Plenarprotokoll 17/126 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 126. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 I n h a l t : Erweiterung der Tagesordnung Streichung der Tagesordnungspunkte 13 und 16 Tagesordnungspunkt 1: Befragung der Bundesregierung: Waldstrategie 2020 – Internationales Jahr der Wälder 2011 Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Cajus Caesar (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Petra Crone (SPD) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Alois Gerig (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Georg Schirmbeck (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Ulrich Kelber (SPD) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Alexander Süßmair (DIE LINKE) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Cajus Caesar (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Petra Crone (SPD) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Josef Rief (CDU/CSU) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Tagesordnungspunkt 2: Fragestunde (Drucksachen 17/6994, 17/7019) Mündliche Frage 3 Ute Kumpf (SPD) Aktueller Sachstand zum Ausbau der 27 Neckarschleusen Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Ute Kumpf (SPD) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Mündliche Frage 4 Ute Kumpf (SPD) Ausschreibung der „Schaufenster Elektromobilität“ Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Ute Kumpf (SPD) Mündliche Frage 7 Florian Pronold (SPD) Beginn und Laufzeit des bundesweiten Feldversuchs mit Gigalinern Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Florian Pronold (SPD) Martin Burkert (SPD) Mündliche Frage 8 Florian Pronold (SPD) Gründe für die Nichtteilnahme Hessens am Feldversuch mit Gigalinern Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Florian Pronold (SPD) Martin Burkert (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Ulrike Gottschalck (SPD) Mündliche Frage 11 Michael Groß (SPD) Etwaiger Ausgleich des Defizits im Verkehrsetat durch Mauteinnahmen Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Michael Groß (SPD) Florian Pronold (SPD) Gustav Herzog (SPD) Hans-Joachim Hacker (SPD) Martin Burkert (SPD) Florian Pronold (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Mündliche Frage 12 Michael Groß (SPD) Nichtübernahme mehrerer Projekte aus dem alten in den neuen Investitionsrahmenplan Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Michael Groß (SPD) Gustav Herzog (SPD) Mündliche Frage 13 Hans-Joachim Hacker (SPD) Stand der Erarbeitung eines neuen Investitionsrahmenplans (IRP) für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Hans-Joachim Hacker (SPD) Michael Groß (SPD) Martin Burkert (SPD) Mündliche Frage 14 Hans-Joachim Hacker (SPD) Im gültigen Investitionsrahmenplan verankerte und wegen fehlender finanzieller Mittel des Bundes nicht begonnene Bauprojekte Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Hans-Joachim Hacker (SPD) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kirsten Lühmann (SPD) Mündliche Frage 15 Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Nutzungsausfälle der Großschleusen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau seit 2008 Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Sönke Rix (SPD) Mündliche Frage 16 Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Baulicher und betrieblicher Zustand der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Sönke Rix (SPD) Mündliche Fragen 19 und 20 Sönke Rix (SPD) Stand der Planungen für die Ertüchtigung der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Sönke Rix (SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Mündliche Frage 26 Gustav Herzog (SPD) Erhalt des Wasser- und Schifffahrtsamtes Hannoversch Münden mitsamt des Personals Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Gustav Herzog (SPD) Florian Pronold (SPD) Ulrike Gottschalck (SPD) Mündliche Frage 27 Gustav Herzog (SPD) Verbesserungsbedarf der Situation der deutschen Binnenschifffahrt im europäischen Wettbewerb Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Gustav Herzog (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Martin Burkert (SPD) Ulrike Gottschalck (SPD) Florian Pronold (SPD) Nicolette Kressl (SPD) Mündliche Frage 28 Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Reduzierung des Schienenbonus Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Mündliche Frage 29 Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreises sowie eines öffentlich finanzierten Wagenbonussystems Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Gustav Herzog (SPD) Mündliche Frage 30 Martin Burkert (SPD) Vermehrte Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Martin Burkert (SPD) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Mündliche Frage 31 Martin Burkert (SPD) Gewährleistung eines festen Bestandes einsetzbarer Güterwagen Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Martin Burkert (SPD) Florian Pronold (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Mündliche Frage 32 Elvira Drobinski-Weiß (SPD) Konsequenzen für die weitere Planung der Rheintalbahn aus möglichen Kosteneinsparungen durch die 2008er-Variante mit vier Gleisen an der Autobahn Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfrage Elvira Drobinski-Weiß (SPD) Mündliche Frage 33 Nicolette Kressl (SPD) Bewertung der Bundesregierung zu Kostenberechnungen der Deutschen Bahn AG für die Alternative zur Bündelungstrasse im Rheintal Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Nicolette Kressl (SPD) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Mündliche Frage 36 Dr. Marlies Volkmer (SPD) Gründe für die Streichung der zweiten Ausbaustufe des Dresdner Hauptbahnhofs aus dem Fünfjahresplan des BMVBS und Konsequenzen Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Dr. Marlies Volkmer (SPD) Mündliche Frage 37 Kirsten Lühmann (SPD) Pläne der Europäischen Kommission zur Marktöffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Kirsten Lühmann (SPD) Mündliche Frage 38 Kirsten Lühmann (SPD) Haltung der Bundesregierung zu dem von Gewerkschaften und Betriebsräten befürchteten Lohndumping bei Neuformulierung der Richtlinie zur Marktöffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Zusatzfragen Kirsten Lühmann (SPD) Martin Burkert (SPD) Mündliche Frage 41 Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Finanzielle und organisatorische Unterstützung der Wälder-Weltinitiative Antwort Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin BMU Zusatzfragen Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusatztagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Geordnete Insolvenz – Die Haltung der Bundesregierung Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Barthle (CDU/CSU) Joachim Poß (SPD) Christian Lindner (FDP) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Werner Schieder (Weiden) (SPD) Dr. Volker Wissing (FDP) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Rüdiger Kruse (CDU/CSU) Garrelt Duin (SPD) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Bettina Kudla (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fachkräfteprogramm – Bildung und Erziehung – unverzüglich auf den Weg bringen (Drucksachen 17/2019, 17/7007) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Michael Kretschmer (CDU/CSU) Sylvia Canel (FDP) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ewa Klamt (CDU/CSU) Sönke Rix (SPD) Florian Hahn (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2010 (Drucksache 17/6250) Kersten Steinke (DIE LINKE) Günter Baumann (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) (CDU/CSU) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Ingrid Remmers (DIE LINKE) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) Steffen-Claudio Lemme (SPD) Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (Drucksache 17/6343) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ute Granold (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Stephan Thomae (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Norbert Geis (CDU/CSU) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Geis (CDU/CSU) Michael Kauch (FDP) Tagesordnungspunkt 6: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Faire Teilhabechancen von Anfang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: – Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung realisieren – Kostenkalkulation für Kinderbetreuung überprüfen – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2008 – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Erster Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes) (Drucksachen 17/3663, 17/1973, 17/1778, 16/12268, 17/591 Nr. 1.7, 17/2621, 17/4249) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2010 (Zweiter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes) (Drucksache 17/5900) Dorothee Bär (CDU/CSU) Caren Marks (SPD) Miriam Gruß (FDP) Diana Golze (DIE LINKE) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine bessere Bildungssituation weltweit (Drucksache 17/6484) Dr. Bärbel Kofler (SPD) Anette Hübinger (CDU/CSU) Niema Movassat (DIE LINKE) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen (Drucksache 17/7021) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Helga Daub (FDP) Heike Hänsel (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Niema Movassat (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete (Drucksache 17/5912) Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 (Drucksache 17/6987) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme der Bundeswehr an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan (UNMIS) (Drucksache 17/7000) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär BMVg Niema Movassat (DIE LINKE) Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Den Staat Palästina anerkennen (Drucksachen 17/6150, 17/7056) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen (Drucksachen 17/6298, 17/7057) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Drucksache 17/6643) Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Militärischen Abschirmdienst einsparen (Drucksache 17/6501) Bernd Siebert (CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU) Rainer Arnold (SPD) Christoph Schnurr (FDP) Inge Höger (DIE LINKE) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen (Drucksache 17/6644) Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksache 17/7020) Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Erforderliche Bewilligungen von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen gewährleisten (Drucksache 17/6493) Rudolf Henke (CDU/CSU) Erwin Rüddel (CDU/CSU) Steffen-Claudio Lemme (SPD) Dr. Erwin Lotter (FDP) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 17/6764) Max Straubinger (CDU/CSU) Ottmar Schreiner (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär BMAS Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Dr. Valerie Wilms, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen – Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis (Drucksache 17/6499) Ingbert Liebing (CDU/CSU) Frank Schwabe (SPD) Angelika Brunkhorst (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung (Drucksache 17/6905) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Christoph Strässer (SPD) Mechthild Dyckmans (FDP) Jens Petermann (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz erweitern (Drucksache 17/3747) Erika Steinbach (CDU/CSU) Ute Granold (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Pascal Kober (FDP) Annette Groth (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung des Abkommens vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/6257) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/6258) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/6259) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (Drucksache 17/6565) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) Holger Krestel (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtslage in Westsahara (Drucksachen 17/4440, 17/4994) Frank Heinrich (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Serkan Tören (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Dringliche Frage 1 Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) Verfassungsrechtliche Bedenken der Bundesregierung hinsichtlich einer Zwangsversetzung ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit in der Stasi-Unterlagen-Behörde Antwort Bernd Neumann, Staatsminister BK Anlage 3 Mündliche Fragen 1 und 2 Christian Lange (Backnang) (SPD) Gefährdete Verkehrsprojekte in Baden-Württemberg in den Entwürfen des BMVBS für den Investitionsrahmenplan; genereller Stopp für Neubauprojekte Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 4 Mündliche Frage 5 Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Konsequenzen eines Ausstiegs Griechenlands aus der Euro-Zone aus verkehrspolitischer Sicht Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 5 Mündliche Frage 6 Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Umsetzung des Vorschlags des Bundesrats zur Regelung der Barrierefreiheit in der Novelle des Personenbeförderungsgesetzes Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 6 Mündliche Frage 9 Uwe Beckmeyer (SPD) Einführung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstraßen Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 7 Mündliche Frage 10 Uwe Beckmeyer (SPD) Abschluss des Mautschiedsverfahrens Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 8 Mündliche Fragen 17 und 18 Franz Thönnes (SPD) Vorlage eines Förderantrags „Anpassung der Oststrecke des Nord-Ostsee-Kanals“ im Rahmen der transeuropäischen Netze Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 9 Mündliche Frage 21 Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Mittel für Um-, Aus- und Neubaumaßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal im Bundeshaushalt 2012 Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 10 Mündliche Frage 22 Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) Etwaige Erhöhung der Gebühren und Abgaben für die Schifffahrt am Nord-Ostsee-Kanal Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 11 Mündliche Frage 23 Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) EU-Mittel für die Ertüchtigung des Nord-Ostsee-Kanals Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 12 Mündliche Fragen 24 und 25 Bettina Hagedorn (SPD) Investitionskonzept für die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur des Querverkehrs am Nord-Ostsee-Kanal; Einschränkung des Fährverkehrs Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 13 Mündliche Frage 34 Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) Kostenberechnungen der Deutschen Bahn AG für die Alternative zur Bündelungstrasse im Rheintal und Konsequenzen für die Bundesregierung Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 14 Mündliche Frage 35 Heinz Paula (SPD) Gewährleistung der Elektrifizierung der Bahnstrecke München–Memmingen–Lindau bis 2017 Antwort Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Anlage 15 Mündliche Fragen 42 und 43 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ausschreibungen und Schaffung von Arbeitsplätzen beim „Helios“-Solarprojekt Antwort Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin BMU Anlage 16 Mündliche Fragen 44 und 45 Dirk Becker (SPD) Forschungsaktivitäten zur Entwicklung von Biokraftstoffen der zweiten und dritten Generation sowie Folgen der Insolvenz der Firma CHOREN Industries GmbH Antwort Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin BMU Anlage 17 Mündliche Frage 46 Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Aufteilung der erhöhten Mittel im Bundeshaushalt 2012 für die Förderung der „Naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung“ Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 18 Mündliche Fragen 47 und 48 Ulla Burchardt (SPD) Verwendung der zusätzlichen Mittel in der Position „Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschafts- und Innovationssystems“ sowie Kürzung der Projektfördermittel für den Bereich „Elektroniksysteme“ im Bundeshaushalt 2012 Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 19 Mündliche Frage 49 Michael Gerdes (SPD) Stand der Verhandlungen zu den Großprojekten XFEL und FAIR Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 20 Mündliche Frage 50 Michael Gerdes (SPD) Streichung der Förderung für kleine und mittlere Unternehmen im Rahmen von „KMU-innovativ“ Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 21 Mündliche Frage 51 Klaus Hagemann (SPD) Minderabflüsse aus dem Haushaltstitel „Überregionale Forschungsförderung im Hochschulbereich“ seit 2007 Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 22 Mündliche Fragen 52 und 53 Oliver Kaczmarek (SPD) Konkrete Maßnahmen für die im Finanzplan 2013 bis 2015 vorgesehenen Mittel im Bereich „vor- und außerschulisches Lernen im Lebenslauf“ sowie Beitrag des Bundes zu einem angestrebten „Alphapakt“ für die Grundbildung von Erwachsenen Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 23 Mündliche Frage 54 Dagmar Ziegler (SPD) Anzahl der Anträge und Förderzusagen für Aufstiegsstipendien ab 2009 Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 24 Mündliche Frage 55 Dagmar Ziegler (SPD) Konkrete Projekte für den im Finanzplan ab 2013 geplanten Aufwuchs in der beruflichen Bildung Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 25 Mündliche Frage 56 Swen Schulz (Spandau) (SPD) Vorkehrungen im Finanzplan 2013 bis 2015 beim Hochschulpakt zur Ausfinanzierung bei wachsender Anzahl von Studienanfängern Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 26 Mündliche Frage 57 Swen Schulz (Spandau) (SPD) Auswirkungen des niedrigeren Titelansatzes im Haushalt 2012 bei der Förderung des Studenten- und Wissenschaftleraustausches des DAAD Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 27 Mündliche Fragen 58 und 59 Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zurückhaltende Beteiligung der Unternehmen und privaten Stifter beim sogenannten Deutschland-Stipendium trotz staatlicher Kofinanzierung; Parameter und Erscheinungsdatum der geplanten Bundesstatistik Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 28 Mündliche Fragen 60 und 61 Willi Brase (SPD) Koordination der Maßnahmen der Berufseinstiegsbegleitung nach SGB III und der „Bildungslotsen“ im Rahmen der Bildungsketten sowie Gründe für die Dopplung gleichgerichteter Maßnahmen zur Berufsorientierung und zur Potentialanalyse im Bildungshaushalt Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 29 Mündliche Frage 62 Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Vorhaben und Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Rahmen des Deutsch-Russischen Jahres der Bildung, Wissenschaft und Innovation Antwort Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 30 Mündliche Frage 63 Karin Roth (Esslingen) (SPD) Auszahlung der zurückgehaltenen BMZ-Mittel an den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria nach der Veröffentlichung des High-Level-Panel-Berichts zu den Korruptionsvorwürfen Antwort Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BMZ Anlage 31 Mündliche Frage 64 Heike Hänsel (DIE LINKE) Einstellung eines früheren Mitarbeiters der Friedrich-Naumann-Stiftung im BMZ Antwort Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BMZ Anlage 32 Mündliche Fragen 65 und 66 Dr. Sascha Raabe (SPD) Finanztransaktionsteuer als Tagesordnungspunkt bei der Jahrestagung von IFW und Weltbank; Auswirkungen einer solchen Steuer auf Entwicklungs- und Schwellenländer und Verwendung des Aufkommens für Armutsbekämpfung Antwort Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BMZ Anlage 33 Mündliche Fragen 67 und 68 Gerd Bollmann (SPD) Aussetzen weiterer Genehmigungen für das Fracking und Änderung der Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 34 Mündliche Frage 69 Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Beihilferechtliche Zulässigkeit von § 14 Abs. 5 und § 23 Abs. 1 der Niedersächsischen Verordnung über die Feldes- und die Förderabgabe nach deutschem und EU-Recht Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 35 Mündliche Frage 70 Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vereinbarkeit des angekündigten Förderprogramms für fossile Kraftwerke mit dem Europarecht Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 36 Mündliche Frage 71 Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Garantie der vollen Fördermittel für die Energieforschung aus dem Energie- und Klimafonds für 2012 Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 37 Mündliche Frage 72 Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Veröffentlichung von Unternehmensnamen durch die zu gründende Schlichtungsstelle Energie bei Entscheidungen mit allgemeinen Verbraucherinteressen Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 38 Mündliche Frage 73 Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verpflichtung der Energieversorger auf jährliche Energieeinsparungen von 1,5 Prozent im Rahmen der Energieeffizienzrichtlinie Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 39 Mündliche Frage 74 Heike Hänsel (DIE LINKE) Mögliche Aussetzung des Panzergeschäfts mit Saudi-Arabien Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Anlage 40 Mündliche Frage 75 Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stand der Planungen von im Februar 2011 angekündigten Bildungsprogrammen zur Unterstützung des arabischen Frühlings Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 41 Mündliche Frage 76 Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verlängerung und Neuausgestaltung des Mandats für die Operation Atalanta Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 42 Mündliche Frage 77 Dr. Rolf Mützenich (SPD) Beitritt der westlichen Balkanstaaten zur EU Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 43 Mündliche Frage 78 Dr. Rolf Mützenich (SPD) Berücksichtigung einer EU-Beitrittsperspektive für die Partnerstaaten der Europäischen Nachbarschaftspolitik in der Erklärung für den geplanten Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 44 Mündliche Fragen 79 und 80 Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kontrolle und Einsatz der Afghan Local Police Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 45 Mündliche Frage 81 Andrej Hunko (DIE LINKE) Kosten des anstehenden Papstbesuches Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 46 Mündliche Frage 82 Inge Höger (DIE LINKE) Beteiligung deutscher Staatsbürger an der Ausbildung der Special Security Force durch die Sicherheitsfirma R2 in den Vereinigten Arabischen Emiraten Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 47 Mündliche Frage 83 Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der Bilateralen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Russischen Föderation in den Jahren 2012 und 2013 Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 48 Mündliche Frage 84 Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Schlussfolgerungen aus der Einschätzung des Berichterstatters der UN-Menschenrechtsorganisation Professor Manfred Nowak zur Einbuße an Legitimität der westlichen Staaten in Menschenrechtsfragen Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin AA Anlage 49 Mündliche Frage 85 Andrej Hunko (DIE LINKE) Beteiligung des US-Department of Homeland Security an der Operation „Amazon II“ der Grenzschutzagentur FRONTEX am Frankfurter Flughafen sowie an weiteren Polizeimaßnahmen Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 50 Mündliche Frage 86 Ulrike Gottschalck (SPD) Termin für den Einsatz ausgereifter Körperscanner auf den Flughäfen Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 51 Mündliche Frage 87 Ulrike Gottschalck (SPD) Einführung einer bundeseinheitlichen Luftfrachtsicherheitsgebühr Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 52 Mündliche Frage 88 Inge Höger (DIE LINKE) Aufgaben des in Abu Dhabi stationierten BKA-Verbindungsbeamten und gegebenenfalls weiterer in den Vereinigten Arabischen Emiraten eingesetzter Beamten des BKA oder anderer Bundesbehörden Antwort Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 53 Mündliche Frage 89 Klaus Ernst (DIE LINKE) Zusätzliche Nettokreditaufnahme ab 2012 bei einer Staatspleite Griechenlands Antwort Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Anlage 54 Mündliche Frage 90 Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Prüfung der erwarteten Vorschläge der EU-Kommission zu Euro-Bonds durch die Bundesregierung und Kontrollrechte des Deutschen Bundestages Antwort Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Anlage 55 Mündliche Frage 91 Klaus Hagemann (SPD) Regelungen zur Parlamentsbeteiligung bei der Griechenland-Hilfe und dem sogenannten Euro-Rettungsschirm in den Mitgliedsländern der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität Antwort Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Anlage 56 Mündliche Frage 92 Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Durchführung eines Datenabgleichs zwischen Umsatzsteuer-Voranmeldung und zusammenfassender Meldung Antwort Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Anlage 57 Mündliche Frage 93 Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Veröffentlichung des Abkommens mit der Schweiz über unversteuerte Kapitalerträge Antwort Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Anlage 58 Mündliche Frage 94 Heinz Paula (SPD) Fällige Erbschaftsteuer bei Vererbung eines Eigenheims an ein Elternteil bei weiterer Eigennutzung durch das Elternteil Antwort Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Anlage 59 Mündliche Fragen 95 und 96 Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Von der Bundesagentur für Arbeit befristet eingestellte Arbeitnehmer in den Jahren 2007, 2008 und 2009; Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei sachgrundloser Befristung Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 60 Mündliche Frage 97 Anton Schaaf (SPD) Überlegungen zu Änderungen der Zurechnungszeit bei der Erwerbsminderungsrente Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 61 Mündliche Frage 98 Anton Schaaf (SPD) Prinzip der Leistungsgerechtigkeit bei Aufstockungen durch die sogenannte Zuschussrente Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 62 Mündliche Frage 99 Marco Bülow (SPD) Bedürftigkeitsorientierte Gestaltung der sogenannten Zuschussrente Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 63 Mündliche Frage 100 Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Dynamisierung des Nettozahlbetrags der Zuschussrente Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 64 Mündliche Fragen 101 und 102 Angelika Krüger-Leißner (SPD) Anteil anspruchsberechtigter Personen für die Zuschussrente in Ost- und Westdeutschland sowie Klärung der zuständigen Träger Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 65 Mündliche Frage 103 Katja Mast (SPD) Zuschussrente als individualisierte Leistung und unabhängig vom Einkommen eines Partners Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 66 Mündliche Frage 104 Katja Mast (SPD) Erfüllungskriterien für die Anspruchsvoraussetzung der Wartezeit in der zusätzlichen Altersvorsorge Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 67 Mündliche Frage 105 Anette Kramme (SPD) Beteiligung der Bundestagsfraktionen am „Regierungsdialog Rente“ Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 68 Mündliche Frage 106 Anette Kramme (SPD) Aussage von Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen zur Verlängerung der Rente nach Mindestentgeltpunkten Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 69 Mündliche Frage 107 Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Auswirkung der Verlängerung der Zurechnungszeit bei Erwerbsminderungsrenten Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 70 Mündliche Frage 108 Josip Juratovic (SPD) Verzicht des BMAS auf die Verankerung des Erwerbsminderungsschutzes in der betrieblichen und der geförderten privaten Altersvorsorge Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 71 Mündliche Frage 109 Josip Juratovic (SPD) Unterstützung von Modellen für Teilaltersrenten ab dem vollendeten 60. Lebensjahr im Rahmen des „Regierungsdialog(s) Rente“ Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 72 Mündliche Frage 110 Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit bei über 50-Jährigen Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 73 Mündliche Frage 111 Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik angesichts sich verfestigender Langzeitarbeitslosigkeit Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 74 Mündliche Frage 112 Steffen-Claudio Lemme (SPD) Bilanz der Bundesregierung zum Mindestlohn in der Pflegebranche Antwort Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 75 Mündliche Frage 113 Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Etwaige Mittelkürzung in der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Anlage 76 Mündliche Frage 114 Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verlust der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft und Vorschläge der EU-Kommission zum Greening der ersten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Anlage 77 Mündliche Fragen 115 und 116 Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deutsche Ablehnung von Vorschlägen der Europäischen Kommission zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik, insbesondere zum sogenannten Greening Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Anlage 78 Mündliche Frage 117 Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ausgestaltung der Direktzahlungen an Landwirte Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Anlage 79 Mündliche Frage 118 Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Gutschriften für Agrarbetriebe bei Vermeidung von Methan- und CO2-Emmissionen als klimapolitisches Instrument Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Anlage 80 Mündliche Frage 119 Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Förderung des einheimischen Anbaues von Eiweißfutterpflanzen durch den Freistaat Bayern als Vorbild für den Bund Antwort Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Anlage 81 Mündliche Frage 120 Ulla Jelpke (DIE LINKE) Regelungen in den Richtlinien für die Durchführung der Informationsarbeit bezüglich der Zugangsbeschränkung zu Waffen für Minderjährige Antwort Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär BMVg Anlage 82 Mündliche Fragen 121 und 122 Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) Neuregelung des Zugangs von Kindern zu Waffen und Gerät der Bundeswehr im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen in der Richtlinie des BMVg zur Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr Antwort Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär BMVg Anlage 83 Mündliche Frage 123 Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Überstellung von Gefangenen in Haftanstalten durch deutsche ISAF-Soldaten in Afghanistan seit 2001 Antwort Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär BMVg Anlage 84 Mündliche Frage 124 Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verdeckte Anrufe des BMFSFJ zur Kontrolle der Werbung des Bundesfreiwilligendienstes durch Träger und Verbände Antwort Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ Anlage 85 Mündliche Frage 125 Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gesetzliche Regelung des Anspruchs auf Kindergeld im Bundesfreiwilligendienst Antwort Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ Anlage 86 Mündliche Frage 126 Steffen-Claudio Lemme (SPD) Vorlage des Gutachtens des gemeinsamen Wissenschaftlichen Beirates zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich Antwort Ulrike Flach, Parl. Staatssekretärin BMG Anlage 87 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete (Tagesordnungspunkt 9) Michael Frieser (CDU/CSU) Helmut Brandt (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 88 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Den Staat Palästina anerkennen – Beschlussempfehlung und Bericht: Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesordnungspunkt 3) Peter Beyer (CDU/CSU) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Christian Lange (Backnang) (SPD) Dr. Rainer Stinner (FDP) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 89 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Tagesordnungspunkt 12) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 90 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 14) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Lars Klingbeil (SPD) Sebastian Blumenthal (FDP) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ Anlage 91 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) Dr. Daniel Volk (FDP) Richard Pitterle (DIE LINKE) Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 92 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): zur Abstimmung über den Antrag: Den Staat Palästina anerkennen (Tagesordnungspunkt 11) 126. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 Beginn: 13.01 Uhr Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist verabredet worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Geordnete Insolvenz – Die Haltung der Bundesregierung ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme der Bundeswehr an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan (UNMIS) – Drucksache 17/7000 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen – Drucksachen 17/6298, 17/7057 – Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Hörster Günter Gloser Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller (Köln) Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 13 und 16 werden abgesetzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Oppositionsfraktionen rücken entsprechend vor. – Damit sind Sie einverstanden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Waldstrategie 2020 – Internationales Jahr der Wälder 2011. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Herr Dr. Gerd Müller. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf der Tribüne! Halten Sie den Atem an – (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Lieber nicht! Das ist ungesund!) und atmen Sie weiter. Den Atem zu kontrollieren und frische Luft in die Lungen aufzunehmen, ist etwas, was man etwa 20 000 bis 30 000 Mal im Jahr macht. Das Sauerstoffvorkommen in der Luft und somit das Überleben von Mensch, Tier und Umwelt werden von unseren Wäldern in der Welt gesichert. Sie sorgen aber nicht nur für den lebensnotwendigen Sauerstoff. Auch viele andere wichtige Faktoren wie beispielsweise das Wasser und der Klimaschutz hängen mit dem Erhalt unserer Wälder weltweit eng zusammen. Ich möchte Ihnen das an einer Zahl verdeutlichen: 20 Prozent des weltweiten Ausstoßes des Klimagases CO2 gelangen durch Brandrodung in die Atmosphäre. Die VN hat das Internationale Jahr des Waldes ausgerufen. Die Bundesregierung hat sich daher heute in der Kabinettssitzung mit der Bundeswaldstrategie beschäftigt und diese verabschiedet. Danach sollen Maßnahmen zur Stärkung der nachhaltigen Bewirtschaftung, Erhaltung und Entwicklung aller Arten von Wäldern zum Nutzen heutiger und zukünftiger Generationen durchgeführt werden. Wir stellen auch in Deutschland leider fest, dass immer mehr Menschen – nicht nur in den städtischen Gebieten – den Bezug zum Ökosystem Wald verlieren. Für uns ist er Heimat und Refugium unzähliger Tiere und Pflanzen. Er schützt das Klima, das Wasser und den Boden. Er liefert Energiequellen wie den nachwachsenden Rohstoff Holz. Er bietet außerdem Erholung, Arbeit und Naturerlebnis. Der Wald in Deutschland wird nachhaltig bewirtschaftet. Der Begriff der Nachhaltigkeit, der heute in unser aller Munde ist – das gilt für viele Politik- und Lebensbereiche –, hat seinen Ursprung in der Forstwirtschaft. Hans Carl von Carlowitz, sächsischer Oberberghauptmann, gilt als wesentlicher Schöpfer des Nachhaltigkeitsbegriffs. Er schrieb 1713 das erste geschlossene Werk zum Thema Forstwirtschaft. Unser Ministerium ist nun der Aufforderung der VN gefolgt und hat die bundesweite Kampagne „Waldkulturerbe“ ins Leben gerufen. Sie haben richtig gehört: Wir verstehen den deutschen Wald – ein Drittel der Landfläche – als Kulturerbe, das es nachhaltig zu schützen und weiterzuentwickeln gilt. An dieser Kampagne haben sich bisher 1 000 Partner beteiligt – Bund, Länder und Verbände. Diese haben über 6 000 Veranstaltungen eingebracht. Heute haben wir im Kabinett die Waldstrategie 2020 beraten und beschlossen. Dahinter steckt eine über zweijährige Diskussion mit allen betroffenen Verbänden, aber auch mit allen politischen Ebenen. An dieser Stelle möchte ich auch den 2 Millionen Waldbesitzern in Deutschland – den kleinen und großen Forstwirtschaften – herzlich für ihre häufig sehr mühsame und aufopferungsvolle Arbeit danken. Die Bundesregierung steht in diesem Spannungsfeld in der Verantwortung, den Gleichklang von Ökologie, Ökonomie und Sozialem zum Nutzen und Wohle künftiger Generationen zu erhalten. Für Deutschland heißt das, das bewährte Prinzip einer nachhaltigen, multifunktionalen Forstwirtschaft als Grundlage weiterzuentwickeln. In Deutschland hat sich der Wald entgegen dem weltweiten Trend positiv entwickelt. Während wir weltweit jährlich rund 13 Millionen Hektar Wald verlieren, wächst der Wald in Deutschland dank nachhaltiger Forstwirtschaft jährlich zu. In den letzten vier Jahrzehnten nahm die Waldfläche in Deutschland um 1 Million Hektar auf über 11 Millionen Hektar zu. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer möchte ich das erläutern: Es darf nicht mehr geschlagen werden, als nachwächst. Wir haben eine positive Bilanz. Zwischen den Waldinventuren in den Jahren 1987 und 2002 ist der Holzvorrat um 700 Millionen Kubikmeter gestiegen. Deutschland ist in Europa das Holzland Nummer eins. Die Waldstrategie 2020 zeigt auf, wie in der Gemengelage – von Biodiversität bis zur Holznutzung, vom Klimawandel bis zur Kohlenstoffspeicherung – jetzt zahlreiche Schrauben justiert werden müssen, um unsere Ziele zu erfüllen. Die Strategie ist als Leitlinie angelegt, aus deren Empfehlungen in neun Handlungsfeldern Maßnahmen auf unterschiedlichster Akteursebene abgeleitet werden müssen. So fordern die Beschlüsse der Bundesregierung zur Energiewende beispielsweise eine stärkere Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Holz hat hier großes Potenzial – Stichwort Biomasse. Holz spielt aber auch bei der energetischen und stofflichen Nutzung eine große Rolle. Diese Anforderungen muss und wird die Waldstrategie mit den ebenfalls steigenden Anforderungen des Naturschutzes in Einklang bringen. Dabei setzt sie die Nachhaltigkeit und den Erhalt der Produktionskraft der Wälder als obersten Grundsatz. Die Waldstrategie zeigt damit erstmals in einer Gesamtbetrachtung Wege zu einer tragfähigen Balance zwischen den steigenden Ansprüchen an den Wald – auch seitens der Gesellschaft: Tourismus, Begehungsgebot – und seiner nachhaltigen Leistungsfähigkeit. Der heutige Beschluss der Bundesregierung über die Waldstrategie 2020 ist daher ein sehr starkes Signal im Internationalen Jahr der Wälder. Ich sage zusammenfassend: Es gibt viele tagesaktuelle schwierige Probleme, die wir zu bewältigen haben; aber eine echte Überlebensfrage für Menschheit, Tier und Natur sind der Erhalt und die nachhaltige Pflege unserer Wälder in Deutschland und weltweit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bevor ich die erste Frage aufrufe, will ich Sie daran erinnern, dass wir vor der Sommerpause ein neues Verfahren etabliert haben, nämlich dass sich alle Fragesteller und alle Antwortenden auf eine Minute beschränken. Danach erklingt hier ein wunderbares Signal, das Sie darauf aufmerksam macht. Herr Caesar, bitte. Cajus Caesar (CDU/CSU): Zunächst einmal darf ich der Bundesregierung herzlich danken, dass sie mit der Waldstrategie Zeichen setzt. Ich darf den Parlamentarischen Staatssekretär fragen, ob er mit mir einig darüber ist, dass die Waldstrategie insbesondere auf die Bedeutung des Waldes sowie der Forstwirtschaft verweist, bei der die Wertschöpfung vor allem vor Ort erfolgt, und dass unsere Forstwirtschaft aufgrund ihrer Nachhaltigkeit weltweit ein Vorbild ist. Der Rohstoff Holz wird umweltfreundlich erzeugt; gleichzeitig wächst die energetische Bedeutung des Rohstoffes Holz. Vielleicht kann die Bundesregierung ergänzend erläutern, wie groß die wirtschaftliche Bedeutung der Forstwirtschaft ist und welche Bedeutung den Waldbesitzern und Forstleuten zukommt, die zu der entsprechenden Entwicklung beigetragen haben. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Herr Kollege, wir haben in Deutschland 2 Millionen Privatwaldbesitzer sowie 8 000 Staatsforstbetriebe bei Bund, Ländern und Kommunen; vielfach sind es sehr kleine Betriebe. Der Wald hat eine herausragende Bedeutung. Ich möchte dabei auch die Bereiche Schutzwald und Bergwald nennen, die in der Region, aus der ich komme, von Bedeutung sind. Ich habe selber einen kleinen Waldbesitz und weiß, wie mühsam das ist. Das ist das eine. Das andere ist die wirtschaftliche Nutzung. Wir haben die Holzvorräte in Deutschland seit 1960 durch nachhaltige Forstwirtschaft verdoppelt. Der häufig erhobene Vorwurf, die Forstwirte gingen nur in den Wald, um kurzfristigen Nutzen daraus zu ziehen, trifft absolut nicht zu. Forstwirte denken langfristig, nicht in Jahreskreisen, sondern auf 30 oder 50 Jahre bezogen. Nachhaltigkeit wird in Deutschland umgesetzt. Sie zeigt sich in vielfacher Weise. Auch der Waldzustand hat sich im vergangenen Jahr weiter verbessert. Er kann selbstverständlich noch besser werden; aber er hat sich weiter verbessert, dank der Forstwirte in der Republik. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Behm. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Bericht. Sie haben erwähnt, dass der Holzvorrat in den letzten Jahren um 700 Millionen Kubikmeter gestiegen ist; das ist durchaus erfreulich. Sie lassen aber auch nicht unerwähnt, dass die Ansprüche an den Wald und damit auch an das Holz gestiegen sind, dass mehr nachgefragt wird. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass ernstzunehmende Experten für 2020 und die folgenden Jahre eine Holzlücke von 30 Millionen Kubikmetern pro Jahr prognostizieren. Das ist, bezogen auf die Menge, die überhaupt nachhaltig produziert werden kann, ein wirklich beträchtlicher Anteil. Sie haben jetzt in Ihrem Vortrag gesagt, dass die Waldstrategie die Ansprüche an den Wald und seine nachhaltige Leistungsfähigkeit in Einklang bringen muss. Ich frage Sie: Welche Konsequenzen und Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung in der Waldstrategie daraus für die Energiepolitik? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Ich betone noch einmal, dass das Prinzip der Nachhaltigkeit bedeutet: Schützen durch Nützen. Die Forstwirtschaft nutzt den Wald auf vielfältige Weise. Wenn wir beispielsweise unsere ehrgeizigen Ziele bei der Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien erreichen wollen, kommt dem Holz als Träger der Biomasse herausragende Bedeutung zu. Ich will es einmal an ein paar Zahlen verdeutlichen: Schon derzeit trägt Holz als NaWaRo mit einem Anteil von 35 Prozent grundlegend zur Gewinnung erneuerbarer Energien bei. Der Anteil des Holzes an erneuerbaren Energien aus Biomasse beträgt 60 Prozent; bei der Wärmegewinnung aus erneuerbaren Energien beträgt der Anteil des Holzes 66 Prozent, bei der Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien 12 Prozent. Die Waldstrategie hat das Ziel, das Gleichgewicht zwischen der Ökonomie, Wertschöpfung aus dem Wald durch die Pflege, und der Ökologie in vielfältigster Weise herzustellen. Ich möchte an der Stelle betonen, dass wir dieses Ziel im engen Schulterschluss mit dem Bundesumweltministerium verabschiedet haben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Happach-Kasan. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre Einführung. Ich bin sehr froh, dass sich die Bundesregierung entschlossen hat, im Jahr der Wälder eine Waldstrategie zu verabschieden. Sie hat damit viel Kompetenz bewiesen. Wald ist die natürliche Vegetation in Deutschland. Das bedeutet, dass wir eine besondere Verantwortung für den Wald haben. Dieser kommen wir nach. Das Bundesamt für Naturschutz zeigt auf, dass die Zahl der gefährdeten Arten im Wald geringer ist als in allen anderen Biotopen. Holz ist der wichtigste nachwachsende Rohstoff. Deswegen stelle ich eine ganz grundlegende Frage: In welcher Weise will die Bundesregierung im Rahmen ihrer Waldstrategie dafür sorgen, dass Holz in dem für die verschiedenen Verwendungen benötigten Umfang zur Verfügung steht – ich denke an Nadelholz für die Papierherstellung oder Eiche für die Möbelherstellung – und gleichzeitig die Biodiversität bewahrt wird? Welche konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung, und in welcher Weise werden insbesondere die Besitzer kleiner Waldstücke, die über Holzreserven verfügen, eingebunden? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Frau Kollegin, die Besitzer kleiner Waldstücke und die Privatwaldbesitzer liegen uns sehr am Herzen. Die Vererbung von kleinen Waldstücken bedeutet ein gewisses Problem. Wir wollen insbesondere die forstwirtschaftlichen Vereinigungen stärken. Ich rufe die Kleinwaldbesitzer auf – sie gehören häufig zur städtischen Bevölkerung und haben von der Mutter oder Oma ein Stück Wald geerbt –, mit Waldpflegevereinbarungen an die Waldbesitzervereinigungen heranzutreten. Mit der Waldstrategie reagieren wir auf dieses Problem. Wir haben verschiedene Handlungsfelder festgelegt. Ich nenne das Handlungsfeld „Rohstoffsicherung und Effizienz“. Es geht dabei um den Waldbau. Das heißt, die Waldfläche soll erhalten bleiben. Es geht um die Verbesserung der Wertschöpfung. Ich nenne Ihnen die Zahlen: 1,2 Millionen Beschäftigte im Cluster Holz- und Forstwirtschaft und ein Umsatz von 170 Milliarden Euro. Das ist also kein Randthema der Gesellschaft. Es ist sowohl in wirtschaftlicher als auch in ökologischer Hinsicht von herausragender Bedeutung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Crone, bitte. Petra Crone (SPD): Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, die Gesellschaft hat viele Ansprüche an den Wald. In der Waldstrategie werden dementsprechend neue Handlungsfelder formuliert. Wie hat die Bundesregierung die Ansprüche der Gesellschaft in der Waldstrategie 2020 gewichtet? Welche Waldprodukte und Dienstleistungen sind aus Sicht der Bundesregierung wichtig, und welche sind weniger wichtig? Ich denke an ökologische Aspekte wie Natur- und Artenschutz, an Erholung und an die Holzproduktion. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Frau Kollegin, ökonomische, ökologische und soziale Anforderungen und Aspekte stehen gleichwertig nebeneinander. Deshalb ist es uns wichtig, dass mit der Waldstrategie in enger Abstimmung mit der Nachhaltigkeitsstrategie und der Biodiversitätsstrategie genau dieser Ausgleich gesucht wird. Es gibt kein vor- oder nachgelagertes Ziel. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Holzenkamp. Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär Müller, vielen Dank für den Bericht und für Ihr persönliches Engagement für den Wald in Deutschland und damit auch für die vielen Waldbesitzer. Sie haben gerade von dem Wirtschaftsfaktor Holz und Wald gesprochen. Wie kann man die Wirtschaftskraft und die Wettbewerbsfähigkeit dieses Bereichs erhalten bzw. stärken? Was tut die Bundesregierung dafür? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Forschung? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Vielen Dank. Ich danke auch dem Deutschen Forstwirtschaftsrat, insbesondere dem Kollegen Schirmbeck – er ist anwesend –, der wesentliche Vorschläge dazu eingebracht hat. Das Maßnahmenbündel macht deutlich, dass die Forschungsförderung einen hohen Stellenwert hat. Im Zuge des Umbaus unserer Wälder unter dem Aspekt der Klimatauglichkeit gibt es viele Fragen, die wir angehen müssen. Die Fachleute wissen, was damit gemeint ist. Ich nenne das Stichwort „Waldklimafonds“. Mit dem Bundesumweltministerium kamen wir überein, einen Haushaltsansatz von 35 Millionen Euro jährlich festzulegen – wir hätten uns mehr vorstellen können –, wobei wir insbesondere die von Ihnen genannten Ziele und die Forschungsförderung im Auge hatten. Ich sage noch einmal: Die privaten Kleinwaldbesitzer stärkt man insbesondere durch eine Stärkung der Forstbetriebs- und Waldbauernvereinigungen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Tackmann. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Vielen Dank auch von mir. Wir sind froh, dass die Waldstrategie nun endlich vorliegt, nachdem sie bereits im Januar angekündigt war. Nach dem ersten Querlesen muss ich Respekt zollen. Das eine oder andere in der Diskussion ist offensichtlich angekommen und eingearbeitet worden. Über die Details können wir sicherlich noch streiten. Meine Frage geht in folgende Richtung. Sie thematisieren auch die Jagd. Das ist bei der Frage, wie wir den Waldumbau angesichts der historisch hohen Schalenwildbestände schaffen, ein wichtiges Thema. Sie fordern sozusagen die Beteiligten, also Jäger, Waldbesitzer und Bauern, zu einer intensiven Kommunikation auf, um ein Leitbild der „Jagd im Wald“ zu entwickeln. Mich würde interessieren: Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung vom Leitbild der „Jagd im Wald“, und wie will sie diesen Kommunikationsprozess, der, wie ich weiß, emotional und schwierig ist, begleiten und fördern? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Zum Wald gehören natürlich das Wild und damit auch der Jäger und die Jagd. Es gibt keinen Konflikt zwischen Wald- und Forstwirtschaft und Jagd bzw. Jäger. Hier gibt es regionale Unterschiede. Ich nenne einmal das Stichwort „Brandenburg“. Dort gibt es aktuell eine Diskussion darüber, ob zu wenig gejagt wird, was zu einem starken Verbiss und weniger Aufwuchs führt. An anderen Stellen im Lande wird die Klage geführt, es werde zu viel gejagt. Das können und werden wir nicht national regeln. Dazu gibt es Jagdgesetze, Landesgesetze und Kreisbehörden, die das im Einvernehmen zwischen Holz- und Forstwirtschaft, Jagdgenossen und Jägern sehr erfolgreich festlegen. Wir stellen deutschlandweit eine nachhaltige Jagdausübung fest. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Gerig. Alois Gerig (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihren Bericht. Ich freue mich, dass wir mit der Novellierung des Waldgesetzes in 2010 und mit der baldigen Verabschiedung der Waldstrategie in 2011 zwei ganz wichtige Marksteine zum Wohle unserer Wälder setzen. Meine einfache Frage lautet: Welche Strategien verfolgt die Bundesregierung konkret zur Anpassung unserer Wälder an den Klimawandel? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Wir werden die vorhandenen Mittel aus dem Waldklimafonds vor allem in die Forschung investieren, um weitere Probleme zu lösen. Eine zentrale Frage ist: Was ist der optimale Waldbestand, welche Mischung aus Laub- und Nadelwald sollte es an welchem Standort geben? Ich kann zu meiner Freude feststellen, dass es durch die hohe fachliche und forstliche Praxis, die vor Ort praktiziert wird, in den vergangenen 30 Jahren zu einem natürlichen Umbau weg von diesen reinen Monokulturen, zum Beispiel mit Fichten oder Tannen, hin zu einer Mischbewaldung gekommen ist. Wir haben heute – insgesamt gibt es 11,1 Millionen Hektar Wald – einen Mischwaldanteil von 70 Prozent und einen Laubbaumanteil von 40 Prozent. Wir unterstützen die Länder, aber auch die Kommunen bei der Forschung zu der Frage, wie wir dieses Verhältnis in Zukunft optimal auf die jeweilige Region bezogen weiterentwickeln. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Maisch, bitte. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf die EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie. Im Kapitel zum Schutz von Boden und Wasserhaushalt in der Waldstrategie steht ja deutlich, dass die Bundesregierung eine solche Richtlinie ablehnt. Wir sind für eine solche Richtlinie. Deshalb frage ich Sie: Wie wird die Ablehnung dieser Richtlinie forstpolitisch begründet? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Das wird EU-politisch so begründet: Die EU soll sich um die Fragen kümmern, für die sie die Rechtszuständigkeit hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für den Boden im Forst gilt das nicht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Schirmbeck, bitte. Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie haben aus meiner Sicht richtigerweise ausgeführt, dass der deutsche Wald, was Quantität und Qualität betrifft, in den vergangenen Jahrzehnten erheblich gewachsen ist. Es hat also eine sehr positive Entwicklung stattgefunden. Da wir uns im Zeitalter der Biomasse befinden, frage ich Sie: Strebt die Bundesregierung pauschale Flächenstilllegungen an? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Ich habe mir die entsprechenden Unterlagen noch einmal genau angeschaut. Wir streben keine pauschalen Flächenstilllegungen an. Ich weise aber darauf hin: Im neuesten Indikatorenbericht der Bundesregierung zur nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt wird festgestellt, dass wir mit einem Indikatorwert von 81 Prozent den höchsten Teilindikator haben. Das heißt, Nachhaltigkeit wird in hohem Maße umgesetzt. Schon heute stehen sage und schreibe 75 Prozent der Waldfläche unter Schutz. Der Anteil der Naturschutzgebiete der durch die FFH-Richtlinie und Natura 2000 geschützten Gebiete und nach Bundesnaturschutzgesetz etc. geschützten Biotope beträgt 23 Prozent. Zudem sind 120 000 Hektar Bannwald ausgewiesen, die nun bundeseinheitlich kartiert und aufgenommen werden sollen. Wir gehen davon aus, dass die 5 Prozent, von denen die Rede ist, längst erreicht sind. Es wird keine pauschale Ausweisung einer Schutzgebietszone in Höhe von 5 Prozent geben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kelber, bitte. Ulrich Kelber (SPD): Herr Staatssekretär, wir freuen uns, dass Sie die Waldstrategie nach drei Jahren vorgelegt haben. Der Praxischeck ist allerdings etwas ernüchternd. Wenn man sich § 11 des Bundeswaldgesetzes anschaut, stellt man fest, dass zum Schutz des Waldes genau zwei Punkte festgelegt sind: Kahlgeschlagene Flächen sollen in angemessener Frist wieder aufgeforstet werden, wenn keine andere Nutzung genehmigt wird, und die Kulturgeschichte des Waldes soll berücksichtigt werden. Ist die Bundesregierung jetzt bereit, die gute fachliche Praxis, die Sie gerade erwähnt haben, ins Bundeswaldgesetz aufzunehmen und damit ökologische und soziale Mindeststandards gesetzlich festzulegen? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Wir haben das Bundeswaldgesetz im vergangenen Jahr novelliert. Es steht keine weitere Novellierung des Bundeswaldgesetzes an. Es besteht aus ökologischer Sicht und auf der Basis der von mir vorgetragenen Erkenntnisse kein Anlass, an der guten fachlichen Praxis in den Ländern zu zweifeln. Auch ihre Umsetzung und ihre Kontrolle sind gewährleistet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Fischer, bitte. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, in der Vergangenheit galt der Grundsatz „Wald und Wild“. Meine Frage: Wird dieser Grundsatz durch die Waldstrategie verdrängt, oder wird er beibehalten? Besteht das Risiko, dass der Grundsatz „Wald vor Wild“ in den Ländern wieder verstärkt zum Tragen kommt? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: „Wald und Wild“ ist ein tragfähiger Grundsatz, an dem wir festhalten. Eines unserer Handlungsfelder besteht darin, für Aufklärung und Information zu sorgen und zu verhindern, dass Feindbilder in die Gesellschaft getragen werden. Die Jägerinnen und Jäger in Deutschland leisten herausragende Arbeit. Sie leisten auch einen Beitrag zum Schutz und zur Erhaltung des Ökosystems Wald. Das funktioniert in den allermeisten Fällen in hervorragender Zusammenarbeit und im Zusammenspiel mit den Forstwirten. Wir fordern alle Beteiligten auf, auch in Zukunft gemeinsam für die Erhaltung des Ökosystems Wald und für den Schutz von Natur und Tieren einzutreten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Süßmair. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Herr Staatssekretär, meine Frage knüpft an die eben erwähnte Stilllegung von Waldflächen an. Sie haben gesagt, es soll keine pauschalen Stilllegungen geben, und die bestehenden Flächen genannt. Mich würde interessieren: Was plant die Regierung für den Fall, dass zum Beispiel private Waldbesitzer im Rahmen der Biodiversitätsstrategie Flächen stilllegen? Wird der finanzielle Ausfall ersetzt? Werden Entschädigungen gezahlt? Zurzeit ist in den Bundesländern leider die Tendenz zu beobachten, dass vor allem Staatsforste stillgelegte Flächen bzw. ökologische Vorrangflächen zur Verfügung stellen, mit der Folge, dass diese Einnahmen den öffentlichen Haushalten fehlen. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Ich möchte noch einmal betonen, dass wir bereits 75 Prozent des deutschen Waldes als Sondergebiete bzw. als Schutzgebiete ausgewiesen haben und dass es jetzt keine Notwendigkeit gibt, darüber hinaus mit gesetzlichen Regelungen zu agieren. Ich darf Sie noch auf eine interessante Studie des Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hinweisen; denn mit Ihrer Frage wird ja suggeriert, stillgelegte Waldflächen seien ökologisch wertvoller als genutzte Wälder. Dem wird durch die Ergebnisse der Wissenschaftler in der Studie widersprochen. Sie sagen: Die Biodiversität wird durch wirtschaftlich genutzte Wälder nicht mehr oder nur sehr wenig mehr als durch absolut nicht genutzte, verrottende Wälder beeinträchtigt. Ich kann Ihnen das am Beispiel der Käfer- und Vogelarten darstellen: Während es im Naturwald 451 Käferarten und 30 Vogelarten gibt, sind es im Wirtschaftswald 423 Käferarten und 32 Vogelarten. Wir haben das in einem Monitoring ganz genau wissenschaftlich untersucht. Deshalb sind wir nicht für eine weitere gesetzliche Festlegung einer 5-Prozent-Schutzzone. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Caesar, bitte. Cajus Caesar (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie haben eben zu Recht formuliert, dass es auf eine nachhaltige Bewirtschaftung ankommt. Sind Sie der Auffassung, dass dem durch die Waldstrategie Rechnung getragen wird, und zwar vor dem Hintergrund, dass aufgrund der umweltfreundlichen Erzeugung dieses Rohstoffes und der energetischen Verwertung zusätzliche Anforderungen an den Wald gestellt werden? Gerade mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wollen wir bestimmte Ziele erreichen, um der Bedeutung des Klimaschutzes und natürlich auch der erneuerbaren Energien Rechnung zu tragen. Was besagt also die Waldstrategie hinsichtlich der Tatsache, dass auch dem energetischen Bedarf Beachtung geschenkt werden muss? Das würde bedeuten, dass man in der Lage ist, dort entsprechend ausreichende Holzmassen bereitstellen zu können. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Ich habe den Istzustand genannt. Holz spielt eine herausragende Rolle. Wenn wir die Bioenergieziele, die sich die Bundesregierung gesetzt hat, erreichen wollen, wird Holz eine weiter steigende Bedeutung haben müssen – auch unter dem Gesichtspunkt des aktiven Klimaschutzes. Der Wald speichert ja nicht nur CO2 und gibt Sauerstoff ab – das sind seine herausragenden Funktionen –, sondern durch die stoffliche und energetische Nutzung ist der Kohlenstoff gebunden. Er wird nicht in die Atmosphäre abgegeben. Es gibt also viele Gründe dafür, den Bereich Holz sowohl für die energetische als auch für die stoffliche Nutzung – als Baustoff für den Hausbau und somit als Alternative zu Beton – weiter zu stärken. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen Punkt kurz ansprechen: Wir haben nicht nur national ein Zertifizierungssystem, das der Deutsche Forstwirtschaftsrat begründet hat – die Forstwirte haben dies ein Stück weit freiwillig entwickelt –, sondern wir sind daneben intensiv dabei, solche Regeln auch international umzusetzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Ebner, bitte. Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatssekretär, Sie haben soeben die wichtige volkswirtschaftliche Bedeutung der Holzwirtschaft erwähnt. Der Waldumbau weg von Nadelholzmonokulturen hin zu Mischwäldern wird angesichts des Klimawandels auch von der Bundesregierung – so haben Sie das vorhin auch ausgeführt – wenn nicht als alternativlos, so doch als Ziel angesehen. Gleichzeitig ist die Holzwirtschaft in weiten Teilen des Landes nicht auf die Verwertung von Laubholz, sondern überwiegend auf die Verwertung von Nadelholz eingestellt. Daher lautet meine Frage: Welche Strategie verfolgt die Bundesregierung, um holzwirtschaftlich und insbesondere auch forschungspolitisch auf diese Herausforderung reagieren zu können? Das Thema Baustoffverwendung haben Sie ja schon angesprochen. Danke. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Ich habe die Zahlen genannt: 70 Prozent Mischwälder mit einem Anteil von 40 Prozent Laubbäumen. In diesem Zusammenhang nenne ich auch die Themen Aufwuchs und Buche. Außerdem verzeichnen wir einen Zuwachs bei 80-jährigen Wäldern. Dies zeigt, dass durch die fachliche forstwirtschaftliche Praxis in den Ländern und vor Ort eine Nachhaltigkeit beim Umbau unseres deutschen Waldes erreicht wird, sodass der Klimaschutz erhöht werden kann. Mit dieser positiven Entwicklung sind wir sehr zufrieden. Die Holzwirtschaft muss sich, was die Verarbeitung betrifft, sicherlich ein Stück weit darauf einstellen. Ich sehe derzeit keine Notwendigkeit, dass vonseiten der Bundesregierung hier der Holzwirtschaft Hilfen geboten werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Crone, bitte. Petra Crone (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben sich am Anfang unter anderem für die Zusammenarbeit mit den Waldbesitzern bedankt. Schon zu Beginn des Jahres wurde ein Entwurf präsentiert, der dann aber zurückgezogen werden musste, weil von den Naturschutzverbänden, Umweltverbänden und auch Forstverbänden sehr viel Kritik geübt wurde. Man hatte nicht den Eindruck, dass da sehr viel Partizipation vorhanden war. Wie sehen Sie das? Wie sehen Sie den Informationsfluss zwischen dem Umweltministerium und dem BMELV? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Bundesminister Röttgen und Bundesministerin Aigner haben diese Waldstrategie im Einvernehmen beschlossen. Auf fachlicher Ebene gab es vorher einen zweijährigen Informationsaustausch; das ist selbstverständlich. Die Fachkompetenz aller Ressorts wird hier eingebracht. Meine Kollegin Staatssekretärin Heinen haben wir leider an das Bundesumweltministerium abgeben müssen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie hat aber sehr gut mitgearbeitet!) Damit ist der Einfluss unseres Hauses und die Kompetenz dort in diesen Fragen gewachsen. Dies hat sich in der Abstimmung und in der Zusammenarbeit als sehr positiv herausgestellt. Die ökologischen und wirtschaftlichen Themen sind zu einer Gesamtstrategie zusammengewachsen, wie es in einer funktionierenden Bundesregierung vielleicht beispielgebend sein könnte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Wir stellen fest: Auf der Regierungsbank wird gelacht!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Behm. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist schön, dass ich noch einmal das Wort bekomme. – Der Kollege Fischer hat die Jagd angesprochen. In Ihrer Strategie stellen Sie selbst nun fest, dass sich die Jagdausübung in Deutschland ändern muss, damit es möglich ist, dass sich Wälder überall in Deutschland ohne kostenaufwendige Einzäunung, die für die Waldbesitzer wirklich ein Problem ist, naturverjüngen. Da frage ich mich ganz besorgt, warum Sie nicht die Schlussfolgerung ziehen, das Jagdrecht, also den rechtlichen Rahmen, zu ändern; denn schließlich ist es der rechtliche Rahmen, mit dem dafür gesorgt werden soll, dass wir in allen Teilen Deutschlands waldgerechte Wilddichten haben. Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Frau Kollegin Behm, ich bin Herrn Fischer sehr dankbar dafür, dass er dieses Ehrenamt übernommen hat und diese Grundsätze in den Deutschen Jagdschutzverband hineinträgt. Den bundesgesetzlichen Rahmen für die Jagd in Deutschland bilden das Bundesjagdgesetz, die Bundesjagdzeitenverordnung sowie die Bundeswildschutzverordnung. Nun sage ich Ihnen Folgendes aus der Praxis: Vor ein paar Wochen, mittags um 12 Uhr, war ich zu Hause, lag auf der Terrasse und sah, wie ein Fuchs vorbeiging. Stellen Sie sich das einmal vor! (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was für eine Überraschung!) Er machte sich an meinem Kompost zu schaffen und schlich sich dann wieder davon. Das verdeutlicht das Problem. Wir haben beispielsweise in meiner Region das Problem der Fuchsbejagung; denn viele Jäger sagen: Das mache ich nicht, weil es sich nicht mehr lohnt. – Viele meinen noch immer, dass mit der Jagd etwas verdient wird. Vielmehr müssen wir den Jägern dankbar sein, dass sie für diesen notwendigen Ausgleich sorgen. Die Abschusszahlen für Wild – das ist wichtig – werden jeweils vor Ort, also regional, festgelegt. Es wäre Unsinn, wenn wir in Berlin oder auf Landesebene festlegen würden, was in der Region wie in welchem Ausmaß bejagt werden muss. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir bedanken uns beim Herrn Staatssekretär ausdrücklich für den Einblick in das Leben eines Staatssekretärs. (Heiterkeit und Beifall) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Ich lebe halt naturnah. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist wunderbar. – Herr Rief hat noch eine Frage. Josef Rief (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Staatssekretär, es ist heute schon verschiedentlich angesprochen worden: Das Wissen um die Zusammenhänge im Wald und um den Wald herum ist bei der ländlichen Bevölkerung teilweise noch vorhanden, bei der städtischen entsprechend weniger. Welchen Beitrag kann die Waldstrategie leisten, um hier einfach Abhilfe zu schaffen? Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Wir führen in diesem Jahr mit vielen Partnern im Rahmen des Waldkulturerbes 6 000 Veranstaltungen durch. Das darf aber kein einmaliges Strohfeuer sein, sondern der Wald gehört als Unterrichtsfach in die Schulen. Kinder und Jugendliche müssen den Naturraum Wald erleben. Auch manchem Abgeordneten würde es guttun, (Beifall des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/ CSU]) wenn er am Sonntag keine Presseerklärungen abgeben, sondern im Wald spazieren gehen würde. (Cajus Caesar [CDU/CSU]: Sehr gut! Wir machen einen Termin mit dem Staatssekretär!) Frische Luft schafft freie und gute Gedanken. Vielen Dank. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Weitere Fragen zur heutigen Kabinettssitzung und auch andere Fragen an die Bundesregierung liegen uns nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde – Drucksachen 17/6994, 17/7019 – Die dringliche Frage 1 des Kollegen Thierse wird schriftlich beantwortet. Wir kommen zu den Fragen auf Drucksache 17/6994. Auch hier wollen wir es so halten, wie wir das eben bereits praktiziert und auch vor der Sommerpause verabredet haben, dass jeweils nach einer Minute bei Fragen und Antworten ein Signal ertönt. Ich bitte Sie, schon im Vorfeld darauf zu achten, dass Sie Ihre Redezeit nicht überziehen. Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung. Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Christian Lange werden schriftlich beantwortet. Wir kommen zur Frage 3 der Abgeordneten Ute Kumpf: Wie ist der aktuelle Sachstand zum Ausbau der 27 Neckarschleusen, und gehört dieser Ausbau, wie er von der letzten Bundesregierung im Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 zugesichert wurde, nach wie vor trotz der neuen Kategorisierung dieses Streckenabschnittes südlich von Heilbronn durch die Bundesregierung als Ergänzungs- und Nebennetz zu den prioritären Investitionsprojekten? Herr Staatssekretär. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Präsidentin, die Antwort lautet: Mit erforderlichen vorbereitenden Instandsetzungsmaßnahmen an den Schleusenanlagen wurde begonnen. Zurzeit laufen Voruntersuchungen und Planungen zur Grundinstandsetzung bzw. zur Verlängerung von Schleusenkammern, zum Bau von Fischaufstiegsanlagen sowie zum Ausbau und zur Sicherung von Liegestellen und Vorhäfen. Für die zu verlängernden Schleusenkammern sollen die Planungen bis zum Jahr 2012 so weit vorangebracht werden, dass anschließend mit dem Bau begonnen werden kann. Die Reihenfolge der Maßnahmen wird anhand zustandsbedingter verkehrlicher und planerischer Kriterien festgelegt. Hierbei sollen unter Berücksichtigung der verkehrlichen Auslastung der einzelnen Streckenabschnitte die Maßnahmen zur Schleusenverlängerung, flussaufwärts betrachtet bis Heilbronn, prioritär vorangetrieben werden, um möglichst frühzeitig den Hafen Heilbronn mit 135 Meter langen Schiffen erreichen zu können. Zugleich soll im Abschnitt Heilbronn–Plochingen jeweils eine der beiden Zwillingskammern instand gesetzt werden, damit die Schifffahrt auch in diesem Abschnitt den Neckar weiterhin sicher und leicht verkehren kann. Der Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 stellt, wie der Name besagt, einen Rahmenplan für die in diesem Zeitraum vorgesehenen Infrastrukturinvestitionen dar. Dabei wurde im Hinblick auf eine mögliche zeitliche Verzögerung bei einzelnen Projekten bewusst eine Planungsreserve einkalkuliert. Keinesfalls kann und konnte zu irgendeinem Zeitpunkt aus dem Investitionsrahmenplan eine Realisierungszusage in einem festgelegten Zeitraum abgeleitet werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kumpf, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön. Ute Kumpf (SPD): Herr Staatssekretär, erst einmal herzlichen Dank dafür, dass mit Ihrer Antwort ein bisschen mehr Licht ins Dunkel gebracht wurde. Trotzdem gibt es noch einige offene Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte. Haben Sie auch schon mit der baden-württembergischen Landesregierung Kontakt aufgenommen, um diesen Zeitplan und die Zeitschiene entsprechend zu erläutern und darüber zu diskutieren? Haben Sie Ihr Wissen, das Sie uns heute präsentiert haben, auch an den Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart und an die Region weitergegeben, die Sie dringend gebeten haben, bei diesen Ausbauplänen zu bleiben? Es geht also nicht nur um die Renovierung, sondern auch um den Ausbau und die Verlängerung der Schleusen. Haben Sie diesen Sachstand an die entsprechenden Stellen weitergegeben? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Geschätzte Frau Kollegin, wir sind in ständigem Kontakt mit allen Landesregierungen, (Ute Kumpf [SPD]: Das scheint nicht so!) selbstverständlich auch mit der in Baden-Württemberg. Wie Sie wissen, sind wir gerade dabei, einen neuen Investitionsrahmenplan zu erarbeiten. Auch in diesem Zusammenhang wird die Landesregierung von Baden-Württemberg beteiligt werden. Wir haben schon seit dem Jahr 2007 mit der Landesregierung in Baden-Württemberg einen intensiven Austausch über den Ausbau. Ich bin mir sicher, dass die von Ihnen geforderte Informationsweitergabe an die jeweiligen kommunalen Verantwortungsträger in bewährter Weise erfolgen wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ist der Eindruck richtig, dass Sie eine zweite Nachfrage haben, Frau Kumpf? – Bitte schön. Ute Kumpf (SPD): Genau, ich habe eine zweite Nachfrage und muss noch einmal insistieren. Denn ich muss die Briefe beantworten, die mir geschrieben werden, aber eigentlich an Sie gerichtet sein müssten. In der Großen Koalition ist verabredet worden, die Sanierung und Verlängerung innerhalb von zehn Jahren zu bewerkstelligen. Das ist schon ein relativ langer Zeitraum, und wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie das noch weiter strecken. Das heißt, dass die ersten Schiffe von 135 Metern Länge wahrscheinlich nicht erst 2021, sondern erst 2025 den Neckar passieren können, woraus sich eine Belastung für den Straßengüterverkehr ergibt. Wie ist das, was Sie gesagt haben, genau zu interpretieren? Vielleicht können Sie das konkret sagen. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das kann ich leider nicht, weil ich natürlich nicht vorhersehen kann, wie die einzelnen Planungsverfahren ausgehen werden, ob es möglicherweise Klagen dagegen gibt und in welchem Rahmen uns der Deutsche Bundestag, also Sie als Haushaltsgesetzgeber, die finanziellen Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um die Maßnahmen baulich umzusetzen. Das alles wird nur dann funktionieren, wenn wir einen ausreichend großen Verkehrsetat bekommen. Da ich nicht über hellseherische Fähigkeiten verfüge, kann ich Ihnen schlecht darüber Auskunft geben, wann wir genau damit beginnen werden. Ich habe gesagt, dass wir anstreben, zumindest im Planungsbereich bis zum Jahr 2012 fertigzuwerden. Ich denke, dass wir uns dann auf Grundlage der zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel mit der Realisierung befassen müssen. Wir haben ein großes Interesse daran, den Verkehr, der jetzt noch über die Straße läuft, möglichst auf andere Verkehrsträger zu verlagern. Das ist eine sinnvolle Politik. Denn wir werden in den nächsten Jahren einen gewaltigen Anstieg des Güterverkehrs erleben. Wir haben ein eigenes Interesse daran, einen Teil dieses Verkehrs über den Neckar zu bewältigen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gibt eine Nachfrage der Kollegin Roth zu dieser Frage. Karin Roth (Esslingen) (SPD): Verehrter Herr Staatssekretär Mücke, bei den 27 Neckar-schleusen geht es um ein großes Thema, was Investition und Planung betrifft. Daher haben wir in der Großen Koalition ein besonderes Amt eingerichtet, das unter anderem diese Planung vorbereitet. Das ist Ihnen bekannt. In Ihrer Antwort sind Sie auf die Planungen bis Heilbronn eingegangen. Das sollte auch in dem vorgesehenen Zeitraum erfolgen. Darüber hinaus waren auch die Planungen der Baumaßnahmen von Heilbronn bis Plochingen eingetaktet. Sie haben in diesem Zusammenhang einen interessanten Satz gesagt, nämlich dass die oberhalb von Heilbronn notwendigen Sanierungsmaßnahmen erfolgen. Das hört sich zwar gut an, ist aber zu wenig. Denn die Beschlussfassung sieht klar vor, neben der Sanierung auch gleichzeitig den Ausbau für Schiffe von 135 Metern Länge zu erreichen. Sind Sie in der Lage, mir heute zu bestätigen, dass Sie auch das planen, oder ist nur die Sanierung vorgesehen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Kollegin, das kann ich Ihnen heute nicht sagen. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Wie schön!) Denn wir sind, wie Sie wissen, mitten in einer WSV-Reform. Wir nehmen gerade eine Netzkategorisierung vor, und zwar auf Anforderung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages. Zunächst einmal sind die Ergebnisse dieser Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung und der damit verbundenen Netzkategorisierung abzuwarten. Aus dieser Netzkategorisierung ergibt sich dann, ob wir in Neubaumaßnahmen investieren können oder ob wir zunächst in den Erhalt der bestehenden Infrastruktur investieren. Diese Kategorisierung und Priorisierung von Maßnahmen ist auch angesichts der Sparzwänge, die wir alle gemeinsam im Bundeshaushalt haben, notwendig; denn die Steuerbürger erwarten zu Recht von uns, dass wir mit dem Geld, das sie uns zur Verfügung stellen, ganz besonders sorgsam umgehen und deshalb zuerst an den Stellen investieren, wo der volkswirtschaftliche Nutzen ganz besonders hoch ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit kommen wir zu Frage 4 der Kollegin Ute Kumpf: Bis wann und nach welchen Modalitäten – Anforderungsprofil, Kriterien, Abgabe, Entscheidung – schreibt die Bundesregierung die „Schaufenster Elektromobilität“ aus? Herr Mücke, bitte. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ziel der Bundesregierung ist es, der innovativen Elektromobilitätstechnologie in Deutschland branchenübergreifend und branchenverknüpfend in konstruktiver Zusammenarbeit mit den Bundesländern Schaufenster zu bieten. Die deutsche Technologiekompetenz soll in etwa drei bis fünf Großprojekten demonstriert werden, damit die Öffentlichkeit die Elektromobilität erleben und buchstäblich erfahren kann. Vor allem die Offenheit neuen Technologien gegenüber soll in diesen Schaufenstern aktiv unterstützt werden. In den Schaufenstern können Mobilitätskonzepte sowie ordnungspolitische Rahmenbedingungen erprobt werden. Durch die erfolgreiche und sichtbare Demonstration sollen Impulse für die internationale Nachfrage generiert werden, was auch den Gedanken der Leitanbieterschaft für Elektromobilität fördern soll. In den Schaufenstern werden die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen aus den im Rahmen des Konjunkturpakets II der Bundesregierung initiierten Programmen zur Förderung der Elektromobilität, also aus den Modellregionen und Modellprojekten, die Ende 2011 auslaufen, weiterentwickelt. Die Bekanntmachung zur Förderung von Forschung und Entwicklung der „Schaufenster Elektromobilität“ wird im Herbst 2011 herausgegeben. Nach einer Bewerbungsfrist von zehn Wochen wird für Interessenten nach jetziger Planung im Winter eine Fachjury tagen. Sie erstellt eine Rangfolge der ausgewählten Projekte und schlägt diese den Bundesministerien BMVBS, BMWi, BMU und BMBF zu deren abschließenden Entscheidung der Auszuwählenden vor. Die Bundesregierung, vertreten durch diese vier beteiligten Bundesministerien, entscheidet auf Basis der eingereichten und bewerteten Konzepte unabhängig, unter Berücksichtigung der Auswahlvorschläge. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kumpf, eine Nachfrage. Ute Kumpf (SPD): Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Das hilft schon etwas weiter; denn die Modellregionen warten auf eine Entscheidung, wann sie ihre Bewerbungen einreichen können. Der Herbst hat allerdings, so glaube ich, mit dem heutigen Tag, dem 21. September, schon begonnen und geht bis Dezember. Dieser Zeitraum, den Sie mir genannt haben, ist also sehr ungenau. Deswegen frage ich nach: Wann ist mit dieser Ausschreibung zu rechnen? Die Vorbereitungen laufen bereits in den Modellregionen und den Ländern. Wer wird diese Auswahl konkret treffen? Wie ist die Jury zusammengesetzt? Handelt es sich wieder überwiegend um Vertreter aus den Unternehmen wie bei der Nationalen Plattform Elektromobilität? Sind die Verbraucher eingebunden? Sind vielleicht auch ein paar Damen dabei? Bislang ist das ein sehr herrenlastiger Verein. Wie stellen Sie sich die Zusammensetzung dieser Fachjury vor? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich leider kein konkreteres Datum als den Herbst nennen. Da Sie wissen, wann der Herbst endet, können Sie abschätzen, wann spätestens eine Entscheidung fallen wird bzw. die Partner in der Region wissen, bis zu welchem Zeitpunkt sie sich bewerben können. Wir gehen davon aus, dass in der Fachjury natürlich Vertreter der Industrie, aber auch der Wissenschaft sein werden. Ich habe Ihnen vorhin erläutert, dass es nicht nur um technische Aspekte geht, sondern auch um Fragen des Ordnungsrechts. Das alles soll dort erprobt werden. Deshalb wäre es sicher ein falscher Ansatz, ausschließlich auf die Industrie zu setzen. Die Fachjury wird insofern breit aufgestellt sein. Ich kann jetzt schlecht vorhersagen, ob auch Frauen dabei sein werden. Ich wünsche mir das jedenfalls. Ich werde Sie rechtzeitig über die Zusammensetzung der Fachjury schriftlich informieren, wenn Sie das wünschen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Bitte schön. Ute Kumpf (SPD): Ich möchte nachfragen: Die Schaufenster sind hoffentlich so gedacht, dass sie an den Modellregionen ansetzen und dass keine Projektruinen in den Modellregionen zurückbleiben. Nach ersten Informationen, die uns erreichten, war nur von einem Schaufenster die Rede, und zwar in Berlin. Dann wurde die Region Stuttgart erwähnt. Vielleicht gibt es noch ein Schaufenster in Bayern. Wie hoch ist die Zahl der Schaufenster? Sind auch ländliche Räume und grenzüberschreitende Aspekte berücksichtigt? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir planen, wie ich vorhin schon erwähnt habe, mit drei bis fünf Schaufenstern. Über grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist noch nicht entschieden worden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Frage 5 des Abgeordneten Volker Beck und die Frage 6 der Abgeordneten Silvia Schmidt werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Pronold auf: Wann wird die Bundesregierung den bundesweiten Feldversuch mit Gigalinern im Jahr 2011 mit welcher Laufzeit starten? Herr Staatssekretär, bitte. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, aufgrund der Vielzahl der eingegangenen ausführlichen Stellungnahmen der Verbände und der Verlängerung der Stellungnahmefrist für die Bundesländer bis zum 16. September 2011 kann eine Aussage zum genauen Starttermin des Feldversuchs mit langen Lkw zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht getroffen werden. Der Feldversuch soll jedoch noch in diesem Herbst starten. Er soll auf eine Laufzeit von fünf Jahren ausgelegt sein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Pronold, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte sehr. Florian Pronold (SPD): Mich würde interessieren, ob das Rechtsgutachten, das von dem renommierten Professor Battis ist und das die Allianz pro Schiene vorgelegt hat, Auswirkungen auf die Überlegung der Bundesregierung hat. Wenn ja, in welcher Form? Wie bewerten Sie vor allem die rechtlichen Ausführungen, die besagen, dass der Bundestag und die Bundesländer bei dieser Frage zwingend zu beteiligen sind, was von der Bundesregierung bislang unterlassen worden ist? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir kennen das Gutachten von Professor Dr. Battis und gehen davon aus, dass Professor Battis hier einen eigenständigen Regelungsgehalt einiger Vorschriften der Ausnahmeverordnung annimmt. Diese Auffassung teilen wir nicht. Wir gehen davon aus, dass es sich vielmehr um Bedingungen und Auflagen zu den Ausnahmetatbeständen handelt und deshalb eine Eigenständigkeit der Regelung, wie sie Professor Battis ansieht, nicht gegeben ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage? – Bitte schön. Florian Pronold (SPD): Ich habe die Nachfrage, worin denn die Verlängerung der Frist, die Sie angesprochen haben, begründet liegt. Hat das etwas mit dem Rechtsgutachten zu tun? Hat das etwas mit dem Verhalten einiger Bundesländer zu tun? Warum hat die Bundesregierung den Herbst, in dem sie loslegen will, sozusagen noch kürzer gemacht und die Anhörungsfrist um zwei Wochen verlängert? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Es ist generell eine gute Übung, dass wir uns und den Bundesländern die Zeit geben, um dieses anerkanntermaßen schwierige Problem vernünftig abzuwägen. Deshalb ist, so glaube ich, eine zusätzliche Frist von zwei Wochen zur Stellungnahme für die Bundesländer kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Ich glaube, dass das angesichts der von uns vorgesehenen Zeit von fünf Jahren für diesen Versuch kein Zeitraum ist, der das Voranbringen des Projekts wesentlich beeinträchtigen wird. Wir gehen davon aus, dass diese zwei Wochen dazu genutzt wurden, dass die Bundesländer ihre Stellungnahmen uns detaillierter zur Kenntnis geben konnten. Es ist sicher in ihrem Interesse, dass das in vernünftiger Weise erfolgt. (Florian Pronold [SPD]: Vielleicht sollten Sie sie beteiligen, nicht anhören!) – Eine Anhörung ist eine Form der Beteiligung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eine Nachfrage des Abgeordneten Burkert. Bitte schön. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, meine Frage bezieht sich auf den Feldversuch. Können Sie bestätigen, dass das Bundesland Hessen aus dem Feldversuch ausgestiegen ist? Ist Ihnen bekannt, dass die großen Speditionsfirmen in Deutschland – ich nenne beispielsweise Kühne + Nagel, aber auch andere – kundgetan haben, dass dann, wenn Hessen nicht mehr bei dem Feldversuch mitmacht und auch Gefahrgut in den Gigalinern nicht transportiert werden darf, der Feldversuch obsolet und völlig überflüssig ist? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Diese Frage ist ähnlich wie die Frage 8 des Kollegen Pronold gelagert. Uns ist ein Ausstieg des Bundeslandes Hessen aus dem Feldversuch bisher nicht bekannt. Wir haben gelesen, was dazu in der Presse zu finden war. Aber richtig ist, dass es seitens des hessischen Verkehrsministers noch offene Fragen gegeben hat. Durch eine entsprechende Anpassung in der Begründung der Ausnahmeverordnung konnte eine Lösung gefunden werden. Deshalb gehen wir davon aus, dass das Bundesland Hessen am Feldversuch teilnehmen wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann sind wir jetzt bei der Frage 8 von Herrn Pronold: Was sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Gründe des Bundeslandes Hessen, sich nicht an dem bundesweiten Feldversuch mit Gigalinern in Deutschland zu beteiligen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das ist dieselbe Antwort: Uns ist ein Ausstieg des Bundeslandes Hessen nicht bekannt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön. Florian Pronold (SPD): Unabhängig von der Situation des Landes Hessen gibt es aus vielen Bundesländern Widerstand, insbesondere aus Baden-Württemberg, das sich auch zurückgezogen hat. Wie bewertet die Bundesregierung diesen massiven Widerstand, und hält sie es bei einem solchen Thema für sachlich geboten, mit einer Ausnahmeverordnung zu agieren? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Es liegt in der Natur der Sache, dass ein verkehrspolitisch umstrittenes Thema von den Bundesländern sehr unterschiedlich bewertet wird. Sie selber kennen die Geschichte der langen Lkw, die mit sehr unterschiedlichen Bezeichnungen versehen worden sind, sehr gut. Es läuft darüber schon sehr lange eine verkehrspolitische Diskussion. Deshalb ist es für die Bundesregierung geradezu zwangsläufig, dass es einzelne Bundesländer gibt, die sich dazu anders verhalten, eine andere Position einnehmen. Das respektieren wir selbstverständlich. Aber das heißt nicht, dass wir für einen Versuch nicht eine Ausnahme von der gültigen Verordnung zulassen können. Wir sehen ja, dass in einigen europäischen Ländern diese langen Lkw zugelassen sind. Deutschland ist ein großes Transitland. Es ist aus meiner Sicht auch durchaus zulässig, dass wir uns angesichts steigender Frachtzahlen, angesichts von Prognosen, die einen 70-prozentigen Zuwachs des Güterverkehrs vorhersagen, auch Gedanken darüber machen, wie wir diesen Güterverkehr mit anderen Mobilitätskonzepten bewältigen können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Pronold, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte schön. Florian Pronold (SPD): Dann will ich deutlicher nachfragen. Warum gehen Sie angesichts der Umstrittenheit dieses Themas in der Verkehrswelt und in der Öffentlichkeit über eine Ausnahmeverordnung? Trauen Sie Ihren eigenen Argumenten nicht zu, zu überzeugen, sodass Sie Bundestag und Bundesrat bei dieser Frage ganz normal beteiligen könnten? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich glaube, dass die Ausnahmeverordnung das richtige Instrument für einen Versuch ist. Es wird ein Feldversuch und keine Regelanwendung sein. Deshalb ist die von uns vorgesehene Regelung über eine Ausnahmeverordnung in der Tat der richtige Weg. Wir wollen die fünf Jahre nutzen, eine ergebnisoffene Evaluierung des Versuchs vorzunehmen, um dann möglicherweise weitere verkehrspolitische Schlüsse zu ziehen. Jetzt kommt es uns darauf an, den Versuch ausnahmsweise möglich zu machen, und ich glaube, dass das auch der richtige Weg ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt noch einmal der Kollege Burkert. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, nachdem bekannt ist, dass bei den Bahnübergängen in Deutschland für die langen Lkw die Vertaktungen geändert werden müssen und das Millionenbeträge kostet, ist meine Frage: Ist das im Feldversuch schon berücksichtigt? Sind darin Bahnübergänge mit Schranken enthalten? Wenn ja, wer trägt die Kosten? Ist man mit der Deutschen Bahn schon zu einer Einigung darüber gekommen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir gehen davon aus, dass die langen Lkw auf speziell definierten Strecken unterwegs sein werden. Das sind natürlich in allererster Linie Autobahnen und damit kreuzungsfreie Strecken. Es geht uns ausdrücklich nicht darum, dass die langen Lkw auf Kreis- oder Landesstraßen fahren dürfen, auf denen es üblicherweise Bahnübergänge gibt. Uns geht es vor allem um den Verkehr von Güterverkehrszentrum zu Güterverkehrszentrum über leistungsfähige Bundesstraßen. Über eine konkrete Absprache mit der Deutschen Bahn AG kann ich Ihnen heute nichts berichten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Noch eine Nachfrage. Bitte schön. Kirsten Lühmann (SPD): Herr Staatssekretär, Sie sagen, es gehe hauptsächlich um Autobahnen und nicht um nachgeordnete Straßen. Wenn es Ihnen hauptsächlich um Autobahnen geht, frage ich mich: Warum sind denn auf der Liste, die in dem von Ihnen verteilten Papier enthalten ist, sehr viele Straßen aus dem nachgeordneten Bereich bis hin zu Kreisstraßen verzeichnet? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Es ist ganz klar, dass der größte Teil der benutzten Straßen Bundesautobahnen sein werden. Ich habe nicht davon gesprochen, dass ausschließlich diese benutzt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in dem einen oder anderen Fall auch nachgeordnete Straßen benutzt werden. Jedenfalls werden nur solche Straßen benutzt werden dürfen, die einen solchen baulichen Zustand haben – das wird uns von der Auftragsverwaltung, also von den Bundesländern, mitgeteilt –, dass die Straßenprofile mit den Dimensionen langer Lkw harmonieren. Sie wissen, dass lange Lkw beispielsweise andere Schleppkurven haben und sie deshalb bestimmte Kurven, Kreisverkehre und Kreuzungsbauwerke nicht benutzen können. Wir vertrauen ganz darauf, dass die Bundesländer mit uns zusammenarbeiten und uns Straßen benennen, damit trotz des Einsatzes langer Lkw flüssiger Verkehr möglich sein wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Gottschalck. Ulrike Gottschalck (SPD): Herr Staatssekretär Mücke, können Sie ausschließen, dass Bahnschranken betroffen sein werden? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das kann ich nicht ausschließen, weil ich nicht die ganze Liste der Straßen vor mir habe und damit auch keine Auflistung der möglicherweise betroffenen Eisenbahnkreuzungen. Das kann ich Ihnen aber sehr gerne nachliefern. Ulrike Gottschalck (SPD): Das wäre schön. Danke. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Beckmeyer werden schriftlich beantwortet. Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Groß: Ist für den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und das dazugehörige Haus die Einführung einer Vignette oder einer anders ausgestalteten Art der Mauteinnahme für Pkw eine Alternative, wenn es wie zu erwarten keine Haushaltsmittelerhöhung für den Verkehrsetat gibt, um das Defizit von 2,5 Milliarden Euro auszugleichen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Lieber Herr Kollege Groß, Herr Bundesminister Dr. Ramsauer hat zuletzt in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages vom 9. September 2011 zum Einzelplan 12 bekräftigt, dass zielgerichtete Budgeterhöhungen für das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung notwendig sind. Ich möchte Sie auf das Plenarprotokoll 17/125 verweisen. Da die Einführung einer jeglichen nutzerorientierten Abgabe entsprechende Umsetzungszeit benötigen würde, könnte diese Alternative jedoch nicht zur kurzfristigen Schließung der Finanzierungslücke im Bundesfernstraßenbau beitragen. (Michael Groß [SPD]: Ich habe eine Nachfrage!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Groß, eine Nachfrage. Bitte schön. Michael Groß (SPD): Vielen Dank. – Herr Mücke, ich frage Sie: Gibt es schon Erkenntnisse, wie hoch bei der Einführung einer Vignette die Kosten für Anschaffung und jährliche Erhebung wären? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Nein. Michael Groß (SPD): Gibt es nicht. – Ich habe eine zweite Frage. Sie haben ja die Vignette nicht ausgeschlossen. Erhoffen Sie sich von der Einführung einer Vignette eine Lenkungswirkung bezogen auf das Verkehrsaufkommen und vor allen Dingen eine ökologische Wirkung? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Da niemand konkret über die Einführung einer Vignette nachdenkt, sondern nur allgemeine politische Diskussionen über eine mögliche Nutzerfinanzierung geführt werden, liegen solche Zahlen selbstverständlich nicht vor. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Pronold, bitte. Florian Pronold (SPD): Jenseits von dem, was der Verkehrsminister hier erklärt, gibt es ja auch viel in den Zeitungen zu lesen. Daher würde mich interessieren, ob Sie für die Bundesregierung oder für das Verkehrsministerium sprechen, was die Pkw-Maut angeht, und wie ich damit umgehen soll, dass die Kanzlerin eine solche klar ablehnt, der Herr Verkehrsminister aber die unterschiedlichsten Aussagen hier im Plenum bisher dazu gemacht hat. Was gilt denn nun: Wird es eine Pkw-Maut geben oder nicht? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich vertrete den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gerade hier in dieser Fragestunde, um diese Frage zu beantworten. Des Weiteren hatte ich Ihnen gerade erläutert, dass es eine allgemeine politische Diskussion über das Thema „Einführung einer Pkw-Maut“ gibt. Wenn man sich politisch entscheidet, diesem Gedanken nahezutreten, würde eine Umsetzung, gleich welchen Modells – Vignette, streckenabhängige Maut oder wie auch immer –, mindestens einen Zeitraum von drei Jahren erfordern, also über diese Legislaturperiode hinaus dauern. Die Frau Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt, dass sie die Einführung einer Pkw-Maut in dieser Legislaturperiode ausschließt. Deshalb handelt es sich um eine Diskussion, die sich vor allen Dingen auf den Zeitraum nach dieser Legislaturperiode bezieht. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Florian Pronold [SPD]: Aha! Eine sehr schöne Antwort! – Ulrike Gottschalck [SPD]: Da sind wir einmal gespannt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Herzog. Gustav Herzog (SPD): Herr Staatssekretär, vielen Dank für den Hinweis, dass wir das dann in der nächsten Legislaturperiode entsprechend zu bearbeiten haben. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das habe ich nicht gesagt. Gustav Herzog (SPD): Nachdem Sie uns nicht sagen konnten, was es kostet und welche Einnahmen erzielt werden, jetzt die Frage an den Vertreter des Verkehrsministers bzw. der Bundesregierung: Erwarten Sie denn von einer Vignette eine bessere ökologische Lenkungswirkung als von der bisherigen Kfz-Steuer? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich glaube, dass man da zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann. Es kommt sehr darauf an, auf welche Art und Weise eine solche Pkw-Maut erhoben werden würde. Ob es technische Lösungen dazu überhaupt schon gibt, ist höchst zweifelhaft. Es gibt in den allgemeinen politischen Diskussionen Überlegungen, das ähnlich zu gestalten wie bei der jetzt in Deutschland erhobenen Lkw-Maut. Ich glaube, dass man hier zunächst einmal die allgemeine politische Diskussion und die Entscheidung dazu abwarten sollte. Dann muss man sich alle Fragen, die daraus entstehen, nämlich ob es eine ökologische Lenkungswirkung gäbe oder nicht, neu stellen. Aber zunächst einmal geht es hier um eine allgemeine politische Diskussion über das Thema „Nutzerfinanzierung im Straßenbau“. Hier sind alle Aspekte mit zu betrachten, natürlich die Systemkosten, so wie wir sie bei der Lkw-Maut schon kennen. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist eine Diskussion, die noch sehr lange dauern wird. Sie wird keinesfalls in dieser Legislaturperiode eine Rolle spielen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Hacker. Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, dass die Überlegungen in Ihrem Hause weiter gediehen sind, als dass man sie nur als rein theoretische Überlegungen bezeichnen könnte; denn sonst würde der Bundesminister das Thema Pkw-Maut nicht von Zeit zu Zeit immer wieder einmal in der deutschen Öffentlichkeit ansprechen. Deswegen frage ich Sie: Welche Entlastungswirkungen für Pkw-Fahrer im ländlichen Bereich haben Sie eigentlich in diese Überlegungen mit einbezogen? Wie sollen die möglichen Einnahmen aus der Pkw-Maut verwendet werden? Sollen sie also konkret für den Bau und den Erhalt von Straßen verwendet werden? Welche Überlegungen gibt es dazu in Ihrem Hause? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Lieber Herr Kollege Hacker, ich muss Sie sehr enttäuschen. Es gibt leider kein fertiges Mautkonzept. Auch wenn Sie oder einer Ihrer Kollegen noch 20-mal nachfragen, bleibt es dabei: Es ist leider nicht existent. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ich habe nach Überlegungen gefragt!) Ich kann Ihnen weder etwas zu möglichen Ausgleichsmaßnahmen für Autofahrer im ländlichen Raum noch etwas zu anderen damit im Zusammenhang stehenden Fragen sagen, da es bisher kein konkretes Konzept dazu gibt. Es gibt eine allgemeine politische Diskussion über die Einführung einer Nutzerfinanzierung, bezogen auf die Bundesstraßen, auch für den Pkw-Bereich – mehr nicht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Burkert, bitte. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, wenn man Sie richtig verstehen will, müsste man sagen: Sie reden darüber, aber ohne Plan; so könnte man es auch übersetzen. Würden Sie uns und den Zuhörerinnen und Zuhörern sagen, wie viele ausländische Pkw von einer solchen Maut betroffen wären? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Dazu gibt es unterschiedliche Schätzungen. Ich will mich hier auf keine Zahl festlegen. Ich kenne Zahlen von 5 bis 8 Prozent. Aber das sind alles Schätzungen, die man im Moment nur wenig konkret vornehmen kann, weil wir dazu keine Zählstellen oder ähnliche Erfassungsmöglichkeiten haben. Das wäre also im Bereich der Schätzung, und es ist immer noch eine rein spekulative Frage, ob es jemals eine Pkw-Maut geben wird. Wir befinden uns im Stadium einer allgemeinen politischen Diskussion zum Thema Nutzerfinanzierung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Pronold. Florian Pronold (SPD): Ich hoffe, dass ich nicht in die Tiefen und intimen Angelegenheiten des Verkehrsministeriums eindringe, wenn ich folgende Frage stelle: Der Herr Ramsauer hat hier vor über eineinhalb Jahren erklärt, es gebe keine Denkverbote und in seinem Haus werde intensiv darüber nachgedacht, ob und wie eine Pkw-Maut einzuführen ist. Jetzt, eineinhalb Jahre später, wäre doch der Zeitpunkt gekommen, eine Idee davon zu haben, was aus diesen Denkprozessen herausgekommen ist. Daher möchte ich Sie inständig bitten, einmal ein paar Eckpunkte zumindest dieses Denkprozesses hier zu nennen und uns nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder auf die nächste Wahlperiode zu vertrösten. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich kann Ihr Interesse sehr gut verstehen. Dass es im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung keine Denkverbote gibt, ist doch etwas sehr Gutes. Ich finde es gut, dass da allgemein verkehrspolitisch nachgedacht werden kann, (Iris Gleicke [SPD]: Es kommt bloß offensichtlich zu keinem Ergebnis!) genauso wie Sie und sehr viele Interessenverbände es machen. Die Logistiker, der ADAC, sehr viele Menschen in diesem Land machen sich Gedanken darüber, wie wir möglicherweise eine Nutzerfinanzierung gestalten können. Ob dadurch ein zusätzliches Aufkommen im Verkehrshaushalt entsteht oder ob dies aufkommensneutral ist, wie viele ausländische Fahrzeuge davon betroffen wären – all das sind allgemeine politische Fragen, über die jeder diskutieren kann. (Florian Pronold [SPD]: Meine Frage war, was nach eineinhalb Jahren Nachdenken herausgekommen ist!) Ich kann Ihnen nur so viel sagen: (Florian Pronold [SPD]: Haben Sie jetzt nachgedacht oder nicht?) Es gibt kein Konzept im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, das Ihnen vorzulegen wäre. (Florian Pronold [SPD]: Dass Sie mir kein Konzept vorlegen, ist mir klar! Meine Frage: Gibt es einen Denkprozess, auch wenn Sie es mir nicht vorlegen wollen?) Deshalb kann ich Ihnen leider auf diese Frage keine Antwort geben. Sie werden von uns kein Konzept bekommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Lühmann, bitte. Kirsten Lühmann (SPD): Eigentlich wollte ich eine ähnliche Frage stellen. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das habe ich mir gedacht. Kirsten Lühmann (SPD): Ihre Antwort bringt mich aber zu einer anderen Fra-ge. – Der Minister hat mehrfach – nicht nur vor eineinhalb Jahren – in der Presse dargestellt, dass er seinem Haus den Auftrag gegeben hat, über die Einführung einer Pkw-Maut nachzudenken und ihm das Ergebnis vorzulegen. Sie sagen jetzt, Sie können uns das Ergebnis dieser Überlegungen nicht darlegen. Stimmen Sie mir zu, dass Sie den Anweisungen Ihres Ministers nicht gefolgt sind? (Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Es gibt keine Anweisung. (Florian Pronold [SPD]: Das Denken muss nicht angewiesen werden!) Kirsten Lühmann (SPD): Dann sagt der Minister die Unwahrheit? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Selbstverständlich hat der Minister völlig recht, wenn er sagt, dass es keine Denkverbote gibt. Aber wenn der Denkprozess noch nicht abgeschlossen ist, dann kann Ihnen schlechterdings nichts vorgelegt werden. So einfach ist die Welt. (Kirsten Lühmann [SPD]: Also haben Sie nichts gemacht! – Gegenruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist professionelles Arbeiten: Erst denken, dann reden! Bei euch ist es umgekehrt! Ihr würdet einfach veröffentlichen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Groß auf: Kann das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Berichte der Süddeutschen Zeitung bestätigen, in denen dargestellt wird, dass im Zusammenhang mit dem Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 mehrere Projekte, wie der für den Wirtschaftsraum Nordrhein-Westfalen hochwichtige Rhein-Ruhr-Express, RRX, nicht aus dem Vorgängerplan übernommen werden? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Lieber Herr Kollege Groß, ich kann Ihnen darüber relativ wenig Auskunft geben, weil es keinen neuen Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 gibt. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es irgendetwas, woran Sie arbeiten?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Groß, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte schön. Michael Groß (SPD): Können Sie mir dann erklären, warum in der Presse deutlich und definitiv beschrieben wurde, dass der RRX – eines der wichtigsten Projekte im Ruhrgebiet, um die Mobilität der Menschen dort zu verbessern – bis 2015 nicht finanziert werden wird? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich gehe davon aus, dass die Grundlage für all das, was innerhalb und außerhalb des Verkehrsausschusses öffentlich diskutiert wird, ein Arbeitspapier ist, das nicht abgestimmt worden ist, und zwar weder mit der Leitung des Hauses noch mit den Bundesländern, die zwingend zu beteiligen sind. Deshalb ist all das, was im Moment öffentlich diskutiert wird, reine Spekulation. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Groß, Sie haben eine zweite Nachfrage? Michael Groß (SPD): Stimmen Sie mir denn zu, dass der RRX ein so wichtiges Projekt ist, dass Sie alles Notwendige tun werden, um das Projekt in den nächsten vier Jahren umzusetzen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Jedes Verkehrsprojekt in Deutschland ist unheimlich wichtig. (Zurufe von der SPD: Oh! – Sönke Rix [SPD]: Verarschen können wir uns allein! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das so weitergeht, legen wir das dem Präsidium vor!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Herzog, bitte. Gustav Herzog (SPD): Herr Staatssekretär, vielen Dank für die sehr wichtige Aussage, die Sie eben getroffen haben. Es lässt Rückschlüsse auf die Arbeit des Verkehrsministeriums zu, wenn deutlich wird, dass alle Projekte als gleichermaßen wichtig angesehen werden. Meine Frage zielt auf Ihre Aussage ab, dass sich die Arbeitspapiere, von denen wir heute Morgen im Verkehrsausschuss gehört haben, noch in der Abstimmungsphase befinden. Herr Ramsauer kennt sie wahrscheinlich gar nicht. Könnten Sie unsere Ungeduld begrenzen, indem Sie uns sagen, wann der Deutsche Bundestag von diesen Papieren offiziell Kenntnis erhalten wird? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wenn der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Plan offiziell aufgestellt hat, wird er vorgestellt. Das wird erst dann passieren, wenn es eine Abstimmung innerhalb des Hauses, aber auch mit den Bundesländern gegeben hat; denn die Bundesländer sind für uns im Wege der Auftragsverwaltung beispielsweise im Straßenbau tätig. Deshalb ist eine Abstimmung mit den Bundesländern gerade beim Investitionsrahmenplan eine sehr wichtige Angelegenheit. Ich gehe davon aus, dass Sie noch in diesem Jahr darüber informiert werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Hacker auf: Wie ist der Stand der Erarbeitung eines neuen Investitionsrahmenplanes, IRP, für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes, nachdem der bisherige IRP 2010 ausgelaufen ist? Bitte schön, Herr Mücke. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das ist ein ähnliches Thema. Derzeit wird der Entwurf des Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes erarbeitet. Der Referentenentwurf befindet sich gegenwärtig in der Abstimmung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Hacker, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr. Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Staatssekretär, Sie hatten das Thema vorhin schon gestreift. Meine konkrete Nachfrage lautet: Wie weit sind Sie denn im Hinblick auf die Abstimmungen mit den Ländern? Kann man sagen, dass Sie den Entwurf für einen neuen Investitionsrahmenplan inhaltlich und auch projektbezogen mit den Ländern verbindlich abgestimmt haben? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir werden diesen Investitionsrahmenplan zunächst im Haus fertig abstimmen und dann den Bundesländern in sehr kurzer Frist offiziell übergeben. Offensichtlich existieren Arbeitsfassungen, die sich noch ändern können. Das aber, was offiziell abgestimmt ist, wird den Bundesländern zur Stellungnahme zugeleitet werden. Nach dieser Abstimmung wird es auch eine offizielle Vorstellung des Investitionsrahmenplans geben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine zweite Nachfrage. Bitte schön. Hans-Joachim Hacker (SPD): Im mittlerweile abgelaufenen Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 war eine ganze Reihe von Verkehrsprojekten enthalten, die nicht zu Ende geführt worden sind bzw. gar nicht erst begonnen wurden. Welche Prioritätskriterien sind eigentlich maßgeblich für die Erarbeitung des neuen Investitionsrahmenplans, der bis 2015 gelten soll, und wie gehen Sie mit den nicht fertiggestellten Verkehrsprojekten um? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir sind gerade dabei, zunächst einmal die Projekte fertigzustellen, die sich aktuell im Bau befinden. Es ist vernünftig, so vorzugehen, und zwar unabhängig davon, ob sie im Investitionsrahmenplan enthalten sind oder nicht. Im Moment werden auch einige Maßnahmen fertiggestellt, die nicht im Investitionsrahmenplan verankert wurden. Ich kann hier zu einzelnen Verkehrsprojekten keine Auskunft geben, weil es noch keinen abgestimmten Investitionsrahmenplan gibt. Ich muss Sie an dieser Stelle um Geduld bitten. Sie alle kennen das Verfahren. Zunächst einmal sind wir durch die Ausbaugesetze sowohl in Bezug auf die Schienenwege als auch in Bezug auf die Bundesstraßen verpflichtet gewesen, eine Bedarfsplan-überprüfung vorzunehmen. Diese hat im letzten Jahr stattgefunden. Auf Grundlage dieser Bedarfsplanüberprüfung, bei der das Nutzen-Kosten-Verhältnis der einzelnen Maßnahmen untersucht wurde, ist der neue Investitionsrahmenplan in die Bearbeitung gegangen. Ein weiteres wichtiges Kriterium sind die in diesem Jahr zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel, die geplanten Haushaltsmittel für das nächste Jahr und die Mittel, die uns im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung zugesagt werden. Das alles sind die Rahmen-bedingungen, auf deren Grundlage Ihnen dieser Investitionsrahmenplan dann letztendlich vorgestellt wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Groß hat noch eine Frage. Michael Groß (SPD): Herr Mücke, Sie haben vorhin gesagt, alle Projekte seien wichtig. Können Sie mir erklären, nach welchen Kriterien die Bundesregierung Projekte umsetzt? In Bayern wurde zum Beispiel der Kirchholztunnel gebaut. Das war ein Projekt aus dem Weiteren Bedarf, Kosten 168 Millionen Euro für eine Strecke von 5 Kilometern. Andere Projekte wie zum Beispiel der RRX werden dagegen nicht in den Investitionsrahmenplan aufgenommen. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wie Sie wissen, arbeiten wir sehr eng mit den Bundesländern zusammen; denn wir haben eine Auftragsverwaltung. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestag über den Straßenbauplan beschlossen hat, gehen wir auf die Bundesländer zu und besprechen ein Ausbauprogramm. Wenn wir wissen, wie viel Geld zur Verfügung steht, können wir auch mit den Bundesländern besprechen, was wir konkret umsetzen. Anhand dieser Abstimmungen mit den Bundesländern werden dann die einzelnen Maßnahmen umgesetzt. Das ist ein partnerschaftliches Verfahren mit den Bundesländern, das sich sehr bewährt hat. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Burkert, bitte. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, ein Projekt des Vordringlichen Bedarfs in Bayern ist die Elektrifizierung der Strecke von Nürnberg nach Marktredwitz und die Weiterführung nach Tschechien bzw. Prag. Können Sie uns sagen, ob die dafür notwendigen 460 Millionen Euro im Investitionsrahmenplan vorgesehen sind oder ob sie dem Rotstift des Ministers zum Opfer fallen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Auch wenn Sie nach weiteren einzelnen Projekten fragen, bleibe ich bei meiner Antwort: Solange es keinen abgestimmten Investitionsrahmenplan gibt, kann ich zu einzelnen Verkehrsprojekten nicht Stellung nehmen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen jetzt zur Frage 14 des Kollegen Hacker: Welche im derzeit gültigen Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 verankerten Bauprojekte haben derzeit Baurecht, können aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel des Bundes nicht begonnen werden (bitte aufschlüsseln nach Ländern)? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts des gegenwärtigen Arbeitsstandes derzeit noch nicht möglich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Hacker, Sie haben eine Nachfrage. Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Staatssekretär, wir haben bei der Erarbeitung des Investitionsrahmenplans Projekte für Straße, Schiene und Wasserwege, konkret bezogen auf die Länder, definiert. Diese sollten nach bestimmten Vorrangigkeiten abgearbeitet werden. Für diese Projekte wurden in diesem Planungszeitraum auch Finanzmittel eingestellt. Insofern verwundert mich Ihre Aussage, dass Sie die im Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 konkret benannten Projekte hinsichtlich der Baureife und der künftigen Überführung in den neuen Investitionsrahmenplan nicht konkret bestimmen können. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das kann ich verstehen. Wir reden über ungelegte Eier. Es gibt noch keinen Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015. Deshalb kann ich Ihnen zu einzelnen Verkehrsprojekten keine Auskunft geben. (Iris Gleicke [SPD]: Zur Baureife wird man doch etwas sagen können!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Hacker bitte, eine zweite Nachfrage. Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Staatssekretär, ich muss auf meine schriftliche Frage verweisen. Ich habe gefragt: Welche im derzeit gültigen Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 verankerten Bauprojekte haben derzeit Baurecht, können aber aufgrund fehlender finanzieller Mittel des Bundes nicht begonnen werden …? Da hatte ich um eine länderscharfe Darstellung gebeten. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich kann Ihnen keine Auskunft geben zu Projekten, die möglicherweise im künftigen Investitionsrahmenplan mit berücksichtigt werden. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ich habe nach dem derzeit geltenden Plan 2006 bis 2010 gefragt! – Iris Gleicke [SPD]: Es geht um 2006 bis 2010!) – Ich kann Ihnen diese Liste gerne zukommen lassen; ich habe sie jetzt nicht dabei. (Iris Gleicke [SPD]: Aha!) Ich weiß aber nicht, was das mit dem Investitionsrahmenplan für 2011 bis 2015 zu tun haben soll. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aber sehr viel!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Herzog, Sie hatten sich nicht gemeldet, sondern sich nur körpersprachlich geäußert? (Gustav Herzog [SPD]: Mit Empörung habe ich mich körpersprachlich geäußert!) Herr Beck, bitte. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich frage Sie, ob den Staatssekretären der Bundesregierung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der letzten Wahlperiode zu ihren Antwortpflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag bekannt ist. Ich finde es eine Ungezogenheit, wenn Sie hier auf eine im Rahmen der Fragestunde schriftlich eingereichte Frage – wenn hier mündlich nach etwas gefragt wird, was nicht vorbereitet werden konnte, habe ich Verständnis –, in der präzise nach Sachverhalten gefragt wird – im vorliegenden Fall, welche Bauprojekte Baurecht haben und welche Rangfolge sie in diesem Plan einnehmen –, keine Antwort parat haben. Dazu müssen Sie im Ministerium einen Stehsatz haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich erwarte, dass die Staatssekretäre der Bundesregierung die Antworten mitbringen und hier vortragen und dass entsprechend nachgefragt werden kann. Sie schneiden dem Parlament jede Nachfragemöglichkeit ab, wenn Sie die Antworten nur schriftlich zuschicken. (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) Dafür haben wir ein anderes Instrument in der Geschäftsordnung, nämlich die schriftliche Frage; dort funktioniert das so. Ist Ihnen diese Rechtsprechung bekannt, und geruht die Bundesregierung, sich in Zukunft daran zu halten? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Herr Kollege Beck, diese Rechtsprechung ist mir bekannt. Ich kann nur darauf verweisen, dass der Kollege Hacker nicht nur nach diesen Projekten gefragt hat. Vielmehr ist die Zielrichtung, dass die Projekte, die in dem alten Investitionsrahmenplan enthalten waren und nicht umgesetzt worden sind, möglicherweise im neuen Investitionsrahmenplan mit verankert werden müssten. (Iris Gleicke [SPD]: Das steht doch darin! Lesen Sie doch wenigstens die Frage!) Da der Investitionsrahmenplan für die nächste Periode aber noch nicht vorliegt, kann ich zu einzelnen Verkehrs-projekten keine Auskunft geben. (Sönke Rix [SPD]: Entschuldigen Sie sich doch wenigstens! – Iris Gleicke [SPD]: Ich rate zu einer Lesepause für den Staatssekretär!) Ich habe dem Kollegen Hacker gerade eben zugesagt, dass er eine solche Liste bekommt. Ich bin gerne bereit, in der nächsten Fragestunde zu einzelnen Projekten Stellung zu nehmen. Das ist kein Problem. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten sich nach einem anderen Job umsehen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Lühmann, bitte. Kirsten Lühmann (SPD): Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie eben dem Kollegen gesagt haben, dass Sie den derzeit gültigen Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 und die dort verankerten Bauprojekte, nach denen gefragt wurde, jetzt nicht dabeihaben, ihn dann aber zuschicken werden? Habe ich das so richtig verstanden? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das haben Sie richtig verstanden, ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann sind wir jetzt bei Frage 15 des Kollegen Ernst Dieter Rossmann. Welche Nutzungsausfälle nach Gesamtdauer und Anzahl der Tage durch welche Ursachen gab es nach Kenntnis der Bundesregierung bei den beiden Großschleusen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau jeweils in den vergangenen drei Jahren 2008, 2009 und 2010 und im bisherigen Verlauf des Jahres 2011? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die summierten Ausfallzeiten der rund um die Uhr betriebenen beiden großen Schleusenkammern in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau sind in nachfolgender Tabelle als Jahresstunden angegeben. Da die Ausfälle nicht immer ganze Tage betreffen, ist eine Statistik nach Kalendertagen in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Der summierte Ausfall der Nord- oder Südkammer der großen Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal betrug in Stunden in Brunsbüttel im Jahr 2008 775, 2009 994, 2010 2 724 und im Jahr 2011 bis zum 31. August 1 225 Stunden. Die Zahlen für Kiel-Holtenau lauten: 114 Stunden im Jahr 2008, 309 Stunden im Jahr 2009, 235 Stunden im Jahr 2010, 220 Stunden bis Ende August 2011. Die Ursachen für die Ausfälle sind außerplanmäßige betriebstechnische Störungen, Schiffshavarien – insbesondere durch Torkollisionen und besondere Witterungslagen, also Elbsturmfluten und Eisgang – sowie planmäßige Wartungen, Instandsetzungen und Inspektionen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine Nachfrage, Herr Rossmann. Bitte schön. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der von Ihnen dargelegten Situation, dass es, wenn man allein Ihre Zahlen für 2008 bis 2010 und das erste Halbjahr 2011 nimmt, einen drastischen Zuwachs an Stunden gibt, an denen die Schleusen nicht zugänglich waren? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir sehen den Bedarf an einer umfassenden, mehrjährigen Grundinstandsetzung, einer Sanierung. Wir werden die dazu vorliegenden Vorplanungen in den nächsten Wochen aktualisieren und mögliche Varianten, sowohl mit als auch ohne den vorlaufenden Neubau einer fünften Schleusenkammer, prüfen. Dies gilt im weiteren Verlauf auch für die großen Schleusenkammern in Kiel-Holtenau. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rossmann, Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte schön. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Weil Sie es so darstellen, dass Sie jetzt prüfen, möchte ich nachfragen: Wie kann es angehen, dass ein Staatssekretär Ihres Hauses, Klaus-Dieter Scheurle, im Lande erklärt hat, dass es nicht sinnvoll und notwendig ist, im Bundeshaushalt 2012 Investitionsmittel für den Bau einer fünften Schleusenkammer zur Verfügung zu stellen? Der Aufwuchs bei den Stunden der nicht störungsfreien Zugänglichkeit zeigt doch deutlich, dass in Zukunft durchaus die Situation auftreten kann, dass die beiden vorhandenen großen Schleusenkammern parallel ausfallen. Der Kanal wäre dann dicht, sofern es keine dritte Schleusenkammer gäbe, über die man große Schiffe durch den Kanal in Brunsbüttel leiten könnte. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: In der jetzigen Situation sind notwendige Notreparaturen aus den aktuellen Haushaltsmitteln zu bestreiten. Ich will darauf verweisen, dass wir uns im Stadium der Vorplanung für mögliche Sanierungsmaßnahmen an diesen Schleusen befinden. Solange wir keine Ausführungsplanung haben, macht ein Einplanen im Bundeshaushalt, also die Zurverfügungstellung von Mitteln, keinen Sinn. Bevor das, was gebaut werden soll, umgesetzt werden kann, muss es zunächst eine Planung geben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rix, bitte. Sönke Rix (SPD): Ich gehe davon aus, dass bei diesen Planungen – es gibt hier schon eine Planfeststellung – die Landesregierung mit im Boot ist. Auf welche Art und Weise binden Sie die Landesregierung ein? Welche Forderungen stellt die Landesregierung an Sie, wenn Sie mit ihr in Kontakt sind? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Anders als im Fernstraßenbau haben wir im Bereich der Bundeswasserstraßen keine Auftragsverwaltung der Bundesländer; hier besteht eine eigene Zuständigkeit des Bundes. Deshalb erfolgt eine Information der Landesregierung, aber keine verwaltungstechnische Abstimmung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen zur Frage 16 des Kollegen Rossmann: Wie bewertet die Bundesregierung den baulichen und betrieblichen Zustand der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: In den letzten Wochen waren beide großen Schleusenkammern in Brunsbüttel wechselseitig von technischen Störungen betroffen. Die dafür ursächlichen Schäden an den Führungsschienen der Schleusentore werden derzeit schnellstmöglich repariert. Die großen Schleusenkammern in Brunsbüttel bedürfen darüber hinaus aufgrund ihres Alters – ich erwähnte es schon – einer umfassenden, mehrjährigen Grundinstandsetzung. Die hierzu vorhandenen Vorplanungen werden in den nächsten Wochen aktualisiert; mögliche Varianten werden geprüft. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rossmann, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Staatssekretär, ist es richtig, dass es in Bezug auf den Neubau einer dritten großen Schleusenkammer eine Planfeststellung gibt? Weshalb gehen Sie in Ihren Antworten nicht auf die Möglichkeit ein, auf Grundlage der Planfeststellung für eine zusätzliche Schleusenkammer in eine Investitionsfinanzierung einzutreten? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das Problem ist, dass wir hier eine wirtschaftliche Lösung finden müssen. Es ist durchaus denkbar, dass die vorhandenen Vorplanungen eine nicht so wirtschaftliche Lösung vorsehen. Es muss uns möglich sein, preiswertere Alternativen zu prüfen. Ich habe Ihnen schon erläutert, dass der Verkehrshaushalt dramatisch unterfinanziert ist; das ist kein Geheimnis. Deshalb suchen wir nach möglichst wirtschaftlichen Lösungen, um hier einen Schleusenbau bzw. die Sanierung eines Schleusenbaus voranzutreiben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rossmann, Sie haben eine weitere Nachfrage. Bitte sehr. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Haben Sie Verständnis dafür, dass parteiübergreifend alle politischen Gremien im Norden Deutschlands, in Schleswig-Holstein und in Hamburg, ebenso wie die Wirtschaft und die Menschen in der Region erwarten, dass die Bundesregierung die Sicherheit und nicht die Wirtschaftlichkeit als oberstes Kriterium bei der Bewertung dieser Frage heranzieht? Mit welcher Expertise sind Sie ausgestattet? Glauben Sie, dass Ihre aktuellen Planungen, mit denen Sie marode Schleusen notdürftig sichermachen wollen, dem Kriterium einer dauerhaften Sicherheit im Betrieb gerecht werden? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich bin sicher, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung nur Sanierungen vornimmt, die den Sicherheitsanforderungen genügen. Alles andere wäre ja auch grob fahrlässig. Wir gehen davon aus, dass das die richtige Reaktion ist. Ich habe aber viel Verständnis dafür, dass der Zustand der Schleusen in den norddeutschen Bundesländern, insbesondere in Schleswig-Holstein, große Besorgnis hervorruft. Deshalb wird die Bundesregierung die Vorplanungen überprüfen. Wir wollen, dass dieses Problem gelöst wird. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir eine mehrjährige Sanierung dieser Schleusen anstreben. Das ist ein klares Signal an die Region, dass wir dieses Thema sehr ernst nehmen. Dieses Thema ist nicht nur für dieses Bundesland entscheidend, sondern für die gesamte Seeverkehrswirtschaft im Norden Deutschlands von enormer Bedeutung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Rix hat eine Nachfrage. Sönke Rix (SPD): Wie sehen die Zeitplanungen genau aus? Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie von dem Vorhaben abgegangen sind, dort eine dritte Schleuse zu bauen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Nein, ich habe Ihnen gesagt, dass wir zurzeit die Vorplanungen überprüfen und mögliche Varianten erarbeiten. Das kann bedeuten, dass diese Schleusenkammer gebaut wird. Es kann aber auch sein, dass wir zu anderen Ergebnissen kommen. Ich darf Sie bitten, diese Überprüfung abzuwarten. Wir werden Sie selbstverständlich, wie Sie das gewohnt sind, vollständig informieren. (Lachen bei der SPD – Sönke Rix [SPD]: Das ist das Problem!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Thönnes werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Rix auf: Wie ist der Stand der aktuellen Planungen für die Ertüchtigung der Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau, und wie begründet die Bundesregierung die Verzögerungen gegenüber den ursprünglichen Zeitplänen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die Fragen 19 und 20 werden wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann rufe ich auch die Frage 20 des Kollegen Rix auf: Aus welchen Gründen favorisiert das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nach Medienberichten „eine kleine Lösung“, wonach anstelle des geplanten und planfestgestellten Neubaus einer dritten Großschleuse die ursprünglich ab 2014 geplante Grundinstandsetzung der beiden vorhandenen großen Schleusenkammern vorgezogen werden soll (vgl. NDR vom 19. August 2011)? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die Spielräume für Investitionen in Wasserstraßen werden durch die Finanzierungsmöglichkeiten des Bundeshaushalts im Rahmen der dringend notwendigen Haushaltskonsolidierung begrenzt. Da demnach auf absehbare Zeit nur ein kleiner Teil der erwogenen hochwirtschaftlichen Projekte in vertretbaren Zeiträumen realisiert werden kann, müssen konsequent sparsame Lösungen gesucht werden. Die großen Schleusenkammern in Brunsbüttel bedürfen aufgrund ihres Alters einer umfassenden und mehrjährigen Grundinstandsetzung. Vor dem oben genannten Hintergrund werden in den nächsten Wochen die vorhandenen Vorplanungen aktualisiert und mögliche Varianten sowohl mit als auch ohne vorlaufenden Neubau einer fünften Schleusenkammer geprüft. Erst nach Vorlage der Ergebnisse dieser Prüfung können hierzu weitere Aussagen getroffen werden. Für den Neubau einer dritten großen Schleuse in Brunsbüttel besteht vollziehbares Baurecht. Für die Schleusengruppe in Kiel-Holtenau wird derzeit ein Instandsetzungskonzept erarbeitet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine Nachfrage, Herr Rix. Sönke Rix (SPD): Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Situation an den Schleusen bekannt ist. Deshalb frage ich nach Ihrem politischen Willen. Sind Sie bereit, wenn die benötigten Mittel zur Verfügung gestellt werden können, eine dritte Schleuse zu bauen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der politische Wille ist hier nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass wir mit den Haushaltsmitteln sparsam und wirtschaftlich umgehen müssen. Ich habe erläutert, dass der Verkehrshaushalt unterfinanziert ist, und zwar seit vielen Jahren. Wir haben eine Erblast übernommen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Der Zustand der Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal ist ja nicht erst seit Kurzem so schlecht. Daran möchte ich Sie gern erinnern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rix, Sie haben eine weitere Nachfrage. Sie haben, wenn Sie möchten, danach noch zwei weitere Möglichkeiten zur Nachfrage, weil beide Fragen gleichzeitig beantwortet wurden. Sönke Rix (SPD): Das kommt auf die Antworten an; so fair will ich sein. Ich stelle noch einmal die Frage, die ich vorhin bereits gestellt habe. Auch wenn die Landesregierung bei der Planung von Wasserstraßen nicht direkt zu beteiligen ist, sondern nur informiert wird, gehe ich davon aus, dass Sie einen intensiven Kontakt mit der Landesregierung pflegen. Mich würde interessieren, ob Forderungen der Landesregierung bei Ihnen aufgelaufen sind und wie diese lauten. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir wissen, dass die Landesregierung Wert darauf legt, dass diese Schleusen möglichst zügig und vollständig instand gesetzt werden. Wir kennen die Forderung aus der Region, aber wir müssen uns an das Wirtschaftlichkeitsgebot halten. Deshalb versuchen wir, gemeinsam mit dem Land zu Lösungen zu kommen, die vor Ort akzeptiert werden können. Aber zunächst einmal ist für uns wichtig, dass wir für die Wasserstraßenverwaltung in eigener Verantwortung tätig sind, und das wird auch künftig so sein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rix hat noch eine weitere Frage. Sönke Rix (SPD): Sie haben nun zum wiederholten Male die Wirtschaftlichkeit an erste Stelle gestellt. Ich möchte Sie fragen, an welcher Stelle die Sicherheit bei Ihnen steht. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wirtschaftlichkeit und Sicherheit sind kein Gegensatz. Nicht jede wirtschaftliche Lösung ist automatisch unsicher. Es ist doch ganz klar, dass wir für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs im Wasserstraßenbereich Sorge tragen. Sie können beruhigt sein: Wir werden der Sicherheit selbstverständlich genauso unser Augenmerk widmen wie der Wirtschaftlichkeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rossmann hat eine Nachfrage, bitte. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Um es etwas anschaulicher zu machen: Die Dauer einer Sanierung der Großschleusen wird von den Fachleuten auf zwei bis zweieinhalb Jahre geschätzt, die Dauer des Neubaus einer dritten Großschleuse auf fünf und mehr Jahre. Aktuell wird in den Schleusen Hartholz eingebaut, damit sich die Schleusentore überhaupt noch bewegen lassen. Können Sie uns vor diesem Hintergrund die Zeitachse für den großen Bypass über die dritte Schleuse, also die Kapazitätserweiterung, für die Sanierung der beiden Großkammern und für die aktuellen notdürftigen Maßnahmen darstellen? Es ist doch eigentlich logisch, dass man, weil es um Sicherheit geht, keine Maßnahmen ergreifen darf, bei denen nicht ausgeschlossen ist, dass es am Ende zu einer Totalblockade kommen könnte. Von daher stelle ich die Frage: Welche Rolle spielt für Sie die Sicherheit in dem Gesamtkonzept mit diesen drei möglichen Maßnahmen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Für uns geht es bei diesen Notmaßnahmen – ich kenne das Problem mit den Holzbalken – zunächst einmal darum, die Schleusentore gängig zu halten, damit die Schleusen überhaupt arbeiten können und der sichere Fluss des Verkehrs sichergestellt wird. Bei der Frage nach den Varianten, Sanierung oder Neubau, muss ich Sie auf das verweisen, was ich vorhin gesagt habe. Wir überprüfen dies im Moment. Ich darf Sie bitten, diese Überprüfung abzuwarten. Wir werden Sie rechtzeitig darüber informieren, für welche der beiden Lösungen wir uns entschieden haben. Dabei spielen die Aspekte Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs genauso eine Rolle wie die Wirtschaftlichkeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Rossmann kann keine weitere Nachfrage stellen, weil er nicht der ursprüngliche Fragesteller ist. Die Frage 21 der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Hans-Peter Bartels sowie die Fragen 24 und 25 der Kollegin Bettina Hagedorn werden schriftlich beantwortet. Wir kommen zur Frage 26 des Kollegen Gustav Herzog: Kann die Bundesregierung den Standort und den Personalstand des Wasser- und Schifffahrtsamtes Hannoversch Münden zusichern? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Im Rahmen der laufenden Organisationsuntersuchung werden unter anderem die im zweiten Bericht zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an den Deutschen Bundestag dargestellte mögliche Zielstruktur für den Außenbereich, die Ämter und die Direktion intensiv überprüft. Über die notwendigen Anpassungen der Personalstruktur und der Aufbauorganisation kann erst nach Abschluss der Untersuchung entschieden werden. Die Organisationsüberprüfung erfolgt ausdrücklich ergebnisoffen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt keine detaillierten Aussagen zur zukünftigen Aufbauorganisation möglich sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine Nachfrage, Herr Herzog? Bitte. Gustav Herzog (SPD): Vielen Dank, Herr Staatssekretär, dass Sie mir die Antwort auf meine Frage 08/439 vorgelesen haben, die mir Ihr Kollege Ferlemann bereits gegeben hatte. Ich war in der Zwischenzeit fleißig und habe mich etwas umgehört. Ich frage Sie jetzt, wie Sie im Hinblick darauf, dass Sie gesagt haben, alles werde ergebnisoffen geprüft, dem Deutschen Bundestag, den Abgeordneten könne man keine Informationen geben, zu dem Brief stehen, den Ihr Kollege Ferlemann mit Datum vom 12. Mai dieses Jahres an den Landrat Schermann im Landkreis Göttingen geschrieben hat? Ich zitiere aus diesem Brief: Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang versichern, dass die Aufgabe des Standortes Hann.Münden nicht geplant ist. Ferner wird es im Zuge der WSV-Reform weder zu einem zusätzlichen Personalabbau noch zu betriebsbedingten Kündigungen in der WSV kommen. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich kenne dieses Schreiben nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die gesamte Untersuchung zur WSV-Reform noch läuft. Wir wollen den Entscheidungen des Haushaltsausschusses und des Deutschen Bundestages insgesamt nicht vorgreifen. Ganz klar ist, dass der Haushaltsausschuss unser Haus beauftragt hat, eine Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu prüfen und Reformvorschläge vorzulegen. Wir sind dabei, in der bewährten Systematik – zunächst einmal Netzkategorisierung und dann Aufbau der Verwaltung – Vorschläge zu erarbeiten. Es gibt noch keine fertige Aufbauorganisation, weil wir noch mitten im Reformprozess stecken. Deshalb möchte ich Sie bitten, sich bis zum Abschluss dieser Arbeiten zu gedulden. Ich bin mir sehr sicher, dass wir Ihnen dann schnell eine Auskunft geben können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine weitere Nachfrage, Herr Herzog? Gustav Herzog (SPD): Ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte sehr. Gustav Herzog (SPD): Herr Staatssekretär, da Sie mich jetzt bitten, zu warten, bis Sie mit der ergebnisoffenen Prüfung fertig sind, frage ich Sie: Wie erklären Sie sich, dass auch die Bundestagskollegen Hartwig Fischer und Lutz Knopek, Abgeordnete Ihrer Koalition, mit Datum vom 16. April 2010 in der Mündener Rundschau mit der Aussage, dass die WSV in Hannoversch Münden sicher ist, zitiert werden? Geben Sie den Abgeordneten des Deutschen Bundestages unterschiedliche Auskünfte? Das wäre vielleicht auch eine Frage an die Präsidentin: Warum bekommen wir hier keine Auskunft, während Abgeordneten der Koalition und Landräten schriftlich mitgeteilt wird, dass ihre Ämter erhalten bleiben? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Ich weiß nicht, auf Basis welcher Datenlage die betreffenden Kollegen diese Aussagen getroffen haben; das müssten Sie die Kollegen selbst fragen. Für das Bundesverkehrsministerium kann ich Ihnen nur sagen, dass die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung noch nicht abgeschlossen ist und Organisationsfragen noch offen sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Pronold. Florian Pronold (SPD): Der Kollege hat aus einem Brief Ihres Ministeriums, in dem schon Auskünfte zur WSV-Reform erteilt werden, zitiert. Dieser Brief wurde von Ihrem Kollegen Ferlemann unterzeichnet. Hat er dem Landrat etwas Falsches geschrieben? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Prüfung ergebnisoffen durchgeführt wird. (Lachen der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Niemand kann heute Aussagen dazu treffen, ob der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die Reformvorschläge des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung billigen wird (Iris Gleicke [SPD]: Vielleicht unterhaltet ihr euch mal untereinander! Das wäre hilfreich!) und ob er die Vorschläge zur Aufbauorganisation für richtig hält. All das sind Fragen, die noch offen sind. Deshalb kann ich Ihre Frage nicht beantworten. (Florian Pronold [SPD]: Hat der Herr Ferlemann in diesem Schreiben also gelogen? Da steht das Gegenteil drin! – Gegenruf des Abg. Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das ist doch Blödsinn! Lesen Sie doch mal, was da steht! Wenn man nicht lesen kann, ist das natürlich ein Problem!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Gottschalk. Ulrike Gottschalck (SPD): Herr Staatssekretär, auch ich finde das in der Tat etwas merkwürdig; da schließe ich mich dem Kollegen Pronold an. Aber: In Niedersachsen fanden Kommunalwahlen statt. Vielleicht ist das eine Erklärung. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Sehr geschätzter Herr Mücke, auch ich habe eine Frage. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass laut Ihrem Ablaufplan zur Modernisierung der WSV bereits Investitionsentscheidungen getroffen wurden, obwohl Sie gerade wieder gesagt haben, dass alles offen ist, dass es bisher noch keine Kriterien zur Prüfung der Kategorien gibt und dass es auch keine Prüfungen der Ablauforganisation der WSV als Entscheidungshilfe gibt? Wie können Sie mir diese Diskrepanz erklären? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das lässt sich dadurch erklären, dass wir uns noch mitten in diesem Reformprozess befinden. (Ulrike Gottschalck [SPD]: Ah ja!) Sie stellen heute sehr viele Fragen zu wichtigen verkehrspolitischen Zukunftsentscheidungen. Aber das sind Entscheidungen, die noch nicht endgültig getroffen sind und bei denen wir uns noch mitten im Arbeitsprozess befinden. (Gustav Herzog [SPD]: Außer bei Hannoversch Münden!) Ich kann Ihren Ärger darüber, dass sich der eine oder andere Kollege aus diesem Haus zu diesem Thema schon öffentlich geäußert hat, verstehen. (Iris Gleicke [SPD]: Offensichtlich auch ein Staatssekretär! – Gustav Herzog [SPD]: Ihr Staatssekretärskollege!) Aber ganz klar ist, dass die gesamte Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung noch in Arbeit ist und dass deshalb heute noch kein endgültiges Ergebnis vorliegen kann. Wenn ich Ihnen heute sage, dass beispielsweise die Prüfung der Aufbauorganisation der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ergebnisoffen durchgeführt wird, dann ist das so. Niemand kann dazu eine andere Aussage treffen. Diese Prüfung wird ergebnisoffen durchgeführt. Der Deutsche Bundestag hat zu Recht einen Anspruch darauf, dass er über den Haushaltsausschuss von uns die Informationen bekommt, die er verlangt. Wir sind aufgefordert worden, diese Reform vorzulegen. Genau das tun wir. Wir sind mitten in der Arbeit, und Sie werden die Ergebnisse vorgelegt bekommen. Bis dahin werden noch keine Entscheidungen getroffen worden sein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Herzog auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der deutschen Binnenschifffahrt im europäischen Wettbewerb, und mit welchen Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung diese zu verbessern? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die Bundesregierung schätzt die Lage der Binnenschifffahrt mittel- und langfristig positiv ein. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Binnenschifffahrt noch über erhebliche Wachstumspotenziale verfügt. Die aktuelle Lage der Binnenschifffahrt ist noch von Überkapazitäten gekennzeichnet. Dies gilt ganz besonders für die Tankschifffahrt. Die Gütermenge und die Verkehrsleistung der Binnenschifffahrt sind in den letzten Jahren aber deutlich angestiegen. Nach der aktuellen Kurzfristprognose – Sommer 2011 – wird die Binnenschifffahrt im Jahr 2011 das Vorkrisenniveau wohl noch nicht erreichen. Erst im Jahr 2012 wird die Gütertransportleistung das Topniveau von 2008 übertreffen. Die Bundesregierung fördert die Wettbewerbsfähigkeit der Binnenschifffahrt durch zahlreiche infrastrukturelle, finanz- und ordnungspolitische Maßnahmen, zum Beispiel durch die Ausbildungsförderung, die Weiterbildungsförderung, die Terminalförderung und die Entfristung des § 6 b Einkommensteuergesetz. Daneben engagieren wir uns im Forum Binnenschifffahrt und Logistik, und wir haben ein nationales Hafenkonzept entwickelt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Herzog, Ihre erste Nachfrage. Gustav Herzog (SPD): Vielen Dank für diese Antwort, Herr Staatssekretär. – Sie fördern ja auch die Umrüstung von Motoren, damit die Binnenschifffahrt ihren ökologischen Vorteil noch stärker untermauern kann. Können Sie sich vorstellen, dieses Programm auch über das Jahr 2012 hinaus zu erhalten und die Mittel eventuell sogar aufzustocken? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das liegt nicht in meinem Ermessen; denn es ist die Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, zu entscheiden, wie viele Mittel uns für dieses Programm zur Verfügung gestellt werden. Ich bin immer für eine Aufstockung des Verkehrsetats zu haben, ganz egal, an welcher Stelle. Die Mittel können wir gut gebrauchen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie wollen einsparen!) Sie haben aber völlig recht: Die Umrüstung von Schiffsdieseln in der Binnenschifffahrt ist ein wichtiges Ziel. Wir würden uns freuen, wenn wir vom Haushaltsgesetzgeber mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet werden. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wird das aber nichts mit Steuersenkungen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Herzog, Ihre zweite Nachfrage, bitte. Gustav Herzog (SPD): Herr Staatssekretär, es freut mich, dass Sie so viel Respekt vor dem Haushaltsgesetzgeber haben. Vielleicht kann sich die Bundesregierung aber doch dazu aufraffen, den Vorschlag zu machen, dies entsprechend fortzusetzen, und das auch in die Entwürfe, die dem Parlament vorgelegt werden, hineinzuschreiben. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wie Sie wissen, befinden wir uns im Status der Haushaltskonsolidierung. Die gesamte Bundesregierung – alle Häuser – muss dazu beitragen, dass wir eines Tages einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen können. Das heißt, dass wir alle unter erheblichen Sparzwängen stehen und vieles Wünschenswerte gerne im Verkehrshaushalt vorfinden würden, das wir im Moment nicht ausreichend finanzieren können. Ganz klar ist nämlich, dass wir uns als Gesamtstaat nicht übernehmen können; denn wir sehen ja an einigen europäischen Partnerländern, wohin es führen kann, wenn man sich zu sehr verschuldet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Lühmann. Kirsten Lühmann (SPD): Herr Staatssekretär, es geht jetzt einmal nicht um die Zukunft, sondern um die Vergangenheit, nämlich um die Schleuse Kleinmanchow. Es gibt einen Planfeststellungsbeschluss aus dem Jahr 2002. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage – Drucksache 17/511 – festgestellt, dass der Ersatz der Schleuse Kleinmalchow aufgrund ihres Zustandes zwingend erforderlich ist und dass das nichts mit irgendwelchen Verkehrszahlen zu tun hat. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Es gibt kleine Machos, aber weder eine Schleuse Kleinmanchow noch eine Schleuse Kleinmalchow!) Ich frage Sie, warum Sie diesen Planfeststellungsbeschluss im Dezember 2010 zurückgenommen haben, obwohl Sie in der Antwort auf die Kleine Anfrage gesagt haben, dass der Ersatz zwingend erforderlich ist. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Kollegin, ich gehe davon aus, dass Sie nicht die Schleuse Kleinmalchow und auch nicht die Schleuse Kleinmanchow, sondern die Schleuse Kleinmachnow meinen. (Florian Pronold [SPD]: Wenigstens wissen Sie heute irgendetwas!) – Wie bitte? (Florian Pronold [SPD]: Wenigstens wissen Sie heute irgendetwas! Das ist auch schon einmal etwas! – Gegenruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wer nicht einmal richtig Fragen formulieren kann, sollte lieber den Mund halten!) – Ich korrigiere die Kollegin ja nur ungern, aber ich finde, das ist die pure Wahrheit, und das muss hier gesagt werden. Das ist also die Schleuse Kleinmachnow. Der Ausbau dieser Schleuse war ursprünglich vorgesehen. Wir haben diesen Planfeststellungsbeschluss nicht vollzogen, weil wir einen erheblichen Druck aus der Region und den Zweifel gespürt haben, dass dieses Projekt so einfach umsetzbar wäre. Die Frau Kollegin Behm lächelt mich die ganze Zeit interessiert an. Sie ist beispielsweise eine der Kolleginnen, die massiv gegen den Ausbau dieser Schleuse zu Felde gezogen sind. (Gustav Herzog [SPD]: Die hat eine andere Meinung als wir! Hören Sie in dieser Frage nicht auf die Grünen!) Zum Bedarf dieser Schleuse gibt es durchaus sehr unterschiedliche Einschätzungen. Bundesminister Peter Ramsauer hat entschieden, dass dieser Planfeststellungsbeschluss zunächst nicht vollzogen wird. Ich glaube, dass wir im Sinne einer Priorisierung von Maßnahmen, gerade bei den Bundeswasserstraßen, diejenigen Maßnahmen umsetzen sollten, die ganz besonders hochwirtschaftlich sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich erteile Herrn Burkert zur nächsten Nachfrage das Wort. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, wie kommt es eigentlich, dass Binnenschiffe auf dem deutschen Binnenwasserstraßennetz unter maltesischer Flagge fahren, obwohl wir keine Binnenwasserstraße erdacht haben und, soweit ich weiß, noch keine Wasserstraße Deutschland und Malta verbindet? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Diese Frage kann ich Ihnen so aus dem Hut nicht beantworten. Ich nehme sie aber gerne mit und werde Ihnen gerne eine Antwort zukommen lassen. (Martin Burkert [SPD]: Darauf sind wir sehr gespannt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Gottschalk. Ulrike Gottschalck (SPD): Herr Staatssekretär, unter welchen Tarifbedingungen arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Binnenschifffahrtsunternehmen – damit meine ich die Schwarze und die Weiße Flotte – mit Sitz in Deutschland im Vergleich zu Unternehmen mit Sitz im europäischen Ausland? Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung gegen Dumpinglöhne in der Binnenschifffahrt? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die Binnenschifffahrt ist wie jeder andere Wirtschaftszweig vollständig frei, mit den Tarifpartnern gemeinsam einen Tarifvertrag auszuhandeln. Die Bundesregierung wird sich in die Findung von Tarifen ganz sicher nicht einmischen. Das liegt nämlich nicht in unserer Zuständigkeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Pronold, bitte schön. Florian Pronold (SPD): Auch mir geht es um die Binnenschifffahrt und die Fahrgastschifffahrt. Zum 31. Dezember läuft die geltende Regelung zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz aus. Ist denn daran gedacht, das fortzusetzen? Ergänzend: Was ist, wenn Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Schiff sind, werden sie dann wie Hotels bewertet? (Lachen bei der SPD) Jan Mücke (FDP): Es läuft noch eine Diskussion darüber, die vor allen Dingen von den Finanzpolitikern zu entscheiden ist. Das Bundesverkehrsministerium wird dazu keine Stellung nehmen. (Gustav Herzog [SPD]: Das ist interessant!