Professor Hawking im Jahre 1941 auch. Jeder Mensch ist schon am Anfang ein unersetzbares Unikat. Könnte er sich schon wehren, würde er sich Urteile über seinen Wert und Unwert gefälligst verbitten. Ein weiteres Argument lautet: Die PID sei gegenüber einer späteren Abtreibung der wesentlich schonerende Weg. Die Mutter erhalte eine ziemliche Gewissheit auf ein gesundes Kind und müsse später nicht ein krankes abtreiben. Das Argument ist kraftvoll, aber unlogisch. Dass Abtreibungen rechtlich möglich sein müssen, liegt an der notwendigen Abwägung zwischen dem seelischen Leid der schwangeren Mutter und der staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem Embryo. Doch bei einer Vorfelduntersuchung liegt noch gar keine Schwangerschaft vor, die eine Frau belasten könnte. In der Petrischale herrscht damit allein das ethische Gebot, das werdende Leben zu schützen. Wer die PID mit den Abtreibungsregeln des Strafgesetzbuches rechtfertigen will, begründet ein vermeidbares ethisches Desaster mit einer ganz anderen, unvermeidbaren ethischen Konfliktlage. Ethik funktioniert anders. Sie strebt nach einer Stärkung des ethischen Verhaltens, nicht nach der Rechtfertigung von mehr "Unethik". Befürworter der PID argumentieren schließlich, die rechtlichen Grenzen des Verfahrens seien in ihrem Entwurf klar abgesteckt. Die PID sei nur zulässig bei einer "hohen Wahrscheinlichkeit" einer "schweren Erbkrankheit" oder im Falle der Verhinderung einer Tot- oder Fehlgeburt. Doch offene Rechtsbegriffe sind die natürlichen Feinde klarer ethischer Grenzen. Was ist eine "schwere" Erbkrankheit? Wann ist eine Wahrscheinlichkeit "hoch"? Rechtsbegriffe, die man nur begreift, wenn man über ihren Inhalt streitet, führen nicht selten zu Dammbrüchen. Ist die PID einmal legal, wird sich "geringe Wahrscheinlichkeit" zu "ausreichender Wahrscheinlichkeit" aufschwingen. Was heute keine "schwere" Erbkrankheit ist, wird morgen noch eine werden. Aus dem "Wunschkind" wird schrittweise das "erwünschte Kind". Mit der Pipette gestaltet der Mensch die Evolution. Alle Eltern wünschen sich starke, kluge, gutaussehende und intelligente Kinder. Wir alle meinen zu wissen, was wir damit meinen. Dabei sind unsere Vorstellungen von "unseren" Kindern kulturell geprägt. Kultur ist dem Wandel unterworfen. Viele Jahrhunderte dominierte die manuelle Arbeit. Folglich wünschten sich Eltern starken und männlichen Nachwuchs. Heute schätzen wir weiblichen und männlichen Nachwuchs gleichermaßen mit hoher Intelligenz und Einfühlungsvermögen. Ein Jahrhundert zuvor wäre Hawking vermutlich verhungert. Heute nutzt er modernste Technik, um der Welt von seinen Ideen zu berichten. Dazu kommt: Unser Wissen von den Erbanlagen ist bestenfalls lückenhaft. Gene tragen in ihren Kombinationen immer viele verschiedene Informationen. Jeder Mangel kann eine Stärke zur Kehrseite haben. Mitunter mendeln sich diese Stärken erst in vielen Folgegenerationen heraus - es sei denn, wir bewirken, dass schon ihre ersten Träger nie das Licht der Welt erblicken. Der Maler und Dichter Khalil Gibran schrieb: "Deine Kinder sind nicht Deine Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch Dich, aber nicht von Dir, und obwohl sie bei Dir sind, gehören sie Dir nicht. (...) Du bist [nur] der Bogen, von dem Deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden." Jeder Embryo, der eine PID-Untersuchung nicht übersteht, ist wie ein zerbrochener Pfeil. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): In der heutigen ersten Lesung wird das Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik beraten. Nachdem der BGH am 6. Juli 2010 entschieden hat, dass die gesetzliche Regelung im Embryonenschutzgesetz nicht hinreichend konkret ist, um eine strafrechtliche Verurteilung herbeizuführen - über ein generelles Verbot der Präimplantationsdiagnostik konnte der BGH gar nicht entscheiden -, hat der Gesetzgeber nun die Verpflichtung, eine hinreichend konkrete Regelung zu schaffen. Bis zu dem Urteil des BGH war die herrschende Meinung der Rechtswissenschaft, aber auch der Medizin und der Politik davon ausgegangen, dass die Präimplantationsdiagnostik in Deutschland verboten ist. Wenn dies nun nicht mehr klar ist, kann nach meiner Meinung eine Klärung dieser Situation nur durch ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik im Embryonenschutzgesetz erfolgen, denn die Präimplantationsdiagnostik ist mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar. Das Recht auf Leben beginnt schon vor der Geburt, nämlich mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle. Ein Embryo ist selbstverständlich als Mensch anzusehen, ob im Mutterleib oder vor der Einschwemmung. Wer dies bezweifelt, zettelt eine Diskussion an, die ethisch und moralisch nach meiner Meinung unhaltbar ist, da sie in Bezug auf den Wert von Menschenleben differenziert. Für mich darf es keine Abstufung zwischen dem Wert menschlichen Lebens geben. Art. 1 Abs. 1 GG verbietet, einen Menschen wie eine Sache zu behandeln. Der Artikel gilt auch für ungeborenes Leben. Damit gilt die Menschenwürdegarantie ebenso für Embryonen. Durch die Bevorzugung von Embryonen mit passenderen Eigenschaften werden diese als bloßes Objekt behandelt, was mit der Menschenwürdegarantie nicht vereinbar ist. Erst recht werden die Embryonen zur Sache gemacht, die nicht genutzt wird, sondern - wie es dann heißt - verworfen wird. Gemeint ist, sie wird vernichtet. Weiterhin wird nicht nur gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen, sondern auch gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der das Diskriminierungsverbot von Behinderten festlegt: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Dabei dient die Präimplantationsdiagnostik dem Zweck, Embryos, bei denen eine Krankheit oder Behinderung festgestellt wurde, zu verwerfen und ihnen das Recht auf Leben zu verwehren. Lebenswertes und vermeintlich lebensunwertes Leben werden bewusst ungleich behandelt. Diese offenkundige Ungleichbehandlung von gesunden und behinderten Menschen sowie die Diskriminierung von Behinderten ist nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar. Somit bleibt für die Beantwortung der Frage, ob Präimplantationsdiagnostik verboten werden soll oder nicht, aus verfassungsrechtlicher Sicht kein Spielraum. Denn letztlich treffen die Eltern und die verantwortlichen Mediziner eine unumkehrbare Entscheidung über das Leben oder den Tod eines Kindes. Wenn wir der Präimplantationsdiagnostik die Tür auch nur einen Spalt öffnen, selektieren wir Leben nach seiner Qualität und werden ein Ausdehnen der Selektion auch in zukünftigen Diskussionen nicht mehr verhindern können. Wenn die Präimplantationsdiagnostik zugelassen wird, bedeutet dies ein Legalisieren der Unterscheidung menschlichen Lebens aufgrund einer Behinderung. Ein Schwangerschaftsabbruch allein aufgrund einer Behinderung ist nach der Reform des § 218 a StGB im Jahre 1995 verboten worden, um eine solche Diskriminierung zu verhindern. Der Gesetzgeber hat auch im Stammzellgesetz festgelegt, dass es untersagt ist, embryonale Stammzellen einzuführen und zu verwenden, wenn der Verdacht einer genetischen Auswahl besteht und diese Embryonen verworfen werden. Die Spirale, die "Pille danach" und Schwangerschaftsabbrüche generell werden häufig mit der Präimplantationsdiagnostik verglichen. Dabei gibt es einen eindeutigen Unterschied: Die Spirale, die "Pille danach" und der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen selektieren nicht. Sie beenden eine Schwangerschaft nicht aufgrund der möglichen Behinderung des Kindes. Eine Gleichsetzung dieser unterschiedlichen Lebenssachverhalte ist einfach falsch, genauso wie ein solches "Erst-recht-Argument" insgesamt falsch ist. Es würde schließlich bedeuten, wenn schon Abtreibungen möglich sein sollen, dann ist es auch egal, dass Embryonen erzeugt werden, um einen erheblichen Teil von ihnen zu töten. Statistische Erhebungen haben nämlich gezeigt, dass bei Anwendung der Präimplantationsdiagnostik 33,7 Embryonen selektiert und verworfen werden und nur ein Embryo tatsächlich geboren wird. Genauso bei Spätabbrüchen. Diese dürfen nicht aufgrund der Behinderung des Kindes durchgeführt werden, sondern werden nur noch in akuten Notsituationen durchgeführt. Besteht zum Beispiel akute körperliche und seelische Gefahr für die Mutter, so ist ein Spätabbruch der Schwangerschaft erlaubt. Diese Konfliktsituation - Mutter oder Kind - ist im Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in den Vordergrund gerückt. Das ist keineswegs vergleichbar mit der Unterscheidung, wie sie bei der Präimplantationsdiagnostik durchgeführt wird. Wenn wir die Präimplantationsdiagnostik verbieten, dann werden die Forscher und Mediziner andere Wege finden, um Familien die Geburt eines gesunden Kindes zu ermöglichen, etwa über die Polkörperchendiagnostik, bei der nicht Embryos, sondern Eizellen untersucht und selektiert werden. Das ist ein Unterschied, denn dann würde kein Embryo - und damit ein Mensch im frühen Stadium - verworfen, also zerstört. Ich sehe hier eine vergleichbare Entwicklung wie bei der embryonalen Stammzellforschung, die nun auch keiner in der Wissenschaft mehr zwingend fordert. Ich werbe aus all diesen Gründen nachdrücklich für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik. Unterstützen Sie daher bitte mit mir den entsprechenden Antrag. Jens Spahn (CDU/CSU): Ich weiß, dass es - wie gerade deutlich geworden ist - in diesem Hause ganz unterschiedliche Auffassungen zum Thema Präimplantationsdiagnostik gibt. Daher bin ich dankbar dafür, dass wir uns dafür mit der nötigen Zeit darüber austauschen können und diese Debatte auch mit der nötigen Ernsthaftigkeit führen. Wer mit Paaren, mit Frauen und Männern, die eine genetische Veranlagung zu schwersten Erkrankungen haben, über ihren Kinderwunsch, ihr Schicksal, ihre Verzweiflung gesprochen hat, der kann und der darf sich eine solche Entscheidung heute nicht leicht machen. Er wird, er muss fast mit dieser Entscheidung hadern. Er weiß aber auch, dass er um diese Entscheidung nicht herumkommt, dass er diese Entscheidung treffen muss. Aus meiner Sicht muss der über allem stehende Grundsatz dabei sein, dass im Zweifel für das Leben entschieden wird und bei Unsicherheit größtmögliche Sicherheit für das Leben gesucht wird. Hier gibt es viele Zweifel. Einige sind schon angesprochen worden, Ich habe zum einen Zweifel, dass es bei dem einmal definierten Ausnahmekatalog bleibt. Es ist ja schon gefragt worden: Wer soll ihn definieren? Der Bundestag? Oder soll dieser die Entscheidung auslagern und an andere delegieren? Sich für bestimmte Kriterien zu entscheiden, heißt, andere auszuschließen. Ich unterstelle niemandem - ich glaube, darum geht es auch nicht -, dass es ihm um Designbabys, um die Frage der Augenfarbe oder ähnliche Dinge geht. Ich habe aber schon die Sorge, dass eine positive Entscheidung zwar nicht zu einem Dammbruch, aber doch zu einem langsam anschwellenden Fluss führt, sodass wir, wenn wir heute einmal das Tor geöffnet haben, die Dinge am Ende nicht mehr werden aufhalten können. Ich habe zum Zweiten Zweifel - das ist auch schon angeklungen - weil auch die PID keine hundertprozentige Sicherheit bringt. Trotz PID besteht das Risiko, dass das Kind später krank ist. Ist der Druck, ist das Leid in einem solchen Fall nicht noch viel größer und noch viel stärker? Ich habe auch Zweifel, weil für eine PID bis zu 40 Embryonen gebraucht werden. Was passiert mit den anderen, die nicht eingepflanzt werden? Wer wollte darüber entscheiden? Ich bin der Überzeugung: Was manchmal als Zellklumpen bezeichnet wird, das hat das Potenzial, ja, das ist aus meiner Sicht menschliches Leben, und wer wollte über die Chance, die Wertigkeit dieses Lebens entscheiden? Ich jedenfalls - egal, was andere Länder da entschieden haben - will das nicht, und ich denke, es ist einem anderen, Höheren vorbehalten, das zu entscheiden. Im Übrigen denke ich auch, dass gerade der Embryo in der Petrischale, weil sein Potenzial, sein Leben-Sein eben nicht augenfällig ist, vielleicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, einen noch höheren Schutz braucht, ein noch größeres Maß an Sicherheit und Zurückhaltung in der Frage, was wir regeln. Gerade deswegen sollten wir an die PID mit größter Bedachtheit herangehen. Auch sehe ich da keinen Wertungswiderspruch zur Abtreibung, wie er hier schon mehrfach angesprochen worden ist. Bei der PID geht es voll und ganz und unmittelbar um den Schutz des Embryos in der Petrischale, dessen Leben-Sein - ich habe es schon gesagt - nicht augenfällig ist. Beim Schwangerschaftsabbruch geht es im Kern um die konflikthafte Situation, um die schwierige Lebenslage der Mutter, wo der Embryo natürlich mittelbar auch eine Rolle spielt; aber es ist eine andere Ausgangslage. Muss nicht eigentlich die Entwicklung, die wir beim Schwangerschaftsabbruch haben, die ja auch einmal mit strengsten und striktesten Kriterien begonnen hat, muss nicht diese Praxis, wie wir sie heute beim Schwangerschaftsabbruch zum Teil haben, weniger leuchtendes Beispiel als vielmehr Mahnmal dafür sein, was passiert, wenn man einmal bei der Entscheidung, die wir heute treffen, die Tür geöffnet hat? Deswegen: In dubio pro vita, im Zweifel für das Leben. Ich möchte Sie bitten, heute für ein Verbot der PID zu stimmen. Stephan Thomae (FDP): In der ethisch heiklen Frage der Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, treffen in diesem Hohen Hause gegensätzliche Auffassungen aufeinander. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 5. Juli 2010 macht deutlich, dass die PID nicht notwendigerweise gegen das Embryonenschutzgesetz verstößt. Ich möchte ausdrücklich den Antrag unterstützen, den maßgeblich meine Fraktionskollegin Ulrike Flach auf den Weg gebracht hat, und der insbesondere von den Kolleginnen Dr. Carola Reimann (SPD), Dr. Petra Sitte (Linke) und den Kollegen Staatssekretär Peter Hintze (CDU) und Jerzy Montag (Bündnis 90/Grüne) mitgetragen wird. Bei allem Respekt vor anderen Standpunkten sprechen viele Gründe für diese Position: Ziel der PID ist, was das Embryonenschutzgesetz fordert, nämlich eine Schwangerschaft herbeizuführen. Insofern fördert die Zulassung der PID den Entschluss von Eltern, die sich ohne eine solche Untersuchungsmethode gegen ein Kind oder - weil sie vielleicht bereits ein Kind mit einer ererbten Krankheit oder Behinderung haben oder aufgrund dessen bereits ein Kind verloren haben - gegen ein weiteres Kind entscheiden würden. Viele Paare, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, aber aufgrund erblicher Vorbelastung Angst vor einer Tot- oder Fehlgeburt oder vor der Geburt eines todkranken Kindes haben, sehen in der PID eine Chance. Bislang konnten solche Paare allenfalls auf dem Wege der Pränataldiagnostik, kurz PND, feststellen, ob der Embryo im Mutterleib an einem genetischen Defekt leidet. In solchen Fällen waren die Eltern vor die Wahl gestellt, die Schwangerschaft abzubrechen oder nicht. Ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer PND-Diagnose ist insbesondere für die Schwangere jedoch mit wesentlich schwereren psychischen und physischen Belastungen verbunden als die Verwerfung einer Blastozyste in der Petrischale. Bislang bot sich allenfalls für solche Paare, die es sich leisten können, die Möglichkeit zur PID im Ausland. Die Zulassung der PID beseitigt deshalb auch den Widerspruch, dass zwar Präimplantationsdiagnose einer Blastozyste in der Petrischale verboten, aber der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche und unter bestimmten Voraussetzungen sogar die Spätabtreibung nach einer Pränataldiagnose zulässig ist. Dieser Widerspruch kann weder moralisch noch juristisch aufgelöst werden. Auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes ungeborenen Lebens ist es nicht die PID, die einem Lebenskeim das Lebensrecht entzieht oder zu einer Verschlechterung des Embryonenschutzes führt. Die Blastozyste ist außerhalb des Mutterleibes nicht in der Lage, sich zu einem Embryo weiterzuentwickeln. Schon heute aber steht es der Mutter auch ohne PID frei, zu entscheiden, ob sie sich die Blastozyste einpflanzen lässt oder den Keim verwirft. Genauso wenig kann Bedenken gefolgt werden, die PID gefährde die Bereitschaft der Gesellschaft, Kinder mit Behinderungen zu akzeptieren. Weder ist eine solche Entwicklung in Ländern zu beobachten, welche die PID kennen, noch hat in Deutschland die Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs nach einer PND eine solche Wirkung hervorgerufen. Die Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderungen war - trotz PID und PND - nie so groß wie heute. Erlauben Sie mir abschließend eine höchstpersönliche Schlussbemerkung: Neben diesen eher vernunftgeleiteten Überlegungen wurde ich selbst nicht zuletzt beim Besuch eines Kinderhospizes in meiner eigenen Allgäuer Heimat in meinem Entschluss bestärkt. Das Kinderhospiz begleitet Kinder und deren Familien ab dem Zeitpunkt der Todesdiagnose eines Kindes oder Jugendlichen bis zu dessen Tod. In einigen Fällen müssen Eltern schon das zweite, in einigen wenigen Fällen sogar gleichzeitig zwei todgeweihte Kinder dort auf ihrem letzten, manchmal langen Weg begleiten. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass das Recht Paaren mit erblicher Belastung zumindest die Möglichkeit einräumen muss, Ja oder erneut Ja zu einem Kind zu sagen, ohne ihnen dieses Leid und diesen Schmerz zuzumuten oder ein weiteres Mal zuzumuten. Bei allem Respekt vor jeder anderen Überzeugung habe ich mich aus diesen rechtlichen und ethischen Überlegungen entschieden, für den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik nach dem Entwurf meiner Fraktionskollegin Ulrike Flach zu stimmen. Johanna Voß (DIE LINKE): Meine grundsätzliche Überzeugung besteht darin, dass jedes Leben, auch das "behinderte", ein Recht darauf hat, beschützt zu werden. Bei der PID geht es aber nicht um das Recht auf Leben. Vor allem geht es auch nicht um die Abwägung verschiedener Rechtsgüter, wie zum Beispiel den Schutz der Mutter, so wie das bei einem Schwangerschaftsabbruch der Fall wäre. Und selbst beim Schwangerschaftsabbruch dürfen mit Recht eventuelle Behinderungen des Kindes nicht die entscheidende alleinige Rolle spielen. Da geht es nur um die Abwägung der Rechte der Mutter gegenüber dem Kind. Die Präimplantationsdiagnostik ist die extremste Form der Selektion, da möglichst viele Embryonen erzeugt werden, um wenigstens einige transplantierbare auslesen zu können. Der einzige Zweck der PID ist aber, Leben zu eliminieren, das weniger wert zu sein scheint; wir hatten in der deutschen Geschichte dafür schon einmal den Begriff des "unwerten Lebens". Die PID spiegelt wider, wie Leben heute in der Gesellschaft bewertet wird: Den vollen Wert hat da nur der Mensch, der im Vollbesitz aller nutzbaren Kräfte ist. Für Behinderungen ist kein Platz, und dementsprechend miserabel ist auch die Fürsorge und Hilfe für Behinderte und deren Eltern. Insofern geht die PID von der völlig falschen Seite an die Problematik heran. Ja, für Eltern, die sich gegen PID entscheiden und für ein eventuell behindertes oder krankes Kind, wird das Leben noch schwerer werden. Zu den ohnehin zu erwartenden Einschränkungen wird starker sozialer Druck hinzukommen: Man hätte das Leben dieses Kindes ja schon in der Petrischale beenden können. Die Folge wird sein: noch weniger Mittel und Hilfen, noch größere Ausgrenzung für Kinder und deren Eltern. Andere negative Aspekte der PID will ich hier nur kurz erwähnen. Die Beteuerung der Befürworter, PID nur in Ausnahmefällen zulassen zu wollen, ist längst von der Realität überholt worden. In der Praxis werden ganz andere Bedürfnisse als die ursprünglich behaupteten geschürt. In Fachzeitschriften wie Human Reproduction ist nachzulesen (Nr. 1 von 2002), dass PID zum Beispiel sehr häufig allein der Geschlechtsbestimmung dient, ohne dass ein erhöhtes Risiko zur Übertragung einer vererbbaren Krankheit vorlag. Man nennt das "social sexing". Die Begehrlichkeiten der Industrie zeigen sich jetzt schon in den weiterentwickelten Verfahren von PID, wenn untersuchte Zellen mit "entkernten" Mauseizellen geklont werden. Es fehlt nur noch die Herstellung von Embryonen als "Ersatzteillager". Selbst wenn Forscher nur die Gesundheit des Kindes im Auge haben, dann vergessen sie zu leicht, dass die PID und die Weiterentwicklung des "therapeutischen Klonens" den Menschen aufs Gröbste instrumentalisiert. Selbst wenn das Ziel ethisch zu rechtfertigen wäre, der Weg ist es auf keinen Fall. Wir müssen völlig neu bedenken, welchen Irrweg wir mit dieser Bevorzugung des perfekten Menschen beschreiten, und dann auch mehr Hilfe bereitstellen für die, die Hilfe brauchen; denn jeder Mensch, der in die menschliche Gesellschaft hineingeboren wird, hat Anrecht auf ihren Schutz und auf ihre Hilfe. Die PID scheint mir nur ein weiterer Schritt zu sein auf dem Weg, sich aus der besonderen Verantwortung für den Menschen, nicht nur für den behinderten, zu verabschieden. Wolfgang Zöller (CDU/CSU): In der Frage über den künftigen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik, PID, geht es um eine politische Grundsatzentscheidung. Es geht vor allem um die Frage, ob wir ein elementares Menschenrecht, das Recht auf Leben auch für ungeborene Kinder, zur Disposition stellen - aber auch darum, dass wir den staatlichen Schutzauftrag gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung infrage stellen. Mit einer Zulassung der PID würde dies meiner Meinung nach geschehen. Es würde unser Wertgefüge nachhaltig beschädigen. Nicht alles technisch Machbare dient letztendlich einer menschlichen Gesellschaft. Ich setze mich seit vielen Jahren für den Schutz des ungeborenen Lebens ein. Denn für mich ist das sich entwickelnde Leben von Anfang an schützenswert. Und nach meiner Auffassung hat niemand das Recht, über die Existenz eines ungeborenen Kindes zu entscheiden, auch nicht wenn eine genetische Erkrankung droht. Jeder Abgeordnete steht in der Tat vor einer Gewissensentscheidung. Als zweifacher Familienvater und dreifacher Großvater verstehe ich den verständlichen Wunsch betroffener Paare nach einem eigenen gesunden Kind nur zu gut. Für mich hat jedoch das uneingeschränkte Lebensrecht eines jeden Menschen, ob geboren oder ungeboren, ganz klar Vorrang. Wer die PID zulässt - und sei es auch nur begrenzt -, der eröffnet zwangsläufig damit eine Diskussion über lebenswertes und nicht lebenswertes Leben. Für mich gibt es jedoch kein lebensunwertes Leben - egal ob vor der Geburt, ob als behinderter, ob als alter oder schwerkranker Mensch. Eine Öffnung der PID für bestimmte Diagnosen ist keine Lösung. Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen die dann einsetzende Ausweitung der Anwendungsbereiche der PID. Eine solche Bewertung würde sich erheblich auf das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben und auf die Einstellung anderer Menschen auswirken. Es wird höchste Zeit, dass wir uns wieder mehr auf christliche Grundwerte besinnen und auch danach handeln. Die durch Legalisierung der PID gesetzlich legitimierte Selektion vor Beginn der Schwangerschaft wäre ein Paradigmenwechsel. Die Akzeptanz für das Verfahren, auf Probe erzeugte Embryos mit einer bestimmten Erkrankung oder Behinderung aussortieren zu können, stellt damit einen Angriff auf die Würde eines jeden Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen dar. Eine Zulassung der PID würde auf potenzielle Eltern großen sozialen Druck ausüben, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen. Ansonsten müssten sie sich ja zunehmend rechtfertigen, wenn sie die PID zunächst ablehnen und dann ihr Kind mit Beeinträchtigungen zur Welt kommt. Bereits jetzt berichten Eltern von schwer kranken oder behinderten Kindern von Diskriminierungen, mit denen sie konfrontiert sind. Krankheiten sowie körperliche und geistige Beeinträchtigungen sind jedoch ein Bestandteil des Lebens und werden dies auch künftig sein. Der Staat hat die Pflicht, vor Diskriminierung zu schützen und das Lebensrecht zu verteidigen. Aus all diesen Gründen werde ich für ein striktes PID-Verbot stimmen. Willi Zylajew (CDU/CSU): Jede und jeder in diesem Hohen Haus ist sich der Tragweite unserer heutigen Debatte und der anstehenden Abstimmung in einigen Wochen bewusst. Einleitend möchte ich sagen, dass ich in der Sache eine klare Position habe, die ich vor meinem Gewissen, vor Gott und den Menschen, dem geborenen und ungeborenen Leben verantworten kann. Diese feste Position in einer bedeutenden Entscheidung schmälert aber nicht meinen Respekt vor den Mitmenschen, die sich in der Sache anders entscheiden. Meine Einstellung wurde untermauert in Gesprächen mit Eltern von Kindern mit Behinderungen, Ärzten, Geistlichen und Fachkräften aus der Schwangerschaftsberatung. Seit einigen Jahrzehnten beschäftigt mich als Familienvater und Sozialarbeiter, Politiker und Christ die Frage der Verschiebung von Werten beim Schutz des ungeborenen Lebens. Diese Verschiebung von Werten, die Verschiebung von gesetzlichen Schutzvorschriften ist ein bedeutendes Thema, vor allem, wenn ein Teil der Betroffenen seine Position nicht darstellen kann. Wie Menschen mit Behinderungen zu den Änderungsvorstellungen stehen, die auf Grundlage einer Reduzierung von Schutzvorschriften für ungeborenes Leben, wie es nun zur Beratung steht, nicht das Licht der Welt erblickt hätten, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Wir stehen in der Pflicht, das ungeborene Leben vor der Verringerung seiner Rechte zu schützen. Die Selektion von menschlichem Leben ist für mich völlig inakzeptabel, weder in einem frühen Stadium noch in einem späteren. Daher stimme ich für ein umfassendes gesetzliches Verbot der Präimplantationsdiagnostik. Dabei bin ich mir des Leidensdrucks von Paaren mit der individuellen Erfahrung einer eigenen Erkrankung oder von Tot- oder Fehlgeburten bewusst. Aber eine Legalisierung der PID ermöglicht eine gesetzlich legitimierte Selektion bereits vor Beginn der Schwangerschaft. Unsere Gesellschaft verliert ihre Menschlichkeit, wenn sie einen Paradigmenwechsel zulässt, der darüber entscheidet, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht. Das medizinisch Machbare zur Gesundung von kranken und behinderten Mitmenschen ist das eine, das medizinisch Mögliche als Grundlage für die Auswahl von lebenswerten und nicht lebenswerten Embryonen das andere. Und genau dort liegt für mich die Grenze. Eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen. Lassen Sie uns mit der gebotenen Ruhe und Sachlichkeit das Für und Wider bedenken. Es mag sein, dass die PID für manch einen nur ein kleiner Schritt bei der weiteren Nutzung medizinischer Möglichkeiten zu sein scheint. Für mich wäre eine Zulassung der PID, auch unter engen Beschränkungen, ein überaus großer Verstoß gegen den Wert und die Unversehrtheit menschlichen Lebens. Ich wiederhole, es wäre der Schritt über eine Grenze, die bislang von Staat und Gesellschaft bis zum Sommer letzten Jahres anerkannt wurde. Ist diese Grenze einmal überschritten, wird dies weitere Wünsche und Ansprüche zur Beseitigung von Lebensschutz zur Folge haben. Meine Position möchte ich abschließend mit einem Zitat meines Kreisdechanten Achim Brennecke aus dem Rhein-Erft-Kreis zusammenfassen: Bereits seit meiner Schulzeit in den 60er Jahren hat sich mir der erste Satz unseres Grundgesetzes tief eingeprägt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." (Art. 1 GG) Diese Würde des Menschen beginnt nicht irgendwann, sondern besteht bei allen Menschen seit Beginn des Lebens, wenn Ei und Samenzelle verschmelzen und zu einem Menschen werden. Diese Würde behält der Mensch auch bis zum Ende seines Lebens. Deshalb gilt es für Kirchen, Gesellschaft und Staat, diese Würde von Anfang bis Ende zu schützen. Eine Präimplantationsdiagnostik macht den Menschen zum Objekt und öffnet einer Selektion, gewollt oder ungewollt, Tor und Tür, was die Würde des Menschen mehr als antastet. Es wäre ein Dammbruch, dessen Auswirkungen nicht abzusehen sind. Aus christlichem Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes lehne ich die zur Verhandlung stehende PID ab und setze mich für die Verteidigung der Würde des Menschen ein. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Beschlussempfehlung und Bericht: Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen - Beschlussempfehlung und Bericht: Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Afghanistan (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Am 26. Februar 2010 hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit ein neues Mandat für den Afghanistan-Einsatz erteilt. Mit diesem Mandat war ein Strategiewechsel verbunden, der die zivilen Anstrengungen in Afghanistan besser einbettet und aufwertet. Dies ging einher mit einer Quasiverdoppelung der Gelder, die wir für den zivilen Aufbau Afghanistans im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen. Dadurch wird sehr deutlich, wir meinen es ernst. Dies alles ist eingebettet in die Vereinbarungen der Londoner Afghanistan-Konferenz vom Januar 2010, auf der sich die internationale Gemeinschaft zu einem besser abgestimmten und stärkeren Engagement beim langfristigen zivilen Aufbau Afghanistans verständigt hat. Für diesen Strategiewechsel gab es gute Gründe. Afghanistans Entwicklung leidet unter den schwachen Organisationsstrukturen, ausufernder Korruption, mangelnden Monitoringinstrumenten und schwach ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein einiger Spitzen der Administration. Vieles von dem hatte ich bereits in meiner Rede zur Regierungserklärung zum Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan am 21. Januar 2011 bemängelt; all das wird auch im vorliegenden Antrag von der SPD bemängelt, und dem stimmen wir natürlich zu. Darüber hinaus finden sich im Antrag viele Allgemeinplätze und Forderungen, die von der Bundesregierung ohnehin schon umgesetzt werden, wie beispielsweise zum Provincial Development Fund. Und leider finden sich im Antrag auch einige Forderungen, die linker Ideologie geschuldet sind, aber mit der Realität in Afghanistan nichts zu tun haben. Im Gegenteil: Sie sind für die Betroffenen vor Ort brandgefährlich! So heißt es im Antrag: "Eine erzwungene Vermischung von humanitärer Hilfe und militärischem Einsatz lehnen wir ab." Oder an anderer Stelle: "Kontraproduktiv für die Entwicklungszusammenarbeit [ist es]..., zivile Aufbauarbeit und Militär stärker zu verknüpfen". Solche Vorwürfe sind polemisch, und Bundesminister Niebel weist sie zurecht als "Desinformation" zurück. Wer so etwas fordert, will damit in der Öffentlichkeit nur billig punkten, hat aber nicht begriffen, worum es in Afghanistan eigentlich geht: Es geht darum, dass wir es schaffen müssen, dass Hilfsorganisationen schneller dort vor Ort sind, wo militärische Operationen zur Sicherung von Gebieten stattgefunden haben. Nur so spüren die Menschen in den geschützten Regionen eine Friedensdividende, die ihnen hilft, mittel- und langfristig zu stabilen und gesicherten Lebensverhältnissen zu kommen. Das gelingt nur, wenn die NGOs auch über die entsprechenden Operationen frühzeitig informiert werden, damit sie ihre Programme darauf ausrichten und in den gesicherten Gebiete arbeiten können. Dieses Konzept wird von den NGOs nicht nur mitgetragen, sondern auch angenommen und umgesetzt. Das wird allein schon daran deutlich, dass die 10 Millionen Euro, die für private Träger im Rahmen des vernetzten Ansatzes ausgeschrieben waren, schnell ausgeschöpft wurden. Daher werden für dieses Jahr weitere 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um diesen erfolgversprechenden Ansatz weiter zu unterstützen. Das sind wir nicht nur den Afghanen schuldig, sondern auch den Entwicklungshelfern selbst. Sie brauchen für eine erfolgreiche Arbeit ein sicheres Umfeld. Daher ist die Entkoppelung von zivilem Aufbau und militärischem Engagement ein denkbar schlechter Ansatz, um eine nachhaltige Entwicklung in Afghanistan zu unterstützen. Noch mehr: Ich wüsste nicht, ob unser Land mit gutem Gewissen das Engagement von Aufbauhelfern in Afghanistan weiter in Anspruch nehmen könnte, ohne die ohnehin schon riskanten Arbeitsbedingungen unnötig zu verschärfen. Wie prekär diese sind, zeigt allein der Anschlag auf das UN-Hauptquartier im nordafghanischen Mazar-i-Scharif, dem am vorletzten Freitag elf Menschen zum Opfer gefallen sind. Daher sollten wir alles tun, was erforderlich ist, um die Sicherheit unserer Entwicklungsfachkräfte sicherzustellen. Realitätsferne und ideologiebeladene Debatten über das Verhältnis unserer Soldaten und Entwicklungsexperten in Afghanistan bringen uns nicht weiter - im Gegenteil: Wir tragen als Parlamentarier auch für die Sicherheit unserer Fachkräfte vor Ort Verantwortung -, und mit solchen Debatten werden wir ihr nicht gerecht. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Wie ich an dieser Stelle bereits mehrfach ausgeführt habe, ist die enge Verzahnung ziviler und militärischer Mittel der Schlüssel zum Erfolg in Afghanistan. Beide sind zwei Seiten einer Medaille, die ohne einander nicht denkbar sind. Wenn wir die Voraussetzung dafür schaffen wollen, die Verantwortung nach und nach in afghanische Hände zu legen, müssen wir den zivilen Aufbau weiterhin unterstützen. Wir können unser militärisches Engagement nur dann zurückfahren, wenn wir unser ziviles Engagement verstärken. Darauf kommt es zunehmend an. Der heute unter TOP 13 zur Debatte stehende Antrag der SPD-Fraktion zur "Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen" und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Afghanistan" behandeln beide die zivile Seite des Wiederaufbaus. Da Kollegin Pfeiffer auf den Antrag der SPD-Fraktion eingeht, beschränke ich mich hier auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Ihr Antrag verlangt eine erhebliche Verstärkung des deutschen Engagements in der Bildungsförderung. Sie bemängeln, das deutsche Engagement bleibe in seinem Umfang hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück. Deshalb fordern Sie eine Fülle von umfangreichen und kostenintensiven Einzelmaßnahmen zum Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems. Lassen Sie mich dazu kurz festhalten: Ich stimme absolut mit Ihnen überein, dass Bildung der Schlüssel für Prosperität, Wachstum, Versöhnung und Stabilität in Afghanistan ist. Darüber sind wir uns alle einig. Ihr Versuch, mit dem Antrag Defizite deutscher Politik herbeizureden, geht jedoch an der Realität vorbei. Ich teile überhaupt nicht Ihre Ansicht, dass unser Engagement im Bildungsbereich defizitär ist. Wir sollten uns noch einmal vor Augen führen, dass das afghanische Bildungswesen in den Jahren des Bürgerkriegs und unter den bildungsfeindlichen Taliban weitgehend kollabiert war. Zahlreiche Schulen wurden zerstört. Mädchen und Frauen waren fast vollständig vom Zugang zu Bildungseinrichtungen ausgeschlossen. Dies hat sich grundlegend geändert. Seit dem Ende der Talibanherrschaft zeigen sich insbesondere im Bereich der Grundbildung beachtenswerte Erfolge. Erlauben Sie mir den Verweis auf den Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan: Die Einschulungsrate hat zwischen 2005 und 2007/08 von 37 Prozent auf 52 Prozent zugenommen, die Alphabetisierungsrate bei den 15- bis 24-Jährigen von 31 Prozent auf 39 Prozent. Neben der Versiebenfachung der Anzahl der afghanischen Schülerinnen und Schüler von rund 1 Million im Jahr 2001 auf rund 7 Millionen 2010 stieg der Anteil der Schülerinnen in Grundschulen von 0 Prozent im Jahr 2001 auf 38 Prozent 2008. Der Frauenanteil der an allgemeinbildenden Schulen unterrichtenden Lehrkräfte liegt mittlerweile bei 29 Prozent. Sie finden heute Frauen in afghanischen Universitäten, im Parlament und im Kabinett. Natürlich gibt es immer noch erhebliche Defizite. Dennoch sind die bislang erreichten Erfolge viel besser als erwartet und umfassendem internationalen Engagement zu verdanken. Gerade unser deutsches Engagement hat zu diesen Erfolgen in entscheidendem Maße beigetragen. Die Bundesregierung engagiert sich unter anderem im Schulsektor, bei der Lehrerausbildung, bei der Förderung von Deutsch als Fremdsprache und bei der Alphabetisierung und Erwachsenenbildung. Es gibt zahlreiche Partnerschaften zwischen deutschen und afghanischen Universitäten. Der Deutsche Akademische Austauschdienst, DAAD, hat seit 2002 etwa 950 Stipendien vergeben. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dass wir unser Engagement in Afghanistan als eine Aufgabe von besonderem nationalem Interesse verstehen. Dies gilt auch für unser Engagement im Bildungsbereich, das wir uns bereits heute einiges kosten lassen. Ich verdeutliche Ihnen dies anhand folgender Zahlen: Das BMZ hat von 2002 bis 2010 insgesamt rund 70,5 Millionen Euro in die Grundbildung und rund 29,5 Millionen Euro in die berufliche Bildung in Afghanistan investiert. Das AA hat seit 2002 über 30 Schulen aus Mitteln des Stabilitätspakts neu gebaut und Hunderte von Schulen mit Ausstattungsmaterial, Zelten sowie kleinen Baumaßnahmen unterstützt. Allein im Jahr 2010 konnte durch die Erhöhung der Mittel im Bildungsbereich der Bau von über 20 Schulen begonnen werden. 2009 wurden dafür rund 1,15 Millionen Euro für die Ausbildung afghanischer Lehrer bereitgestellt, zwischen 2002 und 2009 insgesamt 12,4 Millionen Euro. Das BMZ hat im Zeitraum 2009 bis 2010 einen signifikanten Beitrag zum nationalen Bildungsprogramm der afghanischen Regierung in Höhe von 20 Millionen Euro geleistet. Der Hochschulbereich wurde zwischen 2002 und 2009 mit rund 17 Millionen Euro aus dem Stabilitätspakt des AA unterstützt. 