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Noch eine Nachfrage, Frau Kressl. Bitte schön. Nicolette Kressl (SPD): Herr Staatssekretär, mich würde interessieren, wie Sie die Aussage bewerten, die wir heute von der Bundesregierung im Finanzausschuss gehört haben, dass die Bundesregierung keinen Vorschlag zur Verlängerung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorlegen will. (Gustav Herzog [SPD]: Hört! Hört! – Florian Pronold [SPD]: Teilt das Bundesverkehrsministerium das?) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, was ich darauf antworte. Das ist eine Frage, die selbstverständlich der Gesetzgeber zu entscheiden hat. Die Bundesregierung hat ihre Position deutlich gemacht. (Florian Pronold [SPD]: Welche?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen zur Frage 28 der Kollegin Schwarzelühr-Sutter: Wann beginnt die Bundesregierung mit der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vorgesehenen schrittweisen Reduzierung des Schienenbonus, und wann wird das Ziel erreicht, ihn ganz abzuschaffen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Kollegin, die Antwort auf Ihre Frage lautet: Der Koalitionsvertrag sieht vor, den Schienenbonus schrittweise zu reduzieren mit dem Ziel, ihn ganz abzuschaffen. Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an, differenzierte Aspekte der Lärmcharakteristik, der konkreten schutzbedürftigen Situation und der Wirkung auf den Menschen zu betrachten und auch die finanziellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erarbeitet derzeit den Entwurf einer Änderungsverordnung zur 16. BImSchV, der voraussichtlich bis Ende 2011 vorgelegt wird und danach innerhalb der Bundesregierung abzustimmen ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine Nachfrage, bitte schön. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Herr Staatssekretär, könnten Sie uns schon die Eckpunkte dieses Entwurfs mitteilen? Die Hälfte der Legislaturperiode ist schließlich schon vorbei. (Hans-Joachim Otto, Staatssekretär: Sie sind aber ungeduldig!) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sie sind in der Tat sehr ungeduldig. Dieses Projekt befindet sich noch in der Erarbeitung. Ich darf Sie bitten, sich bis zum Ende des Jahres 2011 zu gedulden. (Florian Pronold [SPD]: Also im Herbst wieder!) Dann werden wir Ihnen einen Entwurf vorlegen. Ich möchte eine ähnliche Situation wie beim Investitionsrahmenplan vermeiden, bei dem in der Öffentlichkeit über sehr vieles spekuliert wird, obwohl es noch keinen fertigen Investitionsrahmenplan gibt. Ich möchte vermeiden, dass uns bei der schrittweisen Reduzierung des Schienenbonus ein ähnliches Schicksal ereilt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben eine zweite Nachfrage? Bitte schön. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Halten Sie es für möglich, dass die Umsetzung noch in dieser Legislaturperiode erfolgt? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wenn wir die Verordnung jetzt auf den Weg bringen, dann gehe ich davon aus, dass wir – (Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD]: Es hieß doch: Ende des Jahres! – Florian Pronold [SPD]: Ich dachte, erst im nächsten Jahr!) – ja, Ende 2011 – das Projekt innerhalb der Bundesregierung zeitnah abstimmen können und innerhalb dieser Legislaturperiode, die bis September 2013 andauert, umsetzen werden. (Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD]: Man weiß es nicht!) – Ich bin sehr optimistisch. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir sind damit bei Frage 29 der Kollegin Schwarzelühr-Sutter: Wann wird die Bundesregierung einen lärmabhängigen Trassenpreis einführen, und wie steht sie zu der Forderung der Deutschen Bahn AG eines öffentlich finanzierten Wagenbonussystems? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG am 5. Juli 2011 eine Eckpunktevereinbarung abgeschlossen, nach der die DB Netz AG zum 9. Dezember 2012 ein lärmabhängiges Trassenpreissystem mit achtjähriger Laufzeit einführen soll. Dabei ist vorgesehen, dass der Bund zur Mitfinanzierung eines Bonussystems aus den für die Lärmsanierung vorhandenen Haushaltsmitteln eine Zuwendung ausreicht. Vizepräsident Eduard Oswald: Erste Nachfrage, Frau Kollegin. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Inwieweit gedenkt die Bundesregierung eine Harmonisierung im Zusammenhang mit der Abschaffung des Schienenbonus bei den lärmabhängigen Trassenpreisen einzuführen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das sind unterschiedliche Regelungskreise; denn der Schienenbonus bezieht sich auf neu zu bauende Verkehrsinfrastrukturen im Schienenbereich, während das Trassenpreissystem auf allen Trassen Anwendung findet, insbesondere auf den heute schon vorhandenen. Deshalb gibt es keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Regelungskreisen. Sie ergänzen sich gegenseitig und sollen dazu führen, dass es im Eisenbahnverkehr insgesamt zu geringeren Lärmbelastungen kommt. Sehr viele Menschen in unserem Land sind von Eisenbahnlärm betroffen, wodurch insbesondere die Akzeptanz des Güterverkehrs sinkt. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, diese Akzeptanz zu erhöhen. Dazu sind beide Instrumente sehr wichtig. Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin, haben Sie noch eine Nachfrage? – Nein. Dann stellt der Kollege Herzog eine Frage. Bitte schön, Kollege Herzog. Gustav Herzog (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben das Ereignis angesprochen: Der Bundesverkehrsminister und der Chef des DB-Konzerns haben eine Eckpunktevereinbarung beschlossen. Ich frage Sie: Darf das der Konzernchef überhaupt? Ist es nicht Sache der DB Netz AG, eine solche Vereinbarung zu beschließen? Schließlich gibt es eine klare Trennung zwischen Konzern und Netz. Wenn es tatsächlich nur Eckpunkte waren: Wird dann irgendwann ein Vertrag mit der DB Netz notwendig sein? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wenn ich richtig informiert bin, ist es Ihre Partei gewesen, die immer an einem integrierten Konzern festgehalten hat. Das heißt, der Vorstandsvorsitzende der Holding kann für ein Tochterunternehmen natürlich Verträge abschließen. Ihr Ansinnen wundert mich ein bisschen. Ich habe dazu eine andere politische Auffassung. Ich glaube, dass man diese Bereiche durchaus stärker trennen sollte, als das bisher der Fall ist. Herr Dr. Grube ist durchaus berechtigt gewesen, solche Eckpunkte zu vereinbaren. Diese Eckpunktevereinbarung wird dazu führen, dass wir ein Trassenpreissystem bekommen werden, und zwar mit der Umstellung auf den Winterfahrplan 2012/2013, so wie ich es Ihnen beschrieben habe. Eine weitergehende Vereinbarung benötigen wir dafür nicht. Wir haben volles Vertrauen in unser eigenes Unternehmen, sowohl in die DB ML AG als natürlich auch in die DB Netz AG. Vizepräsident Eduard Oswald: Dazu gibt es keine weitere Nachfrage. Wir kommen zur Frage 30 des Kollegen Martin Burkert: Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit, dass das prognostizierte steigende Güterverkehrsaufkommen vermehrt auf die Schiene verlagert wird? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die Bundesregierung beantwortet die Frage wie folgt: Ziel der Bundesregierung ist es, zum Erreichen der Umwelt- und Klimaschutzziele sowie zur Entlastung der Straße die Verlagerung auf Schiene und Wasserstraße zu fördern, wo immer dies sinnvoll ist. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die von ihr vorgesehenen investitions- und ordnungspolitischen Maßnahmen zur Stärkung des Schienenverkehrs eine Verlagerung von Güterverkehren auf die Schiene ermöglichen werden. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Burkert, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön. Martin Burkert (SPD): Meine erste Nachfrage lautet: Welche Neu- und Ausbaumaßnahmen werden konkret in den nächsten fünf Jahren für das steigende Güterverkehrsaufkommen an den deutschen Nord- und Ostseehäfen durch die Bundesregierung realisiert? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das ist eine versteckte Nachfrage nach dem Investitionsrahmenplan. Ich habe dazu vorhin bereits ausführlich Auskunft gegeben. Zu konkreten Projekten des künftigen Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 kann ich Ihnen aufgrund des Arbeitsstands heute leider keine Auskunft geben. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie haben eine weitere Frage, diesmal keine versteckte, sondern eine direkte. Martin Burkert (SPD): Ich habe immer direkte Fragen. – Wie sieht die Bundesregierung den Abfluss der Güter aus der Schweiz nach Fertigstellung des Tunnelsystems und des Gotthardtunnels auf deutscher Seite im Jahr 2019? Werden dafür Vorbereitungen getroffen? Wie sehen die Pläne für den Brenner Basistunnel auf der österreichischen Seite aus? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir werden hierzu im Investitionsrahmenplan Aussagen treffen. Sie wissen, dass das für uns ebenso wie die Rheintalbahn oder auch die Fehmarnbelt-Querung eines der sehr wichtigen internationalen Schienenverkehrsvorhaben ist. Das alles sind internationale Projekte. Zum einzelnen Sachstand, was die Planung und Umsetzung angeht, würde ich Ihnen gerne schriftlich Informationen nachliefern. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank. – Sie haben noch eine Nachfrage, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Bitte schön. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben gerade bestimmte Strecken wie die Rheintalbahn genannt, zu der die Bundesregierung eine vertragliche Verpflichtung mit der Schweiz eingegangen ist. Die Schweiz ist noch einmal verstärkt auf die Bundesregierung zugegangen und hat diese Verpflichtung eingefordert. Mit Blick auf den IRP, der schon mehrmals angesprochen worden ist, frage ich Sie: Welche Mittel werden im IRP eingestellt? Sind es weniger als bisher? Was ist bei der Rheintalbahn der nächste Schritt? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir möchten den Vertrag mit der Schweiz erfüllen. Die Voraussetzung dafür ist, dass das Baurecht für die einzelnen Abschnitte vorliegt, die realisiert werden sollen. Im neuen Investitionsrahmenplan werden Sie keine Projekte finden, für die bis zum Jahr 2015 vermutlich kein Baurecht vorliegen wird. In der Regel sind diese Vorhaben zeitlich relativ anspruchsvoll. Bei Neubeginn einer Planung muss man mit mindestens fünf bis sechs Jahren bis zum Vorliegen eines Planfeststellungsbeschlusses rechnen. Wir werden versuchen, die Maßnahmen auch im Dialog mit der Region schnell umzusetzen. Das ist nicht ganz einfach, wie Sie wissen, weil sehr viele Bürgerinnen und Bürger beispielsweise wegen der Lärmbelastung, die bereits angesprochen wurde, diese Strecke kritisch hinterfragen. Gleichwohl ist für uns der Ausbau der Rheintalbahn von enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, dass wir ihren Ausbau gemeinsam mit der Region hinbekommen. Aber was den Investitionsrahmenplan anbetrifft, gilt das, was ich vorhin gesagt habe. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich zu einzelnen Projekten aus dem Investitionsrahmenplan heute keine Auskunft geben kann. Bitte gedulden Sie sich, bis dieser vorliegt. Vizepräsident Eduard Oswald: Eine weitere Nachfrage, bitte. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Herr Staatssekretär Mücke, es gibt aber auch an der Rheintalbahn baureife Projekte wie den Rastatter Tunnel. Wann wird mit dem Bau begonnen? Denn die Rheintalbahn hat eine wichtige volkswirtschaftliche Bedeutung, wie Sie gerade gesagt haben. Dieser Tunnel hat schon mehrere Jahre die Baureife. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Dazu kann ich heute keine Aussage treffen. Wir werden die Priorisierung der Projekte im IRP vornehmen und Sie im Anschluss an die Erarbeitung des IRP darüber informieren, welches Projekt wann umgesetzt wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Wir kommen jetzt zu Frage 31 unseres Kollegen Martin Burkert: Wie will die Bundesregierung Einfluss auf die Deutsche Bahn AG und Hersteller von Güterwagen nehmen, um einen festen Bestand von in Gebrauch befindlichen Güterwagen zu gewährleisten? Bitte schön, Herr Mücke. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der Güterverkehr und damit auch die Beschaffung und Vorhaltung von Güterwagen liegen in der unternehmerischen Verantwortung der Eisenbahnverkehrsunternehmen und somit auch der Deutschen Bahn AG. Es ist eigenverantwortliche Aufgabe der Deutschen Bahn AG, für einen ausreichenden Bestand an Fahrzeugen zu sorgen. Die Bundesregierung nimmt hierauf keinen Einfluss. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, was unternimmt die Bundesregierung, um die 600 000 Güterwagen in Europa, davon 180 000 in Deutschland, auf die Kunststoffbremssohle umzurüsten und die Akzeptanz in der Bevölkerung im Hinblick auf Schienenlärm zu verbessern? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir haben ein Förderprogramm ausgereicht, um die Umrüstung der Güterwagen voranzubringen. Ich will an meine Auskunft von vorhin erinnern: Wir setzen mit dem lärmabhängigen Trassenpreissystem einen betriebswirtschaftlichen bzw. marktwirtschaftlichen Anreiz, Güterwagen umzurüsten. Jemand, der mit besonders alten und lauten Güterwagen fahren wird, wird ab Dezember 2012 besonders hohe Trassenpreise zahlen. Es gibt also einen wirtschaftlichen Anreiz, Güterwagen umzurüsten. Wir haben mit unserem Förderprogramm zur Umrüstung von Güterwagen gute Erfahrungen gemacht. Mit reinen Subventionen kann das Problem nicht behoben werden. Wir sind der Meinung, dass das lärmabhängige Trassenpreissystem ausreichend Anreize bietet, Güterwagen umzurüsten. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre zweite Nachfrage, bitte schön, Kollege Martin Burkert. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, gibt es in Ihrem Hause Überlegungen, DB Schenker Rail aus dem DB-Konzern herauszulösen und zu privatisieren, um den Haushalt zu konsolidieren? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, weil die Beteiligungsverwaltung im BMF angesiedelt ist. Ich selber bin nicht Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn AG. Das müssten Sie den Bundesfinanzminister fragen. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön, Kollege Pronold, eine Nachfrage. Florian Pronold (SPD): Ich bin überrascht, dass die sonst so gut zusammenarbeitende und untereinander bestens verknüpfte Bundesregierung nicht weiß, ob es entsprechende Pläne gibt. Dem Verkehrsministerium muss doch bekannt sein, ob Privatisierungspläne bezüglich Schenker vorhanden sind. Falls Sie das wirklich nicht wissen – ich will Ihnen nichts Böses unterstellen –: Könnten Sie es herausfinden und es uns dann mitteilen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir reden nur über Entscheidungen, die wir getroffen haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig Vermutungen vorhalten. Sie erwarten doch sicherlich, dass Ihnen die Bundesregierung zutreffende Antworten zu Entscheidungen gibt, die sie getroffen hat. Wir haben hier eine ähnliche Diskussionslage wie schon bei einigen anderen Themen, die heute besprochen wurden. Es gibt eine allgemeine politische Diskussion über mögliche Privatisierungen. Eine Entscheidung dazu ist jedenfalls nicht getroffen. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank. – Bitte schön, Frau Kollegin Lühmann, eine Nachfrage. Kirsten Lühmann (SPD): Herr Staatssekretär, habe ich richtig verstanden, dass Sie der Meinung sind, dass die lärmabhängigen Trassenpreise ausreichend sind, um alle europäischen Güterwagen, die eine sehr lange Lebensdauer haben, zeitnah umzurüsten? Wie kommen Sie zu dieser Auffassung, da doch die DB und andere augenscheinlich anderer Auffassung sind? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich glaube, dass wir mit dem lärmabhängigen Trassenpreissystem einen wirtschaftlichen Anreiz setzen, eine entsprechende Umrüstung vorzunehmen. Es wird für die Unternehmen sehr viel teuer werden, mit alten Güterwagen zu fahren. Wir werden laufend überprüfen, ob die Umsetzung des Trassenpreissystems funktionieren wird. Ich gehe davon aus, dass dieser Anreiz ausreichen wird, eine entsprechende Umrüstung vorzunehmen. Wir können das selbstverständlich nicht für alle Güterwagen, die in Europa fahren, veranlassen, aber wir können ganz sicher ein Anreizsystem auf unseren Strecken einführen, die natürlich auch von ausländischen Güterwagen befahren werden. Es spielt dabei keine Rolle, wer dort entlangfährt. Entscheidend ist, dass derjenige mit altem Wagenmaterial mehr zahlen muss als jemand, der modernes Wagenmaterial verwendet. Deshalb gehen wir davon aus, dass damit eine spürbare Entlastung der Bevölkerung stattfinden wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Eine weitere Zusatzfrage von Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Herr Staatssekretär, gibt es Initiativen der Bundesregierung, den kombinierten Verkehr und den Einzelwagenverkehr im Schienengüterverkehr zu stärken und, wenn ja, welche? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir haben schon in den letzten Jahren viele Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt aufgewandt, um den kombinierten Verkehr zu unterstützen. Auch hierzu muss ich sagen, dass wir leider unter dem Druck der Haushaltskonsolidierung stehen und Kürzungen vornehmen mussten. Es bleibt aber richtig, dass wir in diesem Prozess weiter vorangehen werden; denn wir werden keine substanzielle Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene erleben, wenn wir den kombinierten Verkehr nicht weiter unterstützen. Es gibt eine Reihe von Neubaumaßnahmen, beispielsweise den Bau eines neuen Rangierbahnhofs in der Nähe von Halle durch die Deutsche Bahn. Ich gehe davon aus, dass wir im Bereich des Güterverkehrs eine ganz neue und wirtschaftlichere Struktur bekommen werden. Das wird insgesamt dazu beitragen, dass die Verkehre pünktlicher und schneller erfolgen und der Güterverkehr auf der Schiene insgesamt attraktiver wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Frage 32 der Frau Kollegin Elvira Drobinski-Weiß: Wie bewertet die Bundesregierung die Berechnungen der IG BOHR, dass die 2008er-Variante mit vier Gleisen an der Autobahn und der Belassung der Rheintalbahn für den Personennahverkehr 124 Millionen Euro weniger kosten würde als die Bündelungstrasse, und welche Konsequenzen für die weitere Planung zieht sie aus diesem Ergebnis? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sehr geehrte Frau Kollegin, der Bundesregierung sind entsprechende Ergebnisse einer Berechnung der Interessengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hoch-Rhein nicht bekannt. Der Projektbeirat, in dem die IG BOHR mit mehreren Personen vertreten ist, hat auf seiner fünften Sitzung am 8. Februar 2011 zu dieser sogenannten Kernforderung Folgendes beschlossen: Der Projektbeirat begrüßt die Bereitschaft der Deutschen Bahn AG, zum Vergleich mit der Antragstrasse vertiefende Untersuchungen für eine autobahnparallele Trassenführung von Offenburg bis Riegel vorzunehmen. Er dankt der Bundesregierung und der Landesregierung für ihre Zusage, die hierfür erforderlichen Mittel in Höhe von 550 000 Euro zur Verfügung zu stellen. (Signalton) Der Projektbeirat erwartet von der Deutschen Bahn AG, dass sie die entsprechenden Untersuchungen auf der Grundlage des von der Arbeitsgruppe Cluster 3 einvernehmlich erarbeiteten Pflichtenhefts in der Fassung der Diskussion des heutigen Projektbeirats zeitnah und in enger Abstimmung mit dieser Arbeitsgruppe durchführt. Bei der Prüfung der Belange des Emissionsschutzes soll auf der Grundlage des Gutachtens von Herrn Dr. Wendler auch die maximale Kapazität berücksichtigt werden. (Signalton) Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Staatssekretär, das „Glockenspiel“ ist aus bestimmten Gründen eingeführt worden. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Es nervt aber trotzdem! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wenn die Batterie des Herzschrittmachers nachlässt!) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich würde gerne vollständig antworten. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir machen keine Zeitbegrenzung. Es ist in Ordnung. Herr Staatssekretär, fahren Sie fort. Alle Kolleginnen und Kollegen sind froh, wenn sie umfassende Auskunft erhalten. Bitte schön. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Dementsprechend ist die sogenannte Kernforderung 2 – also Bundesautobahntrasse – als Tagesordnungspunkt 7 auf der nächsten Sitzung des Projektbeirats am 26. September dieses Jahres im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin, eines der zu diskutierenden Themen. Dabei wird die Deutsche Bahn AG über den in der Arbeitsgruppe bisher erreichten Sachstand berichten. Abschließende Beschlüsse oder Empfehlungen in dieser Frage werden aber voraussichtlich nicht getroffen werden. Vizepräsident Eduard Oswald: Erste Nachfrage, Frau Kollegin. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Erst einmal vielen Dank, dass der Herr Staatssekretär genügend Zeit bekam, so ausführlich zu antworten, auch wenn uns diese Antwort nicht zufriedenstellt. Ich möchte wissen, ob die Bundesregierung auch an der Rheintalbahn die fahrplantechnische Zahl und die Bahnhöfe für eventuelle Überholvorgänge hat feststellen lassen, ob das gegebenenfalls in die Planungen eingeflossen ist und was das an Kosten verursachen würde. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben, weil das eine Angelegenheit ist, die im Projektbeirat beraten werden müsste. Mir liegen dazu keine Untersuchungen vor. Ich gehe davon aus, dass Ihnen nach der Projektbeiratssitzung am 26. September eine Auskunft dazu gegeben werden kann. Aber im Moment kann ich Ihnen in dieser Frage nichts mitteilen. Vizepräsident Eduard Oswald: Es gibt keine weitere Nachfrage, sodass wir zur Fra-ge 33 unserer Kollegin Nicolette Kressl kommen: Wie beurteilt die Bundesregierung die von der Deutschen Bahn AG ermittelten Ergebnisse, dass als Alternative zur Bündelungstrasse im Rheintal der Bau zweier Gütergleise an der Autobahn plus die Ertüchtigung der Rheintalbahn auf 250 km/h rund 16 Millionen Euro mehr kosten würde? Bitte schön, Herr Staatssekretär. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der Bundesregierung sind entsprechende Ergebnisse einer Untersuchung der Deutschen Bahn AG nicht bekannt. Der Projektbeirat zur Rheintalbahn hat auf seiner fünften Sitzung am 8. Februar 2011 zu der sogenannten Kernforderung 2 das beschlossen, was ich vorhin schon verlesen habe. Ich gehe davon aus, dass diese Kernforderung 2 Thema der nächsten Sitzung des Projektbeirats am 26. September im BMVBS in Berlin sein wird und die Deutsche Bahn AG dann über den bis dahin erreichten Sachstand berichten wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Erste Zusatzfrage, Frau Kollegin. Nicolette Kressl (SPD): Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, können wir aus Ihrer Antwort schließen, dass die Bundesregierung die verschiedenen Berechnungen nach eigenen Kriterien bewerten wird? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir haben zugesagt, dass wir gemeinsam mit der Landesregierung 550 000 Euro zur Verfügung stellen, um diese Frage untersuchen zu lassen. Zunächst einmal ist das Ergebnis dieser Untersuchung abzuwarten. Dann werden wir eine Bewertung vornehmen können. Vorher macht eine Aussage über mögliche Bewertungen keinen Sinn. Vizepräsident Eduard Oswald: Weitere Nachfrage, Frau Kollegin. Nicolette Kressl (SPD): Das war eine sehr vage Antwort. Mich würde interessieren, welchen Ablauf der einzelnen Schritte in der Zusammenarbeit und der Bewertung Sie jetzt vorsehen und ob die Bundesregierung irgendwann zu einer eigenen Bewertung kommen wird. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Kollegin, der Sinn des Projektbeirats ist ja, gemeinsam mit den betroffenen Anwohnerinnen und Anwohnern, mit den Bürgerinitiativen eine Lösung zu finden, die alle tragen können. Deshalb macht es, glaube ich, wenig Sinn, wenn die Bundesregierung mit eigenen Positionen vorprescht. Sinn des Projektbeirats ist ja gerade, dass wir in einem iterativen Prozess zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Deshalb kann ich Sie nur auf die nächste Sitzung des Projektbeirats verweisen. Wir wollen hier gemeinsam mit der Region eine Lösung finden, die für alle akzeptabel ist. Wenn diese Untersuchungen vorliegen, wird die Bundesregierung dazu Stellung nehmen. Gegenwärtig liegen uns die Untersuchungen noch nicht vor, und deshalb ist es schwierig, heute dazu Stellung zu nehmen. Vizepräsident Eduard Oswald: Es gibt eine weitere Zusatzfrage, nämlich unserer Kollegin Schwarzelühr-Sutter. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Projektbeirat hin oder her – es gibt unterschiedliche Berechnungen, nämlich die Berechnungen der Bahn und die Berechnungen verschiedener Bürgerinitiativen. Die Frage ist einfach: Wer überprüft die Berechnungen? Rechnen Sie auch nach? Als Anhang noch: Sie sagen, dass Sie auf das Ergebnis des runden Tisches warten. Heißt das, dass die Bundesregierung dieses Ergebnis dann auch akzeptiert und die Umsetzung finanziert? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Es obliegt dem Eisenbahn-Bundesamt, letztendlich zu überprüfen, ob die Kosten realistisch geschätzt worden sind oder nicht. Deshalb ist es keine Angelegenheit des Ministeriums an sich, dazu Stellung zu nehmen. Ich glaube, dass wir am Ende eine verträgliche Lösung finden müssen, mit der alle leben können. Es macht ja keinen Sinn, eine besonders preiswerte Lösung zu realisieren, die in der Region aber keine Akzeptanz findet. Wir sollten uns schon bemühen, im Projektbeirat zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen. Dann wird das Eisenbahn-Bundesamt als zuständige Behörde die notwendigen Berechnungen vornehmen. Es wäre aber viel zu früh, heute schon dazu Stellung zu nehmen; denn zunächst einmal muss der Projektbeirat seine Position finden. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen jetzt zur Frage 34 des Kollegen Erler sowie zur Frage 35 des Kollegen Paula. Sie werden schriftlich beantwortet. Jetzt sind wir bei der Frage 36 unserer Kollegin Dr. Marlies Volkmer: Was sind die Gründe für die verschiedenen Medien zu entnehmenden Streichungen im Fünfjahresplan des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, nach denen die gesamte zweite Ausbaustufe des Dresdner Hauptbahnhofs aus dem Finanzplan entfallen ist, und welche Konsequenzen hat dies für die Infrastruktur des Bahnhofs und die Anbindung an den Schienenverkehr? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Kollegin Volkmer, Sie hatten ebenfalls nach Inhalten aus dem Investitionsrahmenplan gefragt. Auch hier muss ich Ihnen die Antwort geben, dass derzeit der Entwurf für diesen Investitionsrahmenplan erarbeitet wird. Der Entwurf befindet sich noch in der Abstimmung. Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts des gegenwärtigen Arbeitsstandes noch nicht möglich. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Volkmer. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Für alle, die das jetzt nicht wissen: Es geht in meiner Frage um die Ausbaustufen des Dresdner Hauptbahnhofs. Der Dresdner Hauptbahnhof hat vor fünf Jahren ein neues Dach für über 90 Millionen Euro, geplant vom britischen Stararchitekten Norman Foster, erhalten. Meine Frage lautet jetzt, Herr Staatssekretär Mücke: Halten Sie es für gerechtfertigt und für sinnvoll, wenn ein Bahnhof mit einem solchen architektonischen Kleinod als Dach nicht weiter gebaut und dann praktisch als Dauerbaustelle bestehen würde? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie sind ja in demselben Wahlkreis wie ich tätig. Deshalb kennen Sie den Dresdner Hauptbahnhof mindestens genauso gut wie ich selbst. Die Behauptung, dass der Hauptbahnhof eine Baustelle sei, ist nun definitiv falsch. Es sind ja schon mehrere Baustufen am Hauptbahnhof umgesetzt worden. Er ist einer der schönsten erneuerten bzw. sanierten Bahnhöfe in den neuen Bundesländern, vielleicht sogar in Deutschland insgesamt geworden. Bei der von Ihnen angesprochenen Baustufe geht es um die verbleibende Sanierung einiger weniger Bahnsteige. Das ändert nichts an der guten Qualität des Bahnhofs insgesamt. Insofern möchte ich Sie auf meine schon einmal gegebene Antwort verweisen: Bitte warten Sie die Fertigstellung des Investitionsrahmenplans ab. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Volkmer. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Meine Nachfrage lautet: Wie würden Sie die Zustände auf einem Bahnhof bezeichnen, der in Teilen weiträumig abgesperrt ist, auf dem Bauarbeiten stattfinden und von dem aus Durchbrüche zum Beispiel zur Bayrischen Straße geschaffen werden, wenn Sie das nicht als Baustelle bezeichnen wollen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Es handelt sich um die Erneuerung einiger weniger, noch nicht sanierter Bahnsteige. Alle anderen sind schon saniert. Das Gebäude ist in einem hervorragenden Zustand. Ich bin sicher, dass wir auch diese zweite Baustufe noch umsetzen werden. Die Frage ist nur, zu welchem Zeitpunkt das passieren wird. Das ist eine Frage, die erst nach den noch zu erfolgenden Abstimmungen über den Investitionsrahmenplan beantwortet werden kann. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank. – Ich komme jetzt zur Frage 37 unserer Kollegin Kirsten Lühmann: Wie positioniert sich die Bundesregierung zu Plänen der Europäischen Kommission, im Oktober 2011 einen Entwurf zur Neuformulierung der Richtlinie zur Marktöffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft im Rahmen eines Flughafenpaketes vorlegen zu wollen, und wie plant die Bundesregierung hierauf zu reagieren? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Auf Ihre Frage, Frau Lühmann, möchte ich antworten: Für eine öffentliche Positionsbestimmung der Bundesregierung zu Plänen der Europäischen Kommission zur Neuformulierung der Richtlinie 96/67/EG zur Marktöffnung der Abfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft im Rahmen eines Flughafenpaketes ist es mangels Kenntnis konkreter Vorstellungen der Europäischen Kommission noch zu früh. Bisher ist lediglich ein inoffizieller Entwurf bekannt. Hier ist unklar, ob dieser auch so an die Mitgliedstaaten gehen wird. Letztendlich ausschlaggebend kann jedoch nur der offiziell übermittelte Entwurf der Europäischen Kommission sein. Die Bundesregierung wird den offiziellen Vorschlag der Europäischen Kommission nach Eingang eingehend prüfen und sodann ihre Vorstellungen der Europäischen Kommission übermitteln. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin. Kirsten Lühmann (SPD): Die Bundesregierung hat in der Drucksache 17/6622 festgestellt, dass aufgrund der letzten Liberalisierung die Kosten im Bereich der Abfertigung gesunken sind. Herr Kallas hat Anfang dieses Jahres, am 5. Januar, festgestellt, eine weitere Veränderung der Richtlinie könne nur mit dem Ziel vorgenommen werden, dass Kosten gespart werden und sich die Qualität erhöht. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir, da die Bundesregierung jetzt festgestellt hat, dass die Kosten schon deutlich gesunken sind, eine weitere Liberalisierung gar nicht mehr benötigen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Dieser Auffassung bin ich nicht. Ich kann Ihnen zu möglichen Absichten der Kommission oder von Herrn Kallas keine Auskunft geben. Das Prinzip, dass ständig auch diese Fragen überprüft werden sollen, kann ich nur bestätigen. Möglicherweise gibt es auch noch Wirtschaftlichkeitsreserven. Wir werden abwarten, welchen Entwurf uns die Kommission vorlegen wird. Die Bundesregierung kann dazu noch keine Position beziehen, weil wir den Entwurf noch nicht kennen. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin. Kirsten Lühmann (SPD): Eigentlich müsste die Bundesregierung eine Meinung dazu haben, ob sie eine Veränderung für nötig befindet oder nicht. Aber ich nehme zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die nicht hat. Dann versuche ich es einmal andersherum. Bei der offenen Konsultation – ich hoffe, dass die Bundesregierung die verfolgt hat – haben verschiedene Akteure festgestellt, dass es aufgrund der Liberalisierung angezeigt ist, in der geänderten Richtlinie auch die Arbeitsbedingungen festzulegen. Wie steht die Bundesregierung zu diesem Ansinnen, sollte sie das zur Kenntnis genommen und sich da schon eine Meinung gebildet haben, was schön wäre? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir kennen die Kritik, dass die Liberalisierung der Bodenabfertigungsdienste zu Lohndumping und ähnlichen Schwierigkeiten geführt haben soll. Wir können das nur eingeschränkt nachvollziehen. Ich glaube, dass die Vereinbarung von Sozialstandards die Sozialpartner klären sollten. Wir werden dennoch vorurteilsfrei und offen prüfen, was uns die EU-Kommission zu dieser Frage vorlegen wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Beantwortung der Frage 38 unserer Kollegin Kirsten Lühmann: Wie positioniert sich die Bundesregierung zu den Befürchtungen von Gewerkschaften und Betriebsräten, die die Interessen der Beschäftigten in Deutschland und Europa vertreten, wonach die Pläne der EU-Kommission bezüglich der Marktöffnung der Abfertigungsdienste zu einem ruinösen Preisverfall der Dienstleistung führen würden und dadurch eine Abwälzung auf die Beschäftigten stattfinden würde, was insbesondere zu einer Gefahr für die Sicherheit, aber auch zum Verfall des Gehaltsgefüges und damit zu Lohndumping führen würde? Bitte schön, Herr Staatssekretär. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Es handelt sich bei der Richtlinie 96/67/EG um ein Regelwerk für den Verkehrssektor. Die Bundesregierung wird abwarten, inwiefern die Europäische Kommission in das Regelwerk sozial- und arbeitsmarktpolitische Fragen einbindet, und sodann auch hier in eine eingehende Prüfung eintreten. In der Sache ist die Bundesregierung der Auffassung, dass prioritär sichergestellt werden sollte, dass die bereits geltende Richtlinie in den europäischen Mitgliedstaaten gleichmäßig angewandt wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Nachfrage, Frau Kollegin. Kirsten Lühmann (SPD): Das höre ich gern. Kann ich das dahin gehend interpretieren, dass die Bundesregierung sich, insbesondere im Zusammenhang mit der Sicherstellung von Arbeitsbedingungen, auch dafür einsetzen wird, dass es bei der Beschränkung der Anzahl der Dienstleister bleiben wird? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Wir haben noch keine Position dazu erarbeitet. Zunächst warten wir den Kommissionsvorschlag ab. Vizepräsident Eduard Oswald: Noch eine Nachfrage? – Bitte. Kirsten Lühmann (SPD): Ich versuche es noch einmal; ich bin ja hartnäckig. Ist die Regierung im Lichte der Feststellung der Gewerkschaften, dass es schon nach der letzten Liberalisierung 1996 zu einer deutlichen Verringerung der Sozialstandards gekommen ist, insbesondere zu einer Erhöhung des Umfangs der Zeitarbeit und der Zahl befristeter Arbeitsverträge aufgrund von häufig wechselnden Anbietern, der Meinung, dass man zum Beispiel die Möglichkeiten aus Art. 18 und 19 der Richtlinie, nämlich innerstaatlich Vorschriften zum Schutz der Beschäftigten zu erlassen, nutzen sollte? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich glaube nicht, dass das in Deutschland im Moment relevant ist. Ich glaube, dass die Verhandlung über diese Standards den Tarifpartnern überlassen werden sollte. Im Übrigen sind aus Sicht der Bundesregierung befristete Arbeitsverträge oder Leiharbeitsverhältnisse nichts, was wir zu kritisieren hätten; vielmehr gibt es diese Instrumente zu Recht auch im deutschen Arbeitsmarkt. Sie sollen dazu beitragen, dass Arbeitgeber flexibler auf eine bestimmte Nachfrage reagieren können. Wir können daran nichts Kritikwürdiges finden. Vizepräsident Eduard Oswald: Ich habe noch die Nachfrage des Kollegen Martin Burkert. Martin Burkert (SPD): Herr Staatssekretär, im Verkehrsrecht sollen die Maßnahmen, was einen Notstand angeht, so weit aufgewertet werden, dass das Streikrecht in Deutschland dadurch massiv beeinflusst würde. Wird die Bundesregierung das Streikrecht in Deutschland verteidigen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das Bundesverkehrsministerium ist nicht für die Beurteilung von Fragen des Streikrechts zuständig. Ich möchte Sie bitten, sich mit Ihrer Frage an das zuständige Ministerium zu wenden. Vizepräsident Eduard Oswald: Noch eine Nachfrage? Martin Burkert (SPD): In den Anhängen ist neben dem Streikrecht auch die Rede davon, dass beispielsweise Lokführer Schadenersatz leisten sollen, wenn die Züge Verspätung haben. Wird die Bundesregierung sich dagegenstellen? Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Einen entsprechenden Vorschlag kenne ich nicht. Wir werden das prüfen. Ich hielte es für sehr ungewöhnlich, wenn das Usus werden sollte. Es kommt immer auf die Ursache einer Verspätung an. Ich glaube nicht, dass dafür der Lokführer haftbar gemacht werden kann. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Sie werden es nicht glauben, aber wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Frau Kollegin Vogt ist nicht anwesend. Mit ihren Fragen 39 und 40 wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Cornelia Behm auf: In welcher Form wird die Bundesregierung die im Rahmen der Waldkonferenz „Bonn Challenge“ am 2. September 2011 unter anderem vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, angekündigte Wälder-Weltinitiative, die in den Jahren 2011 bis 2020 weltweit 150 Millionen Hektar Wald wieder aufbauen will, finanziell und organisatorisch unterstützen? Frau Staatssekretärin, bitte. Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Sie fragen nach der Konferenz „Bonn Challenge“, die vor kurzer Zeit in Bonn stattgefunden hat. Es handelt sich um einen Austausch verschiedener Akteure über Möglichkeiten, Länder auf der Grundlage bestehender Prozesse beim Wiederaufbau von Wäldern und Landschaften zu unterstützen und dadurch Synergien zwischen dem Erhalt der Biodiversität und dem Klimaschutz zu nutzen. „Bonn Challenge“ – vorher gab es eine Konferenz in London, die mich persönlich sehr beeindruckt hat – soll ein Bindeglied zwischen dem Klimaschutzprozess und dem Biodiversitätsprozess sein, etwas, was dringend notwendig ist. Im Rahmen unserer Internationalen Klimaschutzinitiative unterstützen wir viele Länder bei der Umsetzung wichtiger Maßnahmen im Bereich Waldschutz und beim Wiederaufbau von Waldökosystemen. Wie wir die „Bonn Challenge“ weiterhin finanziell und organisatorisch unterstützen können, wird zurzeit geprüft. Das kann beispielsweise auch im Rahmen der internationalen Klimaschutzprojekte erfolgen. Wie das aussehen kann, wollen wir in Kürze entscheiden. Vizepräsident Eduard Oswald: Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Ich finde, es ist eine hervorragende und auch wichtige Initiative, die weltweit auf den Weg gebracht wurde. Die Rede ist davon, dass etwa 2 Milliarden Hektar Waldfläche aufgeforstet werden könnten. 150 Millionen Hektar hat sich die Wälder-Weltinitiative vorgenommen. Es stellen sich folgende Fragen: Weiß man, in welchem Eigentum sich diese 2 Milliarden Hektar befinden? Wird es möglich sein, den Zugang zu den 150 Millionen Hektar zu gewährleisten, um die Aufforstung durchzuführen? Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Die Zahl 2 Milliarden Hektar hat man erst in jüngster Zeit errechnet. Man konnte durch neue Methoden berechnen, wie viel Waldfläche tatsächlich zur Wiederaufforstung bzw. zur Wiederherstellung zur Verfügung steht. Die 150 Millionen Hektar sind teilweise in Landesbesitz. So wird beispielsweise das Land Ruanda den Wiederaufbau seiner Wälder auf insgesamt 2,6 Millionen Hektar unterstützen. Vizepräsident Eduard Oswald: Eine weitere Nachfrage? Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man weiß also noch nicht im Detail, in welchem Eigentum diese Flächen sind. Einige Fragen sind allerdings noch offen – wahrscheinlich sind sie noch im Diskussionsprozess –: Wie wird die Aufforstung finanziert? Will die Wälder-Weltinitiative Unternehmen gewinnen, die das Vorhaben finanzieren? Wird die Wälder-Weltinitiative selber Mittel zur Finanzierung aufbringen? Man hat errechnet, dass die geplante Aufforstung weltweit Gewinne in Höhe von 85 Millionen Dollar pro Jahr abwerfen könnte. Wer wird die Gewinne letzten Endes einstreichen? Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Was das Gewinneeinstreichen angeht: So weit sind wir noch lange nicht. Das ist ein sehr langer Prozess. Es geht zunächst einmal darum, die ersten Schritte zu machen. Sie haben zu Recht angesprochen: Wie wird das Ganze finanziert? Es gibt auch privatwirtschaftliche Initiativen, bei der „Bonn Challenge“ beispielsweise eine Initiative eines Wirtschaftsverbandes. Das Unternehmen Airbus hat sich engagiert. Es wollen sich also verschiedene private Initiativen am Wiederaufbau der Wälder beteiligen. Darüber hinaus prüfen wir – das habe ich als Antwort auf die erste Frage bereits gesagt –, inwieweit wir solche Initiativen unterstützen können. Denn der Wiederaufbau der Wälder ist Kernstück unserer gesamten Klimaschutzpolitik. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen herzlichen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie sind einverstanden, keinen neuen Fragenkomplex mehr aufzurufen, sodass wir jetzt am Ende dieser Fragestunde sind. Alle weiteren Fragen werden schriftlich beantwortet. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geordnete Insolvenz – Die Haltung der Bundesregierung Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der Finanzen hat letzte Woche eine zutreffende Feststellung gemacht: Denkverbote sind zutiefst freiheitswidrig. Aber das Gegenteil von Denkverboten sind nicht unbedingt Redegebote. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Gemeint war Herr Rösler. Und in der Tat: Hätte er lieber geschwiegen! (Jörg van Essen [FDP]: Ach, Quatsch! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Also, Sie sind für Schweigegelübde!) Es ist fahrlässig, angesichts des von der eigenen Regierung eingeleiteten Umtauschs von griechischen Staatsanleihen von einer geordneten Insolvenz zu reden und somit diesen Umtausch auszubremsen und das Minimum an Gläubigerbeteiligung, das Sie auf den Weg gebracht haben, noch geringer ausfallen zu lassen. Damit haben Sie nicht Schaden vom deutschen Volk abgewendet, sondern ihn gemehrt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn man die Möglichkeit einer geordneten Staatsinsolvenz in Betracht zieht, wie kann man dann – 25 von Ihnen bei der letzten Probeabstimmung – gegen die erweiterte EFSF sein? Diese schafft doch erst die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie eine Insolvenz überhaupt möglich wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man von geordneter Insolvenz redet, wie kann man dann eine Urabstimmung in den eigenen Reihen dagegen organisieren, dass dieses Instrument zur Vermeidung von Krisen dauerhaft Bestandteil Europas wird? Das ist doch organisierte Schizophrenie und nicht Liberalität, was Sie da praktizieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Das machen wir doch gar nicht!) Es ging Ihnen ja auch gar nicht um Europa. Es ging Ihnen darum, in Berlin über die 5-Prozent-Hürde zu kommen. Diese Wette ist grausam danebengegangen. Die Wählerinnen und Wähler haben Sie auf Ramschniveau runtergeratet. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn in Berlin noch mal ausgezählt wird, kann es noch traurig werden!) Frau Bundeskanzlerin, Ihr Koalitionspartner befindet sich in einer mittlerweile ungeordneten Insolvenz. In Kreuzberg, meine Damen und Herren von der FDP, haben Sie sich ein heftiges Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Tierschutzpartei geliefert. Mit 0,7 Prozent haben Sie noch nicht einmal halb so viele Stimmen bekommen wie Die Partei von Ihrem Freund Martin Sonneborn, der mit dem Plakat „Inhalte überwinden!“ Ihren Wahlkampf inhaltlich getoppt hat. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie sind mittlerweile der größte Leerverkauf in der Politik. Wann haben wir das das letzte Mal gehabt, dass sich eine Regierungspartei, eine liberale zumal, entschlossen hat, aus Gründen der Wählermaximierung auf Haiders Spuren statt weiter auf den Wegen von Hans-Dietrich Genscher zu laufen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Sie wissen doch, dass das Unsinn ist!) Die Bundeskanzlerin kann einem an dieser Stelle schon fast leidtun. Herr Schäuble sagte in der Bild am Sonntag: Eine Koalition mit einer euroskeptischen Partei kann ich mir nicht vorstellen. – Ja, warum sitzt denn die FDP noch am Kabinettstisch? Warum darf Herr Dobrindt noch in den Koalitionsausschuss? Das müssen Sie von der Union, die sich mal Europa-Partei genannt haben, einmal beantworten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sagen Sie nicht, am Ende würden Sie sich als gute Europäer in der Union immer gegen die Euro-Skeptiker von FDP und CSU durchsetzen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Herr Kollege, in Ihrem Alter ist so viel Aufregung nicht gut!) Wir müssen darüber reden, was dieses Durchsetzen am Ende kostet. Über ein Jahr haben Sie sich diesem erweiterten Rettungsschirm verweigert, weil Sie gegen den Ankauf von Anleihen waren. Mittlerweile muss das die EZB machen. Das ist es, wozu Ihre innere Blockade führt. Das ist es, was die Krise verlängert und sie im Übrigen für die Steuerzahler verteuert. Weil Sie sich nicht einig waren, weil Sie die Euro-Skeptiker in den eigenen Reihen haben – wie ich weiß, sehen das bei Ihnen viele haargenau so, der Finanzminister eingeschlossen –, weil Sie diese Skeptiker nicht auf Linie bringen konnten, kommen die Instrumente für den Rettungsfonds zu spät. Bis heute ist es nicht sicher, dass Sie zu dieser Frage über eine eigene Mehrheit verfügen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Da machen Sie sich mal keine Sorgen!) Heute Morgen habe ich in der Berliner Zeitung eine interessante Überschrift gelesen. Sie lautet: Schäuble vertraut auf Rot-Grün. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch gut so!) Es muss schon ziemlich schlimm in Ihren Reihen bestellt sein, wenn es so weit kommt, dass der Bundesfinanzminister auf Rot-Grün vertrauen muss. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Da wäre er auch verlassen!) Meine Damen und Herren, wo sind Sie als überzeugte Europäer eigentlich geblieben? Ich sage Ihnen: In der nächsten Woche wird hier nicht nur über den europäischen Stabilisierungsfonds abgestimmt. In der nächsten Woche wird hier auch über Ihre Zukunft abgestimmt. Ja, Sie können sich darauf verlassen: Wir sind für die EFSF. Aber wir sagen Ihnen auch: Wenn Sie keine eigene Mehrheit haben, dann hat Schwarz-Gelb fertig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die geordnete Insolvenz Ihrer Traumkoalition – das heißt Neuwahlen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Jörg van Essen [FDP]: Genauso schwach wie Künast!) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert Barthle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Grünen-Fraktion eine Aktuelle Stunde zu einem Thema beantragt hat, das in der Öffentlichkeit nur schwer verständlich ist. (Zuruf von der SPD: Wir haben fertig!) Denn erklären Sie einmal den Menschen, worin der Unterschied besteht zwischen einem Staat, der illiquide ist, einem Staat, der insolvent ist, oder einem Staat, der zahlungsunfähig ist, und worin in dem Zusammenhang der Unterschied besteht zwischen einer geordneten Insolvenz und einer ungeordneten Insolvenz. Das verstehen die Bürger – von den Fachleuten einmal abgesehen – nicht. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wenn Sie aufgrund dieser terminologischen Differenziertheiten nun einen Keil in die Koalition treiben wollen, (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-NIS90/DIE GRÜNEN] – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen wir nicht! Das haben Sie schon selber gemacht, Herr Barthle!) dann ist das mehr als lächerlich. Verehrter Herr Trittin, Ihr Auftritt soeben hat Sie für das Berliner Kabarett qualifiziert, nicht aber für dieses Haus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Noch eines muss man Ihnen sagen: Herr Trittin, wenn ich mich recht erinnere, ist doch Ihre Kollegin, Frau Künast, angetreten, um in Berlin Regierende Bürgermeisterin zu werden. Was wir hier erleben, ist doch nichts anderes als die Fortsetzung des Berliner Wahlkampfes. Wenn Sie darüber sprechen wollen, können wir das gerne tun. Wo sind denn die Höhenflüge der Grünen geblieben? (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn 2,5 Prozent gewonnen, und wer hat 4,5 Prozent gewonnen, Herr Barthle? – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischen zwei und vier ist ein Unterschied! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rechnen, rechnen!) Ich wollte eigentlich die Grünen-Fraktion loben; denn während der Beratungen zur EFSF und zur Frage der parlamentarischen Beteiligung an Fragen dieses neuen Rettungsinstruments hat sich die Grünen-Fraktion ausgesprochen konstruktiv verhalten. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anders als die FDP!) Das ist sehr lobenswert. Was Sie aber hier abliefern, konterkariert dieses Bild total. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen zu müssen. Eine im Kern vernünftige Fraktion führt sich hier in unwürdiger Art und Weise auf. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie meinen doch Ihre FDP, Herr Barthle! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Sie meinen die FDP, oder?) Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Über die Frage, ob ein Euro-Mitgliedsland in eine geordnete oder ungeordnete Insolvenz gerät, entscheidet weder die Bundeskanzlerin noch der Vizekanzler, darüber entscheidet nicht die FDP-Fraktion, auch nicht die CDU/CSU-Fraktion (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!) und auch nicht die Grünen oder die SPD oder gar die Linken. Über diese Frage entscheidet einzig und allein das betreffende Land. Darüber muss man sich immer im Klaren sein. Denn wenn ein Land sich so aufstellt, dass es wettbewerbsfähig und kreditwürdig ist, dann kann es sich auf den Kreditmärkten bedienen. Andernfalls muss sich in dem betreffenden Land etwas ändern. Dass sich in den betreffenden Ländern etwas ändert, daran arbeiten wir, insbesondere mit dem jetzt aufzustellenden neuen Rettungsschirm, mit den erweiterten Möglichkeiten der EFSF, der neuen Finanzmarktstabilisierungsfazilität. Diese soll in der Lage sein, vorausschauend helfen zu können in den Fällen, in denen Ansteckungsgefahren von einem Lande ausgehen, wovon womöglich die gesamte Europäische Union, insbesondere aber der Euro, betroffen wäre. Wir entwickeln jetzt gerade ein Programm, um in Fällen, in denen Ansteckungsgefahren drohen, prophylaktisch einwirken zu können. Wir machen ein Programm, das dafür sorgt, dass die mit den Rettungsmaßnahmen verbundene Konditionalität, also die Auflagen, die ein Land erhält – ein Land, dem geholfen wird, muss selbst tätig werden, sich verändern, sich neu aufstellen und wettbewerbsfähig werden –, wirksam werden kann. Die Konditionalität wird erst durch das Instrumentarium, das wir jetzt entwickeln, wirksam. Es lohnt sich viel mehr, darüber zu sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem Hause haben in dieser Woche eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Wir haben zu regeln, wie der Rettungsmechanismus und die parlamentarischen Beteiligungsrechte künftig ausgestaltet sein sollen. Diese Aufgaben betreffen das ganze Hohe Haus in besonderem Maße. Es lohnt sich, dafür den Gehirnschmalz einzusetzen, sich zusammenzusetzen, miteinander zu streiten und zu ringen – das tun wir gerade auch im Haushaltsausschuss intensiv –, um eine Lösung zu finden. Da ist der Klamauk, den Sie hier veranstalten, ausgesprochen kontraproduktiv; denn er lenkt von den eigentlichen Themen ab. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen doch keinen Klamauk! Das macht die FDP! Sie schauen in die falsche Richtung!) Sie produzieren Klamauk dort, wo wir ihn nicht gebrauchen können. Das ist eine Tendenz, die dem Thema nicht angemessen ist – im Gegenteil. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie einmal mit Herrn Schäuble!) Sie machen aus einem wirklich ernsten europäischen Thema, das man mit großer Seriosität behandeln muss, ein Klamaukthema. Es tut mir leid, Ihnen das so sagen zu müssen. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal der FDP!) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Joachim Poß. (Beifall bei der SPD) Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Barthle, Sie können einem nun wirklich leidtun, weil hier Sie zum wiederholten Male Ausputzer sein und eine Ablenkungsrede halten müssen. Denn machen wir uns nichts vor: Bei aller Leichtigkeit Ihrer Formulierungen ist das, was wir in der letzten Woche erlebt haben, ein verdammt ernster Vorgang, der von Ihrer Regierung, vom Vizekanzler, ausgegangen ist. Es ist wirklich kein Grund, Witzchen zu machen; denn die europäischen und internationalen Reaktionen – Sie können es in den internationalen Medien nachvollziehen – sind einfach erschreckend: Die Menschen sind entsetzt. Sie fragen: Was ist mit der Regierung des wirtschaftsstärksten Landes Europas los, wo doch – so wurde es in einer Zeitung formuliert – die ganzen Hoffnungen sozusagen auf den Schultern von Frau Merkel ruhen? Das ist der Vorgang, um den es hier geht. Sie werden Ihrer Verantwortung – Sie wurden gewählt, um sie wahrzunehmen – in keiner Weise gerecht; das ist das Erschreckende. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir sehen eine total zerstrittene Bundesregierung mit grenzenlosem Misstrauen untereinander, die offen gegeneinander arbeitet, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr selektive Wahrnehmung!) einen Vizekanzler, der zum wiederholten Male in einer zentralen Frage der deutschen Politik offen eine andere Position als die Bundeskanzlerin und der fachlich zuständige Bundesfinanzminister einnimmt. Frau Merkels Appelle in Richtung Rösler und FDP verhallen ohne Wirkung. Wolfgang Schäuble kann sich nur noch in Sarkasmus flüchten; ich kann das nachvollziehen. Wir sehen eine Bundesregierung und eine Regierungskoalition in Chaos und Auflösung; das ist der Tatbestand, mit dem wir es zu tun haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nebenbei tritt Frau Merkels Machtverfall immer offener zutage. Das heißt, die Regierung des wirtschaftsstärksten europäischen Landes legt sich in der Staatsschuldenkrise selbst lahm. Gerade jetzt ist doch die volle Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung gefragt. Die Probleme sind so groß, dass sie schon bei voller Handlungsfähigkeit kaum zu bewältigen sind. Es fehlt an Überzeugungsarbeit. Wie will denn diese Regierung bei dem Durcheinander, das sie produziert, Überzeugungsarbeit leisten? Wir alle, Vertreter aller Fraktionen, wissen doch, wie schwer es ist, diese Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir alle wissen es: Die Befindlichkeiten der eigenen Partei sollten mit den Äußerungen von Herrn Rösler bedient werden. Rösler ging es von Anfang an um die Stabilisierung der FDP. Das ist misslungen. Es ging ihm um Signale in eine bestimmte Richtung, nicht um die Stabilisierung des Euro. Wie auch immer er seine Äußerungen begründen mag: Er nahm billigend die Verunsicherung der Märkte und derjenigen in Kauf, die sich aktuell um Lösungen der Probleme bemühen; das ist der Tatbestand. Das ist nicht tolerabel bei jemandem, der in der Regierungsverantwortung steht. Er gehört da gar nicht hin. Herr Rösler hat sich als total überfordert gezeigt; das muss man einmal sagen. Damit ist er nicht der Einzige in dieser Regierung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Kanzlerin sagte zu Recht, jeder müsse seine Worte „vorsichtig wägen“, richtet aber nichts aus, und im Schatten von Herrn Rösler und der FDP schwimmt eine immer nervöser werdende CSU. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hier ist niemand nervös von uns! Was bilden Sie sich eigentlich ein? Lächerlich!) Aus ihren Reihen kommen Äußerungen, die in ebensolcher Weise unverantwortlich sind. Das, was Herr Seehofer abliefert, müssen Herr Waigel und andere, die man nun wirklich als überzeugte Europäer bezeichnen kann, voller Ingrimm betrachten. Das, was von der CSU zu hören ist, hat nichts mehr mit europäischer Tradition zu tun. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da klatscht noch nicht einmal die eigene Fraktion!) Unterm Strich – Herr Trittin hat das angedeutet –: Das ganze Gerede über mögliche Alternativen zu den existierenden und erweiterten Rettungsschirmen und die Signale, die damit gesetzt wurden, können uns noch sehr teuer zu stehen kommen. Wenn das ökonomisch wenigstens Sinn machen würde; das Gegenteil ist aber der Fall: Auch ökonomisch schaden Sie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das war nicht nur an einem Tag zu beobachten. Herr Rösler hat zum Beispiel nicht erklärt, was er mit seiner Äußerung zur „geordneten Insolvenz“ gemeint hat. Die Folgen, die mit einem solchen Vorgehen verbunden wären, müssten von ihm einmal beschrieben werden. In den Medien werden solche Szenarien beschrieben. Das Ergebnis ist: Mit seinen Beiträgen macht sich der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler mit jenen in der FDP, der CDU und der CSU gemein, denen die ganze Richtung der Euro-Stabilisierung nicht passt. Das gilt leider auch für einige deutsche Ökonomen, die, wie Sie, viel zu leichtfertig und abgehoben mit Begriffen wie „Insolvenz“ und „Austritt aus dem Euro“ umgehen, ohne deren Implikationen und Konsequenzen auszuleuchten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Unterschied zu Herrn Rösler tragen diese Ökonomen aber keine politische Verantwortung. Herr Rösler hat in den letzten Wochen wirklich eindrucksvoll bewiesen, wie überfordert er mit dieser Aufgabe ist. Er sollte sich überlegen, ob er sich selbst und seiner Partei nicht möglicherweise einen Gefallen damit tut, wenn er sich aus dieser Aufgabe zurückzieht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Christian Lindner. Bitte schön, Kollege Christian Lindner. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Der übt sich jetzt in Demut!) Christian Lindner (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Bundeswirtschaftsminister hat vor der Berlin-Wahl eine Position bezogen, und er wird auch nach der Berlin-Wahl diese Position weiter vertreten, weil er aus staatspolitischer Verantwortung heraus argumentiert hat und nicht mit Rücksicht auf parteipolitischen Interessen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Unverantwortlich ist das! Unverantwortlich! So ruinieren Sie die Wirtschaft!) Herr Poß, ausgerechnet Sie erheben den Vorwurf des Populismus und der Parteitaktik. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die die erfolgreiche Agenda 2010 aus blankem Opportunismus rückabwickeln wollen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: 1,8!) ausgerechnet die SPD, deren Vorsitzender die fleischgewordene Pirouette ist, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: 1,8! Das nennt man auch Splitterpartei! Splitterpartei in unserer Regierung! Unglaublich!) ausgerechnet die SPD, die sich drei Tage vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl beim ersten Griechenland-Rettungspaket enthalten hat, ausgerechnet diese SPD wirft uns Populismus vor. Von Ihnen brauchen wir uns den Vorwurf wirklich nicht gefallen zu lassen! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Splitterpartei! – Katrin Göring-Eckardt [BÜND-NIS  90/DIE GRÜNEN]: Ein hilfloser Versuch! Herr Lindner, ein kleines bisschen Selbstkritik!) Im Übrigen ist das alles nur ein Trick – das gilt auch für die Argumentation von Herrn Trittin –, um von der Auseinandersetzung in der Sache abzulenken. Deshalb erheben Sie den Vorwurf der Parteitaktik und des Populismus. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,8 Dezibel zu laut!) – Regen Sie sich doch nicht so auf. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie wollen Demut produzieren! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ist das Demut?) Europa ist – das ist, glaube ich, unsere gemeinsame Überzeugung – die Garantie für Frieden und Wohlstand auf diesem Kontinent. Die Idee der europäischen Integration ist liberal; es ist die Idee der Freiheit des Arbeitens, des Lebens, des Handelns und des Wirtschaftens auf unserem gemeinsamen Kontinent. Die Währungsunion ist eine Errungenschaft, von der Deutschland profitiert. Für uns Liberale ist die europäische Integration im Übrigen auch das politische Erbe von Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel. Deshalb werden wir sie mit Entschiedenheit verteidigen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Davon merkt man nur nichts! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wenden sich mit Grausen von Ihnen ab!) Europa ist aber gegenwärtig in einer Krise, und nur wenn man die Krise analysiert, kann man die richtigen Schlüsse ziehen. (Zuruf von der SPD: Ziehen Sie Ihre eigenen!) Die Ursachen bzw. Verursacher der Krise sitzen hier im Raum; (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann man wohl sagen! Schauen Sie zu Ihren eigenen Leuten! Da sitzt die 1,8-Prozent-Splitterpartei!) sie sitzen in Ihren Reihen. Sie haben seinerzeit unter der Regierung Schröder/Fischer die Maastricht-Kriterien gebrochen (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wahr!) und das dann auf europäischer Ebene auch noch zum Programm erklärt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Auch das ist wahr!) Sie haben hier im Jahre 2004 einen Antrag verabschiedet, in dem zu lesen ist – ich zitiere –, der Stabilitätspakt sei „zu starr auf die kurzfristige Einhaltung quantitativer Vorgaben ausgerichtet“. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt auch!) Das war die Einladung, Europa zu einer Schuldenunion zu machen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nachdem Sie uns einen Scherbenhaufen hinterlassen haben, stören Sie jetzt auch noch die Aufräumarbeiten. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten uns Demut versprochen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Demut kann er einfach nicht!) Das Ergebnis ist heute zu sehen. Ihre Antworten auf die Schuldenkrise sind neue Schulden, europäische Gemeinschaftsschulden. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Euro-Bonds!) Sie haben nichts gelernt. Sie haben im nationalstaatlichen Rahmen, in Deutschland, nichts gelernt; denn keine Regierungskonstellation in den Ländern bekommt so viele Ohrfeigen wegen zu hoher Verschuldung von Verfassungsgerichten und von Rechnungshöfen wie die Zusammenarbeit von Roten und Grünen. Sie haben auch auf europäischer Ebene nichts gelernt; denn Sie setzen sich für Euro-Bonds ein. Damit wollen Sie nichts anderes als die Vergemeinschaftung von Schulden. Eine Schuldenkrise löst man aber nicht, indem man das Verschulden noch günstiger macht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mit Demut hat das nichts zu tun! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Demut geht anders!) Was wir brauchen, ist eine Stabilitätskultur in Europa. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zu einer Zeit, als die europäische Linke – klatschen Sie nicht zu früh – in Europa noch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme gefordert hat, haben wir auf Stabilität gesetzt. Jetzt sehen wir, dass in Spanien eine nationale Schuldenbremse in die Verfassung aufgenommen wird. (Joachim Poß [SPD]: Sie haben gegen die Konjunkturpakete gestimmt!) Auch das ist ein Erfolg der deutschen Außen- und Europapolitik. Sie wollen Schulden importieren, wir wollen Stabilität exportieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir brauchen eine Wirtschaftsverfassung, die auf klaren Regeln basiert und Stabilität befördert. Lassen Sie es uns klar sagen: Es geht auch um geordnete staatliche Insolvenzverfahren, wenn sie im Extremfall erforderlich sind. Der Bundeswirtschaftsminister hat damit eine Notwendigkeit ausgesprochen. Er hat damit das klare Signal an all diejenigen, die Nothilfe beanspruchen, gesendet, dass das Prinzip von Leistung und Gegenleistung nicht gebrochen werden kann. Er hat dafür von den 16 führenden Ökonomen in Deutschland Unterstützung erfahren, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur nicht von der Bundeskanzlerin!) unter ihnen die Chefberater von Wolfgang Schäuble, ehemals von Peer Steinbrück. Er hat eine verantwortliche Position bezogen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war verantwortungslos!) Das war eine Notwendigkeit. Der Bundeswirtschaftsminister hat damit einen Auftrag des Deutschen Bundestages vom Oktober 2010 angenommen. Ein Minister, der sich an Beschlüsse des Deutschen Bundestages hält, sollte von Ihnen nicht kritisiert, sondern unterstützt werden. Das ist zumindest unser Verständnis von Parlamentarismus. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herr Lindner schreibt Demut mit „ä“!) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Sahra Wagenknecht. Bitte schön, Frau Kollegin Sahra Wagenknecht. (Beifall bei der LINKEN) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Fangen wir einmal mit dem Positiven an. Ich denke, in einem Punkt hat Herr Rösler tatsächlich recht: Griechenland ist pleite. Anderthalb Jahre nach Beginn der Rettung sind die Staatsschulden Griechenlands – trotz angeblicher Rettungsmilliarden – höher als zuvor, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wegen linker Politik!) während die Wirtschaft unter den drakonischen Sparprogrammen regelrecht kollabiert ist. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist wie in der DDR!) Das ist die Situation. Wenn man sich die Lage in Griechenland ansieht, dann wird völlig klar: Was diesem Land diktiert wurde, war kein Hilfs-, sondern ein Killerprogramm. Das ist das Grundproblem. (Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Vom Sparen haben die Linken noch nie etwas gehalten!) Unter solchen Konditionen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland seine Schulden zurückzahlen kann, natürlich noch geringer als vorher. Das weiß die Kanzlerin. Das weiß auch Herr Schäuble. Das weiß im Grunde jeder, der sich mit dieser Materie einigermaßen intensiv befasst hat. Mindestens so verantwortungslos wie wahltaktisch motiviertes Insolvenzgerede ist die offensichtliche Bereitschaft der Bundesregierung, die Kosten einer absehbaren Griechenland-Pleite bis zum letzten Euro dem Steuerzahler aufzubürden. Das ist der Kern, um den es geht. (Beifall bei der LINKEN) Die Frage ist doch längst nicht mehr, ob Griechenland zahlungsunfähig wird. Die einzige Frage, um die es noch geht, ist, wann Griechenland zahlungsunfähig wird. Das ist die 100-Milliarden-Euro-Frage. Je später der Schuldenschnitt kommt, umso teurer wird er für die Steuerzahler und umso billiger wird er für die Banken, Hedgefonds und Spekulanten. Das ist der Kern des Problems. (Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Eigenartige Theorie!) Heute würde ein 50-prozentiger Schuldenschnitt den deutschen Staat bzw. den Bund etwa 14 Milliarden Euro kosten, die deutschen Banken und Versicherungen aber nur 6 Milliarden Euro. Diese Relation hätte vor anderthalb Jahren noch ganz anders ausgesehen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) Es ist geplant, im Oktober dieses Jahres die nächste Kredittranche freizugeben. Vor allem will man das „großartige“ sogenannte Gläubigerbeteiligungsprogramm starten, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie wollen doch nur die deutschen Sparer schröpfen!) das in Wirklichkeit eine Gläubigersanierung und keine Gläubigerbeteiligung zur Folge haben wird. (Beifall bei der LINKEN) Es ist doch kein Zufall, dass der Masterplan dafür aus der Giftküche des internationalen Bankenverbandes unter Vorsitz von Herrn Ackermann stammt. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn man dieses Programm ohne Rücksicht auf Verluste durchzieht, dann heißt das, dass die Kosten eines künftigen Zahlungsausfalls Griechenlands vollständig vom Steuerzahler in Europa zu tragen sind und dass die Finanzmafia keinen Euro beisteuern muss. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt kein Rettungsprogramm für den Euro. Was es gibt, ist ein Rettungsprogramm für die Finanzmafia. In deren Taschen wird am Ende jeder einzelne Euro, der im Rahmen der Hilfskredite freigegeben wird, landen. Das ist das Problem. Ich verstehe völlig, dass Leute wie Ackermann ein großes Interesse daran haben, diese staatliche Milliardenpipeline flüssig zu halten; das ist völlig nachvollziehbar. Aber eine Bundesregierung, die sich zum willenlosen Erfüllungsgehilfen solcher Interessengruppen macht, hat offensichtlich ihren Amtseid vergessen. (Beifall bei der LINKEN) Man muss aber auch feststellen: Eine Opposition, die sie dabei unterstützt, wie SPD und Grüne es tun, ist ein Armutszeugnis für die Demokratie. Warum reden eigentlich alle immer nur über Schulden? Nicht nur die Schulden sind in den letzten Jahren eskaliert, sondern auch die Vermögen, und zwar beides aus dem gleichen Grunde: langfristig wegen des europaweiten Steuerdumpings und kurzfristig wegen der Bankenrettung. Die Schulden der Staaten sind die Vermögen der reichen Leute. Die Linke fordert eine europaweite kräftige Vermögensabgabe zur Reduzierung der Schulden. Das wäre der richtige Weg; drakonische Sparprogramme, die immer die Falschen treffen, sind es nicht. (Beifall bei der LINKEN) Wer einer isolierten Insolvenz Griechenlands das Wort redet, der muss natürlich auch die Konsequenzen bedenken; der Dominoeffekt ist bereits angesprochen worden. Das spricht nicht gegen einen Schuldenschnitt. Das spricht gegen das heutige absurde System, in dem eine Handvoll Investmentbanker und einige Quartalsirre in den Ratingagenturen, die mit ihren chronisch falschen Bewertungen schon für den letzten großen Finanzcrash wesentlich mitverantwortlich waren, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) darüber entscheiden, wie groß die Spielräume, die Staaten haben, sind. Das ist, wie gesagt, ein völlig absurdes System. (Beifall bei der LINKEN) Die gleiche Zockerbande, die die eskalierende Staatsverschuldung letztlich mit auf dem Gewissen hat, schwingt sich jetzt zum Richter auf und diktiert den Staaten die Konditionen. Ein solches System treibt nicht nur immer mehr Länder in den Bankrott, sondern führt auch – das ist schon geschehen – zum Bankrott der Demokratie in Europa. Wer Demokratie will, der muss die Staaten endlich vom Diktat der Finanzmärkte befreien, (Beifall bei der LINKEN) indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, sich über eine öffentliche Bank direkt bei der EZB zu niedrigen Zinsen Geld zu beschaffen. Wer Demokratie will, der sollte sich endlich auch darauf besinnen, dass die Regierung nicht in erster Linie von Ackermännern gewählt wurde, sondern von der großen Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land. Andernfalls – das muss ich Ihnen sagen – verdienen Sie alle in Zukunft bundesweit solche Wahlergebnisse, wie sie die FDP in Berlin gerade verdientermaßen eingefahren hat. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die derzeitige Herausforderung, vor der Europa steht, die währungs- und wirtschaftspolitische Integration dieses Kontinents, ist eigentlich viel zu groß und viel zu wichtig, als dass sie im parteipolitischen Klamauk untergehen sollte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was wir heute von Herrn Trittin vorgetragen bekommen haben, war eigentlich nur eine Illustration seines neuen Selbstbewusstseins, nachdem er gegen Frau Künast obsiegt hat. Dies hat er uns hier mit dem ihm eigenen flegelhaften und machohaften Auftreten vorgeführt, das manche an ihm schätzen. Daneben haben wir vulgär-marxistische Analysen derjenigen gehört, die gerade in Berlin aus der Regierung geflogen sind. Europa ist aber viel zu wichtig und die Aufgaben sind viel zu ernst, als dass wir sie in parteipolitischer Polemik untergehen lassen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was sind die Dinge, um die es geht? Es geht ganz dringlich und vordergründig um die Lage in Griechenland, und übergeordnet stellt sich die Frage, wie wir die Schuldenkrise in der Euro-Zone überwinden und die Euro-Zone als Ganze stärken können. Die letzten Tagen haben verdeutlicht: Die Lage an den Märkten für Staatsanleihen ist nach wie vor angespannt. Dazu haben zuletzt und vor allem die Unsicherheiten bezüglich der Umsetzung des Anpassungsprogramms für Griechenland, die Diskussion um die italienischen Sparbeschlüsse und die Herabstufung der italienischen Bonität durch eine Ratingagentur beigetragen. Hinzu kommen – das muss uns ein bisschen aufrütteln – eine globale Abschwächung der Konjunkturdynamik und die damit verbundene Sorge um den Erfolg des Konsolidierungskurses. In der vergangenen Woche hat die EU-Kommission eine neue Schätzung für die wirtschaftliche Entwicklung vorgelegt. Danach wird in diesem Halbjahr eine deutliche Abschwächung der konjunkturellen Entwicklung zu beobachten sein. Natürlich stellen wir uns vor diesem Hintergrund die Frage, ob es Griechenland schaffen kann, die enormen Anpassungsanstrengungen zu erbringen, die dieses Land nach dem strukturellen Umbruch wird leisten müssen. Derzeit wird die Umsetzung der Programmvorgaben durch die Troika in Griechenland geprüft. Das Ergebnis der Prüfung ist die Grundlage, auf der die Fortsetzung des Hilfsprogramms für Griechenland auch hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren sein wird. Die Troika hatte ihre Überprüfung am 2. September unterbrochen. Ein wesentlicher Grund war, dass Griechenland Zeit brauchte, um Maßnahmen vorzulegen, mit denen Abweichungen bei der Realisierung der Programmziele ausgeglichen werden können. Ohne weitere Maßnahmen würde das Staatsdefizit in Griechenland in diesem Jahr voraussichtlich bis zu 1,5 Pro-zentpunkte über den vereinbarten Zielwerten liegen. Dies wollen und werden wir nicht akzeptieren. Die abermalige Verschlechterung der wirtschaftlichen Entwicklung ist aber nur ein Teil des Problems. Der größere Teil resultiert offenbar aus der Wirkung der umgesetzten Maßnahmen. Die fiskalischen Wirkungen wurden nicht in dem Maße erreicht, wie man es sich versprochen hatte. Auch die Privatisierungsfortschritte liegen deutlich unter den Erwartungen. Griechenland muss und will daher im Rahmen der Aufstellung des Budgets für 2012 kompensierende Maßnahmen ergreifen. Ein positives Ergebnis der Überprüfung durch die Troika – es ist mir wichtig, das festzustellen – ist die unabweisbare Voraussetzung für die Auszahlung der sechsten Tranche in Höhe von 8 Milliarden Euro im Rahmen des hier im Deutschen Bundestag schon mehrfach diskutierten ersten Hilfspakets. Deutschland wird darauf bestehen, dass Griechenland die Vereinbarungen und die Auflagen des Anpassungsprogramms einhält. Das ist die klare Botschaft, die heute von hier ausgehen muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich sage dies ganz bewusst vor dem Hintergrund von Stimmen aus der SPD und von den Grünen, die offenbar der Meinung sind, man müsse die Zügel lockern, um die griechische Wirtschaft mit noch mehr Schulden wieder ein Stück weit zu dopen. Schuldendoping hat ausgedient. Griechenland hat erst einmal keine Konjunkturkrise. Aber das System ist wirtschaftlich in Schwierigkeiten und kann nur durch die Umsetzung massiver struktureller Konsolidierungsmaßnahmen wieder auf einen tragfähigen Wachstumskurs zurückgeführt werden. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mit Gläubigerbeteiligung!) Nur so ist es gegenüber den europäischen Steuerzahlern verantwortbar, die Risiken für einen Ausfall eines Teils der griechischen Staatsschulden auf die europäische Ebene und damit auch auf uns zu verlagern, wie wir es in dem aktuellen Hilfsprogramm getan haben. Ich betone ebenso klar: Die eigentliche und letztliche Entscheidung über Erfolg und Misserfolg liegt bei den Griechen selbst. Mit dem Beitritt zum Euro sind große wirtschaftliche Verbesserungen verbunden gewesen. Aber ein stabiler Euro setzt eine solide und nachhaltige Finanzpolitik voraus. Eine gemeinsame Währung setzt alle Volkswirtschaften unter einen sehr viel strengeren, auch internationalen Wettbewerb. Mit der Erhebung einer zusätzlichen Immobiliensteuer und weiteren Maßnahmen hat Griechenland deutlich gemacht, dass es wieder auf Kurs kommen will. Im Augenblick kommt es also auf aktives Handeln in Griechenland an. Wir sollten nicht über den weiteren Fortgang der Hilfe für Griechenland spekulieren, bevor die Daten und damit die Entscheidungsgrundlage für uns im Deutschen Bundestag auf dem Tisch liegen. Auch sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass wir in diesem Sommer ganz wesentliche Schritte zur Lösung der Staatsschuldenkrise getan haben; denn eines ist klar: Den Vertrauensverlust, den wir in der Euro-Zone und an den Märkten derzeit spüren, werden wir nicht allein mit Programmen für Griechenland, Irland und Portugal lösen. Im Übrigen geht schon fast verloren, dass die Entwicklung in Irland und Portugal außerordentlich erfreulich ist, weil Fortschritte über den geforderten Konsolidierungs- und Programmbeitrag hinaus erzielt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Auch das muss man einmal sagen!) Es ist schon erstaunlich, dass die Opposition heute verschwiegen hat, wo sie anders als die Regierung handeln würde. Auch eine Vergemeinschaftung der Schulden, wie es in den Kreisen der Opposition gefordert wird – beispielsweise durch Euro-Bonds –, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Beitrag zur Lösung der strukturellen Probleme in den Programmländern leisten und würde den deutschen Bundeshaushalt durch explodierende Zinslasten vor unüberwindbare Herausforderungen stellen. Das kann doch nicht allen Ernstes verantwortbare nationale Politik für heute sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte werden wir nur dann wiederherstellen können, wenn klar ist, dass die Euro-Zone handlungsfähig bleibt und alle Mitgliedstaaten in der Euro-Zone verpflichtet sind, ihre Haushalte tragfähig zu gestalten. Dies sind die beiden Konzeptelemente, die wichtig sind: Handlungsfähigkeit auf der einen Seite und glaubwürdige Konsolidierungspolitik auf der anderen Seite. Was die Handlungsfähigkeit angeht, beraten wir gerade in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages die notwendige Ertüchtigung der Stabilisierungsfazilität. Ich bin sicher und zuversichtlich, dass wir das in der nächsten Woche mit breiter parlamentarischer Mehrheit zu einem guten Abschluss führen werden. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht mit der Mehrheit der Koalition!) – Um das einmal deutlich zu machen, weil gerade ein Zwischenruf gemacht wurde: Wenn wir diese Fazilität zum Europäischen Stabilitätsmechanismus ausbauen, dann werden wir Ihnen auch eine Regelung vorlegen, die die Beteiligung des privaten Sektors umfassend regelt. Dazu gibt es klare Aussagen sowohl auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als auch durch eine Festlegung innerhalb der Koalitionsfraktionen. Wir werden die Lasten nicht nur bei den Steuerzahlern abladen, sondern wir werden auch die private Gläubigerbeteiligung – gegen erhebliche Widerstände in ganz Europa – vorantreiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das zweite Element ist ebenso wichtig. Wir müssen in Europa wieder zu glaubwürdigen nationalen Konsolidierungspolitiken zurückkommen. Die Reform des Stabilitätspaktes ist am vergangenen Wochenende bei dem Treffen der Finanzminister in Breslau einen guten Schritt vorangekommen. Wir haben den Stabilitätspakt weiterentwickelt; wir haben ihn wieder verschärft und sind über die eigenen Waigel’schen Vorgaben hinausgegangen. Diese Stabilitätskultur wollen wir von Deutschland aus nach Europa exportieren. Auf diesem Weg sind wir durch den Kompromiss von Breslau auch mit dem Europäischen Parlament einen Riesenschritt vorangekommen. Die Stabilitätskultur sollte sich nicht nur in Solidarität, sondern auch in nationaler glaubwürdiger und nachhaltiger Finanzpolitik widerspiegeln. Ich glaube, dass dies richtig und notwendig ist und dass dies weiterhin unsere Unterstützung haben sollte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass es an dieser Stelle keinen Beifall der Opposition gibt, ist mir klar; denn Sie waren es, Rot-Grün war es, die den Stabilitätspakt schrottreif geschossen hat. Das muss man an dieser Stelle vielleicht noch einmal erwähnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir als deutsche Bundesregierung, aber auch als Deutscher Bundestag stehen jetzt in der Verantwortung, die Fehler, an denen wir unter anderen Mehrheitsverhältnissen in der Vergangenheit mitgewirkt haben, ein Stück weit zu korrigieren. Europa muss jetzt wieder Fahrt aufnehmen. Das bedeutet: Konsolidierung und Handlungsfähigkeit müssen durchgesetzt werden. Das ist die Gestaltungsaufgabe, nicht Klamauk aus der Opposition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Werner Schieder. (Beifall bei der SPD) Werner Schieder (Weiden) (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich sage hier nichts Neues, wenn ich darauf verweise, dass die deutsche Politik die jahrzehntelange Tradition hat, Motor der europäischen Einigung zu sein. Sie verstand es klugerweise über Jahrzehnte hinweg, jedwede chauvinistischen Ambitionen zu vermeiden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Das ist jetzt offenbar Geschichte, das ist offenbar vorbei. Es ist doch geradezu fatal, dass die gegenwärtige deutsche Regierung nicht fähig ist, an diese Tradition anzuknüpfen und in dieser dramatischen Krise der Währungsunion zielführende Lösungen zu präsentieren. Stattdessen ist diese Regierung ein Brandbeschleuniger in der Krise. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] und Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wenn die Währungsunion auseinanderbricht – diese Gefahr ist keineswegs gebannt –, dann wird diese Bundesregierung vor allen Europäern einen erheblichen Anteil an Verantwortung dafür zu tragen haben. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum sage ich das? Alle Vorschläge in den vergangenen anderthalb Jahren, die einen Beitrag zur Stabilisierung der Währungsunion leisten können, kamen nicht von dieser Bundesregierung, sondern von anderen. Sie wurden nicht auf Betreiben dieser Bundesregierung umgesetzt, sondern sie wurden immer erst nach anhaltendem Widerstand dieser Bundesregierung und dieser Koalition verwirklicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Bundesregierung und die Koalition waren – das wissen wir im Grunde genommen alle – monatelang gegen einen Rettungsschirm für Griechenland. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben sich doch enthalten! Sagen Sie das mal öffentlich!) Dann waren sie endlich dafür, aber nur für den Fall Griechenlands. Eine Woche später waren sie dann auch für einen allgemeinen Rettungsschirm, aber nur als befristete Maßnahme. Dann waren sie gegen die Finanztransaktionsteuer, um sie dann jetzt doch gewissermaßen mit angezogener Handbremse zu fordern. Dann haben sie gegen jede ökonomische Vernunft hohe Strafzinsen für die Rettungskredite an die Krisenländer durchgedrückt. Jetzt mussten sie doch wieder klein beigeben und den Zinserleichterungen zustimmen. Der im Übrigen durchaus richtige Vorschlag, dass es der makroökonomischen Anpassung sowohl der Defizit- als auch der Überschussländer bedarf, kommt natürlich nicht von ihnen. Auch haben sie diesen Ansatz bis zur Stunde nicht begriffen, obwohl der IWF in seinem gestern ganz aktuell vorgelegten Report genau das fordert; Sie können das im Original nachlesen. Schließlich haben sie vor Monaten ihren Widerstand gegen einen dauerhaften Rettungsfonds aufgegeben, aber sie waren gegen die Aufstockung und erweiterte Handlungsmöglichkeiten. Wir wissen alle, dass das nun doch alles kommt. Aber die Ideen dazu kommen nicht von ihnen. Diese Regierung ist in der europäischen Krisenbewältigung nicht Motor, sondern Bremser. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Weil die Spekulationen hier eine entscheidende Rolle spielen, ist es fatal, dass Bundesregierung und Koalition mit diesem Hin und Her bzw., wie heute Wolfgang Münchau in der Financial Times Deutschland schreibt, dem ewigen deutschen Nein, genau diesen Spekulationen immer wieder neue Nahrung gibt und die Krise vertieft und beschleunigt. Anstatt Sicherheit für die Euro-Zone und verlässliche Garantien zu präsentieren, sind sie selber – mit Verlaub – ein Haufen von Spekulanten. (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Rösler, Seehofer und wie sie alle heißen haben kein Konzept. Wenn sie eines hätten, dann würden wir es kennen. Sie haben nicht den Hauch eines Konzepts; aber sie gefallen sich darin, die Insolvenz oder den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion verbal politisch herbeizuspekulieren und damit einem billigen Chauvinismus in die Hände zu spielen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wer das tut, ohne die Folgen zu bedenken, handelt verantwortungslos. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was tut Herr Lafontaine?) Ein Konkurs Griechenlands, was immer das sein mag, oder ein Austritt aus der Währungsunion nähme den Griechen – das sind 10 Millionen Europäer – für viele Jahre jede vernünftige Lebensperspektive und riskierte vielleicht sogar bürgerkriegsähnliche Zustände in Griechenland. Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt: Einen Konkurs oder Austritt Griechenlands gibt es nicht isoliert. Wenn Griechenland fällt, dann brennt das ganze europäische Haus. (Zuruf von der FDP: Quatsch!) Das ist der Ernst der Lage. Deswegen habe ich eingangs gesagt: Es ist mehr als fatal, dass diese deutsche Bundesregierung nicht fähig ist, an die guten Traditionen deutscher Europapolitik anzuknüpfen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing. Bitte schön, Kollege Dr. Wissing. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Volker Wissing (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Sie, Herr Trittin, hier ein Oppositionstheater aufführen, sei Ihnen zugebilligt. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,8 Prozent in Berlin, Herr Kollege! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Demut!) Aber dass Sie der Öffentlichkeit das Märchen von den Grünen als der Partei der Finanzstabilität in Deutschland und Europa erzählen, lassen wir Ihnen nicht durchgehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als es in Deutschland um die Frage ging, ob der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingehalten oder eingerissen wird, waren es die Grünen, die zusammen mit den Sozialdemokraten die Maastricht-Kriterien verletzt und den Einstieg in die europäische Schuldenunion eröffnet haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als in diesem Hohen Hause darüber abgestimmt worden ist, ob wir eine Schuldenbremse in unsere Verfassung aufnehmen, waren es die Grünen, die dazu Nein gesagt haben. Damit lagen Sie wieder falsch; denn die Schuldenbremse ist heute das Modell für ganz Europa. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europa steht an einem Scheideweg. Die Stabilitätsarchitektur ist weitgehend eingestürzt, auch weil Sozialdemokraten und Grüne sie massiv verletzt haben. Vor uns liegt kein leichter Weg. Die Welt blickt auf uns und wartet gespannt, wohin sich Europa entwickelt. Herr Kollege, weil Sie sich darüber lustig gemacht haben, dass Deutschland an bestimmten Stellen auf europäischer Ebene Nein sagt, sage ich Ihnen deutlich: Es ist richtig und wichtig, dass Deutschland mit seiner starken Stimme verhindert, dass in Europa der falsche Weg eingeschlagen wird. Weder Transferunion noch Euro-Bonds sind die Zukunft eines glücklichen Europas, sondern eine neue Stabilitätsarchitektur. Das ist der richtige Weg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen sagen wir an der richtigen Stelle Nein; wir sagen Ja zu Europa. Was Sie den Menschen erzählen, sind alles Irrwege. Es hilft nichts, den Menschen zu sagen, man könne die Krise bewältigen, indem man Euro-Bonds einführt. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist doch jedem klar, dass diese Idee von SPD und Grünen nicht viel wert ist. Es hilft auch nichts, wenn man der Öffentlichkeit sagt, man müsse jetzt über alles schweigen, was auf europäischer Ebene von der Politik entschieden wird. Wir debattieren nicht über eine Kleinigkeit, sondern über die fundamentale Frage: Was ist uns wichtiger, die Bedürfnisse der Finanzmärkte oder das offene und ehrliche Wort in einer freiheitlichen Demokratie? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie glauben, man müsse die freie Rede den Finanzmärkten unterordnen. Wir glauben, das kommt in einer Demokratie nicht in Betracht. Es gibt viele ökonomische Gründe, weshalb die Politik schnell handeln und öffentlich schweigen sollte. Aber es gibt in einer Demokratie auch das Recht auf Transparenz. Die Menschen wollen wissen, wie sich ihre Regierung die Entwicklung der Euro-Zone vorstellt. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Regierung! Man muss ja erst mal eine Regierungsposition haben, Herr Wissing!) Wird es eine Transfergemeinschaft, wie es SPD und Grüne wollen, oder wird es eine starke Stabilitätsgemeinschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung, wie es die Regierungsfraktionen wollen? Deshalb ist es nicht nur richtig, sondern es war auch notwendig, dass der Wirtschaftsminister in einer solchen Situation ordnungspolitisch klargestellt hat, wo wir stehen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Rösler hat überhaupt nichts klargestellt, Herr Wissing!) Wenn Sie das ernsthaft kritisieren, ordnen Sie die Demokratie den Bedürfnissen der Märkte unter. Wir tun das nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie wollen die Probleme lösen, indem Sie die Verantwortung für die Schulden anderer Länder auf unser Land verlagern. Das haben Sie der Öffentlichkeit hinreichend deutlich gemacht. Wir wollen das nicht. Deshalb unterstützen wir in der Krise den Weg der Hilfe zur Selbsthilfe. Deshalb sagt der Bundesfinanzminister deutlich, dass Griechenland nur mit weiteren Hilfen rechnen kann, wenn es seine Auflagen erfüllt. Deshalb sagt der Bundeswirtschaftsminister ganz klar, dass künftig die Möglichkeit einer geordneten Insolvenz geschaffen werden muss, weil nur dann die Erpressbarkeit der Politik ein Ende hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wer Euro-Bonds als Lösung anstrebt, braucht all das nicht. Ich fände es nur ehrlich und fair, wenn Sie den Menschen in Deutschland, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, dann auch klar sagen würden, welche Konsequenz das hat; denn höhere Zinsen für Deutschland führen zu weniger Geld in den Kassen des Sozialstaats. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicht alles, was seit Beginn der Finanzkrise von Politikern öffentlich gesagt worden ist, war klug. Weil aber ausgerechnet die SPD glaubt, den Zeigefinger heben zu müssen, möchte ich Ihnen die Äußerungen Ihres ehemaligen Finanzministers in Erinnerung rufen. Der angeblich so versierte Krisenmanager Peer Steinbrück hat als Finanzminister im Februar 2009 – das war über ein Jahr vor der Zuspitzung der Griechenland-Krise – öffentlich gesagt: Es gibt zwar vertragliche Regelungen, nach denen sich die Euro-Länder in Schwierigkeiten nicht gegenseitig helfen. Wenn eines der Euro-Länder aber in gravierende Schwierigkeiten gerät, wird die Gesamtheit behilflich sein. – Übersetzt war das die Einladung von Peer Steinbrück an die Finanzmärkte: Gebt Griechenland ruhig weiter Geld. Wenn es schiefgeht, hauen wir euch mit Steuergeldern heraus. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Damit sollten Sie sich einmal auseinandersetzen. Das hilft vielleicht auch bei der Beantwortung der Frage, ob Peer Steinbrück ein geeigneter Kanzlerkandidat für Ihre Partei ist. Philipp Rösler erinnert die Gläubiger an ihre Verantwortung und fordert deren Haftung. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mein Gott, ist das erbärmlich!) Peer Steinbrück hat die Finanzmärkte zum Spekulieren eingeladen und Steuergelder versprochen. Wer zu Europa steht und es zum Glück unseres Landes weiterentwickeln möchte, muss einen ehrlichen Weg gehen. Ein solcher Weg setzt klare, gemeinsame Stabilitätsregeln, die konsequente Umsetzung und Achtung der Verträge und die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten in einer marktwirtschaftlichen Ordnung voraus. Dazu gehört ganz selbstverständlich – auch wenn Sie das nicht hören wollen – die Regelung einer Insolvenz. Der klare ordnungspolitische Zwischenruf des Bundeswirtschaftsministers war nicht nur richtig. Er war im Interesse eines starken Europas auch außerordentlich wichtig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Manuel Sarrazin. Bitte schön, Kollege Sarrazin. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Damen und Herren! Entschuldigung, aber meinten Sie das, was Sie zum Stabilitätspakt gesagt haben, wirklich ernst? Wir saßen vor ein paar Monaten mit Vertretern aus dem BMF zusammen – ich weiß nicht, ob von diesen jemand zufällig im Saal ist – und haben gefragt, warum kein einziger Punkt von dem, was 2004 von Rot-Grün und den Franzosen eingebracht worden war, von ihrer Regierung in den laufenden Verhandlungen über die Reform rückgängig gemacht wird, warum es noch nicht einmal einen entsprechenden Antrag gibt. Die Antwort lautete: weil die meisten sinnvoll sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist Stand Ihrer Regierungskoalition. Sie reden seit anderthalb Jahren über den Stabilitätspakt. Mir hängt das fast schon zum Hals heraus. Herr Kampeter, Sie haben das Treffen der Finanzminister in Breslau in der letzten Woche angesprochen. Ich darf Sie daran erinnern: Seit anderthalb Jahren wurde versucht, das Prinzip der umgekehrten Mehrheit durchzusetzen. Ihr Finanzministerium hat das Europäische Parlament bei der Durchsetzung dieses Prinzips ausgebremst. Was ist als Kompromiss auf dem Treffen in Breslau herausgekommen? Die einfache Mehrheit statt der umgekehrten Mehrheit. Und Sie wollen uns etwas vom Stabilitätspakt erzählen! Sie versündigen sich heute am Stabilitäts- und Wachstumspakt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Lindner, Ihre Sonntagsreden haben wir satt. Zeigen Sie doch endlich, dass Sie Europäer sind! Helmut Kohl hat gesagt: Was hinten herauskommt, ist entscheidend. – Es ist entscheidend, dass Sie liefern, um mit Herrn Rösler zu sprechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne wollen nicht, dass Sie und die CSU in der Krise den proeuropäischen Grundkonsens aufgeben. Wir wollen weiterhin einen proeuropäischen Grundkonsens in diesem Parlament. Wir haben kein Interesse daran, dass die CSU und die FDP in die Ecke der Linkspartei gehen, in der man gegen Europa ist und immer antieuropäisch hetzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir wissen um die Größe der Aufgabe, die vor uns steht und die auf Europa zukommt. Die großen Fragen der europäischen Integration stehen auf der Tagesordnung. Wir als Deutschland werden mit einem Streit von pro- gegen antieuropäische Parteien dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Darum: Schreiben Sie nicht solche Artikel wie den, den Herr Rösler in der Welt geschrieben hat! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es kommt gerade jetzt so sehr auf Deutschland an. Das lässt mich so fassungslos vor dieser Regierung stehen. Sie werden der Verantwortung dieses Landes in Europa nicht gerecht. Sie spielen die populistische Karte, und damit zerstören Sie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aber auch das unserer Partner in Deutschlands Ernsthaftigkeit in dieser Krise. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie schaden auch dem europapolitischen Grundkonsens in diesem Hause. Es ist ein Treppenwitz für mich, dass das von der Regierungsbank kommt. Aber was ist so unintelligent an Ihren Zwischenrufen? Herr Rösler und Herr Seehofer sind unterkomplex und unehrlich. Sie waren es doch, die monatelang genau die Maßnahmen verhindert haben, die Ansteckungsgefahren vermeiden und Gläuberbeteiligung ermöglichen können. Herr Rösler und Herr Seehofer dürfen über alles nachdenken, aber: Beschweren Sie sich nicht über Kritik an Vorschlägen, die schlichtweg nicht durchdacht sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und gleichzeitig Spekulanten einladen, auf die Euro-Zone zu zocken, und damit die Steuergelder der Steuerzahler anderer Euro-Länder letztlich Kapitalisten in den Hals werfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Europa steht mitten in der größten Krise seit seiner Gründung. Genau zu diesem Zeitpunkt brauchen wir eine starke Bundesregierung, die entscheidet, die Abgeordneten und die Bevölkerung mitzunehmen, die sich entscheidet, die notwendigen Lehren aus der Krise zu ziehen, und die sich entscheidet, das tägliche Krisenmanagement zu betreiben, aber darüber hinaus auch europäische Institutionen und Strukturen zu stärken. Wir brauchen eine Bundesregierung, die deutsche Interessen in Europa verteidigt, indem sie mitgestaltet, nicht eine, die nur bremst. Und welche Regierung haben wir? Sie haben keine Haltung in dieser Krise. Das entzieht Ihnen die Legitimität Ihres Handelns in der Krise. Darum sind Sie nicht glaubwürdig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn Herr Rösler von der Insolvenz Griechenlands quatscht, aber dann drei Wochen später mit deutschen Investoren, die ihre Euros dort investieren sollen, nach Griechenland fahren will, um die Wirtschaftskraft zu stärken, dann ist das unredlich, sonst nichts. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Eine schwache Regierung ohne eine Haltung zu Europa kann sich Deutschland in dieser Krise nicht leisten. Sie können nicht weiterhin eigentlich dafür, aber doch irgendwie dagegen sein. Der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament sagt über Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Die FDP muss sich entscheiden. – Recht hat er. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Der nächste Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Rüdiger Kruse. Bitte schön, Kollege Kruse. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Rüdiger Kruse (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Manuel Sarrazin, das war zumindest eine engagierte Rede, aber zielführend in Sachen Europa war sie nicht. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat er!) Du hast uns leider auch nicht gesagt, was deiner Meinung nach der richtige Weg wäre. Du hast gesagt, die Gedanken seien frei; auch das ist richtig. Jeder Fraktion steht es frei, Debatten oder Aktuelle Stunden zu beantragen. Dafür unterbrechen wir gerne die Beratungen des Haushaltsausschusses, der sich genau um die europäischen Fragen kümmert. Angesichts der Debatte frage ich mich aber: Warum haben Sie diese Debatte angemeldet? Der Wahlkampf in Berlin ist vorbei. Es mag sein, dass man sich freut, wenn sich der Vertreter einer gegnerischen Partei so äußert, dass man die Äußerung zumindest missverstehen kann. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War das jetzt ein Missverständnis?) Wenn man klug ist, überlässt man Kommentare der Zeitung oder jemandem, der in der Talkshow auftritt, und das war es. Aber nun extra hier eine Aktuelle Stunde zu beantragen, um mäßige Witze aus dem Thüringer Wald aufzuwärmen, Herr Trittin, finde ich nicht sinnvoll. Das fällt voll auf Sie zurück. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mann, der ist doch Vizekanzler!) Herr Trittin, Sie haben uns hier Presseüberschriften für Realität vorgeben wollen. Ich habe in der Presse auch einiges gelesen. Vor wenigen Wochen war zu lesen: Renate Künast wird Berliner Bürgermeisterin, und Jürgen Trittin wird Kanzlerkandidat. – Ich fürchte, Sie haben beides geglaubt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frenetischer Beifall! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt haben sie eine Glaubenkrise!) Sie haben in einer der letzten Debatten sehr richtig gesagt: Deutschland geht es gut, dieser Regierung nicht. – Das widerlegt den Vorwurf des Populismus, den eben der Kollege Sarrazin gemacht hat. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Was ist an der Haltung dieser Regierung populistisch? (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP!) Gar nichts. Warum? Wenn wir den populistischen Weg gehen würden, dann würden wir uns hier im Hause unter Umständen Positionen annähern, die vielleicht am Stammtisch mehrheitsfähig sind. Uns geht es aber darum, den europäischen Gedanken zu erhalten und weiterzuentwickeln. Sie haben gesagt, wir seien bei den vielen Maßnahmen, die vorgeschlagen worden sind, die Bremser gewesen. Ja. Weil es keine Gegenleistung gegeben hätte! Alles, was jetzt beschlossen worden ist, ist früher schon einmal vorgeschlagen worden, aber als Hilfe ohne Gegenleistung – nach dem schönen alten sozialdemokratisch-sozialistischen Prinzip: Geht es jemandem schlecht, gebe ich ihm Geld. – Das muss nicht unbedingt helfen. Wir haben jetzt sicherlich bewirkt, dass nicht alle in Griechenland Freudentränen in den Augen haben, wenn sie von Deutschland reden, aber wir haben induziert, dass in Griechenland Maßnahmen ergriffen werden, wobei wir alle froh darüber sind, dass wir sie nicht ergreifen müssen. Wir haben bewirkt, dass Nachbarländer eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild einbauen, zum Glück nach bundesdeutschem Vorbild, nach dem Vorbild, das Union und FDP gegeben haben und auch praktizieren, und nicht wie in Nordrhein-Westfalen. Sie müssen doch auch einmal etwas eingestehen. Wenn Euro-Bonds so eingeführt worden wären, wie Sie sie wollten, und wenn es gut ausgegangen wäre, also nicht so, wie die Ratingagenturen prognostizieren, dann – damit haben Sie selbst gerechnet – wären die von Deutschland zu zahlenden Zinssätze um 2 Prozentpunkte gestiegen. Das macht 47 Milliarden Euro. (Joachim Poß [SPD]: Die Zahl ist doch Quatsch! Auf welcher Berechnungsgrundlage denn? Auf die 2,1 Billionen Schulden?) – Das können Sie ja einmal nachrechnen! – Haben Sie schon einmal überlegt, wie Sie diese Zinsmehrkosten in unserem Haushalt heraussparen wollen? (Joachim Poß [SPD]: Sie erzählen doch nur Stuss! Sie wissen gar nicht, worüber Sie reden!) Sie können den Menschen doch nicht nur erzählen, Sie hätten ein Allheilmittel, nämlich Euro-Bonds. Ich würde gern über einen Vorschlag von Ihnen reden, wie Sie die zusätzlichen Zinskosten aus dem Haushalt heraussparen wollen. Sie haben natürlich keinen gemacht. Das ist, finde ich, unehrlich. (Joachim Poß [SPD]: Die Berechnung des ifo ist schon zehnmal als falsch überführt worden! Sie müssen mal Informationen aufnehmen!) Das geht in Richtung von Populismus, zu erzählen, man habe etwas, was wirkt, und noch nicht einmal die offensichtlichen Nebenwirkungen einzuräumen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist ganz einfach: In Griechenland regnet es massiv rein. (Joachim Poß [SPD]: Und Sie sind in Verlegenheit! Da fällt Ihnen nichts anderes ein!) Wenn das so ist, dann fängt man an, das Haus abzudecken und den Dachstuhl zu erneuern. Es sieht einen Moment nicht hübsch aus, aber dann kann man die Substanz wieder neu aufbauen. Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen. Wir müssen gemeinsam mit den anderen europäischen Partnern Programme entwickeln, die, wenn durch die Schritte der Haushaltskonsolidierung die Grundlagen geschaffen worden sind, einem Land einen Aufschwung ermöglichen. Wir haben selber gezeigt, dass auch aus ganz schwierigen Situationen heraus ein wirtschaftlicher Aufschwung für ein Land, das Kraft und Willen hat, möglich ist. Das ist die neue europäische Aufgabe, für die wir jetzt die Grundlage schaffen. Wir sind in der günstigen Situation, dass wir die Grundlage in der Mitte der Legislatur schaffen. Das heißt, Sie können noch zwei Jahre herumblödeln, aber Sie werden uns auf diesem Weg nicht aufhalten. In zwei Jahren werden wir die Ernte einfahren. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte schön, Kollege Garrelt Duin. (Beifall bei der SPD) Garrelt Duin (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine kurze Vorbemerkung in Richtung FDP. Herr Lindner und Herr Wissing, wenn das, was Sie hier heute selbstgefällig aufgeführt haben, Demut sein soll – davon haben Sie am Sonntagabend gesprochen –, dann ist Ihr Weg nach unten mit Berlin noch lange nicht vorbei; dann geht es weiter, ich füge hinzu: in die richtige Richtung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wie haben Zeitungsredakteure, wie haben Topökonomen auf das, was der Vizekanzler und Wirtschaftsminister in seinem Gastbeitrag geäußert hat, reagiert? Sie haben in Ihren Verteidigungsreden ja mehrfach darauf hingewiesen, dass sich eine Reihe von Fachleuten positiv geäußert hätten. Ich will Ihnen einmal in Erinnerung rufen, was Herr Hüther gesagt hat, immerhin Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft: In der gegenwärtigen Situation kann Politik nicht öffentlich über alles philosophieren, was einem so einfällt … Er sagt zu dem Beitrag von Herrn Rösler, dieser sei unverantwortlich. Das ist genau der Punkt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ja nicht das sozialdemokratische Organ Vorwärts gewesen, sondern es ist das Handelsblatt gewesen, das diesen Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, das diesen deutschen Wirtschaftsminister als „Pinocchio des Tages“ tituliert hat, weil er das Gegenteil von dem erzählt, was er noch vor wenigen Wochen erzählt hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das ist wirklich sehr dramatisch; denn Europa steht am Scheideweg. Es steht deswegen am Scheideweg, weil es um die Frage geht, ob wir auch in zehn Jahren noch eine Wohlstandsregion sind, ob wir auch in zehn Jahren noch Vorbild für andere Regionen in der Welt sein können. Vor allen Dingen stellt sich jetzt die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger den Institutionen auf europäischer Ebene Vertrauen schenken. Dafür ist es aber notwendig, Folgendes zu beherzigen: Europa gelingt dann, wenn man mit Klarheit und Glaubwürdigkeit die politischen Debatten führt. Dabei muss dann auch gesehen werden, dass das deutsche Gewicht in der ganzen Europäischen Union von entscheidender Bedeutung ist. Aber das, was wir hier seit anderthalb Jahren erleben, angeführt von der Bundeskanzlerin, begleitet von dem ehemaligen Vizekanzler, dem Außenminister Westerwelle, und jetzt eben auch durch den Wirtschaftsminister und den heutigen Vizekanzler Rösler, ist das Gegenteil von Klarheit, ist das Gegenteil von Glaubwürdigkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen, meine Damen und Herren, ist diese Krise in der Euro-Zone auch eine Führungskrise und eine Glaubwürdigkeitskrise. Die Verantwortung dafür trägt diese Regierung. Wir haben in anderen Debatten hier schon mehrfach festgestellt, dass wir besser durch die Krise gekommen sind als andere usw. Aber Deutschland, also uns, geht es nur dann in Europa gut, wenn es unseren Nachbarn gut geht. Davon sind wir abhängig. Wir sind keine Insel der Glückseligen, und es geht nicht an, dass wir uns nicht um unsere Partnerinnen und Partner kümmern. Das gilt insbesondere für Griechenland. Herr Kampeter, Sie haben es immer noch nicht verstanden: (Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Doch!) Natürlich sind die Sparmaßnahmen, die Griechenland im Moment auferlegt werden, unglaubliche Zumutungen. Wenn wir uns das Volumen anschauen, das dort gerade zur Debatte steht oder schon verwirklicht wurde, können wir uns nur eingestehen, dass wir darüber in Deutschland noch nicht einmal ansatzweise hätten reden können. Wir müssen aber auch sehen, was dort real geschieht: Die wirtschaftliche Entwicklung verzeichnet ein Minuswachstum, also eine Rezession. Es fing an bei minus 1 Prozent und beträgt mittlerweile minus 5 Prozent. Das, was dort gemacht wird, ist sicherlich notwendig, aber das alles verschlimmert die Lage und verbessert sie nicht. Deswegen brauchen wir begleitende, intelligente Maßnahmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dazu haben Sie aber in Ihren neun Minuten hier kein einziges Wort gesagt. 20 Milliarden Euro hat Griechenland bei der EU nicht abgerufen, weil es die Kofinanzierung nicht hinbekam. Viele Investitionen finden nicht statt, weil die entsprechende Begleitmusik fehlt. Da nützt es nichts, wenn Herr Rösler im Sommer zu einem Gipfel einlädt und dann einmal für 24 Stunden mit denen, die er zum Gipfel eingeladen hat, in der übernächsten Woche nach Griechenland fährt. Vielmehr muss man auf der europäischen Ebene aufstehen und sich fragen, wie man diesen Ländern, insbesondere Griechenland, helfen kann, damit sie wieder eine wirtschaftliche Wachstumsperspektive erhalten. Durch Sparen allein wird das nicht gelingen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen ist die Diskussion so fatal, die der Wirtschaftsminister mit seinem Gastbeitrag angestoßen hat. Ein letzter Punkt: Der Wirtschaftsminister hat dann ja diesen Pappkameraden „Denkverbot“ aufgebaut. Es gibt kein Denkverbot, aber es gibt ein Gebot für einen Vizekanzler und einen Wirtschaftsminister, nämlich die Sachen, die er sagt, zu Ende zu denken. Das hat er in dieser Situation vermissen lassen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Darf man offen über die Staatsinsolvenz Griechenlands nachdenken? Die Opposition sagt deutlich Nein. Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich dagegen? Gegen das Offensein können Sie ja vermutlich nicht sein, weil Sie ja immer einfordern, man müsse Politik erklären. (Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Denken Sie einmal an die Folgen!) Gegen das Nachdenken können Sie aus meiner Sicht doch auch nicht sein; denn wir haben, als wir den EFSF eingerichtet haben, klar gesagt, dass wir eine Insolvenzordnung für Staaten machen wollen. Damit ist doch klipp und klar gesagt, dass man auch über diesen – aus meiner Sicht gar nicht so unwahrscheinlichen – Fall nachdenken muss. Staatssekretär Kampeter hat vorhin ganz deutlich zu verstehen gegeben, dass dann, wenn die Anforderungen, die an Griechenland gestellt werden, nicht erfüllt werden oder nicht erfüllbar sind, die sechste Tranche nicht ausgezahlt wird. Wenn zum Beispiel der IWF auf der Grundlage seiner Richtlinien zu dem Ergebnis kommt, dass er nicht mehr mitfinanziert, dann ist die sechste Tranche nicht auszuzahlen. Dann haben wir den Fall einer staatlichen Insolvenz, mit dem wir dann umgehen müssen. Da ist es doch verantwortlich, meine Damen und Herren, auch einmal darüber nachzudenken: Wo ist die Brandmauer? Wie sieht sie aus? Was kann der EFSF bei dieser Gelegenheit leisten? Wie wollen wir mit der Frage umgehen? Was heißt das denn – Kollege Barthle hat das heute auch schon diskutiert –, „Insolvenzordnung für Staaten“? Wie kann eine geordnete Insolvenz ablaufen? Wie erreicht man, dass man die Gläubiger letztendlich in einer angemessenen Art und Weise beteiligt? Das sind alles Dinge, die ein Wirtschaftsminister aus meiner Sicht auf der Agenda haben muss. Politik läuft nun einmal nicht im Hinterzimmer, so wie Sie sich das vorstellen, meine Damen und Herren, sondern Politik läuft mit großer Offenheit und Klarheit. Deshalb muss man das den Leuten auch sagen. Ich sage Ihnen auch klipp und klar: Die Märkte kalkulieren das ja auch ein. (Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Ihr Geschwätz kalkulieren sie ein!) Selbstverständlich kalkulieren sie auch einen solchen Fall ein. Sonst hätten wir die Diskussion an dieser Stelle überhaupt nicht. Ich bin auch der Meinung, dass wir hier im Deutschen Bundestag den deutschen Bürgern, insbesondere den deutschen Steuerzahlern, verpflichtet sind und dass eine solche Pauschalzusage – egal was passiert, egal was kommt, der deutsche Michel zahlt immer – erstens nicht gegeben werden kann. Zweitens würde es auch verdammt teuer, wenn man es so machen würde, wie Sie uns das vorschlagen. Die gesamtschuldnerische Haftung über Euro-Bonds, wie Sie sie gerne hätten, ist nicht nur verfassungswidrig, wie das Verfassungsgericht deutlich klargestellt hat, sondern auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko für den bundesdeutschen Haushalt. Wenn man in einer Situation, in der man andere zum Sparen veranlassen will, auf Kosten der Bonität Dritter dafür Sorge trägt, dass sie in Zukunft niedrigere Zinsen haben, dann ist das sicher nicht die Motivation, die wir an dieser Stelle brauchen. Ich erinnere daran, dass genau in dem Jahr, als der Euro eingeführt worden ist, der Realzinsvorteil, der den Griechen plötzlich zugekommen ist, nicht dazu genutzt worden ist, um die Wirtschaft in Griechenland zu ertüchtigen. Nein, meine Damen und Herren, der Staat hat in einem großen Umfang Schulden gemacht. Das erinnert mich an die Politik, die Sie ganz gerne vor sich hertragen und betreiben würden; denn Sie sind diejenigen, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht haben. (Zuruf von der SPD: Haben Sie keinen anderen Baustein?) – Ich sage das nicht, weil ich so viel Spaß daran habe, immer zu wiederholen, dass Sie das infrage gestellt haben, sondern weil man auch sagen muss, was die Motivation dahinter war. Sie haben damals gemeint, Sie könnten auch in einer nicht krisenbehafteten Zeit Konjunkturpolitik über staatliche Schulden machen. (Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Textbaustein!) Das haben Sie in dieser Art und Weise betrieben. Deshalb ist die Motivation das Entscheidende, was man unterstreichen muss. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nehmen Sie es doch zurück!) Im Zusammenhang mit dem Vorwurf, der heute schon mehrfach erhoben wurde, nämlich dass Sie dafür verantwortlich sind, dass Griechenland dem Euro beitreten konnte, möchte ich noch einmal unterstreichen, dass das auch wider besseres Wissen geschehen ist. Hören Sie auf mit der Haltet-den-Dieb-Debatte und damit, zu sagen, die Griechen hätten Sie mit falschen Zahlen betrogen. Dass die Zahlen falsch waren, ist richtig. Aber dass Sie es gewusst haben, meine Damen und Herren, ist auch wahr. Am 29. Juni 2000 hat der Kollege Eichel als damaliger Finanzminister eine Regierungserklärung abgegeben. Da hat er den Beitritt Griechenlands zum Euro gefeiert. Unser Kollege Gerd Müller hat damals für die CSU ganz klipp und klar gesagt: Erstens. Das war ein schwerer Fehler. Zweitens. Die Zahlen sind manipu-liert. – Also, wenn ein einfacher Abgeordnetenkollege übersehen konnte, (Joachim Poß [SPD]: Die Entscheidung war eine europäische, wie Sie wissen!) dass das, was die Griechen seinerzeit vorgelegt haben, falsch war, dann gehe ich davon aus, dass Sie, die damalige Bundesregierung, das auch gewusst haben und dass Sie ganz bewusst in Kauf genommen haben, dass man mit falschen Zahlen dem Euro beitritt. (Joachim Poß [SPD]: Das ist eine Behauptung von Herrn Müller!) – Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Poß. (Joachim Poß [SPD]: Mit der Hilfe von Standard & Poor’s!) Das steht im Protokoll des Deutschen Bundestages vom 29. Juni 2000. Lesen Sie es! Das sind manipulierte Zahlen. Sie haben es besser gewusst oder müssten es besser gewusst haben. Es ist eine Schande, wenn Sie jetzt so tun, als ob Sie das nicht gewusst hätten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ziehen Sie sich nicht aus der Affäre! Arbeiten Sie mit uns an der Beseitigung bzw. Begrenzung eines Schadens, für den Sie massiv die Verantwortung tragen. (Joachim Poß [SPD]: Es war eine europäische Entscheidung!) Ich meine, das sollte Sie veranlassen, an dieser Stelle nicht so große Töne zu spucken. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Letzte Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Bettina Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin Bettina Kudla. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bettina Kudla (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als 13. und damit letzte Rednerin dieser Aktuellen Stunde habe ich nun die Aufgabe, die ganze Debatte etwas zusammenzufassen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sind wir gespannt! – Joachim Poß [SPD]: Das wird aber eine schwierige Aufgabe!) In der Diskussion über den Euro geht es vor allem um zwei Themen. Das erste Thema. Wir sprechen über die Verschuldung von Staaten. Wir haben es mit einer Staatsschuldenkrise zu tun. Der Staat ist das, worauf sich die Menschen verlassen können. Der Staat ist der Rahmen, der den Menschen die Freiheitsrechte garantiert. Deswegen müssen die Staaten solide finanziert werden. Das zweite Thema. Wir hantieren mit dem Geld der Bürger. Wir stehen in der Pflicht, mit dem Geld der Bürger verantwortungsvoll umzugehen. Gleichzeitig haben wir die Aufgabe, die Währung, nämlich das Geld der Bürger, stabil zu halten. Deswegen ist die Stabilität des Euro unser zentrales Thema. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Wenn Sie so weitermachen, wird das bald dahin sein!) Anlass der Aktuellen Stunde war der Vorwurf, dass der Bundeswirtschaftsminister ausgesprochen hatte, es dürfe keine Denkverbote geben. Es ist selbstverständlich, dass die Bundesregierung über gewisse Szenarien nachdenken muss. Sie muss handlungsfähig sein, (Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Das wäre das erste Mal, dass die denken können!) und sie muss immer auf alles vorbereitet sein. Meine Damen und Herren von der Opposition – ich spreche besonders Sie an, Herr Trittin; seit Frau Künast bei 18 Prozent gelandet ist, scheinen Sie um 18 Zentimeter gewachsen zu sein –, mich würde es freuen, wenn Sie etwas mehr über die Problemlösungen nachdenken würden. Die Vorschläge, die Sie als vermeintliche Alternative machen, beispielsweise die Einführung von Euro-Bonds, hören sich vordergründig gut an, aber ich bitte Sie: Sagen Sie unserer Bevölkerung, was die Konsequenzen sind! (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das sagen wir schon!) Sagen Sie: Wir wollen, dass das Schuldenmachen in Europa erleichtert wird! Sagen Sie: Wir wollen, dass der Bund und vor allem die Kommunen höhere Zinsen zahlen! Sagen Sie: Wir sollen für andere ohne Konditionen haften! Das kann doch nicht die Lösung sein. So viel Ehrlichkeit verlange ich Ihnen ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben ferner der Bundesregierung vorgeworfen, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt kommt der Fachkräftemangel!) sie wäre europafeindlich. Ich darf Sie daran erinnern, wie Sie in den letzten Tagen die höchsten Einrichtungen der Europäischen Union bezeichnet haben. Ich möchte das nicht wiederholen. Ich möchte Sie aber an unseren gemeinsamen Besuch des Europaausschusses in Frankfurt am Main erinnern. (Joachim Poß [SPD]: Was habt ihr denn da gemacht?) Vonseiten der Linken wurde uns vorgeworfen, wir gingen mit den Exportüberschüssen nicht richtig um. Ich bitte, zu bedenken, dass die Forderung, weniger zu exportieren, für unsere Wirtschaft völlig kontraproduktiv ist. (Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Das fordert doch niemand! Das ist doch Quatsch! Sie haben wirklich keine Ahnung!) Das löst die Probleme anderer Staaten nicht. Bedenken Sie: Wenn nicht aus Deutschland importiert wird, dann wird eben aus Asien oder aus anderen Ländern importiert. Das kann nicht die Lösung für unsere Wirtschaft sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Werner Schieder [Weiden] [SPD]: Unsere Überschüsse sind die Schulden der anderen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie sprechen zum falschen Tagesordnungspunkt! Mangel an Fachkräften, der kommt erst später!) Der Euro ist ein zentrales Thema in den Medien und in der Öffentlichkeit. Es ist verständlich, dass die Bürger daran interessiert sind. Aber ich denke, wir sollten versuchen, das Thema wieder in verantwortungsvolle Bahnen zu lenken. Denn uns muss bewusst sein, dass die Beschlüsse, die wir gefasst haben, erst langfristig Wirkung zeigen werden. Die Schulden, die man über Jahrzehnte angehäuft hat, und die Probleme, die daraus resultieren, werden nicht kurzfristig verschwinden. Hierzu braucht man Geduld. Speziell zu Griechenland wurde im Mai 2010 ein Hilfspaket beschlossen. Jetzt gilt es, den Fahrplan dieses Programms unaufgeregt umzusetzen. Wir sollten uns – das wurde mehrfach erwähnt – auf die Experten der Troika verlassen. Wir dürfen nicht leichtfertig zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das Ergebnis der Experten in den nächsten Wochen muss abgewartet und angehört werden. Dann muss Schritt für Schritt nach dem ESM-Vertrag verfahren werden. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam verantwortungsvoll mit diesem schwierigen Thema umgehen, und zwar im Interesse der Stabilität des Euro und im Interesse des Vertrauens der Bürger in ihre Währung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fachkräfteprogramm – Bildung und Erziehung – unverzüglich auf den Weg bringen – Drucksachen 17/2019, 17/7007 – Berichterstattung: Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg) Marianne Schieder (Schwandorf) Sylvia Canel Dr. Rosemarie Hein Priska Hinz (Herborn) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Marcus Weinberg. – Bitte schön, Kollege Marcus Weinberg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mache es zwar selten und ungerne, aber für einen Punkt muss man die Fraktion Die Linke einmal loben: Sie hat für die Kernzeit ein bildungspolitisches Thema angemeldet. Das verschafft auch uns zum Ersten die Möglichkeit, die Themen zu besprechen, die aktuell wichtig sind, zum Beispiel das Thema der pädagogischen Fachkräfte. Zum Zweiten können wir bei dieser Gelegenheit allgemein über die Bildungsrepublik sprechen und den einen oder anderen Punkt im Hinblick auf den OECD-Bildungsbericht etwas ausführlicher darstellen. Zum Dritten – damit komme ich zum wichtigsten Punkt – gilt es, sich gerade unter dem Gesichtspunkt der Zukunft der pädagogischen Fachkräfte einmal bei den Menschen zu bedanken, die in den letzten Jahren sehr viel für die Bildung geleistet haben: die pädagogischen Fachkräfte. Es ist richtig und wichtig, diesen Menschen zu signalisieren, dass ihre Arbeit für unser Land wertvoll und gut ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich auch einige Sätze zu den aktuellen Debatten über den Stand der Bildungsrepublik Deutschland vor dem Hintergrund der OECD-Berichterstattung in der letzten Woche sagen. Ich sage es ganz offen: Ich und viele von uns waren wieder einmal massiv verärgert. Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland im Bildungsbereich weiterhin Herausforderungen. Natürlich müssen wir diese Herausforderungen – jeder in seiner Verantwortung und Kompetenz – angehen. Trotzdem ist es ärgerlich, wenn in Berichterstattungen über den OECD-Bildungsbericht lediglich Äpfel mit Birnen verglichen werden, gesamte Ausbildungsteile wie die hervorragende duale Ausbildung in Deutschland nahezu ausgeblendet werden, die Erfolge seit 2001 und insbesondere seit 2005 völlig unbeachtet bleiben und der politischen und wissenschaftlichen Verantwortung nicht nachgekommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Empirisch nachweisbar und belegt ist, dass sich das Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland verändert hat. Ich möchte in der Kürze der Zeit nur zwei Überschriften als Beispiel für die falsche Berichterstattung über den OECD-Bericht zitieren. Da schreibt das Hamburger Abendblatt: Schlechte Noten fürs Bildungssystem – Deutschland hat zu wenig Uniabsolventen und gerät international ins Abseits … Die Rheinische Post schreibt: Deutschland bildet zu wenig kluge Köpfe aus – Eine neue internationale Bildungsstudie der OECD kommt zu einem miserablen Ergebnis für Deutschland: Demnach hat sich hierzulande bei der Ausbildung von Top-Leuten in den vergangenen 50 Jahren kaum etwas getan. Der Kollege Gehring, den ich ansonsten sehr schätze, geht gleich auf solche Behauptungen ein und sagt, das OECD-Zeugnis enthülle die Bildungsrepublik als Schönfärberei und Wunschdenken. Deshalb muss man hier einmal zwei oder drei Dinge klarstellen. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal zum Antrag!) – Zu dem Antrag komme ich gleich; meine Ausführungen stehen in einem engen Zusammenhang damit. Eine solche Berichterstattung bedeutet nämlich eine Fehlinterpretation der Ergebnisse der Bildungsberichte, und das betrifft besonders die pädagogischen Fachkräfte. Es ist tatsächlich so – das hat der OECD-Bericht bewiesen –, dass wir in den letzten Jahren im Bildungsbereich deutlich zugelegt haben. Die Zahl der Studienanfänger ist von 26 Prozent auf 46 Prozent gestiegen. Viel wichtiger: Die Zahl der Hochschulabsolventen eines Altersjahrgangs ist von 14 Prozent auf 28 Prozent gestiegen. Bei der Frage nach der Beliebtheit des deutschen Systems – möglicherweise interessant für junge Menschen, die überlegen, einen Lehrer- oder Erzieherberuf anzustreben – ist Deutschland bei den Studierenden aus dem Ausland das viertbeliebteste Land und belegt Platz fünf im Bereich der Promotionsvorhaben. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Thema!) Ich möchte noch ein Wort zum Thema Jugendarbeitslosigkeit sagen – dann beende ich das gerne, Frau Kollegin –: (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Sie sollen was zum Fachkräftemangel sagen!) Deutschland liegt mit einer Quote von 9,5 Prozent deutlich unter den OECD-Werten mit 20 Prozent und deutlich hinter den USA mit 17 Prozent. Das sind Erfolge der letzten Jahre, auf die man einmal stolz zurückblicken kann, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) bei allen Herausforderungen, die Sie in Ihrem Antrag entsprechend aufgegriffen haben. Lassen Sie mich hierzu einige Bemerkungen machen. Hier ist zunächst die Bildungsbeteiligung zu nennen, die gerade in diesem Bereich massiv zugenommen hat. So gibt es bei der Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen eine Zunahme von 7 Prozent; hier wurden in den letzten drei Jahren 100 000 Plätze geschaffen. Richtig ist, dass es in den nächsten Jahren einen verstärkten Bedarf an pädagogischen Fachkräften – Lehrer, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Erzieher – geben wird. Richtig ist aber auch – und das hat der Bildungsbericht 2010 bewiesen –, dass in diesem Bereich 42 000 Personen mehr tätig sind. Man muss erneut daran erinnern – ich weiß, Sie hören es nicht gerne –: Das ist eine Frage der Kompetenzverteilung in diesem Land. Es ist so, dass weiterhin in allererster Linie die Länder für die Ausbildung von Erziehern und Lehrern zuständig sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Da muss man einmal schauen, liebe Kollegen von den Linken, wer wo welche Verantwortung hat. Ich als Hamburger erinnere mich gerne daran – das sage ich ganz offen –, dass es vor etwa zwei Jahren eine Riesendiskussion über junge Lehrer gab, die Berlin, wo sie ausgebildet worden waren, verlassen haben, um nach Hamburg zu gehen. Denn ein schwarz regiertes Hamburg hat diesen jungen Menschen eine vernünftige Perspektive sowie eine vernünftige Bezahlung und vernünftige Verträge geboten, während man sie in Berlin nicht angestellt hat. Hier müssen Sie sich als Linke fragen: Was haben Sie in der damaligen Regierungsverantwortung dazu beigetragen, dass junge Lehrer in Berlin bleiben? Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob und wie Sie Ihrer eigenen Verantwortung gerecht geworden sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Was der Bund aber macht und was er machen kann, ist, die Länder zu unterstützen. Ich erinnere an den Hochschulpakt I und II, und ich erinnere insbesondere an den Qualitätspakt für Lehre: Das sind 200 Millionen Euro, die den Ländern jährlich zukommen. Über diese Maßnahmen des Bundes werden die Länder entlastet. Sie werden insbesondere deshalb entlastet, weil der Bund Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen anbietet und finanziert, die gerade in diesem Bereich wichtig sind. In dem Zusammenhang nenne ich beispielsweise das „Haus der kleinen Forscher“ mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften, die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, die mit 5,3 Millionen Euro unterstützt wird, die Medienerziehung, BIBER – das Netzwerk Frühkindliche Bildung – oder auch die Ausweitungen im Rahmen von WiFF im Forschungsbereich. Das heißt: Der Bund gibt viele Millionen Euro stetig aufwachsend aus, um Verantwortungsbereiche der Länder abzudecken. Das macht er, weil er sich in der Verantwortung der Bildungsrepublik sieht. Er macht es auch, um die Länder zu entlasten. Ich sage aber auch ganz deutlich – die Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern mögen das im Protokoll nachlesen –: Es gibt eine klar geregelte Kompetenzverteilung. Es ist gut, dass sie klar geregelt ist. Der Bund hat in seiner Verantwortung mehr übernommen, aber letztlich bleibt die Verantwortung bei den Ländern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP]) Das, was wir sagen können – – Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Weinberg, Sie können leider gar nichts mehr sagen. Sie sind eine Minute über der Zeit. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hätte uns jetzt gerade interessiert!) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ein letzter Satz: Das, was wir in Bundesverantwortung übernommen haben, haben wir gerne übernommen, und wir tragen auch in den nächsten Jahren dazu bei, dass dieses Thema weiter entsprechend bearbeitet wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Auch das Abdecken der Uhr schützt Sie nicht davor, dass die Uhr weiter vorrückt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Wort hat die Kollegin Marianne Schieder für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass der Fachkräftemangel in Deutschland, der in den nächsten Jahren nahezu alle Arbeitsbereiche treffen wird, auch vor Kitas und Schulen nicht haltmachen wird. Wir alle wissen auch, dass jetzt wirklich rechtzeitig gegengesteuert werden muss, wenn wir auch in Zukunft genügend und gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher in unseren Kitas sowie genügend und gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer an unseren Schulen haben wollen. Insofern ist der vorliegende Antrag wirklich zu begrüßen; er greift ein wichtiges Anliegen auf. Allerdings halten wir den Weg, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, beschreiten wollen, nicht für geeignet. Denn selbst wenn das Kooperationsverbot, das all Ihren Vorschlägen zunächst einmal entgegensteht, fallen sollte – ich darf Ihnen versprechen, dass auch wir, die sozialdemokratischen Bildungspolitikerinnen und -politiker, dafür kämpfen –, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sie haben es doch selbst eingeführt! Das war doch Ihre Partei, die das gewollt hat! – Gegenruf des Abg. Sönke Rix [SPD]: Wir sind ja lernfähig!) wird die Lehrerbildung und Lehreranstellung immer Sache der Länder bleiben; dasselbe gilt für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Ich bin mir auch sicher, dass die Länder keine Modellberechnungen brauchen, um ihren jetzigen und zukünftigen Lehrerbedarf zu kennen. Es fehlt da nicht am Wissen, schon eher am Wollen oder an Finanzierungsmöglichkeiten. In meinem Heimatland Bayern – wenn ich davon einmal berichten darf – kenne ich den Grund dafür, dass zu wenig Lehrer in den Schulen sind und stattdessen viele junge und gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer auf der Straße stehen. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht! 4 000 neue Lehrer!) Der Grund liegt nicht in der mangelnden Kenntnis der Zahlen, sondern im Desaster um die Landesbank. Denn wer das Geld der Steuerzahler in Österreich oder sonst wo versenkt, hat später keines mehr, um zu Hause ausreichend Lehrerinnen und Lehrer einstellen zu können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Selbstverständlich gibt es trotz der Länderhoheit ein weites Feld von Möglichkeiten, um als Bund im Kampf gegen den Fachkräftemangel im Bereich der Bildung sinnvoll tätig zu werden. Es wäre an der Zeit, dringend nötige Diskussionen anzustoßen und längst überfällige Annäherungen und Angleichungen bei den Länderaktivitäten auf den Weg zu bringen. Aber außer vollmundigen Ankündigungen ist hier seitens der Bundesregierung noch nicht viel passiert. So kündigt die Ministerin seit langer Zeit einen Vorschlag zur Abschaffung des Kooperationsverbotes an. Die Abschaffung wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, um in der Sache einmal grundsätzlich etwas voranzubringen; doch eine konkrete Gesetzesinitiative gibt es nicht. Es gibt aber Initiativen der Oppositionsfraktionen. Seit Monaten kündigt die Ministerin eine Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung an. Das ist ein wirklich begrüßenswerter Ansatz; denn wir alle wissen doch, dass es der Lehrerbildung insgesamt guttäte, grundsätzlich in den Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussionen gerückt zu werden. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Schieder, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kretschmer? Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Gerne. Michael Kretschmer (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie haben jetzt mehrfach über die Länder und die Frage der Vereinbarkeit gesprochen. Können Sie uns ein Beispiel für ein SPD-geführtes Bundesland nennen, in dem es eine Initiative für mehr Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern im Bereich der Bildung gibt? Können Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass es die Länder Bayern und Sachsen waren, die die Initiative für einen Staatsvertrag zu einem gemeinsamen Deutschland-Abitur ergriffen haben? Sie stellen es hier so dar, als würde es das nicht geben. Mir ist aber keine SPD-Initiative dazu bekannt. (Zuruf von der SPD: Sie hat doch nicht auf eine Initiative zur Vergleichbarkeit abgehoben!) Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Herr Kollege, falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ich spreche hier über einen drohenden Fachkräftemangel im Kita- und Schulbereich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da gibt es keine Initiativen seitens des Bundes, um nötige Diskussionen anzustoßen und rechtzeitig gegenzusteuern. Ich sprach vom begrüßenswerten Ansatz einer Initiative seitens des Bundes zur Lehrerbildung. Ich glaube, dass eine solche Initiative vor allen Dingen deswegen notwendig wäre, weil die Lehrerbildung an vielen Universitäten – wir alle wissen das – eine eher nachrangige Bedeutung hat und aus diesem Grunde alles getan werden muss, damit ihr ein höherer Stellenwert beigemessen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir können nicht darauf warten, dass sich die Kultusministerkonferenz dieses Themas annimmt; denn man gewinnt den Eindruck, dass die Unterschiede in der Kultusministerkonferenz von Jahr zu Jahr größer und nicht kleiner werden. Deshalb brauchen wir eine Initiative des Bundes. Heute muss aber auch erneut festgestellt werden, dass Schwarz-Gelb den Kommunen und den Ländern zunehmend die finanzielle Basis entzieht, die sie brauchen, um ausreichend Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher beschäftigen und angemessen entlohnen zu können. Wir Sozialdemokraten wollen Bildungspolitik aus einem Guss, von der Kita bis zur Universität. Wir wollen Bildung von möglichst hoher Qualität. Wir wollen gute Bildung für alle Kinder und jungen Menschen, und zwar unabhängig von der Herkunft und unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dazu gehört für uns nicht nur, dass Kinder und junge Menschen kostenlos teilnehmen können, sondern auch, dass sie von qualifizierten Fachkräften möglichst gut und möglichst individuell gefördert werden. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der SPD werden bis 2013 bis zu 40 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Trotz dieser Erkenntnis wird nahezu nichts getan. Wir wissen auch, dass die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher in Bezug auf Ausbildung und Praxis ständig steigen. Wir wissen, dass mittlerweile ein Drittel aller Kinder im Vorschulalter einen Migrationshintergrund hat. Wir wissen, dass wir gerade im Bereich der Sprachförderung vor großen Herausforderungen stehen, und zwar sowohl, was die Kinder mit Migrationshintergrund betrifft, als auch, was die Kinder betrifft, deren Muttersprache Deutsch ist. Insgesamt stellt sich zunehmend die Frage, ob die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern nicht als Hochschulausbildung angelegt werden sollte und das bisherige Ausbildungssystem umgebaut werden muss, um den steigenden Anfor-derungen gerecht werden zu können. Ein weiteres Problem, das bewältigt werden muss, ist das niedrige Einkommensniveau der Fachkräfte in den Kitas und in den anderen erzieherischen Einrichtungen. Nicht nur Männer werden dadurch davon abgehalten, sich für entsprechende Berufe zu entscheiden. In beiden Fällen vermisse ich das Engagement der Bundesregierung. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir dringend tragfähige Konzepte brauchen, um den zukünftigen Fachkräftebedarf in Kitas und Schulen decken zu können. Dazu muss der Bund endlich einen konkreten Beitrag leisten. Was den Antrag der Fraktion Die Linke betrifft: Wir werden uns aufgrund der bereits dargelegten Bedenken enthalten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sylvia Canel (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Frühkindliche Bildung ist heute unser Thema. Ich kann nur sagen: Endlich ist das wieder Thema. Wir sprechen viel zu wenig darüber. Dieses Thema ist viel zu wenig in den Köpfen verankert, und wir haben es viel zu selten in den Mittelpunkt unseres politischen Arbeitens gestellt. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das stimmt! – Sönke Rix [SPD]: Sagen Sie das einmal Ihrer Ministerin!) Warum machen wir das eigentlich so? Hier wird doch der Grundstein für die individuelle Bildungsbiografie gelegt. Hier, wo individuelle Förderung, Integration und sozialer Ausgleich am allerbesten gelingen, müssen die Besten unterrichten und die besten Rahmenbedingungen herrschen. Trotzdem haben wir alle es bisher nicht geschafft, dafür zu sorgen. Defizite bei der Qualität der Kindertagesstätten, Stundenausfälle in den Grundschulen, Probleme bei der Lehrergewinnung und der Lehrerversorgung sind alltägliche Probleme. Alle, die hier sitzen, können ein Lied davon singen; denn alle haben das selber erlebt. Diese Situation führt dazu, dass die Eltern unzufrieden, die Kinder zum Teil frustriert und die Lehrer überlastet sind. Der Fachkräftebedarf in den Kindertagesstätten ist nicht von der Hand zu weisen; er ist tatsächlich sehr hoch. Die Situationsbeschreibung und die Bedarfsprognose in dem Antrag, über den wir heute hier beraten, ist stichhaltig. Aber leider – das sage ich auch aus persönlichen Gründen – sind die Schlüsse die völlig falschen; denn die Länder sind für die Ausbildung der Pädagogen zuständig. Das heißt, die Länder stehen in der Pflicht. Sie müssen das, was vom Grundgesetz als Kernaufgabe formuliert wird, verantwortungsvoll wahrnehmen. Sie müssen ganz offensichtlich genau in diesem Gebiet, das uns so wichtig ist, nachlegen. Investitionen sind möglich, sie müssen nur gewollt sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Anders ist die Spannbreite von mehreren Tausend Euro zwischen den Investitionen der Bundesländer für unter sechsjährige Kinder überhaupt nicht zu erklären. Schleswig-Holstein investierte 2007 nicht einmal 2 000 Euro pro Kind, ein Drittel weniger als Hamburg mit 3 400 Euro. Ähnlich ist der Unterschied zwischen Brandenburg mit 2 800 Euro und Berlin mit fast 4 200 Euro. Laut Ländermonitor investieren die alten Bundesländer durchschnittlich viel weniger als die neuen Bundesländer. Die Spannbreite der Nettoausgaben für frühkindliche Bildung und Betreuung in den gesamten Ausgaben öffentlicher Haushalte reicht von 3,1 Prozent in Bremen bis zu 7 Prozent in Sachsen. Mehr ist möglich. Die Länder haben die Verantwortung, in frühkindliche Bildung zu investieren. Aus dieser Verantwortung können wir sie nicht entlassen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die in der vergangenen Woche vorgestellte OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“, die hier schon viel zitiert wurde, bestätigt, dass ausgerechnet in den wichtigsten Bildungsbereich, die Zeit vor der Schule und in der Grundschule, am wenigsten investiert wird. Ich habe mir einmal herausgesucht, was in der Studie zu den Drei- bis Sechsjährigen in Deutschland steht. Laut Studie werden in Deutschland 6 887 Dollar pro Kind pro Jahr investiert. Italien – auch aufgrund einer anderen Debatte zurzeit in den Köpfen – investiert hingegen 8 187 Dollar. Das möchte ich nur am Rande bemerken. Insgesamt ist es beschämend niedrig. Die Länder verzetteln sich in ihren Aufgaben. Wir können es nicht weiter dulden, dass nachrangige Politikfelder hochgepäppelt werden und dass der Bund genau da, wo Länder versagen, ergänzen und nachsteuern soll. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Es kann nicht sein, dass die Länder jetzt vom Bund die Mittel einfordern, die sie selber nicht einzusetzen bereit sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bundesmittel sind keine Kompensationsmittel. Bundesmittel sollen Investitionen und Bildungsausgaben der Länder sinnvoll ergänzen. Genau das tun wir vom Bund her. Der Bund investiert schon jetzt tatkräftig. Wir haben bis 2013 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung vorgesehen. Das ist eine bislang unerreichte Summe. Sie zeigt deutlich, dass diese Koalition eine eindeutige Priorität in genau diesem Gebiet gesetzt hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich denke, wenn wir das im Bund schaffen, schaffen die Bundesländer das auch. Mit der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte unterstützt der Bund die Länder beim Aufbau einer Qualifizierungsinitiative für Erzieherinnen und Erzieher. Sie haben hier schon gehört, dass sie nicht gut ausgebildet sind; aber Sie haben vielleicht noch nicht gehört, dass manche so wenig verdienen, dass sie verheiratet sein müssen, weil sie auf das Einkommen des Ehepartners angewiesen sind. Das muss sich ändern; denn es geht um den wichtigsten Bildungsabschnitt eines jeden Menschen. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Mit der FDP wird sich das ändern? Aha!) Der Hochschulpakt läuft weiter und sichert den Ausbau von Studienplatzkapazitäten. Bis zum Jahresende 2010 wurden statt 90 000 180 000 Studienplätze geschaffen. Der Qualitätspakt Lehre führt zu einer Verbesserung der Studienbedingungen; dort haben wir 2 Mil-liarden Euro vorgesehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind doch vorzeigbare Ergebnisse!) Das BAföG wurde erhöht und das Stipendienprogramm eingeführt. Ich weiß, dass Sie das sehr kritisieren, aber bedenken Sie, dass das vor allem für Lehrer ganz wichtige Mechanismen sind; denn Lehrer sind meist die ersten Akademiker in ihren Familien. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese einmalige und zuvor noch nie unternommene Kraftanstrengung darf jedoch nicht dazu führen, dass wir dies in den Ländern immer wieder vernachlässigen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Kitas. Es muss dort investiert werden, wo es am wichtigsten ist. Die Länder müssen auch besser kooperieren. Es kann doch nicht sein, dass die Lehrerausbildung so zersplittert ist, dass in dem einen Bundesland die Lehrerausbildung aus dem anderen Bundesland nicht anerkennt wird. Genauso wie ein ausgebildeter Jurist oder Arzt in jedem Bundesland arbeiten kann, muss auch ein Lehrer in jedem Land arbeiten dürfen. Er darf daran in Zukunft nicht mehr aufgrund von Bildungsmauern und -barrieren gehindert werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gute, verlässliche Rahmenbedingungen sind für erfolgreiche Lernprozesse erforderlich. Damit geben wir den Einrichtungen auch größere Freiheiten, Entscheidungen vor Ort treffen zu können. Wir brauchen einen gemeinsamen und national abgestimmten Rahmen für die Bildung, eine regionale Qualitätssicherung und selbstständige Bildungseinrichtungen, die gute Ergebnisse erzielen können. Wir behindern uns doch selbst, wenn die Ländergrenzen weiterhin Bildungsbarrieren darstellen und wenn die Länder ihre größten Konkurrenten in den anderen Bundesländern statt in anderen Industrienationen sehen. Aufgrund der vorhandenen Bildungsbürokratie erzielen wir in Deutschland im Moment nicht so gute Ergebnisse, dass wir mit Indien und China konkurrieren könnten. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Canel, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Sylvia Canel (FDP): Ja, gern. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Licht, das vor Ihnen aufleuchtet, ist ernst gemeint. Sylvia Canel (FDP): Meine Damen und Herren, berücksichtigen Sie: Dies ist das wichtigste Themenfeld in diesem Bereich. In den Bundesländern, in denen Sie an der Regierung beteiligt sind, können Sie sich selbst dafür einsetzen, dass genau hier investiert und das getan wird, was im vorliegenden Antrag gefordert ist. Danke sehr. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Wissen Sie eigentlich, dass es bald keine Bundesländer mehr gibt, in denen Sie sich dafür einsetzen können?) Vizepräsidentin Petra Pau: Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Hein für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Canel, es hilft nichts, wenn wir hier „Schraps hat den Hut verloren“ spielen. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen überlegen, welche Verantwortung der Bund tatsächlich hat. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Hamburg kennt man das Spiel nicht, Frau Kollegin! – Gegenruf des Abg. Sönke Rix [SPD]: Wir spielen das nachher mal zusammen!) – Das kennt man dort nicht? Ich erkläre es Ihnen nachher. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) Der Bund hat zu Recht im Gesetz festgeschrieben, dass ab 2013 jedes Kind vom ersten Lebensjahr an einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindereinrichtung oder in der Kindertagespflege hat. Bundesweit sollen insgesamt 750 000 Plätze zur Verfügung gestellt werden. Zwei Drittel davon hat man bereits geschaffen. Wir bezweifeln allerdings, dass 750 000 Plätze ausreichen werden. Für eine gute Qualität in Bildung und Betreuung, sowohl in Kindereinrichtungen als auch in der Tagespflege, bedarf es – das ist unstrittig – gut ausgebildeter pädagogischer Fachkräfte. Das sehen alle in diesem Haus so, auch die Bundesregierung. Die Bundesregierung und dieses Haus haben zwar den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geschaffen, ein Investitionsprogramm aufgelegt und sogar Hilfen bezüglich der Betriebskosten der Einrichtungen auf den Weg gebracht. Dass man in solchen Einrichtungen auch Personal braucht, hat die Koalition, haben die Regierenden aber jedes Mal übersehen. (Sönke Rix [SPD]: Oh nein! Wir nicht!) Deswegen haben wir nun dieses Dilemma. Der Fachkräftebedarf ist groß. Die Standards bei der Kinderbetreuung in den Einrichtungen der Länder sind schon heute unbefriedigend. Insbesondere im Osten ist das leider so. In Sachsen-Anhalt mussten wir den Betreuungsschlüssel in den letzten 20 Jahren, meistens übrigens aufgrund von Druck aus dem Westen und aufgrund von Geldmangel, permanent verschlechtern, so-dass die Bundesregierung ihn heute zu Recht als bedenklich einstuft. Zudem werden im Bundesland Sachsen-Anhalt in den nächsten Jahren Tausende Erzieherinnen in den Ruhestand gehen. Für ausreichend Nachwuchs ist nicht gesorgt. Das liegt auch daran, dass die in Sachsen-Anhalt ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher gern in Bayern und Hessen aufgenommen werden, wo es ebenfalls nicht genügend Fachkräfte, aber mehr Geld gibt. (Zuruf von der CDU/CSU: Aha! Wer regiert denn da?) Den jüngsten Zahlen zufolge hatten im Jahre 2009 bundesweit etwa 20 Prozent des pädagogischen Personals in Kindereinrichtungen keine pädagogische Ausbildung. Bei den Tagespflegepersonen sah es noch schlechter aus: Nur etwa 36 Prozent von ihnen hatten überhaupt eine entsprechende Ausbildung. 