2010 sind es annähernd 4 Millionen Euro. Das sind keine Peanuts, sondern substanzielle Summen. So wie Heidegger sagte, Sprache ist das Gehäuse des Menschen, gestaltet Bildung dieses Gehäuse aus. Gerade wir Deutschen mit unserer großen bildungspolitischen Kompetenz sind in der Verantwortung, an die jahrzehntelang andauernde deutsch-afghanische Bildungspartnerschaft anzuknüpfen. Genau das machen wir aber bereits durch unser Engagement. Wir folgen deshalb der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses und lehnen Ihren Antrag ab. Burkhard Lischka (SPD): Wir befassen uns heute mit einem Antrag, den wir als SPD-Bundestagsfraktion bereits vor zehn Monaten in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Der zivile Aufbau Afghanistans, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Lebensperspektiven, Menschen- und Frauenrechte, all das thematisiert dieser Antrag. Und wir wissen: All das sind Schlüsselbegriffe, wenn es um die Zukunft Afghanistans geht. Es waren Schlüsselbegriffe vor knapp einem Jahr, als wir diesen Antrag gestellt haben, und sie sind es bis heute geblieben. Ja, es gibt Fortschritte in Afghanistan: bei der Infrastruktur, in der Bildung, bei der Gesundheitsversorgung. Aber wir treten eben auch in vielen Bereichen seit Jahren auf der Stelle. Und - wer wollte das leugnen? - es gibt auch Rückschritte. Herr Niebel, als Sie vor einigen Wochen hier im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zu Afghanistan abgegeben haben, da sagten Sie: "Wer heute an den Hindukusch kommt, der sieht: Die Kinder lassen wieder Drachen steigen." Die Lebensfreude fasse wieder Fuß in Afghanistan, meinten Sie. Ich weiß nicht, Herr Niebel, was Sie gedacht haben, als vor wenigen Tagen sieben UN-Mitarbeiter in Mazar-i-Scharif gelyncht wurden, als ein deutscher Entwicklungshelfer Ende des vergangenen Jahres bei seiner Arbeit getötet wurde. Ich weiß nicht, was Sie empfunden haben, als wir vor einigen Wochen erfahren mussten, dass im vergangenen Jahr fast 3 000 Zivilisten - mehr als je zuvor - in Afghanistan ums Leben gekommen sind. Mit "einer Fuß fassenden Lebensfreude" hat all das sicherlich nichts zu tun. Herr Niebel, ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie auch auf die Fortschritte, die wir in Afghanistan haben, verweisen. Nochmals: Ja, die gibt es. Ich verlange aber von Ihnen als verantwortlicher Minister, dass Sie schonungslos und offen auch die Probleme und die Rückschritte benennen, mit denen wir es auch in Afghanistan zu tun haben, und dass Sie Strategien und Konzepte entwickeln und hier im Deutschen Bundestag vorlegen, wie wir diese Probleme überwinden können. Das ist Ihre Aufgabe als zuständiger Minister, Herr Niebel. Und da sind Sie in der Vergangenheit leider vieles, vieles schuldig geblieben. Wo ist Ihre zukunftsfeste Strategie, Herr Niebel? Ich sehe sie nicht. Zehn Jahre nach Beginn des Einsatzes wissen wir: Viele Hoffnungen, die weite Teile der afghanischen Bevölkerung mit dem Beginn des Einsatzes verknüpft hatten, wurden enttäuscht. Die anfängliche Begeisterung ist viel zu oft inzwischen umgeschlagen in Frustration, Ablehnung, teilweise sogar offene Feindschaft. Woran liegt das? Was für Fehler haben wir in der Vergangenheit gemacht? Wie können wir aus diesen Fehlern für die Zukunft lernen? Welche Maßnahmen und Projekte haben sich demgegenüber als erfolgreich herausgestellt? Wie können wir diese Ansätze verstärken und ausbauen? Die Beantwortung dieser Fragen ist entscheidend, wenn wir mithelfen wollen, dass die Menschen in Afghanistan wieder Perspektiven für sich und ihre Kinder sehen sollen, wenn sie wieder Hoffnung schöpfen sollen, wenn sie an ihre Zukunft denken. Deshalb brauchen wir eine unabhängige und fachkundige Analyse und Evaluation unseres bisherigen Engagements. Das aber verweigern Sie bis zum heutigen Tag. Das werden Sie auch heute Abend wieder verweigern, wenn Sie unseren Antrag ablehnen, der genau dies einfordert. Angesichts der Rückschläge und der Probleme, die wir in Afghanistan haben, ist das unverständlich. Und ich sage deutlich: Es ist auch politisch verantwortungslos. Politisch verantwortungslos ist es auch, Herr Niebel, wenn Sie jetzt immer noch einfordern, die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen müssten näher an das Militär heranrücken und würden nur dann unterstützt, wenn sie mit dem Militär zusammenarbeiten. Wissen Sie, Herr Niebel, ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn eine Organisation aus freien Stücken für sich die Entscheidung trifft, mit dem Militär zu kooperieren. Ich habe aber etwas dagegen, wenn Sie auch alle anderen Organisationen in dieses Korsett zwingen wollen, selbst dann, wenn diese sagen: Das gefährdet unsere Projekte. Das gefährdet unsere Mitarbeitet. Das gefährdet diejenigen Afghanen, die bei uns Hilfe suchen. - Und wenn Sie dann Hilfsorganisationen, die ihre Sorge öffentlich machen, auch noch Desinformation vorwerfen, dann ist das ein starkes Stück. Desinformation, Herr Niebel, ist es, wenn Sie dieser Tage im Tagesspiegel behaupten, Hilfsorganisationen, die frühzeitig über militärische Operationen informiert seien, könnten ihre Planungen darauf einstellen und dann schneller in Gebieten tätig werden, in denen vorher Kampfhandlungen stattgefunden haben. So aber funktioniert Entwicklungshilfe nicht, Herr Niebel, weil die Hilfsorganisationen gerade dann als Partei eines Bürgerkrieges wahrgenommen werden und nicht als neutrale, unabhängige Helfer. Ihr Vorhaben, die Hilfsorganisationen unter ein sicherheitspolitisches Primat zu stellen, ist falsch, Herr Niebel. Deshalb geben Sie es auf! Wenn ein Antrag wie dieser fast ein Jahr durch die Gremien des Deutschen Bundestags unterwegs ist, dann kann zweierlei passieren: Erste Möglichkeit: Der Antrag setzt Staub an. Oder, zweite Möglichkeit: Er kann - quasi unfreiwillig - sehr deutlich machen, wie lange eine Sache schon im Argen liegt. So wie hier, wo Sie seit einem Jahr versuchen, unabhängige Hilfsorganisationen in eine politische und militärische Gesamtstrategie einzubinden. Nur, Herr Niebel: Das ist gefährlich. Denn die Hilfsorganisationen werden auch dann noch auf Jahre und Jahrzehnte in Afghanistan arbeiten, wenn sich die Militärs längst zurückgezogen haben. Aber sie sind dann darauf angewiesen, dass ihre Arbeit in puncto Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit nicht vorher diskreditiert wurde. Deshalb: Hören Sie auf mit dieser Politik! Sie beschwert und behindert den Aufbau Afghanistans über 2014 hinaus, also in einer Zeit, wo Sie keine Verantwortung mehr tragen. Harald Leibrecht (FDP): Die Bundesregierung hat mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen eine Neujustierung des deutschen Afghanistan-Engagements vorgenommen. Wir haben einen Wechsel hin zu einem stärkeren zivilen Wiederaufbau vollzogen und haben uns auch auf internationaler Ebene mit dem Ansatz durchgesetzt, dass der Afghanistan-Einsatz nicht rein militärisch zu gewinnen ist. Unser militärisches Engagement wird nur nachhaltig erfolgreich sein, wenn wir es mit größeren Anstrengungen zur Entwicklung des Landes verbinden. Afghanistan ist ein Land, das jahrzehntelang von Kriegen gebeutelt wurde, in dem staatliche Strukturen nur schwach ausgeprägt sind und das durch die Wirren des Krieges in seiner Entwicklung weit zurückgeworfen wurde. Afghanistan belegt im aktuellen Index zur menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen, HDI, den vorletzten Platz von 182 Ländern. Ein Großteil der Bevölkerung lebt in Armut. Deshalb kann ich Ihnen nur zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie in Ihrem Antrag darauf aufmerksam machen, dass die Herausforderungen in Afghanistan enorm sind. Deutschland stellt sich seiner Verantwortung für Afghanistan und die internationale Sicherheit. Wir haben die Mittel für das zivile Engagement in Afghanistan auf insgesamt 430 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt und damit im Vergleich zum Jahr 2008 verdoppelt. Wir sollten die Herausforderungen und Probleme in Afghanistan nicht kleinreden, aber wir sollten auch die Fortschritte nicht ausblenden, die für viele Menschen spürbare Verbesserungen in ihrem Alltag mit sich bringen. Die Kindersterblichkeit ist signifikant gesunken, und wir müssen uns weiter engagieren, damit sie weiter sinkt. Die Anzahl der Kinderheiraten (unter 15 Jahre) ist von 11 Prozent auf 3 Prozent zurückgegangen. 7 Millionen Mädchen und Jungen wurden eingeschult, darunter ein Drittel Mädchen. In den nordafghanischen Provinzen, wo die deutsche Entwicklungszusammenarbeit schwerpunktmäßig tätig ist, haben wir die höchsten Einschulungsraten in ganz Afghanistan. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit Beginn des internationalen Einsatzes von rund 175 auf circa 460 US-Dollar erhöht. Um diese Erfolge nicht zu gefährden, wird die deutsche Entwicklungszusammenarbeit selbstverständlich auch nach Abzug der Bundeswehr weiter in Afghanistan aktiv sein. Die Bundesregierung hat ihr Engagement in Afghanistan spürbar verstärkt, aber sie stellt auch Anforderungen an die afghanische Regierung, was beispielsweise die Bekämpfung von Korruption und gute Regierungsführung angeht. Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dirk Niebel hat bei seinem Besuch in Afghanistan vor knapp zwei Wochen zunächst nur Zusagen über die erste Hälfte der für 2011 im BMZ-Haushalt vorgesehen Mittel in Höhe von 240 Millionen Euro gemacht. Die Auszahlung der zweiten Tranche hat Dirk Niebel an messbare Fortschritte bei der Regierungsführung geknüpft. Der Bundesentwicklungsminister hat die ausdrückliche Unterstützung meiner Fraktion. Denn wir dürfen im Sinne der hilfebedürftigen Menschen in Afghanistan und der deutschen Steuerzahler Misswirtschaft und Korruption nicht dulden. Der hier vorliegende Antrag der SPD-Fraktion ist in einigen Punkten bereits überholt. So haben wir mit dem Provincial Development Fund mittlerweile ein Instrument, das sich dem Thema ländliche Entwicklung widmet und gleichzeitig lokale demokratische Entscheidungsverfahren fördert. Ein weiterer Grund, weshalb die FDP-Fraktion dem Antrag nicht zustimmen kann, ist, dass er sich grundsätzlich gegen das Konzept der vernetzten Sicherheit ausspricht. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen unterstützen dieses Konzept, weil die Entwicklungserfolge nachweislich dort am größten sind, wo die Sicherheitslage stabil ist. Die SPD-Fraktion kommt ja selbst zu dem Schluss, dass sich Sicherheit und Entwicklung gegenseitig bedingen. Nichtregierungsorganisationen leisten einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des Landes. Ihre Arbeit ist dabei mit großen Risiken behaftet. Die Bundesregierung fördert deren Tätigkeiten deshalb vorrangig dort, wo der Schwerpunkt des deutschen Engagements liegt, also im Norden. Dabei geht es nicht um eine Unterordnung ziviler Kompetenzen unter militärische Prämissen, sondern um eine bessere Zusammenarbeit und Abstimmung von zivilem und militärischem Engagement. Es gibt Organisationen, die dieses Potenzial erkannt haben, wie zum Beispiel die Stuttgarter Initiative Kinderberg International. Die Bundesregierung hat die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen im Jahr 2010 deutlich gestärkt. Mit dem NRO-Fazilitätsfonds wurden im Jahr 2010 10 Millionen Euro für die Förderung von Projekten privater deutscher Träger zur Verfügung gestellt. Im letzten Jahr wurden die bereitgestellten Mittel vollständig abgerufen. Ich denke, dies zeigt, dass wir der Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen eine hohe Bedeutung zumessen. Auch 2011 stellen wir erneut 10 Millionen Euro für die NRO-Fazilität zur Verfügung. Um in Afghanistan nachhaltige Erfolge zu bewirken, müssen alle beteiligten Akteure koordiniert und zielorientiert zusammenarbeiten. Dies gilt für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit, für die Bundeswehr und für nichtstaatliche Akteure gleichermaßen. Wenn alle an einem Strang ziehen, können wir in Afghanistan konkrete Fortschritte erzielen, die den Menschen vor Ort zugute kommen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Im Parlament und in der Öffentlichkeit werden die Demokratiebewegungen in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern mit viel Sympathie begleitet. Kaum jemand aber spricht über die politische Situation in Afghanistan. Es wird in der Öffentlichkeit und den Medien übersehen und auch gezielt ignoriert, dass es auch in Afghanistan demokratische und soziale zivilgesellschaftliche Kräfte gibt, die sich gegen das Karzai-Regime und die NATO-Besatzung wenden und dafür auch in immer größerer Zahl auf die Straße gehen. So zum Beispiel Ende Februar, als in der Provinz Kunar durch eine NATO-Bombardierung 63 Menschen getötet wurden, darunter 50 Zivilisten. Sie sind davon überzeugt, dass diese Befreiung nur von den Afghaninnen und Afghanen selbst kommen kann und nicht durch Bomben. Diese zivilgesellschaftlichen Kräfte sind keine bezahlten NGOs, sondern größtenteils ehrenamtliche Organisationen, Frauenrechtsbewegungen, Studentengruppen, Menschenrechtsgruppen und Opfervertreter und -vertreterinnen. Im Januar dieses Jahres hatte die Fraktion Die Linke zehn Afghaninnen und Afghanen in Berlin zu Gast, um auf der Konferenz "Das andere Afghanistan" Perspektiven für eine friedliche und demokratische Entwicklung zu diskutieren. Sie kritisierten, dass die westlichen Regierungen seit 2001 einseitig prowestliche fundamentalistische Kräfte in ihrem Land gestärkt haben, die nach militärischen und geostrategischen Interessen ausgesucht wurden. Bei der Petersberger Konferenz 2001 und der Kabuler Konferenz 2010 waren maßgeblich Kriegsverbrecher, Warlords und andere Personen eingeladen, die Blut an den Händen haben; kritische zivilgesellschaftliche Kräfte aber waren nicht beteiligt. Sie erfahren auch keinen Schutz und keine Unterstützung, sondern sind Opfer von Anschlägen, müssen oft im Geheimen agieren und bleiben bei wichtigen politischen Verhandlungen außen vor. Dies ist ein Skandal! Deshalb werden wir gemeinsam mit Friedensgruppen im Herbst anlässlich der zweiten Petersberger Konferenz diese kriegskritischen Stimmen aus Afghanistan sichtbar machen. Seit zehn Jahren herrscht Krieg in Afghanistan, Milliarden von Euro fließen in diesen Krieg. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2010 kostet die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan Deutschland rund 3 Milliarden Euro pro Jahr. Insgesamt dürfte dem DIW zufolge die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg etwa 36 Milliarden Euro kosten. Währenddessen ist die humanitäre Lage in Afghanistan gleichbleibend schlecht. Afghanistan liegt auf Platz 181 und damit auf dem vorletzten Platz des Human Development Index (HDI). Rund 80 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer sind Analphabeten, weniger als 19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Versorgung und sauberem Wasser. Laut Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit bei 199 Kinder pro 1 000 Geburten. Sie ist damit 50-mal so hoch wie in Deutschland. Die Armut wächst, Hunger bedroht mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung. Erfolge in der Entwicklungszusammenarbeit werden durch den Krieg konterkariert. Die Zahl der zivilen Opfer steigt seit 2006 dramatisch an. Auch die Zahl der Menschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen, steigt weiter an. Im Human Development Index heißt es, dass sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen - das ist jeder zehnte Einwohner - auf der Flucht befinden, oft ohne ausreichende humanitäre und gesundheitliche Versorgung. Auch ein Bericht der International Crisis Group bemängelt, dass der Krieg den Zugang der afghanischen Bevölkerung zu Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkt hat. Angriffe auf Schulen, zum Beispiel das Abbrennen oder erzwungene Schließen von Schulen, die Verwendung von Schulen für militärische Zwecke sowie Drohungen gegen das Lehrerpersonal und Schülerinnen und Schüler nehmen zu. In ihrem Antrag fordern die Grünen, dass der Aufbau des afghanischen Bildungssystems unterstützt werden soll und Mittel für Bildungsprojekte verdoppelt werden sollen. Unsere Fraktion lehnt diesen Antrag ab. Der Bildungsansatz entspricht eher einer Elitenbildung und ist damit weit entfernt von dem Grundsatz "Bildung für alle". Zudem wird der militärische Schutz von Bildungseinrichtungen erwogen und trägt so zur gefährlichen Vermischung zwischen Zivilem und Militärischem bei. Nach Angaben von NGOs sind zivile Projekte und Schulen nämlich durch die Nähe des Militärs eher gefährdet denn geschützt. Die SPD-Fraktion kommt in ihrem Antrag zu der fatalen Fehleinschätzung, dass der ISAF-Einsatz dazu beitrage, in Afghanistan ein sicheres Umfeld für den zivilen Aufbau und Entwicklung zu schaffen. Das Gegenteil ist richtig: Der Militäreinsatz muss beendet werden, damit sich überhaupt erst eine Perspektive für eine friedliche und soziale Entwicklung eröffnen kann. Mit dem ISAF-Einsatz sind Wiederaufbau, Demokratie und Sicherheit in weite Ferne gerückt. Wir teilen allerdings die Forderung des SPD-Antrags, die humanitäre Hilfe stärker auf ländliche Räume auszurichten und nicht nur auf die Regionen mit militärischer Bedeutung für die NATO-Truppen zu konzentrieren. Seit langem fordern wir: Entwicklungshilfe muss dort stattfinden, wo Bedarf für die Bevölkerung besteht, nicht für die Bundeswehr! Es freut uns, dass mittlerweile auch die SPD-Fraktion zu dieser Erkenntnis gekommen ist. Die NATO ist ein Unsicherheitsfaktor in Afghanistan. Der Bombenangriff bei Kunduz im Jahr 2009 hat dies in aller Deutlichkeit gezeigt. Die Linke fordert deshalb den sofortigen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Nur wenn die Waffen schweigen und die afghanischen Konfliktparteien in einen politischen Friedens- und Aussöhnungsprozess eingebunden werden, kann der Wiederaufbau erfolgreich sein. Wir fordern dazu auf, die friedlichen zivilgesellschaftlichen Kräfte endlich wahrzunehmen und ihre Forderungen zu unterstützen. Die Bundesregierung samt ihrer Vorgängerregierungen hat jahrelang zahlreiche diktatorische Regime im arabischen Raum unterstützt und militärisch aufgerüstet. Jetzt werden sie aufgrund des starken Drucks aus der Bevölkerung nach und nach fallengelassen. Doch gleichzeitig geht die Unterstützung für das korrupte Karzai-Regime und zahlreiche kriminelle Kriegsfürsten in Afghanistan weiter. Diese Politik ist in höchstem Masse unglaubwürdig. Wer also eine wirkliche Verbesserung der humanitären Lage in Afghanistan erreichen will und die Interessen der Bevölkerung ernst nimmt, muss diesen Krieg beenden und die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen, nicht erst 2014 sondern sofort. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie können sich vorstellen, wie mich der Angriff auf die UN am vergangenen 1. April getroffen hat. Als ich dort gearbeitet habe, war es mein schlimmster Alptraum, dass genau das passieren könnte, was jetzt in Mazar-i-Scharif passiert ist. Ich trauere um meine ermordeten Kolleginnen und Kollegen, die zivilen UN-Mitarbeiter und ihre tapferen nepalesischen Guards. Mein Beileid gilt ihren Familien und Freunden, mein Respekt allen Kollegen der UNAMA-Mission, die sich trotz allem weiter in Afghanistan für Menschenrechte und Frieden einsetzen. Ich habe in Afghanistan und anderen UN-Missionen viele Reformen begleitet: Polizeiaufbau, Verwaltungsaufbau, Justizreformen. Es gab auch viele Erfolge, aber die Erfolge, die nachhaltig Wirkung erzielt hatten, waren alle Bildungserfolge. Das gilt auch in Afghanistan: Fast alles, was die Sowjets in ihren 20 Jahren Einfluss und zehn Jahren Besetzung errichtet haben, ist zertrümmert. Aber wenn man heute in Kabul einen Kinderarzt trifft, dann ist er in aller Regel unter den Sowjets ausgebildet worden. Von den vielen Modernisierungsprojekten der Sowjets ist nur das geblieben. Es ist nicht alles schlecht in Afghanistan. Wir haben immer betont, was gut ist. Wer von den guten Dingen in Afghanistan spricht, der spricht von den Schulen. Das ist ein Ansatz, der gerade in der Grundbildung gelungen ist, der wichtig ist, der von uns erwartet wird und bei dem wir Expertise bieten können. Ich kann nicht verstehen, dass wir diesem Ansatz nicht stärker und konsequenter verfolgen. Warum haben wir ein großes schönes EU-POL-Headquarter gebaut, aber in der Schule gegenüber ist seit Jahren das Dach undicht? Wie kann es sein, dass zwei von fünf Schülerinnen im Freien unterrichtet werden müssen? Wie erklären wir, dass wir für die Förderung der afghanischen Sekundarschulen von 2002 bis 2009 ebenso viel Geld ausgegeben haben, wie wir im Monat für den Erhalt des Wehrmaterials? Warum lassen wir zu, dass das Goethe-Institut und die Amani-Oberrealschule in Kabul verfallen? In dieser Schule saßen seit 1924 die Kinder der Elite Afghanistans - und nicht nur die wirtschaftliche, auch die intellektuelle Elite - auf der Schulbank; jetzt verfällt das Gebäude. Andere Staaten renovieren und vergrößern ihre Bildungsinstitutionen in Afghanistan, wir machen nichts. Warum ist das Büro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Kabul seit Monaten unbesetzt? Warum wird es jetzt offenbar ganz geschlossen? Warum kürzen wir die wenigen Stipendien- und Austauschprogramme zwischen deutschen und afghanischen Universitäten? Warum geben wir 430 Millionen Euro für zivile Hilfe in Afghanistan aus, aber nur 2,3 Millionen für die Hochschulförderung? Allein die University of Massachusetts erhält von den USA 6,8 Millionen Euro für die Austauschprogramme mit Afghanistan - also das Dreifache von dem, was wir für die gesamte Universitätskooperation ausgeben. Gerade bei den Universitäten ist die deutsche Zurückhaltung unbegreiflich. Dort, an den Universitäten, wird die Bildungs- und Verwaltungselite Afghanistans ausgebildet. Von dort kommen die Menschen, die bald den Staat lenken und die Gesellschaft prägen werden. Doch auch zehn Jahre nach dem Fall der Taliban sind die Universitäten in einem erbärmlichen Zustand. Laut dem zuständigem Ministerium sind nur 134 der 2 572 Lehrenden promoviert. Warum haben wir denen nicht schon längst Stipendien angeboten? Andere Staaten sind da aktiver, der Iran allen voran. Es gibt einzelne gute deutsche Projekte: zum Beispiel die Ausbildungsprogramme von Professor Wilhelm Löwenstein, die Kooperationen zur Curriculum-Reform oder die IT-Projekte von Dr. Peroz. Warum man solche Ansätze nicht vervielfältigt hat, das will ich nicht verstehen. Dass man aber selbst diese Erfolgsprojekte nicht angemessen finanziert, ist einfach empörend. Sie sind Leuchttürme, die das Elend der deutschen Hochschulförderung beleuchten. Sie zeigen, was alles möglich wäre, wenn der politische Wille vorhanden wäre. Jedes Mal, wenn ich in Afghanistan bin, fragt man mich, worauf wir eigentlich warten. Nicht nur die NGOs, die Studentinnen und Studenten, die Lehrenden, sondern auch das Ministerium wünscht sich mehr Engagement Deutschlands. Wir gelten dort als Vorbild für das akademische System, von uns will man lernen, wie man Universitäten organisiert. Es geht dabei nicht nur um Geld. Die Afghanen wollen vor allem Beratung und Expertise. Warum sträuben wir uns? Seit zehn Jahren wollen wir in Afghanistan einen Staat, in dem die Menschen mehr Zeit in Schulen und Universitäten verbringen als in Kasernen. Dieses Ziel sollte auch darin deutlich werden, wie wir unsere Förderungen gewichten. Der Erfolg der Afghanistan-Mission hängt nicht so sehr davon ab, ob genug und ausreichend qualifiziertes Personal für Armee und Polizei vorhanden ist. Wichtiger ist, dass die Afghanen Tag für Tag friedlich und gerecht miteinander umgehen - auch dann, wenn kein Polizist in der Nähe ist. Bildung ist hierfür eine entscheidende Voraussetzung. Aus drei Gründen sind wir in Afghanistan aktiv: Wir wollen dort Frieden und Demokratie. Wir wollen verhindern, dass Terror wächst. Und wir wollen die Beziehungen zu unseren Bündnispartnern pflegen. Für alle drei Ziele ist Bildung ein sehr gutes Mittel. Wenn wir da weiter zaudern und knausern, bleibt nach 2014, dem Abzug unserer Kampftruppen, vom deutschen Engagement in Afghanistan so wenig wie von den großen Staudammprojekten der 1930er- und 1960er-Jahre - nämlich nichts. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz - HolzSiG) (Tagesordnungspunkt 12) Alois Gerig (CDU/CSU): Die weltweite Zerstörung der Wälder nimmt dramatische Ausmaße an: Jährlich gehen auf unserer Erde rund 13 Millionen Hektar Wald verloren; das entspricht mehr als der gesamten Waldfläche Deutschlands. Durch Waldzerstörungen verschwinden nicht nur wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen; auch die für den Klimaschutz notwenige Kohlenstoffspeicherung der Wälder wird erheblich abgesenkt. Waldzerstörungen tragen mit rund 20 Prozent zu den globalen Emissionen von Treibhausgasen bei. Eine wichtige Ursache für die weltweiten Waldzerstörungen ist der illegale Holzeinschlag insbesondere in den Tropen. In Deutschland und anderen Ländern Europas ist der illegale Holzeinschlag in der Regel kein ausgeprägtes Problem. Wahr ist aber auch, dass Europa ein wichtiger Markt für Holz aus anderen Teilen Welt ist - auch für Holz aus illegalem Einschlag. Das Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut hat ermittelt, dass 10 bis 18 Prozent des Holzes, das zwischen der EU und Drittländern gehandelt wird, aus illegalem Einschlag stammt. Für Deutschland wird davon ausgegangen, dass 3 bis 6 Prozent aller Holzeinfuhren illegaler Herkunft sind. Damit unsere Nachfrage nach Holz nicht zu Waldzerstörungen anderswo beiträgt, müssen wir dem Handel mit illegal geschlagenem Holz einen Riegel vorschieben. Aufgrund der überragenden Bedeutung der Wälder für die Biodiversität und den Klimaschutz muss der Waldzerstörung Einhalt geboten werden. Die Europäische Union hat sich dieser Aufgabe angenommen: Mit dem Aktionsplan "Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor", Forest Law Enforcement, Governance and Trade - FLEGT, will die EU Holzimporte besser kontrollieren und den illegalen Holzeinschlag bekämpfen. Zentrale Bausteine des FLEGT-Aktionsplans sind zwei Verordnungen: Im vergangenen Jahr wurde vom Europäischen Parlament und vom Rat die EU-Holzhandelsverordnung beschlossen, die das Inverkehrbringen von illegal geschlagenem Holz verbietet. Zudem werden den Marktteilnehmern bestimmte Sorgfaltspflichten vorgeschrieben. Bereits aus dem Jahr 2005 stammt eine weitere Verordnung, die Holzeinfuhren aus den Partnerländern der EU regelt. Um die letztgenannte Verordnung in Deutschland umzusetzen, hat die Bundesregierung das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz vorgelegt, das wir heute abschließend beraten. Mit dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz wollen wir die erforderlichen Regelungen schaffen, damit deutsche Behörden Holzlieferungen aus den Partnerländern der EU kontrollieren können. Partnerländer sind derzeit Ghana, Kamerun, Kongo und die Zentralafrikanische Republik. Im Rahmen von freiwilligen Partnerschaftsabkommen hilft die EU den Partnerländern dabei, dass nur legal geschlagenes Holz auf den Markt gelangen kann und die Forstwirtschaft an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausgerichtet wird. Im Gegenzug können die Partnerländer nur noch Holz in die EU einführen, das legal geschlagen wurde. Die Legalität wird durch eine sogenannte FLEGT-Genehmigung nachgewiesen, die bei der Einfuhr in die EU von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten kontrolliert wird. Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz sieht vor, dass die Kontrollen in Deutschland vom Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung, BLE, und von den Zollbehörden durchgeführt werden. Aus meiner Sicht sind die freiwilligen Partnerschaftsabkommen und die Einführung des FLEGT-Genehmigungssystems der richtige Ansatz: Europa stellt nicht einseitige Gebote auf, sondern leistet Hilfestellung, um vor Ort eine legale und nachhaltige Waldbewirtschaftung aufzubauen. Dies ist eine wichtige Maßnahme gegen den Raubbau am Wald. Nur wenn sich eine legale und nachhaltige Waldnutzung wirtschaftlich lohnt, bestehen auch Anreize, die Wälder auf Dauer zu erhalten. Ziel muss es sein, dass die Holzwirtschaft in den Partnerländern langfristig zur Existenzsicherung der Menschen beitragen kann, die im und vom Wald leben. Für Handel, Holzverarbeiter und Endverbraucher in Europa bringt die Einführung der FLEGT-Genehmigung mehr Sicherheit, dass Holz aus den Partnerländern legal geschlagen wurde. Damit möglichst viele Holzeinfuhren in die EU unter die FLEGT-Genehmigung fallen, ist es wünschenswert, dass mit mehr Holzlieferländern Partnerschaftsabkommen geschlossen werden. Die Partnerschaftsabkommen mit Ghana, Kamerun, Kongo und der Zentralafrikanischen Republik können nur ein Anfang sein. Sicher ist nicht zu erwarten, dass mit allen Holzlieferländern Partnerschaftsabkommen vereinbart werden können. Aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, die bereits angesprochene EU-Holzhandelsverordnung auch umzusetzen. Um den illegalen Holzeinschlag einzudämmen, schreibt diese Verordnung den Marktteilnehmern in der EU bestimmte Sorgfaltspflichten vor, und zwar unabhängig vom Herkunftsland des Holzes. Neben der Hilfe zum Aufbau einer legalen und nachhaltigen Waldbewirtschaftung bieten die Partnerschaftsabkommen auch den Vorteil, dass durch die FLEGT-Genehmigung bestimmte Nachweispflichten aus der EU-Holzhandelsverordnung entfallen. Es ist bereits jetzt erkennbar, dass dies weitere Holzlieferländer motiviert, auch Partnerschaftsabkommen mit der EU anzustreben. Es ist erfreulicherweise damit zu rechnen, dass die EU bald mit fünf weiteren Holzlieferländern Partnerschaftsabkommen abschließen wird. Im Holzhandels-Sicherungs-Gesetz ist vorgesehen, dass bei der Einfuhr von Holz aus Partnerländern nach Deutschland die Überprüfung der FLEGT-Genehmigungen durch das BLE sowie durch die Zollbehörden erfolgt. Um einen reibungslosen Datenaustausch zwischen den Behörden zu ermöglichen, ist die Anschaffung eines neuen IT-Systems geplant. Die Investitionskosten in Höhe von 500 000 Euro erscheinen auf den ersten Blick als viel Geld. Wenn man aber bedenkt, dass in absehbarer Zeit weitere Länder hinzukommen werden und eine steigende Anzahl von Holzeinfuhren aus diesen Ländern zu überprüfen sein wird, so wird die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Finanzmittel schnell gegeben sein. BLE und Zollbehörden müssen effektiv zusammenarbeiten, um Verstöße gegen das FLEGT-Genehmigungssystem aufzuspüren und illegal geschlagenes Holz vom Markt zu nehmen. Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz verleiht dem BLE die dafür erforderlichen Befugnisse: So können beispielsweise verdächtige Holzlieferungen sichergestellt und untersucht werden. Entsprechen Lieferungen nicht den Anforderungen des FLEGT-Genehmigungssystems, so kann die Behörde diese Lieferung völlig aus dem Verkehr ziehen. Zur Ahndung von Verstößen gegen das FLEGT-Genehmigungssystem sind zudem Strafen und Bußgelder vorgesehen. Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz macht deutlich, dass für uns in Deutschland der Handel mit illegal geschlagenem Holz kein Kavaliersdelikt ist. Illegaler Holzeinschlag trägt nicht nur zur weltweiten Zerstörung der Wälder bei, er verzerrt auch erheblich den Wettbewerb auf dem Holzmarkt. Holz aus illegalem Einschlag muss so gut es geht vom Markt genommen werden, damit die Marktteilnehmer, die legal und nachhaltig erzeugtes Holz anbieten, nicht benachteiligt sind. Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz ist ein wichtiger Schritt, um den Handel mit illegal geschlagenem Holz zu bekämpfen. Weitere Schritte müssen unbedingt folgen. Ich denke besonders an die Umsetzung der EU-Holzhandelsverordnung. Mit dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz setzen wir im Internationalen Jahr der Wälder ein wichtiges Signal, dass Deutschland entschieden gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz vorgeht und einen Beitrag zum weltweiten Schutz der Wälder leistet. Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetz zuzustimmen. Petra Crone (SPD): Leider muss ich auch im Internationalen Jahr der Wälder meine Rede mit dem Satz beginnen: Die illegale Abholzung ist in vielen waldreichen Ländern der Welt immer noch gängige Praxis. Der gesamte Verlust an Wald auf der Erde beläuft sich laut Berechnungen der Welternährungsorganisation FAO auf jährlich etwa 13 Millionen Hektar. Wir verlieren hier überwiegend Flächen des tropischen Regenwaldes, und wir verlieren Herzstücke der Biodiversität. Ein Verlust von 13 Millionen Kubikmeter hieße: Wir würden komplett unsere deutsche Waldfläche innerhalb eines Jahres verlieren. Illegaler Holzeinschlag ist ein Problem, das in seinen Ausmaßen nicht verheerend genug beschrieben werden kann - vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zu den nachteiligen sozialen Folgen für die dortige Bevölkerung. Waldrodung ist zudem für rund 20 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Was nach dem globalen Raub an der Natur zurückbleibt, ist ein zerstörter Wald. Er ist kein Lebensraum mehr - weder für Menschen noch für Tiere und Pflanzen. Ein starker Motor für die Zerstörung der Wälder ist die internationale und die europäische Nachfrage nach billigem Holz. Die Einfuhr illegalen Holzes nach Deutschland liegt schätzungsweise bei 3 bis 6 Prozent. Würden wir uns nur die Tropenholzimporte anschauen, läge der Anteil wohl um einiges höher. Es ist fast unmöglich, belastbare Zahlen über den Raubholzhandel zu bekommen. Der Anteil an illegalem oder verdächtigem Holz wird bei Lieferungen aus Afrika oder Südostasien auf fast 50 Prozent geschätzt. Es herrscht also dringendster Handlungsbedarf. Im Jahr 2003 wurde auf europäischer Ebene der Aktionsplan "Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor", kurz FLEGT, ins Leben gerufen. Ein Eckstein dieser Politik sind die freiwilligen Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und holzausführenden Ländern. Sie bezwecken eine aktive Einbeziehung waldreicher Länder, in denen sich der illegale Holzeinschlag jeden Tag vollzieht. Das uns vorliegende Holzhandels-Sicherungs-Gesetz setzt nun die europäische Verordnung zur Einrichtung eines FLEGT-Genehmigungssystems für Holzeinfuhren in die Europäische Gemeinschaft in nationales Recht um. Am Ende soll, vor allem für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Gewissheit stehen: Alle Hölzer und Holzprodukte aus dem Partnerland sind legalen Ursprungs. Hierzu wird die Fracht mit einer FLEGT-Genehmigung versehen. Fehlt diese Genehmigung, ist die Einfuhr von Holzprodukten aus dem Partnerland verboten. Als erstes Partnerland hat Ghana Ende 2009 ein Abkommen mit der EU unterzeichnet. Die Republiken Kongo und Kamerun werden folgen, später auch die Zentralafrikanische Republik. Die Ratifizierungen müssen abgewartet warten. Weitere Verhandlungen sind im Gange. Ich hoffe auf viele belastbare Abschlüsse, besonders mit Malaysia und Indonesien. Im Herkunftsland selbst wird ein Rückverfolgungssystem für Holz eingerichtet. Dieses soll die definierte Legalität gewährleisten. Der erste und der wichtigste Kontrollpunkt ist unseres Erachtens schon die Baumfällung. Die Vertragsparteien verpflichten sich zudem, eventuelle negative Auswirkungen des Abkommens auf die Existenzgrundlagen der lokalen Gemeinschaften zu verhindern. Es werden beispielsweise Einkommensalternativen für Holzfäller geschaffen. Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass der Erfolg der Partnerschaftsabkommen im Wesentlichen von der politischen Situation in den Ländern abhängen wird. Bestehen stabile rechtsstaatliche Strukturen und eine Verwaltung, die die Einhaltung der Legalität sichert? Oder besteht erhöhtes Risiko, dass eine illegale Regelung durch einen Federstrich legal wird? Die Unterstützung von guter Regierungsführung auch im Rahmen der FLEGT-Maßnahmen bleibt daher von zentraler Bedeutung. Wie gestaltet sich nun die Kontrolle in Deutschland? Das wird durch das vorliegende Gesetz geregelt. Vorab will ich anmerken: Ein Gesetz kann immer nur so gut sein, wie dessen Umsetzung gelingt. Als zuständige Behörde ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung vorgesehen. Sie wird alle FLEGT-Zertifikate überprüfen. Bei Zweifeln am FLEGT-Genehmigungsschein dürfen Proben auf Kosten des Importeurs durchgeführt werden. Zur Untersuchung des Holzes müssen unserer Auffassung nach neben dem genetischen Fingerabdruck-Verfahren alle wissenschaftlich anerkannten Methoden angewendet werden, vor allem die Stabile-Isotopen-Analytik. Jeder Ort der Welt besitzt durch die Eigenheiten von Geografie und Klima ein charakteristisches Isotopenmuster. Dank dieses einmaligen Musters kann überprüft werden, ob eine behauptete Herkunftsangabe auch stimmt. Was sich schon im Lebensmittelbereich bewährt hat, sollte ebenso für Holz Anwendung finden. Darüber hinaus erscheinen der SPD-Bundestagsfraktion 16 Stichproben beim Zoll, also bei nur 1 Prozent der Lieferungen, zu gering. Wir nehmen aber die Bundesregierung beim Wort: Bei begründetem Verdacht werde die Anzahl der Stichproben ausgeweitet. Der Zoll wird laut Auskunft des BMELV in der letzten Ausschusssitzung Lieferungen aus kritischen Regionen vermehrt unter die Lupe nehmen. Die gelieferten Daten und Erkenntnisse sollten in der Folge einem europaweiten Datenaustausch zugeführt werden. Er muss gegenseitig und unverzüglich stattfinden können. Der Handel mit illegalem Holz kennt schließlich auch keine Grenzen. Die Gefahr der Re-Importe über Transitländer in unsere Märkte bleibt weiterhin bestehen. Ein Manko werden auch die im FLEGT-Abkommen nicht erfassten Holzproduktgruppen bleiben: Möbel, Papier, Holzkohle und Brennholz werden nicht berücksichtigt. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf dennoch zustimmen. Der weitaus umfangreichere Part erwartet uns bei der erforderlichen nationalen Umsetzung des europäischen Holzhandelsgesetzes Mitte bis Ende 2012. Mithilfe des FLEGT-Genehmigungssystems für Holzeinfuhren in die Europäische Gemeinschaft kann die legale Nutzung der Wälder im FLEGT-Partnerland zumindest garantiert werden. Ich betone: Es geht um die Legalität. Zukünftig wird es aber darauf ankommen, dass wir der Legalität die Nachhaltigkeit an die Seite stellen. Gerade in der beginnenden Gartenmöbelsaison möchte ich auf die legale, ökologisch und sozial verantwortliche Waldbewirtschaftung verweisen, die beispielsweise das FSC-Siegel garantiert. Ohne nachhaltige Waldnutzung wird es nicht gehen - das gilt im Übrigen auch für unseren deutschen Wald. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir wollen intakte Primärwälder erhalten. Naturnahe Wälder sind die wichtigsten und größten Schatzkammern der Artenvielfalt. Sie sorgen für eine bessere Luftqualität und produzieren Sauerstoff. Für die Menschen vor Ort stellen intakte Urwälder die Lebensgrundlage dar, sie schützen den Boden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvolle nachwachsende Rohstoffe. Sie sind zudem entscheidend an der Speicherung von atmosphärischem Kohlenstoffdioxid beteiligt. Laut IPCC, dem Intergovernmental Panel on Climate Change, stammen bis zu 30 Prozent der zusätzlichen Belastungen der Atmosphäre mit Kohlenstoffdioxid aus der Zerstörung von Wäldern. Nach Angaben der FAO gingen in den letzten zehn Jahren jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wälder verloren. Das ist mehr als die gesamte Waldfläche Deutschlands. Insbesondere die Rodung von Wäldern für den Anbau von Soja, die Weidehaltung und die Anlage von Palmölplantagen, aber auch der illegale Holzeinschlag bedrohen die wertvollen Waldflächen. Der Raubbau ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südostasiens und Südamerikas erheblich und die Satellitenbilder machen es deutlich. An diesen Verlusten hat der illegale Holzeinschlag einen erheblichen Anteil. Die Zahlen aus dem "Global Forest Resources Assessment 2010" der FAO zeigen eindeutig: Außerhalb Europas wird nur ein Bruchteil der Wälder nach den Kriterien der Nachhaltigkeit bewirtschaftet. Deutschland gehört wie China, die USA und Japan zu den großen Importländern von Holz und Holzprodukten. Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei der Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holzhandels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihres Rohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Deshalb haben wir eine besondere Verantwortung, dass von uns genutztes Holz nur aus legaler und selbstverständlich auch nachhaltiger Bewirtschaftung von Wäldern stammt. Wir sind uns einig, dass der Handel mit illegal geschlagenem Holz und dessen Import in die EU unterbunden werden muss. Die FDP unterstützt ausdrücklich den Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag und den Handel mit solchem Holz. Ein wichtiger Baustein ist die im Jahr 2005 auf EU-Ebene beschlossene FLEGT-Verordnung (EG) 2173/ 2005; dabei steht FLEGT für Forest Law Enforcement, Government and Trade. Ziel der europäischen Initiative ist es, mithilfe von freiwilligen Partnerschaftsabkommen, von Voluntary Partnership Agreements oder VPAs, die wichtigen Herkunftsländer von Tropenholz zu einer besseren Überwachung und nachhaltigen Waldwirtschaft zu führen. Dazu müssen Einfuhrbeschränkungen in Kraft treten, sodass nur noch Hölzer mit gültiger FLEGT-Genehmigung in die EU importiert werden dürfen. Wir unterstützen die Bemühungen der Kommission, mit einer möglichst großen Zahl von Herkunftsländern Partnerschaftsabkommen auszuhandeln. Allerdings müssen wir feststellen, dass derzeit VPA lediglich mit Kamerun, der Demokratischen Republik Kongo, Ghana und Kongo-Brazzaville abgeschlossen wurden. Somit ist bisher lediglich ein kleiner Teil der Holzimporte erfasst. Es ist aus unserer Sicht entscheidend, vorrangig die größten Exporteure von Tropenholz wie Indonesien in das FLEGT-System einzubinden. Nur so können die am stärksten bedrohten Wälder auch effektiv geschützt werden. Die Regelungen im Holzhandels-Sicherungs-Gesetz bedeuten für die betroffenen Holzhandelsunternehmen die Erhöhung ihres wirtschaftlichen Risikos. Die Verantwortung für fehlerhaft ausgestellte Zertifikate liegt allein bei den Importeuren. Zudem erzeugen die FLEGT-Verordnung, die Ende 2010 verabschiedete EU-Holzhandelsverordnung (EU) 995/2010 und das vorliegende Gesetz einen deutlichen bürokratischen Mehraufwand. Dies betrifft die Wirtschaft wie die zuständige Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, die BLE, gleichermaßen. Auch wenn die genannten Maßnahmen zur Rettung der Tropenwälder ein sinnvoller Beitrag sein werden, sollte angesichts des bisher sehr geringen Liefervolumens aus Partnerländern insofern mit Bedacht vorgegangen werden. Allein die Investitionen in ein Datenaustauschsystem zwischen der BLE und den Zollbehörden soll laut Begründung des Gesetzes etwa eine halbe Million Euro kosten. Um diese erheblichen Investitionen zu rechtfertigen, müssen zügig mit weiteren Ländern VPAs abgeschlossen werden. Es muss kritisch die Höhe der Investitionen überprüft werden. Auf nationaler Ebene sind die zuständigen Behörden dazu angehalten, für eine zügige Umsetzung des Holzhandels-Sicherungs-Gesetzes zu sorgen. Die Kontrollen durch die Zollbehörden müssen risikoorientiert und in Abstimmung mit den betroffenen Wirtschaftsbereichen erfolgen. Aus diesem Grund begrüßen wir die Initiativen des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, schnellere, zuverlässigere und praktikablere Methoden zur Kontrolle zu entwickeln. Aus liberaler Sicht können neue wissenschaftliche Methoden helfen, Verdachtsfälle eindeutig aufzuklären und die Kontrollen wesentlich zu vereinfachen und zu beschleunigen. Beispiele sind das genetische Fingerprinting, das am Institut für Forstgenetik des von-Thünen-Institutes in Großhansdorf entwickelt wird, oder die Isotopenanalyse. Angesichts der erschwerten Beweisführung bei Verdachtsfällen und angesichts des wirtschaftlichen Risikos für die Holzimporteure, die oft dem Mittelstand angehören, sind wir auf moderne und effiziente Kontrollmethoden angewiesen. Die FDP-Fraktion unterstützt die Bemühungen der Bundesregierung beim Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag, und wir freuen uns, dass im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz alle Fraktionen für den Gesetzentwurf gestimmt haben. Wir stimmen dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz im Bundestag zu und setzen uns ausdrücklich dafür ein, weitere Länder in das FLEGT-System mit einzubeziehen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Illegaler Holzeinschlag bedroht weltweit die Wälder. "Bei der Ernte, Transport, Einkauf oder Verkauf des Holzes wird gegen nationale oder internationale Gesetze verstoßen", schreibt der WWF. Das ist inakzeptabel. Auch bis zu 6 Prozent der Holzeinfuhren nach Deutschland sind illegal. Diese Zahl bezieht sich auf alle Hölzer, also auch EU-Holz. Bezogen auf Holz aus Drittländern dürfte der Prozentsatz illegalen Holzes noch deutlich höher sein. Beispielsweise sollen 80 Prozent des Amazonasholzes aus Raubbau stammen. Das ist ein lukrativer krimineller Markt, der dringend geschlossen werden muss. Zuletzt debattierte der Bundestag im Frühjahr 2010 über das Thema, als eine EU-Verordnung über Holz und Holzerzeugnisse erarbeitet wurde. Bei allen Meinungsverschiedenheiten in Detailfragen wurde dennoch klar: Europa kämpft gemeinsam gegen Holz aus Raubbau. Bereits 2003 verabschiedete die EU einen FLEGT-Aktionsplan. Mit diesem soll der illegale Holzhandel verhindert und freiwillige Partnerschaftsabkommen mit Drittstaaten gestärkt werden, die sich an überprüfbare Forstgesetze halten. Die Linke begrüßt das ausdrücklich. Wir treten für eine nachhaltige, also soziale, ökologische und wirtschaftliche, Forstwirtschaft ein. Dazu gehört, dass Holzabbau selbstverständlich nur in Gebieten erfolgen darf, die für Holznutzung ausgewiesen sind. Nationalparke und andere Juwelen der Artenvielfalt müssen tabu sein. Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf dient zunächst nur der Einrichtung eines nationalen Genehmigungssystems für Holzeinfuhren aus Ländern, mit denen ein Partnerschaftsabkommen geschlossen wurde. Damit wird eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2005 in deutsches Recht umgesetzt. Es geht dabei um Holz aus Partnerländern wie zum Beispiel Ghana, Kamerun oder der Republik Kongo. Diese Länder haben sich gegenüber der EU verpflichtet, dem illegalen Raubbau den Kampf anzusagen. Sie haben eigene Forstgesetze erlassen und ein Prüf- und Kontrollsystem entwickelt. Damit wird das Holz aus diesen Ländern schon deutlich stärker unter die Lupe genommen als das Holz aus anderen Importländern. Trotzdem muss natürlich auch dieses Holz kontrolliert werden. Was bringt das Gesetz? Erstens. Verbraucherinnen und Verbraucher können ihren Beitrag gegen den Raubbau an Wäldern leisten. Dazu ein Beispiel: Ein deutscher Bauhandel hat Gartenmöbel bei einem Möbelhersteller bestellt. Der baut diese aus Holzimporten aus Ghana. Bisher konnte man nicht sicher sein, dass der Stuhl aus legalem Holz gebaut wurde. Jetzt erhöht sich die Chance der Legalität, denn Baumärkte können und werden darauf achten, nur noch Gartenmöbel von einem Hersteller zu kaufen, der keine krummen Geschäfte macht. Wer will schon Ärger mit dem Zoll - und damit die Kunden verschrecken? Der Hersteller muss die entsprechenden Zertifikate des Partnerlandes besitzen. Stammt das Holz aus einer illegalen Quelle - wurde also zum Beispiel in einem Naturschutzgebiet ohne Genehmigung geschlagen -, dann wird es aus dem Verkehr gezogen. Es droht eine saftige Strafe: ein Jahr Gefängnis oder 50 000 Euro. Zweitens. Durch die Nachfrage nach legalem Holz und durch die Kampfansage an illegales Holz wird die Biodiversität geschützt. Denn die forstlich nicht oder nicht mehr genutzten Waldbereiche dieser Erde sind für Tiere und Pflanzen von großer Bedeutung. Sie stellen einen Rückzugsraum für bedrohte Arten dar, sie geben Raum für natürliche Entwicklungsprozesse und sind das genetische Sparkonto für die Zukunft. Denn nur wenn genetische Vielfalt vorhanden ist, können sich Arten an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Darum tritt die Linke für 5 Prozent ungenutzte Waldflächen ein, übrigens nicht nur international, sondern auch in Deutschland. Drittens. Die EU gibt ein deutliches Zeichen an die Partnerländer: Sie definiert, was legale Forstwirtschaft ist, und erarbeitet ein Kontrollsystem, damit die komplette Kette vom Baumarkt bis zum Herkunftsland zurückverfolgt werden kann. Mit all dem geht der vorliegende Gesetzentwurf in die richtige Richtung. Neben Licht gibt es allerdings auch Schatten zu erwähnen. Zum Beispiel soll nur 1 Prozent der Lieferungen stichprobenartig kontrolliert werden. Das betrifft nach Kalkulation des BMELV in den kommenden Jahren nur circa 16 jährliche Stichproben. Das ist viel zu wenig. Die Kontrollen sollten sich an den Risiken der Produktkategorien und Herkünfte bemessen. Sobald ein begründeter Verdacht besteht, muss eingegriffen und kontrolliert werden. Insofern ist der Zoll in der Pflicht, begründeten kritischen Hinweisen auf mögliche illegale Holzlieferungen nachzugehen. Bedauerlich ist auch, dass nicht gleichzeitig die Holzhandels-Verordnung aus dem Jahr 2010 in nationales Recht übernommen wird. Anscheinend soll noch auf die Durchführungsbestimmungen gewartet werden, sodass wir das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz wohl erst 2013 wieder im Bundestag debattieren werden. Man kann nur hoffen, dass dann wenigstens das Ergebnis den langen Beratungszeitraum rechtfertigt. Denn eigentlich dürfen wir keine Zeit mehr verlieren im konsequenten Kampf gegen den Raubbau am Wald. Dabei dürfen wir aber durchaus auch vor der eigenen Tür kehren, denn die Waldstrategie 2020 der Bundesregierung lässt ja leider weiter auf sich warten. Trotzdem stimmt die Linke dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zu. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bündnis 90/Die Grünen begrüßen, dass die Bundesregierung es im Internationalen Jahr der Wälder endlich geschafft hat, diesen Gesetzentwurf vorzulegen, und stimmen ihm zu. Denn er ist die überfällige Umsetzung der FLEGT-Verordnung, die die EU zur Bekämpfung des Handels mit illegalem Holz bereits im Dezember 2005 beschlossen hat - übrigens seinerzeit noch unter Mitwirkung des Interims-Agrarministers Jürgen Trittin. Man fragt sich, warum sich die Bundesregierung mit der Umsetzung so viel Zeit gelassen hat, wenn es vor allem darum ging, die für die Kontrolle von FLEGT-Holzimporten zuständigen Behörden zu benennen. Die Umsetzung hätte schon längst erfolgen können. Andererseits sind die Folgen dieser Trödelei begrenzt, weil es bis vor kurzem gar keine Partnerschaftsabkommen auf Grundlage der FLEGT-Verordnung gegeben hat. Dementsprechend waren auch keine FLEGT-Importe zu kontrollieren. Nun darf man sich jedoch trotz des vielversprechenden Namens keine Illusionen über die Reichweite des Gesetzes hingeben: Das "Gesetz gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz" wird vorerst nur für Importe aus Ländern gelten, mit denen die EU tatsächlich ein FLEGT-Partnerschaftsabkommen abgeschlossen hat. Das sind laut gestriger Auskunft der Bundesregierung erst vier Länder: Ghana, Kongo-Brazzaville, Kamerun und demnächst auch die Zentralafrikanische Republik. Nach Lage der Dinge wird es noch Jahre dauern, bis alle wichtigen Holzhandelsländer, in denen es illegalen Holzeinschlag gibt, ein Abkommen unterschrieben haben werden. Bisher wird nur mit einem Teil der fraglichen Länder verhandelt, immerhin aber mittlerweile mit den großen Urwaldländern Indonesien und Brasilien. Die Zeit drängt, denn jedes Jahr gehen 13 Millionen Hektar Urwald verloren. Daran erkennt man, wie falsch es von den Gegnern eines Importverbotes für illegales Holz all die Jahre lang gewesen ist, zu sagen: Wir brauchen kein Importverbot für illegales Holz, weil wir FLEGT haben. - Wir haben uns hier im Bundestag jahrelang darüber gestritten, ob es möglich ist, ein nationales Importverbot für illegales Holz zu erlassen. Und wir haben uns darüber gestritten, ob die Bundesregierung ein EU-weites Importverbot für illegales Holz fordern sollte. Diese unsere Forderungen haben Union und SPD in der letzten Legislaturperiode hier im Bundestag allesamt abgelehnt. Nun hat die EU auch ohne Druck durch die Bundesregierung mit der FLEGT-Holzhandelsverordnung vom 20. Oktober 2010 ein faktisches Verbot für illegal eingeschlagenes Holz beschlossen. Ein Verbot, das für alle Länder gilt. Auf dieses EU-weite Importverbot für illegales Holz haben wir Bündnisgrüne jahrelang gedrängt. Der Wermutstropfen ist, dass es erst im März 2013 in Kraft tritt. Deshalb werden wir Grüne auf einen schnellen Abschluss weiterer FLEGT-Partnerschaftsabkommen drängen und natürlich auf eine rechtzeitige und zügige Umsetzung der FLEGT-Holzhandelsverordnung in nationales Recht, damit illegales Holz auf dem europäischen Holzmarkt keine Chance mehr hat. Das wäre dann ein weiterer Erfolg für den Schutz der Wälder dieser Welt. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln - Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern (Tagesordnungspunkt 15) Monika Grütters (CDU/CSU): Nun reden wir heute zum wiederholten Male über das neue Hochschulzulassungsverfahren, das wir alle deshalb einführen wollten, weil wir den vielen Studierenden in Deutschland ein besseres Verfahren bieten wollen, als es derzeit vorhanden ist. Wir wollten das europaweit modernste Hochschulzulassungsverfahren für Deutschland an den Start bringen. Aus Verantwortung für die Studierenden hat sich der Bund deshalb zu einer einmaligen Investition von sage und schreibe 15 Millionen Euro bereit erklärt, mit der eine neue Software entwickelt worden ist, die es den Studierenden ermöglicht, bis zu neun Studienwünsche an den verschiedenen Hochschulen gleichzeitig zu platzieren. Im Idealfall hätte man also für die Studierenden wirklich die Lebenssituation entscheidend verbessert: Nicht mehr zwischen zwei nacheinander zu entscheidenden Studienwünschen hätten sie ihre Zukunft planen können, sondern gleich neun Varianten könnten ihnen relativ kurzfristig die Entscheidung über ihren Studienort - und das heißt: über ihren weiteren Lebensweg - erleichtern. Wir alle gemeinsam, quer über alle Parteigrenzen hinweg, sind enttäuscht, frustriert, aber auch verärgert darüber, dass allen Aussagen der Verantwortlichen zum Trotz jetzt, Mitte April 2011, erkannt werden muss, dass der ehrgeizige Zeitplan zum Start dieses so wichtigen Projektes vom Wintersemester 2011/12 auf zunächst unbestimmte Zeit verschoben werden muss. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die verantwortlichen Projektentwickler, Vertreter der Länder und der Hochschulen, uns noch Mitte März im Ausschuss einen pünktlichen Start des Zulassungsverfahrens in Aussicht gestellt haben und jetzt, gerade einmal drei Wochen später, zugeben, dass die großen Probleme bei der Softwareumstellung offenbar kurzfristig überhaupt nicht in den Griff zu bekommen sind. Wir alle fragen uns und natürlich auch diejenigen, die darüber Auskunft hätten geben können, wie eine solche Fehleinschätzung zustande kommen konnte. Aber mit der Fragestellung ist ja jetzt nichts erreicht. Wir sind verantwortlich dafür, dass sich die Situation der Hochschulen und natürlich vor allem der Studierenden in absehbarer Zeit verbessert wird. Nach wie vor ist es die Überzeugung der CDU, dass ein zentrales Zulassungsverfahren, das den Studierenden viele Wahlmöglichkeiten anbietet, die beste Lösung ist - besser jedenfalls als das bisherige Verfahren, in dem dezentral alle Hochschulen und Länder unterschiedliche Wege gehen. Das Gebot der Stunde ist deshalb tatsächlich ein zentrales Verfahren, so wie es jetzt geplant ist. Wir sind auch zuversichtlich, dass die Software zukünftig sehr attraktiv sein wird. Deshalb ist es jetzt zuallererst nötig, die berühmte "Schnittstellenproblematik" mit der Vielzahl verschiedenartiger Zulassungssysteme zu lösen. Wir müssen mit allem Nachdruck der Gefahr begegnen, dass jetzt einige ohnehin zögerliche Hochschulen sich aus dem künftigen gemeinsamen Verfahren wieder abmelden oder gar nicht erst mitmachen wollen. Was die Situation aber sicher nicht verbessern würde, wäre der im Antrag der Linken skizzierte Weg eines Bundesgesetzes, so wie es auch der ehemalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Landfried in seiner gewohnt markigen Art in der Presse vorgeschlagen hat. Wir setzen nach wie vor auf die Autonomie der Hochschulen. Das ist ein sehr hohes Gut in der Wissenschaft. Nicht der Bund, sondern vielmehr das Hochschulinformationssystem, HIS, und die Stiftung für Hochschulzulassung sind jetzt in der Pflicht, eine schonungslose Fehleranalyse vorzunehmen, ihren selbst so genannten "Aktionsplan" zu konkretisieren und vor allem einen seriösen Zeitplan dafür vorzulegen. Das sind sie nicht nur dem Bund als Hauptgeldgeber für die neue Software schuldig, sondern vielmehr den Hochschulen und noch mehr den Studierenden. In der Bewertung des gesamten Vorgangs sind wir uns sicher fraktionsübergreifend einig. Fürs Erste haben sich die Projektentwickler mit ihren kurzfristig gegebenen Zusagen für einen Start zum Wintersemester 2011 und ihrem jetzigen Eingeständnis, dass das auf absehbare Zeit verschoben wird, blamiert. Die CDU bleibt jedoch bei ihrer Überzeugung: Das Dialogorientierte Serviceverfahren zu entwickeln, war und ist noch immer richtig. Es bietet gegenüber der derzeitigen Situation Vorteile für alle Beteiligten - für Studienanfänger wie für die Hochschulen. Erstens bietet es die Möglichkeit, ein zentrales Vergabeverfahren zu organisieren, ohne die Hochschulen ihrer Autonomie zu berauben. Darüber hinaus beschleunigt es die Studienplatzvergabe und räumt den Studierenden mehr Möglichkeiten bei der Wahl ihres Studienortes ein. Zweitens kann das neue Verfahren die Studienplatzvergabe schneller, effizienter und transparenter organisieren, wenn es denn einmal funktioniert. Deshalb halten wir es nach wie vor für richtig, dass wir als Parlament an dieser Stelle - trotz aller derzeitigen Probleme - auch noch einmal unsere grundsätzliche Unterstützung für dieses Projekt dokumentieren. Der unmittelbar ersichtliche Nutzen eines solch verbesserten Verfahrens für alle daran Beteiligten war und bleibt ja auch der Grund, der den Bund zu einer Anschubfinanzierung von 15 Millionen Euro veranlasst hatte, obwohl diese Aufgabe - wie alle anderen auch - eigentlich in die Zuständigkeit der Länder gefallen wäre. Ich darf an dieser Stelle sicher auch noch einmal daran erinnern, dass das Dialogorientierte Serviceverfahren auch von der SPD befürwortet worden ist, mit der wir gemeinsam die Anschubfinanzierung in der vergangenen Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben. Nun ist es angesichts der derzeitigen Situation letztlich natürlich richtig, die Einführung zu verschieben, weil auch insofern für alle gilt: Sicherheit geht vor Schnelligkeit. Wir hatten ja schon in der Anhörung heraushören können, dass die Stiftung schweren Herzens diesen Weg im Zweifelsfall gehen würde, weil die Bedenken in Bezug auf die berühmten Schnittstellen zwischen der neuen Software und den verschiedenen älteren Systemen schon lange vorhanden waren. Wir vertrauen auch weiter auf die hohe Professionalität der ausgewiesenen Experten vom Fraunhofer-Institut für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik und auch darauf, dass sie diejenigen sind, die im Kontakt mit den Softwareverantwortlichen an den einzelnen Hochschulen künftig diese Schnittstellenprobleme überwinden können. Eine Bundesgesetzgebung, wie der Antrag der Linken sie vorschlägt, hätte den Prozess der Softwareentwicklung sicher nicht beschleunigen können. Und jetzt, wie Landfried es vorschlägt, innerhalb von sechs Wochen mal schnell ein Bundesgesetz für einheitliche Zulassungsregeln zu erlassen, ist völlig naiv. Da kann man sich über einen Profi wie Landfried, der die Hochschullandschaft aus seiner Amtszeit noch kennt, nur wundern. Denn nur durch eine bundesgesetzliche Zuständigkeit würden Schnittstellen auch nicht kompatibler. Was ist die Konsequenz aus der derzeitigen Situation? Zunächst einmal ist es ja schon bizarr, dass wir heute alle gemeinsam hier diese Debatte führen müssen - hatten wir doch vor drei Wochen den Eindruck, Zeugen eines zufriedenstellend funktionierenden künftigen Zulassungssystems werden zu können. Jetzt gilt: Wir müssen uns als Parlament offensichtlich noch häufiger und engmaschiger von den Verantwortlichen in den Hochschulen, in den Ländern und bei der Stiftung für Hochschulzulassung wie auch bei HIS darüber informieren lassen, wie der tatsächliche Stand des Projektes ist. Denn das sind wir alleine als Geldgeber - 15 Millionen Euro - den Studierenden und den Hochschulen als potenziellen Zielgruppen und Nutznießern des Verfahrens schuldig. Außerdem sollten wir bei der Betreuung der nächsten Schritte beachten, dass es auch um die neuerdings aufgeworfenen Fragen des Datenschutzes geht, dass auch Lehramtsstudiengänge künftig in diesem Verfahren erfasst werden und dass die Hochschulen in Deutschland möglichst flächendeckend teilnehmen und nicht einige Hochschulen jetzt die Chance nutzen, sich langfristig der Teilnahme zu entziehen. Auch müssen wir darauf achten, dass die Länder ihren Folgefinanzierungspflichten nachkommen. Die 15 Millionen sind ja jetzt nur für die Softwareentwicklung verausgabt worden, die Länder sind also künftig in der Finanzierungspflicht. Es war ausgerechnet worden, dass bei ungefähr 20 Euro pro Studienplatz im Rahmen dieses Verfahrens für jedes Bundesland Kosten in Höhe von 80 000 Euro bis 300 000 Euro entstehen werden - eine Summe also, die meines Erachtens sehr wohl von den Ländern im Interesse ihrer Studierenden erbracht werden kann. Passen wir also auf, dass jetzt hier nicht neue Fragezeichen an das Gesamtprojekt gemacht werden. Zum Antrag der Linken abschließend noch ein paar Worte: Es ist natürlich ihr gutes Recht und der klassische Trick, anhand eines konkreten Vorgangs ideologische Grundsatzfragen aufzuwerfen. Auch ein Zulassungsverfahren wird generelle bildungspolitische Sachverhalte nicht umfassend lösen können. Dass die Schere zwischen bildungsfernen und bildungsnahen Schichten sich vergrößert, ist schlicht falsch: Sie wird substanziell kleiner; immer mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten studieren. Das wissen auch Sie von den Linken; ich weise nur auf die HIS-Studie "Studienberechtigte 2008" hin. Sie möchten, dass die Studierendenquote in Deutschland erhöht wird. Auch das ist bereits seit Jahren der Fall. Inzwischen ist es so, dass 46 Prozent eines Jahrgangs auf die Hochschulen gehen. Die Studierendenquote in Deutschland wurde in den vergangenen Jahren also bereits massiv erhöht, und das ist vor allem der Erfolg des Hochschulpakts und seiner Architektinnen und Architekten. Sie sollten auch in Bezug auf ihr Stichwort "Masterstudium" zur Kenntnis nehmen, dass Bachelorabsolventen auf dem Arbeitsmarkt nicht länger brauchen, um einen Arbeitsplatz zu finden als ihre Kommilitonen mit anderen akademischen Abschlüssen. Auch sie benötigen im Durchschnitt drei Monate, um sich nach dem Abschluss einen ersten Arbeitsplatz zu suchen. Einen Rechtsanspruch auf den Master kann es nicht geben, weil es in der Logik konsekutiver Studiengänge einfach nicht vorgesehen ist. Sie können von mir aus die altbekannte Kritik hier immer wiederholen; leider bleibt sie substanzlos. Wenn Sie die Hochschulzulassung nur als Alibi für ihre Fundamentalkritik benutzen, dann schaden Sie den Studierenden und tragen nicht zu einer konstruktiven Auseinandersetzung bei. In der gegenwärtigen bedauerlichen Situation geht es weniger um große ideologische Rundumschläge, sondern darum, dass wir gemeinsam und sehr pragmatisch dafür Sorge tragen, dass sich die Zulassungssituation in den überfüllten Studiengängen in Deutschland entschärft. Wir sind einem echten Service- und Dienstleistungsgedanken gegenüber den Studierenden verpflichtet. Deshalb haben wir mit 15 Millionen Euro an Bundesmitteln ein Projekt auf den Weg gebracht, dass den Studierenden und den Hochschulen ihr Leben erheblich erleichtern könnte. Jetzt müssen die Projektentwickler ihre Pflicht tun - seriöser als bisher und ohne falsche Zeitvorstellungen, aber doch mit dem Ziel vor Augen, die Missstände zu beseitigen. In absehbarer und vertretbarer Zeit muss den Studierenden das Angebot zur Verfügung gestellt werden, das man nach einer Investition von 15 Millionen Euro an Bundesgeldern auch erwarten kann. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Die Linken nutzen die öffentlich gewordenen technischen Probleme bei der Stiftung für Hochschulzulassung, um ihre bildungspolitische Ideologie wieder einmal im Plenum zu diskutieren. Lobenswert ist, dass auch die Linken erkennen, dass ein funktionierendes Verfahren zur Hochschulzulassung notwendig ist und dass die Stiftung für Hochschulzulassung das richtige Instrument ist. Bereits in der gestrigen Ausschusssitzung zeigte sich über die Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit dahin gehend, dass das dialogorientierte Serviceverfahren ein richtiger und wichtiger Schritt ist, um die Vergabe von Studienplätzen transparenter zu machen und um es an die Bedürfnisse der Studierenden, aber auch an die der Hochschulen anzupassen. Darüber hinaus sind wir uns einig, dass wir jetzt in engem Dialog mit den Verantwortlichen eine Fehleranalyse vornehmen müssen, bei der aufgeklärt wird, wo noch technische Probleme bestehen - viel wird ja in diesen Tagen über die Schnittstellen und die Kompatibilitäten zwischen teilweise veralteter Hochschulsoftware und der von T-Systems entwickelten Software geredet. Hier brauchen wir Klarheit, um dann vernünftige Lösungsansätze und einen realistischen Zeitrahmen für die Einführung des Systems entwickeln zu können. Die aufgetretenen technischen Probleme sind jedoch keine rechtlichen. Dies verkennen die Linken, wenn sie nunmehr als Allheilmittel ein "Bundeshochschulzulassungsgesetz" fordern. In Ihrem Antrag betonten Sie, dass der Bund die ihm seit der Föderalismusreform 2006 zustehende Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des Hochschulzuganges bislang noch nicht wahrgenommen habe. Damit sagen Sie zwar nichts grundsätzlich Falsches. Sie erwecken aber fälschlicherweise den Eindruck, dass es explizites Ziel der Föderalismusreform gewesen sei, die Hochschulzulassung zukünftig durch den Bundesgesetzgeber regeln zu wollen. Damit offenbaren Sie ein völliges Missverständnis in Bezug auf die Systematik dieser Reform. Zum einen ist nämlich mit dem Wegfall der bundesgesetzlichen Rahmenkompetenz im Hochschulrecht eine Kompetenzveränderung vorgenommen worden, aus der sich nun wirklich kein Imperativ für eine verstärkte hochschulrechtliche Gesetzgebungstätigkeit des Bundes herauslesen lässt. Beim Bund verbleiben Kompetenzen im Bereich der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse. Beide Kompetenzen stehen aber im Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung und fallen unter die Regelung des Art. 72 Abs. 3 Grundgesetz; da geht es um die sogenannte Abweichkompetenz der Länder. Diese Vorschrift gibt den Ländern die Möglichkeit, auf eine bundesrechtliche Regelung wiederum mit abweichendem Landesrecht zu reagieren. Ihr Ansinnen, die Länder durch ein Bundesgesetz vor vollendete Tatsachen zu stellen, ist somit mehr als fragwürdig, denn es läuft Gefahr, ein Regelungschaos zwischen Bund und Ländern hervorzurufen. Unser Ziel sollte es sein, im Dialog mit den Ländern zu einer sinnvollen und zielorientierten Lösung zu kommen. Das ist jedoch nicht der einzige Irrtum in Ihrer rechtlichen Argumentation. Mit Interesse habe ich gelesen, dass Sie Ihren Antrag mit Zitaten aus dem zweiten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Numerus clausus aus dem Jahre 1977 verziert haben. Ich will mich an dieser Stelle aber gar nicht darüber streiten, wie sinnvoll oder vielmehr wie sinnlos es ist, einzelne Zitate aus dem Gesamtzusammenhang höchstrichterlicher Rechtsprechung zu reißen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass Sie gut daran getan hätten, nicht nur dieses Urteil, sondern auch das wesentlich grundlegendere Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972 zu dieser Thematik vollständig zu lesen. Beide Urteile stammen aus einer Zeit, in der sich die Universitäten der Gesellschaft gegenüber in massivem Umfang geöffnet haben. Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits 1972 selber fest, dass der Hochschulausbau mit der Verdoppelung der Zahl der Studienanfänger - Referenzzeit waren die Jahre 1952 bis 1967 - nicht Schritt halten konnte. Diese Ressourcenknappheit infolge des stärksten Umbruchs unserer Universitätslandschaft ist wohl kaum mit der heutigen Situation zu vergleichen. Der angesprochenen Verdoppelung der Zahl der Studienanfänger steht im aktuellen Referenzzeitraum der letzten 15 Jahre ein Anstieg der Studierendenzahl um lediglich 13 Prozent gegenüber. Das Urteil entstammt also einer Zeit mit vollkommen unterschiedlichen bildungspolitischen Herausforderungen. Dennoch stellt das Bundesverfassungsgericht in diesen Urteilen natürlich auch Grundlegendes fest, so etwa auch, dass eine Auswahl zwischen hochschulzugangsberechtigten Bewerbern prinzipiell eine Ungleichbehandlung prinzipiell Gleichberechtigter darstellt. Es betont daher richtigerweise auch den Grundsatz, dass Auswahlregelungen jedem Zulassungsberechtigten eine Chance lassen müssen. Daraus ein generelles Recht auf die freie Wahl des Faches wie des Studienortes zu konstruieren, wie Sie es in Ihrem Antrag tun, ist aber doch verblüffend. Das Bundesverfassungsgericht selbst stellt in dem von Ihnen bemühten Urteil nämlich fest, ich zitiere: "In harten Numerus-clausus-Fächern [...] konnte [der Grundsatz, jedem Zulassungsberechtigten eine Chance zu lassen,] aber von Anfang an nicht so verstanden werden, als müsse eine Zulassung zum Studium garantiert werden. Schon begrifflich schließt die Einräumung von Chancen das Risiko des Fehlschlages ein." In unserer Bundesrepublik geht es um Chancengleichheit und nicht um Gleichmacherei, wie Sie dies aus Ihrer sozialistischen Doktrin kennen. Davon zeugen auch noch andere Passagen Ihres Antrags. Mit einer gewissen Überraschung durfte ich in Ihrem Antrag lesen, dass die Hochschulzugangsberechtigung in Form des Abiturs "die logische Konsequenz aus der ständischen Gliederung des bundesdeutschen Schulsystems" sei. Es ist schon sehr bezeichnend, dass Sie unser gegliedertes Schulsystem, das den individuellen Begabungen des Einzelnen gerecht zu werden sucht, mit Begriffen der mittelalterlichen Feudalgesellschaft belegen. Solche Formulierungen zeugen wohl eher von rhetorischer Einfallslosigkeit als von bildungspolitischem Verantwortungsbewusstsein. Ihre bildungspolitische Verantwortungslosigkeit zeigt sich zudem in Ihrer populistischen Forderung "Masterstudium für alle". Die Forderung nach ausreichenden Masterstudienplätzen ist legitim, aber nicht Ihre abenteuerlichen Forderungen, Studienanfängern schon mit der Zulassung zum Bachelorstudiengang die Zulassung zu einem darauf aufbauenden Masterstudiengang an der gleichen Hochschule zu gewährleisten. Dazu sage ich Ihnen: Ein Master für alle, am besten ohne jegliche Leistungsanforderungen, ist mit uns nicht zu machen. Wir treten dafür ein, dass bei der Auswahl der Masterstudierenden der Leistungsgedanke eine tragende Rolle spielt. Hier geht es nicht um Mangelverwaltung, sondern darum, den Hochschulen die Möglichkeit zu geben, besonders bei stark nachgefragten Studiengängen die leistungsfähigsten Studierenden auszuwählen. Wie sie das tun - ob durch Auswahlgespräche, Motivationsschreiben, die Nachweise von Praktika -, wissen die Hochschulen selbst am besten, und deshalb sollte die Auswahlentscheidung ihnen überlassen bleiben. Für uns ist und bleibt der Bachelor der erste berufsqualifizierende Abschluss und kein Abschluss "zweiter Klasse" - zu dem Sie ihn gern degradieren würden. Auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Bachelor in der Wirtschaft auf breite Akzeptanz stößt. Absolventen eines Bachelorstudienganges finden auf dem Arbeitsmarkt genauso schnell eine Stelle, wie dies Kom-militonen mit Magister- oder Diplomabschluss tun, und die Rate der Arbeitslosigkeit liegt mit rund 3 Prozent für Bachelorabsolventen nicht höher als für Absolventen mit anderen Hochschulabschlüssen. Allerdings besteht aufgrund fehlender Erfahrungen hinsichtlich der Qualität der Bachelorabschlüsse in einigen Unternehmen noch Unsicherheit darüber, wie Bachelorabsolventen im Hinblick auf ihre Kompetenzen und Potenziale fachlich und hierarchisch einzustufen sind. Deshalb werben wir dafür, dass die Akzeptanz in den Unternehmen weiter steigt. Ihr Antrag enthält weitere Vorurteile, die es auszuräumen gilt. Die Linke unterstellt, dass durch die derzeitigen Vergabeverfahren eine soziale Selektion zulasten von Studierenden aus Arbeiterfamilien oder Familien mit niedrigerem Einkommen stattfindet. Allein den Beleg für ihre Behauptung bleiben Sie uns schuldig. Bereits in der Antwort - das ist Drucksache 17/373 - auf eine Kleine Anfrage Ihrer Partei auf Drucksache 17/183 hat die Bundesregierung festgestellt: "Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass das erweiterte Selbstauswahlrecht der Hochschulen nachteilige Veränderungen bei der sozialen Zusammensetzung der Studierenden bewirkt hätte." Durch verschiedene Maßnahmen - wie BAföG-Novelle, Stipendiengesetz und Aufstiegsstipendien - versuchen wir, die Chancengerechtigkeit zu erhöhen und Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten ein Studium zu ermöglichen Als Partei der Utopien haben Sie natürlich auch noch weitere unrealistische Forderungen in Ihrem Antrag untergebracht: 500 000 zusätzliche Studienplätzen für alle. Ich darf Sie an dieser Stelle auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Bereits in der ersten Programmphase des Hochschulpaktes wurde das ursprünglich verabredete Ziel, 91 370 zusätzliche Studienplätze zu schaffen, mit insgesamt 182 193 zusätzlichen Studienanfängern deutlich übertroffen. Für die zweite Programmphase wurde eine Aufstockung um weitere 275 000 Plätze vereinbart. Der Bund engagiert sich also hier bereits in überdurchschnittlichem Maße. Utopische Forderungen zu stellen, ohne einen Vorschlag zu machen, woher die dafür notwendigen Mittel kommen sollen, ist unredlich, in Ihrer Partei aber durchaus nichts Neues. Zusammenfassend ist Ihnen für zukünftige Anträge mit auf den Weg zu geben: Nehmen Sie endlich Tatsachen und Erfolge unserer Bildungsrepublik Deutschland zur Kenntnis. Erkennen Sie, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, und verführen Sie unsere Jugend nicht mit Ideologie und Utopien. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Der Antrag der Fraktion Die Linke klingt zunächst sympathisch. Abgesehen von ein paar Ungereimtheiten enthält er eine ganze Reihe von weitgehenden Forderungen und Zielstellungen, darunter den Wegfall aller Zulassungs- und Zugangshürden für das Studium und die Sicherstellung des Rechts auf einen Masterstudienplatz im Wunschfach am Wunschort. Allein: Das ist nicht nur ambitioniert, sondern ein Wünsch-dir-was-Katalog, der schlichtweg nicht realisierbar ist. Und darum sagt die Linke in ihrem Antrag sicherheitshalber auch nichts über Kosten und zur Fragen, woher das Geld dafür denn kommen soll. So sehr wir Zielstellungen wie die Ausweitung des Studienplatzangebotes - auch beim Master -, die Verbesserung der Lehre oder die soziale Mobilität teilen und unterstützen, so sehr gehört zu verantwortungsvoller Politik auch, dass gesagt wird, was in welchem Zeitraum geht und was nicht. Tatsächlich muss der Hochschulpakt verbessert werden. Die weiterhin bestehende Deckelung der Finanzierung von Studienanfängerplätzen muss weg. In der Tat gibt es ein immer stärker werdendes Problem mit dem Zugang zum Master. Auch das muss im Hochschulpakt künftig berücksichtigt werden. Die heute veröffentlichte Studie über Bachelorstudierende zeigt, dass die deutliche Mehrheit ein Masterstudium anhängen will. Es reicht eben nicht, Studienanfänger zu finanzieren, es muss ihnen auch eine ordentliche Perspektive gegeben werden. Und es muss auch die Qualität der Lehre und die Betreuung der Studierenden verbessert werden - der Qualitätspakt der Bundesregierung reicht da nicht aus. Alleine die Aufstockung des Hochschulpaktes für Studienanfänger um 200 000 Plätze bis 2015 würde Bund und Länder 5,2 Milliarden Euro kosten - nach bisheriger Berechnung. Das ist anspruchsvoll, aber machbar. Damit wäre aber bei weitem noch nicht die Forderung nach Wegfall aller Beschränkungen realisiert und auch nicht die Aufstockung des Finanzierungsbetrages. Insofern also haben wir durchaus ähnliche Zielstellungen. Doch während die Linke nach den Sternen greift, erstellen wir Konzepte, die realisierbar sind. Der Antrag behandelt eine weitere wichtige Fragestellung, nämlich die Regelung der Vergabe von Hochschulplätzen. Wir erleben ja gerade ein Desaster, weil nun erneut ein Anlauf für ein vernünftiges, organisiertes Vergabeverfahren geplatzt ist. 17 000 Studienplätze blieben zuletzt unbesetzt - was für ein Jammer und was für ein Schaden für die Menschen und für die Gesellschaft! Das neue, Dialogorientierte Serviceverfahren sollte Abhilfe schaffen, aber - wir haben das ja gestern bereits im Ausschuss debattiert - die Verantwortlichen haben es nicht hinbekommen. Mich erzürnt das Schwarze-Peter-Spiel, das jetzt begonnen hat. Jeder weiß ganz genau, dass er nicht verantwortlich ist. Wir fordern eine schonungslose Fehleranalyse - und Offenheit für die richtigen Konsequenzen. Es kann doch nicht sein, dass die Bundesministerin Schavan sich zurücklehnt und "Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts!" flötet. Die Bundesregierung ist genauso im Boot der Verantwortlichen wie die Länder, die Hochschulen, der Stiftungsrat und die Softwareentwickler. Da stellt sich dann schon die Frage, woran es genau gelegen hat. Wir werden das im Ausschuss näher erörtern. Sind es technische Probleme? Hat es mit der Finanzierung zu tun? Sind es zu viele Akteure, auf deren Kooperation das System angewiesen ist? Ist es überhaupt machbar, den Hochschulen weitgehende Autonomie einzuräumen und gleichzeitig ein bundesweites Verfahren zu organisieren? Wo setzen wir dann unsere Prioritäten? Die Linke fordert die bundesgesetzliche Regelung des Hochschulzuganges. Das ist eine starke Forderung, für die es gute Argumente gibt. Wir bekennen uns dazu, dass das durchaus eine der Möglichkeiten ist, die am Ende des Abwägungsprozesses stehen kann. Doch wir wollen nicht so schnell mit scheinbaren Gewissheiten auftrumpfen, sondern uns gemeinsam mit allen Beteiligten ein Bild machen und das weitere Vorgehen erörtern. Jedoch ist klar, dass umgehend ein "Plan B" organisiert werden muss, der so lange greift, bis wir ein neues System haben. Dieser Plan B sollte tunlichst nicht in der Variante "Weiter so wie bisher!" bestehen. Auch das werden wir gemeinsam - aber schnell - beraten müssen. Klaus Hagemann (SPD): Die deutschen Hochschulen erwarten in diesem Jahr einen bisher noch nicht gesehenen Ansturm junger Studienanfänger und -anfängerinnen. Mit großen Worten hatte die Bundesregierung ein neues, zentralisiertes Vergabeverfahren für Studienplätze angekündigt, das nach jahrelangen Versäumnissen endlich die chaotischen Zustände beim Semesterstart beseitigen sollte. Viel zu spät wurden die nötigen Impulse gesetzt, um dem ineffizienten und langwierigen Zulassungsverfahren an deutschen Universitäten zu begegnen. Der Stiftung für Hochschulzulassung blieb am vergangenen Dienstag nichts anderes übrig, als wenige Wochen vor dem geplanten Start des Dialogorientierten Serviceverfahrens die Reißleine zu ziehen und das neue Verfahren abzusagen. So, wie es sich heute darstellt, hatten wir es uns nicht vorgestellt, als wir zu Zeiten der Großen Koalition, nach langer Diskussion im Haushaltsausschuss, gemeinsam Bundesmittel in Höhe von 15 Millionen Euro als "Startkapital" bewilligt haben - und dies, obwohl die Verantwortung eigentlich bei den Bundesländern liegt. Die Freigabe der Gelder wurde damals - auch auf Verlangen der SPD-Fraktion - an so wichtige Bedingungen wie die garantierte Gebührenfreiheit für die Studienbewerber und -bewerberinnen geknüpft. Es ist schon ein ungeheuerlicher Vorgang, dass der Bund in die Bresche springen musste, nachdem der frühere "Innovations"-Minister aus NRW, Andreas Pinkwart, seinerzeit das System der ZVS kurzerhand zerrissen hat, ohne eine angemessene Alternative hervorzubringen. Dieses Vorgehen war angesichts der steigenden Zahl an Studienanfängern und der Tatsache, dass die Bundesländer eine Finanzierung bestenfalls mittelfristig auf die Beine gestellt hätten, geradezu fahrlässig. Frau Bundesministerin Schavan, ich habe den Eindruck, Ihr Haus und die anderen Beteiligten waren durch die Planung des neuen Systems völlig überfordert. Es ist zwar rührend, dass Sie nun in einer Pressemitteilung das Scheitern des Serviceverfahrens bedauern. Sie können aber nicht behaupten, seitens des Bundes wären alle Voraussetzungen geschaffen worden, während Sie gleichzeitig versuchen, die Verantwortung auf die Stiftung für Hochschulzulassung und die Gesellschaft Hochschul-Informations-System abzuwälzen. Die Überforderung der Hochschulen durch geburtenstarke Jahrgänge und doppelte Abiturjahrgänge war seit langem absehbar. Erst haben Sie eine Lösung jahrelang verbummelt, dann musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Nachdem sich dann noch die Auftragsvergabe um drei Monate verzögert hatte, sollte schließlich in nur rund einem Jahr ein System gezimmert werden, das Hunderte unterschiedlicher und teils veralteter Hochschulverwaltungssysteme zu einer modernen Web-Plattform koordinieren sollte. Die negativen Erfahrungen, die bei der Einführung der Autobahnmaut gemacht wurden, hätten hier zur Lehre gereichen können. Seit damals wissen wir, wie langwierig und kostenintensiv solche Schwierigkeiten in komplexen Softwaresystemen werden können. Vor diesem Hintergrund war das Versprechen, im April 2011 mit dem neuen System an den Start zu gehen, nichts als Augenwischerei. Die enge Terminierung hätte letztlich auch bedeutet, dass mit der Inbetriebnahme des Systems der erste ernsthafte Test des Verfahrens auf den bis dato größten Ansturm an die Universitäten geprallt wäre. Auch der knappe Zuschnitt des Systems, der etwa Lehramtsstudiengänge und Bachelor mit mehr als einem Fach ausklammert, hätte dann zu neuen Problemen geführt. Auch die Hochschulrektorenkonferenz hätte während der Vorbereitung mehr Geschlossenheit zeigen müssen. Die millionenschwere Anschubfinanzierung des Bundes war offenbar nicht Anreiz genug, um die Kooperation der Hochschulen untereinander und an der Schnittstelle zur neuen Plattform herzustellen. Auch haben sich viele Universitäten noch bis kurz vor dem geplanten Start bedeckt gehalten, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Die Haltung vieler Hochschulen war nicht so optimistisch, wie es zunächst die Zustimmung der Hochschulrektorenkonferenz suggeriert hat. Es wäre aber vor allem Ihre Aufgabe gewesen, Frau Bundesministerin, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Das Dialogorientierte Serviceverfahren wird nur dann zum Erfolg, wenn Sie alle Universitäten ins Boot holen. Die Verzögerung ist nicht technischen Widrigkeiten geschuldet, sondern mangelnder politischer Koordination. Die Betroffenen sind die Studienanfänger und -anfängerinnen, denen auch dieses Jahr der Start ins Studium verhagelt wird. Sie müssen sich an Dutzenden Universitäten parallel bewerben und bleiben auf den Kosten und zeitlichen Folgen des ineffizienten Systems sitzen. Für all jene, die auch über eines der langwierigen Nachrückverfahren keinen Platz erhalten haben, bleibt erneut nur die Studienplatzbörse übrig - eher eine Notlösung als ein geordneter Übergang ins neue System. Die Effizienzlücken dieser akademischen "Resterampe" zeigten sich schon bei einer Erhebung im Wintersemester 2009/2010, nach der mindestens 18 000 der begehrten Studienplätze mit örtlichem Numerus clausus unbesetzt geblieben waren. Die damalige Argumentation der Unionsfraktion, ein Großteil dieser Plätze sei im Semesterverlauf noch besetzt worden, wird durch die Zahlen zum Wintersemester 2010/2011 eindeutig widerlegt. Nachdem auf massives Drängen der SPD-Fraktion im Haushaltsausschuss das Erhebungsinstrument verbessert wurde, zeigt sich jetzt, dass erneut fast 17 000 Studienplätze frei geblieben sind. Das sind 6,9 Prozent aller Studienplätze mit lokaler Zulassungsbeschränkung! Mit den rund 60 000 Studieninteressierten, die durch die Aussetzung der Wehrpflicht zusätzlich an die Universitäten drängen werden, werden wir dieses Jahr wohl einen neuen "Rekord" erreichen. Eine solche Verschwendung von Kapazitäten ist besonders pikant im Hinblick auf die Finanzmittel in Höhe von 4,7 Milliarden Euro, die der Bundestag für die Schaffung von neuen Studienplätzen im Rahmen des Hochschulpaktes für die Jahre 2011 bis 2015 zur Verfügung stellt. Das Bemühen, junge Menschen für ein Studium zu begeistern und mehr Studienplätze zu schaffen, wird durch die bestehenden Mängel konterkariert. Die guten Voraussetzungen, die die Große Koalition mit dem Hochschulpakt geschaffen hat, laufen ins Leere, weil Sie, Frau Ministerin, den Schuss nicht gehört haben. Es braucht jetzt ein entschlossenes Vorgehen, um das Dialogorientierte Serviceverfahren schnellstmöglich an den Start zu bringen und den Schaden zu begrenzen. Frau Ministerin Schavan, machen Sie das Thema endlich zur Chefsache, nutzen Sie die Kompetenzen des Bundes bei der Hochschulzulassung! Die Koordinierung des Zulassungsverfahrens muss unverzüglich und offensiv angepackt werden. Handeln Sie jetzt! Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt sowohl eine bundesgesetzliche Regelung der Hochschulzulassung als auch des Zugangs zu Masterstudiengängen ab. Für beide Maßnahmen gibt es keinerlei sinnvolle Begründung und nachweislich auch keinen Regelungsbedarf. Daher werden wir den vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen. Wieder einmal zeichnen die Antragsteller ein Bild vom deutschen Hochschulsystem und von der Umsetzung des Bologna-Reformprozesses, das mit der Wirklichkeit nicht ansatzweise übereinstimmt. Zahlreiche Studien belegen, dass die Umsetzung von Bologna in Deutschland auf einem guten Weg ist. Natürlich ist noch nicht alles optimal, aber es handelt sich um die größte Reform der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Und "trotz mancher Kinderkrankheiten gibt es bereits viele gute Effekte", wie es Uwe Schlicht jüngst in seinem Artikel "Der Bachelor kann's" treffend konstatierte (vergleiche Der Tagesspiegel vom 11. März 2011). Viele der reform-auslösenden Mängel, wie beispielsweise ein im internationalen Vergleich später Berufseintritt durch eine lange Studiendauer, eine hohe Abbrecherquote oder eine geringe Praxisorientierung der Studiengänge, sind bereits behoben oder zumindest abgeschwächt worden. Es herrscht trotz aller Unkenrufe eine hohe Zufriedenheit der Absolventen mit ihrer Ausbildung, und auch die Akzeptanz seitens der Arbeitgeber ist beachtlich hoch: 72 Prozent der Bachelorabsolventen hatten - so das Ergebnis einer Studie des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung in Kassel - drei Monate, nachdem sie die Urkunde in den Händen hielten, einen Arbeitsplatz. Die Fraktion Die Linke behauptet zum wiederholten Male, dass in Deutschland zu wenige Masterstudienplätze zur Verfügung stehen. Zu diesem Ergebnis gelangt man, weil man im Lager der Linken die Unterscheidung zu dem Vorgängermodell "Diplom" nicht nachvollziehen will oder kann. Der Bachelorstudiengang wird dem Grundstudium gleichgesetzt. Deswegen kommt man zu dem Trugschluss, dass alle Absolventen eines grundständigen Studienganges auch ein Masterstudium anstreben müssten. Während die erstgenannte Behauptung einer empirischen Grundlage entbehrt, verdeutlicht die zweitgenannte Annahme, wie wenig man sich mit der Zielsetzung der Bologna-Beschlüsse befasst hat. Die Kultusministerkonferenz, KMK, gelangt im dieser Tage bekannt gewordenen Bericht des Hochschulausschusses zur "Situation im Masterbereich" zu der Einschätzung, dass es gegenwärtig keinen Mangel an Masterstudienplätzen in Deutschland gibt (vergleiche dpa-Meldung "KMK: Derzeit kein Mangel an Masterstudienplätzen" vom 6. April 2011). Vielmehr sei die Zahl der angebotenen Masterstudienplätze ausreichend, wenngleich die Aufnahme eines Masterstudiums auch mit einem erforderlichen Ortswechsel verbunden sein könne. Interessant ist dabei, dass im Bachelorabschlussjahrgang 2009 unter den Befragten, die ein Masterstudium aufgenommen haben, 90 Prozent angegeben haben, dass sie sowohl ihr Wunschfach als auch ihre Wunschhochschule bekommen hätten. Und auch das sagt die Erhebung der KMK: Etwas mehr als drei Viertel aller Masterstudiengänge haben keinen örtlichen Numerus clausus. Und selbst bei den deutschlandweit 32 135 zulassungsbeschränkten Studien-plätzen sind ganze 6 258 nach dem Ende des Nachrückverfahrens unbesetzt geblieben. Der Andrang war also geringer als erwartet, und es herrscht nachweislich keine Knappheit im Angebot von Masterstudienplätzen. Bei den Bachelorprüfungsjahrgängen 2005 bis 2007 wurde zudem lediglich eine Übertrittsquote von 33 Prozent ins Masterstudium ermittelt. Die Behauptungen der Antragsteller sind damit zum heutigen Zeitpunkt empirisch nicht belegt. Gleichwohl ist nicht absehbar, wie sich die Übertrittsquoten vom Bachelor- zum Masterstudium künftig angesichts der zu erwartenden steigenden Zahl von Bachelorabsolventen entwickeln werden. Doch - und das ist meine volle Überzeugung - ein kompletter Übergang von Bachelorabsolventenjahrgängen zum Masterstudium ist gar nicht erstrebenswert. Eine solche Widerspiegelung der ehemaligen Studienstruktur unter neuem Namen wäre weder im Interesse der Studierenden noch der Hochschulen oder des Arbeitsmarktes. Die Bildungsrepublik Deutschland kann auch dank der großen Anstrengungen seitens der christlich-liberalen Koalition - wir stellen allein in der laufenden Legislaturperiode zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung im Bundeshaushalt bereit - auf beachtliche Erfolge im Hochschulbereich verweisen: mit einer Rekordstudienanfängerquote von 46 Prozent im Studienjahr 2010, mit der Bereitstellung von etwa 2 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 für den Qualitätspakt Lehre, mit einem endlich Bologna-tauglichen Bundesausbildungsförderungsgesetz, welches Fördermöglichkeiten für Masterstudenten bis zum 35. Lebensjahr bietet, mit einer erfolgreichen Umsetzung des Hochschulpaktes, mit dessen Hilfe nicht nur die angestrebten 91 370, sondern sogar 182 193 zusätzliche Studienplätze in der ersten Programmphase geschaffen wurden, und der Zusicherung seitens der Bundesregierung, im Rahmen des Hochschulpakts II eine Aufstockung für darüber hinaus infolge der Aussetzung der Wehrpflicht und der doppelten Abiturjahrgänge benötigte Studienplätze mitzufinanzieren. Mit dem in diesem Jahr startenden Deutschland-Stipendium, welches künftig einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird, dass das Jobben neben dem Bachelorstudium zunehmend überflüssig werden kann, sorgen wir auch dafür, dass die Rahmenbedingungen für eine optimale Umsetzung der Bologna-Reform weiter verbessert werden. Die Antragsteller beklagen die jahrzehntelange Unterfinanzierung des deutschen Hochschulsystems. Gleichzeitig bieten sie aber keinerlei konstruktive Vorschläge an, wie sich dieser Mangel beheben lassen könnte. Auch wenn sich über die Hälfte der Deutschen für Studienbeiträge als ein probates Mittel zur Finanzierung der Hochschulen aussprechen - die Linke will es nicht wahrhaben. Sie scheut es, darüber nachzudenken, welche positiven Effekte Studienbeiträge für die Hochschullehre hat, angefangen bei verbesserten Betreuungsrelationen über bessere Hochschulinfrastruktur bis hin zum persönlichen Anspruch des Einzelnen gegenüber seiner Hochschule. Leider mussten wir immer wieder feststellen, dass sich die Oppositionsfraktionen gegenüber Argumenten versperren, empirische Daten negieren und Fakten infrage stellen. Wenn Wahrheiten nicht ins Weltbild passen, werden sie passend gemacht. Mit diesem Anspruch lässt sich Politik betreiben; für das Wissenschaftssystem ist eine solche Haltung bekanntermaßen aber Gift. Ein - wie von den Antragstellern gefordertes - Bundeshochschulzulassungsgesetz stellt einen Angriff auf die Autonomie der Hochschulen dar und wird seitens der FDP-Bundestagsfraktion mit aller Vehemenz abgelehnt. Damit wäre nicht nur der Bologna-Reformprozess ad absurdum geführt. Man vergisst auch zu gerne, dass der Bund sich nur im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung einbringen kann. Sobald ein Land ausschert, bricht das wackelige Gefüge zusammen. Da ist es doch besser, die Organisation dezentral zu verorten und auf das dialogorientierte Zulassungsverfahren "hochschulstart.de" der Stiftung für Hochschulzulassung zu warten. Ja, es hat Verzögerungen gegeben, und diese müssen schnellstmöglich behoben werden. Wer aber so tut, als würden bundesgesetzliche Regelungen schneller greifen können, der handelt unredlich. Es gibt Software-Schnittstellenprobleme. Diese sind der Grund für das Verschieben. Aber das neue System wird kommen - wir lassen uns nicht auf eine Rolle rückwärts in die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein. Die Studentenlandverschickung per ZVS ist endgültig passé; das werden auch SPD, Grüne und die Linke begreifen müssen. Als Fazit bleibt - wie so oft bei den Anträgen der Fraktion Die Linke - festzuhalten: Hier wird mit untauglichen Mitteln die Beseitigung von nicht existierenden Problemen gefordert. Der Antrag ist also nicht nur nicht gut gemacht, sondern auch nicht gut gemeint und gehört daher abgelehnt. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Seit Jahren erhalten jedes Semester viele Tausend junge Menschen, die studieren wollen und dafür die nötigen Voraussetzungen mitbringen, von den Hochschulen eine Absage. Das heißt, sie erwerben sich durch das Abitur oder andere Studienberechtigungen zwar einen formalen, aber keinen tatsächlichen Hochschulzugang. Mittlerweile ist das nicht mehr nur beim Studienbeginn so, sondern nun auch beim Übertritt in den Master. Und damit nicht genug: Die Zulassungsverfahren sind chaotisch, das dialogorientierte Zulassungsverfahren der Bundesregierung ist faktisch gescheitert, am Ende bleiben auch dieses Jahr wahrscheinlich wieder Tausende Studienplätze unbesetzt. Dieser Zustand ist unerträglich! Seit 2006 fällt die Hochschulzulassung - unter Mitwirkung der Länder - in den Kompetenzbereich des Bundes. Aber die Bundesregierung macht keine Anstalten, die chaotischen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern. Mit unserem Antrag wollen wir das ändern. Deshalb fordert die Linke ein Bundeshochschulzulassungsgesetz: Jede und jeder Studienberechtigte soll tatsächlich studieren können, und zwar im gewünschten Fach und am gewünschten Ort. Seit der Regierung Schröder wird das sogenannte "Selbstauswahlrecht der Hochschulen" gestärkt: Im Sinne der sogenannten "Profilbildung und des Wettbewerbs zwischen den Hochschulen" sollen sich die Hochschulen "ihre Studierenden" aussuchen dürfen. Ich glaube aber, man muss sich an dieser Stelle entscheiden: Wollen wir, dass die Studierenden wählen dürfen - so verstehe ich das Recht auf freie Berufswahl und das Menschenrecht auf Bildung -, oder wollen wir, dass sich die Hochschulen ihre Studierenden aussuchen - dann nimmt man zwangsläufig in Kauf, dass Bewerberinnen und Bewerber abgewiesen werden? Manche halten es für utopisch, dass jeder den Studienplatz bekommt, den er will. Sehr lange war es aber politischer Konsens, dass jeder Studienberechtigte das Recht dazu hat. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1972 in seinem Urteil zum Numerus clausus fest: Das Recht auf die freie Wahl der Ausbildungsstätte wäre - Zitat - "ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos". Und heute heißt es beim Thema Masterstudienplätze, dass es vielleicht genügend gibt, aber nicht an jeder Hochschule und schon gar nicht in jedem Studiengang. Damit wird dem Recht auf Selbstbestimmung der Studierenden faktisch eine Absage erteilt. Wir fordern stattdessen das Recht auf einen Masterstudienplatz. Wir schlagen vor, dass die Studierenden mit der Zulassung zum Bachelor auch das Recht bekommen, nach dem Bachelorabschluss ein Masterstudium an der gleichen Hochschule anzuschließen. Ein Einwand liegt freilich auf der Hand. Viele Hochschulen sind heute schon überlastet. Die entscheidende Frage ist: Was folgt daraus? Soll man sich jetzt damit politisch abfinden, dass jedes Jahr Tausende Studienberechtigte von den Hochschulen abgewiesen werden? Man darf sich nicht damit abfinden! Wir brauchen mehr Studienplätze, damit massenhafte Ablehnungen nicht vorprogrammiert sind. Der Hochschulpakt verfolgt dieses Ziel bislang nicht. Er ist darauf angelegt, sich durchzuwursteln, und nicht darauf, Zulassungshürden zu beseitigen. Für die Linke gehört die Finanzierung mit zum Kern eines guten Hochschulzulassungsgesetzes. Es geht nicht darum, den Mangel zu verwalten, sondern darum, ihn durch entschlossenen Hochschulausbau zu beseitigen. Sonst steht das Recht auf einen Studienplatz weiter nur auf dem Papier. Verhelfen Sie der Studienberechtigung wieder zu ihrem eigentlichen Sinn! Machen Sie aus der Berechtigung endlich - wie es im Wort selbst schon steckt - ein Recht, und stimmen Sie dem Antrag der Linken zu! Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer in diesen Tagen über den Hochschulzugang spricht, kann zur blamablen Verschiebung des Dialogorientierten Serviceverfahrens auf unbestimmte Zeit und zu den fatalen Folgen für die Studienberechtigten der Jahre 2011 und danach nicht schweigen. Angesichts des Studierendenhochs, doppelter Abiturjahrgänge, der Aussetzung von Wehrdienst und Zivildienst wäre - gerade nach jahrelangem Einschreibe-, Zulassungs- und Nachrückchaos - ein funktionierendes Hochschulzulassungssystems zum Wintersemester 2011/2012 zwingend erforderlich und längst überfällig. Das aktuelle Scheitern ist aber nur die Spitze des Eisbergs, denn es geht um eine Serie bildungspolitischer Skandale: Es ist beschämend, dass ein Erreichen der Hochschulzugangsberechtigung hierzulande extrem eng mit dem Bildungsgrad der Herkunftsfamilie verknüpft ist. Die allgemeine Hochschulreife ist zudem keine Hochschulzugangsberechtigung mehr, sondern eher eine Bewerbungsberechtigung, die zur Teilnahme an einer Studienplatzlotterie berechtigt. Nachdem die ZVS in alter Form abgewickelt wurde, klemmt nun das lange angekündigte dialogorientierte Serviceverfahren unter anderem wegen technischer Softwareprobleme. Ausgerechnet im Jahr mit den meisten Studieninteressierten aller Zeiten wird so vielen der Weg zur Hochschule verbaut. Im letzten Wintersemester blieben rund 18 000 Studienplätze unbesetzt, da ihre Vergabe am Durcheinander gescheitert ist. Die Bundesregierung hat zwar die verfassungsrechtliche Möglichkeit, die Verfahren des Hochschulzugangs bundeseinheitlich zu regeln und transparent zu gestalten, nutzt diese aber fahrlässigerweise nicht. Die Studienberechtigten und Hochschulen warten seit Jahren auf eine Lösung der Zulassungsproblematik. Weitere Verzögerungen und anhaltendes Chaos sind unzumutbar. Da das neue Zulassungsverfahren aber nicht funktioniert, ist eine erneute Verschiebung leider unumgänglich. So richtig es ist, Studienberechtigte nicht zu Versuchskaninchen eines instabilen IT-Programms zu machen, so klar bleibt das Ziel: Sie haben ein Recht auf ein funktionierendes Zulassungsverfahren, um ein Studium aufzunehmen. Dieses Recht ist jetzt akut gefährdet. Hochschulen und Studienberechtigten muss ein Desaster wie bei der Einführung der Lkw-Maut erspart bleiben. Ministerin Schavan muss daher unverzüglich eingreifen und das Zulassungschaos beheben, anstatt auf der Zuschauertribüne zu verweilen. Wer wie der Bund 15 Mil-lionen Euro in das neue System investiert, muss mehr als ein Zaungast sein; er muss politisch steuern. Schavans Politikverweigerung in den letzten Jahren hat das Zulassungschaos verschärft. Nun sieht es so aus, als wolle sie tatenlos zusehen, wie zwischen Stiftung, IT-Entwicklern, Ländern und Hochschulrektorenkonferenz Schuldzuweisungen hin- und hergeschoben werden, anstatt Verantwortung fürs Gelingen zu übernehmen, die Probleme zügig zu beseitigen und einen verlässlichen Zeitplan aufzustellen. Leidtragende sind Studienberechtigte, die im besten Fall erst in aufwendigen und langwierigen Nachrückverfahren einen Studienplatz erhalten. Im schlechtesten Fall bewerben sie sich vergebens und verlieren ein halbes oder gar ganzes Lebensjahr. Studierende wie Hochschulen brauchen jetzt Verfahrens- und Planungssicherheit. Ministerin Schavan und ihre Länderkollegen und -kolleginnen müssen sicherstellen, dass das alte Verfahren sofort anwendbar ist, damit nicht noch mehr Studienberechtigte vor dem deutschen Zulassungschaos Reißaus nehmen und später als akademische Fachkräfte fehlen, dass alle Mittel genutzt werden, um mit dem alten Verfahren zu besseren Ergebnissen zu kommen und nicht wieder 18 000 Studienplätze ungenutzt bleiben, und dass die Zeit bis zur endgültigen Inbetriebnahme genutzt wird, für die volle Funktionsfähigkeit des Systems auch für kombinierte Studiengänge und für das Lehramt zu sorgen sowie verbindliche Teilnahme aller Hochschulen sicherzustellen. Vor allem die Studierenden brauchen Klarheit: Es ist keine Panikmache, vor der realen Gefahr eines Zulassungsdesasters bis in den Herbst 2013 hinein zu warnen. Würde sich das deutsche Hochschulsystem als unfähig erweisen, seinen Mangel an gut ausgestatteten Studienplätzen wenigstens effizient zu verwalten, so werden wir in wenigen Jahren über einen Fachkräftemangel ungeahnten Ausmaßes diskutieren. Solange das neue Verfahren nicht funktioniert, bleibt es beim unbefriedigenden Zustand aus lokalen Zulassungsverfahren in komplizierten Nachrückrunden mit anschließender Studienplatz-tombola. Dieser Zustand muss schnellstmöglich überwunden werden. Die Länder müssen zudem endlich das Kapazitätsrecht sinnvoll überarbeiten: Es muss einfacher werden, darf aber dem gesamtstaatlichen Ziel des Studienplatzkapazitätsausbaus keinen Bärendienst erweisen. Die Bundesforschungsministerin sei daran erinnert, dass ihre Hightech-Strategie die Informations- und Kommunikationstechnologien als Innovationsmotor Nr. 1 nennt. Vor diesem Anspruch bekommt das Verschieben von "Hochschulstart.de" und das Zulassungsdesaster eine andere Dimension. Mit Blick auf den Antrag der Linksfraktion sehe ich in einzelnen Punkten Übereinstimmung, in anderen muss ich widersprechen. Erstens. Es ist nicht Aufgabe des Bundes, "dafür zu sorgen, dass ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen zur Verfügung steht." Das ist und bleibt Aufgabe der Länder. Der Bund kann allenfalls unterstützend wirken. Fakt ist, dass der Hochschulpakt nachzuverhandeln ist und dass Bund und Länder mehr Geld für mehr Bachelor- und Masterstudienplätze zur Verfügung stellen müssen. Zweitens. Dank der Abweichungsregel im Grundgesetz bliebe das von Ihnen eingeforderte Bundeszulassungsgesetz ein zahnloser Tiger, weil jedes Bundesland davon abweichen kann. Deswegen setzen wir auf einen nachhaltig ausverhandelten Bund-Länder-Staatsvertrag zur Hochschulzulassung. Dieser wäre ein effektiveres und wirkungsmächtigeres Instrument. Drittens. Dass Studienberechtigung "das Recht, ein Studium im Fach und an der Hochschule seiner Wahl aufzunehmen", bedeute, ist realitätsfern und ließe sich nur durch Bildungszentralismus statt Bildungsföderalismus umsetzen. Viertens. Es macht wenig Sinn, Hochschulen die Aufstellung jedweder Zugangsvoraussetzungen zu untersagen. Weiterbildungsmasterstudiengänge, die Berufserfahrung voraussetzen, sollten möglich bleiben. Insgesamt sind wir der Linksfraktion dankbar, diese wichtige Debatte aufgesetzt zu haben. Mehreren Vorschlägen können wir aber nicht zustimmen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: - Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vorhandene Qualifikationen anerkennen - Strategie statt Streit - Fachkräftemangel beseitigen (Tagesordnungspunkt 17) Ulrich Lange (CDU/CSU): Die wirtschaftliche Situation in Deutschland ist gut. Die Konjunktur ist nach der Finanz- und Wirtschaftskrise angesprungen. Deutschland, zu Zeiten von Rot-Grün das Schlusslicht in der EU, hat sich in der christlich-liberalen Koalition zur Konjunkturlokomotive entwickelt. Erfreulich ist auch, dass die Anzahl der Erwerbstätigen stark gestiegen, die Arbeitslosenquote gesunken ist. Trotz dieser grundsätzlich positiven Wirtschaftsdaten stehen wir einem Problem gegenüber: der Fachkräftesicherung. Derzeit aber gibt es noch keinen echten Mangel, aber starke regionale Unterschiede. Wir sind uns darüber im Klaren, dass der wirtschaftliche Aufschwung nur dann weitergehen wird, wenn wir dafür die nötigen Fachkräfte zur Verfügung haben. Die künftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen wird deshalb entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, die notwendigen Fachkräfte zu gewinnen. Ein ungedeckter Fachkräftebedarf verschenkt unnötigerweise vorhandene Wachstums- und Innovationspotenziale. Wie in der Anhörung dargelegt, hatten Mitte 2010 laut Umfrage der DIHK bereits 70 Prozent der Unternehmen Probleme bei der Besetzung offener Stellen. Im Dezember 2010 lag die sogenannte MINT-Lücke, also die Berufe: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, bei 98 600; davon umfasst die Ingenieurlücke knapp 50 000 Stellen. Die IHK Bayern geht davon aus, dass in 2014 allein in Bayern rund 420 000 Fachkräfte, davon 25 000 Akademiker fehlen. Trotzdem sieht die Linke keinen Fachkräftemangel. Allein die genannten Erhebungen widerlegen das "wirtschaftliche" Fachwissen der Linken, zeigen, dass die Linken auch von Wirtschaft nichts, aber auch gar nichts verstehen. Sie sehen bei diesen Fakten keinen gravierenden Engpass von Fachkräften, sondern eine Intrige des Kapitalismus. Ihr Erfolgsrezept: Mehr gute Arbeit! Ja wie naiv sind Sie denn, eine solch undifferenzierte Forderung zu stellen! Von Fachwissen sind Sie wirklich völlig unbeleckt. Anders sieht die Analyse der Grünen aus, die einen wachsenden Fachkräftemangel diagnostizieren. Leider sind Ihre Schlussfolgerungen nicht immer Erfolg versprechend. Insbesondere Ihre Forderung nach Ihrem "DualPlus" als weiterentwickeltem Berufsausbildungssystem geht einfach in die falsche Richtung. "DualPlus" ist nichts anderes als eine Variante der außerbetrieblichen Ausbildung. Diese war in der Vergangenheit leider notwendig, als die Ausbildungsnachfrage das betriebliche Angebot deutlich überstieg. Heute fehlen Lehrlinge, keine Ausbildungsplätze. Unsere traditionelle überbetriebliche Ausbildung, bei der die betriebliche Ausbildung in überbetrieblichen Lehrgängen inhaltlich ergänzt und vertieft wird und die aufgrund ihrer guten Qualität in den Betrieben als notwendig akzeptiert ist, hat sich bewährt. Daran werden wir festhalten. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, um ausreichend Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu sichern. Da reicht eine Maßnahme, eine Aktion nicht aus, wir müssen an mehreren Bereichen ansetzen und unsere Aktivitäten bündeln. Das Fachkräfteangebot kann gesteigert werden, indem die Anzahl der Fachkräfte, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, erhöht wird und indem die von den Erwerbspersonen erwirtschaftete Wertschöpfung gesteigert wird. In vielen Bereichen müssen gleichzeitig Schritte zur Verbesserung der derzeitigen Situation eingeleitet werden. Ich möchte einige Schwerpunkte auflisten: Bildungsinitiative: Bildungspolitik ist Standortpolitik. Im Vordergrund steht die Aufgabe, den Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss zu reduzieren. Wenn es gelingen würde, die Anzahl der Schulabgänger zu halbieren, würden bis 2025 circa 300 000 Fachkräfte zusätzlich zur Verfügung stehen. Arbeitgeberverbände, Kammerorganisationen, Gewerkschaften, die Kultusministerkonferenz, der Bund und die Länder engagieren sich derzeit schon in diesem Bereich. Seitens der Bundesregierung wird eine zweite Chance für Schulverweigerer in einem extra Programm angeboten. Die Kultusministerkonferenz fördert gezielt Benachteiligte und richtet vermehrt praxisorientierten Unterricht aus. Mit gezielter, rechtzeitiger Förderung lassen sich Schwächen in Mathematik und Deutsch, den beiden Grundfächern, beseitigen. Eine bessere Förderung müssen auch Jugendliche mit einem Migrationshintergrund erhalten. Eine verstärkte Einbindung der Eltern wird sich positiv auswirken. Die Schulen sollten verstärkt mit Wirtschaft und Hochschulen zusammenarbeiten, um bei den Schülern das Interesse für MINT-Bereiche zu erhöhen und mehr MINT-Absolventen auf den Hochschulen zu erhalten. Berufseintrittsalter senken: Durch die Herabsetzung des Einschulungsalters, die Flexibilisierung des Grundschuleinstiegs, die sogenannte G 8, die Aussetzung des Wehrdienstes und die Einführung einer zweistufigen Studienstruktur treten die Jüngeren künftig früher ins Erwerbsleben ein. Die ältesten Berufseinsteiger kommen nicht mehr aus Deutschland. Berufsausbildung unterstützen: Leider wird in Deutschland noch jeder fünfte Ausbildungsvertrag frühzeitig aufgelöst. Die Hälfte dieser Jugendlichen, circa 70 000, beginnen keine neue Lehre. Hier muss weiter gegengesteuert werden. Vertiefte Berufsorientierung bietet den Jugendlichen eine sicherere Wahl des Berufes und ein höhere Zufriedenheit bei der Ausbildung. Erfolgreich ist auch die Berufseinstiegsbegleitung an bundesweit 1 000 Schulen. Aber auch die Betriebe sind gefordert. Die erfolgreiche betriebliche Ausbildung muss weiterentwickelt werden. Durch die parallele Doppelqualifikation aus Berufsabschluss und FH-/Uni-Abschluss kann die Gewinnung und Bindung von Fachkräften deutlich gefördert werden. Den Jugendlichen muss immer wieder verdeutlicht werden, dass unser Bildungssystem sehr durchlässig ist. Entscheidend ist ein guter Abschluss und Leistungsbereitschaft. Senkung der Hochschulstudiumabbrüche: Leider liegt bei uns der Anteil der Studienabbrecher zwischen 20 und 30 Prozent. Wichtige Präventivmaßnahme sollte eine verbesserte und individuellere Beratung von Abiturienten und Studierenden sein, die an einen Abbruch denken, um ihnen die langfristigen Konsequenzen deutlich zu machen. Zudem sollten verstärkt Anstrengungen unternommen werden, die Situation in den Hochschulen zu verbessern und den jungen Menschen auch gute Bedingungen für ihr Studium zu gewähren. Mit den Bundesländern haben wir einen Hochschulpakt geschlossen, um die Leistungsfähigkeit unserer Hochschulen zu sichern und für eine größere Zahl von Studenten offenzuhalten. Die stark steigende Zahl von Studienbewerbern und der sich abzeichnende Bedarf in bestimmten Branchen machen in besonderem Maße einen gezielten Ausbau der Studienkapazitäten in Deutschland erforderlich. Im Vordergrund muss hierbei die Ausbildung für den inländischen Bedarf stehen. Verlängerter Einsatz erfahrener Fachkräfte: In Deutschland sind nur 56 Prozent der Facharbeiter zwischen 55 und 64 tätig. Auch wenn dieser Wert über dem europäischen Durchschnitt liegt, sollte eine Steigerung möglich sein. Viele ältere Fachkräfte wollen länger im Erwerbsleben stehen und werden oft gegen ihren Willen in die Rente geschickt. Die Fortsetzung der staatlich geförderten Altersteilzeit haben wir verhindert und die gesetzliche Lebensarbeitszeit verlängert. Mit beiden Entschlüssen haben wir deutlich gemacht, dass nicht der vorzeitige Ausstieg aus dem Erwerbsleben, sondern die Verlängerung der Erwerbsbiografien gefördert werden muss. Die Situation von älteren Menschen am Arbeitsmarkt hat sich seither kontinuierlich verbessert. Der Anteil der älteren Beschäftigten an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist stetig gestiegen. Unsere Unternehmen wissen immer mehr die Potenziale älterer Arbeitskräfte zu schätzen, weil ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Leistungsfähigkeit in den Betrieben gebraucht und genutzt wird. Die deutschen Unternehmen, unterstützt durch zukunftsorientierte, arbeitsmarktpolitisch sinnvolle Maßnahmen der Bundesregierung, haben ihren Fokus bei der Gewinnung von Arbeitskräften auch auf Ältere gelegt und als Anreiz geeignete Maßnahmen realisiert, wie die Einführung eines Gesundheitsmanagements, eine altersgerechte Gestaltung der Arbeitsplätze und auch - dies halte ich persönlich für sehr wichtig - die Anerkennung und Wertschätzung der erfahrenen Mitarbeiter zum Ausdruck gebracht. Das Ziel, die Arbeitsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhalten und zu verbessern, wird auch mit der "Initiative Neue Qualität der Arbeit" (INQA) verfolgt. Die Bundesregierung fördert mit INQA die Schaffung gesundheits- und leistungsfördernder Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus werden Unternehmen bei der Umsetzung einer nachhaltigen Personalpolitik unterstützt und zu einer lebenslangen Qualifikation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert. Das Projekt "Perspektive 50 plus" ist ein Programm des Bundesarbeitsministeriums zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Langzeitarbeitsloser. Frauenerwerbsquote steigern: In Deutschland sind circa 70 Prozent der Frauen berufstätig, davon circa 45 Prozent in Teilzeit. Viele Frauen wollen ganztags arbeiten, haben jedoch Probleme, Beruf und Familie zu vereinbaren. Mit der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Platz in einer Kindertagesstätte und dem Ausbau der frühkindlichen Betreuungsangebote geben wir Müttern und Vätern die Möglichkeit, Erwerbstätigkeit und Familie zu vereinbaren. Dennoch ist eine größere Flexibilität notwendig. Die Arbeitgeber müssen noch flexiblere Arbeitszeiten oder Teilzeitregelungen anbieten, die öffentliche Hand muss aber auch den Ausbau der Kinderbetreuung vorantreiben. Wichtig ist zudem, dass die entsprechenden Einrichtungen mit flexiblen und großzügigen Regelungen auf die Bedürfnisse der berufstätigen Eltern eingehen müssen. Aber auch die Betreuung von Schulkindern muss ausgebaut werden, damit berufstätige Eltern ohne Sorge ihrer Tätigkeit nachgehen können. Ein Ausbau von Ganztagsschulen, Nachmittags- und Ferienbetreuung ist dringend notwendig. Im Rahmen des Aktionsprogramms "Perspektive Wiedereinstieg" werden Frauen nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung bei der Rückkehr in den Beruf unterstützt. Mit dem nationalen Pakt für mehr Frauen in MINT-Berufen soll bei jungen Mädchen frühzeitig das Interesse an technischen Berufen geweckt werden. Weiterqualifizierung stärken: Die Grundausbildung der Deutschen ist im Europavergleich recht gut. Das sieht jedoch bei der Weiterbildung wesentlich schlechter aus, insbesondere für Frauen und Ältere. Hier stehen auch die deutschen Unternehmen in der Pflicht, vermehrt Fortbildungsangebote zu schaffen und ihre eigenen Mitarbeiter ihr Leben lang weiterzubilden. Dies bedeutet auch, dass die derzeit bei uns bestehende Fortbildungslandschaft auf die zukünftigen Berufe und den kommenden Bedarf ausgerichtet werden muss. Vor allem eine Ausweitung der Angebote im technischen Bereich ist unerlässlich. In den Unternehmen muss aber auch eine Kultur entstehen, dass Mitarbeiter eigenverantwortlich ihre Weiterbildung betreiben, um langfristig für den Arbeitsmarkt von Interesse zu sein. Die Bundesanstalt für Arbeit, BA, hat verschiedene Programme zur Weiterbildung. So fördert zum Beispiel die BA die berufliche Weiterbildung Geringqualifizierter durch den Erwerb anerkannter Berufsabschlüsse oder Teilqualifikationen. Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund: In Deutschland haben Menschen mit Migrationshintergrund durchschnittlich eine schlechtere Bildung und sind dadurch auch häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. Deshalb müssen diese besser gefördert werden. Dringend ist auch die schnelle und unbürokratische Anerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikationen, damit die Migranten auf unserem Fachkräftemarkt eingesetzt werden können. Bei diesem Verfahren kann die wirkliche Qualifikation des Migranten erkannt und seine Chancen auf unserem Arbeitsmarkt können ermittelt werden. Lücken in der Qualifikation müssen mit Hilfe von Fortbildungsmaßnahmen geschlossen werden. Mit dem Nationalen Integrationsplan haben wir zahlreiche integrationspolitische Maßnahmen auf den Weg gebracht, um das Potenzial der Bevölkerung mit Migrationshintergrund besser auszuschöpfen. Abwanderung verhindern: Ein zentrales Problem für den Arbeitsmarkt in Deutschland und damit für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist die starke Abwanderung von in- und ausländischen Absolventen deutscher Universitäten und anderen Fachkräften nach Erwerb ihrer Qualifizierung. Dieser Abwanderung von besonders gut ausgebildeten jungen Menschen, die bereits hervorragende Deutschkenntnisse besitzen, steht keine in gleicher Weise qualifizierte Zuwanderung entgegen. Ein Hauptaugenmerk der deutschen Wirtschaft muss es also sein, die besonders gut ausgebildeten Absolventen mit attraktiven Lohn- und Arbeitsbedingungen im Land zu halten oder nach erfolgtem Auslandsstudium für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Auch ins Ausland abgewanderte nichtakademische Fachkräfte sollen gezielt für die deutsche Wirtschaft zurückgewonnen werden. Qualifizierte Zuwanderung ermöglichen: Da der weltweite Wettbewerb um Fachkräfte vor langer Zeit begonnen hat, müssen auch wir um qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland werben. Derzeit verliert Deutschland jedes Jahr Tausende von Facharbeitern, die ins Ausland wandern. Wir müssen versuchen, diesen Trend umzudrehen. Einmal müssen wir unseren Fachkräften ihre Chancen und Möglichkeiten in Deutschland aufzeigen, auf der anderen Seite müssen wir uns um ausländische Fachkräfte bemühen. Dabei müssen wir politisch und gesellschaftlich verdeutlichen, dass ausländische Fachkräfte bei uns willkommen sind und gute Perspektiven haben. Insbesondere die Forschungseinrichtungen sind im internationalen Wettbewerb darauf angewiesen, hochqualifiziertes Personal zu gewinnen und halten zu können. Um den Bedarf an akademischen Spitzenkräften decken zu können, führen wir die Wissenschaftsfreiheitsinitiative im Wissenschaftsfreiheitsgesetz weiter. Damit werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen, um Wissenschaftsorganisationen die Akquise von Spitzenforschern zu erleichtern und im Wettbewerb mit ausländischen Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft konkurrenzfähige Angebote zu machen. Die erfolgreiche Bekämpfung des sich abzeichnenden Fachkräftemangels gelingt nicht mit punktuellen Lösungen. Sie gelingt nur durch einen umfassenden und längerfristig angelegten Ansatz. Vor allem muss die Zielsetzung sein, das inländische Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen. Hier wollen wir mit einer besseren Schul- und Hochschulbildung sowie zusätzlichen Anstrengungen in der Aus- und Weiterbildungsförderung den Schwerpunkt zur Sicherung und Verbesserung des Fachkräfteangebotes in Deutschland setzen. Ein weiteres zentrales Anliegen ist, die Abwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften zu stoppen. Schließlich gilt es, durch die Entwicklung einer Willkommenskultur die Attraktivität Deutschlands für qualifizierte ausländische Fachkräfte zu erhöhen und gezielt die qualifizierten Fachkräfte zu werben, für die ein Mangel besteht. Ich fordere die Opposition auf, sich unseren Aktionen zur Sicherung der Fachkräfte für unseren deutschen Arbeitsmarkt anzuschließen. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Haben wir ihn oder haben wir ihn nicht, den Fachkräftemangel in Deutschland? Die Wahrheit liegt zwischen Ja und Nein, also in einem Gelände, in dem wir uns als Politiker so oft bewegen und feststellen, dass einfache Antworten nicht weiterhelfen. Die vorliegenden Anträge sind für die SPD willkommener Anlass, dieses Thema in der gebotenen Tiefe zu beleuchten. Betrachten wir die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt, stellen wir ungedeckte Bedarfe im Bereich der Gesundheitswirtschaft, hier besonders in der Altenpflege, fest. Im Streit um die Frage, wie die Altenpflegeausbildung finanziert wird, in niedrigen Löhnen - der Mindestlohn in der Pflege ist noch taufrisch - und in belastenden Arbeitsbedingungen, liegen ein Bündel von Gründen für diesen Mangel. Die Verweildauer im Beruf ist kurz, die Aufstiegsmöglichkeiten sind gering und die Aussicht auf Besserung ist schlecht. Fachkräftemangel herrscht aktuell auch bei Erzieherinnen und Erziehern. Dem Aufbau von Betreuungsangeboten hat keine adäquate Ausweitung des Ausbildungsangebotes gegenübergestanden. Die Entgeltsituation ist angesichts langer Ausbildungszeit schlecht. Auch hier gibt es so gut wie keine Karrierechance, und die Perspektive, bis zum Renteneintrittsalter in der Kita zu arbeiten, ist ebenfalls nicht prickelnd. Ebenso zutreffend ist, dass Bundesländer sich wechselseitig Lehrkräfte abwerben. Aber schon hier stellen wir gleichzeitig fest, dass Berufseinsteiger und Berufseinsteigerinnen nur befristete Verträge bekommen. Besonders hörbar melden sich die Fachverbände zu Wort, die über einen Ingenieursmangel klagen. Bis zu 45 000 Stellen seien unbesetzt, der Mangel in den sogenannten MINT-Berufen - also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik - sei besonders dramatisch. Arbeitsmarktexperten bezweifeln diese Zahl - käme sie doch zustande, weil durch gute Entwicklung möglicherweise entstehende Stellen hier mit eingerechnet worden seien. Fest steht: Branchen- und regionsbezogene Stellenbesetzungsprobleme sind vorhanden. Gleichzeitig wird der Arbeitsmarkt enger, die Zahl der offenen Stellen größer und die Zahl der Arbeitsuchenden kleiner. Denn der deutsche Arbeitsmarkt hat sich trotz Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise gut entwickelt. Nicht zuletzt dank umfassender Hilfen durch Kurzarbeit konnten viele Unternehmen ihr Fachpersonal über eine schwierige Phase hinweg halten. Das war gelungene Beschäftigungssicherung, auf der sich die Politik nicht ausruhen darf. Von einem aktuellen generellen Fachkräftemangel in Deutschland zu sprechen, wäre jedoch falsch. Das zeigt sich ganz besonders in der alarmierenden Nachricht, die Leiharbeitsbranche leide unter Fachkräftemangel. Aus sozialdemokratischer Sicht liegt hier die Lösung doch eher darin, dass Unternehmen, die Fachkräftebedarfe nicht decken können, überprüfen sollten, wieweit sie Beschäftigte durch Festeinstellung und/oder bessere Bedingungen für ihr Unternehmen gewinnen können. Aber zurück zur Politik. Drei Herausforderungen muss gute Arbeitsmarktpolitik bewältigen. Erstens. Das Arbeitskraftpotenzial der knapp 3 Millionen Arbeitsuchenden muss entwickelt werden. Einen gespaltenenArbeitsmarkt, der Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten keine Chancen eröffnet und gleichzeitig einen wachsenden Arbeitskräftebedarf nicht decken kann, nehmen wir nicht hin. Zweitens. Wir machen uns seitens der SPD-Bundestagsfraktion große Sorgen angesichts der radikalen Kürzungen im Etat des BMAS. Zwei Stichworte dazu: Das deutsche Bildungssystem entlässt Jahr für Jahr mehr als 60 000 junge Männer und Frauen ohne Abschluss. Zu viele junge Menschen bleiben ohne Ausbildung und damit ohne Perspektive. Deshalb muss eine bildungspolitische Initiative starten. Wie kommentiert Bundeswirtschaftsminister Brüderle das? "Gut ausgebildete Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind der Grundstein für Wettbewerbsfähigkeit. Dies gilt für den Hightechstandort Deutschland in besonderem Maße." Recht hat er - aber da muss bildungs- und ausbildungsmäßig noch viel passieren. Und: Viele Menschen mit Migrationshintergrund sind hochqualifiziert; ihre Abschlüsse aber werden nach wie vor nicht anerkannt. Hier ist die Bundesregierung endlich tätig. Ob zielführend, wird sich erst noch herausstellen müssen. Drittens. Demografisch bedingt sinkt das Erwerbstätigenpotenzial in den kommenden Jahren dramatisch. Deshalb ist die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung ein wesentlicher Schlüssel zur Deckung des zukünftigen Fachkräftebedarfs. Hier geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was eine deutlich bessere Betreuungsinfrastruktur voraussetzt. Die Frage der Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger ist zurzeit ebenfalls ungelöst. Ich nenne das Beispiel der "Schattenfrauen": 5,6 Millionen Frauen sind derzeit nicht erwerbstätig, 90 Prozent von ihnen wären aber gern berufstätig. Wir werden sie brauchen - ebenso wie ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, deren Erwerbsfähigkeit es zu erhalten gilt. Hier lautet das Stichwort: altersgerechte Arbeit. Unsere Arbeitsmärkte sind nicht mehr regional, auch nicht national, sondern mindestens europäisch. Mit dem 1. Mai 2011 haben wir volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU. Es wäre gut gewesen, mit einem gesetzlichen Mindestlohn dem zu erwartenden Lohndumping gerade bei Facharbeit entgegenzutreten. Aber Tatsache ist auch, dass sich Fachkräfte nun europaweit die besten Arbeitsbedingungen aussuchen können. Deutsche Arbeitsmarktpolitik muss dies im Blick haben. Muten wir uns noch eine unbequeme Wahrheit zu: Ohne kontinuierliche Weiterbildung bleiben auch Fachkräfte keine Fachkräfte. Zunehmend mehr Unternehmen erkennen das und investieren in Weiterbildung. Doch leider trifft auch zu, dass weniger investiert wird bei Leiharbeitern und Leiharbeiterinnen und dass weniger bis gar nicht investiert wird bei der großen Zahl atypisch Beschäftigter. Es ist also erkennbar, dass lineare Lösungen nicht ausreichen. Wir schlagen deshalb eine Allianz für Fachkräfte vor. Wirtschaft, Gewerkschaften, Agentur für Arbeit, Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände sollten gemeinsam ein Konzept entwickeln, das Lösungsansätze aufeinander abstimmt. Dann können Fachkräfteoffensiven erfolgreich, Unternehmen gut unterstützt und unsere Fachkräfte von morgen gut ausgebildet werden. Dazu werden wir konkrete Vorschläge unterbreiten. Viele der Probleme nehmen die Anträge von Grünen und Linken auf. Das findet unsere Zustimmung. Gleichwohl stimmen wir nicht in allen Punkten überein. So zum Beispiel bei der Forderung der Linken nach einem Regelsatz von 500 Euro und bei der Frage des Punktesystems für Einwanderung. Wir werden daher den Antrag der Linken ablehnen und uns beim Antrag der Grünen enthalten. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Im Gegensatz zu einigen anderen Oppositionsanträgen, die wir heute schon debattiert haben, teile ich hier Ihre Auffassung, dass es einen konkreten Anlass für die Debatte gibt. Das Thema Fachkräftemangel können wir uns gar nicht oft genug vornehmen, weil es ein ganz entscheidendes ist. Wenn wir ein offenes Land sein wollen, wenn wir weiterhin durch unseren Wohlstand beeindrucken wollen und wenn wir uns unseren Herausforderungen stellen wollen, dann müssen wir den Fachkräftemangel in den Griff kriegen. Uns werden bis 2025 5 Millionen Erwerbstätige fehlen. Aktuell haben wir schon in den mathematisch-technischen und naturwissenschaftlichen Berufen, im sogenannten MINT-Bereich, echten Mangel. Dies schadet unserer Volkswirtschaft und verursacht erhebliche Wertschöpfungsverluste. An diesen demografisch bedingten Realitäten kommt niemand vorbei, der sich ernsthaft mit dem Problem beschäftigt. Nicht demografisch bedingt ist hingegen die negative Wanderungsbilanz, die unser Land aufweist. Uns gelingt es nicht nur nicht gut genug, ausländische Fachkräfte nach Deutschland zu locken, sondern wir haben auch noch Schwierigkeiten damit, dass uns Fachkräfte verlassen. Schließlich lassen wir erhebliches Potenzial brachliegen. Wir haben immer noch viele Menschen, die bisher nicht gut oder gar nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, und zwar insbesondere unter den Migranten, die sich für ein Leben in Deutschland entschlossen haben. Zu Recht bringen wir daher jetzt ein zeitgemäßes Anerkennungsgesetz auf den Weg. Denn viele derjenigen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, leiden da-runter, dass sie ihre vorhandenen Qualifikationen nicht vernünftig anerkannt bekommen. Alleine hier haben wir ein Potenzial von circa 285 000 Personen, die qualifiziert sind, deren Qualifikation ihnen und allen anderen aber nichts bringt, weil sie nicht angemessen anerkannt wird. Hier bügelt die schwarz-gelbe Koalition etwas aus, was bisher alle anderen Bundesregierungen versäumt haben. Es wird einen Rechtsanspruch auf das Anerkennungsverfahren geben, einheitliche Kriterien, ein einheitliches Verfahren, und zwar unabhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit. Entscheidend wird alleine die Berufsqualifikation sein. Außerdem werden wir es auch ermöglichen, bereits aus dem Ausland einen Antrag auf das Anerkennungsverfahren zu stellen. Damit gehen wir einen großen und wichtigen Schritt zur Bekämpfung des Fachkräftemangels. Wir werden aber insgesamt drei Schritte gehen müssen, und das werden wir auch tun. Denn neben der Anerkennung ausländischer Qualifikationen müssen wir unser inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausreizen. Und das heißt nichts anderes, als dass wir den Menschen, die es bisher schwer auf dem Arbeitsmarkt hatten, besser helfen müssen. Der zweite Schritt muss also sein, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu reformieren. Hier sind wir auf einem guten Weg. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. An der einen oder anderen Stelle müssen wir noch etwas drehen, aber die Richtung stimmt schon mal. Wir werden die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente reduzieren und damit eine Forderung verwirklichen, die Experten schon seit langem an die Politik herangetragen haben. Es war auch niemandem mehr zu vermitteln, warum es zum Beispiel für ein und denselben Zweck mehr als fünf unterschiedliche Instrumente geben musste. Das hat weder den Arbeitsuchenden geholfen noch hat es die Arbeit der Vermittler leichter gemacht. Gerade hierum geht es aber auch: Wir brauchen nicht nur einen gut aufgeräumten Instrumentenkasten, sondern auch einen fitten Experten, der sich auskennt und die passende Maßnahme in Kooperation mit dem Arbeitsuchenden aussucht. Nicht nur für Arbeitsuchende heißt es, auf Qualifikation zu achten, sondern eben auch bei unseren Vermittlern in der Bundesagentur für Arbeit. Schließlich muss es aber noch einen dritten Schritt geben. Damit meine ich, dass wir mehr gesteuerte Zuwanderung brauchen, und zwar mit einem Punktesystem. Hier schneiden wir im internationalen Vergleich einfach noch zu schlecht ab. Dem müssen wir mit - ich habe das schon einmal an anderer Stelle gesagt - drei Ws begegnen: Wir müssen den Wettbewerb aufnehmen, wir müssen Werbung für uns machen, und wir müssen eine Willkommenskultur schaffen. Bisher wandern die klugen Köpfe weltweit an Deutschland vorbei und zum Beispiel nach Kanada oder Australien. Klar, die genannten Länder haben einen Sprachvorteil; aber das ist es dann auch, das können wir nicht als Ausrede benutzen. Wir müssen begreifen, dass wir hier in einem internationalen Wettbewerb stehen, in dem einem nichts geschenkt wird. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir attraktiv wirken können, wenn wir es nur besser im Ausland erklären. Dazu muss die Bundesrepublik die Werbetrommel rühren. Wir müssen uns nicht verstecken, bei uns gibt es eine Menge guter Jobs. Wenn es uns gelingt, diese Botschaft im Ausland rüberzubringen, dann werden wir auch wieder mehr Fachkräfte zu uns bringen können. Zuletzt geht es aber auch darum - und damit bin ich beim dritten W -, eine Willkommenskultur zu schaffen. In den Betrieben, in den Behörden und auch einfach auf der Straße oder im Supermarkt müssen wir denjenigen, die zu uns gekommen sind, die Hand reichen. Das wäre, glaube ich, letztlich auch die beste Werbung, die man für sich machen kann. Wir haben den Fachkräftemangel erkannt und kümmern uns darum. Manche Ihrer Vorschläge teile ich ja. Insgesamt reicht es bei Ihnen aber nicht, und die Sache ist bei uns in guten Händen. Deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Es ist schon erstaunlich, welche Blüten die Diskussion um die Frage des Fachkräftemangels treibt. Kürzlich konnte man lesen, die Leiharbeitsbranche beklage einen Arbeitskräftemangel. Das ist natürlich mehr als abstrus. Denn wie sieht die Realität aus? Nehmen wir einen Fall aus der Region Esslingen, also dem Bundesland Baden-Württemberg, in dem die Industrie bekanntlich wieder boomt. Kürzlich schrieb hier die örtliche IG Metall Bundesarbeitsministerin von der Leyen einen Brief. In einer Drehmaschinenfabrik wurden über hundert Beschäftigte gekündigt, die Auszubildenden nicht übernommen. Die Betroffenen erhielten von der Arbeitsagentur Stellenangebote, aber fast ausschließlich von den Leiharbeitsfirmen. Ein Kollege erhielt 17 Stellenangebote, 15 davon bei Leiharbeitsfirmen. Zu Recht schreibt die IG Metall daher in ihrem Brief: Die "Diskussion um Fachkräftemangel bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn ausgebildeten Mechatronikern eine Stelle bei einer Dönerbude oder einer Lidl-Filiale angeboten wird". Ich bitte die Bundesregierung, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen, bevor sie die Klagen der Arbeitgeber über einen angeblichen Fachkräftemangel nachbetet. Ohne Frage: Es gibt in einzelnen Branchen einen steigenden Fachkräftebedarf. Das ist in Zeiten des Aufschwungs nichts Ungewöhnliches. Aber deshalb von einem flächendeckenden Fachkräftemangel zu sprechen, ist völlig haltlos. Das belegen auch seriöse wissenschaftliche Studien. Zu nennen ist hier die Gemeinschaftsstudie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und des Bundesinstituts für Berufsbildung, die in ihren Prognosen bis 2025 auch die demografische Entwicklung berücksichtigen, das heißt die durch Alterungsprozesse kleiner werdende Zahl von Erwerbstätigen. Dort findet sich kein Wort über einen flächendeckenden Fachkräftemangel. Selbst für den technischen Bereich hat eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung jüngst nachgewiesen: Auch dort gibt es keinen Fachkräftemangel, sonst hätten Arbeitgeber für diese Fachkräfte deutlich die Löhne erhöhen müssen. Aber das ist nicht geschehen. Was steckt also hinter den Klagen der Arbeitgeber über einen angeblichen Fachkräftemangel? In Wirklichkeit, so wird immer deutlicher, sind das Klagen über angeblich zu teure, zu wenig flexible Arbeitskräfte. In meinen Bundesland Sachsen haben kürzlich die Industrie- und Handwerkskammern ihre Mitgliedsunternehmen zum Thema Fachkräfte befragt - unter anderem dazu, woran die Einstellung eines neuen Mitarbeiters scheitert. Die Antwort: Die Bewerber hätten zu wenig Berufserfahrung und Spezialqualifikation, sie würden zum Teil überzogene Lohnforderungen stellen, seien manchmal zu alt und teilweise wegen familiärer Verpflichtungen zu wenig flexibel. Ja, ich weiß, viele Arbeitgeber haben ihre Vorstellung vom idealen Mitarbeiter. Er soll jung, ledig und flexibel sein, mehrjährige Berufserfahrung und Spezialqualifikation besitzen und zu einem niedrigen Lohn arbeiten wollen. Nur ist das natürlich etwas anderes als Fachkräftemangel. Es ist die alte Leier: Der alte Ruf nach billigen, immer frei verfügbaren Arbeitskräften taucht nun im neuen Gewand auf. Mehr als deutlich wird das bei den Pflegeberufen. Erst vor einigen Tagen hat der Arbeitgeberverband Pflege über einen massiven Mangel an Pflegefachkräften geklagt. Hier ist es nun offensichtlich, dass niedrige Löhne und enorme Arbeitsbelastungen in dieser Branche dafür verantwortlich sind, dass viele nach wenigen Jahren aus diesem Job ausscheiden oder ihn erst gar nicht wählen. Wenn sich die Bundesregierung, in Teilen auch die Grünen, vor diesen Karren der Arbeitgeber spannen lässt, ist dies ein Armutszeugnis. Denn dabei gerät schnell das eigentliche Problem aus den Augen: der Mangel an ausreichenden und zudem guten Arbeitsplätzen. Die Arbeitsmarktstatistik gibt uns recht. Die Zahl der prekären Arbeitsplätze - Leiharbeit, Minijobs und Befristungen - nimmt immer mehr zu; dieser Entwicklung muss ein Riegel vorgeschoben werden. Noch immer wird Millionen Menschen ein gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Hier liegt viel Potenzial brach, das wegen einer falschen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ungenutzt bleibt. Das betrifft insbesondere Ältere, Frauen, Menschen mit Behinderung und Migrantinnen und Migranten. In der Gruppe der über 55- bis 65-Jährigen zählt die Arbeitsmarktstatistik fast eine halbe Million Arbeitslose. Unter den circa 9 Millionen Menschen, die sich laut dem Statistischen Bundesamt in Deutschland Arbeit oder mehr Arbeit wünschen, sind überproportional viele Frauen. Bei ihnen ist der Wunsch nach Mehrarbeit stärker ausgeprägt als bei den Männern. Entgegen dem allgemeinen Trend steigt die Arbeitslosigkeit von schwerbehinderten Menschen. Ein weiteres Problem ist die hohe Zahl von Langzeiterwerbslosen; ihre Zahl liegt bei etwa 900 000. Ferner werden Hunderttausende Migrantinnen und Migranten in Deutschland vom Erwerbssystem ausgegrenzt - etwa durch die Nichtanerkennung von im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüssen. Was ist also notwendig? Statt einen Fachkräftemangel zu beklagen, gilt es, die Hindernisse abzubauen, die heute Millionen Menschen einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt verwehren. Frauen ist eine gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben zu ermöglichen, indem mehr reguläre Arbeitsplätze statt ungesicherter Mini- und Teilzeitjobs geschaffen werden. Die Entgeltgleichheit muss durchgesetzt und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufgebrochen werden. Für ältere Menschen sind die Beschäftigungsbedingungen zu verbessern. Spezifische Qualifizierungsprogramme sind auszubauen, denn Ältere werden seltener qualifiziert und weitergebildet. Der Kündigungsschutz ist insbesondere für diese Gruppe zu verbessern. Gleiches gilt für den Arbeits- und Gesundheitsschutz, um es Älteren zu ermöglichen, länger ohne besondere Belastungen am Erwerbsleben teilzuhaben. Um Langzeiterwerbslosen mit einer aktiven Beschäftigungspolitik Chancen zu erschließen, ist das sogenannte Sparpaket zurückzunehmen. Verglichen mit dem Vorjahr werden derzeit nur noch halb so viele Weiterbildungsmaßnahmen genehmigt. Das ist nicht hinnehmbar. Arbeitsmarktpolitik muss nachhaltig finanziert werden. Für Menschen mit Behinderungen ist wichtig, dass in den Unternehmen endlich die gesetzlich festgeschriebene Beschäftigungsquote erfüllt wird. Barrierefreie Arbeitsstätten sind stärker zu fördern. Migrantinnen und Migranten müssen einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, unabhängig von der "ökonomischen Nützlichkeit". Notwendig ist dafür, dass die im Ausland erworbenen Qualifikationen leichter anerkannt werden können. Es muss einen Rechtsanspruch auf die Anerkennung von Berufs- und Schulabschlüssen geben. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf sieht jedoch keinen Rechtsanspruch auf Anerkennung vor. Zudem sollten Migrantinnen und Migranten vor und während des Anerkennungsverfahrens begleitet und beraten werden. Sie bleiben im Regen stehen, wenn sie einen Beruf erlernt haben, der nicht bundeseinheitlich geregelt ist. Dann müssen sie sich mit 120 Landesgesetzen auseinandersetzen. Die Bundesregierung tut nichts, um die drängenden Fragen des Arbeitsmarktes anzugehen. Schlimmer: Sie sorgt mit ihrem Sparkurs in der Arbeitsmarktpolitik dafür, dass Menschen Chancen für eine gute Beschäftigung verbaut werden. Das können und werden wir nicht hinnehmen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anfang April hat Bundesarbeitsministerin von der Leyen den Arbeitsmarktfachleuten der Koalitionsfraktionen die wichtigsten Handlungsschwerpunkte ihres Ministeriums für das laufende Jahr vorgestellt. An erster Stelle steht dabei das Thema Fachkräftesicherung. Und das überrascht doch sehr, denn es ist weit und breit nichts davon zu merken, dass der wachsende Fachkräftebedarf bei den Aktivitäten der Bundesregierung irgendeine Rolle spielt. Im Gegenteil, still ruht der See. Sie verlassen sich darauf, dass die anziehende Konjunktur die Sache schon regelt, und streichen rigoros bei der Arbeitsförderung. Und damit begehen Sie einen kapitalen Fehler, der sich schwer rächen wird. Alle Experten schreiben es Ihnen ins Stammbuch: Jetzt ist die Zeit, um in Qualifizierung zu investieren, damit auch Langzeitarbeitslose von der wirtschaftlichen Erholung profitieren. Nur so kann die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt anhalten. Bleiben Sie aber bei Ihrem Spardiktat, dann provozieren Sie die Gefahr eines Fachkräftemangels bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Das darf auf keinen Fall geschehen. Darum appelliere ich an die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen: Nehmen Sie die Kürzungen bei der Arbeitsförderung zurück! Dasselbe gilt für Ihre Pläne für die Bundesagentur. Auch wenn Sie es stur leugnen: Sie treiben die Bundesagentur in die Schuldenfalle. Auch das wird auf die aktive Arbeitsmarktpolitik zurückschlagen und die Chancen derer verringern, die wir eigentlich stärken müssten: Geringqualifizierte, Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderungen, Ältere und Frauen. Ihre Potenziale werden im Moment nicht genutzt. Wir werden sie aber brauchen, wenn der Bedarf an Fachkräften demografisch bedingt weiter und weiter steigen wird. Wenn Sie meine Argumente schon nicht überzeugen, dann vielleicht Zahlen: Schon heute entgehen dem Mittelstand durch den Fachkräftemangel Umsätze von 30 Milliarden Euro im Jahr, Tendenz steigend. Die Alarmglocken müssten bei dieser Regierung aber auch läuten, wenn sie präsentiert bekommt, dass in Deutschland im vergangenen Jahr 320 000 junge Menschen in unsinnigen Warteschleifen gelandet sind statt in einer betrieblichen Berufsausbildung. Diese jungen Leute werden uns später als Fachkräfte fehlen. Das ist fahrlässig, teuer und erfordert ein Umsteuern, damit kein Kind mehr die Schule ohne Abschluss verlässt und wirklich alle in eine Ausbildung münden. Doch auch hier ist keine Anstrengung bei der Bundesregierung zu erkennen. Nur im Schneckentempo geht es auch bei der besseren Anerkennung von Abschlüssen voran, die im Ausland erworben wurden. Nach Jahren der Ankündigung liegt nun endlich ein Gesetzentwurf vor. Aber das Ziel des Gesetzes, die Chancen von Menschen mit ausländischen Qualifikationen auf Integration in den deutschen Arbeitsmarkt zu verbessern, ist nicht ausreichend unterlegt. Es fällt damit hinter die Eckpunkte der Bundesregierung von 2009 zurück. Ob auf dieser Grundlage materielle Verbesserungen für die erreicht werden, die bisher am deutschen Bewilligungsdschungel gescheitert sind, muss bezweifelt werden. Zu befürchten ist, dass sich auch weiterhin Ärztinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Pizzafahrer durchschlagen müssen, weil ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse hier nicht anerkannt werden. Aber selbst wenn es gelänge, bei der Ausbildung, der Qualifizierung und bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen deutliche Fortschritte zu erzielen - selbst dann würde das nicht genügen, um den wachsenden Fachkräftebedarf zu decken. Hierzu - und das haben uns die Expertinnen und Experten der zum Thema durchgeführten Anhörung bestätigt - können wir auf Zuwanderung nicht verzichten. Aber auch bei dieser Frage ist die Bundesregierung in einen Totstellreflex verfallen. Sie hat das Thema "Schaffung eines transparenten Zuwanderungssystems" im Koalitionsausschuss versenkt und macht gar keine Anstalten, es wieder auf die Tagesordnung zu hieven. Das ist hasenfüßig. Die Bevölkerung hingegen ist - mal wieder - viel weiter als die Koalition. 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger befürworten die stärkere Zuwanderung von Fachkräften; das hat eine repräsentative Umfrage des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration gezeigt. Wir Grünen haben Ihnen einen Antrag mit einer umfassenden Strategie zur Bewältigung des wachsenden Fachkräftebedarfs vorgelegt. Es reicht nicht - und auch das bestätigten die Fachleute -, punktuell anzusetzen. Einheimische und Einwanderer dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wir brauchen sie alle. Bildung und Chancen für Kinder und junge Erwachsene, Weiterbildung für Zukunftsberufe, Erhöhung der Erwerbsbeteiligung, Anerkennung ausländischer Qualifikationen und ein transparentes Zuwanderungssystem - das sind die fünf Handlungsstränge, die erst zusammen eine gute und Erfolg versprechende Strategie ergeben. Nehmen Sie sie gemeinsam mit uns in Angriff und stimmen Sie unserem Antrag zu. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Dieter Jasper (CDU/CSU): Mit dem heutigen Gesetzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition eine normative Voraussetzung, damit aus europäischer Sicht in Deutschland ein subventionierter Steinkohlenbergbau bis ins Jahr 2018 ermöglicht wird und sichergestellt werden kann. Inhaltlich bedeutet dieser Gesetzentwurf, dass die sogenannte Revisionsklausel ersatzlos gestrichen wird. Zum Hintergrund: Im Jahr 2007 wurde eine kohlepolitische Verständigung getroffen, in der die Bundesregierung, das Land NRW, das Saarland, die RAG und die IG BCE den sozialverträglichen und geordneten Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau bis zum Jahr 2018 regelten. Diese Vereinbarung beinhaltete auch die sogenannte Revisionsklausel, die festlegte, dass dieser Beschluss im Jahr 2012 noch einmal überprüft werden sollte. Völlig überraschend forderte die Europäische Kommission im letzten Jahr einen früheren Ausstieg aus der Kohleförderung bis zum Jahr 2014. Dies hätte für Deutschland und gerade auch für meine Heimatregion dramatische wirtschaftliche und soziale Konsequenzen gehabt. In Ibbenbüren im Tecklenburger Land liegt eine der letzten Steinkohlezechen in Deutschland. Hier wird schon seit langer Zeit hochwertige Anthrazitkohle gefördert. Diese wird zu einem großen Teil im direkt anliegenden hocheffizienten Kohlekraftwerk verfeuert und zum anderen Teil für den regionalen Wärmemarkt verwendet. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Bergbaus für die Stadt Ibbenbüren und die umliegenden Bergbaugemeinden Mettingen, Recke, Hopsten, Hörstel und Westerkappeln ist enorm. In der Bevölkerung und über alle gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg herrscht eine hohe Akzeptanz. Im Bergbau sind derzeit direkt über 2 300 Menschen beschäftigt, im Bereich der Zulieferbetriebe sind im Laufe der Zeit mehrere tausend Arbeitsplätze entstanden. Auch im Bereich der Ausbildung leistet die Zeche ganz hervorragende und unverzichtbare Arbeit. Als der Vorschlag der EU-Kommission bekannt wurde, führte dies natürlich zu großer Unruhe und Irritation in unserer Region. Ein Ausstieg aus dem Steinkohlenbergbau bereits im Jahr 2014 hätte dazu geführt, dass es zu betriebsbedingten Kündigungen gekommen wäre und auch sonst massive wirtschaftliche und soziale Probleme entstanden wären. In dieser Situation habe ich mich unmittelbar an unsere Bundeskanzlerin gewendet und um Hilfe und Unterstützung gebeten. Unter Einsatz aller Kräfte und durch tatkräftige Unterstützung des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Hintze konnte erreicht werden, dass der Beschluss der EU revidiert wurde. Die Unterstützung der heimischen Steinkohlenförderung bis ins Jahr 2018 wurde unter bestimmten Bedingungen auf europäischer Ebene akzeptiert. Eine dieser Bedingungen für die notwendige europäische Regelung war, dass die Revisionsklausel aus dem nationalen Gesetz gestrichen und der Ausstieg somit unumkehrbar gemacht wird. Dieser Forderung wird mit dem heutigen Gesetzentwurf Genüge getan. Aus europäischer Sicht darf es nach 2018 keinen subventionierten Steinkohlenbergbau in Deutschland mehr geben, so dass es auch keiner weiteren Prüfung im Jahr 2012 bedarf. Hier handelt die christlich-liberale Regierungskoalition konsequent und richtig, da es an vorderster Stelle darum geht, die auf europäischer Ebene gefundene Einigung nicht zu gefährden, die nur unter größten Mühen gefunden werden konnte. Für mich persönlich stellt sich die Situation aber etwas komplexer dar: Die Revisionsklausel ist juristisch überflüssig geworden und ihre Streichung dient dem Zweck der Bestandssicherung auch des Steinkohlenbergbaus bei uns im Tecklenburger Land. Politisch gehört sie aber meines Erachtens auf die Tagesordnung der zukünftigen Energiepolitik, und deshalb kann ich einer Streichung nicht zustimmen. Ich möchte ein deutliches Signal setzen, dass die Zukunftschancen der Steinkohle nicht nur jetzt, sondern auch nach 2018 erkannt und genutzt werden müssen. Dazu müssen wir die weitere Entwicklung im Fokus haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die heimische Steinkohle weiterhin als nationale Energiereserve benötigen und somit den Zugang zu den Lagerstätten erhalten sollten. In einem zukunftsorientierten Energiemix brauchen wir neben den regenerativen Energien auch hochmoderne und effiziente Kohlekraftwerke, in denen dann auch die heimische Steinkohle verstromt werden kann. Gerade jetzt, wo alle möglichen Energieformen auf dem Prüfstand stehen und wir uns fragen müssen, wie eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für unser Land zukünftig gestaltet werden kann, dürfen wir uns diese Möglichkeit eines heimischen Energieträgers nicht verbauen. Grundsätzlich ist es richtig, die jetzt gefundene europäische Vereinbarung endgültig zu ratifizieren. Aber wir dürfen die weitere wirtschaftliche Entwicklung nicht aus den Augen verlieren und müssen uns bewusst sein, dass wir in unserem rohstoffarmen Land mit der Steinkohle einen der ganz wenigen grundlastfähigen Energieträger verfügbar haben. Diesen sollten wir nicht vorschnell aufgeben. Thomas Bareiß (CDU/CSU): Das Gesetz, über das wir heute abstimmen, zeigt deutlich, wie erfolgreich die Bundesregierung die Interessen der deutschen Steinkohlenregionen, der Beschäftigten und damit auch unsere wirtschaftspolitischen Interessen in Brüssel vertritt. Trotz aller Kritik an der Streichung der Revisionsklausel begrüße ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung in Brüssel durchgesetzt hat, dass wie geplant bis 2018 Steinkohle subventioniert werden kann. Auch wenn der Preis dafür die Aufgabe der Revisionsklausel ist, ist dieser Preis geringer als ein vorzeitiger Ausstieg aus der Kohlensubvention im Jahre 2014, der auf Kosten der vielen Tausenden Kohlenarbeiter und deren Familie gegangen wäre. Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalition darauf geeinigt, die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Dieser Ausstiegsplan ist sozial ausgereift und zeigt die Verlässlichkeit unserer Regierungsarbeit. Bereits im Jahr 2007, als das Steinkohlefinanzierungsgesetz von der Großen Koalition auf den Weg gebracht wurde, war allerdings allen Beteiligten klar, dass für den Zeitraum 2011 bis 2018 keine beihilferechtliche Genehmigung der EU vorlag. Mit einer Entscheidung der EU zum Ende des Jahres 2010 musste daher gerechnet werden. Diese sah nun in Form des aktuellen EU-Kommissionsvorschlags ein Auslaufen der deutschen Subventionierung von Steinkohle bereits im Jahr 2014 vor. Die Bundesregierung setzte sich daraufhin massiv in Brüssel für eine Befristung der Subventionierung von Steinkohle bis 2018 ein. Trotz aller Widerstände in Brüssel konnte dies durchgesetzt werden. An dieser Stelle möchte ich nochmal ausdrücklich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Wirtschaftminister Rainer Brüderle für ihren starken Einsatz auf europäischer Ebene danken. Ein vorzeitiger Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungen und betriebsbedingte Kündigungen von mehreren Tausend Bergleuten zur Folge. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie praktische und technische Probleme, die Bergwerke früher zu schließen. Uns war es wichtig, dass Entscheidungen erst getroffen werden, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Die Bundesregierung konnte auf europäischer Ebene klarmachen, dass ein für 2014 vorgesehener Ausstieg aus den staatlichen Subventionen für den Steinkohlenbergbau nicht wirklich günstiger sei als ein geordneter Ausstieg aus den Beihilfen im Jahre 2018. Der Preis dafür war lediglich das Streichen der Revisionsklausel aus dem Gesetz von 2007. Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das Thema Steinkohlenförderung im Plenum. Schließlich ist es auch ein sehr emotionales Thema. Dies hat verschiedene Gründe, die auch dazu geführt haben, dass wir uns so stark wie nur möglich für das Ende der Steinkohlensubventionen 2018 auf europäischer Ebene eingesetzt haben. Die große Bedeutung von Kohle ist zum einen dem hohen Anteil am derzeitigen Energiemix und zum anderen der langjährigen Tradition in Deutschland und ihrer Bedeutung als langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet geschuldet. Immerhin liegt Deutschland bei der Steinkohlenförderung hinter Polen auf Platz zwei in Europa. In unserem deutschen Energiemix hat die Steinkohle einen Anteil von rund 19 Prozent an der Bruttostromerzeugung in Deutschland. Gemeinsam mit der Braunkohle beträgt der Anteil über 40 Prozent. Insbesondere die Menschen in der Region haben eine besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem historische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeutendsten deutschen und europäischen Industrieregionen. Diese Entwicklung wäre ohne den Steinkohlenabbau nie möglich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen. Das Gesetz von 2007 war somit eine Zäsur. Mit dem Gesetz wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte Subventionsabbau seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Deutschland ist damit das einzige Land, das ein schlüssiges, sozialverträgliches und wirtschaftliches Gesamtkonzept zur Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung hat. Der deutsche Steinkohlenbergbau ist seit vielen Jahren aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungen international nicht mehr wettbewerbsfähig. Milliardenschwere Subventionen - fast 2 Milliarden Euro pro Jahr in den letzten Jahren - waren bisher notwendig, damit der deutsche Steinkohlenbergbau wettbewerbsfähig bleibt. Bei der Versorgung der deutschen Wirtschaft aber überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies wurde auch im Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 aufgegriffen. Das soll nicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sondern dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit stehen muss - was übrigens für alle Energieträger gilt. Die Streichung der Revisionsklausel, die wir jetzt beschließen wollen, ist eine europapolitische Notwendigkeit, um den Schutz der Arbeitnehmer in dieser Branche zu gewährleisten. Schließlich ist eine der wichtigsten Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Es wurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf die sich die Region und die Menschen dort verlassen. Vertrauensschutz und Planungssicherheit konnten in den harten Verhandlungen mit Brüssel sichergestellt werden. Im Sinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik wurde an einer Förderung bis 2018 festgehalten, was ich persönlich für richtig halte. Wegen der genannten Gründe halte ich es für sinnvoll und lobenswert, dass die Bundesregierung den im Jahr 2007 beschlossenen Ausstieg aus der Steinkohlenförderung bis 2018 in Brüssel durchgesetzt hat. Auch wenn der politische Preis dafür die Streichung der Revisionsklausel ist, haben wir unterm Strich einen wichtigen Erfolg für unsere heimische Kohlenwirtschaft errungen. Denn angesichts der Größe der Branche braucht es die von uns gezeigte Verlässlichkeit, wenn man den betroffenen Menschen eine vernünftige Perspektive bieten will, die nicht zulasten einer traditionsreichen Branche und ihrer Arbeiter geht. Deshalb plädiere ich für die Zustimmung zum Gesetz über die Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes. Rolf Hempelmann (SPD): Das Steinkohlefinanzierungsgesetz, das mit dem vorliegenden Gesetz geändert werden soll, geht auf den Steinkohlenkompromiss aus dem Jahre 2007 zurück, der sorgsam austariert eine sozialverträgliche und geordnete Beendigung des subventionierten Steinkohlenbergbaus in Deutschland bis 2018 regelte. Damals war bekannt, dass die Steinkohlensubventionen unter dem Vorbehalt der beihilferechtlichen Genehmigung durch die EU stehen, die nach 2010 einer Anschlussregelung bedurfte. Offenbar ging die Bundesregierung davon aus, dass die deutsche Regelung für den Strukturwandel die Unterstützung der EU bekommen und eine entsprechende Genehmigung quasi automatisch erteilt werden würde. Nun haben wir im vergangenen Jahr erlebt, wie diese Erwartungen enttäuscht wurden. Nach dem Vorschlag der Europäischen Kommission sollte der subventionierte Steinkohlenbergbau 2014 beendet werden. Das wäre ein harter Schlag für die betroffenen Regionen gewesen. Alle Prämissen für einen geordneten Strukturwandel wären über den Haufen geworfen worden. Beim Kommissionsvorschlag blieb außen vor, dass Tausenden Bergleuten betriebsbedingt gekündigt worden wäre. Außerdem wäre es zu massiven Arbeitsplatzverlusten in vom Bergbau abhängigen Bereichen gekommen. Auch der Finanzierungsfahrplan der RAG-Stiftung für die Ewigkeitslasten wäre gefährdet gewesen. Schließlich spielte offensichtlich die in einer Studie festgestellte Klimaneutralität der Steinkohlenförderung keine Rolle. Mit Beendigung der Steinkohlenförderung in Deutschland wird nicht automatisch die fossile Stromerzeugung reduziert. Vielmehr wird die deutsche Steinkohle dann durch Importkohle aus Drittländern ersetzt werden. Nach massiven Protesten unter anderem des Europäischen Parlaments ist mit dem Ratsbeschluss vom 10. Dezember 2010 die weitere Subventionierung des Steinkohlenbergbaus bis 2018 genehmigt worden. Festzuhalten ist jedoch: Im gesamten Verfahren auf europäischer Ebene hat die Bundesregierung widersprüchliche Signale nach Brüssel gesandt. Die Bundeskanzlerin war mehr als ein Jahr untätig. Wirtschaftsminister Brüderle hatte offenbar sogar mit einer verkürzten Perspektive für die deutsche Kohle geliebäugelt und war anscheinend auch bereit, die damit verbundenen betriebsbedingten Kündigungen billigend in Kauf zu nehmen. Wie anders ist es zu interpretieren, dass er lediglich einen Prüfvorbehalt einlegte, während die Wirtschaftsminister der ebenfalls betroffenen Bergbauländer Spanien und Rumänien gegen die Verkürzungspläne der Kommission Widerspruch einlegten? Jetzt kann der Steinkohlenbergbau bis 2018 weiter subventioniert werden, jedoch ist dafür die Revisionsklausel geopfert worden, die Klausel, nach der die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis Mitte 2012 einen Bericht vorlegen sollte. Auf Grundlage dieses Berichts sollte dann der Deutsche Bundestag entscheiden, ob weiterhin eine Förderung der Steinkohle erfolgen soll. Dabei sollten drei Gesichtspunkte eine Rolle spielen: Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Energieversorgung und andere energiepolitische Ziele. Jetzt - und nicht 2012 - und ohne Bericht der Bundesregierung entscheiden wir. Dabei erörtern wir nicht die sich fortlaufend verändernde Situation auf dem Weltenergiemarkt und die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir nehmen uns die Möglichkeit einer umfassenden Bewertung des Steinkohlenweltmarktes. Vor dem Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung auf dem Weltmarkt und der Verknappung, der Verteuerung und dem aufkommenden Protektionismus einzelner Länder bei immer mehr energetischen und nichtenergetischen Rohstoffen ist das leichtsinnig. Wie die parlamentarische Anhörung ergeben hat, kann insbesondere für die in Deutschland abgebaute Kokskohle nach 2018 eine Perspektive für einen subventionsfreien Abbau nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Der Marktpreis für Kokskohle bewegt sich nicht erst seit der Hochwasserkatastrophe in Queensland auf hohem Niveau. In diesem Marktsegment ist es vorstellbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit erreicht wird und Kokskohle dauerhaft konkurrenzfähig angeboten werden könnte. Es geht in dieser Diskussion aber auch um hochqualifizierte Arbeitsplätze im Maschinen- und Anlagenbau. Der Bergbau ist ein Erprobungsfeld für weltweit gefragte Technologien. Der deutsche Maschinen- und Anlagenbau hat hier eine Spitzenstellung in der Welt. Um diese Spitzenstellung zu erhalten und langfristig diese Arbeitsplätze in Deutschland zu halten, muss jetzt über Perspektiven nachgedacht werden. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Energiedebatte müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir über kurz oder lang auf den fossilen Energieträger Kohle nicht verzichten können, um unter anderem Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Hinzu kommt dann die fortbestehende rohstoffliche Bedeutung insbesondere für die Stahlindustrie und weitere industrielle Spezialbedarfe. Betrachtet man dies alles, ist es besonders leichtsinnig, dass nach der derzeitigen Rechtslage Steinkohlenbergwerke, die Stilllegungsbeihilfen nach Art. 3 des Ratsbeschlusses seit Beginn 2011 erhalten, diese Beihilfen komplett zurückzahlen müssen, wenn sie nach 2018 subventionsfrei betrieben werden. Diese Rückzahlungsverpflichtung behindert jegliche Option auf subven-tionsfreie Weiterführung von Bergwerken. Der europäischen Ebene ging es bei ihrer Entscheidung um ein klares Enddatum für den subventionierten Steinkohlenbergbau, ein subventionsfreier Bergbau sollte dabei aber nie ausgeschlossen werden. Hier hätte die Bundesregierung im Europäischen Rat besser aufpassen müssen. Jetzt geht es darum, den von Brüderle & Co. angerichteten Schaden nachträglich zu reparieren. Dazu haben wir im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mit unserem Entschließungsantrag einen Vorschlag gemacht. Die Bundesregierung muss mit der Europäischen Kommission und mit dem Europäischen Rat Gespräche führen, um Wege zu finden, einen subventionsfreien Steinkohlenbergbau nach 2018 zu ermöglichen. Außerdem muss geprüft werden, wie das Regime der Steinkohlensubventionierung bis 2018 ausgestaltet werden kann, um eine subventionsfreie Weiterführung von Steinkohlenbergwerken nicht nur nicht zu behindern, sondern zu unterstützen. Das muss zeitnah erfolgen, denn andernfalls könnte der Zugang zu den Lagerstätten nicht offen gehalten werden. Klaus Breil (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf endet ein Jahrzehnte andauerndes Kapitel deutscher Industriegeschichte: Im Jahr 2018 wird der subventionierte Steinkohlenbergbau in Deutschland nun verbindlich und mit Zustimmung der EU auslaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt werden die deutschen Steuerzahler jedoch über 140 Milliarden Euro Subventionen für die Steinkohlenförderung aufgebracht haben. Seit mehr als 20 Jahren hat sich die FDP im Deutschen Bundestag deshalb für einen geordneten und sozialverträglichen Ausstieg aus dieser Subventionspolitik eingesetzt. Die Weichen hierfür stellte der Ende 2007 in Verhandlungen zwischen dem Bund, den betroffenen Ländern Nordrhein-Westfalen und Saarland, der IG BCE sowie der RAG AG errungene Kompromiss im Steinkohlefinanzierungsgesetz. Da staatliche Beihilfen für den Steinkohlenbergbau unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die Europäische Kommission stehen, waren mit dem Ablauf der bisherigen Regelungen zum 31. Dezember 2010 erneut Gespräche auf europäischer Ebene erforderlich. Vor allem dem beharrlichen Einsatz der Bundesregierung - und das möchte ich an dieser Stelle besonders betonen - für den 2007 gefundenen Konsens ist es zu verdanken, dass der erfolgreich begonnene Veränderungsprozess in den Bergbauregionen fortgeführt werden kann und dass ein verlässlicher Fahrplan den betroffenen Menschen auch weiterhin die dafür erforderliche Orientierung bietet. Nun mag mancher kritisieren, dass eine Annäherung der Positionen in den Verhandlungen mit der Europäischen Union nur unter Verzicht auf die bisher im Gesetz enthaltene Revisionsklausel möglich war. Hier stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, ob eine Förderung von Steinkohle in unseren Regionen jemals zu wettbewerbsfähigen Bedingungen möglich wäre. Auch wenn zuletzt durch Verknappungen des Angebots - unter anderem durch die Flutkatastrophe in Australien - die Weltmarktpreise für Kraftwerkskohle deutlich bis in den Bereich von 100 Euro je Tonne gestiegen sind, liegt dieses Preisniveau noch weitaus niedriger als die Förderkosten für deutsche Steinkohle. Rund 90 Prozent der in Deutschland im vergangenen Jahr geförderten Steinkohlenmenge von circa 13 Millionen Tonnen entfielen auf Kraftwerkskohle. Daher ist deren Preisentwicklung für die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit maßgebend, nicht der isolierte Blick auf den zeitweilig stärkeren Preisanstieg bei Kokskohle. Sollte es zudem am Weltmarkt zu einem dauerhaft hohen Preisniveau bei der Steinkohle kommen - was bei weiter zunehmender Nachfrage insbesondere aus Asien möglich ist -, wird dies einen deutlichen Anstieg der Fördermengen in anderen Regionen der Erde nach sich ziehen. Die wachsende Rentabilität der Förderung führt zwangsweise zu einer Anpassung auf der Angebotsseite. Deutschland könnte angesichts seines geringen Anteils von unter 3 Prozent der globalen Vorkommen und angesichts der bestehenden erheblichen geologischen Nachteile mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Hinzu kommt, dass auch die Kosten für den Rückbau und die Beseitigung unvermeidlich auftretender Schäden erwirtschaftet werden müssen. Auch insofern haben die deutschen Lagerstätten in dicht besiedeltem Gebiet erhebliche Nachteile gegenüber dem internationalen Wettbewerb. Weder in Bezug auf die Versorgungssicherheit noch auf die Entwicklung der Weltmarktpreise wird somit der Steinkohlenbergbau in unserem Land jemals einen relevanten Einfluss nehmen können. Daher stellt für uns die Streichung der Revisionsklausel eine tragfähige Lösung dar. Auf einen weiteren Punkt möchte ich kurz eingehen. Nicht erst in jüngster Zeit ist der Ruf nach dem dauerhaften Erhalt eines Referenzbergbaus zu vernehmen. Begründet wird dieser häufig mit dadurch verbesserten Absatzchancen der heimischen Maschinen- und Anlagenbauer. Hierauf kann es nur eine Antwort geben: Die beste Referenz ist der Beweis des leistungsfähigen und störungsfreien Betriebs deutscher Qualitätsprodukte in den weltweit bedeutendsten Fördergebieten. Nur diese Argumente erhöhen die Marktchancen für "Made in Germany" nachhaltig. Zum Antrag der SPD möchte ich die Stellungnahme des Gesamtverbandes Steinkohle e. V. zur öffentlichen Anhörung am 11. April 2011 zitieren: "Die deutsche Steinkohle ist aus heutiger Sicht nicht in der Lage, kurz- und mittelfristig Kraftwerkskohle wettbewerbsfähig anzubieten." Das beschreibt, wie auch das vorhin Gesagte, eigentlich alles zu der Idee, subventionsfrei weiter Steinkohle abbauen zu wollen. Was den vorliegenden Gesetzentwurf betrifft, möchte ich gleichwohl um Ihre Zustimmung werben. Nur wenn wir es gemeinsam schaffen, uns von einer Politik der Subventionsverteilung zu lösen, werden wir die finanziellen Spielräume für die Beantwortung drängender Zukunftsfragen gewinnen - sei es für die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte oder für die Beschleunigung der Energiewende in unserem Landes. Wir haben durch eine verlässliche Positionierung gegenüber der EU erreicht, dass die Steinkohlensubventionen bis 2018 geordnet abgebaut werden können. Ein ständiges Rumschrauben an den Modalitäten wird niemandem helfen - schon gar nicht den betroffenen Mitarbeitern. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mit der heutigen Abstimmung soll der Steinkohlenbergbau in Deutschland definitiv zu Grabe getragen werden. Wir stehen aufgrund der Fehler der Bundesregierung jetzt vor dem Dilemma, dass wir diese Gesetzesänderung nicht ablehnen können, weil sonst die Förderung der heimischen Steinkohle schon 2014 beendet werden würde. Die große Koalition hatte es versäumt, den "Kohlekompromiss" von 2006 auf der europäischen Ebene bestandsfest zu machen. Prompt hatte die EU-Kommission die Beihilferegelung im letzten Jahr gänzlich infrage gestellt. Nur den Protesten der Bergleute und der Gewerkschaften ist es zu verdanken, dass der Bergbau jetzt wenigstens bis 2018 weiterlaufen kann. Doch die Genehmigung der Beihilfen wurde mit dem Deal erkauft, dass die Revisionsklausel aus dem deutschen Gesetz gestrichen werden soll. So weit, so schlecht. Doch sieht man genau hin, geht der Eingriff mit der heutigen Gesetzesänderung noch wesentlich weiter. In der Anhörung des Wirtschaftsausschusses in dieser Woche wurde sehr deutlich, dass Ziel der EU-Kommission definitiv die endgültige Stilllegung aller Zechen in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten ist. Selbst wenn eine Zeche im Jahre 2018 in der Lage wäre, ohne weitere Subventionen Steinkohle zu fördern, wird ihr der Garaus gemacht. Dann nämlich, so die EU-Verordnung und die Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes, muss die Zeche alle Subventionen, die sie ab 2011 erhalten haben wird, wieder zurückzahlen. Das ist wirtschaftlich auf keinen Fall zu schaffen. Das heißt, die Zechen müssen dann so oder so schließen, ob sie 2018 rentabel sind oder nicht. Das ist ökonomischer und arbeitsmarktpolitischer Unsinn. Selbst wenn nach 2018 kein Bergwerk ohne staatliche Unterstützung weiterlaufen könnte, halten wir es für das Mindeste, über Technologieförderung wenigstens eine Grube für die Sicherung des technologischen Know-hows offen zu halten. Die Folgen der Zechenschließungen betreffen nicht nur die Beschäftigten in den Bergwerken. An der Kohleförderung hängt ein moderner Maschinen- und Anlagenbau. Allein die Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr als 15 000 Menschen in NRW. Nur mit dem Erhalt eines Referenzbergwerks können diese Arbeitsplätze in Deutschland erhalten werden. Mittelfristig kann die Kohle auch ein wichtiger Ersatzrohstoff für das zur Neige gehende Erdöl als Grundstoff der petrochemischen Industrie werden. Je nach der Entwicklung auf den Rohstoffmärkten werden wir eines Tages vielleicht noch heilfroh sein, wenn wir heute die heimischen technologischen Kompetenzen im Bergbau nicht völlig vernichten. Eine Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung ist kein Beitrag zum Klimaschutz, solange nicht gänzlich aus der Kohleverstromung ausgestiegen wird. Sie verlagert nur die Umweltkosten und Arbeitsplätze ins Ausland. Verstehen Sie uns nicht falsch - wir teilen das Nein zum Bau neuer Kohlekraftwerke. Kohle- und Atomkraftwerke blockieren den dringend notwendigen Umstieg auf erneuerbare Energien. Aber mit der Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung wird kein Kohlekraftwerk abgeschaltet, sondern nur die heimische Kohle durch Importkohle ersetzt. Die Entscheidung an diesem Punkt heißt deshalb nicht "Kohle? Ja oder Nein", sondern "aktive Industriepolitik oder Wirtschaftsliberalismus?". Wir treten für eine aktive Industriepolitik und für den Erhalt von Industriearbeitsplätzen durch einen sozial-ökologischen Umbau ein, nicht aber für eine Verbesserung der CO2-Bilanz durch die Vernichtung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der Industrie. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach den Beratungen in den Ausschüssen und der Anhörung zur Streichung der Revisionsklausel und der damit verbundenen Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes im Wirtschaftausschuss beraten wir heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Streichen der Revisionsklausel im Steinkohlefinanzierungsgesetz in zweiter und dritter Lesung. Grund dafür ist, dass sich im Jahr 2007 die damalige Große Koalition im Bund, die Länder, die RAG und die IG BCE auf eine Beendigung des subventionierten Steinkohlenbergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt hatten - mit der Vorgabe, dies aufgrund einer Revisionsklausel im Jahr 2012 noch einmal zu überprüfen. Dabei wurde es jedoch von der damaligen Großen Koalition im Bund und der damaligen schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern. Denn es gab vonseiten der EU-Kommission nur eine Zustimmung für ein Fortführen der Subventionen bis 2011. Rückblickend muss man sagen, dass dies eine arrogante Haltung der damaligen Bundes- und Landesregierungen war, die sich im Juli 2010 gerächt hat. Denn zu diesem Zeitpunkt machte die EU-Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates, die Steinkohlenbeihilfen bereits im Oktober 2014 einzustellen. Nur durch erheblichen politischen Druck und wahrscheinlich auch durch viele sachfremde Zugeständnisse in anderen Politikfeldern konnte Deutschland die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten doch noch bewegen, Steinkohlensubventionen bis 2018 statt bis 2014 zuzulassen. Deutschland musste aber zusichern, die Revisionsklausel im deutschen Steinkohlefinanzierungsgesetz zu streichen, damit der subventionierte Bergbau bis 2018 definitiv beendet wird. Denn bisher heißt es in § 1 Abs. 2 des Steinkohlefinanzierungsgesetzes, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 einen Bericht zuleitet, auf dessen Grundlage der Deutsche Bundestag unter Beachtung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, der Sicherung der Energieversorgung und der übrigen energiepolitischen Ziele prüft, ob der Steinkohlenbergbau weiter gefördert wird. Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf sieht eine Streichung genau dieses Absatzes vor. Dies ist ein richtiges, vernünftiges und auch absolut notwendiges Zeichen an Europa. Denn die Revisionsklausel war von Anfang an überflüssig und unsinnig. Sie hat verhindert, dass alle Beteiligten Planungssicherheit haben und sich langfristig auf das unvermeidliche Ende des Steinkohlenbergbaus einstellen konnten. Wir Grüne haben im letzten Jahr schon lange vor der Diskussion auf EU-Ebene hier im Bundestag entsprechende Anträge gestellt. Die Bundesregierung muss sich jedoch vorwerfen lassen, hier lange Zeit untätig gewesen zu sein. Schon viel früher hätte sie durch konkrete Gesetzesinitiativen Planungssicherheit für alle Beteiligten schaffen und zusätzliche, neue Bergschäden, Altlasten und Ewigkeitskosten vermeiden können. Doch die Bundesregierung brauchte anscheinend erst den Druck aus Brüssel, um durch den heute zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf den europäischen Partnern ernsthaft zu versichern, dass 2018 endlich Schluss ist. Ansonsten hätten Sie bereits im vergangenen Jahr unseren Anträgen "Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen" und "Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden" im Bundestag zugestimmt. Dass die Streichung der Revisionsklausel ein richtiges und glaubhaftes Instrument für das Ende des nicht-wettbewerbsfähigen Bergbaus in Deutschland ist, hat auch die Anhörung an diesem Montag im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages ergeben. Bis auf die Interessenvertreter des Steinkohlenbergbaus waren sich alle Fachleute und Wissenschaftler einig: Eine Überprüfung der Steinkohlensubventionen durch die sogenannte Revisionsklausel im Jahr 2012 ist überflüssig und nicht mit den EU-Vorgaben vereinbar. Es ist daher nur vernünftig, den Empfehlungen der Experten zu folgen und durch das Streichen der Revisionsklausel den anderen EU-Staaten ernsthaft zu belegen, dass Deutschland 2018 endgültig seine Beihilfen für den Steinkohlenbergbau beenden wird. Die Forderung der SPD und der Linken nach einer Fortführung der nichtwettbewerbsfähigen Steinkohlenförderung in Deutschland scheint momentan jedoch in eine ähnliche energiepolitische Sackgasse zu laufen, wie das bei Union und FDP vor wenigen Monaten in der Atomfrage der Fall war. Rot-Rot scheint auch insofern an alten Strukturen festhalten zu wollen, statt die Energiewende zu beschleunigen. Dies hat nicht zuletzt auch der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion im Wirtschaftsausschuss gezeigt. Darin wird offen gefordert, mit der EU-Kommission und dem EU-Rat Gespräche zu führen, um den Steinkohlenabbau auch weiterhin in Deutschland zu ermöglichen. Angesichts der bereits jetzt gezahlten Milliardensummen und angesichts der entstandenen Bergschäden und Ewigkeitskosten frage ich mich ernsthaft, ob dies gerade in der jetzigen energiepolitischen Diskussion der richtige Weg ist. Wollen Sie, liebe Sozialdemokraten, nach der Debatte im letzten Jahr gegen die EU-Kommission und die große Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten - wo wir doch fast schon bei einem Aus 2014 gelandet wären -, das Fass noch mal aufmachen? Das können Sie nicht ernst meinen. Kommen Sie endlich im 21. Jahrhundert an! Der Steinkohlenbergbau hat in Deutschland aus vielen Gründen keine Zukunft mehr. Statt viele Milliarden Euro in schwarzen Löchern zu versenken, brauchen wir das Geld viel dringender für den Strukturwandel in den betroffenen Regionen, um den Umbau der Energieversorgung weg von den fossilen Energieträgern hin zu den erneuerbaren Energien zu bewerkstelligen. Dabei steht die Sozialverträglichkeit der Beendigung des Steinkohlenbergbaus nicht infrage. Bis allerspätestens 2018 ist nun Zeit, alles sauber zu beenden und in der Zeit bis dahin, wo immer möglich, das Entstehen neuer Ewigkeitslasten zu vermeiden. Ohne Zweifel, mit der heutigen Entscheidung geht eine lange Bergbautradition an Saar und Ruhr zu Ende, die ganze Generationen und das Gesicht der Regionen geprägt und eine ganz entscheidende Rolle bei der Industrialisierung und dem Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Dass vielen Menschen der Abschied von Steinkohlenbergau auch aus emotionalen Gründen schwer fällt, kann ich gut verstehen. Man muss aber auch sehen: Der Bergbau hat auch zu beträchtlichen Altlasten und Ewigkeitskosten geführt. Auf ewig werden unsere Nachkommen an diese Zeit erinnert werden, denn sie werden ewig - solange Menschen im Ruhrgebiert und am Niederrhein leben werden - pumpen müssen, um durch den Bergbau abgesenkte Flächen zu entwässern. Hinzu kommt die Unterhaltung von Deichen, die Sanierung Tausender alter Schächte und vieles mehr. Auch Gebäudeschäden, Infrastrukturschäden und Umweltschäden werden uns und die nachfolgenden Generationen dauerhaft begleiten. Ob und wie viel unsere Nachkommen dafür zahlen müssen, ist ungeklärt. Denn ob die Einnahmen der RAG-Stiftung aus dem Verkauf der Evonik für alle Ewigkeitskosten ausreichen, ist längst nicht sicher. Vor diesen Hintergründen und in Anbetracht der Situation des Bundeshaushaltes unterstützen wir Grünen den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Streichung der Revisionsklausel im deutschen Steinkohlefinanzierungsgesetz. Wir hätten uns einen Ausstieg aus den Subventionen auch einige Jahre eher vorstellen können, wollen heute jedoch konstruktiv dazu beitragen, dass nun durch eine breite Mehrheit das Ende der Steinkohlen-subventionen 2018 endgültig besiegelt ist. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - Antrag: Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen - Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: - 10 Jahre UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" - Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten - 10 Jahre UN-Resolution 1325 - Frauen, Frieden, Sicherheit - Nationaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Ich mache nun seit vielen Jahren Entwicklungspolitik. Und in all den Jahren habe ich immer Gewalt gegen Frauen angeprangert. Ich habe immer die Bedeutung von Frauen in Konflikten und die Prävention betont. Und ich habe immer darauf gepocht, die gesellschaftliche Stellung von Frauen in den Entwicklungsländern zu verbessern. Das war und ist für mich nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern auch ein Herzensanliegen. Daher begrüße ich ausdrücklich die Sicherheitsratsresolution 1325, die die überaus wichtige Rolle von Frauen in Konflikten, deren Prävention und bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung von Konflikten anerkennt. Für mich als Entwicklungspolitikerin verbindet sich damit die Aufgabe, noch mehr die zentrale Rolle von Frauen für Sicherheit und Entwicklung in unseren Partnerländern zu betonen. Sie müssen sowohl in ihren Rechten als auch in ihrer sozialen Stellung gestärkt werden; denn nur so bekommen sie in Konfliktländern die gesellschaftliche Rolle, die ihnen zusteht. Daher begrüße ich ausdrücklich die diversen Strategien des BMZ, sei es der entwicklungspolitische Gender-Aktionsplan, der den Rahmen für unser entwicklungspolitisches Handeln vorgibt, oder sei es das Grundlagenpapier "Stärkung der Teilhabe von Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit", das Wege beschreibt, wie Frauen in ihrer Teilhabe gestärkt werden können. Wenn uns das Empowerment von Frauen - also ihre Befähigung, ihr Leben selbstbestimmt in die eigenen Hände zu nehmen - noch besser gelingt als bisher, wäre dies ein großer Beitrag der Entwicklungspolitik zur Erfüllung der Resolution 1325. Denn Frauen tragen bis heute in Konflikten, aber auch beim Wiederaufbau oftmals die Hauptlast, ohne dass sie über entsprechenden politischen Einfluss verfügen. Daher ist diese Resolution für mich ein Meilenstein, denn sie erkennt unmissverständlich an, dass Frauen ein Teil von Friedensprozessen sein müssen. Frauen in den Konfliktgebieten der Welt können sich auf diese Resolution berufen. Jetzt ist es an den Nationalstaaten, diese Resolution mit Leben zu füllen, und wir alle wissen, dass es daran mitunter noch gewaltig hapert. Anlässlich der Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1325 vor zehn Jahren liegen heute einige Anträge auf dem Tisch. Im SPD-Antrag finden sich viele wichtige und richtige Feststellungen, die ich ausdrücklich unterstütze. Auch die Fakten sind klar und eindeutig, soweit der Antrag mangelnde Fortschritte bei der Umsetzung - wohlgemerkt, weltweit - beklagt. In 51 Ländern ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen dokumentiert. Hier gibt es nichts zu beschönigen oder zu relativieren. Aber der Antrag fordert auch einen "nationalen Aktionsplan" zur Umsetzung der Resolution. Nun haben wir uns in der Fraktion mit diesem Thema lange und intensiv beschäftigt und die Argumente gegeneinander abgewogen. Im Ergebnis haben wir uns nach heutigem Kenntnisstand gegen einen Aktionsplan ausgesprochen. Denn ein solcher nationaler Aktionsplan würde gegenüber dem bestehenden deutschen Engagement keinen entscheidenden Mehrwert erzeugen. Bis heute konnte mich niemand überzeugen, worin der politische Mehrwert eines solchen Aktionsplans liegen könnte. Daher war diese Forderung auch nicht in unserem umfassenden Antrag vom 3. März 2010 "Internationaler Frauentag - Gleichstellung national und international durchsetzen" (Bundestagsdrucksache 17/901) enthalten. Ein Aktionsplan soll ja die Regierungen dazu anhalten, die Resolution umzusetzen und das Engagement nachprüfbar zu machen, insbesondere für das Parlament. Ich kann mir vorstellen, dass solche Aktionspläne in vielen Ländern dringend notwendig wären, in denen es gravierende Defizite hinsichtlich der Umsetzung der Resolution 1325 gibt. Zumindest fallen mir mehr Länder ein als die bislang rund zwei Dutzend, die einen nationalen Aktionsplan verabschiedet haben. Doch Sie stimmen mir sicherlich zu, dass die Bundesregierung die Ziele und Verpflichtungen aus der Resolution 1325 sehr ernst nimmt: Deutschland gehört der "Freundesgruppe der Resolution 1325" an, Deutschland nimmt an den jährlichen offenen Debatten im Sicherheitsrat teil, und Deutschland setzt sich für die Berücksichtigung der in der Resolution enthaltenen Forderungen in allen VN-Gremien ein. Die nationale Umsetzung der Resolution erfolgt durch die verschiedenen beteiligten Ressorts. Dazu wurde eigens eine Ressortarbeitsgruppe 1325 eingerichtet. Und seit 2004 berichtet die Bundesregierung dem Bundestag über die Umsetzung der Resolution 1325. Aber auch im europäischen Kontext engagiert sich die Bundesregierung: Die EU wendet die Resolution 1325 im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an, zum Beispiel in Form von Richtlinien für die Umsetzung der Resolution in europäischen Friedenseinsätzen oder durch Ratsschlussfolgerungen zur Berücksichtigung von Gleichstellungsaspekten im Krisenmanagement. Daher kann ich beim besten Willen keinen Mehrwert durch einen eigenen nationalen Aktionsplan erkennen. Zu beiden Zielen eines solchen nationalen Aktionsplans - der Umsetzung der Resolution und der Überprüfbarkeit der Ergebnisse - würde ein Aktionsplan keinen Mehrwert erbringen. Somit wäre ein unter den Bundesressorts abgestimmter Aktionsplan allenfalls von symbolischem Wert. Doch die Wirkung einer solchen Symbolik ist sehr begrenzt. Ich bin der Meinung, dass die erheblichen Ressourcen, die ein solches Dokument in unseren Ministerien binden würde, besser genutzt werden können. Denn: Symbolik beendet nicht die Massenvergewaltigungen im Kongo, im Tschad oder Sudan, Symbolik beendet nicht die Straflosigkeit nach schlimmsten Verbrechen wie Mehrfachvergewaltigungen an Kindern, Frauen oder Greisen, wie sie in einigen Konflikten in Form von sexualisierter Gewalt vorgekommen sind, und Symbolik in Form eines deutschen, nationalen Aktionsplans wird Menschenrechtsverbrecher nicht davon abhalten, die Zerstörung von Frauen in einigen Konflikten als Kriegsziel anzusehen. Wir sollten daher unsere politische Arbeit nicht auf eine Debatte über einen in meinen Augen überflüssigen deutschen Aktionsplan konzentrieren. Vielmehr sollten wir versuchen, die Ursachen für solch schreckliche Konflikte und Verbrechen an Frauen zu beseitigen. Damit wäre dem Geist der Resolution 1325 wesentlich besser geholfen. Darum lautet das Votum zu den Oppositionsanträgen Ablehnung. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die Heldin Lysistrata des griechischen Dichters Aristophanes und ihre Initiative, durch die sexuelle Verweigerung der Frauen die Männer zum Frieden zu zwingen, ist allgemein bekannt. In Liberia hat es vor einigen Jahren Nachahmerinnen - wenn auch mit anderen Mitteln - gefunden: Während des schrecklichen Krieges - der bis 2003 rund 250 000 Menschenleben forderte und in dem etwa drei Viertel aller Frauen und Mädchen vergewaltigt wurden - entstand ein ganzes Netzwerk von Frauenorganisationen, das sich für die Schaffung von Frieden einsetzte. Christinnen und Musliminnen beteten und demonstrierten zu Tausenden gemeinsam und sammelten sich vor dem Präsidentenpalast in Monrovia. Sie haben in weißen T-Shirts gegen die Kriegsgewalt angeschwiegen. Die liberianischen Frauen haben sich außerdem mit Frauen aus Sierra Leone und Guinea zusammengeschlossen und die Verantwortlichen durch ihre Demonstrationen an den Verhandlungstisch gebracht. Während der Verhandlungen 2003 haben sie unter der Anführung von Leymah Gbowee das Haus umzingelt und den Männern gedroht, sie vor dem Abschluss eines Friedensabkommens nicht herauszulassen. Der Krieg fand ein Ende. Die Frauen haben sich ihr Mitspracherecht genommen und sich religions- und grenzübergreifend zusammengeschlossen, während die Männer sich abgeschlachtet und die Frauen der jeweiligen Gegner vergewaltigt haben. Bei den konkreten Friedensverhandlungen wurden die Frauen dann übrigens wieder ausgeschlossen, aber: Frauenorganisationen haben anschließend bei der Entwaffnung und Demobilisierung der Rebellengruppen geholfen und sich für eine Frauenquote von 30 Prozent im Parlament eingesetzt. Für Letzteres erhielt Etweda Cooper einen 1325-Award. Seit 2005 hat Liberia eine weibliche Präsidentin, die erste in Afrika, welche nicht nur Vergewaltigung unter Strafe gestellt hat, sondern derzeit auch eine weibliche Polizeitruppe in Monrovia aufbaut. Das Beispiel aus Liberia macht deutlich, was der Hintergrund der UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden, Sicherheit" ist, an deren 10-jähriges Bestehen wir uns im Oktober 2010 erinnern konnten. Wir haben diese Resolution als "historischen Meilenstein" bezeichnet, weil sie neben der Verurteilung von sexualisierter Gewalt an Frauen die Frauen aus der einseitigen Opferrolle herausholt und fordert, Frauen zu Akteurinnen in der Friedensschaffung und Konfliktbeilegung zu machen. In der damaligen Debatte im Plenum hatte ich bedauert, dass CDU/CSU und FDP keinen eigenen Antrag vorgelegt haben, um ihre Vorstellungen zur Umsetzung der Resolution zur Diskussion zu stellen. Nun haben wir April, und Sie haben sich immer noch nicht positioniert. Und die Zustimmung der Koalitionäre im Unterausschuss "Zivile Krisenprävention" zum SPD-Antrag scheint ja wohl eher ein Versehen gewesen zu sein und wurde deshalb im Auswärtigen Ausschuss durch eine Ablehnung "geheilt". Ich finde, Sie könnten Ihrer Regierung gegenüber ein bisschen mutiger sein, wenn es um die Rolle von Frauen in Konflikten geht. Ihr Verhalten kann ich umso weniger verstehen, als wir in der Großen Koalition doch einen gemeinsamen Antrag (Drucksache 16/3501) eingebracht haben. Ich darf Ihnen den Inhalt diesen Antrages vielleicht kurz in Erinnerung rufen. Wir erkannten darin unter anderem an, dass die Fortschritte zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 mehr als bescheiden sind, weil sich vor allem in der Lebenswirklichkeit der Frauen nicht viel verändert hat. Deshalb forderten wir die Bundesregierung auf, für die konsequente und zeitgerechte Umsetzung des UN-Aktionsplanes einzutreten. Und was haben Sie seit dem Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb von unseren Einsichten umgesetzt? Leider nicht sehr viel. Nicht einmal, wenn Sie direkt die Möglichkeit hatten, ein gleichstellungspolitisches Auge auf die Besetzung von Vorständen, wie bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, zu haben. Obwohl GTZ, Inwent und DED ausreichend Top-Frauen aus dem Executive und Upper Management zu bieten hatten, beruft ihr Entwicklungsminister Niebel ausschließlich sieben (!) Männer - und scheut nicht davor zurück, auch seinen alten (Partei-)Kumpel Tom Pätz, der zuletzt lokale Talkshows in Bonn moderierte, dort "hineinwählen" zu lassen. Selbst der sonst so vorsichtige Personalrat des BMZ warf Niebel bereits letztes Jahr vor, er missachte den "Grundsatz der Besetzung öffentlicher Ämter nach Leistung, Befähigung und Eignung" (Spiegel, 1. März 2010). Ich füge auch hinzu: Herr Niebel, Sie haben auch diese wichtige UN-Resolution missachtet! Das macht deutlich: Was wir brauchen, ist ein nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325. Kofi Annan hat die Zeichnerstaaten bereits 2005 dazu aufgefordert. 15 europäische Staaten - zuletzt Frankreich und Estland - sind seiner Forderung in der Zwischenzeit gefolgt, das Europäische Parlament rät dazu. Deutschland sollte sich dem als Mitglied im UN-Sicherheitsrat nicht länger verweigern - wobei ich mir auch wünschen würde, dass mit dem eigenen Aktionsplan im Hintergrund die Bundesregierung auch die UN-Gremien glaubwürdig an ihre Pflicht zur Umsetzung erinnern würde: Immerhin nahmen nach Informationen der GTZ an UN-Friedensmissionen neben 78 407 Männern nur 1 794 Frauen teil. Alle Oppositionsparteien fordern heute diesen deutschen nationalen Aktionsplan in ihren Anträgen. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir alle Oppositionsparteien zusammen - und das ist ein Novum in diesem Parlament - einen Entschließungsantrag vorlegen, der diese gemeinsame Forderung unterstreicht. Wir fordern, dass ein nationaler Aktionsplan in enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Experten erarbeitet wird. Dieser soll die volle Umsetzung der Resolution 1325 und der damit verbundenen drei weiteren Resolutionen sicherstellen und über eine Berichtspflicht die regelmäßige Evaluierung der Maßnahmen transparent machen. Dieser Aktionsplan muss angemessen budgetiert werden. Lassen Sie mich - auch im Nachgang zum Internationalen Frauentag - zum Schluss zu dem Geist von Lysistrata und den Frauen in Liberia zurückkommen: Sie haben es geschafft, Kriege zu beenden - gemeinsam. Bei den friedlichen Revolutionen in Ägypten und Tunesien haben viele Frauen in der vordersten Reihe gestanden. Sie haben der Revolution ihr Gesicht gegeben und das Bild des Islam korrigiert, das viele zu Unrecht haben. Dafür sollten wir ihnen danken. Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Zehn Jahre ist sie nun her: die einstimmige Verabschiedung der UN-Reso-lution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Wir sehen diese Resolution als Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses, der schon weit vor der Pekinger Weltfrauenkonferenz begann. Wir sehen diese Resolution aber nicht als Abschluss und Deckel des Prozesses. So gibt dieses Jubiläumsjahr, das am 31. Oktober 2010 begann, Anlass für Würdigungen, aber manchmal auch kritische Analysen der Resolution 1325 und ihrer Nachfolger. Ich begrüße die Diskussion dieses oft an den Rand gedrängten Themas hier im Deutschen Bundestag sehr. Sicherheit und Frieden sind die definierten Hauptaufgaben des UN-Sicherheitsrats. Sicherheit und Frieden sind aber auch zwei Aspekte, welche die Umsetzung dieser Resolution bestimmen. Die Resolution und die folgenden Resolutionen weisen auf vielfältige Bedrohungen durch die mangelnde Sicherheit der Zivilbevölkerung hin und fordern verstärkte Sicherheitsmaßnahmen. Dabei bildet die starke Bedrohung und Unsicherheit von Frauen und Kindern die Ausgangslage dieser Resolution. Allerdings wird nicht nur auf deren besondere Schutzbedürftigkeit und die mangelnde Sicherheit hingewiesen, sondern es wird auch ihre herausragende Rolle für das Gelingen von Friedensprozessen betont. Seit der Beschlussfassung der Resolution 1325 vor über zehn Jahren gibt es einen vielfältigen Prozess der Umsetzung. Und es gibt Länder, die den Verpflichtungen der Resolution durch die Umsetzung eines nationalen Aktionsplanes nachkommen. Es gibt Länder, die halten dies für den richtigen Weg der Umsetzung. Das wird hier in diesem Haus auch in einigen Anträgen der Opposition gefordert. Deren politische Stoßrichtung - so wie sie in den Anträgen dargestellt wird - teilen wir allerdings nicht. Die Bundesregierung berücksichtigt die völkerrechtsverbindliche Resolution der Vereinten Nationen, sowohl in ihren nationalen als auch in ihren internationalen Politikstrategien. Die Bundesregierung hat mit dem Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" bereits ein sehr umfassendes Instrument geschaffen. Das ist meiner Meinung nach völlig ausreichend, um eine zielorientierte Umsetzung der UN-Resolution 1325 zu erreichen. Daher halte ich die Konstruktion eines weiteren nationalen Aktionsplans an dieser Stelle nicht für hilfreich. Deshalb können wir die Hauptforderung Ihrer Anträge nicht unterstützen. Die Bundesregierung ist sich ihrer Pflicht bewusst und handelt schon. Der Förderung von Frauen, Frieden und Sicherheit auf internationaler Ebene kommt die Bundesregierung nach - gerade auch in ihrer neuen Funktion als Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Die UN-Resolutionen zeichnen sich durch relativ klare und entschiedene Formulierungen und Absichtserklärungen aus. In der Realität herrscht immer noch ein etwas anderes Bild vor: Der Frauenanteil in militärischen EU-Missionen zum Beispiel liegt bei circa 6 Prozent und in den zivilen Missionen bei 8 Prozent. Vor diesem Hintergrund liegt es in der Natur der Sache, dass die Forderung, Frauen auf allen Ebenen einzubeziehen, zunehmend energischer diskutiert wird. Weitere Resolutionen wurden verabschiedet mit der Maßgabe, die Rolle der Frauen als friedenspolitische Akteurinnen zu stärken und sie nicht primär oder gar ausschließlich als schutzbedürftig zu betrachten. Frauen werden - nicht nur in der Friedens- und Sicherheitspolitik - berücksichtigt und gefördert. Das ist auch wichtig; das steht außer Frage. Dass in diesem Zusammenhang der Wunsch nach einer Quotierung besteht, ist nachvollziehbar, jedoch nicht zielführend. Bereits jetzt achtet die Bundesregierung in der Arbeit in allen Ressorts auf das sogenannte Gender-Mainstreaming. Auch dies ist schon eine gelungene Umsetzung der hier vorgelegten Wünsche und wesentlich produktiver als auf eine quantitative Quote zu setzen. Eine kurze Stellungnahme zum vorliegenden Antrag der Kollegen von den Linken kann ich mir nicht gänzlich verkneifen. Ihr Antrag ist ideologisch geprägt und fordert eine Vielzahl von Maßnahmen, die teuer sind und deren Zweckmäßigkeit zweifelhaft ist. In Ihrer sechsten Forderung unterstellen Sie der Bundesregierung, sie unterstütze Regime, die Kindersoldaten einsetzen und sonstige Rechtsverstöße begehen. Ich kann Ihnen eins sagen: Das ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil werden solche Regime sanktioniert, und die Bundesregierung setzt sich überall weltweit ein, dass sie in ihrer Haltung von anderen Staaten ebenso unterstützt wird. Mit solchen Regimen arbeitet die deutsche Bundesregierung definitiv nicht zusammen. Wir haben mit der Entwicklung des vernetzten Ansatzes ziviler und militärischer Mittel in Konfliktsituationen einen großen Schritt nach vorne gemacht. Das Thema hat in der jüngsten Vergangenheit eine größere Bedeutung erlangt. Krisen und Konflikte sind komplexer geworden in den vergangenen Jahren. So müssen wir neben dem klassisch-militärischen Bereich auch die ökonomische, entwicklungspolitische, soziale und kulturelle Komponente vor Augen haben. Prävention, Bewältigung und Nachsorge von Konflikten kann unter den Bedingungen unseres Jahrhunderts nur funktionieren, wenn unterschiedliche Maßnahmen in einem umfassenden Konzept miteinander vernetzt werden. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 ist auch zehn Jahre nach ihrer Verabschiedung auf einem guten Wege. Die Bundesregierung weiß um ihre Pflicht und handelt. Daher sind die hier vorliegenden Oppositionsanträge nicht notwendig. Christine Buchholz (DIE LINKE): Vor zehn Jahren hat die UNO die Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" verabschiedet. Die Bundesregierungen der letzten zehn Jahre haben es versäumt, einen Aktionsplan zur Umsetzung dieser Resolution zu erarbeiten. Deshalb sind wir uns mit SPD und Grünen einig: Die Regierung muss einen Aktionsplan vorlegen. Die entscheidende Frage ist allerdings, was der Inhalt eines Aktionsplanes ist. Die Linke ist hier gänzlich anderer Meinung als die Bundesregierung, aber auch als SPD und Grüne. Letztere rühmen sich, in ihrer Regierungszeit "die Geschlechterperspektive in UN-Mandate für Friedensmissionen" wie Afghanistan 2001 aufgenommen zu haben. Die vorliegende UN-Resolution und alle Fraktionen des Bundestags außer der Linken schließen Krieg in ihre Politik mit ein. Für uns dagegen ist Krieg kein Mittel der Politik und schon gar kein Mittel, um Frauenrechte durchzusetzen. Krieg bringt Krieg und keinen Frieden! In der Resolution wird ein Aktionsplan zur "Mitwirkung von Frauen in Entscheidungsfunktionen bei Konfliktbeilegungs- und Friedensprozessen" gefordert. Das Gegenteil ist der Fall. Frauen werden als Soldatinnen oder für Propagandazwecke instrumentalisiert, oder sie werden zum Opfer von Kriegen. Die Bundesregierung hat den Anteil von Soldatinnen in der Bundeswehr seit dem Jahr 2001 verdreifacht. Die NATO betont, wie enorm wichtig Frauen für den Erfolg des Krieges in Afghanistan seien; mehr Soldatinnen verbesserten den Schutz der eigenen Truppen. Für die Bundesregierung und für die NATO sind Frauen Mittel zum Zweck, um den Krieg zu gewinnen. Das ist pervers! Schicksale afghanischer Frauen werden benutzt, um hierzulande den Krieg zu rechtfertigen. Ich zitiere ein von WikiLeaks veröffentlichtes CIA-Dokument: "Afghanische Frauen könnten als ideale Botschafterinnen dienen". Ihre Medienauftritte sollen "helfen, die unter westeuropäischen Frauen weitverbreitete Skepsis gegenüber dem Afghanistan-Einsatz zu überwinden". Jedes Jahr wieder wird die Fortsetzung des Krieges in Afghanistan von Vertreterinnen und Vertretern aller Parteien von FDP bis SPD damit begründet, man könne die Frauen jetzt nicht im Stich lassen. Die Bundesregierung schrieb letztes Jahr auf ihrer Internetseite: "Mit der Modernisierung des Landes wird sich auch die Lage der Frauen kontinuierlich verbessern. Daran wirken wir mit." Aber was bedeutet der Krieg vor Ort? Ich selbst habe mich in der afghanischen Provinz Kunduz mit Frauen getroffen, deren Männer und Söhne am 4. September 2009 auf Befehl der Bundeswehr getötet wurden. Sie haben nicht nur ihre Angehörigen, sondern meist damit auch ihre Existenz und Zukunft verloren. Denn auch zehn Jahre nach Beginn des Krieges hat die Mehrheit der Frauen in Afghanistan keine Chance auf einen eigenständigen Broterwerb. Deshalb ist es besonders bitter, dass die Familien der Kunduz-Opfer noch heute auf angemessene Entschädigung von der Bundesregierung warten. Die ehemalige afghanische Abgeordnete Malalai Joya sagte mir: "USA und NATO fielen in Afghanistan angeblich für die Rechte der Frauen ein, aber heute ist die Situation der Frauen genauso katastrophal wie unter der Herrschaft der Taliban. Vergewaltigungen, Entführungen, Morde, Säureattentate und häusliche Gewalt steigen rapide an." Auf die Frage, wie wir Frauen in Afghanistan unterstützen können, antwortete sie: "Erstens wird Krieg Frauen niemals helfen. Zweitens haben wir die Chance, dass sich afghanische Frauen selbst befreien und progressive Männer uns helfen werden." Das zeigt: Krieg für die Rechte von Frauen ist ein Mythos. Ohne eine klare Absage an Krieg, der immer ein Krieg gegen Frauen und Kinder ist, ist jeder Aktionsplan Makulatur. Deshalb fordert die Linke, die Resolution 1325 weiterzuentwickeln und festzuschreiben, auf militärische Gewalt zu verzichten. Und genau deshalb lehnt die Linke die Anträge von SPD und Grünen ab. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am 8. März dieses Jahres haben wir "100 Jahre Internationaler Frauentag" gefeiert. National und international gibt es neben vielen Problemen auch Fortschritte und Erfolge für die Frauen. Der Beschluss der Resolution 1325 vor zehn Jahren im UN-Sicherheitsrat war ein solcher Erfolg. Er war ein Meilenstein auf dem Weg zu einer wirklich geschlechtersensiblen Friedens- und Sicherheitspolitik. Erstmals beschloss damit die UNO eine völkerrechtlich verbindliche Vorgabe zur Beteiligung von Frauen an der Bewältigung von gewalttätigen Konflikten und beim Friedensaufbau. Allerdings mussten wir anlässlich des zehnjährigen Jubiläums im letzten Jahr auch feststellen, dass die Bilanz mehr als ernüchternd ist: In den meisten Konflikten sehen sich die Parteien nicht an die Resolution 1325 gebunden. Frauen werden eben meistens nicht am Friedensaufbau beteiligt. So ergaben Stichproben von UNIFEM bei 24 UN-gestützten Friedensverhandlungen zwischen 1992 und 2008: Nur 7,6 Prozent der Verhandelnden, nur 3,2 Prozent der Vermittelnden und nur 2,5 Prozent der Unterzeichnenden waren weiblich. Ich nenne ein aktuelles Beispiel, nämlich die Umbrüche in der arabischen Welt. Zwar haben die Frauen in Tunesien und Ägypten maßgeblich dafür gesorgt, dass die Despoten abtreten mussten, aber jetzt, nach der Revolution, bei der Gestaltung der neuen Demokratien, sollen sie wieder zurück an den Katzentisch. Das darf nicht sein. Lassen sie uns hier ganz klar die Frauen in Ägypten mit ihren Forderungen unterstützen. Auch Frauen müssen in der Verfassungskommission und in den Übergangsstrukturen, die jetzt die Demokratie aufbauen, vertreten sein. Auch Gewalt gegen Frauen wird in vielen Kriegen weiter systematisch als Kriegswaffe eingesetzt, wie zum Beispiel im Ostkongo. Dort finden seit Jahren massenhafte Vergewaltigungen statt, sogar vor den Augen der Blauhelme. Allein im Juli und August 2010 waren es brutale Vergewaltigungen an über 500 Frauen. Für die lokalen Kriegsherren, dramatischerweise aber oft auch für die UN vor Ort, scheinen die Verpflichtungen aus der Resolution 1325 und der Folgeresolution 1820 offensichtlich keine Rolle zu spielen. Wenn wir wirklich wollen, dass die Resolution 1325 mit Leben gefüllt wird und zentraler Bestandteil der internationalen Politik wird, dann müssen sich endlich auch die Mitgliedstaaten der UNO konsequent an die Umsetzung machen. Sonst bleiben die Resolutionen nichts weiter als bedrucktes Papier. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen, ich finde es wirklich unhaltbar, dass wir, als Mitglied im Sicherheitsrat, immer noch nicht bereit sind, einen nationalen Aktionsplan auf den Weg zu bringen. Schon 2005 hat Kofi Annan das gefordert, doch erst 25 Staaten sind dem gefolgt. Es ist doch peinlich, dass Deutschland als angebliche Stütze des UN-Systems sich dieser Aufforderung immer noch verweigert. In der UNO-Agenda der Bundesregierung gibt es noch nicht mal einen Hinweis auf die Resolution 1325 - und das, obwohl auch Ban Ki-moon die Umsetzung der Resolution 1325 zu einem seiner wichtigsten Themen gemacht hat: Es wurde mit UN-Women eine neue einheitliche UN Organisation geschaffen und mit Margot Wallström eine Sonderbeauftragte gegen sexuelle Gewalt in Konflikten eingesetzt. Auch die Anhörung des Unterausschusses "Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit" am 13. Dezember 2010 hat ganz klar ergeben, dass die Frauenorganisationen wie medica mondiale, der Frauensicherheitsrat oder UNIFEM einen solchen nationalen Aktionsplan für unabdingbar halten. Da kann sich doch Deutschland nicht einfach ausklinken und alle diese Empfehlungen ignorieren. Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns gelungen ist, zumindest zwischen den Fraktionen von SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Antrag zu vereinbaren. Das ist ein großer Erfolg, und ich bin mir sicher: Das wird politisch wahrgenommen werden. Wir stellen damit klar: Mit anderen Mehrheitsverhältnissen im Deutschen Bundestag werden wir - SPD, Grüne und Linke - einen solchen Aktionsplan gemeinsam auf den Weg bringen. Dadurch werden wir tatsächlich die UNO unterstützen - und nicht nur, wie die Koalition, durch Sonntagsreden. Konkrete Vorschläge zu einem solchen Aktionsplan, wie jetzt der des Frauensicherheitsrates, liegen ja sogar auf dem Tisch. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen nur zugreifen und lesen. Es geht dabei um die Umsetzung der 4 Ps: der Prävention, der Protektion - also dem Schutz von Frauen und Mädchen -, der Präparation - also der gendersensiblen Vorbereitung von zivilem oder militärischen Personal, das wir in internationale Missionen oder Missionen der EU oder der OSZE entsenden - und der Partizipation. Besonders wichtig ist dabei das zuletzt Genannte: Partizipation, also die Förderung der Beteiligung von Frauen als Akteurinnen des Wandels. Klar ist: Wir wollen einen effektiven Plan. Dabei müssen wir von anderen Ländern lernen. Dazu ist es enorm wichtig, bei der Erstellung in einem transparenten Prozess die Zivilgesellschaft einzubeziehen, die Maßnahmen regelmäßig zu überwachen und vor allem zu evaluieren, ob die Zielvorgaben auch erreicht wurden. Es muss jährlich dem Bundestag berichtet werden, und der Aktionsplan muss mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet werden, denn ohne Budget bleiben viele Vorhaben blanke Theorie. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ich habe in vielen Krisenregionen dieser Welt erlebt, wie wichtig und von welch konkreter Bedeutung für die Frauen vor Ort die Umsetzung dieser Resolution ist, die für uns hier vielleicht so theoretisch erscheint: im Kongo, in Darfur, im Südsudan, in Afghanistan und jetzt aktuell in der arabischen Welt. Diese Frauen haben große Erwartungen und Hoffnungen, auch die Hoffnung, dass wir die Umsetzung der Resolution ebenso ernst nehmen wie sie. Lassen sie uns diese Frauen nicht enttäuschen, werfen Sie Ihr Herz über die Hürde und stimmen Sie, wie Ihre Kollegen und Kolleginnen im Unterausschuss "Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit", die durch die Anhörung und durch die Debatte inzwischen von der Sache offensichtlich überzeugt worden sind, einem der Einzelanträge oder wenigstens unserem überfraktionellen Antrag zu! Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Einführung eines Ordnungsgeldes (Tagesordnungspunkt 19) Bernhard Kaster (CDU/CSU): Wir debattieren heute über Änderungen des Abgeordnetengesetzes und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Änderungen, die das Selbstverständnis unserer parlamentarischen Arbeit betreffen. Der Begriff der Geschäftsordnung wird im Übrigen der Bedeutung gerade dieser Geschäftsordnung nicht ganz gerecht; ist es doch letztlich die gemeinsame Verständigung über die Spielregeln unserer Demokratie in einem demokratisch gewählten Parlament. Unsere Geschäftsordnung hat eine sehr lange Tradition. Sie finden in ihr wörtliche Formulierungen aus der Geschäftsordnung des Deutschen Abgeordnetenhauses von 1848, des Norddeutschen Reichstages von 1868, der Weimarer Republik und zu guter Letzt der ersten endgültigen Geschäftsordnung des Bundestages aus dem Jahre 1951. Dennoch ist die Geschäftsordnung über die Jahrzehnte immer wieder aktualisiert worden. Sehr umfangreich geschah dies zuletzt infolge des Vertrages von Lissabon. Heute diskutieren wir über eine Änderung der Geschäftsordnung, die sich unsere Fraktion sehr gerne erspart hätte. Es ist ungewöhnlich, ja beschämend, dass wir uns als Bundestag mit der Ausweitung von Ordnungsmaßnahmen befassen müssen. Dies ist sicherlich keine Sternstunde des Parlamentes. Anlass für die Einführung eines Ordnungsgeldes - und dies muss hier klar zum Ausdruck gebracht werden - ist einzig und alleine das unparlamentarische Verhalten einer Fraktion. In dieser Legislaturperiode wie auch in der vorangegangenen Legislaturperiode hat immer und immer wieder die Nachfolgepartei der kommunistischen SED die Regeln dieses Hauses und damit der Demokratie vorsätzlich verletzt. Die Linksfraktion hat diese Störungen offensichtlich ganz gezielt und abgestimmt inszeniert, um sich ihrer Aktivitäten anschließend auch noch im Internet zu rühmen. Im Rahmen der Debatte um die Erweiterung des Afghanistan-Mandats zeigten eine Vielzahl von Abgeordneten der Linken im Plenum Spruchbänder. Die Parteivorsitzende der Linken hat diese Entgleisung der Mitglieder ihrer Fraktion nicht etwa kritisiert, sondern sogar noch mit den Worten gelobt "Ich danke auch persönlich meiner Fraktion sehr, wie würdevoll diese Aktion vorbereitet und umgesetzt wurde." Es ist die Übereinkunft aller Demokraten, dass der politische Wettstreit, die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung und die Auseinandersetzung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen mit engagierten, durchaus auch hitzigen Debatten ausgetragen werden. Dieses Haus ist aber kein Platz für Demonstrationen, Transparente und jede Art von Klamauk. Wer wie die Linksfraktion das Bundestagsplenum als Demonstrationsplattform nutzt, will damit in unredlicher Weise die Wirkung und die Kraft der Argumente aus der öffentlichen Diskussion verdrängen. Er zeigt damit zugleich, dass er von der Kraft der eigenen Argumente offensichtlich selbst nicht überzeugt ist, denn sonst bedürfte es solcher Aktionen ja nicht. Der Bundestagspräsident hat bereits im November 2008 festgestellt, dass die Neigung zu Disziplinlosigkeiten deutlich größer geworden ist. Das ist alles mehr als bedauerlich. Wir sind inzwischen nicht mehr bereit, eine Verrohung der Sitten, wie sie in letzter Zeit im Plenum eingerissen ist, weiter hinzunehmen. Es ist eine fühlbare Sanktion notwendig. Deshalb sprechen wir uns jetzt, wenn auch ungern, für die Einführung eines Ordnungsgeldes aus. Dieses wird in sinnvoller Weise in § 44 a des Abgeordnetengesetzes und dann in einer klaren Einordnung in die §§ 36 bis 38 der Geschäftsordnung eingefügt. Wir haben damit eine Regelung, die vom Ordnungsruf über die Wortentziehung und das Ordnungsgeld bis hin zum gravierendsten Mittel, dem Sitzungsausschluss, reicht. Wir haben auch Wert darauf gelegt, eine klare Regelung im Hinblick auf die Höhe des Ordnungsgeldes zu treffen. Sie beträgt 1 000 Euro bzw. 2 000 Euro im Wiederholungsfall. Wir sehen nicht ein, den ganzen Unfug und Unsinn der Fraktion Die Linke auch noch im Rahmen einer Spanne zu katalogisieren. Bedauerlich ist aber auch, dass nicht alle demokratischen Fraktionen diesen Gesetzentwurf mittragen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat von Beginn an immer wieder betont, dass sie sehr wohl bereit sei, ein Ordnungsgeld einzuführen. Aber bei allen Beratungen hat sie bereits im Vorfeld immer wieder nach Gründen oder einem Vehikel gesucht, um letztlich dann doch wieder aus dieser Regelung auszusteigen. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass bei der letzten Störung durch die Fraktion Die Linke, die auch zum Sitzungsausschluss von Abgeordneten geführt hat, dieses undemokratische Verhalten die ausdrückliche Zustimmung des Kollegen Ströbele von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefunden hat. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen wehrt sich mit vorgeschobenen Argumenten dagegen, zukünftig auch Verstöße gegen die Würde des Bundestages mit einer Ordnungsmaßnahme zu sanktionieren. Sie hat damit letztlich das Vehikel gefunden, um Teilen ihrer Fraktion entgegenzukommen. Da nützt es auch gar nichts, dies mit allen möglichen juristischen Spitzfindigkeiten, Bewertungen und Auslegungen zu begründen. Die Würde des Hauses, die Würde des Deutschen Bundestages, hat bereits im § 7 der Geschäftsordnung ihren Niederschlag gefunden. Viele andere Vergleiche, beispielsweise in der Justiz, könnten ebenso angeführt werden. So kennt unser Gerichtsverfassungsgesetz den Begriff "Würde des Gerichts", der in § 175 des Gerichtsverfassungsgesetzes geregelt ist. Wenn die demokratischen Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP auch Verstöße gegen die Würde des Bundestages als ahndungswürdig betrachten, ist dies absolut nachvollziehbar. Damit wird die Entscheidungsgrundlage des amtierenden Präsidenten verbessert, im Übrigen auch in der Bundesversammlung, für die unsere Geschäftsordnung sinngemäß gilt. Es gibt also schlichtweg kein Argument für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, unseren Gesetzentwurf nunmehr ganz abzulehnen. Sie hatte im Übrigen Bedenken geäußert, beispielsweise wegen einer möglichen strittigen "Kleiderordnung". Auch da sind alle Fraktionen darauf eingegangen und haben in der Begründung nochmals klargestellt, dass es darum genau nicht geht. Lassen Sie mich abschließend noch einmal an die Verursacher dieser Regelung appellieren, die Fraktion Die Linke: Sie sollten endlich die demokratischen Spielregeln anerkennen und trotz Ihrer Vergangenheit endlich in der Demokratie ankommen. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Noch vor zwei Jahren habe ich mir nicht vorstellen können, dass wir heute über eine Verschärfung der Ordnungsmaßnahmen gegen Abgeordnete beraten müssen. Eigentlich sollte es unter Demokraten möglich sein, die Argumente der politisch anders Denkenden zu ertragen, ohne zu Mitteln der Störung und des Klamauks zu greifen und damit nicht nur die Arbeit der anderen Abgeordneten zu stören, sondern auch das Ansehen des Bundestages in den Augen der Öffentlichkeit niederzumachen. Leider musste ich mich durch die verschiedenen massiven Ordnungsstörungen in der jüngeren Vergangenheit, insbesondere durch konzertierte Aktionen mehrerer Mitglieder der Fraktion Die Linke, eines Besseren - oder besser gesagt, eines Schlechteren - belehren lassen. In geradezu unverantwortlicher Weise versuchen diese Kolleginnen und Kollegen immer wieder, den Deutschen Bundestag - das höchste gesetzgebende Verfassungsorgan unseres Landes - zu einer Bühne für billige politische Polemik zu machen. Ich denke nur an die Aktion in der letzten Wahlperiode, in der sie einen damals amtierenden Ministerpräsidenten durch verzerrende Masken verächtlich machten wollten. Aber auch in dieser Wahlperiode musste der Bundestagspräsident schon zweimal Mitglieder der Linksfraktion von der Sitzung des Bundestages wegen gröblicher Ordnungsverletzungen ausschließen. Leider lassen diese Erfahrungen keinen anderen Schluss zu als den, die Effizienz der bestehenden Ordnungsmaßnahmen nach der Geschäftsordnung des Bundestages kritisch zu überprüfen. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Sach- und der Ordnungsruf für solche massiven Störungen der Ordnung während einer Sitzung nicht ausreichend sind. Ihr Sanktionscharakter ist eher begrenzt und sie sind im Konfliktfall nicht geeignet, die Störung nachhaltig zu beseitigen. Der Sitzungsausschluss - nach unserer Geschäftsordnung immerhin für bis zu 30 Sitzungstage möglich - ist demgegenüber das schärfste Ordnungsmittel, das zur Verfügung steht, weil es in die Rede- und Abstimmungsrechte des betroffenen Abgeordneten massiv eingreift. Es kann deshalb nur als Ultima Ratio in Betracht kommen. Genau in den Zwischenraum zwischen Sach- und Ordnungsruf und dem Sitzungsausschluss soll nach übereinstimmender Auffassung der Koalitionsfraktionen und der SPD nun - quasi als neues Ordnungsmittel auf mittlerer Ebene - ein Ordnungsgeld treten. Es hat den Vorteil, dass es einerseits eine spürbare Sanktion darstellt, andererseits aber in die parlamentarischen Rechte der Abgeordneten nicht eingreift und öffentlichkeitswirksame Konfrontationen, wie zum Beispiel bei einer zwangsweisen Entfernung aus dem Plenarsaal, vermeiden kann. In breiter Einmütigkeit mit Ausnahme der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen - Letztere hat allerdings auch die grundsätzliche Notwendigkeit der Verschärfung der Ordnungsmittel gesehen - hat der Geschäftsordnungsausschuss in zahlreichen Sitzungen den Ihnen nun vorliegenden Gesetzentwurf der drei Fraktionen zur Änderung des Abgeordnetengesetzes vorbereitet, der als Rechtsgrundlage für eine nachfolgende Änderung der Geschäftsordnung dient. Er empfiehlt, das Ordnungsgeld in einer festen Höhe von 1 000 Euro, im Wiederholungsfall von 2 000 Euro, vorzusehen. Es soll vom jeweils sitzungsleitenden Präsidenten bei einer "nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages" festgesetzt werden können. Wegen einer "gröblichen" Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages soll - wie bisher - der Sitzungsausschluss möglich sein. Die feste Höhe des Ordnungsgeldes von 1 000 Euro bzw. 2 000 Euro und der Verzicht auf einen entsprechenden Ermessensspielraum des amtierenden Präsidenten bzw. der amtierenden Präsidentin sollen Streitigkeiten nur über die angemessene Höhe des verhängten Ordnungsgeldes vermeiden. Weitere gesetzliche Konkretisierungen der Frage, was denn konkret unter einer "nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages" zu verstehen ist, hat der Geschäftsordnungsausschuss als nicht sinnvoll abgelehnt. Unterschiedliche Auffassungen hierzu wird man weder durch gesetzliche Fallbeispiele noch durch weitere unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetzestext befrieden können. Letztlich ist es eine Entscheidung des amtierenden Präsidenten bzw. der amtierenden Präsidentin, die unter Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles zu treffen ist. Im Geschäftsordnungsausschuss wurde bis zuletzt die Frage diskutiert, ob auch die "Würde des Bundestages" ausdrücklich in den Schutzbereich der Ordnungsmaßnahmen aufgenommen werden sollte. Hiergegen sprach sich insbesondere die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus, anscheinend weil sie immer noch ein grundsätzliches Problem mit dem Schutz der Würde dieses Parlaments hat. Die antragstellenden Fraktionen sahen dagegen den ausdrücklichen Schutz der Würde des Bundestages als notwendig an, damit klar gestellt wird, dass auch bei nichtverbalen Ordnungsstörungen, wie zum Beispiel beim Hochhalten von Transparenten oder sonstigem provokativem Verhalten, eindeutig die Möglichkeit einer angemessenen Reaktion hierauf besteht. Klar ist für uns allerdings auch, dass nicht jede Verhaltensweise, die dem einen oder anderen nicht gefallen mag, als ein Angriff auf die Würde des Bundestages gewertet werden kann. Bloße Fragen der Kleiderordnung zum Beispiel können nicht hierunterfallen. Die nähere Regelung des Ordnungsgeldes soll - wie auch bisher bei den Ordnungsmaßnahmen - durch unsere Geschäftsordnung erfolgen. Auch insoweit hat sich der Geschäftsordnungsausschuss auf konkrete Vorschläge schon verständigt, die dem Plenum alsbald zur Entscheidung vorgelegt werden. Danach soll das Ordnungsgeld - wie bisher schon der Sitzungsausschluss - auch später noch festgesetzt werden können, und es soll in das bestehende Rechtsmittelsystem der Geschäftsordnung eingebunden werden, wonach bei Einspruch der Bundestag insgesamt entscheidet und danach der Weg zum Bundesverfassungsgericht im Wege der Organklage offensteht. Ich bin überzeugt, dass das Ordnungsgeld eine angemessene, aber leider auch notwendige Erweiterung des bestehenden Systems der Ordnungsmaßnahmen für unser Parlament ist. Ich bitte Sie daher um Ihre Unterstützung des vorliegenden Gesetzentwurfs. Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung über eine Änderung des Abgeordnetengesetzes, die niemand von uns in Wahrheit mit innerer Begeisterung betreibt. Denn als Parlamentarierin oder Parlamentarier sich selbst mit härteren Sanktionen zu belegen macht keine Freude. Doch leider hat das Verhalten gerade einer Fraktion hier im Hause dieses Vorgehen unumgänglich gemacht. Bereits jetzt darf uns der Präsident zur Ordnung rufen oder sogar bis zu 30 Tage von den Beratungen ausschließen. Das erste Instrument beeindruckt einige hier wohl kaum, das andere Instrument aber ist eine sehr, sehr harte Maßnahme. Denn es bedeutet, dass Mitglieder dieses Hohen Hauses in ihrem elementaren Recht, dem Rederecht, massiv beschnitten werden. Der Ausschluss muss also immer das letzte Mittel sein. Das Parlament lebt vom Parlieren. Das gesprochene Wort ist unser Mittel der demokratischen Auseinandersetzung. Deshalb ist es nicht hinnehmbar, dass eine Fraktion so agiert, als könne man sich beliebig darüber hinwegsetzen. Vermeintlich im Besitz einer höheren Moral und nach billiger Publicity heischend, hat die Fraktion der Linken immer wieder unsere Beratungen hier desavouiert. Sie nimmt sich Sonderrechte heraus, begeht bewusst Regelverletzungen und entwertet damit sehenden Auges und bewusst jede Form der parlamentarischen Auseinandersetzung. Würde jede Fraktion kraft eigenen Rechts die gemeinsamen Spielregeln so außer Kraft setzen, dann wäre keinerlei geordnete Debatte mehr möglich. Gefährlich ist dies deshalb, weil jeder, der so agiert, den Eindruck erweckt, als habe man kein anderes geeignetes Mittel, sich darzustellen, oder aber als habe man einen Anspruch auf Regelverletzung. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Nach dem Prinzip von Rede und Gegenrede haben wir alle hier weidlich die Möglichkeit, abgelehnte Standpunkte zu entkräften und die eigene Position zu stärken, öffentlich Rechenschaft abzulegen oder einzufordern. Mehr und anderes darf und kann nicht sein, sonst entwerten wir uns als Mitglieder des Parlaments. Jeder Versuch, unter Kolleginnen und Kollegen ohne weitere Sanktionen auszukommen, ist leider ignoriert worden: Zusagen wurden gebrochen, Wiederholungen gab es immer wieder. Deshalb ist es zur Wahrung der guten Formen leider zwingend notwendig, ein Ordnungsgeld einzuführen. Wer durch das Hochhalten von Protestschildern, entsprechender Bekleidung oder andere Albernheiten den Komment verletzt, der muss zukünftig mit 1 000 Euro oder sogar 2 000 Euro Ordnungsstrafe rechnen. Damit wird der Spuk hoffentlich ein Ende haben. Wir sind dem demokratischen Streit, nicht dem Klamauk verpflichtet. Wer nicht hören will, muss nun fühlen - leider! Jörg van Essen (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion hat von Anfang an die Initiative des SPD-Kollegen Lange, dem ich für seine Anregung an dieser Stelle nochmals besonders danken möchte, unterstützt. Wir freuen uns deshalb sehr, dass es gelungen ist, sich gemeinsam mit CDU/CSU und SPD auf einen Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes zu verständigen. Die Notwendigkeit zu einer Regelung hat sich in dem mehrfachen Fehlverhalten von Abgeordneten der Linksfraktion im Plenum gezeigt. Das Hochhalten von Transparenten und andere Aktionen ähnlicher Art beeinträchtigen die Würde eines obersten Verfassungsorgans und sind nicht hinnehmbar. Ein Abgeordneter kann jederzeit im Plenum das Wort ergreifen und seine Position verdeutlichen. Es bedarf eines solchen Verhaltens also nicht. Bei der notwendigen Reaktion auf dieses Fehlverhalten hat sich gezeigt, dass ein Ordnungsruf eine zu geringe Sanktion ist, aber auch Bedenken bestehen, die betroffenen Abgeordneten von der Sitzung auszuschließen. Dies hat sich besonders deutlich bei einer anstehenden Entscheidung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gezeigt. Trotz des vom Präsidenten verhängten Ausschlusses sind alle Fraktionen übereinstimmend zu der Auffassung gekommen, dass den betroffenen Kollegen die Teilnahme an der Abstimmung ermöglicht werden sollte. In Fällen wie diesen wäre die Verhängung eines Ordnungsgeldes die angemessenere Sanktion. Sie macht deutlich, dass ein erhebliches Fehlverhalten nicht geduldet wird, ermöglicht aber auf der anderen Seite uneingeschränkt die Ausübung des Abgeordnetenrechts. Wir haben lange überlegt, welche Höhe dieses Ordnungsgeld haben sollte. Wir schlagen eines in Höhe von 1000 Euro vor. Wie bei allen Ordnungsgeldern ist dies ein einheitlicher Betrag. Auch in anderen Fällen eines Ordnungsgeldes findet keine Differenzierung etwa nach Familienstand oder Anzahl von Kindern statt. Es entspricht auch dem verfassungsrechtlichen Bild des Abgeordneten, wonach alle Abgeordneten gleich sind. In den anstehenden Beratungen sind wir offen dafür, über diesen Betrag noch einmal zu reden. In unseren fraktionsinternen Beratungen ist der Hinweis gegeben worden, dass die Höhe den amtierenden Präsidenten davon abhalten könnte, das Ordnungsgeld zu verhängen, obwohl es notwendig wäre. Das wäre ein Ergebnis, das es zu verhindern gilt. Insgesamt erhoffe ich mir, dass es nur wenige Anlässe geben wird, bei denen die amtierenden Präsidenten zu diesem Mittel greifen müssen. Ein oberstes Verfassungsorgan sollte immer streng darauf achten, seiner Würde gerecht zu werden. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Vor wenigen Monaten wurde hier an dieser Stelle das Vorgehen der Koalition bei der Laufzeitverlängerung als "Gesetzgebung mit der Brechstange" gebrandmarkt. In der Debatte fielen Worte wie "Lügner" oder "Affentheater". Journalisten berichteten später, in Richtung der Oppositionsfraktionen seien sogar Worte wie "Faschisten" gefallen, weil eine Fraktion in einheitlicher Protestkleidung aufgetreten war. Rügen an Abgeordnete seitens der Sitzungsleitung, Ordnungsrufe oder gar Ausschlüsse von der Sitzung sind nicht bekannt, auch keine Entschuldigungen. Nur der Präsident des Bundestages erinnerte daran, es sei guter parlamentarischer Brauch, auf persönlich herabsetzende Bemerkungen zu verzichten. Offenkundig hat sich daran niemand wirklich gestört. Die Laufzeitverlängerung wurde dann mit der Mehrheit der Koalition durchgewunken - entgegen aller Vernunft, wie wir heute nach den Ereignissen um Fukushima wissen. Diese Art Gesetzgebung nach politischer Willkür verletzt die Würde der Demokratie und dieses Hauses. Dass Abgeordnete zu Abnickmaschinen degradiert werden, erleben wir nicht zum ersten Mal. Ähnlich wurden hier Gesundheitsreformen, Bankenrettungsfonds von 480 Milliarden Euro oder - wie jüngst - Einsätze zusätzlicher Bundeswehrsoldaten in AWACS-Maschinen über Afghanistan beschlossen - oder besser gesagt: durchs Parlament gepeitscht. Aber gegen diese anhaltende Missachtung parlamentarischer Spielregeln liegt seitens der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP kein Gesetzentwurf vor. Stattdessen legen Sie einen Gesetzentwurf vor, nach dem Abgeordnete künftig bei einer "nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages" mit einem Ordnungsgeld bestraft werden können. Sie tun so, als drohten hier im Bundestag Verhältnisse, in denen Abgeordnete mit Fäusten aufeinander losgehen. Davon kann, wie Sie genau wissen, nicht die Rede sein. Ganz offen wird von Ihnen erklärt, das Ordnungsgeld werde nur wegen angeblicher Störaktionen einer einzigen Fraktion eingeführt: der Linken. Eine Aktion der Linken, die Sie zum Beispiel als störend erachteten, betraf das Gedenken an die Opfer von Kunduz - Opfer eines Bombardements, befohlen von einem deutschen Offizier. Ein angemessenes Gedenken daran aber haben Sie abgelehnt. Das hat die Würde dieses Hauses verletzt, nicht aber die von Linken hochgehaltenen Schilder mit Namen und Alter der Opfer. Ihr Gesetzentwurf ist im Kern eine Lex Linke. Auch das ist würdelos. Keine Frage: Das demonstrative Tragen von Kleidung, zumal im Parlament vor der Öffentlichkeit, muss nicht jeder gut finden - so wie nicht jeder das Tragen einer Krawatte gut finden muss. Kleidungs- und Geschmacksfragen aber demonstrativ mit Ordnungsgeld zu bestrafen, ist eindeutig überzogen und zudem verfassungsrechtlich bedenklich. Wann und wie die Würde des Hauses verletzt sein soll, weiß die Mehrheit dieses Hauses zudem so genau nicht. Die Entscheidung darüber überlassen Sie dem Präsidenten des Bundestages. Das Ordnungsgeld wird so zu einer politischen Willkürveranstaltung. Gegen das geplante Ordnungsgeld gibt es für die Abgeordneten auch keinen effektiven Rechtsschutz. De facto müsste ein Abgeordneter, wenn sie oder er mit dem verhängten Ordnungsgeld nicht einverstanden ist, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen. Darüber hinaus hält die Fraktion Die Linke die von der Mehrheit des Hauses vorgesehene Einschränkung der Rechte souveräner Abgeordneter für verfassungsrechtlich bedenklich. Deshalb behält sich die Linke auch vor, das Ordnungsgeld vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Im Parlament soll es auf das Miteinander-Reden, auf das Abwägen von Argumente ankommen. Darin sind wir uns sicher einig. Ich hoffe sehr, dass sich die Fraktionen von Union, SPD und FDP bei den kommenden Ausschussberatungen von vernünftigen Argumenten leiten lassen und diesen Gesetzentwurf zurücknehmen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einige Verhaltensweisen von Mitgliedern des Deutschen Bundestags in der letzten Zeit waren der Auslöser für Gespräche über mögliche oder notwendige Änderungen in unserer Geschäftsordnung. Ziel dieser Gespräche im Geschäftsordnungsausschuss war es, das Ordnungsgeld einzuführen, um das bestehende System aus Sach- und Ordnungsruf sowie der Wortentziehung einerseits und eines Sitzungsausschlusses andererseits sinnvoll zu ergänzen. Eingeführt werden sollte ein Sanktionsmechanismus, der auf nicht nur geringfügige Ordnungsstörungen angemessen reagieren kann, ohne gleich auf die Ultima Ratio des Sitzungsausschlusses zurückgreifen zu müssen. Es sollte nicht mit Maßnahmen gegen Abgeordnete aufgesattelt werden, und es sollten auch keine neuen Gründe für solche Maßnahmen hinzukommen. Das Ordnungsgeld sollte dem Präsidenten ermöglichen, situationsangemessen reagieren zu können, ohne zu schnell zum schärfsten Mittel, dem Ausschluss von der parlamentarischen Arbeit, greifen zu müssen. Dieses Ziel ist mit der Einführung des Ordnungsgeldes als mittlerer Stufe des Eingreifens des Präsidenten erreicht. Bünd-nis 90/Die Grünen begrüßt dies. So weit, so gut. Leider haben die Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD sich im Geschäftsordnungsausschuss damit nicht begnügt. Vielmehr wurde - ohne Not und ohne Sinn - die Gelegenheit genutzt, um - sozusagen durch die Hintertür - auch noch einen völlig neuen Grund für ein Eingreifen des Präsidenten gegen einen Abgeordneten einzuführen: die "Verletzung der Würde des Bundestags durch Abgeordnete". Diese Neuerung hat in der Sache nichts - aber auch gar nichts - mit der Einführung des Ordnungsgelds zu tun. Vielmehr sollen alle Sanktionsmechanismen, angefangen vom Ordnungsruf bis hin zum Sitzungsausschluss, mit bei einer "Verletzung der Würde des Bundestags" greifen. Auch das Abgeordnetengesetz, über dessen Änderung wir heute beraten, soll nach dem Willen von Koalition und der SPD um die Sanktionierung von Würdeverletzungen des Bundestags erweitert werden. Dies lehnen wir ab, weil dies völlig entbehrlich und für die Freiheit der Abgeordneten sogar tendenziell gefährlich ist. Zuerst zur leidigen Krawattenfrage. Zwar heißt es insoweit in der Begründung des Gesetzentwurfs, dass "reine Fragen der Kleiderordnung ... ausgenommen sind, soweit sie nicht allgemeine Regeln des Anstands" - und ich füge hinzu: damit die Ordnung des Bundestags - "verletzen". Aber in Wirklichkeit wird schon heute die Krawattenlosigkeit bei Abgeordneten, wenn sie im Sitzungsvorstand tätig sind, als ein würdeverletzendes Verhalten angesehen. Ich darf aus dem Protokoll des Ältestenrates vom 16. Dezember 2010 zitieren: "Der Präsident macht deutlich, dass das Präsidium großen Wert darauf lege, dass der Sitzungsvorstand der Würde eines obersten Verfassungsorgans entsprechend gekleidet sei, wozu bei Männern grundsätzlich das Tragen von Krawatten gehöre." Ein Schelm, der Böses dabei denkt, dass wir zukünftig vielleicht wegen Krawattenlosigkeit als Würdeverletzer des Bundestags mit Ordnungsmitteln belangt werden könnten! Die geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition und von der SPD waren bis heute nicht in der Lage zu erklären, was diesen neuen Tatbestand eigentlich wirklich notwendig macht. Es ist bezeichnend, dass er sozusagen klammheimlich, ohne ausdrückliche Nennung im Namen des Gesetzentwurfs, eingeführt wird. Die Begründung dafür ist entlarvend. So gestehen die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD zu, dass bisher im Rahmen der Geschäftsordnung des Bundestags eine - angebliche - Verletzung der Würde des Bundestags stets als eine Ordnungsverletzung im Sinne des § 38 GO-BT angesehen wurde. Es gibt also offensichtlich keine Lücken, die es mit der neuen Regelung zu füllen gäbe. Trotzdem sollen künftig das Hochhalten von Transparenten, das Tragen von Anstecknadeln - hierzu gibt es den verräterischen Zusatz: "je nach Gegebenheit oder Inhalt" - oder "sonstiges provokatives Verhalten" - auch dies eine reine Leerformel - eine Verletzung der Würde des Bundestags, begangen durch Abgeordnete und zu ahnden durch den Präsidenten, sein. Ich will dazu in aller Deutlichkeit sagen: Entweder sind solche Verhaltensweisen Störungen der Ordnung des Bundestags und damit jetzt schon vom Präsidenten zu sanktionieren, oder sie sind eben keine Ordnungsstörungen. Es soll so wohl ganz allgemein bestimmtes - unliebsames - Verhalten und bestimmte Äußerungen von Abgeordneten unterbunden werden können. Damit besteht die Gefahr, dass Abgeordnete an der freien Ausübung ihres Mandats durch den Präsidenten gehindert werden, dass sie dabei kontrolliert und einer Zensur unterworfen werden, ohne dass sie die Ordnung des Bundestags stören. Eine solche Regelung wird die Zustimmung der Grünen nicht finden - und ich wundere mich, weshalb die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD sie vorschlagen. Es kann doch nicht ausschlaggebend sein, dass sich gerade die Kolleginnen und Kollegen der Linken in letzter Zeit mit ihren Aktionen im Hohen Hause unbeliebt gemacht haben. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen der Koalition und der SPD nur zurufen: Bedenken Sie, dass sich diese neue Regelung auch einmal gegen sie selbst richten kann! Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Tagesordnungspunkt 21) Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex. Der Gesetzentwurf dient der Umsetzung der folgenden Richtlinien in das innerstaatliche Recht: erstens, der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98 - das ist die sogenannte Rückführungsrichtlinie -, und zweitens, der Richtlinie 2009/ 52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, ABl. L 168 vom 30. Juni 2009, S. 24 - das ist die sogenannte Sanktionsrichtlinie. Ferner dient der Gesetzentwurf der Anpassung des innerstaatlichen Rechts an die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft. Ich möchte zunächst auf die Umsetzung der sogenannten Rückführungsrichtlinie eingehen, die auf die Festlegung eines für alle Mitgliedstaaten verbindlichen rechtsstaatlichen Mindeststandards bei der Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer zielt und damit, entgegen aller Kritik, ein erster und wichtiger Schritt in Richtung einer gemeinschaftlichen Einwanderungspolitik ist. Ein großer Teil der in der Richtlinie enthaltenen Vorgaben wird in Deutschland bereits durch das im geltenden Aufenthaltsgesetz vorgesehene Recht der Aufenthaltsbeendigung erfüllt. Von einigen Nichtregierungsorganisationen wird der Gesetzentwurf allerdings zum Anlass für weitergehende Forderungen zur Reform des Abschiebungsrechts genommen. Gefordert wird beispielsweise eine Verkürzung der gesetzlich vorgesehenen Höchsthaftdauer von 18 Monaten. Gefordert wird außerdem eine Regelung, dass unbegleitete Minderjährige nicht in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Die Kritik überrascht nicht. So wurde bereits der Richtlinienentwurf von einigen Flüchtlings-, Asyl- und Menschenrechtsorganisationen als "Richtlinie der Schande" verteufelt. Die Kritiker der Richtlinie übersehen dabei, dass eine wirkungsvolle Rückführungspolitik ein notwendiger Bestandteil einer durchdachten und glaubwürdigen Migrationspolitik ist. Und sie ist - wie sollte es anders sein? - ein Kompromiss zwischen nationalen Interessen und humanitären Gesichtspunkten. Sie führt Mindeststandards in allen Mitgliedstaaten ein, vor allem bei der Unterbringung der Betroffenen und im Verfahren sowie beim Rechtsbeistand. Überall dort, wo es vorher keine verbindlichen Vorschriften gab, führt die Umsetzung dieser Richtlinie in vielen Bereichen zu einer wirklichen Verbesserung. So gibt es in der EU momentan neun Länder, die gar keine zeitliche Begrenzung der Abschiebehaft kennen; jetzt werden es sechs Monate sein. Diese Haftzeit kann nur in Ausnahmefällen zweimal um sechs Monate verlängert werden. Eine deutliche Verbesserung stellt die Beschränkung des Wiedereinreiseverbots auf fünf Jahre dar. 14 Länder sprechen derzeit längere Wiedereinreiseverbote aus, Deutschland sogar unbefristete. Das Wiedereinreiseverbot führt auch nicht - wie behauptet - die Flüchtlingspolitik ad absurdum. Denn Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie sieht ausdrücklich vor, dass das Recht, in den Mitgliedstaaten nach internationalem Schutz zu suchen, von einem Wiedereinreiseverbot unberührt bleibt. Übrigens gilt das Wiedereinreiseverbot künftig EU-weit. Bisher konnte ein Mitgliedstaat Einreiseverbote nur für das eigene Territorium aussprechen. Dies alles gilt ganz abgesehen von der Möglichkeit, im Einzelfall einen Antrag auf nachträgliche Reduzierung der Befristung zu stellen. Eine Umsetzung über den Richtlinienentwurf hinaus lehnen wir ab, da unsere Abschiebungsregelungen richtlinienkonform sind und sich in der Praxis bewährt haben. Die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen zur Erforderlichkeit der Abschiebungsandrohung und zur Abschiebehaft lehnen sich eng an die Formulierungen in der Rückführungsrichtlinie an und tragen darüber hinaus auch Forderungen insbesondere der Kirchen, der Flüchtlingsorganisationen und der Integrationsbeauftragten Rechnung. Die Regelungen zur Abschiebehaft übernehmen die Vorgaben der Richtlinie zum Teil ausdrücklich; zum Beispiel gibt es die Abschiebehaft nur als Ultima Ratio und für Minderjährige sowie Familien mit Minderjährigen nur in Ausnahmefällen, und die Berücksichtigung alters- typischer Belange minderjähriger Abschiebungsgefangener ist gewährleistet. Auf weitere Vorgaben der Richtlinie wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich verwiesen, zum Beispiel darauf, dass Gelegenheit zu altersgerechtem Spielen zu geben ist und dass es Zugang zu Bildungsangeboten geben muss. Ich habe keine Zweifel daran, dass diese Umsetzung den europarechtlichen Vorgaben genügt und die Interessen der Betroffenen hinreichend wahrt. Kritisiert wird ferner, dass keine ausdrückliche Umsetzung der in Art. 8 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Verpflichtung zur Schaffung eines Systems zur Überwachung von Rückführungen - das ist das sogenannte Monitoring - erfolgt sei. Unter anderem haben die Kirchen vorgeschlagen, die Überwachungspflicht im Gesetz festzuschreiben und darüber hinaus in der Begründung zum Gesetz eine Bezugnahme auf das bestehende System der Abschiebungsbeobachtungsstellen aufzunehmen. An den Flughäfen Frankfurt, Düsseldorf und Hamburg bestehen bereits Abschiebungsbeobachtungsstellen, die von den Kirchen und anderen Nichtregierungsorganisationen getragen werden; sie beobachten aufgrund von Vereinbarungen mit den Bundespolizeiinspektionen der Flughäfen die Durchführung von Rückführungen auf dem Luftweg. Bei der Unionsfraktion und bei der Bundesregierung bestehen Vorbehalte gegen die Schaffung einer Rechtsgrundlage und damit einer rechtlichen Absicherung der Rückführungsüberwachung. Eine solche Regelung widerspräche aus Sicht der Fraktion dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass staatliche Machtausübung durch die Gerichte, nicht aber durch Nichtregierungsorganisationen kontrolliert wird. Auf eine gesetzliche Regelung der Rückführungsüberwachung wurde daher zu Recht verzichtet. Zudem sind die bestehenden verwaltungsinternen Vorkehrungen, auf denen das System der Abschiebungsbeobachtung beruht, zur Umsetzung der Verpflichtung aus Art. 8 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie ausreichend. Lassen Sie mich nun noch einige Worte zur sogenannten Sanktionsrichtlinie und zum Visakodex sagen. Sowohl der EU-Visakodex, der das Verfahren zur Erteilung von Schengen-Visa innerhalb der EU harmonisiert, als auch die Sanktionsrichtlinie verstehen sich als Teilaspekt im Kampf gegen illegale Einwanderung. Diese Maßnahmen sollen wiederum Teilgrundlage in einer umfassenden Einwanderungspolitik werden. Illegale Einwanderung wird durch die Möglichkeit, ein illegales Beschäftigungsverhältnis in der EU eingehen zu können, begünstigt. Die illegale Beschäftigung illegaler Einwanderer stellt damit einen wesentlichen "Pullfaktor" dar. Deshalb benötigen wir in allen EU-Mitgliedstaaten vergleichbare Sanktionen für die Beschäftigung von illegal eingereisten Personen. Die Umsetzung der Richtlinie dient diesem Erfordernis. Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch ein paar Worte an die selbsternannten Menschenrechtler unter Ihnen richten: Ich verstehe, wenn sich Nichtregierungsorganisationen und Kirchen über die teils strikten Regelungen der Richtlinien und die Eins-zu-eins-Umsetzung durch die Bundesregierung enttäuscht zeigen. Aber was ist die Alternative? Nicht jeder, der in Europa Zuflucht sucht, ist auch tatsächlich schutzbedürftig. Dass eine illegale Zuwanderung schon allein aufgrund der nachdrängenden Massen nicht einfach akzeptiert werden kann, hat jeder Nationalstaat schon lange für sich entschieden. Insbesondere aus Frankreich und Italien hören wir in regelmäßigen Abständen immer wieder Rufe nach restriktiveren Abschieberegelungen. Abgeschoben wird in allen europäischen Staaten - aber eben unter verschiedenen Voraussetzungen und Bedingungen. Es einfach dabei zu belassen, wäre die denkbar schlechteste aller Varianten gewesen - erst recht im Sinne der illegal eingereisten Menschen. Ich bin überzeugt, dass das Gesetzespaket, dass wir in Form der Umsetzung der diesem Gesetzentwurf zugrunde liegenden Richtlinien geschnürt haben, eine gute Grundlage für weitere legislative Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik ist. Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen zwei Richtlinien der Europäischen Union umgesetzt werden: einmal die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - die sogenannte Rückführungsrichtlinie - und die Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen - die sogenannte Sanktionsrichtlinie. Die Umsetzungsfrist für die Rückführungsrichtlinie ist am 24. Dezember 2010 abgelaufen; sie ist mithin jetzt geltendes innerstaatliches Recht. Dafür, sich an ihre "Umsetzung" zu machen, ist es also allerhöchste Zeit - wenn man die Regelungen der Richtlinie begrenzen will. Und das wollen die Regierungs-fraktionen ganz offensichtlich, wie der vorgelegte Gesetzentwurf aufzeigt. In Art. 11 Abs. 2 RL 2008/115/EG wird festgelegt, dass für abgeschobene Personen ein Wiedereinreiseverbot ergeht: "Die Dauer des Einreiseverbotes wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre". Die Formulierung "wird ... festgesetzt" macht dabei deutlich, dass die Befristung des Einreiseverbotes von Amts wegen erfolgen muss und ein Antrag hierfür nicht erforderlich ist. Anders steht es jedoch in dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf. Dort wird zwar auf den Einzelfall abgestellt und eine Befristung der Wiedereinreisesperre von maximal fünf Jahren festgelegt; allerdings erfolgt eine solche Befristung wie bislang nach in Deutschland üblicher Praxis nur auf Antrag des Betroffenen. Ohne einen Antrag gilt sie quasi ein Leben lang. Das ist aber mit der Richtlinie 2008/115/EG nicht vereinbar. Kapitel IV der RL 2008/115/EG gibt vor, wann eine Inhaftnahme zum Zwecke der Abschiebung zulässig ist und unter welchen Bedingungen diese erfolgen darf. Zunächst ist hier festzuhalten und noch einmal ganz deutlich zu machen, dass die Abschiebehaft allein eine Ultima-ratio-Regelung sein kann, die erst dann ergriffen werden darf, wenn keine anderen gleich wirksamen Möglichkeiten gegeben sind. Und wenn man dann zum Mittel der Abschiebehaft greift, muss immer beachtet werden, dass die Abschiebehaft nur und ausschließlich die physische Anwesenheit garantieren soll und dass sie weder einen Straf- noch Abschreckungscharakter haben darf; schließlich geht es bei der Inhaftnahme um einen der schwersten Grundrechtseingriffe überhaupt: den Entzug der Freiheit. Gemäß Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie hat die Abschiebehaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu erfolgen. Damit soll ausgeschlossen werden, dass Abschiebehäftlinge in regulären Strafvollzugsanstalten festgehalten werden. Von dieser Voraussetzung darf nach der RL 2008/115/EG eine Ausnahme gemacht werden, wenn "in einem Mitgliedstaat solche speziellen Einrichtungen nicht vorhanden" sind. In "Umsetzung" der Richtlinie normiert § 62 a Abs. 1 AufenthG-E in Satz 1 zwar, dass "die Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen" wird, in Satz 2 steht dann allerdings, dass für den Fall, wenn "spezielle Hafteinrichtungen im Land nicht vorhanden" sind, die Abschiebungshaft "in diesem Land" auch "in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden" kann. Die Rückführungsrichtlinie meint mit "Mitgliedstaat" in unserem Fall Deutschland und nicht etwa das Bundesland Hessen oder Berlin oder sonstiges. § 62 a Abs. 1 Satz 2 AufenthG-E liest sich aber genau so, als würde es darauf ankommen, ob in einem Bundesland spezielle Einrichtungen für Abschiebehäftlinge vorhanden sein müssten, und, wenn dies nicht der Fall ist, die Abschiebehaft in diesem Bundesland auch in allgemeinen Strafvollzugsanstalten zulässig sei. Damit verkennt der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Intention der Rückführungsrichtlinie und dehnt die Ausnahmereglung des Art. 16 Abs. 1 in unzulässiger Weise aus. Im Ausnahmefall, in dem die Unterbringung nicht in speziellen Abschiebeeinrichtungen möglich ist, muss gemäß der Richtlinie die Unterbringung der "in Haft genommenen Drittstaatsangehörigen gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen" erfolgen. Sinn und Zweck dieser Regelung kann allein sein, die auf ihre Abschiebung wartenden Drittstaatsangehörigen vor einer Kriminalisierung und Stigmatisierung durch die Zusammenlegung mit gewöhnlichen Strafgefangenen zu schützen. Dies ist nicht nur insbesondere für Minderjährige und Familien von besonderer Bedeutung, sondern vor allem auch für traumatisierte und psychisch schwer geschädigte Menschen von großer Wichtigkeit. Diese Menschen werden durch die eventuelle Zusammenlegung mit normalen Straftätern noch weiter traumatisiert und psychisch destabilisiert; nach einer langen Flucht muss ihnen die Inhaftierung in einem deutschen Strafgefängnis wie eine nicht mehr zu erklärende Endstation vorkommen. Den Bedürfnissen besonders schutzbedürftiger Personen muss jedoch gemäß Art. 16 Abs. 3 der RL 2008/115/EG Rechnung getragen werden. Am sinnvollsten wäre hier sicherlich eine vorherige psychologische Untersuchung zur Feststellung, ob die oder der Drittstaatsangehörige überhaupt haftfähig ist. Schließlich normiert Art. 17 der Rückführungsrichtlinie besondere Regeln im Umgang mit der Inhaftierung von Minderjährigen und Familien. Hierzu betont die Richtlinie in Abs. 1, dass bei diesen Personengruppen das Mittel der Abschiebehaft "nur im äußersten Falle und nur für die kürzest mögliche angemessene Dauer" eingesetzt werden darf. Weiter macht die Richtlinie in Art. 17 Abs. 3 dann sehr konkrete Angaben darüber, wie die Ausgestaltung der Haft - wenn sie denn als Ulitma ratio angewandt wird - aussehen muss. In der Richtlinie steht, dass die Jugendlichen "Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und ... Zugang zu Bildung erhalten" müssen. Art. 17 Abs. 4 der Richtlinie fordert weiter ebenfalls sehr konkret, dass unbegleitete Minderjährige in Einrichtungen untergebracht werden müssen, die personell und materiell in der Lage sind, auf die speziellen altersgemäßen Bedürfnisse dieser Personengruppe einzugehen. Insbesondere das Erfordernis der personellen Kapazität verweist auf das Erfordernis, dass pädagogisch geschultes Personal institutionell vorhanden sein muss. Zwar verweist der Gesetzentwurf in § 62 a Abs. 3 allgemein auf Art. 17 der Rückführungsrichtlinie. Es ist jedoch unklar, ob hiermit Art. 17 Abs. 3 oder 4 umgesetzt werden soll. In der Begründung findet sich dazu Folgendes: "Um den spezifischen Bedürfnissen minderjähriger Ausländer nach § 62 a Abs. 3 Rechnung zu tragen, soll diesen zum Beispiel Gelegenheit zu altersgerechtem Spielen und zur Erholung gegeben werden." Zum einen ist dies jedoch gegenüber Art. 17 III RL 2008/115/EG ebenfalls unvollständig, weil der Verweis auf den notwendigen Bildungszugang fehlt. Zum anderen ist eine Erläuterung in der Begründung keine ausreichende Richtlinienumsetzung. Diese muss im Gesetzestext vorgenommen werden. Über die personelle Ausgestaltung von Einrichtungen, in denen unbegleitete Minderjährige inhaftiert werden, findet sich in § 62 a AufenthG-E nichts. Alle Maßnahmen die Inhaftnahme von Minderjährigen betreffend sind an Art. 17 Abs. 5 Rückführungricht-linie zu prüfen. Dieser besagt, dass "dem Wohl des Kindes ... Vorrang" einzuräumen ist. Ein Hinweis auf diesen wichtigen Maßstab fehlt ebenfalls in § 62 a AufenthG-E. Neben der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie soll der Gesetzentwurf die Sanktionsrichtlinie dem innerstaatlichen Recht anpassen. Bei der Umsetzung fehlen vor allem Regelungen für den Fall, dass ein illegaler Arbeitnehmer um seinen Lohn geprellt wird und diesen einklagen möchte. Für diesen Fall sieht Art. 6 II RL vor, dass die Mitgliedstaaten Verfahren einrichten müssen, die es illegal aufhältigen Ausländern ermöglichen, Ansprüche auf ausstehenden Lohn und ausstehende Sozialversicherungsbeiträge gegen ihren Arbeitgeber geltend zu machen. Dies soll entweder dadurch geschehen, dass der Arbeitnehmer selber seinen Lohn einklagt, oder aber dadurch, dass er sich an eine zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats wendet, um ein Verfahren mit dem Ziel einzuleiten, die ausstehenden Vergütungen einzuziehen, ohne selbst einen Anspruch geltend machen zu müssen. Ein solches Verfahren ist im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vorgesehen. Theoretisch ist es nach wie vor denkbar, dass ein Illegaler vor dem Arbeitsgericht ein Verfahren einleitet. In der Praxis scheitert die Geltendmachung eines solchen Anspruches aber zumeist daran, dass die Betroffenen aus Angst vor der Aufdeckung ihres Status und der daraufhin zu befürchtenden Abschiebung davon absehen, eine solche Klage zu erheben; Denn der Arbeitsrichter ist gemäß § 87 II AufenthG übermittlungspflichtig an die Ausländerbehörden. Mittlerweile sind die Übermittlungspflichten für den Bereich der Gesundheit zumindest in den Verwaltungsvorschriften eingeschränkt worden, sodass Illegale ohne Angst vor der sofortigen Abschiebung den Gang zum Arzt wagen können, bevor sie im schlimmsten Fall unheilbar krank sind. Dass die Übermittlungspflichten für Kindergärten, Schulen und sonstige Jugendfreizeiteinrichtungen eingeschränkt werden müssen, so wie es in vielen Bundesländern Praxis ist, ist mittlerweile wohl politischer Konsens quer durch alle Fraktionen. Für eine effektive Umsetzung von Art. 6 II RL wäre daher mindestens eine spezielle Ausnahme für Arbeitsgerichte in den hier relevanten Fällen von der Übermittlungspflicht des § 87 II AufenthG geboten. Eine Lösung, die diese ebenso wie andere Fallkonstellationen aufgreift, hat die SPD-Bundestagsfraktion in Bundestagsdrucksache 17/56 vorgeschlagen. Wir bitten aus diesen Gründen ausdrücklich um Ihre Unterstützung für unseren Entwurf. Den vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung empfehle ich jedoch aus den genannten Gründen abzulehnen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Gesetzentwurf dient der Umsetzung einiger wichtiger Richtlinien im Bereich des Ausländer- und Aufenthaltsrechts; insbesondere die Rückführungs- und die Sanktionsrichtlinie sind hier zu nennen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat die Rückführungsrichtlinie begrüßt. Anders als zum Beispiel die Kollegen von der Linken sehen wir hier einen großen Fortschritt: Erstmals gibt es innerhalb Europas gleiche Mindeststandards im Bereich der Rückführung. Reflexartig wird die Richtlinie verteufelt. Aber sie ist ein großer Fortschritt für die Betroffenen. Und das ist entscheidend - nicht die politische Polemik der Linken. Die Rückführungs-RL hätte bereits zum Ende letzten Jahres umgesetzt werden müssen. Die sorgfältige Abstimmung des Gesetzentwurfes innerhalb des BMI mit den anderen Ressorts und insbesondere auch die intensive Beteiligung der Verbände zeigt, dass die Bundesregierung große Sensibilität in diesem Themenbereich zeigt. Dies ist auch richtig: Gerade die Abschiebungshaft greift tief in Grundrechte ein und muss daher besonders austariert werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion war immer wichtig, dass diese nur letztes Mittel sein kann und sein darf. Nach unserer Überzeugung wurde bei dem Gesetzentwurf dieser Haltung Rechnung getragen. Die Koalitionsfraktionen haben sich entschieden, den Gesetzentwurf parallel einzubringen, da die Frist zur Umsetzung bereits verstrichen ist. Ein Vertragsverletzungsverfahren wegen besonders sorgfältigen Abwägens sollte der Bundesregierung nicht aufgebürdet werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gesetzentwurf in dieser Form verbleiben muss. Sicherlich wird es dazu eine Anhörung im Innenausschuss geben, die meiner Ansicht nach so bald wie möglich stattfinden sollte, damit wir das Gesetzesvorhaben noch vor der Sommerpause abschließen können. Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen, die aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion im Rahmen des Gesetzentwurfes nochmals näher zu betrachten sind: Das Kindeswohl muss Priorität haben. Der Gesetzentwurf ist in Bezug auf die Abschiebungshaft bei Minderjährigen sehr ausgewogen. Allerdings gibt es doch Stellen, an denen Kritik insbesondere von Kirchen erhoben wird. Hier wird zu klären sein, ob eventuell klarere Formulierungen hilfreich sein könnten, um auch das Anliegen der Regierungskoalition, das Kindeswohl prioritär zur Geltung zu bringen, vollumfänglich zu gewährleisten. Das Kindeswohl ist für die schwarz-gelbe Koalition zentral. Dies zeigt sich bereits in der Rücknahme des Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention. Keine Vorgängerkoalition hatte dies zustande gebracht. Mit der Rücknahme des Vorbehalts kann selbstverständlich der Einsatz für das Kindeswohl noch nicht abgeschlossen sein. Vielmehr muss der Gesetzgeber bei allen Rechtsakten darauf achten, dass dieses entsprechend Maßstab ist. Abschiebungen sind im Ausländerrecht notwendig; die Abschiebungshaft ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion auch notwendiges Mittel zur Durchsetzung des Ausländerrechts. Allerdings muss man bei einem derart sensiblen Bereich als Gesetzgeber und als Vollziehende möglichst alles unternehmen, um für eine angemessene Durchführung, Transparenz und Akzeptanz zu sorgen. Den Vorschlag insbesondere der Kirchen, die Abschiebebeobachtung als Möglichkeit ins Gesetz aufzunehmen, halte ich aus diesem Grund durchaus für überlegenswert. Diese ist bereits erprobt und hat sich bewährt. Wir müssen dabei zum einen an die Betroffenen denken, für die die Abschiebebeobachtung zur Beruhigung beitragen kann, zum andern aber auch an diejenigen, die die Abschiebung durchzuführen haben. Diese werden oftmals in der Öffentlichkeit vollkommen zu Unrecht verunglimpft. Gerade denen kann die Abschiebebeobachtung auch helfen. Dass nun explizit vorgesehen ist, dass Abschiebehäftlinge in separaten Einrichtungen untergebracht werden sollen, begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Die Unterbringung in normalen Gefängnissen kann grundsätzlich nicht hingenommen werden. Die Umsetzung der Rückführungsrichtlinie ist für uns auch Anlass, das Vorhaben im Koalitionsvertrag, die Abschiebehaftbedingungen zu evaluieren, anzugehen. Wir möchten auch die sozialrechtlichen Vorschriften, die beim Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz nicht mehr untergebracht werden konnten, nun einflechten. Uns liegt des Weiteren noch ein Vorhaben des Koalitionsvertrages am Herzen. Dort ist Folgendes vereinbart: "Wir werden die aufenthaltsgesetzlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen dahin gehend ändern, dass der Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird." Es ist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen ändern, um den Schulbesuch von Kindern zu gewährleisten. Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Integration und persönlichen Erfolg. Wir werden in den kommenden Wochen in der Koalition über diese und weitere Änderungen verhandeln. Die Anhörungsergebnisse sollen ebenso Grundlage für die weiteren Überlegungen sein. Ich bin mir angesichts der erfolgreichen Verhandlungen innerhalb der Koalition unter anderem zum Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz sicher, dass wir auch hier wichtige Weichenstellungen erreichen werden. Um die illegale Beschäftigung von Ausländern zu verhindern bzw. zu sanktionieren, fordert die Sanktionsrichtlinie im Wesentlichen die Ausdehnung der Arbeitgeberhaftung auf Generalunternehmer und zwischengeschaltete Unternehmer, erhöhte Nachweispflichten für Arbeitgeber und die Einführung von zwei neuen Straftatbeständen. Darüber hinaus ist ein befristeter Aufenthaltstitel für Opfer illegaler Beschäftigung einzuführen, um ihre Mitwirkung als Zeugen im Strafverfahren zu ermöglichen. Wegen einiger Regelungen des Visakodex (insbesondere zur Erforderlichkeit der Begründung von Visumversagungen sowie zur Anfechtbarkeit der Visumversagung) sind im Wesentlichen Anpassungen der Form- und Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes notwendig. Im Zusammenhang mit den genannten Anpassungen an europäische Rechtsakte werden zur Klarstellung und zur Bereinigung von Unstimmigkeiten technische und redaktionelle Anpassungen aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vorgenommen, die sich auf unterschiedliche Regelungsbereiche des Aufenthaltsgesetzes, das AZR-Gesetz, die Aufenthaltsverordnung und die AZRG-Durchführungsverordnung erstrecken. Deutschland verändert sich. Die neue Bundesregierung wird diese Veränderung gestalten - ohne Ideologie und vorurteilsfrei. Migration und Integration stellen Deutschland vor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine aktive Integrationspolitik geeinigt. Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet für die, die nicht nur "territorial" nach Deutschland kommen, sondern auch mit ihrer Kultur in unserem Land sowie unserer Gesellschaft mit ihren Grundwerten ankommen wollen. Wir halten es nicht wie die Grünen oder Linken für unzumutbar, Deutsch zu lernen, wir halten Zuwanderer nicht für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort "Migrationshintergrund" stigmatisiert werden sollen. Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgen muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich positiv denken. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für diejenigen, die das geschafft haben. Wir halten integrierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine große Bereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben. Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind dankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir verhandeln hier heute in erster Linie die Umsetzung zweier EU-Richtlinien in das deutsche Aufenthaltsrecht. Die eine Richtlinie ist international als Abschieberichtlinie zu trauriger Berühmtheit gelangt. Des Weiteren soll die sogenannte Sanktionsrichtlinie umgesetzt werden. Damit werden Strafen gegen Arbeitgeber, die Menschen ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beschäftigen, zur Pflicht. Zudem sollen die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, als Zeugen gegen ausbeuterische Arbeitgeber aufzutreten und ausstehenden Lohn einzuklagen. Im Rahmen der Umsetzung der Sanktionsrichtlinie geht es auch um das Aufenthaltsrecht für die Betroffenen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse ohne Aufenthaltsstatus. Hier gibt es dringenden Änderungsbedarf. Wie schon bei den Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution soll das Aufenthaltsrecht für diese Menschen begrenzt und davon abhängig gemacht werden, ob die Mitwirkung der Betroffenen in einem strafrechtlichen Verfahren erforderlich ist. Das ist eine strafrechtliche Instrumentalisierung von Menschen, die nicht selten Hilfe und Beistand benötigen. Noch schlimmer: Die Betroffenen können sich nicht einmal sicher sein, ob ihre Aussagebereitschaft auch zu einer Aufenthaltserlaubnis führt, weil die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Ermessen der Ausländerbehörde steht. Den Opfern ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse wird klargemacht, dass man sie so schnell wie möglich wieder loswerden will: Sie können zur Ausreise verpflichtet werden, obwohl sie ausstehenden Lohn noch nicht erhalten haben. Wenn sie bleiben dürfen, erhalten sie lediglich abgesenkte Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, obwohl sich strafrechtliche Prozesse wegen Menschenhandel und illegaler Beschäftigung über Jahre hinziehen können. In dieser Zeit können die Betroffenen damit auch kaum therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Die Linke fordert ein bedingungsloses Bleiberecht für diese Menschen und ihre Familien. Sie dürfen nicht ein zweites Mal zu Opfern werden, indem man sie für Strafprozesse instrumentalisiert. Noch weitaus erschreckender ist die Umsetzung der Abschieberichtlinie durch die Koalition. Zunächst will ich Folgendes vorausschicken: Die Linke lehnt die Abschiebehaft weiterhin grundsätzlich ab. Sie dient ausschließlich der Durchsetzung einer Verwaltungsmaßnahme, der Ausreisepflicht. Eine Inhaftierung von Menschen zu diesem Zweck ist aus unserer Sicht grundsätzlich unverhältnismäßig. Dass sich nach deutscher Rechtslage der Freiheitsentzug über 18 Monate hinziehen kann, ist inakzeptabel. Diese Höchstgrenze für Abschiebehaft von 18 Monaten aber hat die Bundesregierung auf EU-Ebene durchgesetzt, um an unverhältnismäßig langen Haftzeiten auch in Deutschland festhalten zu können. Allerdings enthält die Abschieberichtlinie auch vorgaben, die zu wenigen menschenrechtlichen Verbesserungen im Vollzug der Abschiebehaft in Deutschland führen müssten. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt diese Vorgaben gar nicht oder ungenügend um. In Teilen verletzt er andere menschenrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik. Darauf will ich im Folgenden eingehen. Der Schutz des Kindeswohls wird im vorliegenden Gesetzentwurf schlicht ignoriert. Nach der Rücknahme des Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonvention darf die Bundesrepublik ausländische Kinder nicht mehr schlechter behandeln als inländische Kinder. Auch für die ausländischen Kinder gilt, dass ihr Wohl im Handeln der Behörden vorrangig beachtet werden muss. Die Abschiebehaft bei Kindern und Jugendlichen ist ein eklatanter Verstoß gegen diesen Grundsatz. Die UN-Kinderrechtskonvention erlaubt eine Inhaftierung Minderjähriger lediglich bei Straftaten und nur als letztes Mittel. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat in einem Gutachten klargestellt: Unbegleitete Minderjährige dürfen nicht in Abschiebehaft genommen werden. Auch für Minderjährige in Begleitung von Erwachsenen gilt diese menschenrechtliche Grenze. Auch die in Deutschland übliche Inhaftierung eines Elternteils, um die Abschiebung der gesamten Familie zu sichern, verletzt die Verpflichtung zum Vorrang des Kindeswohls, so das Gutachten. Das fehlende Verbot der Inhaftierung Minderjähriger und ihrer Sorgeberechtigten im Gesetzentwurf ist ein menschenrechtlicher Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Auch die Inhaftierung Kranker und insbesondere psychisch Traumatisierter und anderer besonders schutzbedürftiger Personen muss endlich eindeutig im Gesetzestext untersagt werden. Es gibt noch einigen weiteren Anpassungsbedarf, um wenigstens dieser "Richtlinie der Schande", wie sie genannt wurde, Genüge zu tun. Die Pflicht zur gesonderten Unterbringung außerhalb von Strafvollzug und Untersuchungshaft muss wirksam und ausnahmslos umgesetzt werden. Die Abschiebehäftlinge müssen kostenlos Zugang zu Rechtsvertretung und -beratung haben. Die Inhaftierung von Asylsuchenden, die üblicherweise kein Visum erhalten und deshalb illegal einreisen müssen, muss wirksam ausgeschlossen werden. Das ist auch eine Anforderung aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der die Bundesrepublik noch nicht nachgekommen ist. Die Koalition muss im weiteren Gesetzgebungsverfahren wenigstens den Anforderungen der Abschieberichtlinie und der menschenrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik nachkommen. Ungeachtet dessen bleibt Die Linke bei ihrer grundsätzlichen Kritik an der Abschiebehaft als Instrument einer restriktiven Migrations- und Flüchtlingspolitik. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung legt uns heute einen Gesetzentwurf zur Umsetzung zweier EU-Richtlinien vor, der sehr ängstlich und zurückhaltend ist, wenn es um die rechtliche Besserstellung von Immigranten geht. Bei der Beseitigung der Missstände taucht die Bundesregierung ab und ist ideenlos. Der Gesetzentwurf betrifft zum einen die EU-Rückführungsrichtlinie über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, zum anderen die EU-Sanktionsrichtlinie über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen. Die noch im Referentenentwurf enthaltene EU-Hochqualifiziertenrichtlinie findet sich im Gesetzentwurf nicht mehr. Offenbar konnte die Bundesregierung sich nicht über die notwendigen Änderungen bei der Fachkräfteeinwanderung einigen. Das ist typisch für diese Bundesregierung: Vor lauter Streit ist sie nicht mehr fähig zu regieren. Die Rückführungsrichtlinie hätte bis spätestens zum 24. Dezember 2010 in deutsches Recht umgesetzt werden müssen. Die noch nicht einmal im Gesetzgebungsverfahren befindliche EU-Hochqualifiziertenrichtlinie muss bis Juni 2011 umgesetzt werden. Im vorliegenden Gesetzentwurf sind hinsichtlich der Rückführungsrichtlinie weiterhin Bestimmungen enthalten, die im Vorfeld von allen kirchlichen und gesellschaftlichen Institutionen - zum Beispiel auch dem Deutschen Institut für Menschenrechte - einhellig kritisiert wurden: Sie betreffen die vorgesehenen Regelungen zur Abschiebehaft, insbesondere von Minderjährigen. Diese soll - wenn auch mit Einschränkungen - weiterhin zulässig sein. Aus unserer Sicht ist das höchst problematisch. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte betont in einer jüngst erschienenen Studie, dass "es unter Berücksichtigung der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) menschenrechtlich unzulässig ist, Abschiebehaft gegenüber unbegleiteten Minderjährigen anzuordnen". Problematisch ist auch die fehlerhafte Umsetzung der Rückführungsrichtlinie zum Vollzug der Abschiebehaft. Die Richtlinie lässt nämlich die Unterbringung von Abschiebehäftlingen in gewöhnlichen Haftanstalten allenfalls dann zu, wenn in einem Mitgliedstaat spezielle Hafteinrichtungen nicht vorhanden sind. In Deutschland gibt es diese jedoch in mehreren Bundesländern. Die Ausnahmeregelung bezieht sich auf EU-Mitgliedstaaten, in denen es keine speziellen Hafteinrichtungen gibt, nicht auf deutsche Bundesländer, wie im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen. Die weitere Unterbringung von Abschiebungshäftlingen in Strafhaftanstalten ist demnach unzulässig. Auch die Schaffung gesonderter Trakte in Justizvollzugsanstalten reicht nicht aus. Denn hinter der Regelung des Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie steht die Erkenntnis, dass Abschiebungshäftlinge nicht wie Straftäter behandelt und dementsprechend auch nicht den Strafvollzugsregelungen unterworfen werden dürfen. Die Regierung scheint vergessen zu haben, dass es sich bei der Abschiebehaft nicht um Strafhaft zur Ahndung strafrechtlicher Delikte handelt. Zweck der Abschiebehaft ist einzig die Durchführung der Abschiebung. Deswegen wäre es auch richtig und wichtig gewesen, anlässlich der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie die Höchstdauer der Abschiebehaft von 18 Monaten deutlich zu verkürzen. Denn die Möglichkeit, einem Menschen für 18 Monate allein zur Durchführung der Abschiebung die Freiheit zu entziehen, wird dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht. Bedauerlicherweise wird in dem vorgelegten Gesetzentwurf die Gelegenheit nicht wahrgenommen, auch andere durch europäisches Recht notwendig gewordene Änderungen bzw. Klarstellungen vorzunehmen. So erscheint es dringend geboten, gemäß Art. 13 der Rückführungsrichtlinie, der die Gewährung effektiven Rechtsschutzes fordert, endlich den einstweiligen Rechtsschutz in Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung zu ermöglichen. Ich verweise insofern auf die Grundsatzentscheidung des EGMR vom 21. Januar 2011 im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Beschwerde Nr. 30696/09. Seit den mit dem 1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2 AsylVfG der einstweilige Rechtsschutz gegen Entscheidungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung generell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein effektiver Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsgerichten nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann wirksam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren gerichtlicher Überprüfung eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden können. Weiterhin sind gesetzliche Anpassungen, die sich aus der Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention ergeben, in den Gesetzentwurf zu integrieren. Schließlich hat die Bundesregierung die Gelegenheit verpasst, die Übermittlungspflichten des § 87 AufenthG einzuschränken, damit statuslose Kinder ihr Recht auf Schulbildung auch tatsächlich ausüben können. Ebenso hat die Bundesregierung es unterlassen, die Residenzpflicht für Geduldete und Asyl bewerber zu lockern. Mit der Residenzpflicht gibt es in Deutschland ein bundesweites und in Europa einzigartiges System der Aufenthaltsbeschränkung. Diese räumliche Beschränkung des Aufenthalts auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde hat diskriminierende Wirkung und führt dazu, dass das Recht dieser Personen auf Teilnahme an kulturellen, politischen und religiösen Veranstaltungen unzulässig eingeschränkt und der Zugang zu einer erforderlichen ärztlichen oder psychologischen Behandlung und zum Arbeitsmarkt wesentlich erschwert werden. Ich erwarte, dass die Bundesregierung im weiteren Gesetzgebungsverfahren die allseitige Kritik ernst nimmt und die notwendigen Änderungen vornimmt. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83-91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980 1Anlage 3 2Anlage 4 3Anlage 5 4Anlage 6 5 Anlage 7 6Anlage 8 7Erklärungen nach § 31 GO siehe Anlage 2 8Anlage 9 9Anlage 10 10Anlage 11 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 105. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 105. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12123 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 12112 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 105. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 105. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12113