160-Stunden-Programme, Orientierungskurse und Schnellkurse reichen nicht aus, um in den Kindereinrichtungen die Qualität, die wir erreichen wollen, zu sichern. Meine Damen und Herren, der Erziehungsberuf ist doch kein Anlernberuf! (Beifall bei der LINKEN) Auch für die noch fehlenden etwa 250 000 Plätze sind die nötigen Fachkräfte nicht in Sicht. Allein dafür würden bis 2013 wenigstens 50 000 Erzieherinnen und Erzieher gebraucht. Wenn wir hier nicht etwas tun, dann läuft dieser gut gemeinte Rechtsanspruch ins Leere, weil sich niemand dafür interessiert, wenn er es nicht beispielsweise wegen der Aufnahme einer Arbeit muss. Wir wollen, dass diese Kindereinrichtungen auch Bildungsprogramme anbieten. Davon müssen auch die Eltern überzeugt werden. (Beifall bei der LINKEN) Bei der Behandlung unseres Antrages hat man uns auch hier wieder zugestanden, wir hätten gut recherchiert, aber man könne ihm aus grundsätzlichen Erwägungen nicht folgen. Das ist zwar richtig, aber es gibt einen Ausweg. In § 83 SGB VIII, einem Bundesgesetz, ist festgelegt, dass der Bund „die Tätigkeit der Jugendhilfe anregen und fördern“ soll, soweit sie von überregionaler Bedeutung ist und die Länder das allein nicht schaffen können. Ich finde, diesen Passus könnte man auch nutzen, um ein Bund-Länder-Programm zu entwickeln. (Beifall bei der LINKEN) Ich will auch noch etwas zum zweiten Teil unseres Antrages sagen. Damit beziehen wir uns auf die Lehrkräftesituation an den Schulen. Auch das ist hier schon gesagt worden. Hier droht nach unserer Auffassung trotz des Schülerrückgangs – im Osten wieder deutlich stärker als im Westen – ein dramatischer Lehrermangel. Eigentlich gibt es ihn schon, aber er wird sich in allen Ländern noch wesentlich verstärken, weil derzeit fast die Hälfte der Lehrinnen und Lehrer in den Schulen über 50 Jahre alt ist. Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat vor einiger Zeit vorgerechnet, dass mittelfristig ein Bedarf von etwa 35 000 Lehrerinnen und Lehrern pro Jahr besteht. Nun hat die Kultusministerkonferenz im Sommer eine neue Berechnung vorgelegt. Danach soll es angeblich nur kurzzeitig und punktuell zu Engpässen kommen. Ich habe mich gefragt, warum das plötzlich so ist. Die sinkende Schülerzahl allein kann der Grund nicht sein. Ich bin dann darauf gekommen: Im Westen ist der Übergang zum berühmten G 8, also zum verkürzten Abitur, natürlich auch ein Sparmodell gewesen, wodurch Stunden eingespart wurden. Das hat zu einer Veränderung des Lehrkräftebedarfs geführt. (Beifall bei der LINKEN) Selbst wenn alle Berechnungen stimmen würden, was wir bezweifeln, sage ich: Wir wollten die Schule doch besser machen! Das wird aber, wenn man auf diese Berechnungen aufbaut, nicht zu erreichen sein. Mit den neuen Berechnungen macht die KMK nur darauf aufmerksam, dass man eigentlich gar nicht genau sagen kann, wie viele Lehrerinnen und Lehrer am Ende tatsächlich in den Schulen ankommen. Das hat mit dem Übergang zum Bachelor-Master-System im Studium zu tun. Deshalb müssten wir als Bund eigentlich etwas tun. Das entsprechende Instrument, das es ja schon gibt, ist heute hier schon genannt worden, nämlich der Hochschulpakt. Warum kann man in diesen Hochschulpakt nicht die Säule „Studienplätze für Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter für die Schulen in den Ländern“ einbauen? Das könnte man von hier genauso finanzieren, wie man die anderen Studienplätze mitfinanziert. (Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie wollen den Zentralstaat!) Es hilft eben nicht, nur bildungspolitische Sonntagsreden zu halten – das Gleiche gilt für die Presseerklärung von Herrn Weinberg und Herrn Rupprecht – und deutlich zu machen, dass die Lehrerinnen und Lehrer das wichtigste Potenzial in der Bildungslandschaft sind, sondern wir müssen auch etwas dafür tun. Wir sind als Bund zwar nicht zuständig, (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha!) aber verantwortlich, und diese Verantwortung müssen wir wahrnehmen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, können hier so schöne Reden halten, wie Sie wollen, es hilft aber nichts: Wir haben einen Fachkräftemangel, und zwar in den Kindergärten, in den Kinderkrippen und in den Schulen. Wir können die Zahlen drehen, wenden, interpretieren und noch einmal neu berechnen: Es ist so, und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Die Linke hat schlicht und einfach recht, wenn sie dies hier feststellt. Es hilft nichts, darum herumzuschwadronieren. Das ist übrigens überhaupt nicht neu und war lange vorhersehbar. Die Argumente dafür liegen offen auf der Hand: Es gibt immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, aber auch viele Erzieherinnen und Erzieher, die aus Altersgründen ausscheiden werden. Wir brauchen weitere Angebotsausweitungen in den Kindergärten und Krippen, wir wollen Ganztagsschulen bzw. Ganztagseinrichtungen, (Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen mehr Qualität!) wir wollen aber natürlich auch mehr Qualität – genau so, wie Sie das in Ihrem Zwischenruf gesagt haben. Das geht aber nicht ohne mehr Fachpersonal. Das ist ein zentrales Qualitätskriterium. Das Kinderförderungsgesetz legt fest: Im Jahr 2013 soll eine bestimmte Quote verbindlich erfüllt werden. Dafür brauchen wir das entsprechende Personal, das bis dahin schon ausgebildet worden sein müsste. Es reicht nicht, wenn wir erst dann konstatieren, dass wir Personal brauchen. Die Regierung handelt im Moment ein bisschen nach dem Prinzip Hoffnung und setzt darauf, dass alles funktionieren wird und dass alles so kommt, wie man es sich vorstellt. Aber bekanntlich kommt es anders, als man denkt. Daher ist es richtig, das jetzt auf der Tagesordnung zu haben. Der Antrag der Linken hat zwei Schwachpunkte, über die man reden muss. Der erste Schwachpunkt ist, dass unberücksichtigt ist, dass es bei der Personalausbildung eine Länderzuständigkeit gibt. Da kommen wir nicht drum herum; das ist richtig. Im ganzen Bereich der Bildung haben wir vielfältige Aufträge. Ich finde es allerdings ein bisschen schwierig, dass Sie versuchen – das ist der zweite Schwachpunkt –, eine solche große Aufgabe mit Kleinstlösungen und vereinzelten Programmen zu meistern; denn auf diese Weise verzetteln Sie sich. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Sie haben gerade im Zusammenhang mit dem KJHG vorgeschlagen, ein Bund-Länder-Programm aufzulegen. Wenn Sie aber schon das KJHG dazu nutzen wollen, dann machen Sie bitte kein Klein-Klein-Programm, dessen Wirkung nach ein, zwei Jahren verflogen ist, sondern dann müssen Sie das machen, was die Grünen vorschlagen, nämlich Qualitätskriterien rechtsverbindlich hineinschreiben, sodass sich tatsächlich etwas ändern muss. Aber mit einem Programm wird sich das Ganze in Schall und Rauch auflösen und folglich keine Wirkung haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich kann Qualitätskriterien nicht in ein Programm schreiben!) Als zweites Beispiel nenne ich Ihre Forderung, im Hochschulpakt ein Sonderprogramm für mehr Lehramtsstudienplätze aufzulegen. Der Hochschulpakt bedarf aber bereits schon der Nachbesserung. Wenn wir ihn jetzt mit neuen spezifischen Aufgaben beladen, dann wird das weder die Gesamtsituation an den Hochschulen in irgendeiner Form verbessern, noch wird es eine Wirkung entfalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn ein Programm, das nur schwer umzusetzen ist, wird nicht besser, indem man es verschlimmbessert. Die Knackpunkte, die genannt worden sind, müssen wir in der Tat angehen. Ich nenne zum Beispiel das Kooperationsverbot. Ich fand es heute im Bildungsausschuss wirklich dramatisch, dass wir auf die Frage, was getan wird, um ein Kooperationsverbot zu verhindern, von der Ministerin lediglich die Antwort erhalten haben: Ich muss erst einmal meine eigene Partei von der Abschaffung der Hauptschule überzeugen. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Geben Sie doch nicht falsche Zitate wieder!) Wir wollen das Bildungssystem in Deutschland verändern, und die Ministerin ist damit beschäftigt, ihre Partei von etwas Selbstverständlichem zu überzeugen. Das kann doch nicht die Aufgabe einer Bildungsministerin für ganz Deutschland sein. Ich bitte Sie! Eigentlich ist es peinlich, so eine Antwort in einer Ausschusssitzung zu bekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Peinlich ist, dass Sie falsch zitieren!) Jetzt komme ich noch zu einem anderen Punkt. Wir haben eine ganz klare Kompetenz im Bereich der Weiterbildung. Hier können wir wirklich etwas machen, angefangen beim Erwachsenen-BAföG bis hin zu vernünftigen Weiterbildungsmöglichkeiten zum Beispiel für Seiteneinsteiger. Warum tun Sie da nichts? Da haben wir eine ganz klare Verantwortung, um tatsächlich etwas zu verändern. Aber Sie drücken sich ein wenig davor. Das betrifft übrigens nicht nur diesen Bereich, sondern auch den Bereich der Fachkräfte. Vor kurzem wurde durch eine Kleine Anfrage der Grünen der Blick auf ein großes Handlungsfeld gelenkt, nämlich auf die Qualifizierung von Tagespflegepersonen, den sogenannten Tagesmüttern. Wir wissen: Die Menschen, die dort arbeiten, sind oft nicht nur unterbezahlt, sondern auch fehlqualifiziert. Wenn wir wirklich Bildung und Förderung wollen, wenn wir Tagespflege in Deutschland tatsächlich etablieren wollen, dann haben wir die Verantwortung, in diesem Bereich für Qualität zu sorgen. Da gibt es Defizite. Auch da hat der Bund eine Zuständigkeit. Teile Ihres Konzepts und Ihrer Gesetze beruhen auf den Tagesmüttern, aber Sie schauen weg. Das Einzige, was Sie von der Regierung getan haben, war, die Tagesmütter durch eine steuerrechtliche Regelung noch mehr zu belasten. Damit haben Sie auch die letzte Tagesmutter vergrault. Das ist Ihre Antwort. Aber das wird nicht reichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Also: Lassen Sie uns das Problem anpacken, bevor es uns überholt. Wenn Sie wirklich das Beste für unsere Kinder tun wollen, dann müssen Sie mehr tun, als nur schönen Reden halten, dann müssen Sie handeln. Auch die besten Sätze helfen nicht, wenn Ihr Handeln am tatsächlichen Bedarf vorbeigeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Ewa Klamt für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ewa Klamt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben einen Fachkräftemangel. – Die Kollegin müsste jetzt eigentlich zuhören, aber sie hat auch schon bei der Ministerin nicht zugehört, sonst hätte sie sie richtig zitiert. (Beifall bei der CDU/CSU – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Ich weiß nicht, ob Sie da waren, aber ich war da!) Frau Kollegin, diese Koalition tut hier etwas, was man von Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 nicht gerade behaupten kann. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Ganztagsschulprogramm war von uns!) Es macht aber Sinn, einmal genau hinzuschauen, wer in unserem föderalen System was in diesem Bereich geleistet hat und wer noch eine Bringschuld hat. Allein beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat der Bund einen Finanzierungsbeitrag von 4 Milliarden Euro geleistet. Offen bleibt die Finanzierung in den Ländern. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Das stelle nicht nur ich fest. Auch der Deutsche Städtetag fordert von den Ländern größere finanzielle Anstrengungen, um den Rechtsanspruch auf Betreuung bis 2013 umzusetzen. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das war aber nicht Ihre Idee!) Rund 6 Milliarden Euro an Investitionskosten sind hier von den Ländern noch nicht finanziert. Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, ich gebe Ihnen recht: Bei der Kinderbetreuung geht es nicht allein um Quantität, sondern auch um Qualität. Doch Ihr Ansatz geht in die falsche Richtung. Sie verwechseln die Zuständigkeiten. Anders als im sozialistischen Einheitsstaat (Zuruf von der LINKEN: Oh! Langweilig!) ist es im föderalistischen System der Bundesrepublik Deutschland – man muss Sie ja immer wieder aufklären, weil Sie es anscheinend nicht wissen – aus gutem Grund Aufgabe der Länder, mit konkreten Maßnahmen auf den regionalen Bedarf zu reagieren. (Sönke Rix [SPD]: Den guten Grund würde ich gern einmal hören!) Anstatt jedoch in den Ländern, in denen Sie bis vor kurzem noch mitregieren konnten – ich nenne nur einmal Berlin –, diese Probleme zu beheben, rufen Sie jetzt den Bund auf, Ihre bildungspolitischen Negativhinterlassenschaften – schauen wir nur einmal in den Grundschulbereich – aufzuräumen. Das ist nicht Aufgabe des Bundes. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir, die Koalition, haben mit einer Vielzahl von Programmen und einem immensen finanziellen Aufwand verbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bildung und Erziehung geschaffen. Etliche Initiativen wurden bereits genannt. Wichtig ist für mich die Initiative „Offensive Frühe Chancen“. Frau Schieder, Sie sind doch auch im Ausschuss. Sie wissen doch ganz genau, was wir da beschlossen haben. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Ich weiß, was Rot-Grün auf den Weg gebracht hat!) Wir haben bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um in Deutschland 4 000 Kitas mit dem Schwerpunkt Sprache und Integration zu fördern. Ich sage das, weil Sie die Migrationskinder und die Kinder von deutschen Eltern, die der deutschen Sprache nicht richtig mächtig sind, ansprachen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Klamt, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Golze? Ewa Klamt (CDU/CSU): Nein. – Nehmen wir das Aktionsprogramm Kindertagespflege. Hier konnte der Anteil der Tagespflegepersonen ohne absolvierten Qualifikationskurs auf 14 Prozent gesenkt und der Anteil der erfolgreichen Abschlüsse im Jahr 2009 um 16 Prozent gesteigert werden. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Was ist denn ein Qualifikationskurs? 160 Stunden! Das ist doch keine berufliche Ausbildung!) Im Übrigen wird auch die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass auch pädagogische Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung tätig werden können. Auch hier ist der Bund für die bundesgesetzlich geregelten Berufe bereits aktiv geworden. Es liegt erneut an den Ländern, Anerkennungsverfahren und berufsrechtliche Regelungen, wie zum Beispiel für Lehrer und Erzieher, in ihrem Zuständigkeitsbereich zu ändern. Richtigerweise stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass wir in Zukunft eine große Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern benötigen. Deshalb haben Bundesregierung und Länder, und zwar nicht erst seit heute, mit dem Hochschulpakt die Voraussetzung für die Aufnahme neuer Studierender an den Hochschulen geschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Kennen Sie die Zahlen?) – In der ersten Programmphase – die Zahl lese ich Ihnen gerne vor; wir haben sie hier schon einmal gehört – wurden von 2007 bis 2010 rund 182 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten geschaffen – zusätzliche Studienmöglichkeiten! Das heißt doppelt so viele wie ursprünglich vereinbart. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Wir haben aber wesentlich mehr Studierende! Doppelte Abiturjahrgänge! Wegfall der Wehrpflicht!) – Bei diesem Thema sind wir jetzt gerade. Frau Schieder, hören Sie doch einfach einmal zu, auch wenn es für Sie schwierig ist. Ich habe Ihnen auch zugehört. Bis zum Jahr 2015 – das ist die zweite Programmphase – hat die Bundesregierung 320 000 bis 335 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten zugesichert. Wenn es einen größeren Bedarf geben sollte, dann wird auch dieser vom Bund finanziert. Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: 600 Millionen Euro erhielten die Länder 2011 vom Bund für den Ausbau der Studienangebote. 2012 werden es 1,14 Milliarden Euro sein. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich denke, dafür sind wir nicht zuständig!) – Ja, Sie haben recht. 25 Prozent all dieser Kosten finanziert der Bund schon, aber Sie fordern immer noch ein bisschen mehr. Sie müssen aber auch einmal da liefern, wo Sie in der Verantwortung sind. Da passiert nämlich überhaupt nichts. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Es geht um Lehrerinnen und Lehrer und nicht um Studienplätze!) Uns ist aber auch die Qualität der Ausbildung wichtig. Der Qualitätspakt Lehre ist schon angesprochen worden. Auch hierbei gilt – das kann nicht oft genug klargestellt werden –: Länder und Hochschulen müssen ihren Beitrag zur Verbesserung von Studium und Lehre leisten. Auch die Zuständigkeit für die Erzieherinnen und Erzieher liegt bei Ländern und Kommunen. Darum, liebe Linke, können wir Ihrem Antrag sicher nicht zustimmen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Sönke Rix. (Beifall bei der SPD) Sönke Rix (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen! In fast jeder Rede, zumindest vonseiten der Regierungskoalition, ist bisher angeklungen: Wir sind eigentlich gar nicht zuständig sind. Dafür sind die Länder zuständig. Wir können nur ein paar kleine Programme machen. Was soll das ganze Gerede? – Wenn wir mit dieser Einstellung an den Ausbau der Ganztagsschulen oder der Krippenplätze herangegangen wären, dann hätten wir uns in diesem Bereich nicht bewegt. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Ich finde – das sage ich insbesondere an die Adresse der Kollegen der Unionsfraktion –, das hat dieses Thema nicht verdient. Man kann auch mit den Ländern gemeinsam Großes bewegen. Das haben Sie bisher versäumt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ewa Klamt [CDU/CSU]: Das machen wir die ganze Zeit mit dem Hochschulpakt!) Wir haben nicht nur unter Rot-Grün das Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht, sondern wir haben auch in der Großen Koalition das 4-Milliarden-Euro-Programm zum Ausbau der Krippenplätze vorangebracht, obwohl wir auf Bundesebene eigentlich nicht die Zuständigkeit dafür hatten. Wir haben uns aber mit den Ländern zusammengesetzt und gemeinsam in einem ausgetüftelten Verfahren dafür gesorgt, dass wir Geld für den Ausbau der Krippenplätze in die Hand nehmen konnten. Sie aber sagen nun, da die nächsten Schritte folgen sollen: Damit haben wir nichts zu tun; das müssen die Länder alleine machen. – So geht es nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir haben schon eine Anschubfinanzierung gemacht!) Dass wir in den Bereich Kindertagesstätten investiert haben, war wahrscheinlich schon ein zäher Akt von Frau von der Leyen mit Blick auf die CDU/CSU-Fraktion und insbesondere die CSU-Landesgruppe. Aber wir haben es geschafft. Nun fehlen, wie gesagt, die weiteren Schritte. Der Ausbau stockt quantitativ und qualitativ. Wir brauchen vor allem mehr und besser ausgebildetes Personal. Deshalb brauchen wir eine andere Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Denn die Ansprüche und Anforderungen an frühkindliche Bildung – das haben die letzten Jahre deutlich gezeigt – sind zu Recht gestiegen. Der Kindergarten ist nicht mehr das, was er vor 20 oder 30 Jahren in einer rein konservativen Ära war, nämlich ein Aufbewahrungsort für Kinder, deren Eltern gerade nicht auf sie aufpassen konnten. Die Kindertagesstätte ist inzwischen ein Ort der frühkindlichen Bildung. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir die Erzieherausbildung reformieren und vorantreiben und den Erzieherberuf aufwerten. (Beifall bei der SPD) Ein Blick auf andere europäische Staaten wie die Beneluxstaaten und Skandinavien – Norwegen ist ein gutes Beispiel – zeigt, welchen Stand der Erzieher oder die Erzieherin dort hat: Er steht ungefähr auf derselben Ebene der beruflichen Hierarchie – wenn man es so sagen kann – wie die Lehrerin oder der Lehrer. In Schleswig-Holstein verdient ein Erzieher mit einer Ganztagsstelle etwa 1 800 Euro netto. Im Vergleich zum Lehrergehalt ist das eine Katastrophe; denn wir erwarten von den Erzieherinnen und Erziehern mindestens genauso viel wie von den Lehrerinnen und Lehrern. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Es bedarf nicht nur einer Initiative der Länder, sondern einer Bund-Länder-Initiative, um den Erzieherberuf aufzuwerten, und zwar durch eine bessere Bezahlung, mehr Aufstiegschancen und eventuell durch eine stärkere Akademisierung dieses Berufsstands. Ich habe mich lange gefragt, woran es liegt, dass das aufseiten der Regierungskoalition nicht erkannt wird. Wenn ich mir Ihre Vorschläge genau anschaue – leider ist niemand vom Familienministerium anwesend, obwohl Fachkräfte im Krippenbereich ein Thema für dieses Ministerium wäre; offenbar hat man dort anderes zu tun –, dann vermute ich, dass das am Rollenbild liegt. Nehmen wir als Beispiel das Programm für mehr männliche Erzieher in Kindertagesstätten. Ihrer Ansicht nach brauchen männliche Arbeitslose – von denen gibt es genügend – offenbar noch nicht einmal eine volle Ausbildung, sondern nur eine Umschulung bzw. Weiterqualifizierung, um anschließend als Erzieher in Kindertagesstätten arbeiten zu können. Dieses Rollenbild führt dazu, dass der Erzieherberuf noch immer nicht den Stellenwert hat, den er eigentlich verdient. In diesem Zusammenhang muss man sich auch Ihr Familienbild anschauen. Die bayerische Familienministerin hat gerade ein Betreuungsgeld in Höhe von 500 Euro gefordert. Das Geld, das dafür ausgegeben werden soll, sollte lieber in den Ausbau von Krippenplätzen und in die Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern investiert werden. Wenn Sie Ihre Rollenbilder nicht verändern, dann verändern Sie auch nichts an der Qualität von Erziehung und Bildung. Daran sollten Sie als Erstes arbeiten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Nun hat der Kollege Florian Hahn für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag spricht das Problem der Überalterung der Gesellschaft und – damit einhergehend – auch des Lehrkörpers an. Dieses Problem haben wir schon längst erkannt. Die Bundesregierung scheut keinen finanziellen Aufwand, um verbesserte Rahmenbedingungen in den Bereichen Bildung und Erziehung zu schaffen. Das haben meine Vorredner Ewa Klamt, Marcus Weinberg und andere bereits ausführlich dargestellt. Der in der letzten Sitzungswoche präsentierte Haushalt des BMBF ist Zeichen genug, dass der Bund seine durch den Föderalismus vorgegebene Verantwortung für die Bildungspolitik wahrnimmt. Aber auch für den Bildungsbereich gilt, dass all diese finanziellen Leistungen immer im Kontext mit dem finanziell Machbaren gesehen werden müssen. Damit haben die Antragsteller traditionell ein Problem. Das wissen wir alle, spätestens wenn wir auf die Haushalte schauen, die Sie in den von Ihnen mitregierten Ländern verantworten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frühkindliche Bildung, Qualifizierung der Erzieherinnen und Erzieher, Schulen stärken, gehaltvolles Studium sichern – das sind unsere Ziele. Genau so steht es im Koalitionsvertrag. Trotz rückläufiger Kinderzahlen wird nicht weniger, sondern mehr Geld in Bildung gesteckt. Mit Blick auf den vorliegenden Antrag ist festzuhalten, dass gerade die Bildungshoheit eine der wesentlichen Gestaltungsräume der Länder ist. Der Bund wird daher die Länder nicht aus ihrer – auch finanziellen – Verantwortung für das Bildungssystem entlassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie müssen selbst entscheiden, welche konkreten Maßnahmen sie für ihre Region, für ihr Land brauchen. Ich komme genauso wie Frau Schieder aus Bayern, und wir in Bayern stehen hinter dem Föderalismusgedanken und dem Wettbewerb um die besten Konzepte und Ergebnisse unter den Ländern. Das ist Kern unseres erfolgreichen föderalen Systems; das wollen wir auch nicht antasten. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das sollte Sie nicht daran hindern, junge Lehrer einzustellen!) – Zu den Lehrern komme ich gleich, Frau Schieder. – Auffällig ist aber, dass im Vergleich immer wieder die CDU/CSU-geführten Länder in den Rankings, bei PISA oder im Bildungsmonitor, besser abschneiden als die übrigen. Bayern hat derzeit – ich komme jetzt zu Ihrem Einwand, Frau Schieder – die höchste Lehrerzahl seit über 60 Jahren. Noch nie haben in Bayern so viele Lehrkräfte – hören Sie zu, Frau Schieder! – an staatlichen Schulen unterrichtet wie heute. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Oje!) Trotz weiter rückläufiger Schülerzahlen – allein vom letzten auf dieses Jahr waren es 50 000 Schüler weniger – investiert Bayern in Lehrerstellen. Allein mit dem Doppelhaushalt 2011/2012 schafft die Landesregierung schulartübergreifend 3 873 neue Lehrerstellen. Das sind im Übrigen netto mehr als 2 000. Schaut man auf das bis letzten Sonntag rot-rot regierte Berlin, so stellt man fest, dass Berlins Schulen in den PISA-Studien immer zielsicher auf den unteren Plätzen landen. Dass in Berlin „arm, aber sexy“ das generelle Motto von Rot-Rot unter Wowereit war und daraus resultierend die Lehrer mit wesentlich weniger Geld nach Hause gehen als in anderen Bundesländern (Zuruf von der LINKEN) – hören Sie einmal zu! –, wirkt sich natürlich auf die Motivation der Lehrer aus. Hier muss eine neue Regierung in Berlin aufräumen, am besten unter CDU-Beteiligung, (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) und richtige Anreize setzen, bevor Sie diese vom Bund fordern. Für uns zählen Qualität und individuelle Förderung. Deshalb halten wir von einem Bildungseinerlei nichts. Jedes Talent muss bestmöglich gefördert werden. Wichtig dabei ist die Durchlässigkeit des Systems. In Bayern schaffen wir übrigens zwei Dinge gleichzeitig: einen ausgeglichenen Haushalt – das schon seit sieben Jahren – und steigende Investitionen in die Bildung unserer Kinder. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Natürlich werden zukünftig mehr Lehrerinnen und Lehrer gebraucht. Die Zahlen der anstehenden Pensionierungen in den nächsten Jahren sind uns bekannt. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Warum stellen Sie dann nicht ein?) Die Hochschulen in Deutschland sind derzeit mit mehr als 2 Millionen Studienanfängern so attraktiv wie nie zuvor. Deshalb ist es umso wichtiger für den Beruf des Lehrers, des Pädagogen oder des Erziehers, die dafür befähigten Studenten zu finden und entsprechend auszubilden. Ein Pädagogikstudium muss aus Berufung ergriffen werden und darf nicht nur eine Notlösung darstellen, weil sonstige Karrierewege nicht eingeschlagen werden können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hier geht Qualität über Quantität. Daher geht die Forderung der Linken, 10 000 Lehrerinnen und Lehrer zusätzlich pro Jahr zur Verfügung zu stellen, völlig an der Realität vorbei. Wir brauchen kein neues Fachkräfteprogramm, sondern eine konsequente Umsetzung der bestehenden Programme, Bildungsbündnisse, Bildungsketten und die Weiterentwicklung des Ausbildungspakts. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das bringt aber keine Lehrerinnen und Lehrer!) Die Länder erhalten für den Ausbau des Lehramts bereits Unterstützung vom Bund aus dem Hochschulpakt. Ebenfalls bekommen sie Mittel vom Bund für die Erzieherausbildung an Hochschulen. Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung mit ihren Programmen von der frühkindlichen Erziehung über die Betreuung in Kindergärten bis hin zu einer mit den Ländern abgestimmten Bildungspolitik die richtigen Weichenstellungen vorgenommen hat. Die Umsetzung liegt allerdings bei den Ländern. Der vorliegende Antrag ist daher abzulehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Bei aller Kontroverse – eine Übereinstimmung hat das Präsidium festgestellt: Die Redezeiten wurden von allen Fraktionen ausgeschöpft. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Fachkräfteprogramm – Bildung und Erziehung – unverzüglich auf den Weg bringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7007, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2019 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Bericht des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2010 – Drucksache 17/6250 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, die dem Petitionsausschuss das ganze Jahr über zur Seite stehen, aus diesem Anlass herzlich hier begrüßen. (Beifall) Die fraktionsübergreifende Begrüßung gibt uns die Gelegenheit, die notwendigen Umgruppierungen hier im Saal so vorzunehmen, dass wir der ersten Rednerin zuhören können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsitzende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten Steinke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Kersten Steinke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Meine Damen und Herren! In § 48 der „Geschäftsordnung für die constituirende Nationalversammlung“ in der Paulskirche 1848 hieß es – ich zitie-re –: Dem Petitions-Ausschusse ist ein bestimmter Tag in jeder Woche zur Vorlegung seiner Berichte einzuräumen. Erst nach völliger Erledigung dieser Berichte kann zur anderweitigen Tagesordnung übergegangen werden. Stellen Sie sich nur einmal einen Moment vor, dieser Paragraf wäre in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufgenommen worden! (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre gut!) Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung, meine lieben Kolleginnen und Kollegen? (Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber keine Angst! Ich will bei weitem keine Eins-zu-eins-Übernahme fordern. Aber würde es wirklich schaden, wenn wir uns in jeder Sitzungswoche eine Stunde Zeit nähmen, Petitionen im Plenum inhaltlich zu diskutieren? Diese eine Stunde könnte manche nachfolgende Plenardebatte anders und nachdenklicher verlaufen lassen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Heutzutage stimmen wir im Parlament über sogenannte Sammelübersichten ab, die die Beschlussem-pfehlungen des Petitionsausschusses enthalten. Für rund 16 000 bis 18 000 Petitionen im Jahr ist das sicher eine zeitsparende Lösung. Aber werden wir damit dem Herzstück des Parlamentarismus, dem Art. 17 des Grundgesetzes, wirklich gerecht? (Günter Baumann [CDU/CSU]: Ja!) Immer wieder stellen wir fest, dass unsere Bürgerinnen und Bürger sehr sensibel auf politische Maßnahmen und Reformen reagieren und sich an das Parlament wenden. Die zahlreichen Briefe und Mails beweisen: Von Politikverdrossenheit und Vertrauensverlust ist da wenig zu spüren. Diesem Vertrauensvorschuss könnten wir noch besser gerecht werden, wenn wir Petitionen auch im Plenum diskutieren würden. Doch zurück zum Jahresbericht 2010. Im Durchschnitt gingen 66 Zuschriften und Mails pro Werktag beim Petitionsausschuss ein. Insgesamt waren es 16 849 Petitionen. 5 780 davon, also mehr als ein Drittel, kamen auf elektronischem Weg – und das mit steigender Tendenz. 15 993 Petitionen hat der Ausschuss im vergangenen Jahr abschließend behandelt, inklusive einiger Überhänge aus dem Vorjahr. Seit der Eröffnung der Internetplattform des Petitionsausschusses im Jahr 2005 finden unsere Seiten einen ständigen Zuspruch. Täglich wird auf diese rund 150 000-mal zugegriffen, was einer monatlichen Klickrate von über 4 Millionen entspricht. Das größte Interesse bei den Nutzerinnen und Nutzern der Internetseiten gilt natürlich den öffentlichen Petitionen. Davon gab es einige im vergangenen Jahr. Erinnern möchte ich an so erfolgreiche Petitionen wie die gegen die Einführung der ambulanten Kodierrichtlinien mit fast 500 000 Unterstützerinnen und Unterstützern oder die gegen die unzureichende Vergütung der Hebammen mit über 190 000 Unterzeichnungen. Besonders im Herbst 2010 erhielten wir viele Petitionen und Unterschriften gegen die Laufzeitverlängerung der AKW. Im Jahr 2010 haben sich 380 831 neue Nutzerinnen und Nutzer angemeldet. Sie haben sich aktiv in die Diskussion der verschiedenen Themen eingebracht, haben Petitionen mitgezeichnet oder kommentiert oder aber eigene Bitten und Beschwerden eingereicht. So weist die Statistik die unglaubliche Zahl von 1 754 579 Mitzeichnungen auf. Das ist mehr als eine Verdreifachung im Vergleich zum Vorjahr und, ich denke, sehr beachtlich. Im Jahr 2010 tagte der Petitionsausschuss viermal öffentlich. Diese Sitzungen wurden im Parlamentskanal und im Internet live übertragen. In den vier Sitzungen wurden zehn Petitionen beraten. Die Themen waren unter anderem die Sperrung von Internetseiten, das bedingungslose Grundeinkommen, der Verzicht auf weitere Privatisierung von Gewässern, eine Reform der GEMA und die unzureichende Vergütung sowie die hohen Haftpflichtprämien für Hebammen. Großen Zuspruch erhielt auch die Petition, welche die Verankerung eines Grundrechts auf berufliche Ausbildung im Grundgesetz zum Ziel hatte. Ihr haben sich 77 946 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner angeschlossen. Doch wie so oft im Leben finden sich gegenteilige Meinungen zu einem Thema auch in Petitionen. Hier ein Beispiel: Eine Sammelpetition zur Verschärfung des Waffenrechts fand 15 584 Unterstützerinnen und Unterstützer. Andererseits schlossen sich der Forderung nach einer Liberalisierung des Waffenrechts 7 386 Mitzeichnerinnen und Mitzeichner an. Meine Damen und Herren, kommen wir nun zu den einzelnen Ressorts und den Themenschwerpunkten: Obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den größten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen hatte, nahm es dennoch mit 3 344 Petitionen weiterhin den ersten Platz ein. Erneut war die Grundsicherung für Arbeitsuchende das Hauptthema, gefolgt von Eingaben zum Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. (Zurufe von der LINKEN: Hört! Hört!) Das Justizministerium steht mit 2 067 Eingaben an zweiter Stelle. Themen waren hier beispielsweise das Unterhalts- und Scheidungsrecht, das Sorgerecht bei nichtehelichen Kindern und das Recht bei Vertragsabschlüssen über das Internet. Gerade zu diesem Bereich gehen auch immer wieder Schreiben ein, in denen die Revision von gerichtlichen Entscheidungen gefordert wird. Hier sind dem Ausschuss allerdings die Hände gebunden; denn Art. 97 des Grundgesetzes garantiert die richterliche Unabhängigkeit. Somit liegen gewisse Entscheidungen außerhalb des Einflussbereiches des Petitionsausschusses. Beim Bundesministerium der Finanzen führen traditionell die Eingaben zum Steuerrecht die Liste an. Das Thema der Einkommensteuer steht nach wie vor an erster Stelle. Es gab allerdings weniger Eingaben zur Kraftfahrzeugsteuer, zum Bereich des Kredit- und Bankenwesens und zum Bereich des Wertpapierhandels. Beim Gesundheitsministerium dominiert das Thema „Beiträge zu den gesetzlichen Krankenkassen“, gefolgt von Einwänden zu Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Gestiegen ist die Zahl der Eingaben zum Bereich des Arzneimittelwesens. Auch das Bundesministerium des Innern verzeichnete einen Rückgang bei den Eingaben, und zwar von 1 952 im Jahr 2009 auf 1 606 im vergangenen Jahr. Das Aufenthalts- und Asylrecht mit rund 280 Eingaben bleibt aber weiterhin das Schwerpunktthema, gefolgt von Fragen zur Versorgung der Beamten oder zu dem neu eingeführten elektronischen Personalausweis. Ein großer Anteil entfiel auf Vorschläge zur Änderung des Wahlrechts und zur Einführung von Volksentscheiden. Eine Reihe von Petitionen gab es auch zur Änderung des Grundgesetzes, zum Beispiel die Forderungen nach Einführung eines Grundrechtes auf Arbeit oder nach Verankerung der Rechte von Kindern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitglieder des Ausschusses machen ihre Entscheidungen nicht nur von den ihnen vorliegenden Akten abhängig, sondern sie verschaffen sich auch vor Ort einen persönlichen Eindruck. So ging es bei zwei Ortsterminen um den Lärmschutz an Schienenwegen und in einem weiteren Fall um die Forderung nach Schließung eines Luft- und Bodenschießplatzes der Bundeswehr. Ich möchte die heutige Debatte dazu nutzen, mich bei allen Ausschussmitgliedern zu bedanken, die sich mit viel Engagement in die immer wieder neue und sehr differenzierte Materie der einzelnen Anliegen einarbeiten müssen. Es sind teilweise sehr tragische Einzelschicksale, die die Ausschussmitglieder – das darf ich hier sicherlich für alle Mitglieder des Petitionsausschusses sagen – vor schwerwiegende Entscheidungen stellen. Wenn wir dann gemeinsam den Petenten helfen können, sind wir auch gemeinsam froh. Wenn wir allerdings trotz Ausschöpfens aller Möglichkeiten nicht helfen können, ist es für alle eine bittere Erfahrung. Die oft sehr angeregten Diskussionen über die einzelnen Eingaben und die Entscheidungen bezüglich des weiteren Vorgehens führen nicht immer zu einstimmigen Entscheidungen, aber sie sind dennoch ausschließlich von dem Ziel bestimmt, das Beste für die Petentinnen und Petenten zu erreichen. Darüber hinaus möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes für ihre fleißige Arbeit zu bedanken. (Beifall im ganzen Hause) Sie sorgen dafür, dass mit einer dünnen Personaldecke bei stetiger Fluktuation auf der Sachbearbeiter- wie auch Referatsleiterebene kontinuierlich die vielen Eingaben und Akten bearbeitet, Stellungnahmen bewertet, Berichterstattergespräche, Ortsbesichtigungen und Obleutegespräche vor- und nachbereitet werden. Das ist nicht immer einfach, aber sie machen es fast ausnahmslos mit Bravour. Dafür unseren herzlichen Dank. (Beifall im ganzen Hause) Diesem Dank muss ich aber auch eine kritische Anmerkung anschließen. Daran, dass ich in meiner nunmehr sechsjährigen Amtszeit bereits den dritten Unterabteilungsleiter verabschieden musste, habe ich mich fast gewöhnt. Nicht gewöhnen kann und will ich mich allerdings daran, dass wir als Petitionsausschuss binnen eines Tages des Unterabteilungsleiters beraubt wurden, der für 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich ist, nach einer Woche dann eine Ausschreibung mit einer Frist von zwei Wochen erfolgte und wir im günstigsten Fall nach vier Wochen die Stelle neu besetzt bekommen. Dieses Verfahren zeugt in meinen Augen von wenig Achtung gegenüber der Arbeit des Petitionsausschusses und macht mich genauso unzufrieden wie die jährliche Platzierung der Debatte zum Jahresbericht auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Günter Baumann hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Günter Baumann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf die soeben gestellte Frage unserer Vorsitzenden, ob wir mit unserem jetzigen Verfahren Art. 17 Grundgesetz gerecht werden, möchte ich sehr gern antworten, und zwar mit einem ganz klaren Ja. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir unserem Auftrag gerecht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stellen Sie sich einmal vor, wir antworteten auf individuelle Probleme und persönliche Anliegen, mit denen sich die Bürger an uns wenden, im Rahmen einer Plenardebatte. Bei den Sonntagsreden, die hier manchmal gehalten werden, wäre das auf keinen Fall möglich, wobei wir vom Thema Datenschutz überhaupt nicht reden wollen. Ich glaube also, dass man das so nicht machen kann. Nicht umsonst tagen auch unsere Fachausschüsse in der Regel nichtöffentlich. Worum es bei der Arbeit im Petitionsausschuss geht und welche Erfolge wir erreichen können, lässt sich am besten anhand eines Beispiels darstellen. Eine Petentin hat sich 2005 an den Deutschen Bundestag gewandt und begehrt, dass bei der Anrechnung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung keine unterschiedlichen Freibeträge in Ost und West mehr angerechnet werden sollen – ein durchaus vernünftiges Anliegen. In der Stellungnahme hat das Ministerium für Arbeit und Soziales dem 2006 zunächst nicht Rechnung tragen können. Wir haben als Petitionsausschuss den Beschluss gefasst, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen. Das ist das höchste Votum, das es gibt. Wir haben die Petition weiter intensiv verfolgt, haben Schreiben verfasst und Gespräche geführt. Seit dem 1. Juli 2011 ist das Thema erledigt. Das Bundesversorgungsgesetz und andere Vorschriften wurden geändert. Das heißt, die Freibeträge sind nunmehr in Ost und West gleich. Dieses positive Beispiel zeigt, dass Petitionsarbeit erfolgreich sein kann, dass es manchmal aber viel Zeit und auch Hartnäckigkeit braucht. Wir müssen einfach dranbleiben. Dann können wir für die Petentinnen und Petenten ein gutes Ergebnis erreichen. Als Abgeordneter aus den neuen Bundesländern freue ich mich natürlich über diese Petition ganz besonders, weil es auf einem weiteren Gebiet gelungen ist, den Unterschied zwischen Ost und West abzubauen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag ist für jedermann auf direktem Wege zugänglich. Nach Art. 17 Grundgesetz hat jedermann das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zu wenden. Neben dem Wahlrecht und dem individuellen politischen Engagement, zum Beispiel in Parteien, bietet das Petitionsrecht die Möglichkeit, sich direkt in die Politik einzubringen. Politische Beteiligung – darauf möchte ich besonderen Wert legen – ist damit für die Menschen leicht erreichbar. Wenige Mausklicks oder ein einfacher Brief reichen aus, um sich zu beteiligen. Von dieser Beteiligungsmöglichkeit haben 2010 knapp 17 000 Bürgerinnen und Bürger Gebrauch gemacht. Rechnet man Massenpetitionen, übergebene Unterschriftenlisten und die elektronische Unterstützung im Internet hinzu, stellt man fest, dass sich etwa 1,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger an unserem Petitionswesen beteiligt haben. Ich denke, das ist ein sehr gutes Ergebnis. Die Zahlen belegen aus meiner Sicht eindrucksvoll: Erstens. Das Petitionswesen ist in unserem Land bekannt und wird von den Bürgerinnen und Bürgern genutzt. Zweitens. Die Menschen vertrauen uns, wenn es um die Unterstützung bei individuellen Bitten und Beschwerden und um die Lösung persönlicher Fragen geht. Drittens. Wir sind ständig aufgefordert, noch nicht gelöste Probleme in der Politik anzupacken und zu bearbeiten. Nach wie vor kommen, prozentual auf die Einwohnerzahl bezogen, die meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern. Auch wenn die Zahlen abnehmen, muss man sagen: Das Bild des „meckernden Ossis“ ist noch nicht ganz verblasst, aber es wird zumindest schwächer. Das Petitionswesen ist im vereinten Deutschland inzwischen auf beiden Seiten angekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt bei Petitionen aber immer noch ganz spezielle Ostthemen, zum Beispiel Rentenprobleme oder auch offene Vermögensfragen. Oft wird gefragt, wie erfolgreich wir sind. Auf diese Frage möchte ich klipp und klar antworten: 2010 sind 43 Prozent der eingegangenen Petitionen positiv für den Petenten ausgegangen. Das ist ein großer Erfolg, auf den wir stolz sein können. (Beifall im ganzen Hause) An dieser Stelle möchte ich mich, genau wie die Vorsitzende, im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes ganz herzlich für ihre Arbeit bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ohne ihre sachliche Vorarbeit wäre eine Bearbeitung durch uns nicht möglich. In manchen Fällen muss der Ausschussdienst zwar aushalten, dass die Abgeordneten dann doch eine andere Meinung haben als der Ausschussdienst; das gehört aber nun einmal dazu. Ich möchte mich auch bei meinen Kollegen in der Arbeitsgruppe der CDU/CSU ganz herzlich bedanken. Wir sind eine dufte Truppe. Man merkt: Jedem macht es Spaß, jeder bringt sich ein. Das Anliegen, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, ist jedem eine Herzenssache. Mein herzlicher Dank gilt auch allen Mitgliedern im Ausschuss, über Fraktionsgrenzen hinweg. Leider musste ich in den letzten Monaten jedoch feststellen, dass die Opposition das Petitionsrecht zunehmend als politische Plattform nutzt. Das sollte so nicht sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn überhaupt, dann ist das Gegenteil der Fall! – Weitere Zurufe von der SPD) – Kollege Lemme, das muss man schon einmal sagen. – Ich habe kein Verständnis für die teilweise eklatant hohen Voten der Opposition. Durch diese hohen Voten werden den Petenten falsche Hoffnungen gemacht. Ich habe kein Verständnis dafür, dass Sie sehr oft Anträge auf Darlegung des Votierverhaltens stellen. Das ist nicht Sinn der Sache. Bei über 90 Prozent der allein heute früh im Ausschuss behandelten Petitionen wurden von den Oppositionsfraktionen Anträge auf Einzelausweisung nach 8.2.2 unserer Verfahrensregeln gestellt. Unsere Verfahrensgrundsätze sagen eigentlich etwas anderes aus. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen sie geändert werden!) – Bringen Sie es ein; dann reden wir darüber. – Das Petitionsrecht ist nicht für Populismus oder politische Profilierung da; das muss man eindeutig sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für uns in der CDU/CSU-Arbeitsgruppe ist ganz klar: Das Problem des Petenten steht im Mittelpunkt. Wir möchten uns um die ganz konkreten Fälle kümmern und sie realistisch bewerten. Wir wollen dem Bürger helfen, soweit dies möglich ist. Der Petitionsausschuss ist kein Fachausschuss, das muss deutlich gesagt werden. Ich möchte zum Schluss ein Beispiel aus unserer Arbeit nennen. Wir hatten vor kurzem einen Ortstermin an einer Bahnstrecke in Boizenburg. Dort stand das Thema Lärmschutz im Mittelpunkt. Es ging um Wohnhäuser, die direkt an einer Bahntrasse mit 179 Zugfahrten pro Tag stehen. Das führte natürlich zu einer enormen Lärmbelästigung. Wir haben dort erreicht, dass die Priorisierungskennziffer auf 3,198 erhöht wurde. Das Umsetzungszeitfenster der Lärmschutzmaßnahme wurde außerdem wesentlich verkürzt. Wir haben also konkret geholfen, wenn auch nicht sofort gebaut wird. Der größte Lohn für unsere Arbeit war ein Schreiben der Petenten, in dem zu lesen war – ich darf zitieren –: Vielen Dank für Ihren Einsatz und Ihre Bemühungen, dass sich unsere Lage in Bezug auf den Bahnlärm verbessert, vor allen Dingen, dass Sie sich persönlich von der Wichtigkeit einer Schallschutzmaßnahmen überzeugt haben. Fazit: Wir haben Vertrauen gewonnen, Politikverdrossenheit abgebaut und sind der Lösung des Problems näher gekommen. Diesen erfolgreichen Weg möchten wir weiter beschreiten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Sonja Steffen hat für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Herren! Die meisten von uns Mitgliedern des Petitionsausschusses können inzwischen auf zwei Jahre Tätigkeit zurückblicken. Vermutlich geht es Ihnen so wie mir: Die Arbeit in diesem Ausschuss macht viel Freude, weil sie konkrete Einzelfälle und Lebensschicksale betrifft. Es geht um Themen, die mitten aus dem Leben unserer Bürgerinnen und Bürger kommen. Uns Parlamentariern wird über die Petitionen der Unmut über bestimmte politische Entscheidungen vor Augen geführt. Wir werden auf Missstände in der Verwaltungspraxis und auf Fehler und Lücken in Gesetzen aufmerksam gemacht. Diese Rückkoppelung ist für uns als Kontrollinstanz gegenüber der Bundesregierung und als Gesetzgeber von großer Bedeutung. Heute Morgen haben wir im Petitionsausschuss darüber debattiert, ob wir bei Gesetzentwürfen mitberatend tätig werden sollten. In diesem Zusammenhang lag uns eine Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vor. Leider haben Sie sich, meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, geweigert, ein mitberatendes Votum abzugeben, mit der Begründung, Herr Baumann – ich zitiere –: Das hat der Petitionsausschuss noch nie gemacht. (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! – Zu Recht! – Aus gutem Grund!) Ich muss Ihnen hier deutlich widersprechen. Gerade durch die Einsicht in konkrete Einzelfälle können wir in bestimmten Bereichen einen wichtigen und kompetenten Beitrag leisten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Dann tagen wir vier Stunden!) Das Wissen, das wir durch Petitionen gewinnen, die Rückkoppelung zur Bevölkerung darf im parlamentarischen Verfahren nicht unberücksichtigt bleiben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günter Baumann [CDU/ CSU]: Also alle Gesetze auch in den Petitionsausschuss überweisen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Steffen, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kauder? Sonja Steffen (SPD): Ja. Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte. Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Frau Kollegin Steffen, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir uns nicht verweigert haben, sondern dass wir prüfen lassen werden, ob wir in diesem Fall zuständig sind? Wenn Sie es besser gewusst hätten, hätten wir gerne mit abgestimmt. Aber wir wussten es alle nicht. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So einfach ist das!) Sonja Steffen (SPD): Herr Kollege Kauder, ich gebe Ihnen darin recht. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Sie wussten es auch nicht!) So war es. Wir lassen die Zuständigkeit prüfen. Aber Sie werden mir recht geben, dass Ihr Kollege Baumann vorab gesagt hat, dass es im Petitionsausschuss nicht üblich sei, dass wir bei Gesetzentwürfen mitberatend tätig werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günter Baumann [CDU/ CSU]: So ist es bisher! Eindeutig! Das ist hundertprozentig richtig gewesen!) Das Petitionsrecht ist das einzige Mittel der direkten Beteiligung des Volkes auf der Bundesebene. Wir müssen diesem Recht auch an dieser Stelle die ihm zukommende Bedeutung beimessen. Wir haben heute Morgen außerdem über eine öffentliche Petition mit 1 400 Unterstützerunterschriften beraten, die sich erneut gegen Niedriglöhne und sittenwidrige Gehälter wendete; Sie werden sich erinnern. Uns erreichen sehr viele Petitionen, die einen gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn fordern. Sie sehen, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition, auch diese Forderung kommt mitten aus dem Volk. Wir hoffen, dass sie in absehbarer Zeit auch in Ihren Köpfen ankommt, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) damit endlich eine gesetzliche Umsetzung erfolgen kann. Auch dieser Jahresbericht zeigt wieder, dass die verhältnismäßig meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen. Brandenburg steht hinsichtlich der Zahl der eingereichten Petitionen auf Platz eins, gefolgt von allen anderen neuen Bundesländern auf den Rängen zwei bis sechs. Den letzten Platz unter den Bundesländern nimmt übrigens Baden-Württemberg ein. Spiegelt sich in der Zahl der Eingaben aus den einzelnen Bundesländern vielleicht auch die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger wider? Ich denke, Herr Baumann, wir sind uns einig: Es liegt nicht am meckernden Ossi. Aber ich glaube, dass wir im Osten besondere, spezifische Probleme haben, die bisher nicht gelöst werden konnten. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Da haben wir in einem Punkt mal die gleiche Meinung!) Gerade im Bereich der Ostrenten erreicht uns eine große Zahl von Petitionen. Sie haben vorhin auf ein Beispiel hingewiesen, das wir lösen konnten. Aber die Probleme sind immer noch vielfältig und die gefühlte Ungerechtigkeit ist hier besonders groß. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kein Wunder!) Ich denke, viele von uns sind sich darin einig, dass wir das nicht einfach so stehen lassen können. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit ist ein Unterschied zwischen Ost- und Westrenten nicht mehr erklärbar und auch nicht mehr hinnehmbar. Ich möchte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wieder einmal an Ihren Koalitionsvertrag erinnern. Sie haben dort vereinbart, sich des Themas anzunehmen. Es muss eine gerechte Angleichung der Renten noch in dieser Legislaturperiode angestoßen werden; das haben Sie formuliert. Im Petitionsausschuss können wir mit unseren Voten in dieser Hinsicht einen ersten Schritt tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich muss leider ein bisschen auf die Uhr schauen. Ich hatte vor, noch einige Ausführungen zum Bereich Visavergabepraxis, Aufenthaltsrecht und Asylrecht zu machen. Aber ich denke, Herr Dr. Ott, Sie werden sich dieses Themas annehmen. Ich meine, dass wir auf diesem Gebiet noch eine Menge tun könnten und tun sollten, und glaube, dass wir gerade in diesem Bereich mit unserer Hartnäckigkeit einen wichtigen Teil zu guten Entscheidungen beigetragen haben. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich uns alle loben. Es gab Petitionen, bei denen wir alle gemeinsam und fraktionsübergreifend auf Einzelfälle erfolgreich Einfluss nehmen konnten. Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle bei allen Ausschusskollegen ausdrücklich für die kooperative Zusammenarbeit bedanken. (Beifall im ganzen Hause) Es sind auch und gerade solche schwierigen Einzelfälle – darauf haben Sie schon hingewiesen, Frau Vorsitzen-de –, die uns durch einen erfolgreichen Abschluss für die intensive und sehr zeitaufwendige Arbeit im Petitionsausschuss belohnen. Mein besonderer Dank – wir haben das vorhin schon gehört; die Vorsitzende hat es bereits ausgesprochen, Sie auch, Herr Baumann, und ich möchte mich anschlie-ßen – gilt an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes. Durch ihre hervorragende und gründliche Arbeit können sie viele Eingaben der Bürgerinnen und Bürger bereits im Vorfeld lösen. Sie nehmen uns eine Menge Arbeit ab und stehen uns immer zur Verfügung, wenn es Rückfragen gibt und eine genauere Aufklärung erforderlich ist. Der konkrete Einsatz für die Menschen und ihre Anliegen macht den Petitionsausschuss so bedeutend. Ich hoffe auch weiterhin auf eine gute Zusammenarbeit und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Als Nächster spricht nun der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Peter Röhlinger (FDP): Ich bin es als früherer OB gewohnt, nach einem Konsens zu suchen. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir – so wie auch heute – einen ganzen Teil der Beschlussvorlagen sehr schnell einstimmig beschließen können. Im Bundestag ist das sonst durchaus nicht üblich; aber in unserem Ausschuss kommt es mehrheitlich vor. Im Übrigen werden einige Petitionen an die zuständigen Ministerien weitergeleitet, und zwar, wenn wir den Inhalt für so wichtig halten, dass er weiter bearbeitet werden sollte, wir jedoch keine Abhilfe leisten können. Petitionen machen uns Abgeordnete darauf aufmerksam, mit welchen Problemen Bürgerinnen und Bürger manchmal zu kämpfen haben, wo sie Ungerechtigkeiten erfahren, wo Gesetze unzulänglich sind, wo sie sich über wuchernde Bürokratie ärgern oder sich von Behörden im Stich gelassen fühlen. In vielen Fällen – auch das muss gesagt werden – können wir allerdings nicht helfen. Zum Beispiel entscheidet natürlich nicht der Bundestag darüber, welche Medikamente von der Krankenversicherung bezahlt werden und welche nicht. Die Fristen, die die Bundesagentur für Arbeit setzt, wenn es zum Beispiel um den Leistungsbezug geht, kann der Deutsche Bundestag nicht in jedem Einzelfall individuell anpassen. Wichtig ist mir aber, dass jeder Beschluss so gut wie möglich erklärt und so verständlich wie möglich begründet wird. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE]) Jeder Petent soll merken, dass sein Anliegen verstanden worden ist. Auch wenn wir dem Anliegen nicht abhelfen können, soll er zumindest verstehen, warum wir nicht helfen können. Ich bin von Beruf Tierarzt und damit einer der wenigen Nichtjuristen im hochheiligen Petitionsausschuss. Ich verstehe die vielen Zuschriften von Menschen, die ein Papier sehen und das Gefühl haben, sie bräuchten jemanden, der ihnen das übersetzt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich gebe mir also Mühe. Wenn ich es verstehe, gehe ich davon aus, dass es auch der Empfänger versteht. Mir fällt aber auf, dass das Wissen darüber, wie unser demokratischer Rechtsstaat, zum Beispiel die Gewaltenteilung, funktioniert, manchmal etwas lückenhaft ist. Es ist Petenten manchmal nicht bewusst, dass der Petitionsausschuss weder Gerichtsurteile beeinflussen noch Behörden Anweisungen geben kann. Hier gibt es noch viel Aufklärungsbedarf. Wir sind dabei, die Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses weiter zu verbessern. Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass wir 2010 zehn Petitionen in öffentlicher Sitzung beraten haben. Auch dadurch erhalten wir eine gewisse Aufmerksamkeit. Etliche Petitionen haben über einen längeren Zeitraum mehr als 50 000 Unterstützer gefunden. Der Petitionsausschuss ist dadurch bekannter geworden. Wir sollten diese Möglichkeiten also durchaus nutzen. Ich sehe, dass mich die Präsidentin mahnen will, mich kurz zu fassen. Vizepräsidentin Petra Pau: Die Präsidentin ist schon ganz glücklich, dass die Rednerinnen und Redner das bei diesem Tagesordnungspunkt zur Kenntnis nehmen; das ist ein Fortschritt. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause – Dr. Hermann Ott [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind halt besser!) Dr. Peter Röhlinger (FDP): Ich will noch zwei Gedanken äußern: Erstens. Ich freue mich, dass sich nicht nur Bundesbürger an uns wenden können, sondern alle, die in der Bundesrepublik Deutschland zu Hause sind und in unserem Lande leben. Zweitens. Das deutliche Wachstum bei den Onlinepetitionen zeigt, dass wir eine neue Generation erreichen. Wir brauchen nicht zu fürchten, dass eine Facebook-Generation die Regierung stürzt. Denn sie kann sich voller Vertrauen an uns wenden. Dadurch können wir ein Stück weit Frust abbauen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bedanke mich bei Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit, aber zuvörderst bei Ihnen, Frau Steinke, der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, für die nach meiner Ansicht wohltuende Atmosphäre – ich hoffe, wir können das so fortsetzen – (Günter Baumann [CDU/CSU]: Na ja!) und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die fleißige Unterstützung. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Hermann Ott das Wort. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Geehrte Mitglieder des Ausschussdienstes! Heute Morgen erst hatten wir unsere Sitzung. So sehr ich mich auch freue, Sie alle hier wiederzusehen, muss ich doch sagen: Eigentlich würde ich hier gerne ein paar Leute mehr sehen. Eigentlich müsste das Plenum jetzt rappelvoll sein, (Beifall im ganzen Hause) wenn auch nicht so voll wie bei der Elefantenrunde – das ist klar –; denn natürlich können wir bei der Debatte über den Jahresbericht des Petitionsausschusses keine imposanten Großtiere aufbieten, keine Merkels, Steinmeiers, Gysis oder Trittins, die mit viel Getöse aufeinander losgehen. Die Bude müsste aber trotzdem voll sein, weil alle Mitglieder des Bundestages an unserer Debatte interessiert sein müssten; denn der Petitionsausschuss deckt den gesamten Bereich, das gesamte Spektrum des Bundestages und der Politik ab. Wir, die wenigen Mitglieder des Ausschusses, vertreten die fachlichen Interessen all unserer mehr als 600 Kolleginnen und Kollegen. Die doch recht überschaubare Zahl unserer Zuhörer im Plenum versinnbildlicht deshalb ein kleines Problem: Unserem Ausschuss fehlt es an Glanz; er gilt nicht als cool. Umso wichtiger ist es, Ihnen zuallererst für die gute Zusammenarbeit zu danken. Dazu gehört natürlich auch der Dank an diejenigen, ohne die wir überhaupt nicht arbeitsfähig wären, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes, in den Fraktionen und in unseren Büros. Danke für Ihren hervorragenden Einsatz im letzten Jahr! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dadurch konnten wir die nicht unbeträchtliche Arbeit des Ausschusses bewältigen. Ich bin ja im „Nebenberuf“ auch klimapolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion und freue mich deshalb, dass sich der Bereich der Umweltpolitik so gut entwickelt hat: Die Anzahl der umweltrelevanten Petitionen ist um 15 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Petitionen, die sich auf den Bereich des Verbraucherschutzes und der Landwirtschaft beziehen, ist sogar um 45 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass die Menschen Umwelt- und Verbraucherschutz ernst nehmen, und das ist auch gut so. Aber es gibt natürlich viel Raum für Verbesserungen, viel Raum, um dem Petitionsausschuss mehr Glanz und Bedeutung zu verleihen, um an die Anfangsbemerkung anzuschließen, zum Beispiel durch Verbesserungen in Bezug auf die öffentlichen Petitionen. Eine der wichtigsten Fragen ist natürlich: Wie lang sollte die Zeichnungsfrist für die 50 000 Unterschriften sein, die man braucht, damit eine Petition öffentlich im Ausschuss beraten wird? Im Moment stehen dafür gerade einmal drei Wochen zur Verfügung. Das ist zu schaffen, wie die Petition zur Internetsperre und vor ein paar Tagen die Petition zur Vorratsdatenspeicherung gezeigt haben, aber nur mit einem sehr gut organisierten Netzwerk im Hintergrund; denn es ist doch so, dass die Menschen auch im Zeitalter der elektronischen Kommunikation eine gewisse Zeit brauchen, um auf öffentliche Anliegen zu reagieren. Es macht deshalb Sinn, diesen Zeitraum zu verlängern. Wir haben acht Wochen vorgeschlagen. Die Kolleginnen und Kollegen von der FDP können sich anscheinend einen ähnlichen Zeitraum vorstellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das zusammen machen. Verbessern wir die demokratische Mitwirkung für alle Menschen in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP]) Dieser Aufruf richtet sich natürlich vor allem an die Kolleginnen und Kollegen von der Union. Ja, Sie hören richtig. Diesmal ist es nicht Ihr Koalitionspartner, der eine sachgerechte Politik erschwert, sondern Sie selbst. Arbeiten Sie mit an der Schaffung eines demokratischen Petitionsrechts. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Ist unser Recht jetzt nicht demokratisch?) Auf Ihrer Webseite klingt das anders – ich zitiere –: Allerdings ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass der Petitionsausschuss … kein Instrument zur direkten Demokratie ist. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Wir haben ein Grundrecht! Das ist ein demokratisches Recht!) Zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man die Entwicklung des Petitionsrechts nicht wahrhaben will. Es stimmt: Im Mittelalter war dieses Recht als Gnadenrecht ausgestaltet. Aber – meine Damen und Herren von der Union, Sie wissen, was jetzt kommt – wir leben nicht mehr im Mittelalter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das haben wir noch nicht gewusst!) Vielmehr haben wir durch die öffentlichen Petitionen die Möglichkeit geschaffen, dass Einzelne, aber auch Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern Gesetzesinitiativen anstoßen können. Dieses Instrument nutzen sie in Scharen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Ott, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kauder? Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, danke. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zu feige, eine Frage zu beantworten!) Das Volk setzt sich über das Instrument der elektronischen Petition direkt für eine bessere Politik ein – erinnern Sie sich an einige unserer Beratungen –: Sie setzen sich zum Beispiel für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein und dafür, den Klimaschutz ins Grundgesetz aufzunehmen. Wenn das kein Instrument der direkten Demokratie ist, dann weiß ich nicht, was das sein soll. Wir geben den Menschen die Möglichkeit, ihre Anliegen mit öffentlicher Unterstützung direkt hier im Bundestag vorzutragen. Wir fördern das Interesse und die Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger an der Politik und an der Demokratie. So soll es sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, werbe ich für etwas mehr Mannesmut und natürlich auch Frauenmut vor Königsthronen. Helfen Sie mit, alle Fraktionen vom Wert dieses demokratischen Instruments zu überzeugen und es zu verbessern. Damit tun wir einen großen Dienst an der Demokratie und an den Menschen, und nebenbei verleihen wir dem Petitionsausschuss und seinen Mitgliedern etwas mehr Lametta, wie der Berliner sagt. Das ist, so meine ich, unser aller Anstrengung wert. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie mit Lametta kann ich mir gut vorstellen! – Zuruf von der FDP: Früher war mehr Lametta!) Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kauder das Wort. Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Herr Kollege Ott, wenn Sie es uns nicht gesagt hätten, wären wir fast geneigt gewesen, zu meinen, wir seien im Mittelalter. Sie haben so argumentiert. Für uns ist die Verfassung maßgeblich. Wenn Sie Art. 17 des Grundgesetzes lesen, wissen Sie, warum wir damit keine direkte Demokratie einführen, sondern ein Beschwerderecht: Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Es geht nicht um Volksbefragung, sondern um ein Beschwerderecht. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil!) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben das Wort zur Erwiderung, Kollege Ott. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Kollege Kauder, Sie zitieren natürlich ganz richtig, aber dort steht nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes nicht Anregungen zur Gesetzgebung geben dürfen. Um nichts anderes geht es in diesem Fall. Man wendet sich mit Anliegen an den Petitionsausschuss und weist auf eine Lücke in der Gesetzgebung hin oder auf etwas, das falsch geregelt ist und verbessert werden sollte. Der Petitionsausschuss kann sich dies anhören und dann sagen: Ja, das finden wir auch, wir schlagen vor, dass eine entsprechende Gesetzesregelung im Bundestag getroffen wird. Es kann auch sein, dass er es nicht so sieht wie der Petent. Auch das ist das gute Recht des Petitionsausschusses. Es geht hier nicht um direkte Entscheidungen des Volkes, sondern um Anregungen, was – das möchte ich betonen – nicht wenig ist. Ich denke, wir sind in diesem Lande auf diesem Gebiet ein gutes Stück vorangekommen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Dr. Ott, am Schluss Ihrer Ausführungen, als Sie sich den Petitionsausschuss mit Lametta vorgestellt haben, musste man schmunzeln. Der Bürger erwartet von uns aber kein Lametta, keinen vordergründigen Glanz, er erwartet die Lösung seiner Probleme. Ich glaube, wir sollten uns nicht mit Lametta behängen, sondern wir sollten Probleme lösen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Mitglieder des Petitionsausschusses mögen zwar weniger im Rampenlicht stehen als die Mitglieder anderer Ausschüsse, jedoch kann ich aus meiner nunmehr fast sechsjährigen Tätigkeit im Petitionsausschuss bestätigen, dass es keinen anderen Ausschuss gibt, in dem man als Volksvertreter eine so unmittelbare Berührung mit den Anliegen der Wählerinnen und Wähler erfährt. Getreu unserem Grundsatz „Näher am Menschen“ verstehen wir uns als Anwälte der Menschen. Im verfassungsrechtlich verankerten Petitionsausschuss, dem Seismografen des Parlaments, erfahren wir als Erstes, wo den Wählerinnen und Wählern der Schuh drückt und was sie beschäftigt, und erhalten so das notwendige Feedback und Antworten auf die Frage, wo Korrekturbedarf besteht. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich immer mehr Bürger dieses grundlegenden Rechts bewusst werden, es anwenden und sich von uns Hilfe versprechen. Wie Sie sich sicherlich denken können, ist dies besonders im Bereich „Arbeit und Soziales“ der Fall, für den ich im Petitionsausschuss schwerpunktmäßig Bericht erstatten darf. Das Ressort „Arbeit und Soziales“ ist, wie auch in den letzten Jahren, mit etwa 20 Prozent der Eingaben – im letzten Jahr waren es 3 344 – das Ressort mit den meisten Zuschriften. Zum Aufschrei von einigen Kollegen aus der Linkspartei, lieber Kollege Birkwald, liebe Kollegin Kipping, das seien so viele, muss ich sagen: Dies indiziert nicht, dass es ein Anwachsen gibt bzw. dass die Probleme in diesem Bereich zugenommen haben. Diese Regierungskoalition hat eine gute Arbeit gemacht. Deshalb gibt es hier einen Rückgang um 20 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja doch Humor, Herr Lehrieder!) Von den Themen her bildet mit etwa 1 000 Petitionen erneut die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II das Schwergewicht der Eingaben. Erlauben Sie mir ein konkretes Beispiel. In einer Petition im Berichtsjahr 2010 kritisierte der Petent, dass die ALG-II-Empfänger im Rahmen der ihnen zustehenden Geldleistungen einen Zuschuss zur Krankenversicherung erhielten, der jedoch nicht den Tarif der privaten Krankenversicherung abdeckte. Aufgrund der für den Leistungsempfänger weiterhin bestehenden Pflicht, Beiträge für die Krankenversicherung zu zahlen, sammelten sich für die Dauer der Hilfsbedürftigkeit in zunehmender Höhe Schulden an, die er in keiner Weise vermeiden könne. Der Petitionsausschuss war hier bereits lange vor dem entsprechenden Urteil des Bundessozialgerichtes der Auffassung, dass diese Rechtslage unhaltbar ist, und sah die Petition als begründet an, und zwar parteiübergreifend; einige Redner haben bereits darauf hingewiesen. Wir sind ja an vernünftigen Ergebnissen orientiert. Es ist wirklich wohltuend – auch das kann ich bestätigen –, dass die offizielle Parteidoktrin hier in der Regel keine große Rolle spielt, sondern dass man wirklich um sachorientierte Lösungen bemüht ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie gesagt: Der Petitionsausschuss sah die Petition als begründet an. Auf Empfehlung des Ausschusses überwies der Deutsche Bundestag die Eingabe der Bundesregierung zur Berücksichtigung und verband hiermit die Aufforderung, Abhilfe zu schaffen. Dies bestätigte auch das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 18. Januar 2011, wonach ein privat krankenversicherter Bezieher von ALG-II-Leistungen die Übernahme seiner unterhalb des hälftigen Höchstbetrages zur gesetzlichen Krankenversicherung liegenden Beiträge zur privaten Krankenversicherung im Wege einer analogen Anwendung der für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Personen geltenden Regelung von dem SGB-II-Träger beanspruchen kann. Damit ist das Bundessozialgericht konsequenterweise dem Votum des Petitionsausschusses gefolgt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) An diesem Beispiel können Sie sehen, dass der Petitionsausschuss in konkreten Fällen Probleme zu lösen und Abhilfe zu schaffen vermag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie am vorangegangenen Beispiel deutlich wurde, münden die Anliegen, die die Bürger gegenüber dem Bundestag vortragen, häufig in konkrete Entscheidungen und Korrekturen. Für den Petenten ist wichtig, zu sehen, dass das Petitionsrecht nicht, wie so oft behauptet, ein stumpfes Schwert in der Hand des Bürgers ist, sondern durch die Befassung des Petitionsausschusses direkt zu einem öffentlichen Anliegen wird. Ich darf Ihnen, Frau Kollegin Steinke, bestätigen: Sie haben sich auch im vergangenen Jahr redlich bemüht, den Ausschuss sachlich sowie fachlich korrekt und neutral zu führen. Dafür ein herzliches Wort des Dankes! (Beifall im ganzen Hause) Ebenfalls darf ich mich sehr herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschusses bedanken. Wir machen es Ihnen nicht immer leicht; aber ich glaube, im Großen und Ganzen können Sie mit uns Abgeordneten ganz gut leben. Ich darf mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion bedanken. Auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit und darauf, dass wir den Bürgern als ihre Anwälte auch in den nächsten Jahren helfen können! Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Es ist auch immer schön mit dir, Paul! Das muss mal gesagt werden!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ingrid Remmers (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Sehr geehrte Damen und Herren! Dies ist nun meine zweite Rede zu einem Jahresbericht des Petitionsausschusses. Ich kann sagen: Dieser Ausschuss ist nach wie vor so lebendig wie kein anderer. Wir sind schließlich diejenigen, die anhand der oft sehr umfangreichen Akten einen Eindruck davon bekommen, welche tatsächlichen Auswirkungen Bundesgesetze in der Umsetzung haben und welche daraus entstehenden Zustände unhaltbar sind. Ich freue mich immer dann besonders, wenn auch die Regierungskoalition ein Einsehen hat und bereit ist, ihren Ministerien mal auf die Füße zu treten. Anerkennen möchte ich, dass in unseren Berichterstattergesprächen fast immer eine sehr konstruktive Atmosphäre herrscht und oft Lösungen für die Petentinnen und Petenten gefunden werden können. Ganz im Gegensatz dazu habe ich mich in der Vergangenheit sehr darüber geärgert, wie in den öffentlichen Ausschusssitzungen manchmal mit den anwesenden Petentinnen und Petenten umgegangen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem Ausschuss sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Petentinnen und Petenten hier ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen und einen Anspruch darauf haben, dass über ihre Anliegen sachlich diskutiert wird. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Den Bürgerinnen und Bürgern ist mit reinen Absichtserklärungen nicht geholfen. Solange die Forderungen im Kern nicht erfüllt sind, ist dem Anliegen nicht entsprochen worden. Ein Beispiel dafür ist die Forderung nach Einführung einer Finanztransaktionsteuer – dafür wurden mehrere Zehntausend Unterschriften gesammelt –, auch wenn inzwischen erfreulicherweise etwas Bewegung in die Diskussion über diese so wichtige Frage gekommen ist. Es zeigt sich, dass öffentliche Petitionen tatsächlich wichtige Anstöße geben und eine wichtige Unterstützung darstellen können. Ein weiteres Beispiel ist die öffentliche Petition der Hebammen, über die ich bereits im letzten Jahr gesprochen habe; sie hatte über 190 000 Unterstützerinnen und Unterstützer. Die freiberuflichen Hebammen wehren sich noch immer gegen die astronomisch gestiegenen Prämien für die Berufshaftpflichtversicherung und gegen die viel zu niedrige Vergütung ihrer Arbeit durch die Krankenkassen. Sowohl im Ausschuss als auch durch die anwesenden Vertreter des Ministeriums wurde Verständnis geheuchelt. Passiert ist nichts! (Zuruf von der LINKEN: Traurig!) Immer mehr freiberuflich tätige Hebammen müssen die Betreuung von Hausgeburten aufgeben, ganze Geburtshäuser müssen schließen. Wenn wir hier nicht endlich etwas tun, dann ist die Wahlfreiheit für die werdenden Mütter künftig eben nicht mehr gewährleistet. (Beifall der Abg. Sonja Steffen [SPD]) Der zu der öffentlichen Ausschusssitzung geladene damalige Staatssekretär Bahr hat diese Problematik im Zuge seiner Beförderung offensichtlich erfolgreich verdrängt. (Stephan Thomae [FDP]: Nein, er hat sich sehr bemüht!) Er kann sich aber sicher sein, dass wir ihn auch in seiner neuen Aufgabe als Gesundheitsminister an die Hebammen erinnern werden. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Besonders hervorheben möchte ich noch eine Petition, die ich im letzten Jahr als Berichterstatterin vorliegen hatte und die mich sehr berührt hat. Die Petentinnen und Petenten aus NRW sind sogenannte Kontingentflüchtlinge, also ehemals sowjetische Staatsbürger jüdischen Glaubens. Sie erhalten in Deutschland die Grundsicherung im Alter. Diese Petenten, die noch die Schrecken des Krieges, unter anderem im belagerten Leningrad, erleben mussten, bekommen von der russischen Regierung eine kleine Entschädigungsrente von rund 80 Euro im Monat. Diese Kriegsentschädigung wird ihnen von deutschen Sozialämtern nun plötzlich auf die Grundsicherung angerechnet. Mit der fadenscheinigen Begründung, man könne im Bescheid ja nicht erkennen, ob es sich tatsächlich um eine Entschädigungszahlung handelt, kürzen Sozialämter die Grundsicherung um 80 Euro. Menschen jüdischen Glaubens, die unter dem deutschen Angriffskrieg gelitten haben, werden von deutschen Sozialämtern um ihre Kriegsentschädigung gebracht. Dass diese Unterschlagung nicht überall angewandt wird, sondern überwiegend in besonders armen Kommunen, macht die Sache nicht wirklich besser. Sie ist und bleibt ein Skandal! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Neben diesen Einzelpetitionen erfreuen sich die öffentlichen Petitionen im Internet – wir haben es eben mehrfach gehört – mittlerweile einer derartigen Beliebtheit, dass der Ausschuss beschlossen hat, seine Verfahrensgrundsätze anzupassen und entsprechend zu verbessern. Wir als Linke begrüßen dabei ganz besonders den Vorschlag der FDP-Fraktion – wem Lob gebührt, der soll Lob haben –, ab 100 000 Unterstützungsunterschriften innerhalb von zwei Monaten das Anliegen zum Thema einer Bürgerstunde im Plenum zu machen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mit diesem Vorgehen würde bewiesen, dass die Politik eben nicht taub und blind für die Anliegen von großer gesellschaftlicher Relevanz ist. Auch wenn hier eben die Diskussion darüber entstanden ist, ob das im Petitionsrecht ursprünglich vorgesehen war: Wir haben diese Regelung geschaffen, und wir müssen der Realität, dass die Menschen dieses Instrument nutzen, jetzt auch ins Auge sehen. Deswegen unterstützen wir als Linke auch den Vorschlag, diese Anliegen anschließend in die Fachausschüsse zu überweisen und daraus konkrete Anträge und Gesetzentwürfe zu entwickeln. Ich hoffe sehr, dass diese hervorragende Initiative – ehrlich: die Linke hätte es kaum besser machen können – von allen Regierungsparteien mitgetragen wird. Sie wäre ein echter Schritt zu mehr Demokratie in unserem Land. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Zu guter Letzt möchte auch ich mich im Namen meiner Fraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre engagierte, kompetente und zuverlässige Arbeit bedanken. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Andreas Mattfeldt spricht nun für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Parlamentarische Rat hat das Petitionsrecht 1949 richtigerweise in die Verfassung geschrieben. Seit 1975 hat der Petitionsausschuss sogar einen festen Platz im Grundgesetz. Nicht viele Ausschüsse in diesem Hohen Haus haben Verfassungsrang. Deshalb sage ich deutlich: Der Petitionsausschuss ist etwas ganz Besonderes. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Trotz dieser Vorbemerkung muss ich allerdings zugeben, dass ich am Anfang skeptisch war, als mir gesagt wurde, ich solle nicht nur Mitglied im Haushaltsausschuss, sondern auch noch Mitglied im Petitionsausschuss sein. Viele dienstältere Kolleginnen und Kollegen sagten mir: Herrje, du Armer. Na ja, Mattfeldt, da musst du durch, das mussten andere neue Abgeordnete auch. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das war eine Auszeichnung für dich!) Ich wusste nicht, was mich erwartet. Aber prinzipiell war ich schon davon überzeugt, dass das Petitionsrecht ein richtiges, vor allem aber auch ein wichtiges Recht für unsere Bürger ist. Gerade in meiner vorangegangenen Tätigkeit als Bürgermeister habe ich vielen Menschen dort, wo mir persönlich in meiner Tätigkeit die Hände gebunden waren, geraten, sich an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zu wenden. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ach du warst das!) Ich habe ihm also Arbeit beschert. Auch ich würde mir wünschen, Herr Ott, dass die Arbeit des Ausschusses sowohl nach außen als auch nach innen, also innerhalb des Parlaments, mehr Gehör findet. Ihre Vorschläge werden dazu allerdings nicht beitragen. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch einmal bessere Vorschläge!) Ich denke, gerade mit der Arbeit, die wir im Petitionsausschuss leisten, können wir die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung ein Stück weit mildern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So können wir in diesem Ausschuss doch direkt und unmittelbar den Bürgern helfen, die ungerecht behandelt wurden oder uns auf eine Gesetzeslücke aufmerksam machen. Von den knapp 17 000 im letzten Jahr eingereichten Petitionen klang so manche Petition, um es vorsichtig zu formulieren, etwas seltsam. Zahlreiche waren – lassen Sie mich das durchaus kritisch formulieren – parteipolitisch ambitioniert und betrafen reine Fachpolitik, die durch die Fraktionen in den Fachausschüssen abgearbeitet gehört und nicht in den Petitionsausschuss, der ohnehin schon mit großer Arbeit belastet ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich sage das deshalb, weil eine Vielzahl der Petitionen es mehr als wert ist, viel Arbeit in sie zu investieren. Diese Zeit darf nicht geklaut werden. So haben wir beispielsweise vor einigen Wochen im Ausschuss eine Petition beraten, die gefordert hat, dass unsere Soldaten, die im Auslandseinsatz für unser aller Sicherheit sorgen, kostenlos mit ihren Familien telefonieren können und das Internet kostenfrei benutzen dürfen. Nach meinem Dafürhalten sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten das schuldig. Ich hoffe sehr, dass unser in diesem Fall sehr hohes Votum umgesetzt wird; denn das Geld, das wir hier mehr ausgeben, kommt wirklich bei den Menschen an. So können wir unseren Soldatinnen und Soldaten sowie deren Familien ein Signal geben, dass wir ihr Engagement im Auslandseinsatz, insbesondere in Afghanistan, würdigen und ihnen den notwendigen Kontakt in die Heimat ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieser Fall steht stellvertretend für viele andere Fälle. Er lässt uns eine positive Bilanz unserer gemeinsamen Arbeit im Petitionsausschuss im Jahr 2010 ziehen und zeigt, dass wir konkret den Menschen helfen können. Lassen Sie mich als ehemaligen Hauptverwaltungsbeamten aber ein wenig Wasser in den Wein gießen; denn für mich wird die Bilanz ein wenig dadurch getrübt, dass einige Kolleginnen und Kollegen der Opposition unsere Verwaltungen auf kommunaler, landes- oder auch bundespolitischer Ebene bei Petitionen von Bürgern nahezu unter Generalverdacht stellen. Meine Kolleginnen und Kollegen, ein wenig mehr gesunde Kritik gegenüber einigen Petenten und ein wenig mehr Vertrauen in unsere Verwaltungsmitarbeiter wären für mich wünschenswert und angebracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Masse der Verwaltungsmitarbeiter oder Vollzugsbeamten in diesem Land eine hervorragende Arbeit leistet und die vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmenbedingungen umsetzt. Es gibt kaum Nationen, die über eine derart fachlich gute wie effektive Mitarbeiterschaft verfügen – das trifft auch auf die Mitarbeiter des Ausschussdienstes zu – wie wir in Deutschland. Ich denke, das darf und sollte bei allem Wohlwollen gegenüber Petenten gesagt werden. Deshalb mein Rat, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Bitte benutzen Sie die Petitionen nicht als parteipolitische Spielbälle! Ich denke, dann wird es uns auch weiterhin sehr viel Spaß machen, in diesem Ausschuss gemeinsam für die Menschen etwas zu bewegen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Steffen-Claudio Lemme für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Steffen-Claudio Lemme (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Debatte dazu nutzen, um auf der Grundlage meiner Erfahrungen der letzten zwei Jahre als Mitglied im Petitionsausschuss zu sagen, wie ich diese Arbeit empfinde. Ich kann sagen, dass der Petitionsausschuss eine Art Seismograf meiner politischen Arbeit geworden ist, dass die Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger direkt in mein politisches Handeln einfließen. Dies trifft insbesondere natürlich auf die fachpolitische Arbeit im Gesundheitsausschuss zu. In den Fachausschüssen bestimmt in der Regel das große Ganze unser politisches Handeln. Wir richten unsere Positionen und Entscheidungen sehr sachorientiert aus. Symbolisch ist hierfür die Verwendung des Prädikats „alternativlos“ anzuführen, das im vergangenen Jahr zum Unwort des Jahres gekürt wurde. Seien wir doch einmal ehrlich: Jeder von uns hat dieses Wort sicherlich mehr als einmal in den Mund genommen. Hier eben droht Gefahr. Immer wieder ist von Politikverdrossenheit und von der Realitätsferne der Politik die Rede, wird der Vorwurf der Distanz zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Abgeordneten erhoben. Uns, liebe Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses, die wir das tägliche Klein-Klein der Menschen beim Lesen jeder einzelnen Petitionsakte vor uns haben, kommt in dieser Frage eine besondere Verantwortung zu. Wir haben die unmittelbare Aufgabe, die Anliegen der Menschen in die fachpolitischen Debatten einzubringen und letztlich auch in konkretes politisches Handeln münden zu lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP]) Jüngst hat mir gegenüber die Vertreterin eines Betroffenenverbandes ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich die Fraktionen bei vielen Themen im Großen und Ganzen einig seien, es aber zu keinem gemeinsamen politischen Handeln komme. Auch hier gehen wir im Petitionsausschuss mit gutem Beispiel voran. Es freut mich jedes Mal, wenn ein Votum zu einer Petition über die Fraktionsgrenzen hinweg Zustimmung findet. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das liegt doch nur an euch!) – Das liegt auch im Besonderen an den Koalitionsfraktionen, Herr Baumann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Lassen Sie uns doch an der guten Praxis festhalten. Sorgen wir gemeinsam für ein höheres Maß an Öffentlichkeit unserer gemeinsamen Entscheidungen. Das kann sich nur positiv auf die Arbeit des Parlaments auswirken. Gerade weil Petitionen nach wie vor das einzige Instrument direkter Mitgestaltung auf Bundesebene sind, schlagen wir Sozialdemokraten vor, den Weg der Modernisierung des Petitionsrechts konsequent fortzusetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ziel muss es sein, die Transparenz der Petitionsverfahren weiter zu erhöhen und erweiterte Mitwirkungsrechte, insbesondere mit Blick auf die Beteiligung im Internet, zu schaffen. Ich bekräftige vor diesem Hintergrund die Forderung meiner Fraktion nach deutlich mehr öffentlichen Beratungen des Petitionsausschusses sowie einer Verlängerung der Zeichnungsfrist von Petitionen auf acht Wochen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darüber hinaus sollten wir die Möglichkeit schaffen, dass Petitionen künftig einfach per E-Mail eingereicht werden können, und das Recht zur Mitzeichnung von Petitionen sollte auch ohne Registrierung im Onlineportal des Deutschen Bundestages möglich sein. Ein weiterer Punkt ist uns wichtig. Die Diskussionen von Bürgerinnen und Bürgern im Petitionsforum sollten in den Empfehlungen des Ausschussdienstes zwingend Berücksichtigung finden. Letztlich liegt es an den Koalitionsfraktionen, gemeinsam mit uns das Petitionsrecht bürgernäher zu gestalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das heißt, jetzt ist es nicht bürgernah?) Mir bleibt nur noch, mich für die gute Zusammenarbeit zu bedanken, insbesondere bei Ihnen, Frau Steinke, weil Sie als Vorsitzende Ihre Arbeit unparteiisch erledigen. Herzlichen Dank auch an den Ausschussdienst. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts – Drucksache 17/6343 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf unserer Fraktion zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts. Warum tun wir das? Allen Menschen steht die gleiche Würde und der gleiche Respekt vor ihren Rechten zu: Homosexuellen wie Heterosexuellen. Wenn diese Grundannahme richtig ist, die auch in Art. 3 unserer Verfassung verankert ist, der die Gleichheit vor dem Gesetz vorsieht, dann gibt es keinen Grund, für Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierung verschiedene Rechtsinstitute bereitzuhalten. Wir haben mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft damals unter Rot-Grün Neuland betreten. Wir waren das erste große Land in Europa, das etwas für die rechtliche Anerkennung und Gleichstellung homosexueller Partnerschaften getan hat. Wir sind bis heute noch nicht bei der vollständigen Gleichstellung angekommen, aber es war damals ein großer Schritt. Wir waren Vorreiter in dieser Entwicklung. Heute haben wir die rote Laterne. Inzwischen ist die Zeit vorangegangen, und es gibt keinen Grund und keine Akzeptanz mehr in der Gesellschaft für die Benachteiligung und Diskriminierung homosexueller Partnerschaften. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Deshalb schlagen wir vor, bei dem Sonderweg der Lebenspartnerschaft, der ein historischer Kompromiss mit einer Sozialdemokratie war, die damals noch nicht so weit gehen und denken wollte, die Konsequenzen zu ziehen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Denn es gibt keinen Grund für eine weitere Unterscheidung. Das würde uns von all den quälenden Diskussionen entbinden, die auch Sie als FDP in der Koalition leidvoll mit Ihrem Koalitionspartner führen müssen: Wie machen wir es beim Adoptionsrecht und beim Steuerrecht? Nächste Woche reden wir über das Vertriebenengesetz. Es wäre ein Beitrag zur Entbürokratisierung und ein massiver Beitrag zur Gleichstellung der Schwulen und Lesben in unserer Gesellschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Frage, ob die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden muss, hat bereits 1993 aufgrund der Aktion Standesamt des Lesben- und Schwulenverbands das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht hat damals gesagt, der Gesetzgeber sei nicht gezwungen, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, weil die Beschwerdeführer noch keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses in dem Sinne vorgetragen hätten, dass der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukäme. Sie haben diesen Wandel aber ausdrücklich für möglich gehalten. Ich meine, dass einige Argumente darauf hindeuten, dass dieser Wandel inzwischen stattgefunden hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Menschen draußen im Lande sagen: „Was wollt ihr denn? Die Homosexuellen können doch heiraten. Ich kenne welche, die auf dem Standesamt geheiratet haben.“ Sie unterscheiden nicht zwischen Verpartnerung und Verheiratung, zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe, obwohl die Rechte noch unterschiedlich sind, was unfair ist und vom Bundesverfassungsgericht hinreichend gerügt wurde. Die Menschen in unserem Land sind inzwischen überwiegend für die Öffnung der Ehe. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist zu dem Ergebnis gekommen, dass 60,3 Prozent der Bevölkerung der Aussage zustimmen: Es ist gut, Ehen zwischen zwei Frauen bzw. zwei Männern zu erlauben. Das heißt, der Einstellungswandel in unserer Gesellschaft ist durch die Lebenspartnerschaft erheblich vorangeschritten. Das Bundesverfassungsgericht selbst und der Gesetzgeber, dieses Hohe Haus, messen der Geschlechtsverschiedenheit bei der Ehe keine entscheidende Bedeutung mehr zu. Im Transsexuellenurteil hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass sich jemand nicht scheiden lassen darf, bevor er eine Geschlechtsumwandlung vornimmt, und dem Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben, die Geschlechtsverschiedenheit zu verteidigen. Davon haben wir keinen Gebrauch gemacht. Wir lassen die Leute verheiratet und transponieren sie nicht in ein gleichwertiges Ersatzinstitut. Das zeigt: Wir glauben selber nicht mehr an die Geschlechtsverschiedenheit der Ehe. Ihr kommt inzwischen weder verfassungsrechtlich noch einfachrechtlich eine prägende Bedeutung zu. Zahlreiche Länder haben sich auf den Weg gemacht und haben – das ist die internationale Entwicklung im Familienrecht – die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Erst diese Woche hat die britische Regierung erklärt, bis 2015 diesen Weg zu gehen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Andere Länder wie die Niederlande, Belgien, Spanien, Kanada, Südafrika, Norwegen, Schweden, sechs Bundesstaaten der USA, Mexiko-Stadt – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege! Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – ich komme zum Schluss; so viele Länder sind es dann doch nicht –, (Heiterkeit) Portugal, Island und Argentinien haben diesen Weg beschritten. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass sich Deutschland ebenfalls auf den Weg macht und sagt: Gleiche Rechte für Lesben und Schwule! – Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern aus Respekt schuldig. Öffnen wir die Ehe! Nach zehn Jahren Lebenspartnerschaft ist die Gesellschaft reif für die Ehe von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ute Granold (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte jetzt die Liste der Länder in Europa, die überhaupt keine Regelungen zu Lebenspartnerschaften oder die gleiche Rechtslage wie wir in Deutschland, also eingetragene Lebenspartnerschaften, haben, beliebig ergänzen. Herr Kollege Beck, eines sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Das materielle Recht ist noch immer Angelegenheit der Nationalstaaten. (Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Was wollen Sie damit sagen?) Zur Sache. Wir haben in den letzten zehn Jahren immer wieder diese Thematik besprochen, zuletzt vor rund drei Monaten. Sie haben erwähnt, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft 2001 eingeführt wurde. In der Folgezeit gab es immer wieder Anpassungen, zum Beispiel bei den unterhaltsrechtlichen Vorschriften. Wo Pflichten begründet werden, müssen auch Rechte dahinterstehen. Wir haben alle Änderungen sukzessive vorgenommen. Der letzte Antrag der SPD auf eine entsprechende Anpassung des öffentlichen Dienstrechts hatte sich überholt, weil es auf Bundesebene bereits angepasst wurde. Auch die Rechtslage bei der Schenkungsteuer und der Erbschaftsteuer wurde entsprechend angepasst. Sie haben gesagt, dass die ewige Diskussion über eine Anpassung des Adoptionsrechts beendet sei, wenn gleichgeschlechtliche Lebenspartner die Ehe eingehen könnten. In dieser Wahlperiode wird es weder die Ehe noch ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partner geben. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: „In dieser Wahlperiode“! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die dauert jetzt nicht mehr lange!) – Seien Sie tolerant, und lassen Sie mich ausreden! – Zumindest in dieser Wahlperiode wird es das alles nicht geben. Da Sie das Bundesverfassungsgericht bemüht haben, Herr Kollege Beck, möchte ich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema aus dem Jahr 2002 zitieren: Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates … (Beifall bei der CDU/CSU) Das hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf Art. 6 des Grundgesetzes klar und deutlich beschrieben. Auch die Entscheidung vom Januar 2011 zum Transsexuellenrecht besagt nichts anderes. Das Bundesverfassungsgericht hat noch bis vor wenigen Monaten mit keinem Wort beanstandet, dass die Ehe Heterosexuellen vorbehalten ist. Gleichgeschlechtliche Lebenspartner erleiden dadurch keinerlei Nachteile und werden auch nicht diskriminiert. Für sie gibt es die eingetragene Lebenspartnerschaft. Sie haben weiter die Ungleichbehandlung beim Einkommensteuerrecht angesprochen. Sie reklamieren, dass das Ehegattensplitting auf die Lebenspartnerschaften nicht angewendet wird. Gleichzeitig kritisieren Sie aber in jeder Debatte das Ehegattensplitting. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie möchten. (Beifall bei der CDU/CSU) Des Weiteren geht es um das Adoptionsrecht. Für mich ist die Volladoption ein wichtiges Anliegen. Die Stiefkindadoption wurde inzwischen gesetzlich geregelt. Das haben wir als Union mittlerweile akzeptiert. Aber die Fremdkindadoption ist ein Thema, über das wir nicht debattieren werden. (Johannes Kahrs [SPD]: Warum nicht? Man kann über alles diskutieren! – Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Kollegin lässt keine Zwischenfrage zu. Ute Granold (CDU/CSU): Es geht hier nämlich nicht darum, dass Rechte für Erwachsene begründet werden, um irgendwelche politischen Ziele durchzusetzen, sondern es geht um das Wohl der Kinder. (Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das Kindeswohl ist Ihnen völlig egal!) Die Kinder sind zu schützen; denn die Kinder haben keine Lobby. Kinder, die keine Mutter und keinen Vater mehr haben und die zur Adoption freigegeben werden, haben schon eine Vorbelastung. Wenn sie dann noch in eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft gegeben werden, gegen die es Vorurteile gibt, dann kann es zu weiteren Belastungen für die Kinder kommen. Im Zweifel muss sich der Gesetzgeber schützend vor die Kinder stellen. (Widerspruch bei der SPD) Es gab eine Anhörung im Rechtsausschuss zu diesem Thema. Wenn man im Protokoll der Sitzung die Äußerungen der Sachverständigen nachliest, dann stellt man fest (Zurufe von der SPD) – ich war bei der Anhörung dabei; viele von Ihnen hier waren nicht da –, dass gerade bei der Fremdkindadoption das Kindeswohl absolut im Vordergrund stehen muss. (Burkhard Lischka [SPD]: Das ist uns allen wichtig!) Deshalb wird es mit uns eine solche Adoption nicht geben, auch nicht über den Umweg einer Änderung des § 1353 BGB. Die eingetragene Lebenspartnerschaft hat nahezu alle Rechte, die auch Ehepaare haben. Es gibt also für Ihr Begehren keinen sachlichen Grund. Der Verfassungsgeber hat seinerzeit in der Verfassung festgeschrieben, dass die Ehe privilegiert ist. Es geht um die Verbindung zwischen Mann und Frau und die Gründung einer Familie. Die Privilegierung soll den Müttern und Vätern vorbehalten bleiben; sachliche Gründe, das zu ändern, gibt es nicht und sind auch nicht vorgetragen worden. Wir haben uns in den letzten zehn Jahren mit keinem Thema so oft und so intensiv wie mit diesem Thema befasst, zuletzt vor drei Monaten. Es gibt keinen Grund, dass wir die Rechtslage zur Adoption nun über den Umweg der Ehe ändern. Das birgt verfassungsrechtliche Probleme, das bedarf nämlich einer Verfassungsänderung. Sie kennen die Mehrheitsverhältnisse. (Zuruf von der SPD: Das ändert sich bald!) Mit uns wird es diese Änderung nicht geben, auch wenn Sie in drei Monaten erneut einen entsprechenden Antrag stellen. Es wird dabei bleiben, dass die Ehe, also die Verbindung von Mann und Frau, für die Union privilegiert ist und bleibt. Es wird auch keine Fremdkindadoption geben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2001 das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich eingeführt. Damit haben gleichgeschlechtliche Paare erhebliche Verbesserungen ihrer rechtlichen Situation erhalten. Die Entscheidung eines Menschen für eine Ehe oder eine Lebenspartnerschaft ist kaum trennbar von seiner sexuellen Identität. Frauen und Männer müssen Wahlmöglichkeiten bezüglich ihrer Lebensbegleitpersonen haben. Eine daraus resultierende Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gleichstellung muss jedoch in vielen Bereichen auch nach der Einführung der Lebenspartnerschaften noch gerichtlich erkämpft werden. Es bestehen nach wie vor zwischen der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der Ehe Unterschiede, die die Lebenspartner erheblich schlechter stellen. Dies betrifft in erster Linie das Steuerrecht und das Adoptionsrecht. Wir haben vorhin schon gehört: Es ist bis zum heutigen Tag nicht möglich, dass gleichgeschlechtliche Paare gemeinsam ein Kind adoptieren. Im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 6. Juni 2011 vertrat die Mehrzahl der Sachverständigen – Frau Granold, da haben Sie wahrscheinlich nicht zugehört, oder Sie haben das Protokoll nicht gelesen – (Ute Granold [CDU/CSU]: Doch!) die Auffassung, dass die derzeitige Ungleichbehandlung von Lebenspartnern und Eheleuten gerade aus Gründen des Kindeswohls nicht gerechtfertigt ist. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dennoch ist eine Änderung des Gesetzes bislang nicht erfolgt. Auch steuerlich ist eine Gleichstellung der Lebenspartnerschaft bislang nicht vorhanden. Vielleicht können sich einige von Ihnen noch erinnern: Bereits bei der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Jahr 2001 bedurfte es eines politischen Schachzuges. Es wurden damals nämlich zwei Teile beschlossen. Der eine Teil war das nicht zustimmungsbedürftige Lebenspartnerschaftsgesetz, und der andere Teil war ein von der Zustimmung des Bundesrates abhängiges Ergänzungsgesetz. Das erste regelt das Zusammenleben der Partner in zivilrechtlicher Hinsicht. Das zweite sah damals schon Gleichstellungen im Steuer- und Beamtenrecht vor. Dieses Ergänzungsgesetz ist seinerzeit im Bundesrat letztlich am Widerspruch Bayerns gescheitert. Seitdem sind viele gerichtliche Entscheidungen in diesem Zusammenhang ergangen. Herr Beck hat vorhin schon einige genannt. Ich will das gern ergänzen. 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligung der Lebenspartnerschaft bei Betriebsrenten im öffentlichen Dienst für verfassungswidrig erklärt. 2010 hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung auch auf das Erbschaftsteuerrecht ausgeweitet. Schließlich haben wir alle im Jahressteuergesetz 2010 die Gleichstellung von Ehegatten und Lebenspartnern im Erbschaftsteuerrecht, im Schenkungsteuerrecht und im Grunderwerbsteuerrecht eingeführt. Sie sehen: Die Rechtsprechung hat uns gezeigt, dass es so, wie es im Augenblick ist, verfassungsrechtlich schwierig ist. Die einkommensteuerrechtliche Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft steht immer noch aus. Ehegatten können ihr Einkommen zusammen veranlagen. Sie können ihre Steuerklasse wählen. Das ermöglicht ihnen niedrige Steuersätze. Aber Lebenspartner haben dieses Recht nicht. Sie können nur nach Steuerklasse I besteuert werden. Damit werden sie genauso besteuert wie Ledige oder Menschen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Begründet wird diese unterschiedliche Behandlung von den Finanzgerichten bis zum heutigen Tage stets mit dem Verweis auf Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz – Sie haben es vorhin erwähnt –; sie argumentieren, diese Vorschrift vom besonderen Schutz der Ehe und Familie erlaube es dem Gesetzgeber, die Ehe gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens steuerlich zu privilegieren. Aber das Grundgesetz gibt das nicht her. Auch ist das Vorhandensein gemeinsamer Kinder nicht erforderlich, um als Ehepaar den Splittingvorteil in Anspruch nehmen zu können. Meine Damen und Herren, diese Ungerechtigkeit ist in der heutigen Zeit nicht mehr tragbar. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es steht zu erwarten, Frau Granold, dass diese überholte Auffassung beim Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. Dort sind einige Verfassungsklagen anhängig. Wir werden sehen, was bei der Einkommensteuer geschieht. Ehe und Lebenspartnerschaft sind beide auf Dauer angelegt. Sie begründen eine gegenseitige Einstandspflicht. Die gesetzlichen Unterhaltspflichten von Eheleuten und Lebenspartnern sind vergleichbar. Die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts wird weitere langwierige Prozesse verhindern und zu einer endgültigen Gleichstellung führen. Die gegenwärtige Praxis diskriminiert immer noch Homosexuelle und ist aus rechts- und gesellschaftspolitischer Sicht nicht mehr zeitgemäß. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Das alles wegen der CDU!) Herr Kollege Beck, Sie haben schon die Länder genannt, in denen die Eheschließung von Homosexuellen bereits Normalität ist. (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Genau! Ich hätte Ihnen vielleicht die Zeitnot ersparen können. Ich belasse es dabei, will an dieser Stelle aber noch einmal auf Großbritannien hinweisen. Dort gibt es eine konservative Regierung. Selbst diese Regierung hat angekündigt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch in der laufenden Legislaturperiode zu öffnen. Damit entscheidet sich übrigens das zwölfte Land Europas für die Öffnung der Ehe. Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass Deutschland damals beim Lebenspartnerschaftsgesetz Vorreiter war. Ich denke, wir laufen jetzt Gefahr, dass wir bei diesem wichtigen Schritt für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung hinterherhinken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Unsere Fraktion begrüßt daher den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ziel der Öffnung der Ehe für Homosexuelle. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stephan Thomae (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten einen Gesetzentwurf der Grünen zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts. In der Gesetzesbegründung ist zu lesen, dass ein gewandeltes Verständnis von Ehe und Familie in der Gesellschaft mit tragend für diesen Gesetzentwurf ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das sehen auch wir so. Wie soeben zu hören war, zeichnet auch die Rechtsprechung diesen Weg nach. Ich will einmal wiederholen, was in dieser Legislaturperiode von dieser Regierung in der Sache bereits getan und erreicht worden ist. Zum einen haben wir beim Thema Grunderwerbsteuer erreicht, dass die Übertragung von Grundstücken unter Lebenspartnern steuerfrei geschieht, so wie das auch unter Eheleuten der Fall ist. Das ist ein Punkt, bei dem Sie zugestehen werden, dass er in dieser Legislaturperiode umgesetzt worden ist. (Johannes Kahrs [SPD]: Wie haben Sie die CDU denn dazu gekriegt?) – Ja, das wüssten Sie gern, wie wir das gemacht haben. Ein zweiter Punkt ist das Thema Erbschaftsteuer. Da gelten seit dieser Legislaturperiode für Lebenspartner wie für Eheleute gleiche Freibeträge. Auch das ist ein Punkt, von dem wir sagen können: Das haben wir in dieser bürgerlichen Regierung umgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Burkhard Lischka [SPD]: Und wie geht es jetzt weiter, Herr Thomae?) Ein dritter Punkt – Herr Kollege Lischka, ich komme gleich dazu, wie es weitergeht – ist das Thema Beamtenrecht. Da haben wir zwei Punkte umgesetzt. Der eine betrifft die Beamtenbesoldung. Für verheiratete und verpartnerte Beamte gilt die gleiche Besoldung. Wir haben bei der Hinterbliebenenversorgung und den Krankenkosten für Lebenspartner von Beamten eine Verbesserung erreichen können. Das sind drei Punkte, bei denen wir in dieser bürgerlichen Regierung Verbesserungen durchgesetzt haben. Jetzt fehlen noch ein paar Dinge; da haben Sie völlig Recht. Man kommt in solchen Dingen eben nur Schritt für Schritt voran. Das ist einmal das Thema Einkommensteuer. Hier wollen wir darauf hinarbeiten, dass Splittingregeln, die für Ehepartner gelten, auch auf Lebenspartner Anwendung finden. Da ist zum anderen das Thema, das gerade schon unentspannt diskutiert worden ist, nämlich das Thema Adoptionsrecht. Wie bereits gesagt wurde, ist die Adoption von Stiefkindern möglich. Aber es gibt kein Adoptionsrecht für Paare. Nun, das sehen wir in der FDP etwas entspannter als vielleicht unser Koalitionspartner. Aber ich sagte schon: Man muss in solchen Dingen Schritt für Schritt vorangehen. Steter Tropfen höhlt den Stein. (Burkhard Lischka [SPD]: Wollen Sie das? Mutig voran! Sie haben nicht mehr viel zu verlieren!) – Wir wollen das. Aber, wie gesagt, man muss sich da auch ein bisschen Zeit geben. Wir haben in dieser Angelegenheit also bereits Fortschritte erzielt. Wir haben uns für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare erkennbar eingesetzt, haben Erfolge erzielen können. Das sollten Sie auch einräumen. Wir werden beharrlich weiter daran arbeiten. Ich wiederhole: Gutta cavat lapidem, sagt der Allgäuer: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir arbeiten weiter an der völligen Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Irgendwann wird man sagen – vertrauen Sie darauf –: Die Sache riecht wie eine Ehe. Sie schmeckt wie eine Ehe. Sie hört sich an wie eine Ehe. Sie schaut aus wie eine Ehe. Warum soll man nicht auch Ehe dazu sagen? Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/ CSU]: Weil es keine ist!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es nicht nur um die Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule. Es geht darum, ob alle Menschen die gleichen Rechte haben – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Es ist eben nicht alles möglich!) Kardinal Ratzinger sagte 2003, dass die römisch-katholische Kirche standfest sein müsse und nicht der Mode individueller Bedürfnisse nachgeben solle. Dies führe zu einer Diktatur des Relativismus. – Kurz gesagt: Die Kirche verharrt in ihren Dogmen. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nein, der Papst hat recht! Hören Sie es sich morgen mal an!) Der Kardinal bezeichnete die Homosexualität als schwere Verirrung. Politiker – er nannte nur die männliche Form –, die Gesetzen zu homosexuellen Lebensgemeinschaften zustimmten, würden an einer Legalisierung des Bösen mitwirken. – Diese Haltung ist völlig inakzeptabel. Ich weiß nicht, warum die CDU das heute noch so vertritt. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Hören Sie es sich morgen an? Sind Sie morgen da?) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabe des Staates ist es, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren. Auch in Deutschland war es ein langer Weg bis zur Beseitigung der Strafbarkeit der Homosexualität und ihrer Entdiskriminierung. Von der völligen Gleichstellung sind wir aber noch immer weit entfernt, sowohl was die Gesetzeslage als auch was das tägliche Leben betrifft. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ungleiches kann man nicht gleich behandeln!) Der § 175 richtete sich gegen schwule Männer. In der Bundesrepublik galt dieser Paragraf in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung bis 1969. Infolgedessen wurden 100 000 Männer strafrechtlich verfolgt; 50 000 wurden verurteilt. Die katholische Kirche übte in den 50er-Jahren enormen Einfluss auf die Strafrechtsdiskussion um den § 175 aus. So verfasste der katholische Volkswartbund in dieser Zeit im Auftrag der Bischofskonferenz Schriften gegen die Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität. Ich zitiere aus einer dieser Schriften: Was soll man mit einem Baum tun, dem die Fruchtbarkeit versagt ist? Diese Metapher stammt aus der Bibel, die die darauf folgende Antwort gibt: den Feuertod. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Was hat das mit dem Thema zu tun?) Wir haben erst 1994 in einem gemeinsamen Deutschland den sogenannten Schandparagrafen 175 überwunden. Trotz alledem tritt die katholische Kirche auch heute noch gegen die Rechte von Schwulen und Lesben auf. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!) Erzbischof Tomasi, der Ständige Vertreter des Heiligen Stuhls beim Büro der Vereinten Nationen in Genf, betonte im März dieses Jahres in einer Aussprache zur sexuellen Orientierung, dass die menschliche Sexualität ein Geschenk sei, bestimmt für eine lebenslange Ehe zwischen Mann und Frau. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Richtig!) Dies widerspricht meiner Auffassung von der Würde des Menschen, zu der die sexuelle Identität untrennbar gehört. Sieben Jahre nach der Abschaffung des § 175 wurde die eingetragene Lebenspartnerschaft für Lesben und Schwule ermöglicht. Der deutsche Gesetzgeber öffnete damit eine Tür für die Gleichbehandlung lesbischer und schwuler Lebensweisen. Damals war Deutschland, wie schon mehrfach unterstrichen, ein Vorreiter in Europa. Doch seitdem tut sich in der rechtlichen Gleichstellung zu wenig. Herr Thomae, die entscheidenden Impulse, überhaupt noch etwas zu ändern, kamen danach immer vom Bundesverfassungsgericht, und erst dann haben Sie gehandelt. (Stephan Thomae [FDP]: Wir haben doch nicht erst vor zwei Jahren gehandelt!) Inzwischen haben sieben Staaten in Europa die Ehe für Lesben und Schwule geöffnet, unter anderem die katholisch geprägten Länder Spanien und Portugal. Wir als Linke haben bereits im vergangenen Jahr einen Antrag zur Öffnung der Ehe in den Bundestag eingebracht. Er wurde damals mit den Mehrheiten von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Die Grünen unternehmen einen neuen Versuch, der unsere Unterstützung findet, weil er der richtige Schritt zur Legalisierung bzw. zur Beendigung der Diskriminierung und zur tatsächlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen ist. Es ist an uns, die Diskriminierung zu beenden. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Kein Wort zum Kindeswohl!) Die Ehe für Lesben und Schwule ist eben keine Legalisierung des Bösen, wie der heutige Papst 2003 betonte, sondern ein notwendiger Schritt zur Akzeptanz unterschiedlichster Lebensformen, unabhängig von sexueller Orientierung. Alle Menschen müssen gleiche Rechte haben, so auch das Recht auf Eheschließung. Dogmatismus steht nicht über den Grundrechten. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte vorausschicken: Es geht nicht um die Angleichung der Lebensform gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften an die Ehe, (Burkhard Lischka [SPD]: Das haben wir schon verstanden!) sondern im vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Frage der Identifizierung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe. Das ist etwas anderes. Das ist ein viel weiter gefasstes Thema. (Burkhard Lischka [SPD]: So weit alles richtig!) Hier wird ständig über Gleichstellung gesprochen. Das ist eine andere Frage. Man kann sich über sie streiten, aber sie steht heute nicht zur Debatte. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Frau Steffen, Sie haben eben aus der Anhörung des Rechtsausschusses zitiert. Für diesen Rechtsausschuss wurden von der CDU/CSU drei Sachverständige benannt: ein Sachverständiger für öffentliches Recht, ein Verfassungsrechtler und ein Psychologe bzw. Kinderarzt. Alle drei haben gesagt, dass es nicht dem Wohl des Kindes dient, wenn wir die Volladoption einführen. Ich bitte Sie, das zu respektieren. Es gibt auch andere Meinungen, und Sie dürfen es uns nicht übelnehmen, wenn wir uns nach diesen Meinungen richten. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie bestimmt lange gesucht! – Burkhard Lischka [SPD]: Wollen Sie uns damit sagen, die haben Sie mit Bedacht ausgesucht? – Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Ich komme zum eigentlichen Thema. – Herr Beck, lassen Sie mich einige Sätze sagen; Sie nehmen mir sonst nur die Zeit weg. – Ich bin der Auffassung, dass es um die Identifizierung geht. Es kann keinerlei Zweifel geben: Wenn wir die Regelungen des Römischen Rechts zu Ehe und Familie mit einbeziehen, worauf ja unser Recht basiert – das weiß jeder Jurist –, dann sehen wir: Wir haben seit über 2 000 Jahren in unserer Kultur die Vorstellung, dass eine Ehe aus Mann und Frau besteht. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Burkhard Lischka [SPD]: Da gab es sogar mal Inquisitionsprozesse und Hexenverbrennungen! Und das alles in der Kultur!) Das ist Fakt. Wer sich dagegen wehrt, dem kann ich nicht helfen, der kennt die Geschichte nicht. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spätestens in den nächsten zehn Jahren hat es sich verändert!) Wenn das so ist, stellt sich natürlich die Frage – die auch Herr Beck gestellt hat; Sie behaupten das auch in Ihrem Gesetzentwurf –, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: CDU und CSU brauchen noch mal 20 Jahre!) ob sich ein Wandel vollzogen hat, sodass man sagen müsste: Ehe ist sowohl die Verbindung von Mann und Frau als auch die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft. (Sonja Steffen [SPD]: Genau! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Genau!) Daran möchte ich doch Zweifel anmelden. Erstens, sagen Sie, sei dies grundgelegt durch die Einführung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft durch das Gesetz aus dem Jahr 2001 und die Folgegesetze. Ich gebe zu, dass durch die Folgegesetze eine weitgehende Angleichung an die Ehe erfolgt ist. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Widerstand von CDU/ CSU!) Das kann auch niemand leugnen. Aber trotz aller Gesetzesakrobatik wird in keinem der Gesetze die Ehe sowohl für beide Geschlechter, (Burkhard Lischka [SPD]: Noch nicht! Das scheitert ja an Ihrem Widerstand!) Mann und Frau, als auch für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft vorgesehen. Aus allen Gesetzen geht klar hervor, dass die Ehe allein Mann und Frau vorbehalten ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Das ist jetzt wieder ein falscher Schluss!) Das können Sie nachlesen. Genau das Gleiche finden Sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wir haben zwei entscheidende Urteile des Bundesverfassungsgerichts, einmal das Urteil vom 17. Juli 2002. Frau Granold hat es schon zitiert. Ich darf einen weiteren Satz zitieren: Die Ehe ist im Verhältnis zur gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft ein Aliud. Es ist etwas ganz anderes. Die Juristen wissen, was man unter einem Aliud versteht. (Sonja Steffen [SPD]: Wieso? – Burkhard Lischka [SPD]: Ja, das hängt doch mit den gesetzlichen Regelungen zusammen! Das beschreibt doch nur den Istzustand!) Das zweite maßgebliche Urteil zu diesem Thema ist das Urteil vom 7. Juli 2009. Hier wird die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft mit der Ehe angemahnt, aber nicht aufgrund des Art. 6 des Grundgesetzes, sondern aufgrund des Art. 3. Das ist etwas anderes. Für beide Institute besteht jetzt schon nahezu der gleiche Rechtsrahmen, aber beide Institute sind sowohl für die Rechtsprechung als auch für die Gesetze zwei voneinander unterschiedene Institute. Das muss man einfach so sehen. Das muss man anerkennen. Wer das nicht tut, geht an der Wirklichkeit vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Ja, Gesetzgeber sind wir doch! – Sonja Steffen [SPD]: Das ist unsere Aufgabe!) Nun stellt sich die entscheidende Frage, die Herr Beck gestellt hat: Ist denn im Bewusstsein der Menschen ein Wandel vollzogen worden? (Sonja Steffen [SPD]: Ja! – Burkhard Lischka [SPD]: Ja! – Weitere Zurufe von Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ja!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muss Sie enttäuschen: Genau das Gegenteil ist richtig. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Burkhard Lischka [SPD]: Bei Ihnen in Bayern!) Kein Ehepaar wird sich mit einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft gleichsetzen lassen. (Zurufe von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Sie werden ihre Lebensform immer deutlich von der anderen Lebensform unterschieden wissen wollen, ohne die andere Lebensform zu diskriminieren. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leben Sie denn? – Gegenruf des Abg. Burkhard Lischka [SPD]: In Kleinkleckersdorf in Bayern!) Es ist einfach ein Unterschied. Wer das nicht sieht, kann einem nur noch leidtun. (Lachen bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dörner? Norbert Geis (CDU/CSU): Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Es wird mir hier zu laut geschrien. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind auch nicht gerade leise!) Ein weiterer Punkt, den ich Ihnen noch nennen wollte: Die Shell-Studie sagt ganz eindeutig, dass drei Viertel der Jugendlichen sich eine Zukunft wünschen (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie wären wohl gerne Großinquisitor geworden! Wir leben im 21. Jahrhundert!) in einer Ehe von Mann und Frau und in einer Familie mit Kindern. Das ist eine ganz klare Aussage der Shell-Studie. Drei Viertel der Jugendlichen sagen dies. Wenn dies aber so ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann man nicht behaupten, dass im Bewusstsein der Bevölkerung eine Identität zwischen Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft entstanden sei. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie heterosexuell sind, können sie sich schlecht was anderes wünschen!) Der entscheidende Unterschied zwischen Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft besteht nun einmal darin, dass die Ehe für Kinder offen sein muss und damit die Generationenfolge sichert und dass sie das Humanvermögen – darunter ist die Daseinskompetenz, die Sozialkompetenz zu verstehen, die eine Gesellschaft zusammenhält – am ehesten weitergeben kann, nämlich nur durch Vater und Mutter im Verhältnis zum Kind. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit denen, die keine Kinder haben? Die dürften dann auch nicht heiraten! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was ist mit den Geschiedenen ohne Kinder? – Sonja Steffen [SPD]: Was ist mit Alleinerziehenden?) Dort werden die Regeln weitergegeben, die sich in unserer Kultur entwickelt haben. Deswegen kann die Ehe mit einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft nie gleichgesetzt werden, nie identifiziert werden. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Nehmen Sie zur Kenntnis: Die Erde ist keine Scheibe!) Deswegen wird die Ehe vom Grundgesetz geschützt, aus keinem anderen Grund. Deswegen kann die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft jedenfalls nicht im Sinne des Art. 6 des Grundgesetzes ebenso geschützt werden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/ CSU: Endlich einer, der Klartext redet!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Volker Beck. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich weiß nicht, Herr Kollege Geis, in welcher Welt Sie leben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) In meiner realen Welt – das war lange, bevor wir das Gesetz gemacht haben; das war im Jahr 1992, als wir die Aktion Standesamt gemacht haben – haben bei uns in Köln vor dem Rathaus die Leute zusammen mit den Schwulen und Lesben gefeiert, die nicht ins Standesamt gehen konnten, um zu heiraten. Die Ehepaare haben gesagt: Wir feiern heute unsere Hochzeit, wir trauen uns; wir wünschen euch, dass ihr das auch bald dürft. – Das ist reale Liberalität in der deutschen Gesellschaft, und das ist nicht die Enge, die Sie gerade predigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Sie haben den Ansatz dieser parlamentarischen Initiative nicht verstanden. Natürlich ist heute die Lebenspartnerschaft ein Aliud gegenüber der Ehe. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht 2001 in seiner Entscheidung gesagt. Dort heißt es: Alle Prüffragen – etwa: Verstößt das gegen Art. 6? – fallen weg, weil es einen anderen Normadressatenkreis gibt. Das wollen wir mit dieser Initiative ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen und Schluss machen mit den Extrawürsten. Herr Geis, Sie sind ja ein geschickter Rhetoriker. Sie haben auch gegen jeden Schritt der rechtlichen Anerkennung der Lebenspartnerschaft gekämpft. Das haben Sie heute verschwiegen! Seit den 90er-Jahren waren wir in jeder Fernsehsendung zu diesem Thema. Sie haben stets gesagt: Diese rechtliche Anerkennung soll den Homosexuellen nicht zustehen. In diesem Punkt sind Sie ein Erzkatholik. Sie behaupten, Sie wollten nicht diskriminieren; Sie diskriminieren aber ständig. Ich habe den Verdacht, dass Sie inhaltlich gar nicht so weit weg sind von dem Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre. Ich nenne nur die „Anmerkungen bezüglich der Gesetzesvorschläge zur Nichtdiskriminierung homosexueller Personen“. Dort heißt es, dass „keine Gesetzgebung eingeführt werden dürfe, welche ein Verhalten schützt, für das niemand ein irgendwie geartetes Recht in Anspruch nehmen kann“. – Das haben Sie an jedem Punkt so gehalten. Sie haben bei jedem Schritt verhindert, dass Schwule und Lesben zu ihrem Recht kommen, genau so, wie diese Schreiben es Ihnen aufgeben. Das steckt letztendlich dahinter. Deshalb sind Sie auch in diesem Fall dagegen. Wenn Sie ernsthaft sagen, Sie wollten die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht, dann stellen Sie aber wenigstens – zusammen mit Herrn Kauch und mit dieser christlich-liberalen Koalition, die ja so wunderbar funktioniert (Burkhard Lischka [SPD]: Immer wieder aufs Neue!) und sozusagen die Traumvorstellung einer Ehe darstellt – beim Steuerrecht und beim Adoptionsrecht die Lebenspartnerschaft gleich. Gönnen Sie doch der FDP mal einen kleinen politischen Erfolg! (Burkhard Lischka [SPD]: Die können es brauchen!) Das wäre gut für die Schwulen und Lesben im Lande. Das mit der Ehe machen wir nach der nächsten Bundestagswahl zusammen mit den Sozialdemokraten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Burkhard Lischka [SPD]: Genau!) Dann wäre das Ganze glaubwürdig. Ansonsten zeigt es nur, dass Sie es nicht wirklich ernst meinen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Geis, bitte schön. Norbert Geis (CDU/CSU): Lieber Herr Beck! Sehr verehrter Herr Präsident! Ich habe lediglich versucht, darzulegen, weshalb Art. 6 Grundgesetz nach der heutigen Fassung und nach dem heutigen Verständnis – auch des Verfassungsgerichts und der gesamten Gesetzgebung – nicht die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft der Ehe gleichstellt. Das kann man so nicht machen. Ich bin auch nicht der Meinung, dass man das allmählich durch die Gesetzgebung bewirken kann. (Burkhard Lischka [SPD]: Das geht schon! Das werden Sie erleben!) Dann würde eine Verfassungsänderung durch ein einfaches Gesetz erfolgen. Wenn Sie wollen, lieber Herr Beck und meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, dass die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft in Art. 6 Grundgesetz hineingeschrieben wird, dann müssen Sie eine Verfassungsänderung vornehmen. Die ist nach Art. 79 Abs. 2 Grundgesetz nur möglich mit einer Zweidrittelmehrheit. Die werden Sie nicht hinbekommen. (Burkhard Lischka [SPD]: Das werden Sie ja erleben!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP – Burkhard Lischka [SPD]: Der andere Partner!) Michael Kauch (FDP): Meine Damen und Herren! Wir können sicherlich trefflich über die juristischen Fragestellungen streiten. Ich glaube aber, dass in der Bevölkerung eine deutlich entspanntere Situation vorherrscht, als es diese Debatte suggeriert. Ich bin verpartnert; aber alle meine Freunde sagen: Ihr seid ja verheiratet, und das ist dein Mann; das ist nicht dein Lebenspartnerschaftsring, sondern es ist der Ehering. – Das ist die Herangehensweise, wie die Bürgerinnen und Bürger inzwischen mit diesem Thema umgehen. Deshalb müssen wir uns Gedanken machen über angemessene Regelungen angesichts der Pflichten, die eingetragene Lebenspartner füreinander eingehen – mit denen sie im Übrigen auch den Sozialstaat und die Sozialkassen entlasten, indem sie füreinander einstehen. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Koalition hat die eingetragene Lebenspartnerschaft in wesentlichen Punkten vorangebracht – Herr Thomae hat das angesprochen –: bei Erbschaftsteuer, Grunderwerbsteuer, BAföG, Beamtenrecht, Richterrecht und Soldatenrecht. In diesen Bereichen hat die Koalition eine Gleichstellung vorgenommen. Wir sind nicht bei allen Punkten von den Gerichten dazu gezwungen gewesen. Im Gegenteil: Wir hatten im Koalitionsvertrag die entsprechende Vereinbarung zu Änderungen im Beamtenrecht bereits festgelegt, bevor das entsprechende Urteil gefällt wurde. Das Lebenspartnerschaftsrecht ist für uns Teil der Bürgerrechtspolitik. Da gibt es Punkte, die Sie nicht auf die Reihe bekommen haben. Zum Beispiel hat das Kabinett im letzten Monat die Einrichtung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld beschlossen. Sie haben es zehn Jahre lang versprochen; wir haben es gemacht. Auch das ist ein Erfolg der christlich-liberalen Koalition. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf bei der Stiftung geheiratet werden? – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Vergangenheit! Was ist mit der Zukunft?) Meine Damen und Herren, es gibt Bewegung: Frau Winkelmeier-Becker – sie ist hier – hat Anfang August zusammen mit Frau Fischbach für die Unionsfraktion eine Presseerklärung im Zusammenhang mit dieser Debatte veröffentlicht, in der sehr deutlich gemacht wurde, dass die Union beim Adoptionsrecht zwar nicht bereit ist, unseren Vorstellungen zu folgen, es aber angesichts gleicher Einstandspflichten sehr wohl gute Gründe gibt, beim Splitting bei der Einkommensteuer für eingetragene Lebenspartnerschaften voranzukommen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass es noch in dieser Legislaturperiode gelingen wird, an dieser Stelle zu einem guten Ergebnis zu kommen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Geben Sie diese Presseerklärung mal Herrn Geis!) – Frau Fischbach ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Ich denke, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion macht Presseerklärungen nicht ins Blaue hinein, sondern weil die Union an dieser Stelle eine entsprechende Haltung hat. Wir werden den Weg der Gleichstellung konsequent weitergehen, weil wir uns hier auf sicherem, verfassungsgemäßem Terrain bewegen. Niemand bestreitet, dass der Staat die Lebenspartnerschaft gleichstellen kann; das zeigen alle Urteile. Deswegen sind wir hier auf einem sicheren Weg; wir sollten ihn weitergehen. Wenn die Lebenspartnerschaft am Ende anders heißt, dann werde ich mich als Erster freuen. Denn dann muss man nicht bei jeder Personenstandsangabe offenbaren, welche sexuelle Orientierung man hat; man will das nicht jedem offenbaren, weil es auch mit Nachteilen verbunden sein kann. Insofern ist es durchaus ein Ziel, das zu ändern. Der wesentliche Weg, über den wir dahin kommen, ist die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft; wir müssen ihn bis zum Ende gehen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann beeilen Sie sich mal, sonst erleben Sie das in diesem Leben nicht mehr!) Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/6343 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Faire Teilhabechancen von Anfang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung realisieren – Kostenkalkulation für Kinderbetreuung überprüfen – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2008 – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Erster Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes) – Drucksachen 17/3663, 17/1973, 17/1778, 16/12268, 17/591 Nr. 1.7, 17/2621, 17/4249 – Berichterstattung: Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg) Caren Marks Florian Bernschneider Heidrun Dittrich Katja Dörner b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2010 (Zweiter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes) – Drucksache 17/5900 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dorothee Bär (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die Überweisung des Zweiten Zwischenberichts zur Evaluation des KiföG an den Deutschen Bundestag zum Anlass genommen, heute erneut über unseren Antrag zu einem gesellschaftspolitisch wichtigen Thema zu debattieren, nämlich über die frühkindliche Bildung im Elternhaus und in Kindertagesstätten als entscheidenden Faktor für mehr Chancengerechtigkeit. Wir sind uns in der Koalition einig – wir haben das in unserem Antrag festgeschrieben –, dass der Grundstein für die Entwicklung und Teilhabe an unserer Gesellschaft in der Familie gelegt wird. In der Familie erfahren Kinder Zuwendung, Vertrauen und Geborgenheit und erlernen vor allem ein soziales Miteinander und – das ist ganz entscheidend – bauen Bindungen auf. Auch in der Wissenschaft ist es unbestritten, dass Bindung der Bildung vorausgeht. Die erste Bindung eines Kindes ist nun einmal in der Regel die an seine Eltern. Deswegen ist für Kinder die familiäre Betreuung der institutionellen mindestens gleichwertig; ich glaube sogar, sie ist ihr überlegen. Natürlich verschließen wir unsere Augen nicht davor, dass manche Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Aber wir wollen als Konsequenz daraus nicht dem Staat die Elternrolle zuweisen, sondern mit unserem Antrag klarmachen, dass Eltern in dieser Situation niederschwellige Begleitung und Unterstützung brauchen; wir wollen sie ihnen gewähren. Kindertagesstätten können eine wichtige Ergänzung zum Bildungsort Familie sein. Damit sie das tatsächlich sein können, brauchen wir aber nicht nur einen Ausbau in quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativer Hinsicht. Deswegen muss meines Erachtens die Gruppengröße in den deutschen Kitas teilweise drastisch reduziert werden. (Beifall der Abg. Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU] und Miriam Gruß [FDP] – Miriam Gruß [FDP]: Wie wir es in Bayern gemacht haben!) – Kollegin Gruß sagt gerade zu Recht: „Wie wir es in Bayern gemacht haben!“ Daran können sich andere Bundesländer ein Beispiel nehmen. – Qualität hat aber nicht nur etwas mit der Gruppengröße zu tun. Ein anderer Qualitätsaspekt ist, dass feste Bezugspersonen vorhanden sind. Oft ist es so, dass ein Kind, nachdem es eingewöhnt wurde, aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen in der Kindertagesstätte wechselnde Bezugspersonen hat. Das liegt zum Teil auch daran, dass Erzieherinnen vielleicht nur halbtags arbeiten. So muss sich das Kind ständig dem Stress aussetzen, dass es eine neue Bezugsperson hat. Das ist für die unter Dreijährigen natürlich wesentlich schwieriger als für die Kindergartenkinder über drei Jahren. Der Kitabesuch soll natürlich kein Stress sein; denn sonst wäre er kontraproduktiv. Neben den Kindertageseinrichtungen haben wir die Kindertagespflege. Das ist der erste Bildungsort außerhalb der Familie und die zweite prägende Station für eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Als wir vor ziemlich genau drei Jahren das Kinderförderungsgesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, war das der Startschuss für den Aus- bzw. Aufbau eines bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsangebots für die unter Dreijährigen. Bei dieser großen Zukunftsaufgabe unterstützt der Bund die eigentlich zuständigen Länder und Kommunen sehr großzügig. Wir beteiligen uns mit 4 Milliarden Euro an den Kosten in der Ausbauphase und ab 2014 mit jährlichen Zuschüssen in Höhe von 770 Millionen Euro an den Betriebskosten. Das Ganze trägt Früchte. Nachdem der Bund seinen zugesagten Beitrag zum Ausbau der Betreuungsplätze geleistet hat, brauchen wir jetzt aber eine verlässliche Anschlussfinanzierung durch die Länder. Diese ist dringend erforderlich, um den Ausbau weiter voranzubringen. Über diese finanzielle Unterstützung des Krippenausbaus hinaus investiert der Bund weiteres Geld in die frühkindliche Bildung. Wir haben ein ganz großartiges Programm aufgelegt, das Programm Offensive „Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“. (Beifall der Abg. Helga Daub [FDP]) Der Bund stellt dafür bis 2014 400 Millionen Euro zur Verfügung, um in bis zu 4 000 Einrichtungen, insbesondere in Brennpunkten, zusätzliche Sprachförderung zu ermöglichen. Wer von uns sich das schon einmal in seinem Wahlkreis angeschaut hat, weiß, dass das ein tolles Programm ist und es hervorragend angenommen wird. Wir können gar nicht oft genug darüber sprechen. Wenn wir uns die entsprechenden Einrichtungen anschauen, müssen wir sagen: Das war eine ganz wichtige und sinnvolle Investition. Wir haben auch noch das Programm „Elternchance ist Kinderchance“. Es bietet in örtlicher Nähe zu diesen Kitas haupt- und ehrenamtliche Elternbegleiter. Wenn Eltern Hilfe suchen, finden sie hier einen Stützpunkt, an den sie sich wenden können. Da es leider so ist, dass es die Großfamilie, die man von früher kennt, nicht mehr gibt, dass die Familie nicht mehr unbedingt an einem Ort zusammenlebt, dass oft keine Großeltern oder Urgroßeltern mehr vorhanden sind, vielleicht nicht einmal Tanten oder Onkel, haben viele niemanden, dem sie eine einfache Frage stellen können. Sie benötigen daher ein niederschwelliges Angebot. Deshalb haben wir dieses Programm „Elternchance ist Kinderchance“ aufgelegt. Jede Familie, die auf der Suche nach Hilfe ist, soll diese bekommen. Wir haben ein Aktionsprogramm „Kindertagespflege“, in dem Bund, Länder und Kommunen gemeinsam daran arbeiten, die Qualität der Kindertagespflege zu sichern und zu verbessern, das Personalangebot zu erweitern und mehr Transparenz zu gewährleisten. Die Eltern sind heutzutage extrem kritisch, und zwar zu Recht. Sie schauen sich genau an, wer sich um die Kinder kümmert, wer für einen Teil des Tages Verantwortung übernimmt. Natürlich möchte man nicht nur wissen, dass das Kind sauber gehalten wird und etwas zu essen bekommt, sondern man möchte auch wissen, dass eine Förderung stattfindet und eine Bindung entsteht, ohne die die spätere Bildung gar nicht möglich ist. Das sind nur einige wenige Beispiele für das große Engagement des Bundes und für das große Engagement, das die christlich-liberale Koalition in dieser Frage an den Tag legt. Es gibt noch weitere Forderungen an die Bundesregierung. Die wird mein Kollege Weinberg vorstellen. Wir sind auf einem guten Weg. Ich warne aber davor, nur auf die Quantität zu achten. Ich sage das, weil ich mir sicher bin, dass heute noch einige Kolleginnen und Kollegen mit Zahlen um sich schmeißen werden. Für uns ist die Qualität von allergrößter Bedeutung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Caren Marks (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst einmal: Frau Ministerin, schön, dass Sie wieder da sind. Wir von der SPD-Fraktion wünschen Ihnen gutes Gelingen für eine partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das ist ja für alle nie einfach. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Die aktuelle bildungspolitische Studie der OECD hat erneut deutlich gemacht, dass Deutschland mehr in Bildung investieren muss. Im deutschen Bildungssystem werden immer noch Kinder aussortiert. Damit muss Schluss sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ist es hinnehmbar, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund oder aus armen Familien schlechtere Chancen haben? Die Ausgaben für Bildung liegen mit 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder; er liegt bei 5,9 Prozent. Das macht eine riesige Summe in unserem Haushalt aus. Deutschland hat ganz besonders bei der frühkindlichen Bildung großen Nachholbedarf; auch das wird in Studien immer wieder deutlich. Kann man die Kanzlerin noch ernst nehmen, wenn sie von der „Bildungsrepublik Deutschland“ spricht? Gute Angebote der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung, das machen wir als SPD-Fraktion in unserem Antrag deutlich, sind das Fundament für Chancengleichheit, für Teilhabe von Kindern in unserer Gesellschaft. Wir alle wissen, dass Versäumnisse im frühkindlichen Alter zu einem späteren Zeitpunkt gar nicht mehr bzw. nur ganz schlecht aufgeholt werden können. (Beifall bei der SPD) Gute Krippen und gute Kitas fördern Kinder – ich nenne die Stichworte: Sprache, Ernährung, Bewegung und natürlich auch Sozialverhalten – und geben ihnen neben dem Elternhaus wichtige Erfahrungen mit auf den Weg. Hier lernen Kinder im wahrsten Sinne des Wortes spielend, und zwar umfassend. Nach wie vor gibt es in Deutschland zu wenig Krippenplätze, das heißt, zu wenig Bildungsangebote für Kleinkinder und zu wenig Betreuungsangebote für berufstätige Eltern, die diese dringend brauchen und häufig händeringend danach suchen. Rot-Grün hat vor Jahren den Ausbau der frühkindlichen Bildung – damals noch unter Protest von Schwarz-Gelb – auf den Weg gebracht. Da sind wir jetzt schon durchaus weiter. Der Krippengipfel 2007 hat unter Mitwirkung des damaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück dazu geführt, dass der Bund die Länder mit Bundesmitteln dauerhaft unterstützt. Diese Politik, die wir damals gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben, zeigt Erfolge; gar keine Frage. Jahr für Jahr werden Tausende Plätze neu geschaffen. Das ist gut; das brauchen Kinder und Eltern. Vor allem in den alten Bundesländern, wo der Nachholbedarf besonders groß ist, ist die Betreuungsquote kontinuierlich gestiegen. Dennoch ist der Abstand zwischen den alten und den neuen Bundesländern immer noch sehr groß; es gibt einige ganz besonders gravierende regionale Unterschiede. Eine bundesdurchschnittliche Betreuungsquote von circa 23 Prozent, wie wir sie jetzt haben, ist nicht ausreichend. Das macht auch der jüngste Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes sehr deutlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, vor diesem Hintergrund und auch angesichts des aktuellen Zwischenberichts zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes ist es unseres Erachtens fatal und in keiner Weise nachvollziehbar, dass die Regierungskoalition immer noch an dem unsinnigen Betreuungsgeld festhält. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vorgestern kam eine Meldung über den Ticker, dass Frau Haderthauer statt der bisher diskutierten 150 Euro sogar 500 Euro Betreuungsgeld fordert. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat die zu viel Geld?) Heute ist sie bereits ein Stück weit zurückgerudert und sagte, das solle nicht jetzt sofort so sein, sondern sei eine Zukunftsvision. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zukunftsillusion!) Für uns ist das keine Zukunftsvision. Es würde ungefähr 6 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Dieses Geld würde beim weiteren Ausbau der frühkindlichen Bildung dringend fehlen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ach! Man sollte von dem Thema auch etwas verstehen!) Vielleicht erinnern Sie sich, Frau Bär, noch an die jüngste Mahnung der OECD, die ich eingangs erwähnte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ein weiterer wichtiger Aspekt, den wir in unserem Antrag „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an“ ansprechen, ist der enorme Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern. Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts fehlen allein in Niedersachsen – das ist das Bundesland, aus dem ich komme – mehr als 5 000 Fachkräfte. In anderen Bundesländern ist die Situation vergleichbar. Fachkräfte fehlen überall. Weil der Erziehermangel den Ausbau zu bremsen droht, müssen wir handeln. Die Gewerkschaften weisen zu Recht darauf hin, dass dieser Beruf aufgewertet und besser bezahlt werden muss. Darüber herrscht grundsätzlich Einigkeit; das war auch heute im Ausschuss der Fall. Nur: Wir dürfen es nicht beim Benennen der Problematik belassen. Wir müssen auch handeln. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit über einem Jahr, dass Sie, Frau Schröder, als zuständige Ministerin den Ausbau der frühkindlichen Bildung auf die Agenda setzen und einen neuen Krippengipfel einberufen, zumal auch zahlreiche Expertinnen und Experten davon ausgehen, dass der Bedarf an Krippenplätzen deutlich höher ausfällt als bislang angenommen. Insbesondere in städtischen Regionen wächst der Bedarf kontinuierlich. Die angestrebte 35-Prozent-Quote für 2013 wird nicht ausreichen. Auch dies haben das Deutsche Jugendinstitut und andere Expertinnen und Experten immer wieder deutlich gemacht. Wir brauchen ganz dringend eine aktuelle und regional differenzierte Analyse des tatsächlichen Bedarfs an Krippenplätzen. Hier brauchen wir endlich Klarheit und Transparenz. Erst dann können wir, was die angestrebten Zahlen im Hinblick auf Plätze, Fachkräfte und Finanzierung angeht, gezielt nachsteuern. In einem nächsten Schritt brauchen wir einen nationalen Bildungspakt. Bund und Länder müssen gemeinsam Vereinbarungen treffen, wie sie beispielsweise die Zahl der Ganztagsplätze erhöhen und – auch dies ist angesprochen wor-den – die Qualität in Krippen und Kitas steigern wollen; das ist ganz dringend erforderlich. Wir brauchen eine Fachkräfteoffensive, die ihren Namen wirklich verdient. Das alles sind keine Kleinigkeiten. Das alles braucht Kraft und Mut aller Beteiligten, und zwar auf allen politischen Ebenen. Wer Familien heute und in Zukunft besser fördern will, kommt am Ausbau der frühkindlichen Bildung nicht vorbei. Es ist deshalb unerlässlich, auch die Ausgaben für frühkindliche Bildung zu steigern. Das Vorhaben, ein Betreuungsgeld einzuführen, sollte die Bundesregierung endlich begraben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich kann nicht verstehen, warum sich die Bundesfamilienministerin unseren Forderungen nicht anschließt. Diese Woche haben Sie, Frau Ministerin, ein neues Serviceprogramm zur frühkindlichen Entwicklung von Kindern gestartet. Ich sage Ihnen: Solche befristeten Initiativen, die in ein paar Jahren wieder eingestampft werden, reichen nicht aus. Ein nationaler Bildungspakt, wie wir ihn fordern, wäre hingegen eine nachhaltige und notwendige Strategie. Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Frau Schröder, es wäre gut, wenn Sie bei diesem wichtigen Thema mit der Arbeit beginnen würden. Es hilft den Kindern und den Familien in unserem Land nicht, wenn in Reden die Bedeutung der frühkindlichen Bildung und der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf betont wird. Sie müssen entsprechend handeln. Ich hoffe, dass dies demnächst passieren wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf Wilhelm von Humboldt zitieren. Er hat einst gesagt: So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend auch der Einfluß der Erziehung sein mag, so sind doch noch immer wichtiger die Umstände, welche den Menschen durch das ganze Leben begleiten. Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag diese Erziehung allein nicht durchzudringen. Ja, es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Umstände für Familien zu gewährleisten. In diesem Punkt ist Humboldt ganz aktuell. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir wurden vorwurfsvoll gefragt, welche Umstände wir schaffen. Diese schwarz-gelbe Koalition investiert insgesamt 12 Milliarden Euro mehr in die Bildung. Das fängt bei der frühkindlichen Bildung an und geht bis zur Hochschulfinanzierung. In diesem Punkt lassen wir uns nichts vorwerfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Welche Umstände schaffen wir noch? Klar, im europäischen Vergleich könnten wir beim quantitativen und auch beim qualitativen Ausbau besser sein. Dafür haben wir im europäischen Vergleich die geringste Jugendarbeitslosigkeit und eine der geringsten Arbeitslosigkeiten insgesamt. Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation der Familien schaffen wir Umstände, die für ein gutes und gesundes Aufwachsen von Kindern notwendig sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die längsten Warteschleifen und das größte Übergangssystem!) Die Maßnahmen, die wir hier ergriffen haben, sind eben nicht befristet. Ich habe es gesagt: Andere Länder sind uns voraus. Der Monitor Familienleben 2011 bestätigt: 72 Prozent der Deutschen wünschen sich, dass wir in der Familienpolitik vor allen Dingen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Ja, wir müssen die Quantität steigern, aber hier sind auch die Länder gefordert, ihren Teil beizutragen; das habe ich in der letzten Rede hier im Plenum schon gesagt. Baden-Württemberg ist mit nur 57 Pro-zent an abgerufenen Mitteln Schlusslicht; bei Bremen sind es 65 Prozent und bei Brandenburg und Sachsen 66 Pro-zent. Wir von Bundesseite tragen unseren Teil bei und stehen auch in schwierigen Haushaltszeiten dazu, aber auch die Länder müssen hier ihren Beitrag leisten. Wir investieren auch in die Qualität der Betreuung. Das ist äußerst wichtig; Frau Bär hat das bereits angesprochen. Dies gilt aufgrund der Herausforderung durch die vielen Kinder mit Migrationshintergrund gerade für die Sprachförderung. Deswegen ist es ein richtiger Ansatz, mit der Offensive Frühe Chancen insgesamt 4 000 Kitas zu unterstützen und Kinder von klein auf sozial und sprachlich zu fördern. Diese 400 Millionen Euro sind bestens investiertes Geld; denn wir alle wissen: Was wir in den frühen Jahren investieren, zahlt sich später tausendfach aus. Unser Ziel ist ganz klar: Wir möchten es den Familien in den unterschiedlichsten Lebensmodellen ermöglichen, sich zu entfalten und ihren Weg zu gehen. Dafür stellen wir die Infrastruktur und die Qualität zur Verfügung – ganz im Sinne Humboldts. Vielen Dank. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Millionenloch bei Kinderbetreuung“, „Ganztagsbetreuung mit Hindernissen“, „Der Krippenplatz als Lottogewinn“, das sind Schlagzeilen aus Tageszeitungen der letzten 14 Tage. Sie beschreiben knallhart die Situation knapp zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruches auf einen Kindertagesbetreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr. Das ist Alltag, vor allem im Westen der Bundesrepublik. Vor diesem Hintergrund kann man sich bei der Lektüre der drei vorliegenden Berichte zum Stand des Ausbaus der Kindertagesbetreuung nur verwundert die Augen reiben; denn bei aller positiven Entwicklung beim Ausbau der Betreuungslandschaft scheint die Bundesregierung die Realität der Familien mit kleinen Kindern noch immer nicht ernst genug zu nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Sicher, im letzten Bericht der Bundesregierung wurde der Bedarf auf 38 Prozent nach oben korrigiert und sogar als erreichbares Ziel beschrieben. Ob das aber für alle jungen Eltern ausreicht, die in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder ein Betreuungsangebot brauchen, ist mehr als zweifelhaft. Das Familienministerium zieht seit Jahren statistische Hochrechnungen zurate, die die Bevölkerungsentwicklung der nächsten Jahrzehnte abbilden. Mich interessieren aber die Familien vor Ort und ihre Probleme, die Familien, die es direkt betrifft. Wenn laut einer Forsa-Umfrage fast 66 Prozent der Frauen zwischen 18 und 40 Jahren ihr Kleinkind außer Haus betreuen lassen wollen, kann man die Zielstellung des Ministeriums wohl nicht zu Unrecht infrage stellen. Sie planen an den realen Bedarfen vorbei. Dabei besagt selbst die Statistik, die Sie, Frau Dr. Schröder, heranziehen, dass es Ende 2013 circa 1,97 Millionen Kinder unter drei Jahren geben wird. Bei angestrebten 750 000 Kitaplätzen dann noch von einem garantierten Rechtsanspruch zu sprechen, hält meine Fraktion weiterhin für Etikettenschwindel. (Beifall bei der LINKEN) Dies geht zulasten der Kommunen, weil genau dort im Sommer 2013 die Klagewellen der Eltern aufschlagen werden. Nicht im Kanzleramt oder im Familienministerium, sondern an den Rathaustüren und bei den Kitaleiterinnen wird sich der Frust der Eltern entladen. Das ist ein Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auf ein weiteres Problem hat das Deutsche Jugendinstitut im August dieses Jahres in sehr nachdrücklicher Weise hingewiesen: Die Bundesregierung verabschiedet ein Gesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung, ohne dabei zu bedenken, dass man für mehr Kitaplätze natürlich auch mehr Erzieherinnen und Erzieher braucht. Ja, wir haben zur Kenntnis genommen, dass das Familienministerium hier seit dem vergangenen Jahr investiert. Aber auch Ihr Modellprojekt – wie sollte es anders sein – „Mehr Männer in Kitas“ wird die Probleme, die Sie seit Jahren vor sich herschieben, nicht lösen. Das Geld für dieses Projekt wird in den nächsten Jahren genauso tröpfchenweise verdampfen, wie Sie es auszahlen, weil Sie die Hinweise der Wissenschaft, der Gewerkschaften und der Opposition seit Jahren ignorieren. Bereits 2007 fragte meine Fraktion die Bundesregierung, ob sie die Einschätzung der GEW teile, dass der Personalbedarf ab 2013 die Zahl der vorhandenen und in Ausbildung befindlichen Fachkräfte weit übersteige. Die Antwort der Bundesregierung damals: Der Bedarf an Fachkräften wäre damit rein rechnerisch gedeckt. Das Deutsche Jugendinstitut belegt nun das Gegenteil. Die Einlösung des Rechtsanspruches droht auch daran zu scheitern, dass es nicht genügend qualifiziertes Personal in den Kindertagesstätten geben wird und dass darüber hinaus Tagespflegepersonen in großem Umfang fehlen. Die Bundesregierung treibt hier ein ganz geschmackloses Spiel auf dem Rücken vor allem der Frauen, die seit Jahren in Kindertagesstätten und in der Tagespflege für einen Jammerlohn arbeiten. Vielleicht sollte und muss man das Ministerium und die Ministerin noch öfter daran erinnern, dass eines der Fs im Titel des Ministeriums für „Frauen“ steht. Wir wiederholen unsere Forderungen: Erhöhen Sie den Anteil des Bundes an den Kosten für den Ausbau der Kindertagesbetreuung! Verständigen Sie sich mit den Ländern auf ein tragfähiges Konzept zur Aus- und Weiterbildung von pädagogischem Fachpersonal für die frühkindliche Bildung! Helfen Sie den Kommunen dabei, den Beschäftigten in diesem extrem wichtigen Bereich endlich gerechte Löhne zu zahlen! Lassen Sie die Eltern und die Kinder nicht länger im Regen stehen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Katja Dörner für Bündnis 90/Die Grünen. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich komme mir heute Abend ein bisschen vor wie bei Dinner for One, wenn der Butler sagt: „The same procedure as last year, Miss Sophie.“ Wir diskutieren den diesjährigen KiföG-Bericht. Die Problemlagen, die wir schon in den vergangenen Jahren identifiziert haben, haben sich faktisch nicht verändert. Die Bundesregierung hat sich ihrer nicht angenommen, und das, obwohl der Termin des Rechtsanspruchs immer näher rückt und der Handlungsbedarf immer dringlicher wird. Der Knackpunkt ist die Festlegung auf einen Ausbau für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren. Es ist glasklar, dass 35 Prozent nicht ausreichen werden. Es ist schon gesagt worden – dies kann ich nur unterstrei-chen –, dass die Kommunen im Regen stehen bleiben, wenn der Bedarf über die 35 Prozent hinausgeht. Die Bundesregierung lenkt im KiföG-Bericht mit dem Hinweis auf die demografische Entwicklung von diesem Problem ab. Dazu kann man nur sagen: Achtung, ganz böse Falle! Das DJI belegt nämlich sehr eindrücklich, dass der Bedarf jährlich um 1 Prozent steigt. Das heißt, wir müssen davon ausgehen, dass 2013 ein Bedarf von rund 42 Prozent besteht. Auf diese Dynamik müssen wir uns endlich einstellen. Hier ist aus unserer Sicht der Bund in der Pflicht, seine finanzielle Beteiligung endlich den realistischen Bedarfszahlen anzupassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Auch der Qualitätsaspekt bleibt weiterhin unterbelichtet. Wir brauchen dringend einen besseren Personalschlüssel. Wir stellen an die Kitas hohe Anforderungen, was die frühkindliche Bildung angeht. Damit die Einrichtungen diese hohen Anforderungen und auch die Hoffnungen, die man zu Recht in sie setzt, überhaupt erfüllen können, brauchen wir einen besseren Personalschlüssel. Auch hier bleibt die Bundesregierung jede Antwort schuldig. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktionen mit einem langen Katalog wichtiger und, wie ich finde, auch richtiger Forderungen, aber man muss darauf hinweisen, dass alles unter Finanzierungsvorbehalt gestellt ist. Im Haushalt werden dafür keine Mittel zur Verfügung gestellt; das ist auch nicht angedacht. Ich möchte es ein bisschen härter formulieren: Ich ärgere mich darüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Dieser Antrag ist aus meiner Sicht reine Makulatur. Damit wird den Leuten Sand in die Augen gestreut, weil Aktivitäten suggeriert werden, die nicht stattfinden. Bei den Kindern, den Familien und den Einrichtungen kommt nichts an. Ich möchte den Blick noch auf die Kindertagespflege richten. Hier sind die Herausforderungen riesig: nicht nur, dass rund 30 000 Tagespflegepersonen fehlen, um 2013 die Betreuungsquote von 35 Prozent erfüllen zu können. Vielmehr ist im Gesetz auch fixiert, dass die Kitabetreuung und die Tagespflege gleichwertig nebeneinander stehen sollen, und zwar gleichwertig mit Blick auf Bildung, Betreuung und Erziehung. Nun ist es aber Fakt, dass rund 35 Prozent der heutigen Tagespflegepersonen keinerlei pädagogische Qualifikation oder eine Qualifikation haben, die unter dem liegt, was eigentlich als Standard gelten sollte, nämlich der 160-Stunden-Kurs nach dem DJI-Standard. Das ist auf Dauer überhaupt nicht akzeptabel. Ich finde es unfair, wenn die Bundesregierung, wie in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage, die Verantwortung dafür komplett den Kommunen zuweist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) „The same procedure as last year“ ist an Silvester ganz lustig. Angesichts der Herausforderungen im Bereich der Kinderbetreuung ist es beim KiföG-Bericht und bei den Anträgen, die wir heute behandeln, absolut unangemessen und nicht zu verantworten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg zwei Bemerkungen. Erste Vorbemerkung. Frau Marks, Sie haben aus dem OECD-Bericht richtig zitiert. Es ist tatsächlich so, dass wir in Deutschland für die Primarschulbildung und die vorschulische frühkindliche Bildung im internationalen Vergleich der OECD zu wenig Geld ausgeben. Sie müssen aber auch betonen, was ein Parlament, eine Bundesregierung machen sollte. Wir als Fraktion, die die Bundesregierung stützt, haben den Etat im Bereich Bildung um 54 Prozent im Vergleich zum letzten rot-grünen Etat gesteigert. Das ist eine hervorragende Leistung und zeigt, dass wir richtigerweise in Bildung investieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Zweite Vorbemerkung. Es geht um die ewige Debatte darüber, wo man ideologisch steht, wenn man für oder gegen den Kitaausbau ist. Unsere Position ist klar: Wir wollen den Familien Entscheidungs- und Wahlfreiheit ermöglichen. Ihre Position ist eine andere. Bei Ihnen ist es schon so, dass man Ihrem politischen Ansatz der Familienpolitik deutlich ein ideologiebehaftetes Gesellschaftsbild anmerkt. (Caren Marks [SPD]: Es geht um Bildung! Sie haben nichts verstanden!) – Moment, ich habe Sie schon verstanden. (Caren Marks [SPD]: Anscheinend nicht!) Noch einmal: Sie haben einen Absolutheitsanspruch, wie Familien ihre Lebensplanungen in den ersten Jahren des Kindes zu gestalten haben. (Caren Marks [SPD]: Nein! Der Bedarf ist doch noch gar nicht gedeckt!) Das machen wir nicht mit. Wir setzen auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir sind für den Ausbau der Kindertagesbetreuung. Sie brauchen mir nicht zu erklären, wie frühkindliche und vorschulische Bildung und deren Ausgestaltung auszusehen hat. Aber bitte lassen Sie die Familien entscheiden, (Dagmar Ziegler [SPD]: Eben!) wie ihre Kinder in den ersten Jahren aufwachsen sollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde Ihre Haltung diffamierend und despektierlich den Familien gegenüber, die sich in den ersten Jahren ihres Kindes entschieden haben, sich selbst um die Betreuung und Bildung der Kinder zu kümmern. Diesen Anspruch auf Absolutheit können Sie nicht erheben; das sollten Sie den jeweiligen Familien überlassen. (Zuruf von der SPD) – Nein, ich bin nicht stehen geblieben. Aber es gibt bestimmte Forschungsergebnisse, die sich auch einmal die Kolleginnen und Kollegen der SPD vertieft anschauen sollten, gerade im Bereich der Bindungsforschung, die dazu führen, dass man durchaus zu anderen Überlegungen kommen kann. Trotzdem sagen wir als Regierung – da sind wir im Kern einer Meinung –: (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was heißt denn „trotzdem“?) Wir sind für den Ausbau der Kindestagesbetreuung, weil wir Respekt vor den persönlichen und familiären Entscheidungen haben. Sie müssen den Familien, denen Sie in der Frage des Betreuungsgeldes kritisch gegenüberstehen, aber auch Antworten darauf geben, wie Sie die Leistung dieser Eltern entsprechend würdigen wollen. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist völlig richtig. (Caren Marks [SPD]: Vor allem mit der Union war das damals nicht einfach!) Dazu gab es damals auch das Übereinkommen mit den Ländern und Kommunen. Was die Vorgabe von 33 Prozent angeht, die auf dem Barcelona-Gipfel im Jahr 2002 verabredet wurde, glaube ich, dass eine Diskussion, ob es 45 oder 55 Prozent sein sollen, uns derzeit sicherlich nicht weiterbringt. Wir sollten uns vielmehr mit der Frage befassen, wo wir zum jetzigen Zeitpunkt stehen. Die aktuellen Daten des zweiten KiföG-Berichts belegen im Vergleich der Jahre 2008 und 2010, dass wir in weiten Teilen gut vorangekommen sind. Im März 2008 wurde in den westlichen Ländern noch jedes achte Kind und in den ostdeutschen Ländern jedes fünfte Kind in einer Kindertageseinrichtung oder in Tagespflege betreut; wir hatten eine Betreuungsquote von 17,8 Prozent. Im Jahr 2010 lag die Quote bundesweit bereits bei 23 Prozent. Das heißt, es wurde mehr als jedes fünfte Kind betreut; es waren 55 000 Kinder mehr als im Jahr 2009. (Dagmar Ziegler [SPD]: Aber nicht ganztags! Stundenweise!) An dieser Stelle sei auch daran erinnert, wer mindestens Mitverantwortung für den Ausbau der Kindertagesbetreuung hat: Das sind die Kommunen, die seit 1992 – das ist im KJHG verankert – Kitaplätze nach Bedarf schaffen sollen. Man muss den Blick auf jedes einzelne Bundesland richten: Was hat das Bundesland geleistet? Ich komme aus Hamburg und sage gerne, dass wir als CDU den Etat für den Ausbau der Kindertagesbetreuung nach der Regierungsübernahme 2001 um 60 Prozent erhöht haben, und zwar auch mit der Verwirklichung von Rechtsansprüchen. Ich glaube, dass man genau prüfen muss, wo die Länder und Kommunen innerhalb ihrer Verantwortung entsprechende Ergebnisse erzielen. Mit der derzeitigen Ausbaudynamik und aufgrund des demografischen Wandels wäre eine Quote von 38 Prozent zu erreichen. Ich will aber nicht die Frage vertiefen, ob es 38, 35 oder 45 Prozent sein sollen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Genau! – Caren Marks [SPD]: Davon sind wir aber noch weit entfernt!) Es geht vielmehr darum, dass das, was Eltern brauchen, vom Staat abgedeckt werden muss. Wenn Eltern ihr Kind in einer Kindertagesstätte betreuen und bilden lassen wollen, dann muss der Staat dies leisten. Die Frage ist, ob dieser quantitative Ausbau tatsächlich gewährleistet ist. Wir werden das in den nächsten Jahren weiter vertieft überprüfen und Druck erzeugen, dass dies zu passieren hat. Dann kommt ein Punkt, der für uns von entscheidender Bedeutung ist. Frau Dörner hat unseren Antrag nicht richtig interpretiert. Es geht nicht nur um die Quantität, sondern um die Qualität von frühkindlicher und vorschulischer Bildung. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht auch um die Quantität! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beides!) Das bedeutet zum Beispiel auch den qualitativen Ausbau der Kindertagespflege. Seit dem Start des Aktionsprogramms Kindertagespflege ist das Qualifikationsniveau in der Kindertagespflege bereits von 8 auf 22 Prozent angestiegen. Der Anteil des Personals ohne Qualifizierung hat sich dagegen auf rund 14 Prozent reduziert. Der Anstieg ist noch zu niedrig und der Anteil des Personals ohne Qualifizierung noch zu hoch, aber die Bundesregierung ist dabei, auch hier die richtigen Maßnahmen zu treffen. Ein Programm wurde bereits erwähnt, nämlich die Offensive „Frühe Chancen zur Sprachförderung an Kitas“, für die 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Ich kann das, was Kollegin Bär bereits gesagt hat, nur bestätigen. Schauen Sie sich in den Wahlkreisen an, wie Sprachförderung auch anders entwickelt werden kann! (Caren Marks [SPD]: Was glauben Sie, was wir machen!) Wir haben heute Morgen im Ausschuss auch sehr intensiv über die Frage diskutiert und gestritten, welche Verantwortung Männern und Jungen zukommt. Ich glaube, die Initiative „Mehr Männer in Kitas“ ist vor diesem Hintergrund richtig. Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zur Bildungsimplikation. Nicht nur das Familienministerium, sondern auch das Bildungsministerium ist dafür zuständig. Ich will im Stakkato nur einige Maßnahmen nennen: „Haus der kleinen Forscher“, die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, die Medienqualifizierung für Erzieherinnen und Erzieher oder das BIBER-Netzwerk frühkindliche Bildung. Ich glaube, dass die Maßnahmen nur in Abstimmung zwischen Familienministerium und Bildungsministerium gestaltet werden können. Wir haben in unserem Antrag deutlich die Frage nach der Qualität gestellt, Frau Dörner. Aber das können wir in Teilen nicht alleine machen. Wenn wir Standards für Kitas einführen wollen, dann brauchen wir die Länder. (Caren Marks [SPD]: Richtig! – Dagmar Ziegler [SPD]: Dann holen Sie sie heran!) Wenn wir Zertifizierungsmaßnahmen wollen, dann brauchen wir die Länder. Wenn wir Eckpunkte oder einen Strategiekreis schaffen wollen, um die Qualität zu überprüfen, dann müssen wir das gemeinsam mit Kommunen und Ländern entwickeln. (Caren Marks [SPD]: Das habe ich gesagt!) Das haben wir in unserem Antrag definiert. Denn es macht keinen Sinn, nur über den quantitativen Ausbau von Kindertagesbetreuung zu diskutieren; es muss verlässlich und verbindlich – damit komme ich wieder zum OECD-Bericht – auch ein qualitativer Ausbau damit einhergehen. Was die Bundesregierung leisten kann, hat sie geleistet. In den nächsten Wochen und Monaten gilt es, diesen Ausbauprozess intensiv zu begleiten und möglicherweise auch Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Ich denke insbesondere an die, die in den Kommunen und Ländern Verantwortung übernommen haben. Ich glaube, dann haben wir den richtigen Weg eingeschlagen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung entscheidet über die Zukunft eines jeden Menschen. Frühkindliche Bildung ist deshalb für mich eine soziale Frage. In dem Ziel, frühkindliche Bildung zu stärken, sind sich alle Fraktionen hier einig. Es gibt allerdings auf dem Weg dorthin Unterschiede. Die SPD hat vorrangig Kitas im Blick. Auf die Tagespflege gehen Sie in Ihrem Antrag gar nicht ein. Dabei hat die Tagespflege in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Deshalb gehört sie unbedingt dazu. (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Ohnehin geht es in allen Ihren Forderungen um Geld. Frühkindliche Bildung ist für mich nicht nur eine Sache des Geldes und schon gar nicht ausschließlich Sache des Staates, sondern immer sind auch die Eltern gefordert. Die FDP-Fraktion setzt grundsätzlich darauf, Vielfalt zu fördern – ich betone: Vielfalt –, aber auch auf Eigenverantwortung von Kindern und Eltern. Im SPD-Antrag ist zum Beispiel von einem Bildungssoli die Rede. Noch ein Soli? Da machen wir auf keinen Fall mit. Bei der frühkindlichen Bildung hat es seit der Regierungsübernahme durch die christlich-liberale Koalition deutliche Fortschritte gegeben. Allein in diesem Jahr investiert das Bundesbildungsministerium gemeinsam mit dem Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend zusätzlich 100 Millionen Euro in die frühkindliche Bildung. Der Ausbau der Kinderbetreuung in Deutschland macht gute Fortschritte. Allein bei mir vor Ort haben wir mittlerweile beim Krippenbau einen Anteil von 42 Prozent. Seit dem Inkrafttreten des Kinderförderungsgesetzes ist das Betreuungsangebot in den Tageskindereinrichtungen und in der Kindertagespflege deutlich größer geworden. Der Bund unterstützt den qualitätsorientierten Ausbau der Betreuung maßgeblich, und zwar freiwillig; denn für die Kinderbetreuungsinfrastruktur sind bekanntlich die Länder zuständig. Die Koalition setzt aus zwei Gründen neue Maßstäbe bei der frühkindlichen Bildung. Erstens. Wir wollen Chancengleichheit für alle Kinder von Anfang an, also allen Kindern gute Startchancen verschaffen. Zweitens. Wir wollen Väter und Mütter unterstützen, sich ihren Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erfüllen. Da ist es ganz wichtig, dass die Eltern sich darauf verlassen können, dass ihr Kind nicht nur verwahrt, sondern gut betreut wird. Das Kinderförderungsgesetz legt deshalb einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Betreuungsqualität. Frühkindliche Bildung bedeutet auf der einen Seite Sprach- und Wissensvermittlung. Allein in Berlin sind in diesem Sommer 4 500 Kinder eingeschult worden, die unzureichende Sprachkenntnisse haben. Viele von ihnen sind Migrantenkinder. Deutschlandweit hat mittlerweile ein Drittel aller Kinder im Vorschulalter einen Migrationshintergrund. Das ist nicht das Problem, wohl aber die Tatsache, dass bei einem Drittel dieser Kinder zu Hause und da, wo gespielt wird, kein Deutsch gesprochen wird. Aber auch die Zahl der Kinder aus sozialen Brennpunkten mit nur geringem Wortschatz nimmt ständig zu. Ein Kind, das bei uns aufwächst, muss bei der Einschulung die deutsche Sprache beherrschen. Mit der Offensive „Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas & Integration“ setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass jedes Kind von Anfang an faire Chancen hat. 4 000 Schwerpunkt-Kitas fördert die Bundesregierung seit März dieses Jahres bis zum Ende 2014. Dafür stellt der Bund die beträchtliche Summe von 400 Millionen Euro zur Verfügung. Frühkindliche Bildung umfasst aber nicht nur Sprache und Integration, sondern auch die Vermittlung von sozialen Kompetenzen. Hinter diesem hochtrabenden Wort stehen Werte, die heute leider nicht mehr selbstverständlich sind: Respekt, Toleranz, aber auch Verantwortungsbewusstsein und Verlässlichkeit. Das ist mir ein wichtiges Anliegen. Die meisten Eltern ermöglichen ihren Kindern gute Startbedingungen. Wir dürfen aber nicht ignorieren, dass es immer mehr verunsicherte Eltern gibt, die in der Erziehung und bei der Betreuung überfordert sind. Auch hier hat die Koalition vieles auf den Weg gebracht. Stichworte sind Elternkurse, Familienhebammen, Projekte von Stadtteilmüttern, Familienzentren usw. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Nicole Bracht-Bendt (FDP): Unser Antrag hat zum Ziel, bei der frühkindlichen Bildung weiter voranzukommen. Dazu gehört zum Beispiel die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der Frühpädagogen. Bei allen Zielen setzen wir auf verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen in Form des Qualitätsprogramms für frühkindliche Bildung, – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, das war ernst gemeint. Sie müssen zum Schluss kommen. (Heiterkeit) Nicole Bracht-Bendt (FDP): – sofort –, unter Mitwirkung der Kommunen, Kirchen, freien Wohlfahrtsverbände und anderer Anbieter in freier Trägerschaft. Ganz herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/4249 zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2008 sowie für das Berichtsjahr 2009 und zu weiteren Vorlagen zur Kinderbetreuung. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis der genannten Unterrichtungen die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3663 mit dem Titel „Faire Teilhabechancen von Anfang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1973 mit dem Titel „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1778 mit dem Titel „Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung realisieren – Kostenkalkulation für Kinderbetreuung überprüfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5900 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine bessere Bildungssituation weltweit – Drucksache 17/6484 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Bärbel Kofler (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist vom Zeitpunkt her sehr passend, dass wir uns nach der Debatte über Defizite und Versäumnisse in der innerdeutschen Bildungspolitik mit der Bildung weltweit auseinandersetzen. Wir als SPD-Fraktion haben einen Antrag mit dem Titel „Für eine bessere Bildungssituation weltweit“ vorgelegt, mit dem wir die Bedeutung des Themas in den Mittelpunkt stellen und die Notwendigkeit des Handelns unterstreichen möchten. Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinaus in einigen Punkten einig. Diese betreffen die Situationsbeschreibung. Fast 70 Millionen Kinder weltweit haben keinen Zugang zu Schulbildung und keine Möglichkeit, ihr verbrieftes Menschenrecht auf Bildung wahrzunehmen. Das ist ein Skandal und eine Schande. Ich glaube, diese Einschätzung teilen wir über die Fraktionsgrenzen hinaus. Wir sind uns vielleicht auch in einigen anderen Punkten einig. Handlungsbedarf besteht auf zwei Ebenen. Ich habe gerade gesagt, dass knapp 70 Millionen Kinder noch keinen Zugang zu Schulbildung haben. Deshalb muss, was die Einschulungszahlen betrifft, verstärkt auf der quantitativen Ebene gehandelt werden. Es muss aber auch in Qualität investiert werden. Die UNESCO legt uns dazu ganz eindeutige Zahlen vor. Wenn wir nur die universelle Grundbildung sicherstellen wollen – wir sprechen noch gar nicht von großen Qualitätssprüngen –, sind 1,9 Millionen Lehrer nötig. Nur dann haben alle Kinder die Möglichkeit auf einen Zugang zu Schulbildung. Wir müssen gemeinsam mit unseren Partnerländern in die Lehrerausbildung, aber auch in die Bezahlung der Lehrer investieren. Nur dann, wenn die Bezahlung der Lehrer stimmt, werden wir erreichen, dass die Unterrichtszeiten, die in vielen Ländern auf dem Papier stehen, tatsächlich eingehalten werden. Es geht um den Zugang zu Lehrmitteln, um Qualität, um Ausstattung, um Klassenräume. Das sind Punkte, die viele Kollegen teilen. Wenn man in den verschiedenen Ländern unterwegs ist, sieht man sich oft der Situation gegenüber, dass Schüler zu Hundert in einer Klasse sitzen, dass sich drei Schüler eine Schulbank teilen, dass Schüler am Boden sitzen. Dabei geht es auch darum, ob das, was unterrichtet wird, überhaupt aufgenommen werden kann. Das hat viel mit Qualität zu tun. Ein entscheidender Punkt für uns ist, den Fokus stärker auf die Frage zu richten: Was verhindert eigentlich, dass viele Kinder in die Schule gehen können? Einen Punkt möchte ich noch einmal ganz deutlich unterstreichen: Kinderarbeit ist eines der größten Hemmnisse für den Schulzugang von Jungen und Mädchen, insbesondere aber – wir haben es heute im Ausschuss gelernt – von Mädchen. 100 Millionen mehr Mädchen als Jungen müssen Kinderarbeit leisten und werden deshalb noch einmal explizit benachteiligt, wenn es um den Schulzugang geht. Das Verbot der Kinderarbeit und damit auch die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen sind ganz entscheidend, wenn wir an dieser Stelle vorankommen wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Weil es bei diesen Themen manchmal harmonisch zugeht und wir gemeinsame Ansätze haben, möchte ich zwei Punkte herausgreifen, bei denen ich deutliche Unterschiede sehe oder das Ministerium sehr dringend auffordern möchte, bei seiner Strategie nachzubessern. Der erste entscheidende Punkt ist das Thema „Mädchen und Frauen“. Ich finde es traurig, dass in der Bildungsstrategie, die vom Ministerium vorgelegt wurde, dem Thema „Mädchen und Frauen“ in keiner Weise adäquat Rechnung getragen wird. Unter den zehn Punkten, die Sie explizit als Handlungsfelder definieren, gibt es keinen einzigen, der sich mit Frauen und Mädchen beschäftigt. (Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Das stimmt so nicht!) Das kann so nicht bleiben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie hätten heute die Gelegenheit, das zu heilen, indem Sie einfach unserem Antrag zustimmen; denn wir legen den Fokus explizit auf das Thema Mädchenbildung, auf das Thema Frauenbildung. Uns ist heute im Ausschuss von Expertinnen noch einmal sehr deutlich vorgetragen worden: Es gehen weltweit weniger Mädchen als Jungen zur Schule. Wenn sie zur Schule gehen, gehen sie kürzere Zeit zur Schule, absolvieren also weniger Schuljahre. 100 Millionen mehr Mädchen als Jungen – ich habe es schon erwähnt – sind von Kinderarbeit betroffen. Die Folge davon ist: Die Armut weltweit ist weiblich. Zu 70 Prozent sind von extremer Armut Frauen betroffen. Wenn wir hier mit unserer Bildungsstrategie eingreifen würden, dann – auch das ist uns heute vom Kinderhilfswerk Plan noch einmal sehr deutlich gemacht worden – hätte das positive Auswirkungen auf die gesamte Entwicklung der Länder, der Menschen und insbesondere der Frauen, aber auch auf die ökonomische Situation der Länder. Wir haben gelernt: Sieben Jahre und mehr Schulbesuch für Mädchen hätte positive Effekte auf die Geburtenrate; sie würde sinken. Die Kindersterblichkeit würde abnehmen. Das Einkommen der Frauen würde sich ganz deutlich erhöhen. Das Wirtschaftswachstum – darauf legt die FDP immer so großen Wert – würde um bis zu 3 Prozent steigen, wenn nur 10 Prozent der Mädchen in den Entwicklungsländern eine Sekundarschule besuchen würden. Diese Zahlen muss man sich einmal vor Augen halten und in den Mittelpunkt stellen. Ich verstehe nicht, dass diesem wesentlichen und zentralen Punkt in der Strategie keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. (Beifall bei der SPD) Manchmal würden einfache Maßnahmen dazu beitragen, dass mehr Mädchen auch die höheren Klassen besuchen. Ich denke etwa an getrennte Schultoiletten für Jungen und Mädchen. Mit ganz einfachen Maßnahmen könnte man manchmal große Erfolge erzielen. Einen zweiten Punkt wollen wir im Zusammenhang mit der Bildungsstrategie ganz deutlich anmahnen. Es geht um die Frage: Was ist eigentlich die Rolle des Staates in der Bildung, und was ist die Rolle der Privaten in der Bildung? Wir haben im letzten Jahr in einer Anhörung des Ausschusses zum Thema Millenniumsziele von der Vorsitzenden der Global Campaign for Education, Frau Assibi Napoe, gehört: Bildung muss öffentlich und kostenlos sein. – Es geht also darum, staatliche Akteure in ihrer Verantwortung zu begleiten, zu unterstützen und zu stärken, damit in den Partnerländern Bildungssysteme aufgebaut werden können, die für alle zugänglich sind. Es geht auch darum, das Schulangebot für die Kinder kostenlos zur Verfügung zu stellen. Wenn ich mir die Punkte der Strategie des BMZ anschaue, stelle ich fest: Zwar wird an der einen oder anderen Stelle auf die Verantwortung der staatlichen Akteure verwiesen, aber dass wirklich in einen Kontext gestellt wird, wie wir gemeinsam mit den Ländern eine Strategie, auch eine finanzielle Strategie, dazu entwickeln, wie wir vorankommen, sodass die staatliche Kernaufgabe Bildung ernst genommen wird, sehe ich in diesem Papier leider nicht. Ich denke, auch da besteht dringender Handlungsbedarf, dringender Nachbesserungsbedarf. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Dieser besteht auch deshalb, weil wir damit Signale in die Partnerländer aussenden. Wenn in einem Punkt explizit die Privatindustrie und die privaten Träger als Akteure angesprochen werden, die staatlichen aber nicht zumindest in demselben Maße, dann, denke ich, senden wir falsche Signale in die Partnerländer. Das hat natürlich auch etwas mit der Frage zu tun: Wie gehen wir mit einer gemeinsamen Bildungsfinanzierung nicht nur in Deutschland, sondern auch mit anderen Partnerländern um? Wenn man sich anschaut, dass in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Bedarf und die Finanzanforderungen für den Bereich Bildung explizit gestiegen sind, dann wird auch hieran deutlich, dass hier nachgelegt werden muss. Seit 2002 hat sich die internationale Unterstützung für Grundbildung verdoppelt. Es gibt auch Erfolge in diesem Bereich, wenn es um Einschulungen geht. Aber seit 2008 stagnieren diese Zahlen international auf einem Niveau von 4,7 Milliarden Dollar. Im südlichen Afrika sanken die Ausgaben für Bildung in den letzten Jahren um 4 Prozent. Das ist, glaube ich, etwas, was wir gemeinsam so nicht hinnehmen können; denn genau in diesen Regionen ist der erhöhte Bedarf, wenn es um einen Zugang zu Bildung für alle geht, ganz evident. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich habe daher die dringende Bitte auch an die Bundesregierung, bei der Wiederauffüllung des sogenannten Catalytic Funds im Herbst oder Winter dieses Jahres, bei dem es gerade um die Initiative „Education for All“, „Bildung für alle“, geht, eine klare Zusage seitens Deutschlands zu machen und sich ordentlich zu beteiligen, wie es unseren Möglichkeiten als Staat entspricht, um wirklich Bildung für die Ärmsten der Armen in dieser Welt organisieren zu können. Ich glaube, Bildung international ist ein Bereich, in dem wir viele Gemeinsamkeiten haben. Aber ich bitte Sie noch einmal dringend: Denken Sie an die Mädchen! Denken Sie an die staatlichen Akteure! Das ist ein ganz zentraler Punkt. Stellen Sie sich auch der Herausforderung der Bildungsfinanzierung! Das wären die ganz wesentlichen Punkte. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Anette Hübinger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Anette Hübinger (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Kolleginnen von der SPD, ich habe mich eigentlich gefreut, als Ihr Antrag auf meinen Schreibtisch kam. Ich habe gedacht: Nun kämpfen wir einmal wieder gemeinsam in der Entwicklungszusammenarbeit für die Bildung. Aber leider musste ich feststellen, dass nichts Neues drinstand. Ich muss sagen, irgendwie scheint Ihnen in der Opposition der Biss verloren gegangen zu sein; denn all das haben wir in unserem Antrag schon aufgeführt. Frau Kofler, wenn ich Sie daran erinnern darf: All das, was Sie jetzt schreiben, steht in unserem Antrag drin, (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Nein!) – doch! –, und den wollten Sie eigentlich in die Tonne treten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben auch die Gelegenheit verpasst, öffentlich zu den vorgelegten Eckpunkten der neuen Bildungsstrategie des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Stellung zu nehmen und – was noch viel wichtiger ist – durch Ideen den Prozess zur Findung einer neuen Bildungsstrategie, den das Ministerium angestoßen hat, zu unterstützen und zu befruchten. Stattdessen listen Sie davon losgelöst bekannte Probleme und Herausforderungen im Bildungsbereich von Entwicklungsländern auf. Dazu gehört auch die Mädchenfrage. Aber in dem Weltbankbericht, über den gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtet wurde, wird aufgeführt, dass in 45 Entwicklungsländern heute mehr Mädchen die Sekundarschule besuchen als Jungen und dass in 60 Entwicklungsländern mehr Frauen die Universität besuchen als Männer. Ich selbst habe auf meiner Reise gemeinsam mit Hartwig Fischer in Lesotho feststellen können: In den Schulklassen, die uns mit Gesang erfreuten, waren fast nur Mädchen. Warum? Weil die Jungen die Schafe hüten mussten. Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit ist ein zentrales Thema der christlich-liberalen Koalition. Deshalb haben wir bereits im Herbst des vergangenen Jahres – ich habe es schon erwähnt – einen Antrag mit Vorschlägen und Kritikpunkten eingebracht. Bildung ist für uns das zentrale Thema, damit die Menschen ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen können. Bildung und Wissen sind Nahrung für den Aufbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen. Das haben wir nicht zuletzt in Nordafrika und in der arabischen Welt in diesem Frühjahr und Frühsommer erlebt. Viele der jungen Männer und Frauen, die dort auf die Straße gegangen sind und für Veränderungen und Reformen kämpfen und eintreten, gehören zur Bildungselite dieser Länder. Auch deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir den Bildungsbereich in der Entwicklungszusammenarbeit zu einem Schwerpunkt machen. Dabei müssen wir passgenaue Bildungskonzepte für und mit unseren Partnerländern entwickeln und umsetzen, wobei eine Fokussierung auf bestimmte Bereiche – sei es auf frühkindliche Bildung, Grund- und Sekundarbildung bis hin zur beruflichen Bildung und dem lebenslangen Lernen – in den einzelnen Partnerländern sicherlich zu mehr Effizienz führt. Gerade weil im Bereich Bildung ein umfassender Ansatz erforderlich ist, ist das Thema Arbeitsteilung umso bedeutender. Frau Kofler hat darauf zu Recht hingewiesen. Eine bessere internationale Arbeitsteilung unter den Gebern muss endlich angegangen werden, und Befindlichkeiten müssen zugunsten einer höheren Wirksamkeit von Entwicklungszusammenarbeit zurückstehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir als CDU/CSU-Fraktion werden internationale Arbeitsteilung, den sogenannten Code of Conduct, weiter vorantreiben. Für unsere Entwicklungszusammenarbeit wird das letztendlich auch heißen, dass wir uns aus einigen Bereichen zugunsten anderer Geber zurückziehen und zu mehr Kooperation mit anderen Gebern bereit sein müssen. Ich hoffe sehr, dass wir dabei auf dem High Level Forum IV zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit in Busan Ende November ein großes Stück vorankommen werden. Die Verringerung der Fragmentierung der Entwicklungszusammenarbeit wird für unseren Erfolg entscheidend sein. Gerade wir als Europäer stehen in einer besonderen Pflicht. Liebe Kollegen der SPD-Fraktion, da Sie das in Ihrem Antrag auch so sehen, hoffe ich, dass wir gemeinsam weiterkommen und Sie uns unterstützen. Des Weiteren müssen wir im Bildungsbereich unsere Fähigkeiten und Kapazitäten, in denen wir am erfolgreichsten sind, ausbauen und so andere Geber ergänzen. Es muss letztendlich darum gehen, den Menschen in unseren Partnerländern durch gute und erreichbare Bildungsangebote neue Lebensperspektiven zu eröffnen. Deshalb war es auch der richtige Schritt, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Minister Niebel sich dafür entschieden hat, den Bildungssektor allgemein zu stärken und die Investitionen für den Bildungsbereich in Afrika – ein Kontinent mit vielen Defiziten – bis 2013 zu verdoppeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die vorgelegten Eckpunkte für eine neue Bildungsstrategie des Bundesministeriums gehen aus unserer Sicht in die richtige Richtung, nämlich einen stärkeren Fokus auf die Qualität der Bildungsangebote zu legen sowie eine bedarfsgerechte Ausrichtung und die Berücksichtigung eines ganzheitlichen Bildungsansatzes zu verfolgen. Ein Hauptaugenmerk der neuen Bildungsstrategie mit dem Namen „Mehr Bildung. Mehr Wachstum. Mehr Gerechtigkeit.“ ist es, die Qualität von Schulen, Ausbildungsstätten und Bildungsangeboten in unseren 58 Partnerländern zu verbessern. Darüber waren sich auch die Teilnehmer der Auftaktveranstaltung im März, als der Entwurf der Bildungsstrategie vorgestellt wurde, einig. Denn leider stellen wir immer wieder fest, dass Mädchen und Jungen trotz Schulbesuch oft weniger lernen, als sie eigentlich könnten. Einer Studie von 2009 zufolge waren in Indien nur 38 Prozent der Viertklässler auf dem Land in der Lage, einen Text auf dem Lernniveau der zweiten Klasse zu lesen. In Malawi und Sambia konnten mehr als ein Drittel im sechsten Schuljahr nicht flüssig lesen. Oft fehlt es an einfachem Lernmaterial; und überfüllte Schulen – Frau Kofler hat es erwähnt – bieten keine gute Lernatmosphäre. Hinzu kommt, dass die Qualität der Lehrerausbildung oft nicht ausreichend ist. Abhilfe ist hier dringend geboten und erforderlich. Die ersten Projekte wurden bereits gestartet. So wurde beispielsweise die GIZ in Kabul damit beauftragt, das dortige Kabul Mechanical Institute, eine Berufsschule mit 100 Lehrern und 1 200 Auszubildenden, zu unterstützen. Die dortigen Lehrer erhalten nun ein fundiertes und regelmäßiges Fort- und Weiterbildungsangebot. Erschreckend ist auch, dass Schulen in vielen Bürgerkriegsländern in Afrika und Asien häufig Ziel von Angriffen sind. Die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation registrierte im Jahr 2009 in Afghanistan 613 Attacken auf Schulen. Im Nordjemen wurden 220 Schulen bei Kämpfen zerstört. Im Kongo gehen viele Mädchen nicht zum Unterricht, aus Angst, dass sie auf dem Weg zur Schule oder in den Klassenräumen von Milizionären überfallen und vergewaltigt werden könnten. Vielen Regierungen in den armen Staaten, in den Entwicklungsländern, sind Soldaten wichtiger als Lehrer und Schulen nicht so wichtig wie Panzer. 21 Entwicklungsländer geben mehr für Rüstung aus als für die Bildung und für die Schulen. Deshalb muss von den Regierungen der Entwicklungsländer immer wieder eingefor-dert werden, für die Bildung ihrer Bürger zu sorgen. Solange dies von staatlicher Seite und von staatlichen Stellen ungenügend wahrgenommen wird, müssen private Träger als Alternative im Bildungsbereich unterstützt werden. Gerade Kirchen schließen in ganz besonderer Weise diese Lücke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum Schluss möchte ich auf ein weiteres Erfordernis hinweisen. Wir brauchen eine stärkere Analyse der Probleme, aber auch von Ergebnissen und Erfolgen, um in der Entwicklungspolitik im Allgemeinen wie auch im Bildungsbereich im Besonderen voranzukommen. Auch das hat die Regierung aufgegriffen. Die vom BMZ gewählte Form, gemeinsam mit Hilfsorganisationen, Universitäten, Stiftungen, unabhängigen Experten und allen an der Thematik Interessierten eine Strategie zu erarbeiten, ist innovativ und bündelt das gesamte Fachwissen. Ich hoffe, dass viele ihre Ansichten und Meinungen im Bereich Bildung eingebracht haben, und bin auf die Vorstellung der Ergebnisse durch das Ministerium gespannt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben die Chance meines Erachtens nicht so genutzt, wie sie hätte genutzt werden können. Ich hoffe aber, dass wir in der Bildung auch zukünftig auf einen guten Konsens kommen, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nunmehr Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nelson Mandela, der ehemalige Präsident Südafrikas, hat einmal gesagt: Das größte Problem in der Welt ist Armut in Verbindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass Bildung alle erreicht. Wo Bildung fehlt, fehlt auch der Ausweg aus Armut, Hunger und Krankheit. Wie man sich etwa vor HIV schützen kann, müssen Menschen lernen. Bildung ist dafür existenziell. Deshalb ist Bildung ein Menschenrecht. Nur ein Kind, das Bildung erhält, hat als Erwachsener die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Nur durch Bildung kann es seine Rechte kennenlernen und geltend machen. 72 Millionen Kinder in den Entwicklungsländern, die heute nicht lesen und schreiben lernen, werden um diese Chancen betrogen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. (Beifall bei der LINKEN) Entscheidend für die Bildungschancen von Kindern sind aus meiner Sicht vier Punkte. Erstens brauchen wir Kostenfreiheit. Der vorliegende Antrag der SPD hat den Kern getroffen: gebührenfreier Schulbesuch, kostenlose Lernmittel. Ich möchte hinzufügen: keine Studiengebühren. Die große Mehrheit der Eltern in den Entwicklungsländern kann es sich schlicht nicht leisten, für den Schulbesuch ihrer Kinder zu bezahlen. Wer sagt, er möchte allen Kindern weltweit die Chance auf Bildung geben, muss deshalb Ja zur Gebührenfreiheit sagen. (Beifall bei der LINKEN) Das muss auch Herr Niebel endlich zur Kenntnis nehmen. Denn der Entwurf einer Bildungsstrategie des Entwicklungsministeriums spricht das Problem von Schul- und Studiengebühren nicht einmal an. (Zuruf von der LINKEN: Genau!) Ich hoffe nicht, dass dies aus irgendwelchen niederen ideologischen Motiven heraus so ist, nach dem Motto: Als Koalition sind wir in Deutschland für Studiengebühren; deshalb erteilen wir auch international Gebühren keine klare Absage. Das wäre verantwortungslos Millionen Kindern gegenüber, die ohne Zugang zu Bildung sind. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Wir brauchen ein hochwertiges staatliches Schulsystem. In vielen Entwicklungsländern ist das Bildungssystem stark privatisiert. Es gibt eine fast schon unüberschaubare Anzahl von privaten Trägern. Die Bundesregierung will aber laut dem Konzeptentwurf noch mehr nichtstaatliche Kräfte ins Boot holen. So soll die Kooperation mit der deutschen Privatwirtschaft ausgebaut werden. Ich sage Ihnen noch einmal: Bildung ist ein Menschenrecht. Das Profitinteresse, das Unternehmen naturgemäß haben, deckt sich nicht mit dem Erfordernis, allen Menschen Zugang zu Bildung zu bieten. Bildung darf nicht von wirtschaftlichen Interessen abhängen. (Beifall bei der LINKEN) Bildung ist eine öffentliche Aufgabe. Darauf sollte sich die Bundesregierung auch international konzentrieren. Drittens. Wir brauchen echte Bildungspartnerschaften mit den Entwicklungsländern statt westlicher Arroganz. Die Bildungsstrategie des Ministeriums zeugt leider nicht von der vielbeschworenen Kommunikation auf Augenhöhe. Sie unterstellt, dass viele Länder schlicht nicht ernsthaft gewillt sind, ihren Bildungssektor selbst ausreichend zu finanzieren. Das ist nicht nur eine Unverschämtheit, sondern in dieser Absolutheit auch einfach falsch. (Beifall bei der LINKEN) Viertens. Falsch ist es insbesondere deswegen, weil spätestens seit dem UNESCO-Weltbildungsbericht bekannt ist, dass mehr Geld gebraucht wird. Rund 16 Milliarden US-Dollar fehlen, um das Ziel „Bildung für alle“ durchzusetzen. Für diesen Geldmangel sind auch Sie von der Bundesregierung verantwortlich. Sie haben das Ziel aufgegeben, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, und dies, obwohl Sie für Bankenrettungen ohne Weiteres jederzeit Milliarden zur Verfügung stellen. Das ist ein Armutszeugnis für Ihre Entwicklungszusammenarbeit. (Beifall bei der LINKEN) Partnerschaft auf Augenhöhe im Bildungssektor bedeutet nicht, den Partnerländern westliche Lernkonzepte überzustülpen. Stattdessen müssen wir die Experten aus den Ländern selbst befähigen, eigene Konzepte auf Grundlage ihrer Bildungstradition zu entwickeln. Dazu braucht es mehr Budgethilfe im Bildungssektor. Wir haben das Vertrauen, dass die Partnerländer am besten wissen, wie man das Geld erfolgreich einsetzt. Partnerschaft auf Augenhöhe funktioniert nur durch Vertrauen und nicht durch Unterstellung. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Christiane Ratjen-Damerau für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass die SPD-Fraktion sich unseren Koalitionsvertrag, die Arbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und die Arbeit der Regierungskoalition zum Vorbild genommen hat. Mit Ihrem Antrag für eine bessere Bildung weltweit wiederholen Sie die Arbeit, die wir bereits in den letzten zwei Jahren geleistet haben. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Schön wär’s!) Die christlich-liberale Koalition hat die Forderung nach einer weltweit besseren Bildungssituation ausdrücklich als einen der Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeit im Koalitionsvertrag festgeschrieben. (Beifall bei der FDP) Ausformuliert haben wir in der Regierungskoalition diese Forderung des Koalitionsvertrages im Juni letzten Jahres in dem Antrag „Bildung in Entwicklungs- und Schwellenländern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen und wirksamer gestalten“. Verabschiedet wurde der Antrag im November letzten Jahres. Sie hätten bereits zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, unseren Forderungen zuzustimmen. Die Grünen haben sich der Stimmen enthalten; SPD und Linke stimmten dagegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Aus gutem Grund!) Mädchenförderung, Förderung der beruflichen Bildung, Ausbau der Sekundarschulen und der weiterführenden Bildungsangebote, Verbesserung der Qualität der Bildung, Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation etc.: All diese Forderungen finden Sie in unserem Antrag ausgeführt. Sie haben der Grund- und Sekundarbildung eine zentrale Stellung in Ihrem Antrag eingeräumt. Damit sind Sie genau auf der Linie der christlich-liberalen Koalition. Grundbildung ist und bleibt ein fundamentales Anliegen für uns. Eine zentrale Frage in den Entwicklungsländern ist jedoch: Was wird den Grundschulabgängern als Perspektive geboten? Deshalb haben wir schon vor einem Jahr zusätzlich zur Grundbildung vor allem Anstrengungen in der Sekundarbildung gefordert. Eine große Herausforderung bleibt das Erreichen einer Grundschulbildung für alle Kinder weltweit. Aber Sie müssen anerkennen, dass sieben Staaten in Subsahara-Afrika das zweite Millennium-Entwicklungsziel beinahe erreicht haben. Die Förderung von Sekundarschulen ist deshalb unerlässlich. Hier wird noch einiges zu tun sein. In den nächsten zwei Monaten wird der Bundesminister die Bildungsstrategie seines Ministeriums vorstellen. (Zuruf von der FDP: Guter Mann!) Der erste Entwurf dieses Strategiepapieres wurde bereits im März dieses Jahres veröffentlicht. Alle von Ihnen im vorliegenden Antrag gestellten Forderungen finden Sie im Wesentlichen bereits in diesem Entwurf. An einigen Stellen geht der Entwurf des Bundesministeriums über Ihre Forderungen hinaus. So erkennt der Minister, dass es in den Entwicklungsländern einer stärkeren Förderung der Hochschulbildung bedarf. Außerdem soll die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel überprüft und erhöht werden. Beides ist richtig. In der rot-grünen Regierung hatte man bewusst entschieden, keine Mittel für Projekte in der Hochschulbildung bereitzustellen. Wir unterstützen bereits jetzt die Panafrikanische Universität als ein Leuchtturmprojekt; andere werden folgen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Trotz des Sparzwangs aller Bundesetats sollen die Bildungsausgaben für Afrika im Vergleich zum Jahre 2009 bis zum Jahre 2013 verdoppelt werden. Ebenso wird die Zahl der Partnerländer mit dem Schwerpunkt Bildung erhöht. Dies zeigt, welche Bedeutung die christlich-liberale Koalition der weltweiten Bildung zumisst. Der Minister hat seit Veröffentlichung des Strategiepapieres in einem transparenten und umfangreichen Prozess Konsultationen mit allen beteiligten Akteuren geführt. Es gab darüber hinaus sechs Dialogveranstaltungen zur Diskussion des Entwurfes der neuen BMZ-Bildungsstrategie. In unserem Ausschuss waren sich die Vertreter aller Fraktionen mit den Nichtregierungsorganisationen darüber einig, dass die Mädchenförderung ein größeres Gewicht und eine stärkere Betonung erhalten muss. Wir haben dies immer wieder und nachhaltig in unseren Stellungnahmen zum Entwurf der Bildungsstrategie deutlich gemacht. Das Ministerium hat bereits Zustimmung dazu signalisiert, die Mädchenförderung in der Bildungsstrategie deutlicher hervorzuheben. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, also! Wunderbar! Prima! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!) Auch wir bekennen uns dazu, dass in erster Linie der Staat Bildung zur Verfügung stellen muss. Angesichts stark unterfinanzierter Bildungshaushalte in den Entwicklungsländern und generell knapper Mittel spielen die Leistungen der Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen jedoch eine wichtige Rolle; diese soll ausgebaut werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Privatisierung der Bildung nennt man das!) Die von der Koalition geforderte Verstärkung der Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft sollte nicht aus ideologischen Gründen abgelehnt werden. Besonders im Bereich der beruflichen Bildung können Unternehmen einen bedeutenden Beitrag leisten. Bildung ist nicht nur ein entscheidendes Feld in der Entwicklungspolitik, sondern auch ein Menschenrecht. Unser Antrag aus dem letzten Jahr und die kommende Bildungsstrategie aus dem Ministerium bilden den besten Weg, um Bildung als Menschenrecht durchzusetzen. Es freut mich außerordentlich, dass Sie das nach so langer Regierungszeit, in der Sie das BMZ geführt haben, nun genauso sehen wie wir. Sie stimmen sogar bei der Frage der Umsetzung der Ziele im Großen und Ganzen mit Union und FDP überein. Lassen Sie uns daher gemeinsam an einer Verbesserung der Zukunftschancen von Menschen in Entwicklungsländern arbeiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir können Ihrem Antrag jedoch nicht zustimmen; denn wir haben vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern, bereits erreicht. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: „Bereits erreicht“? – Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie haben die Strategie doch gerade erst vorgelegt! Da können Sie doch noch nichts erreicht haben!) Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Ute Koczy vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum muss man eigentlich immer noch auf die Bedeutung der Bildung hinweisen? Ist das nicht längst ein Selbstläufer? Wir kennen die Antwort: Nein, Bildung ist kein Selbstläufer; sie ist und bleibt ein Politikum. Wir vom Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit wissen: Wenn wir die Bildungsziele wirklich bis 2015 erreichen wollen, dann müssen massiv Mittel nachgelegt werden. Frau Kollegin Ratjen-Damerau, das ist – anders als Sie es ganz am Ende Ihrer Rede gesagt haben – noch nicht erreicht. Da muss noch viel mehr kommen; deswegen diskutieren wir heute darüber. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das BMZ hat im März dieses Jahres eine Bildungsstrategie vorgelegt, doch sie verdient den Namen „Strategie“ nicht wirklich; denn es bleibt unklar, durch welche Maßnahmen die Ziele erreicht und wie diese finanziert werden sollen. Es gibt keine Indikatoren und keine konkreten Zahlen. Auch im Hinblick auf die Ziele der Strategie stellen wir fest, dass wesentliche Elemente fehlen. Jetzt haben wir gehört, dass nachgebessert wird; denn – man höre und staune – das Ministerium hat vergessen, das Gender Gap zu thematisieren. Mädchen- und Frauenförderung ist – das wird wahrscheinlich noch bis zum Herbst so sein – kein eigenständiges Ziel der BMZ-Bildungsstrategie. Deswegen hat die SPD recht, wenn sie das kritisiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich frage: Wie will das Ministerium ohne ein solches Bekenntnis dafür sorgen, dass Mädchen und Frauen gefördert werden? Diese Chance ist vertan worden. Es freut mich natürlich, zu hören, dass das BMZ an dieser Stelle nachbessern will; denn wir brauchen eine klare Genderperspektive im Bildungssektor. Dieses Problem besteht nicht nur in der Grundbildung, sondern setzt sich in der Sekundarbildung fort. Wir sehen, dass das BMZ Wert auf die Grundbildung legt. Es legt auch Wert auf Hochschulbildung und Wissenschaft. Der Fokus wird aber nicht auf die Sekundarbildung gerichtet. Das heißt, dass auch hier massiv nachgebessert werden muss. Ich erwarte vom Ministerium, dass auch diese eklatanten Mängel ausgebessert werden. Ein weiterer Punkt: Es fehlt der Bezug zur Fast-Track-Initiative. In der Bildungsstrategie des BMZ wird angekündigt, dass Deutschland diese Reform vorantreiben will. Das ist angesichts der strukturellen Schwächen und Verschleißerscheinungen der Fast-Track-Initiative natürlich zu begrüßen. Klar ist aber auch, dass es finanzielle Engpässe gibt. In der Strategie findet man aber nichts darüber, wie man im Rahmen des Haushaltsentwurfs diese Lücken schließen will. Das kritisieren wir. Anfang September, anlässlich des Weltbildungstages, konnten wir von Minister Niebel hören, Deutschland sei der zweitgrößte Geber im Bildungsbereich. Gucken wir doch einmal genauer hin: Kommt die Bundesregierung ihren internationalen Verpflichtungen tatsächlich nach? Wir stellen fest, dass ein großer Teil der deutschen ODA-Quote aus Studienplatzkosten für Studierende aus Entwicklungsländern besteht. Das begrüßen wir zwar grundsätzlich; das heißt aber auch, dass dieses Geld nicht in die eigentliche Bildungsförderung geht. Das ist falsch. Das ist verkehrt. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist doch falsch! Das ist doch Bildung! Da werden doch Leute ausgebildet!) Zum Antrag der SPD: Sie hätten aus den zuvor genannten Gründen in Ihrem Antrag deutlicher Kritik an der Bildungsstrategie des BMZ üben können. Das ist aber kein Grund, den Antrag jetzt abzulehnen. Weil wir hinsichtlich Analyse und Forderungen übereinstimmen, werden wir zustimmen. Der Zugang zu Bildung weltweit und insbesondere die Qualität der Bildung müssen verbessert werden. Da sind wir uns, glaube ich, einig. Sie müssen aber mehr für die Mädchen und die Frauen tun. Im Ausschuss wurden heute Morgen einige Beispiele aus der Praxis genannt, zum Beispiel getrennte Schultoiletten. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass – es war erschreckend, das festzustellen – die Menstruation ein Hindernis für die Mädchen darstellt, die Sekundarschule zu besuchen, weil sie keine Möglichkeit haben, in diesem Zustand in die Schule zu gehen. Es gibt Vorschläge, wie man dieses Problem lösen kann. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sehen: Es gibt viele Chancen, mehr zu tun. Fakt ist: Wir müssen sie nutzen. Packen Sie es an! An das BMZ gerichtet, sage ich: Im Herbst haben Sie noch eine Chance. Setzen Sie das, was Sie versprochen haben, auch um. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6484 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen – Drucksache 17/7021 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sabine Weiss von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Wochenende bin ich in meinem Freundeskreis gefragt worden, welche Initiativen aus meinem Bereich, der Entwicklungspolitik, als Nächstes anstehen. Ich habe dann von unserem gemeinsamen Antrag zur Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen berichtet. Ich habe geschildert, wie desolat und schlimm die Lebensbedingungen vieler Mädchen und junger Frauen in Teilen dieser Welt sind, wie sie benachteiligt werden und wie groß die Gewalt ihnen gegenüber ist. Ich habe von Zwangsverheiratung, von fast 15 Millionen Teenagerschwangerschaften, von mangelndem Zugang zu Bildung und zu Gesundheitsversorgung berichtet. Ich habe auch davon berichtet, dass 150 Millionen Mädchen unter 18 Jahren ihre ersten sexuellen Kontakte unter Anwendung von Gewalt erleben müssen. Meine Schilderungen der Situation von Mädchen wurden mit Entsetzen und der Aufforderung „Da muss aber dringend etwas getan werden“ aufgenommen. Dann wurde mir aber die Frage gestellt: Was wird sich an der Lebenssituation von Mädchen ändern, wenn es nun – neben all den anderen Tagen – auch noch einen UN-Mädchentag gibt? Wir können uns nicht vorstellen, dass auch nur ein Mädchen mehr aufgrund eines solchen Tages zur Schule geht. Das ist doch wieder alles nur Symbolpolitik. – Bei dieser Bemerkung habe ich angesichts der Offenheit erst einmal geschluckt. Im Kern ist etwas Wahres daran. Ein UN-Tag für die Rechte von Mädchen darf nicht zu reiner Symbolik verkommen. Wir brauchen ohne Zweifel einen UN-Mädchentag, aber als ersten Schritt. Seine bloße Existenz allein wird nicht das Ende des Leidens von vielen jungen Frauen und Mädchen markieren. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, den 22. September zum UN-Mädchentag zu deklarieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es wäre ein erster und wichtiger Sieg im Sinne von mehr Aufmerksamkeit für die sehr schwierige Lebenssituation vieler Mädchen. Aber nur wenn wir es schaffen, diesen Tag mit Leben zu füllen, wird er sein eigentliches Ziel erreichen. Das Bewusstsein weltweit muss geschärft werden, damit sich im Leben vieler Mädchen etwas zum Guten verändern kann. Wir können hier im Deutschen Bundestag keine Gesetze erlassen, die Genitalverstümmelung weltweit verbieten oder Zwangsverheiratung von Mädchen in anderen Ländern unter Strafe stellen. Aber wir können dafür sorgen, dass die Rechtlosigkeit und die Unterdrückung von Mädchen ein Stück mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Das tun wir heute und hier mit unserer Debatte und der Forderung nach einem UN-Mädchentag. Ich habe leider nicht die Zeit, auf alle im Antrag geschilderten Missstände und Benachteiligungen von Mädchen weltweit einzugehen. Damit würde ich wohl – sehr zum Missfallen des Präsidenten – meine Redezeit um ein Vielfaches überschreiten. Daher möchte ich heute Abend einen Punkt herauspicken. Weltweit sind schätzungsweise 150 Millionen Frauen genitalverstümmelt. Jedes Jahr kommen 3 Millionen Mädchen hinzu. Genitalverstümmelung ist eine furchtbare Menschenrechtsverletzung, unter der die Opfer physisch und psychisch ihr Leben lang leiden. Viele Mädchen überleben diese Prozedur erst gar nicht. Ich habe vor einiger Zeit einen Aufklärungsfilm über Genitalverstümmelung gesehen. Der Film zeigt dieses tagtäglich an Mädchen begangene Verbrechen mit schonungsloser Offenheit. In einer Szene wird ein Mädchen von seiner eigenen Mutter festgehalten, damit eine Frau, bewaffnet mit einer schmutzigen Rasierklinge, ihr blutiges Geschäft vollenden kann. Danach näht diese Frau das Mädchen wie ein Stück gerissenen Stoff zu. Die ins Mark gehenden Schreie dieses Mädchens verfolgen mich noch heute. Diese barbarische Tortur müssen jedes Jahr 3 Millionen Mädchen erleiden. Wenn ich mir das vorstelle, dann finde ich, dass es höchste Zeit ist, durch einen UN-Mädchentag mehr Aufmerksamkeit auf diese furchtbare Praxis zu richten. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da muss der Finger in die Wunde gelegt werden, und zwar permanent, damit das Bewusstsein für das, was man Töchtern und Ehefrauen durch Genitalverstümmelung antut, wächst. Es gibt noch viel zu viele Länder, in denen diese grausame Menschenrechtsverletzung aufgrund irgendwelcher Traditionen an der Tagesordnung ist. Wenn ein UN-Mädchentag helfen kann, dieses Bewusstsein zu schärfen, dann brauchen wir diesen Tag eher heute als morgen. Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an die Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für Bevölkerung und Entwicklung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung. Dieser Beirat beschäftigt sich mit Themen wie der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und den Rechten von Frauen und Mädchen. In diesem überfraktionellen Beirat wurde auch die Idee zu diesem Antrag geboren. Meine geschätzte Kollegin Frau Roth hat dann einen ersten Entwurf erarbeitet. Auch dafür meinen herzlicher Dank! Dass es dieser Antrag hier und heute ins Plenum des Deutschen Bundestages geschafft hat, freut mich sehr. Es wundert mich aber auch nicht; denn in dem Beirat arbeiten wir überfraktionell sehr gut und konstruktiv zusammen. Die unterschiedlichen Fraktionen sind ja sonst in manchen bis vielen Dingen unterschiedlicher Meinung; das zeigt sich auch in entsprechend kontroversen Diskussionen hier im Plenum. Aber unser gemeinsamer Antrag zeigt, dass wir auch an einem Strang ziehen und gemeinsam für eine Sache eintreten können. Die Einrichtung eines UN-Mädchentages ist ein erstrebenswerter erster und wichtiger Schritt und damit keine Symbolpolitik. Es ist an uns allen, diesen Tag, sollte er – hoffentlich – kommen, mit Leben und Aufmerksamkeit zu füllen; denn nur so kann er sein Ziel erreichen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Karin Roth von der SPD. Karin Roth (Esslingen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen gemeinsamen Antrag zur Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen. Kollegin Weiss hat gerade sehr eindrücklich geschildert, wie wichtig es ist, dass wir hierzu eine gemeinsame Verabredung treffen. Wir müssen in der Welt deutlich machen, dass wir die unterschiedlichen Initiativen, die es bereits gibt, unterstützen. Ich bin sehr froh, dass es zwischen uns – bei allen Unterschieden – viele Gemeinsamkeiten gibt und dass wir dies auch zum Ausdruck bringen. Die vorangegangene Debatte, in der deutlich wurde, dass wir das Thema Bildung in den Mittelpunkt rücken und die damit verbundenen Herausforderungen bewältigen müssen, war ein Beweis dafür, dass wir noch viele Initiativen ergreifen müssen, um auf diesem Gebiet voranzukommen. Im Hinblick auf die Frage „Handelt es sich hierbei um Symbolik oder ist das ein notwendiger Schritt?“ sollten wir Frauen uns unsere eigene Situation bewusst machen. Auch wir Frauen haben unsere Erfolge nicht von heute auf morgen erzielt. Es bedurfte eines Frauentages und einer Frauenbewegung, um erfolgreich zu sein. Wir alle haben uns zusammengeschlossen und gemeinsam gekämpft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht darum, das Bewusstsein der Frauen in den betreffenden Ländern zu schärfen, Aufklärung zu organisieren und den Frauen Mut zu machen, aus ihrem Teufelskreis herauszukommen. Das gilt nicht nur für das Thema Genitalverstümmelung – hier bin ich voll und ganz Ihrer Meinung –, sondern auch auf anderen Gebieten. Mit der Einrichtung eines Weltmädchentages ist die große Aufgabe verbunden, Aufklärung zu organisieren, den Mädchen Mut zu machen, für ihre Rechte zu kämpfen und überall dort, wo es brennt, den Finger in die Wunde zu legen. Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, dass dieses Thema viele Facetten hat. In Nepal gibt es Mädchen aus dem Stamm der Kamalari, die schon mit sechs Jahren verkauft werden. Eines dieser Mädchen schrieb – das möchte ich zitieren –: Meine Kindheit war zu Ende, als ich sechs Jahre alt war. Da verkauften mich meine Eltern per Handschlag für 120 Euro nach Kathmandu. Man hatte mir versprochen, dass ich zur Schule gehen würde. Aber ich wurde als Dienerin verkauft und nicht als Schülerin. Mein Arbeitstag beginnt morgens um vier – Putzen, Kochen, Waschen –, und oft werde ich geschlagen. In Nepal ist Kinderhandel verboten – theoretisch. Praktisch findet er dort aber jeden Tag statt. Ich selbst habe mit Mädchen in Kathmandu gesprochen, die das alles erlebt haben. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den Gesetzen und deren Einhaltung. Das kennen wir auch von unserer Republik. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Mädchen sind Sklavinnen. Sie sind diejenigen, die dienen und die misshandelt und sexuell missbraucht werden – millionenfach. Allein das ist ein Grund dafür, einen UN-Tag für Mädchen einzuführen; denn Menschenrechte gelten für alle, für Männer und Frauen gleichermaßen. Die Ausbeutung und Benachteiligung von Mädchen geschieht aber, ohne dass es einen großen Protest gibt. Die Geringschätzung von Mädchen und Frauen hat tiefe Wurzeln. Das haben wir heute Morgen auch diskutiert. Grund dafür sind die kulturellen Denkweisen, die Traditionen und die religiösen Überzeugungen, nach denen Mädchen und Frauen gegenüber Jungen minderwertig sind. Diese Schranke zu durchbrechen, diese kulturelle Barriere zu überwinden, die mehr oder weniger dazu führt, dass Mädchen in diesen Gesellschaften so behandelt werden, ist das Komplizierteste, was wir uns mit diesem Weltmädchentag der Vereinten Nationen vornehmen. Deshalb verlangen wir nichts weniger als den Versuch, das Miteinander in diesen Gesellschaften zu verändern. Dazu können wir nicht in allen, aber in vielen Bereichen beitragen. Es gibt wirklich Dinge, die gleichzeitig angepackt werden müssen – eben nicht nur die Bildung, sondern vieles zusammen –, und zwar mit vereinten Kräften. Wir wissen – das haben wir schon gehört –, dass gebildete Mädchen später gebären und vor allen Dingen weniger Kinder haben. Wenn sie ausgebildet sind, sind sie produktiver und auch selbstbewusster. Meine Kollegin Kofler hat es schon gesagt: Die besser Ausgebildeten tragen stärker zum Bruttosozialprodukt bei. Auch aufgrund des Berichtes der Weltbank ist klar: Bildung lohnt sich auf jeden Fall – nicht nur für die Mädchen, sondern auch für die Gesellschaft. Wir wissen, dass 70 Prozent der mehr als 1 Milliarde Menschen, die heute hungern, weiblich sind. Auch das zeigt, dass Mädchen besonders betroffen sind. Frau Kollegin Kofler, Sie haben es gesagt: 100 Millionen Mädchen sind von Kinderarbeit betroffen, weshalb sie gar nicht zur Schule gehen können. Auch das muss gesehen werden. Deshalb brauchen wir auch Maßnahmen dafür, dass Mädchen lernen können und nicht arbeiten müssen. Nicht zu vergessen sind auch die HIV-Infektionen, die Frauen und insbesondere junge Mädchen betreffen, die Müttersterblichkeit und die 6 Millionen ungewollten Teenagerschwangerschaften jedes Jahr, von denen viele mit Abtreibungen und erheblichen gesundheitlichen Folgen verbunden sind. Es geht also darum, große Tabus in diesen Ländern zu brechen. Hier müssen wir mithelfen. Wenn Mädchen zum Beispiel nicht aufgeklärt werden, dann führt das dazu, dass sie keine entsprechende Prävention betreiben können. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es herrscht eine große Doppelmoral, wenn man einerseits die Millionen Opfer von HIV/Aids und der Müttersterblichkeit beklagt, aber andererseits nicht das Notwendige dagegen tut. Das Notwendige zu tun, heißt aus meiner Sicht, dass wir im Rahmen unserer Entwicklungspolitik dafür sorgen müssen, dass die Mädchen trotz der päpstlichen Anweisung einen kostenlosen Zugang zur Aufklärung und zu Verhütungsmitteln haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Das ist eine entscheidende Maßnahme; denn es geht darum, dass man nicht nur die Zustände beschreibt, sondern auch die Wege öffnet, statt sie zu verschließen. Deshalb wundert es mich doch schon sehr, Frau Kollegin Kopp, dass die Bundesregierung die Mittel für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, UNFPA, dessen Schwerpunkt das Thema Familienplanung ist, um 9 Prozent reduziert, anstatt wenigstens das zu erhalten, was im vergangenen Jahr in diesem Bereich ausgegeben worden ist. Aber heute geht es um Gemeinsamkeiten. Meine Kollegin Weiss hat das Thema Genitalverstümmelung angesprochen, und es gibt weitere Themen. Ich denke, es kommt darauf an, dass die Würde der Mädchen, die Unversehrtheit des Körpers und die Frage der Vergewaltigung von Mädchen genauso in den Blick genommen werden wie alle anderen Dinge auch. Wir wollen mit diesem Mädchentag dazu beitragen, dass sich am Ende der Blickwinkel in den Ländern verändert. Ich wünsche mir, dass wir uns gemeinsam dafür engagieren, dass kein Mädchen auf der Welt mehr ausgebeutet, ignoriert, verletzt, unterdrückt, gegen ihren Willen verheiratet, zwangsprostituiert oder verkauft wird. Wenn es uns mit diesem Mädchentag gelingt, hier eine stärkere Aufmerksamkeit zu erreichen und die Welt ein Stück weit zu verändern, dann lohnt es sich, für diesen Tag nicht nur zu kämpfen, sondern ihn in allen Bereichen mit unserem Geld, unserem Engagement, unserem Wissen und unserer Kompetenz anständig zu unterstützen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP hat jetzt die Kollegin Helga Daub das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Helga Daub (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Ein Weltmädchentag der Vereinten Nationen? Ja, wir halten dies für eine wichtige und gute Initiative – so gut, dass wir einen fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrag formuliert haben. An dieser Stelle möchte ich allen ganz herzlich danken, die daran mitgewirkt haben. Einige werden sich natürlich fragen, warum wir einen Weltmädchentag fordern. Es gibt doch schon zu vielen Themen und Anlässen, die Kinder betreffen, besondere Tage, entsprechende UN-Konventionen und Resolutionen. Wir haben in Deutschland auch eine Kinderkommission, was begrüßenswert und sinnvoll ist. Obwohl wir uns Gott sei Dank mittlerweile viel intensiver mit den Rechten und dem Wohlergehen von Kindern beschäftigen, zeigt die Wirklichkeit, dass gerade Mädchen und junge Frauen noch stärkerer Beachtung bedürfen. Zwar sind wir in der sogenannten entwickelten Welt in den letzten Dezennien schon ein ganzes Stück vorangekommen. Frau Roth, Sie haben gesagt, dass noch viel zu tun sei. Das ist richtig. Auch wissen wir, welch wertvolles und letztlich unverzichtbares Potenzial Mädchen und junge Frauen haben und dass sie eine Bereicherung für die Gesellschaft sind. Bei uns ist es noch gar nicht so lange her, dass es hieß: Mädchen brauchen doch keine höhere Bildung. Sie heiraten am Ende ja doch. – In der Regel führte das dann geradewegs allenfalls in eine Hauswirtschaftsschule. Nicht, dass ich das herabwürdigen möchte, aber die höhere Bildung blieb den Mädchen dann verschlossen. Ich denke, dass es auch hier Kolleginnen gibt, die diese Geisteshaltung wie ich noch miterlebt haben. Heute müssen wir – jedenfalls bei uns – viel eher aufpassen, dass nicht kleine Jungen die Bildungsverlierer sind; das aber nur am Rande. Unser Antrag bezieht sich auf Mädchen, die in Gesellschaften leben, die ein völlig anderes Verständnis von der Rolle von Mädchen und jungen Frauen haben. In aller Regel ist dieses Verständnis traditionell bedingt. Häufig genug finden wir dieses Verhaltensmuster in weniger entwickelten, armen Ländern. Bildung, wenn überhaupt, kommt in diesen Ländern oft genug nur den Jungen zugute. Im Bildungsbereich haben wir in einigen Ländern schon gute Fortschritte erzielt. Auch bei dem anderen Antrag – dies haben meine Vorrednerinnen schon gesagt – ist noch viel zu tun. Das werden wir machen. Bildung bedeutet Aufklärung, Wissen und Bewusstsein, damit die nächsten Generationen von Mädchen mit mehr Rechten und unter größerem Schutz vor alltäglicher Unterdrückung und Gräueltaten aufwachsen können. Es darf nicht einfach hingenommen werden, dass Mädchen zum Beispiel zwangsverheiratet werden, zur Prostitution gezwungen werden oder sogar – auch davon haben wir eben gehört – verkauft werden. Mädchen haben genau wie Jungen Rechte und Würde. Sie sind keine Ware. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Traditionen sind durchaus oft etwas Gutes, Bewahrenswertes. Es gibt aber Traditionen, die mit unserem Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten völlig unvereinbar sind. Genitalverstümmelungen sind ein furchtbares Beispiel für eine solche Tradition, die Ächtung verdient, Ächtung in aller Konsequenz. Es darf nicht reichen, dass Staaten dieses grausame Ritual zwar gesetzlich verbieten, eine Mehrheit der Gesellschaft in diesen Staaten es aber duldet, weil es eben Tradition ist. Um dieses und um weitere wichtige Grundlagen wie Gesundheit und Familienplanung ins Bewusstsein der Menschen zu bringen, fordern wir die Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen am 22. September. Wir alle wissen um die gesundheitlichen Probleme von Mädchen und Frauen in vielen Ländern. Sie bekommen zum Beispiel schon sehr früh Kinder, zu einer Zeit, in der sie selber noch Kinder sind. Neben allen gesundheitlichen Problemen, die sich daraus ergeben, kommt häufig hinzu, dass sie noch nicht einmal ausreichend Nahrung für diese Kinder haben. Die Zahl der HIV-Infektionen bei Mädchen und jungen Frauen ist sehr viel höher als bei Jungen und jungen Männern. Deshalb ist hier Aufklärung sehr wichtig. Will man den Teufelskreis von Armut durchbrechen, sind Aufklärung, Bildung und das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen unabdingbar. Die Weltbank hat am Montag in Washington ihren diesjährigen Weltentwicklungsbericht veröffentlicht. Der Bericht der Weltbank fasst diese Problematik sehr gut und konkret zusammen, zeigt aber auch Beispiele und Wege auf, wie sich die Landschaft der Entwicklungsländer verändern könnte, wenn es mehr Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit gäbe. In den Entwicklungsländern „fehlen“ demnach geschätzte 3,9 Millionen Frauen in jedem Jahr, weil Mädchen eine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen, weil sie wegen einer Präferenz für Söhne nie geboren werden oder später als Mütter im Kindbett sterben. Der Bericht nennt noch weitere konkrete Beispiele. Ich möchte nur zwei aus der Landwirtschaft ausführen. Wenn Bäuerinnen dieselben Voraussetzungen und Möglichkeiten wie Bauern hätten, könnte die Maisernte in Malawi um 11 Prozent und in Ghana sogar um 17 Prozent gesteigert werden. Oder: Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft schätzt, dass die landwirtschaftlichen Erträge in Entwicklungsländern um 2,5 bis 4 Prozent wachsen würden, wenn Bäuerinnen denselben Zugang zu Ressourcen wie Bauern hätten. Diese Zusammenhänge gilt es, bewusst zu machen. Auch deshalb fordern wir den Weltmädchentag der Vereinten Nationen. Natürlich wäre es mit der Ausrufung eines solchen Tages allein nicht getan. Wir brauchen Aktionen, und zwar nicht nur bei uns, sondern gerade auch in den Ländern, in denen wir diese Traditionen aufbrechen wollen. Das ist auf jeden Fall eine schwere Aufgabe. Aber ein chinesisches Sprichwort lautet: Auch der längste Weg beginnt mit einem kleinen Schritt. – Ein Schritt wäre die Einführung eines Weltmädchentages am 22. September. Danke. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte aus aktuellem Anlass hier erst einmal meinen Protest äußern. Ich komme gerade von einer Demonstration am Brandenburger Tor, wo sich viele Menschen versammelt haben, die gegen die anstehende Hinrichtung von Troy Davis demonstrieren. Dieser US-Amerikaner wird, wenn nichts mehr passiert, in wenigen Stunden, um 1 Uhr unserer Zeit, mit einer Giftspritze hingerichtet werden. Ich finde es einen Skandal, dass es dazu vom Bundestag leider keinen Protest gab. Ich frage auch die Bundesregierung, was sie gemacht hat, um sich für das Leben von Troy Davis einzusetzen. Ich fordere für unsere Fraktion die sofortige Aussetzung der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy Davis. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für uns ist die Todesstrafe inakzeptabel, egal in welchem Land. Sie ist für uns staatlicher Mord. Wenn wir hier von Menschenrechten sprechen – es war gerade viel von Menschenrechten die Rede –, dann ist es unsere Aufgabe als Bundestag, ein starkes Signal zu geben und uns dafür einzusetzen, dass diese Hinrichtung nicht stattfindet. Der Antrag unserer Fraktion, in dem wir die Aussetzung der Hinrichtung und die Begnadigung von Troy Davis gefordert haben, ist leider von allen anderen Fraktionen abgelehnt worden ist. (Sevim Daðdelen [DIE LINKE]: Pfui! Schämen Sie sich!) Weil nur noch wenige Stunden bleiben und momentan viele Menschen in vielen Ländern weltweit auf die Straße gehen, um ein letztes Signal gegen die Hinrichtung zu setzen, möchte ich aus diesem aktuellen Anlass auch vom Bundestag ein Signal aussenden: Wir fordern die Begnadigung und Freilassung von Troy Davis, der seit mehr als 20 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Manfred Grund [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das denn?) Auch Amnesty International hat den Prozess kritisiert. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bitte Sie aber, jetzt zum Tagesordnungspunkt zu sprechen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident, ich denke, Menschenrechte müssen im Bundestag einen breiten Raum einnehmen. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme jetzt zum Weltmädchentag. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach ja!) Prinzipiell unterstützen wir eine solche Initiative. Ich muss dazusagen: Es wurde von keiner Fraktion erwähnt, dass wir nicht angesprochen wurden, an diesem Antrag mitzuarbeiten. Wir halten auch das für ein völlig undemokratisches Vorgehen. Ich finde, es ist kein Aushängeschild für die Grünen und die SPD, dass sie ständig bei einer solchen Ausgrenzung mitmachen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So schlimm ist das nicht!) Das ist der erste Punkt. Zweitens. Wir unterstützen im Prinzip die Initiative für einen Weltmädchentag, aber es steht auch sehr viel Symbolpolitik dahinter. Ich finde diese Kritik berechtigt. Wir haben zum Beispiel heute den Internationalen Tag des Friedens, den Weltfriedenstag der Vereinten Nationen. Wer hat ihn erwähnt, oder wer hat irgendeine Initiative entwickelt? Das heißt, es handelt sich um Symbolpolitik, wenn Politik nicht konkret gestaltet wird, um die Rechte von Mädchen durchzusetzen. Das sind grundlegende Menschenrechte. (Helga Daub [FDP]: Zum Weltmädchentag!) An diesem Antrag kritisieren wir genau das, was auch Sie, Frau Roth und Frau Daub, gemacht haben: Sie heben sehr stark auf die kulturellen und religiösen Traditionen ab, die zur Verletzung von Mädchen- und Frauenrechten führen. Das stimmt, aber der zugrunde liegende Hauptfaktor ist die extreme Armut. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Habe ich gesagt!) Meinen Sie allen Ernstes, Eltern verkaufen gerne ihre Kinder? Die extreme Armut zwingt sie dazu. Deswegen müssen wir eine Politik entwickeln, die Armut bekämpft, statt noch mehr Armut zu produzieren. (Beifall bei der LINKEN) Für uns sind die sozialen Rechte und ihre Durchsetzung elementar, weil sie den Zugang zu Bildung und Gesundheit ermöglichen und dadurch viele progressive Prozesse entstehen, die zur Aufklärung und Emanzipation führen. Diese sozialen Rechte können nur dann umgesetzt werden, wenn es zum Beispiel soziale Sicherungssysteme gibt, sowohl in den Entwicklungsländern als auch in Europa. Um diesen Kampf geht es. Wir brauchen den Kampf um die sozialen Rechte weltweit. Sie sind der beste Beitrag zur Umsetzung von Frauen- und Mädchenrechten. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die Grünen. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Ich möchte kurz auf Frau Hänsel eingehen, die uns gerade vorgeworfen hat, dass ihre Fraktion nicht involviert war. Der Vorwurf ist auch speziell gegen die Grünen und die SPD gerichtet worden. Ich möchte ganz klar betonen, dass ich sehr wohl einige Mitglieder der Fraktion Die Linke angesprochen und vorgeschlagen habe, den Antrag gemeinsam zu machen: Wenn wir das machen, dann finden wir auch einen Weg und eine Lösung. – Darauf kam aber keine Reaktion. Deswegen haben wir das dann anders gemacht. (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Hört! Hört! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das stimmt doch nicht!) – Von euch wurde noch nicht einmal ein entsprechender Versuch unternommen. Das ist natürlich nicht nur Sache der Grünen oder der Sozialdemokraten, sondern auch der Linken. Mehr kann ich dazu nicht sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich wurde nicht angesprochen! Welche Abgeordnete von uns hat er angesprochen?) – Darüber reden wir nachher. Der Antrag auf Einrichtung eines Weltmädchentages geht auf eine gemeinsame Initiative zurück. Das macht mich so entspannt. Es ist schön, einen Antrag vorliegen zu haben, dem alle zustimmen können. Frau Weiss hat die Frage gestellt: Bringt denn ein weiterer Tag noch etwas? Es gibt schon so viele Tage, die wir nicht kennen. Ist das nicht reine Symbolpolitik? – Ich denke, dass ein Weltmädchentag durchaus das Potenzial hat, irgendwann einmal mit dem Internationalen Frauentag verglichen zu werden. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber zwischen Mädchen- und Frauenpolitik ist ohnehin nicht zu trennen. Ein Weltmädchentag hat auf jeden Fall enormes Potenzial, gefeiert und zelebriert zu werden. Es wird die Möglichkeit bestehen, an einem solchen Tag bestimmte Mädchenthemen anzusprechen. Solche Themen haben Frau Roth, Frau Weiss und Frau Daub ausreichend angesprochen. Ich möchte nicht noch mehr zum Thema Genitalverstümmelung sagen. Dieses Thema kann und wird aufgegriffen werden. Es wird die Köpfe der Menschen erreichen und in das Bewusstsein dringen. Der Fokus muss in Zukunft ganz klar darauf gerichtet sein, dass Frauen- und Mädchenpolitik zusammengehören. Die Mädchen müssen schon von klein auf gefördert werden; denn die Frauen sind – das ist mein Lieblingszitat – die Trägerinnen der Entwicklung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Helga Daub [FDP]) Das ist schon längst statistisch belegt; noch heute Morgen haben wir darüber diskutiert. Es ist klar belegt, dass Bildung auf den demografischen Faktor und den Lebensstandard von Familien Einfluss hat, sogar volkswirtschaftlich positiv wirkt und die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit ist. Eine junge Frau, die eine grundlegende Schulausbildung hat, wird wesentlich später Kinder bekommen. Sie wird im Durchschnitt 2,2 Kinder weniger bekommen. Sie trägt zudem durch ein höheres Einkommen und größere berufliche Freiheiten zum volkswirtschaftlichen Wachstum bei. Dieses Wachstum ist anders zu bewerten als das Wachstum, welches üblicherweise zugrunde gelegt wird. Wenn ein Land Öl verkauft, schießt das Wachstum natürlich in die Höhe. Aber in der Regel hat die Bevölkerung nichts davon. Wenn Bildungspolitik bei Mädchen und Frauen ansetzt, dann verteilt sich das Wachstum gleichmäßiger; das ist sehr positiv. Warum Frauen Trägerinnen der Politik sind, ist klar. Es ist aber absolut negativ zu bewerten, dass die Weltgemeinschaft zwischen 1960 und 2000 dies im Prinzip nicht erkannt hat. Das ist der eigentliche Skandal in der gesamten Entwicklungspolitik. Das ist nicht nur meine These, sondern auch die der Weltgemeinschaft. Mit den Millenniumszielen wurde dieses Manko im Prinzip beseitigt; denn dort steht die Frauenförderung ganz oben auf der Agenda. Beim Millenniumsziel 2 geht es um die besondere Berücksichtigung der Situation der Frauen. Die Millenniumsziele 4, 5 und 6, bei denen es um die Gesundheit geht, beinhalten auch Frauenthemen. Ich möchte zum Schluss noch etwas Positives sagen. Herrn Niebel stimme ich grundsätzlich nicht zu. Aber jetzt muss ich ihn loben; Frau Kopp, teilen Sie ihm das bitte mit. Er hat nämlich inzwischen schriftlich zugesagt, dass er sich auf UN-Ebene für die Einrichtung eines Weltmädchentages verwenden wird. Herzlichen Dank. Ich hoffe, dass er wirklich aktiv dabei ist. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Helga Daub [FDP]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Niema Movassat von der Fraktion Die Linke. Niema Movassat (DIE LINKE): Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Richtigstellung sei mir an dieser Stelle gestattet; denn das, was Sie gesagt haben, lieber Herr Kollege Kekeritz, kann man so nicht stehenlassen. Es ist richtig, dass Sie uns den Vorschlag gemacht haben, einen eigenen wortgleichen Antrag einzubringen und so CDU/ CSU und FDP dazu zu bringen, für diesen Antrag zu stimmen. Aber das sind Kinderspiele, an denen wir uns nicht beteiligen wollen. Entweder wir werden in ein solches Verfahren vernünftig einbezogen oder gar nicht, aber es gibt kein Zwischending. (Beifall bei der LINKEN) Es ist allen hier im Hause bekannt, dass CDU und CSU aus einer ideologischen Verbohrtheit heraus es selbst bei solchen Themen ablehnen, gemeinsame Anträge zu stellen. Das ist doch die Realität. Solange das so ist und Sie von den Grünen und von der SPD sich auf diese Spiele einlassen, wird es keine gemeinsamen Initiativen des ganzen Hauses geben. Das zeugt letztlich von Ihrem mangelnden Selbstbewusstsein. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Möchten Sie erwidern, Herr Kekeritz? – Bitte schön. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin davon überzeugt – jetzt wisst ihr, mit wem ich gesprochen habe –, dass wir bei diesem Thema durchaus gemeinsam hätten aktiv werden können. Ich hatte ganz klar den Eindruck, dass vonseiten der Linken diesbezüglich nichts kommt. Ich teile grundsätzlich deine Kritik und verstehe deinen Wunsch, dass ihr vernünftig einbezogen werden wollt, wenn es dafür gute Argumente gibt. Ich teile die Kritik auch aufgrund der Erfahrung der Grünen. Ich weiß genau, wie mit den Grünen vor 20, 25 Jahren in den Parlamenten umgegangen wurde. Wir haben das damals kritisiert, und ich finde, dass auch heute eine Kritik an dieser Vorgehensweise durchaus berechtigt ist. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Frühjahr hatte ich die Gelegenheit, nach Afghanistan zu reisen, dort mit der Zivilbevölkerung in Kontakt zu kommen und mit vielen Menschen zu sprechen. Was mich dort am meisten beeindruckt hat, waren die Mädchen. Die Erinnerungen an den Besuch einer Schule in Masar-i-Scharif sind das Erste, was mir einfällt, wenn ich an die Begegnungen vor Ort zurückdenke. Die Begeisterung, mit der die Mädchen dort in den über 40 Grad heißen Zelten saßen, die als Schulraum dienten, die Art und Weise, wie sie von ihren Zukunftsplänen berichteten, war überwältigend. Ihre Botschaft war: Wir wollen lernen, wir wollen unser Leben selbst in die Hand nehmen, und wir wollen eines: Wir wollen unser von Kriegen zerfressenes Land gemeinsam aufbauen, in Freundschaft mit anderen Völkern und Nationen. Wir, die Mädchen und Frauen, sind dabei ganz entscheidend. An diese Mädchen wollen wir heute mit unserer Debatte zum Weltmädchentag der Vereinten Nationen denken. Ich freue mich sehr, dass wir dieses in großer Geschlossenheit mit einem gemeinsamen Antrag tun. Heute plädiert zumindest der größte Teil des Hauses für einen Weltmädchentag. Was versprechen wir uns davon? Es sind zwei Dinge. Zum einen: Wir wollen auf globaler wie auf nationaler Ebene das Bewusstsein für die Situation von Mädchen, für ihre Rechte und Anliegen, die in vielen Gesellschaften keine ausreichende Berücksichtigung finden, schärfen. Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass Mädchen in vielen Ländern ausschließlich aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, dass sie unter Gewalt und Unterdrückung leiden. Die Beispiele dafür sind endlos. Gerade gestern wurde in der Nachrichtensendung Tagesthemen über die Abtreibungspraxis bei weiblichen Föten in Indien berichtet. Auch in unserem Land gibt es viel Leid unter Mädchen und Frauen. Auch das dürfen wir nicht vergessen. An all diese Mädchen wollen wir heute denken. Der Weltmädchentag sollte sich aber in meinen Augen nicht nur darauf beschränken, auf die Situation der Mädchen als Opfer aufmerksam zu machen. Nein, genauso wichtig erscheint mir, dass wir uns an einem solchen Tag ebenfalls vergegenwärtigen, dass Mädchen auch Hoffnung in vielen Ländern sind. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass sie Gestalterinnen und Stütze sind, gerade im gesellschaftlich schwierigen Umfeld, gerade in von Krisen, Kriegen und Katastrophen heimgesuchten Ländern. Die Mädchen und jungen Frauen in Afghanistan sind die besten Beispiele dafür, dass der Weltmädchentag auch zum Mutmachertag für viele werden kann. Damit uns das gelingt, muss dieser neue Tag auch mit Leben erfüllt werden. Dafür tragen viele Verantwortung. Deutschland kann dabei schon viele Erfolge vorweisen. Wir betrachten Mädchenpolitik weltweit – das gilt auch für die Gleichstellungspolitik – aus der Lebensverlaufsperspektive, und mit diesem Ansatz setzen wir Standards. Was heißt das? Gleichstellungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive heißt, dass staatliche und private Akteure sich bei allen Maßnahmen, die sie ergreifen, die Frage stellen, welche Auswirkungen diese auf Frauen und Männer in ihrem jeweiligen Lebensabschnitt und in den Übergängen zwischen den einzelnen Lebensphasen haben. Das ist ein ganz moderner Ansatz der Gleichstellungspolitik, der seinen Weg mittlerweile in die Dokumente und Strategien der Vereinten Nationen gefunden hat. Über diesen Rahmen hinaus sind wir anerkanntermaßen auf internationaler Ebene sehr aktiv, wenn es um die Rechte von Frauen und Mädchen geht. Beispielgebend ist etwa das deutsche Engagement bei der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen. Deutschland nimmt hier traditionell eine führende Rolle ein. Wir sind Vorbild und anerkannter Partner für viele Staaten. Wir bringen uns ein mit Inhalten, mit Veranstaltungen, mit Dialog und Beratung. Viele von Ihnen, liebe Kolleginnen, waren auch schon selbst dabei. Zu erwähnen ist auch der Ostseerat, dessen Vorsitz Deutschland seit wenigen Wochen hat. Hier soll in den kommenden Monaten das Thema Menschenhandel eines der Schwerpunktthemen sein. Die Reihe der Beispiele deutschen Engagements in der Welt ließe sich fortsetzen. Auch auf nationaler Ebene können wir Erfolge vorweisen. Nur beispielhaft will ich nennen die Verbesserungen beim Schutz von Mädchen und Frauen vor Gewalt, zum Beispiel durch das Bundeskinderschutzgesetz, das wir gerade beraten, oder auch durch das 2. Opferrechtsreformgesetz von 2009. Ein Meilenstein wird die bundesweite Notrufnummer sein, an der wir gerade arbeiten. Nicht zuletzt unterstützen wir Nichtregierungsorganisationen. So fördert das Bundesfamilienministerium beispielsweise – das ist gerade aktuell – den im Oktober stattfindenden internationalen Kongress von Terre des Femmes zur Stärkung von Mädchenrechten. Wissenschaftlern und Praktikern wird hier die Möglichkeit geboten, sich zu vernetzen und auch mit Politikern und Journalisten zu reden. Es geht darum, Erfahrungen auszutauschen und darüber zu diskutieren, wie die Rechte von Mädchen trotz schwieriger Rahmenbedingungen in verschiedenen Ländern der Welt am besten umgesetzt werden können. Bundespräsident Christian Wulff wird den Kongress eröffnen. Ich finde, das ist ein gutes, ein tolles Zeichen für die Solidarität Deutschlands mit den Mädchen und Frauen in aller Welt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Genau dieses Zeichen der Solidarität wollen wir auch heute mit unserem Antrag zum Weltmädchentag setzen. Auch das wird uns wieder ein Stück voranbringen – im Sinne der Mädchen in Afghanistan, in Deutschland, in der ganzen Welt. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7021 mit dem Titel „Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete – Drucksache 17/5912 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1 Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5912 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist ebenfalls der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 2 auf: 10 Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 – Drucksache 17/6987 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Teilnahme der Bundeswehr an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan (UNMIS) – Drucksache 17/7000 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 9. Juli wurde Südsudan ein unabhängiger Staat, allerdings ein Staat noch ohne ausreichende staatliche Verwaltung, wirtschaftliche und soziale Infrastruktur. Deren Aufbau wird intensive und langjährige Anstrengungen Südsudans erfordern, aber auch aktive Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Zudem finden in Teilen Südsudans weiterhin bewaffnete innerstaatliche Auseinandersetzungen statt, die politische, ethnische und wirtschaftliche Hintergründe haben. Südsudan ist somit auf seinem Weg zu einer geordneten und stabilen Staatlichkeit gleich mit mehreren Bürden belastet. Um Südsudan auf diesem Weg zu unterstützen, haben die Vereinten Nationen auf Bitten der Regierung in Juba am 8. Juli 2011 ihre Mission im Südsudan, UNMISS, beschlossen. Kernaufgaben von UNMISS sind die Unterstützung der Regierung bei der Friedenskonsolidierung und damit längerfristig bei der Absicherung des Staatsaufbaus und der wirtschaftlichen Entwicklung. UNMISS leistet Unterstützung bei der Gewährleistung von Sicherheit, der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und der Stärkung des Sicherheits- und Justizsektors. Die Mission hat ein robustes Mandat. Das heißt, ihre Kräfte sind autorisiert, zum Eigenschutz, zur Gewährleistung der Sicherheit der humanitären Helfer und zum Schutz der Zivilbevölkerung gegebenenfalls auch Gewalt anzuwenden. Deutschland ist seit Mandatsbeginn an UNMISS beteiligt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nochmals herzlich dafür zu danken, dass wir mit Flexibilität und gutem Willen in der Lage waren, dieses Mandat am 8. Juli, also unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause, mit einer sehr breiten Mehrheit zu beschließen. Die Bundesregierung hat ihren Mandatsantrag wegen der besonderen Entscheidungssituation auf drei Monate beschränkt. Jetzt bitten wir Sie dann um ein Mandat bis zum 15. November 2012, auch um im Gleichklang mit den anderen einschlägigen Mandaten zu stehen. Vier Fraktionen dieses Hohen Hauses stehen geschlossen hinter diesem Mandat. Das ist bemerkenswert. Einzig die Fraktion Die Linke war der Meinung, Deutschland solle sich nicht daran beteiligen, diesen jungen, leidgeprüften und immer noch fragilen Staat zu unterstützen. Auch das ist bemerkenswert. (Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Das deutsche Engagement bei UNMISS ist Teil der langjährigen Bemühungen der Bundesregierung um eine dauerhafte Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung im Sudan und Südsudan im Rahmen ihres Sudankonzeptes. Es ist eingebettet in ein starkes entwicklungspolitisches und diplomatisches Engagement und verdeutlicht erneut, was wir unter dem Begriff „vernetzte Sicherheit“ verstehen. Sicherheit und Stabilität, zivile und wirtschaftliche Entwicklung – all dies muss gemeinsam gedacht und ganzheitlich angestrebt werden. Es kann keine Entwicklung geben, wenn diese nicht abgesichert wird. Es kann keine Stabilität geben, die nicht auf einer positiven Entwicklung der Lebensverhältnisse basiert. Hierfür setzen wir uns ein. Daher haben wir ein starkes Interesse an einer fortgesetzten Präsenz der Vereinten Nationen im Südsudan. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Derzeit sind 13 deutsche Soldaten vor Ort im Hauptquartier in Juba und als Verbindungsoffiziere in der Fläche. Sie leisten damit unter schwierigsten Bedingungen einen wertvollen Dienst. Dafür möchte ich ihnen auch an dieser Stelle unseren Dank aussprechen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es sollen weiter bis zu 50 deutsche Soldatinnen und Soldaten auf der völkerrechtlichen Grundlage der Resolution des Weltsicherheitsrates eingesetzt werden können. Da UNMISS jedoch – anders als ursprünglich vorgesehen – auf absehbare Zeit keine Rolle bei der Grenzüberwachung zwischen Sudan und Südsudan spielen wird, besteht kein Bedarf mehr für die bislang mandatierte Militärbeobachterkomponente. Diese entfällt daher im vorliegenden Antrag. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen einen stabilen Südsudan und konfliktfreie Beziehungen zwischen Juba und Khartoum. Wir sind bereit, einen konkreten Beitrag dazu zu leisten. Wir tun dies, weil uns bewusst ist, wie wichtig der Bestand und das Gelingen des jungen Staates Südsudan sind. Es ist dies die erste Staatsneugründung in Afrika seit 1993, als sich Eritrea von Äthiopien trennte. Wir erinnern uns, dass das, was damals zunächst friedlich begann, schließlich in einem bitter geführten Krieg endete, der Tausende, ja Zehntausende Menschenleben gekostet hat. Bis heute wird der Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten nicht anerkannt, und bis heute stehen sich Zehntausende Soldaten schwerbewaffnet an der Grenze gegenüber. Das soll nicht, das darf nicht das Schicksal Sudans und Südsudans werden. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Doch trotz der friedlich verlaufenden Trennung dieser beiden Staaten gibt es immer noch etliche offene Fragen, die hohes Konfliktpotenzial bergen. Der Grenzverlauf und damit auch der Zugang zu Rohstoffen und deren Nutzung sind noch immer nicht abschließend geklärt. Die besorgniserregenden Zusammenstöße in den südlichen Provinzen Sudans ebenso wie das weiterhin schwelende Problem Darfur und die Stammeskämpfe im Südsudan, die in diesem Jahr bereits über 2 000 Todesopfer gefordert haben – all dies sind Feuer, die es einzudämmen und zu löschen gilt, bevor sie übergreifen. Bei allen Problemen, vor denen der junge Staat Südsudan steht, gilt: Der Süden Sudans hat zu Beginn dieses Jahres sein Referendum friedlich und geordnet durchgeführt. Die Loslösung vom Norden wurde ohne größere Verwerfungen vollzogen. Der Präsident der Republik Sudan war bei der Proklamation der Republik Südsudan als Gast anwesend. Das ist mehr, als viele Beobachter noch vor einem Jahr angenommen hätten. Die Verhandlungen über die offenen Fragen werden unter der Beobachtung der internationalen Gemeinschaft in Addis Abeba weitergeführt. Dies wird, so ist zu hoffen, den Verantwortlichen in Juba ein Ansporn sein, auf dem Erreichten aufzubauen. Dies sollte der internationalen Gemeinschaft Grund genug sein, ihrer Verantwortung gegenüber dem Südsudan weiter gerecht zu werden. Deutschland wird sich weiter aktiv daran beteiligen. Die Mission ist dabei ein wichtiger Baustein für Frieden und Stabilität in der Region. Deswegen soll das Bundestagsmandat hierfür weitgehend unverändert verlängert werden. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie hierfür um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Fraktion, die SPD, unterstützt den Antrag der Bundesregierung zur fortgesetzten Beteiligung an UNMISS auf der Grundlage der Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 8. Juli 2011, den sie am 14. September 2011 beschlossen hat. Wir haben schon damals darüber beraten. Zurzeit sind für UNMISS insgesamt bis zu 7 000 Militärs und 900 Zivilkräfte vorgesehen. Im Kontext der Beratung dieser Mission geht es auch um die Frage, welche politische Rolle UNMISS aus unserer Sicht spielen sollte. Es geht um zwei Aufgaben, die diese Mission zu erfüllen hat und die in einem interessanten Spannungsverhältnis liegen. Zum einen geht es um die Unterstützung der Regierung des Südsudan beim Aufbau eines funktionierenden demokratischen und pluralistischen Staatswesens. Zum anderen soll sie – sozusagen als Watchdog – für die Sicherung der Menschenrechte aller Bürger und Bürgerinnen sowie aller unterschiedlichen Gruppen und Ethnien im neuen 193. Staat sorgen. Leider – das ist eben erwähnt worden – gibt es wegen einer Weigerung des Nordsudan keine Zuständigkeit von UNMISS für die Überwachung der Grenze zwischen Nord und Süd, was wir ausdrücklich bedauern. Wir freuen uns über die Ernennung von Hilde Frafjord Johnson zur Sondergesandten des UN-Generalsekretärs, die auch die Zivilleiterin der UN-Mission ist und der der sogenannte Force Commander – das ist vielleicht auch mit Blick auf die Linksfraktion interessant – unterstellt ist. Wir wünschen Hilde Johnson bei der schweren Aufgabe, die sie übernommen hat, allen Erfolg. Sie ist ausgezeichnet auf diese Aufgabe vorbereitet. Sie war die norwegische Entwicklungsministerin und hat lange Jahre in der Leitung von UNICEF gearbeitet. Wir wünschen ihr viel Erfolg für die Aufgabe, die vor ihr steht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben uns alle gefreut, dass das Referendum ohne den befürchteten Ausbruch massiver Gewalt stattgefunden hat. Jetzt haben wir den Ernstfall. Die Bundesregierung und die Europäische Union dürfen deshalb nach der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan in der weitreichenden Begleitung und Unterstützung der Prozesse nicht nachlassen. Es geht schließlich um die Hilfe bei einem Staatsaufbau in einem Land, das sich gewaltigen Herausforderungen gegenübersieht: der Notwendigkeit des Aufbaus einer wachsenden, diversifizierenden Wirtschaft, der Frage der Arbeitsplätze, der Verbesserung der Ernährungssituation der Menschen; viele Südsudanesen haben jahrzehntelang nur Bürgerkrieg erlebt. Auch der Zugang zu Bildung muss verbessert werden. Drei Viertel der Kinder zwischen 7 und 14 Jahren im Südsudan haben keinen Zugang zu Bildung. Im Südsudan ist die höchste Müttersterblichkeitsrate weltweit zu verzeichnen. Das sind die Aufgaben, die in dem großen Kontext der Unterstützung des Südsudan geleistet werden müssen. Es geht natürlich auch um den Aufbau staatlicher Strukturen, zum Beispiel durch die Schaffung eines flächendeckenden Apparats der Verwaltung, der dezentral organisiert werden muss. Es geht um die Überwindung von Klientelstrukturen. Es geht darum, einen Teil der Streitkräfte zu entwaffnen, zu demobilisieren und wieder in die Zivilgesellschaft einzugliedern, und es geht darum, sicherzustellen, dass Menschenrechte und rechtsstaatliche Standards durch die Sicherheitskräfte tatsächlich respektiert und gewahrt werden. Das sind schon an sich Riesenherausforderungen – und das angesichts immer noch ungelöster Fragen des Friedensprozesses. Der erste Punkt betrifft den Grenzverlauf. Er ist noch immer nicht demarkiert. Es ist allerdings gut – das begrüßen wir –, dass vereinbart worden ist, dass diesseits und jenseits der Grenze eine 10 Kilometer breite Demilitarisierungszone zwischen Nord und Süd geschaffen werden soll, die gemeinsamer Überwachung unterliegen soll. Auch soll die Möglichkeit der internationalen Beteiligung vorgesehen werden. Der zweite Punkt betrifft die Aufteilung der Erdölvorkommen und der Einnahmen. Es hat zwar gewisse Fortschritte bei der Frage gegeben, wer welche Pipelines nutzen kann. Aber die Grundfrage ist, wie Vorkommen und Einnahmen aufgeteilt werden. Wenn dies geklärt ist, ist es wichtig, dass die Mittel so in den Haushalt fließen, dass sie für den Aufbau des Staates und für die Hilfe für die Menschen genutzt werden und nicht neue Rentenökonomien entstehen lassen, die die Korruption massiv befördern würden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der dritte Punkt. Immer noch ungeklärt ist der Status der mehr als 100 000 Südsudanesen im Nordsudan. Das gilt natürlich auch für Nordsudanesen im Südsudan. Der vierte Punkt betrifft die Stabilisierung der Situation in Abyei. Dort soll nach dem Beschluss des UN-Sicherheitsrats eine weitere UN-Mission mit einem Umfang von 4 200 Soldaten und 50 Polizisten ihre Aufgabe aufnehmen. In dem Friedensabkommen zwischen Nord und Süd ist ein Referendum über die Frage vorgesehen, wohin die Region zugeordnet werden soll. Allein diese vier Punkte, die immer noch ungeklärt sind, bedürfen der massiven Unterstützung durch internationale Verhandlungen. Wir hoffen auch, dass die Vermittlungsarbeit, die der ehemalige südafrikanische Staatspräsident Thabo Mbeki leistet, Erfolg haben wird. Es bedarf aber auch immer wieder der Unterstützung und Begleitung durch den UN-Sicherheitsrat und infolgedessen auch eines besonderen Engagements der Bundesregierung als Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Wie hat sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, die politische Situation nach der Erklärung der Unabhängigkeit entwickelt? Seit dem 1. September gibt es eine neue Regierung, die vor Präsident Salva Kiir ihren Amtseid abgelegt hat. Wir werden sehr genau darauf achten, dass sein Versprechen, dass Kompetenz und nicht ethnische oder Gruppenzugehörigkeit entscheidende Bedeutung hat, eingelöst wird und dass sich dies auch in der Praxis des Regierungshandelns widerspiegeln wird. Vor allem muss verhindert werden, dass Korruption um sich greifen kann. Sorgenvoll stimmen uns die Kämpfe der Regierungstruppen mit oppositionellen Milizen und eine Verschärfung der humanitären Situation zum Beispiel in Jonglei. Seit dem Referendum über die Unabhängigkeit – auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird in der öffentlichen Debatte vergessen – und seit Juli 2011 gab es mehr als 2 300 Opfer. Auch das fordert unser aller Engagement. Es macht vor allen Dingen aber auch die Verpflichtung der südsudanesischen Regierung deutlich, die Zivilbevölkerung zu schützen. Ein weiterer Punkt, den ich mit UNMISS verbinde und den auch Hilde Frafjord Johnson betont: UNMISS soll im Rahmen des Kapitel-VII-Mandats dazu beitragen, dass durch tägliche Überwachung und militärische Präsenz in den betroffenen Regionen weitere Gewalt verhindert wird. Das kann unter Umständen sogar höhere Zahlen an Soldaten und Polizisten erfordern. Aber es ist diese Anstrengung wert; denn wir alle können nicht zulassen, dass Tausende von Opfern die Folge wären. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erwartungen der Menschen im Südsudan sind an eine Friedens- und an eine Unabhängigkeitsdividende gerichtet. Diese Erwartungen sind hoch. Wir müssen nun mithelfen, dass in allen Regionen des Südsudan die Entwicklung vorankommt, dass es Zugang zu Gesundheitsstationen und zu Schulen gibt und dass die Infrastruktur ausgebaut wird. Deshalb: Der Ernstfall ist jetzt. Tragen wir mit dazu bei, dass die Aufmerksamkeit auf diese Situation gerichtet ist und dass der 193. Staat eine glückliche Entwicklung für die Menschen nimmt, die so lange auf ihn gehofft haben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Kossendey. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan hat der Prozess der friedlichen Trennung von Nord und Süd ein ganz wichtiges Zwischenziel erreicht. Wenige Tage später ist der Südsudan – übrigens unter deutschem Vorsitz im VN-Sicherheitsrat – als 193. Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen worden. In den letzten Jahren hat die internationale Gemeinschaft diesen Unabhängigkeitsprozess kontinuierlich unterstützt. Das kam in vielen Einzelmaßnahmen zum Ausdruck: in vielen entwicklungspolitischen Projekten bis hin zur Verifizierung von Waffenstillstandsvereinbarungen. Deutschland hat sich, neben vielen anderen wichtigen Beiträgen, in den vergangenen Jahren auch an der VN-geführten Friedensmission UNMIS beteiligt, zuletzt mit etwa 30 Offizieren. Die Mission war damals hauptsächlich deshalb mandatiert, um den Nord-Süd-Friedensprozess zu begleiten bzw. seine Entgleisung zu verhindern. Rückblickend können wir feststellen: Das ist – bei allen Schwierigkeiten und dem einen oder anderen Mangel – im Wesentlichen gut gelungen. Ich möchte an dieser Stelle das Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich würdigen. Beim Wort „Einsatz“ denken viele unwillkürlich an Afghanistan oder vielleicht noch an das Kosovo. Darüber hinaus dürfen wir aber die Soldatinnen und Soldaten nicht vergessen, die in den kleinen Kontingenten arbeiten, unter anderem im Sudan und im Südsudan, und dort unter sehr herausfordernden Bedingungen ihren wichtigen Dienst verrichten. Wer mit Soldatinnen und Soldaten gesprochen hat, die dort ihren Dienst getan haben, wird festgestellt haben, dass es sich dabei um eine ganz besondere Situation handelt. Das beginnt beim Klima und geht bis hin zur Infrastruktur, in der die Soldatinnen und Soldaten dort leben. Dazu gehört übrigens auch – weil die Gruppe dort relativ klein ist – der mangelnde Kontakt zu einem größeren Kameradenkreis und der oftmals sehr schwierige Kontakt nach Hause, der schwieriger ist als in anderen Einsatzgebieten. Dennoch arbeiten unsere Soldatinnen und Soldaten im Sudan hochmotiviert. Ihr Engagement, ihre Professionalität, ihre Improvisationsgabe – auch das muss man deutlich sagen –, aber auch ihre sehr hohe Motivation verdienen höchste Anerkennung. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich spreche den Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle meine Hochachtung aus. Da wir eben im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Weltmädchentages der Vereinten Nationen von Frauen und Mädchen geredet haben, will ich hinzufügen: Politisch korrekt müsste man sagen, dass bei der alten UNMIS-Mission 445 Soldaten und eine Soldatin beteiligt waren. Das sollten wir besonders würdigen. Mit der Unabhängigkeit sind die Herausforderungen an den jungen Staat Südsudan natürlich nicht verschwunden. Tatsächlich geht es für das Land jetzt darum, die kritische Phase einer extremen Fragilität gut zu überstehen. Das ist eine Mammutaufgabe in einem Staat, den es erst seit wenigen Wochen gibt, der praktisch über gar keine Infrastruktur verfügt und der sich zahlreichen Risiken im Bereich der Sicherheit und der Stabilität – übrigens auch im Innern und nicht nur von außen – gegenübersieht. Gerade in den vergangenen Wochen haben uns immer wieder Informationen aus dem Südsudan erreicht, dass an der Grenze bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden. Das ist ein Anlass zur Besorgnis. Wir können vom Parlament aus nur an die Beteiligten appellieren, diese Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen und sich darauf zu konzentrieren, Auseinandersetzungen auf dem Verhandlungswege zu regeln. Die Präsenz der Vereinten Nationen – meine Vorrednerin hat das eben deutlich gemacht – ist deswegen weiterhin notwendig. Die Präsenz der Sicherheitskräfte, der Soldatinnen und Soldaten, ist notwendig, um dort einigermaßen friedliche Verhältnisse zu gewährleisten. Deswegen hat der VN-Sicherheitsrat die Folgemission UNMISS für den Südsudan mandatiert. Wir werden auch zu dieser Mission unseren konstruktiven Beitrag leisten. Deswegen haben wir am 8. Juli eine Obergrenze von 50 Soldaten vorgesehen. Das ist zugegebenermaßen eine Verringerung gegenüber den 75 Soldatinnen und Soldaten, die das alte Mandat vorgesehen hat. Die geringere Zahl trägt dem Umstand Rechnung, dass bei dem neuen VN-Mandat die Militärbeobachter außen vor sind. Wir wollen, wie in der Vergangenheit, unsere Expertise vor allem in Spezialbereiche einbringen, etwa bei den Aufgaben der Planung, der Logistik und der Auswertung dieser VN-Mission. Damit entsprechen wir letztendlich dem Bedarf der Vereinten Nationen und leisten trotz der geringen Größe der Gruppe, die wir dorthin schicken, einen wertvollen Beitrag. Genau das entspricht unserem Verständnis von internationaler Arbeitsteilung und Kooperation. Wir sollten begrüßen, dass die neue Mission UNMISS relativ zügig nach der Mandatserteilung mit der Wahrnehmung ihrer Aufgaben begonnen hat. Die unvermeidlichen Schwierigkeiten beim Übergang von der alten Mission UNMIS zur neuen Mission UNMISS waren insgesamt nicht so groß, dass die Arbeit beeinträchtigt worden wäre. Wenn wir „internationale Verantwortung“ nicht zu einer Worthülse verkommen lassen wollen, dann muss sich diese Verantwortung in greifbaren Maßnahmen im internationalen Bereich ausdrücken. Die Teilnahme an dieser VN-Friedensmission ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass wir in Deutschland unsere Verantwortung ernst nehmen. Diejenigen, für die dieses Mandat tatsächlich am konkretesten wird, nämlich für unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort, brauchen eine breite Unterstützung des Parlaments. Deswegen bitte ich Sie ganz herzlich darum, dem Antrag der Bundesregierung mit breiter Mehrheit zuzustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Niema Movassat das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist, vorweggesagt, wirklich ein Unding, dass wir erst zu dieser späten Uhrzeit und dadurch mit geringer öffentlicher Wahrnehmung über die Fortsetzung des Militäreinsatzes deutscher Soldaten im Rahmen der UN-Mission im Südsudan, UNMISS, debattieren. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das zeigt, wie wichtig der Regierung die Debatte über Krieg und Frieden ist bzw. nicht ist. Alle hier, außer der Fraktion Die Linke, haben die Beteiligung der Bundeswehr am Militäreinsatz im Südsudan befürwortet. Dabei müssten Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, selbst nach Ihrer Logik gegen diesen Einsatz sein. (Beifall bei der LINKEN) Ihr Argument für den Einsatz ist, dass die Zivilbevölkerung im Südsudan geschützt werden muss. Fakt ist, dass 275 000 Frauen, Männer und Kinder aufgrund von Kämpfen auf der Flucht sind und seit Januar über 3 000 Menschen getötet wurden. 2011 ist das verlustreichste Jahr seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2005. Diese Entwicklungen sind dramatisch. Die Lage ist aber trotz der Stationierung von UN-Soldaten im Rahmen von UNMISS nicht besser geworden; die Gewalt geht weiter. Das zeigt, dass Militär auch im Südsudan keinen Frieden schafft und sein Einsatz deshalb der falsche Weg ist. (Beifall bei der LINKEN) Die UN-Truppen sind schon deshalb unfähig, die Zivilbevölkerung zu schützen, weil sie an der Seite der südsudanesischen Armee SPLA agieren. Dabei ist diese selbst Konfliktauslöser. Dies haben mir Entwicklungshelfer sowie Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und der UN, mit denen ich im November vor Ort gesprochen habe, bestätigt; dies geht sogar aus dem UN-Mandat hervor. Die SPLA ist an Morden, Vertreibungen und Übergriffen auf Oppositionelle beteiligt. Es gibt niemanden, der sie dafür anklagt. Allein in der Provinz Jonglei wurden im Juli 1 700 Menschen von der SPLA ermordet. Da frage ich Sie, meine Damen und Herren, die Sie diesem Einsatz im Juli zugestimmt haben, wie die Bundeswehr zusammen mit diesen Menschenrechtsverletzern Demokratie aufbauen und Zivilisten schützen soll. Das ist doch völlig abstrus. (Beifall bei der LINKEN) Bei den meisten Konflikten im Südsudan geht es um Weideland und Vieh. Allein im August sind bei Kämpfen wegen Viehdiebstählen in der Provinz Jonglei mindestens 600 Menschen umgekommen, rund 27 000 mussten fliehen. Solche Landkonflikte können nicht militärisch gelöst werden. Das zeigt auch die Erfahrung in anderen Ländern. (Beifall bei der LINKEN) Genau deswegen sagt die Linke, dass wir zivile Aufbauhilfe und Konfliktbearbeitung und nicht Militär brauchen. Es gab bei den Gesprächen im Südsudan, an denen ich teilgenommen habe, viel Zustimmung dafür. Die Bundesregierung aber wählt die falschen Mittel. Deutschland hätte das Programm des zivilen Friedensdienstes zur Konfliktbewältigung – das ist eine wirklich gute Sache – nicht einstellen dürfen. (Beifall bei der LINKEN) Richtig wäre es gewesen, unseren Vorschlägen, die wir hier im Juli eingebracht haben, zu folgen. Vier davon möchte ich nennen: Erstens muss die Zivilgesellschaft gestärkt und müssen Dialogprozesse zwischen den gegnerischen Gruppen im Südsudan geschaffen werden. Ein Staat kann nur unter Beteiligung der Zivilbevölkerung aufgebaut werden und nicht von oben nach unten, wie dies jetzt mithilfe von UNMISS geschieht. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens müssen sich die staatlichen Strukturen an den sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Bevölkerung orientieren. Es ist doch paradox, dass es heute bereits 30 Ministerien im Südsudan gibt – teils ohne Aufgabenbereich. Da geht es wohl mehr darum, Pöstchen zu schaffen. Drittens muss der ländliche Raum entwickelt werden. Im Südsudan, einem Land so groß wie Frankreich, gibt es keine hundert Kilometer asphaltierte Straßen. Viertens – das ist wirklich entscheidend – muss das Land entmilitarisiert werden. (Beifall bei der LINKEN) Von den 8 Millionen Einwohnern des Südsudan ist rund eine halbe Million militärisch organisiert. Auf Deutschland übertragen wären das 5 Millionen Militärs. Abgesehen davon, dass wir Rüstungsexporte grundsätzlich ablehnen, ist es höchste Zeit, die vielen Waffen einzusam-meln und den bisherigen Waffenträgern zivile Perspektiven aufzuzeigen. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Los geht‘s! Wir sammeln ein!) Bei UNMISS steht das Militärische und nicht das Zivile im Vordergrund. Das ist der falsche Weg. Daher wird die Fraktion Die Linke dieser Mandatsverlängerung nicht zustimmen. Danke. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Haben Sie eine Kalaschnikow für mich? Her damit!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Agnes Malczak. Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach zwei langen Kriegen und der sechsjährigen Umsetzungsphase des Comprehensive Peace Agreements hat der Süden Sudans am 9. Juli 2011 seine Unabhängigkeit erklärt. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Beilegung eines Jahrzehnte währenden Konflikts, aus dem einer der brutalsten und längsten Kriege Afrikas hervorging. Die internationale Gemeinschaft, wir alle sind aufgefordert, diese positive Entwicklung zu unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und des Abg. Joachim Spatz [FDP]) Die Anerkennung der Unabhängigkeit durch Khartoum war keine Selbstverständlichkeit und ist eine wichtige Voraussetzung für die künftig nötige Kooperation der beiden Staaten, die stark voneinander abhängig sind. Eine Konfliktlösung durch Dissoziation, durch eine Trennung aller Verbindungen, ist unter den gegebenen Bedingungen keine Option. Es gibt keine Alternative zur Zusammenarbeit. Davon sind beide Nachbarn aber noch sehr weit entfernt. Dennoch: Das neue Grenzabkommen bietet eine Chance, die Spannungen zwischen Nord- und Südsudan abzubauen. Die Einrichtung von Grenzübergängen und die Durchführung gemeinsamer Patrouillen können künftig dabei helfen, die Gewalt entlang der Grenze einzudämmen. Wir dürfen diese Fortschritte, diese Schritte in die richtige Richtung nicht verkennen. Es stimmt aber auch, dass wir die Augen vor den Grenzen und Schwierigkeiten dieser UN-Mission nicht verschließen dürfen. In den vergangenen Wochen entfachten immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen in verschiedenen Regionen beider Länder. In den zum Norden gehörenden Grenzregionen Süd-Kurdufan und Blue Nile State kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen den Regierungskräften und den Kämpfern der SPLM-N. Auch die erdölreiche und territorial umstrittene Region Abyei kommt nicht zur Ruhe. Frauen und Kinder sind die Hauptleidtragenden dieser Auseinandersetzungen. Dass die Regierung in Khartoum vergangene Woche 17 Parteien verboten hat, die angeblich unter ausländischem Einfluss stehen, sorgt für weitere Spannungen. Wir verurteilen die zunehmende Repression durch das Regime im Nordsudan aufs Schärfste. Sie heizt die Gewaltkonflikte an und versperrt den Weg für eine friedliche Regelung der noch zahlreichen Streitfragen, insbesondere in den Grenzregionen. Nach seiner Unabhängigkeitserklärung steht der Südsudan vor kolossalen Herausforderungen. Es besteht die Gefahr, dass zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Süden neue Konflikte ausbrechen. Große Gruppen werden politisch und ökonomisch von der Regierung marginalisiert. Zudem verbreiten sich Kleinwaffen völlig unkontrolliert. Es muss deshalb dringend eine Entwaffnung und Demobilisierung durchgeführt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Entwicklungsstand des Landes ist extrem niedrig, die Armut riesengroß. Gleichzeitig gibt es aktuell keine institutionelle Infrastruktur, die für ein einigermaßen funktionierendes Staatswesen, mit dem man diese Probleme angehen könnte, notwendig ist. Es wäre völlig unverantwortlich und höchst gefährlich, diesen neuen Staat bei all diesen Herausforderungen alleine zu lassen. Die Mission der Vereinten Nationen im Südsudan hat daher den Auftrag, die südsudanesische Regierung bei der Friedenskonsolidierung zu unterstützen und Hilfe beim Staatsaufbau und bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen begrüßt, dass sich Deutschland von Anfang an an dieser Mission beteiligt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich möchte allen Menschen, ob zivil oder in Uniform, ob im staatlichen Auftrag oder im Rahmen einer Nichtregierungsorganisation, danken, die sich für Stabilität und Frieden in dieser schwierigen Situation in dieser Region einsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Um einen günstigen Rahmen für Versöhnung zu schaffen, bedarf es eines breiten Ansatzes, der alle Bereiche umfasst: Politik, Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteuren. Die militärische Komponente ist angesichts der immer wieder aufflammenden Kämpfe für den Schutz der Zivilbevölkerung ein notwendiger Bestandteil. Der Schlüssel für eine nachhaltige Stabilisierung liegt aber im zivilen Engagement. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass Deutschland alle zur Verfügung stehenden Kapazitäten nutzt, um die nötige technische, konzeptionelle und finanzielle Unterstützung für die Friedenskonsolidierung sicherzustellen. Ja, es sind große Aufgaben zu bewältigen. Dabei müssen wir bescheiden sein und realistische Ziele setzen. Wir dürfen nicht immer gleich morgen ein Wunder erwarten, aber wir müssen unser Bestes dafür tun, einen Beitrag zur Stabilisierung des Sudan und der von jahrelangen Kriegen und andauernden schweren Gewaltausbrüchen geprägten Region zu leisten. Wenn ich mir noch eine Schlussbemerkung – mit einem Blick zurück – erlauben darf: Heute liegt auch der Abschlussbericht zur alten UN-Mission UNMIS vor. Dieser basiert auf einer Regelung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; sie wird hier zum ersten Mal angewandt. Das ist gut; das wollen wir loben. Gleichzeitig hätten wir uns ein bisschen mehr selbstkritische Evaluierung gewünscht. Wir erinnern die Bundesregierung an dieser Stelle gerne daran, dass wir ebenso auf einen gründlichen Abschlussbericht zur Operation Enduring Freedom warten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Hartwig Fischer von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung wähle mit diesem Mandat den falschen Weg, hat Kollege Movassat gesagt. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie haben zugehört!) Die Bundesregierung hat nicht einen eigenen Weg gewählt, sondern wir beteiligen uns an einer Mission, die auf einem UN-Mandat nach Kap. VII der UN-Charta basiert. Diese Mission soll nach der alten UNMIS-Mission dazu beitragen, dass im 193. Staat Rechtsstaatlichkeit hergestellt wird und den Menschen dort, die in den vergangenen 25 Jahren keine Perspektive hatten, wieder eine Perspektive gegeben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist es gut, dass die Kollegin Malczak eben noch einmal darauf hingewiesen hat, dass der Abschlussbericht zu UNMIS vorliegt. Wer diesen Bericht gelesen hat, weiß, dass 445 Soldaten und Soldatinnen eingesetzt waren, dass Polizisten eingesetzt waren, dass wir ein Programm zur Demobilisierung, zur Entwaffnung und zur Reintegration aufgelegt haben. Genau das sind Friedensmissionen, die den Menschen wieder eine Perspektive geben. Wir haben den Menschen Zugang gegeben und das UNDP, das OCHA und den UNHCR bei ihren Maßnahmen für die Menschen unterstützt. Wir haben mit dazu beigetragen, dass 300 000 Menschen aus dem Norden in den Süden zurückkehren konnten. Wir haben in den vergangenen Jahren mit dazu beigetragen, dass über 400 000 Flüchtlinge, die für über 20 Jahre aus dem Südsudan nach Uganda und nach Kenia gegangen waren, zurückgeführt werden konnten. Wir haben in den vergangenen Jahren gemeinsam mit einer breiten Basis für das gesorgt, was Sie eben vermisst haben, Herr Movassat. Wir haben mit dafür gesorgt, dass zivile Strukturen geschaffen wurden, dass Straßen, Wasserversorgung und Ähnliches aufgebaut wurden. Das alles verschweigen Sie. Ich finde es unerträglich, wenn man sich hier als Pazifist aufspielt und versucht, aus ideologischen Gründen zu ignorieren, dass dort noch mehr Menschen sterben würden, wenn es keinen Militäreinsatz geben würde. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie sterben die ganze Zeit schon!) Wenn es im Südsudan, wenn es in Darfur nicht diese Missionen gegeben hätte, wären Hundertausende von Menschen mehr gestorben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir haben kürzlich erlebt, wie Herr Baschir mit seiner Ignoranz verhindert hat, dass im Rahmen von UNMISS auch eine Grenzsicherung vorgenommen wird. Wenn diese Grenzsicherung möglich wäre, dann wären wir heute in Süd-Kurdufan in einer anderen Situation. Sie haben eben gesagt, dass dort in den letzten Tagen 600 und in den letzten Monaten bereits 3 000 Menschen gestorben sind. Im Rahmen von UNMISS können wir jetzt dafür sorgen, dass dort wieder staatliche Strukturen aufgebaut werden. Wir wollen auch mit dazu beitragen, einen Dialog mit dem ehemaligen Zentralstaat Sudan aufzubauen. Die Aufgaben nach Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen bestehen darin, Sicherheit und Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, für die Erlangung der Unabhängigkeit zu sorgen und den Schutz der eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Wir helfen außerdem bei der Herstellung rechtsstaatlicher Strukturen. Präsident Salva Kiir hat gegenüber der internationalen Gemeinschaft angekündigt, nicht nur staatliche Institutionen aufbauen, sondern auch die Menschenrechte respektieren und rechtsstaatliche Strukturen implementieren zu wollen. Mit diesem Mandat und vor dem Hintergrund des Einsatzes in der Vergangenheit haben wir die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, die Entwicklung gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft zu überwachen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Menschen eine neue Chance bekommen. Nach einem furchtbaren, langen Krieg, der einer ganzen Generation die Zukunftschancen genommen hat, müssen wir neue Zukunftschancen schaffen. Sie sind aufgefordert, daran mitzuwirken. Dabei sollten Sie allerdings bedenken, welche Konsequenzen Ihr Handeln für die Menschen hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Niema Movassat [DIE LINKE]: Wir haben konkrete Vorschläge unterbreitet!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6987 und 17/7000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 3 auf: 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Staat Palästina anerkennen – Drucksachen 17/6150, 17/7056 – Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Hörster Günter Gloser Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller (Köln) ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen – Drucksachen 17/6298, 17/7057 – Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Hörster Günter Gloser Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller (Köln) Als Debattenzeit war eine halbe Stunde vereinbart. Es hat sich aber nur ein Kollege zu Wort gemeldet. Die übrigen Reden nehmen wir zu Protokoll.2 Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ungefähr zur gleichen Zeit, zu der wir hier zu diesem Thema hätten debattieren sollen, haben sehr viele Menschen in Tel Aviv, einige Tausend, und sehr viele Menschen in Ramallah, auch einige Tausend, für die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied der Vereinten Nationen demonstriert. Ich habe ihnen versprochen, dass ich das, was sie auf ihren Kundgebungen ansprechen, auch hier im Deutschen Bundestag vortragen werde. Ich finde, es ist ein ganz tolles Zeichen, dass Menschen in Israel und Menschen in Palästina für die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied der Vereinten Nationen auf die Straßen und auf die Plätze gegangen sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist genau das, was ich möchte: dass in dieser Art und Weise Verständigung entsteht. Die Linke will, dass Deutschland in der UNO dafür stimmt, dass Palästina als Vollmitglied aufgenommen wird. Wir sind der Auffassung, das ist deutsche Verantwortung gegenüber Israel und Palästina. In dieser Frage sind die Differenzen zwischen den Fraktionen des Bundestages aus meiner Sicht nicht unüberbrückbar. Ich will einige Stichworte nennen: Es geht um zwei Staaten, Israel und Palästina, die friedlich nebeneinander in Sicherheit und Gerechtigkeit existieren, zwei Staaten auf der Grundlage der Grenze von 1967, Ostjerusalem als Hauptstadt des palästinensischen Staates und eine gerechte, einvernehmliche Lösung der Flüchtlingsfrage. Dazu gehört ein Sicherheitsabkommen, das die palästinensische Souveränität respektiert und die Besatzung beendet. Ein solcher Weg kann dem Terrorismus den Boden entziehen. (Beifall bei der LINKEN) All die gemeinsamen Positionen, die Sie vorgetragen haben – die Linke teilt sie –, findet man auch in der Erklärung, die der britische UN-Vertreter im Weltsicherheitsrat im Namen des Vereinigten Königreiches, Frankreichs und Deutschlands abgegeben hat. Am Schluss dieser Erklärung heißt es – das zitiere ich wörtlich –: Unser Ziel bleibt eine Vereinbarung über alle Fragen des endgültigen Status und die Begrüßung von Palästina als Vollmitglied der Vereinten Nationen im September 2011. Dieser Text der Abstimmungserklärung ist im Februar dieses Jahres auch von der Bundesregierung unterschrieben worden. Ich möchte, dass das eingelöst wird, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] und Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dass mit den doppelten Standards Schluss gemacht wird und dass man die Menschen nicht immer wieder enttäuscht, indem man über die Probleme hinweggeht. Wenn ich mir die Gegenargumente anschaue – ich kann nicht alle nennen –, dann erkenne ich: Das sind weniger Einreden als vielmehr Ausreden. Ich nenne zwei Gegenargumente, die ich für besonders bedeutsam halte: Es wird gesagt, der Gang zur UNO sei eine einseitige Handlung der Palästinenser. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu und sein Außenminister haben gesagt: Das könnte dazu führen, dass alle Verträge – einschließlich des Vertrages von Oslo – hinfällig werden. Ich frage Sie, wieso der Gang zu den Vereinten Nationen, dem Weltforum, eine einseitige Handlung ist, obwohl sich mittlerweile über 150 Staaten bereit erklärt haben, die Palästinenserinnen und Palästinenser zu unterstützen. Für mich ist es ein Riesenfortschritt, dass die unbefriedigende Situation nicht mit dem Griff zur Waffe, nicht mit neuer Gewalt, sondern mit dem Gang zur UNO beantwortet worden ist. Das muss man hier doch auch einmal politisch klarstellen, und die Regierung muss sich entsprechend verhalten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Daneben wird gesagt, dass ein Scheitern der Verhandlungen zu neuem Aufruhr im Nahen Osten führen kann. Ich sage Ihnen: Wenn Sie das verhindern wollen, dann muss man den Palästinensern zeigen, dass sie nicht alleine sind, sondern dass Menschen in aller Welt auf ihrer Seite sind. Man muss ihnen zeigen, dass es eine Möglichkeit gibt, zu einem eigenen Staat zu kommen, der ihnen moralisch und politisch zusteht, und man muss ihnen zeigen, dass wir nicht wegschauen (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Tun wir doch nicht!) und dass wir nicht wollen, dass neue Gewalt gegen sie angewandt wird. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung muss sich entsprechend verhalten. Ich denke, die Bundesregierung muss in der Vollversammlung der Vereinten Nationen und im Weltsicherheitsrat für die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied eintreten. Ich sehe die Gespräche des Nahostquartetts, die ja auch in New York stattfinden, nicht als konkurrierend dazu an. Ich frage mich immer, warum nicht beides möglich ist und warum Deutschland nicht endlich mit anderen europäischen Staaten die Initiative dazu ergreift. Ich wollte, dass das hier ausgesprochen wird, und ich wollte die Kolleginnen und Kollegen, die in Tel Aviv und in Ramallah demonstriert haben, nicht enttäuschen. Deswegen habe ich hier von meinem Rederecht Gebrauch gemacht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich bekannt, dass eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kollegin Marieluise Beck vorliegt, die wir zu Protokoll nehmen.3 Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Den Staat Palästina anerkennen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7056, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6150 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Stimmen der SPD bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen und von Frau Wieczorek-Zeul von der SPD angenommen. Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7057, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6298 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Drucksache 17/6643 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Hierzu ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu nehmen.4 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6643 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Militärischen Abschirmdienst einsparen – Drucksache 17/6501 – Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Bernd Siebert (CDU/CSU): Unnötige Doppelstrukturen, zu teure oder fehlende Kontrolle durch das Parlament sind Vorwürfe, die den MAD treffen sollen. Nichts anderes ist dem vorliegenden Antrag der Grünen zu entnehmen. Ich kann zwar jede Bemühung zur Zusammenlegung von Aufgaben in Zeiten der Haushaltskonsolidierung verstehen, dieser Vorschlag der Grünen-Fraktion hat damit jedoch nichts zu tun. Keine der Begründungen verfängt bei näherer Betrachtung der Materie. Der MAD ist kein gewöhnlicher Geheimdienst, der ohne weiteres in anderen Strukturen aufgehen könnte. Er hat spezielle Aufgaben, die für den Auftrag der Bundeswehr maßgeschneidert sind. Er sorgt für die Sicherheit unserer Soldaten im In- und Ausland. Ich muss niemandem in diesem Hohen Hause erklären, dass die Gefährdungslage unserer Soldaten im Einsatz alles andere als abstrakt ist. Der MAD ist auf die interne Absicherung der Bundeswehr, und zwar nur der Bundeswehr, spezialisiert. Andere Dienste wie der BND haben sicher herausragende Fähigkeiten, hier jedoch keine Kompetenzen. Den MAD jetzt zur Auflösung herauszugreifen, halte ich für unsinnig, ja sogar gefährlich für unsere Soldaten. Unsere Soldaten verlassen sich auf die Arbeit des MAD, der mittels personenbezogener Sicherheitsüberprüfungen dafür sorgt, dass eine Unterwanderung der Bundeswehr verhindert wird. Eine Einsparung des MAD würde die Wahrnehmung dieser Aufgabe ernsthaft gefährden. Es ist zwar richtig, dass aufgrund des Wegfalls der Wehrpflicht dieser Teilauftrag des MAD seit Juli dieses Jahres weggefallen ist, die wesentlichen und zentralen Aufgaben bestehen jedoch unverändert fort. Zum einen müssen die freiwilligen Bewerber für die Bundeswehr auf Extremismusverdacht überprüft werden. Wir wollen schließlich auch in der Freiwilligenarmee Bundeswehr nicht, dass politische Extremisten Dienst an der Waffe leisten. Zum anderen bekommt die Abschirmung unserer Soldaten im Einsatz eine tendenziell größere Bedeutung. Die jetzige Reform trägt nicht umsonst den Untertitel „Vom Einsatz her denken“. Ich kann keine sachliche Begründung erkennen, die es erfordern würde, den MAD in anderen Diensten aufgehen zu lassen. Der Wille zum Sparen alleine ist kein hinreichender Grund; denn wir können keine Sicherheitspolitik nach Kassenlage betreiben. Auch würde eine Integration in andere Geheimdienste keine großen Einsparungen herbeiführen, da die speziellen Fähigkeiten des MAD erhalten werden müssten. Synergieeffekte wären nach unserer Einschätzung so kaum zu realisieren. Es macht aus meiner Sicht daher wenig Sinn, dieses Einzelthema herauszugreifen, um sich als angeblicher Anwalt des Steuerzahlers zu profilieren. Vielmehr muss ein stimmiges Gesamtkonzept erarbeitet werden, wie die zersplitterten Zuständigkeiten auf dem Feld der inneren Sicherheit sinnvoll zusammengeführt werden können. Der Wildwuchs im Bereich von unterschiedlichen Landes- und Bundesbehörden muss grundsätzlich angegangen werden. Solange hier keine Fortschritte gemacht werden, gibt es mit der CDU/CSU keine einseitige Auflösung eines erfolgreichen Dienstes, der für die Sicherheit unserer Soldaten sorgt. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass es der Opposition bei der gesamten Debatte weniger um eine effiziente Struktur bei den Geheimdiensten, sondern mehr um das Schüren von Ressentiments gegen Geheimdienste im Allgemeinen geht. Es ist meiner Meinung nach unverantwortlich, gegen die Geheimdienste als solche zu agitieren. Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Sie sind keine Gefahr für die Bürgerrechte, im Gegenteil. Auch die von interessierten Kreisen immer wieder verbreiteten Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Kunduz-Untersuchungsausschuss wurden nachhaltig widerlegt. Es gab keine geheime Operation der Nachrichtendienste in Kunduz. Wenn die Grünen meinen, dieses Thema einmal mehr mit ihrem Antrag hochziehen zu wollen, ist das sehr durchsichtig. Es gibt keine nebulösen Operationen losgelöst von Kontrolle. Es ist deswegen schlicht nicht notwendig, den MAD zur angeblich besseren Kontrolle von Verwaltungshandeln aufzugeben. Der vielleicht wichtigste Grund, die Kompetenzen des MAD zu erhalten, sind unsere Bundeswehrangehörigen im Auslandseinsatz. Die Bedrohung in Afghanistan geht häufig von Tätern aus, die gezielt Attentate und Selbstmordanschläge auf Einzelpersonen verüben. Die Bundeswehr ist aufgrund der bereits umgesetzten Partnering-Strategie besonders gefährdet. Der Angriff, bei dem General Kneip verwundet wurde und zwei Bundeswehrsoldaten gefallen sind, beweist das Potenzial solcher Aktionen. Auch der folgenschwere Angriff eines afghanischen Soldaten auf die Bundeswehr bei Baghlan ist Ausdruck dieser neuartigen Bedrohung. Für die Abwehr dieser speziellen und besonders perfiden Gefahr benötigt die Bundeswehr die Fähigkeiten und Erfahrungen des MAD mehr denn je. Sicherheit im Einsatz ist mehr als gut geschützte Fahrzeuge und moderne Waffensysteme; sie ist elementar abhängig vom frühzeitigen Erkennen und Aufklären von Gefahren. Dabei leistet der MAD einen unschätzbaren Beitrag. Auch die scheinbar zum Kalten Krieg gehörende Bedrohung der Spionage ist keineswegs Geschichte. Bis heute gibt es immer wieder Versuche, die Bundeswehr auszuspähen, und zwar sowohl von innen wie von außen. In der heutigen Zeit, die mit Vernetzung und Digitalisierung neue Möglichkeiten eröffnet, dürfen die Gefahren der technischen Revolution für die militärische Geheimhaltung einfach nicht unterschätzt werden. Andere Staaten haben erst jüngst Erfahrungen mit dem Ausspähen von sensibler Militärtechnik gemacht. Ihr Beispiel sollte uns eine Warnung sein. Die Bundeswehr als Hochtechnologiearmee, die mit neuestem Gerät ausgestattet ist, ist besonders interessant für Ausspähversuche aller Art. Der MAD soll und muss hier agieren können, mit dem speziellen Wissen um Bundeswehrinterna und streitkräftespezifische Gepflogenheiten. Es geht auch um das Thema Verantwortung. Militärische Führer bis hin zum Minister brauchen Berater, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Organisation die notwendige Sachkenntnis mitbringen. Verantwortung kann aber nur übernehmen, wer auch die entsprechenden Mittel zur eigenen Verfügung hat. Dies ist nur dann der Fall, wenn der MAD als bundeswehreigene Institution bestehen bleibt. Daran knüpft sich unmittelbar das Argument der schnellen Verfügbarkeit. Zeitlicher Vorsprung ist in unserer schnelllebigen Welt eine besonders kritische Ressource. Es ist eben doch ein Unterschied, ob ich Fähigkeiten in meinem eigenen Bereich habe oder ob ich sie von außen erbitten muss. Der unmittelbare Zugriff und die Weisungsgebundenheit sorgen dafür, dass der MAD unverzüglich handeln kann. Bei einer Vergabe an Dritte wird es immer Koordinierungsbedarf geben; im schlechtesten Fall sind Kapazitäten nicht oder nicht schnell genug verfügbar. Diese Transaktionskosten müssen bei allen Überlegungen zu Einsparungen stets mitbedacht werden. Sie sind umso schwerwiegender, je sicherheitsrelevanter eine Dienstleistung ist. Für mich spricht das deutlich gegen eine unüberlegte Auflösung des MAD. Unzweifelhaft ist, dass im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr der MAD nicht völlig unangetastet bleiben wird. Die Einschnitte beim militärischen wie beim zivilen Personal sind derart signifikant, dass sie auch beim MAD zu spüren sein werden. Niemand bezweifelt, dass eine deutlich kleinere Bundeswehr auch die eine oder andere Stelle beim MAD kostet. Das heißt aber keinesfalls, dass der MAD generell überflüssig wäre. Ich bleibe dabei: Eine neue Architektur im Bereich der inneren Sicherheit muss koordiniert errichtet werden. Überstürzte Einzelmaßnahmen richten unnötigen Schaden an und haben zu unterbleiben. Deswegen ist meine Empfehlung eindeutig: Dieser Antrag der Grünen ist abzulehnen. Florian Hahn (CDU/CSU): Eine der ethischen Grundstützen innerhalb unserer Armee ist das Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der Geschichte. Über ihre Spiegelbildfunktion repräsentiert sie unsere mündige und freie Gesellschaft. Diese Denkweise innerhalb unserer Armee zu sichern, ist eine Hauptaufgabe des MAD. Die Sammlung von Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Bundeswehr fällt somit darunter, ebenso wie die Aufklärung von sicherheitsgefährdenden Aktivitäten gegen die Bundeswehr. Der MAD bringt darüber hinaus sein technisches Know-How bei der Sicherung von Bundeswehrliegenschaften ein und wirkt mit bei der Ausarbeitung und Durchführung von Maßnahmen zum Geheimschutz. Um es noch deutlicher zu machen: Der MAD ist es, der dafür sorgt, dass sich keine Extremisten in der Bundeswehr ansiedeln, keine Nazis, Islamisten oder sonstige Verfassungsfeinde. Diese Aufgaben hat der MAD stets mit großem Erfolg wahrgenommen und hat sich auch in seiner Organisationsform bewährt. Dass er seine Aufgaben stets unauffällig für die Öffentlichkeit wahrgenommen hat, ist keine Rechtfertigung für eine Auflösung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion. Die anstehende Überführung und Reform unserer Bundeswehr verändert das Anforderungsprofil unserer Streitkräfte. Wir führen diese zu einer flexiblen, mobilen und effektiven Armee im Einsatz. Diese angesprochenen Aufgaben des MAD haben vor dem Hintergrund der sich allgemein, insbesondere im Rahmen unserer Auslandseinsätze verschärften Sicherheitslage enorm an Bedeutung zugenommen. Der Schutz der Angehörigen der deutschen Einsatzkontingente und die Überprüfung dort tätiger Ortskräfte sind Beispiele für die zunehmende Auslastung des MAD innerhalb der Auslandseinsätze. Die Bundeswehrreform und die damit verbundene Personalreduzierung wird anteilig alle Ebenen der Streitkräfte berühren. Folglich kann die genaue Betrachtung des MAD erst erfolgen, wenn die Struktur der reformierten Bundeswehr festgelegt wurde. Ich möchte auch betonen, dass eine Zusammenlegung oder Integration des MAD in den BND aus Kostengründen oder zur Vermeidung von angeblichen Mehrfachzuständigkeiten ebenso wenig Sinn machen würde wie eine Überführung der Aufgaben auf das Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Aufgaben des MAD beziehen sich immer konkret auf die Bundeswehr und ihre Angehörigen. Sie erfordern spezifische Sachkenntnisse und Erfahrungen mit den inneren Angelegenheiten der Bundeswehr. Um diese Aufgaben weiterhin zu gewährleisten, wäre es für die neu geschaffene Institution notwendig, neues Personal anzuwerben oder das alte zu überführen. Beides wäre sicherlich mit mehr und nicht weniger Kosten verbunden. Wenn Sie in diesem Zusammenhang von „Mehrfachzuständigkeiten“ und „Parallelstrukturen“ sprechen, weise ich nachdrücklich daraufhin, dass es solche nicht gibt. Die Nachrichtendienstegesetze sehen zwar die Zusammenarbeit in vielen Fällen vor, Zuständigkeiten bestehen jedoch für jeden der drei Bundesdienste jeweils exklusiv. Schlicht falsch ist im Übrigen Ihre Annahme, die zivilen Verfassungsschutzbehörden wären zuständig, „sobald zum Beispiel ein der Spionage oder als Neonazi verdächtiger Soldat die Kaserne verlässt“. Der MAD ist zuständig, sobald ein Angehöriger der Bundeswehr in einem solchen Verdacht steht – und er bleibt es, solange diese Person Angehöriger der Bundeswehr ist, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Die Sicherheitsüberprüfung des Personals und der Schutz der Truppe vor extremistischen und nachrichtendienstlichen Angriffen sind unverzichtbare Fähigkeiten der Bundeswehr. Autorität und Zugriff auf diese Felder müssen allein schon aufgrund der Ressortautonomie und der effektiven Handlungsfähigkeit beim Bundesministerium der Verteidigung verbleiben. Die Auflösung des Militärischen Abschirmdienstes wie hier in dem Antrag der Grünen gefordert, wäre eine Gefährdung der Substanz unserer Ziele, die durch die Umstrukturierung der Bundeswehr erreicht werden sollen. Daher lehne ich einen solchen Antrag entschieden ab. Rainer Arnold (SPD): Der Militärische Abschirmdienst, MAD, ist neben dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst der dritte deutsche Nachrichtendienst auf Bundesebene. Er nimmt dabei seine im MAD-Gesetz fixierten Aufgaben eingeschränkt auf Personen und Einrichtungen im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung wahr. Sein Auftrag besteht im Kern darin, zur Sicherung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr beizutragen. Nun nimmt der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen eine seit Ende letzten Jahres mehr oder weniger öffentliche Diskussion in der Regierungskoalition auf, und fordert die sofortige Auflösung des MAD und die Übertragung der noch notwendigen Aufgaben auf Verfassungsschutz und BND. Auf den ersten Blick ist dies angesichts der anstehenden Veränderungen innerhalb der Bundeswehr eine durchaus nachvollziehbare Forderung. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt. Damit entfällt die bisherige Aufgabe, extremismusverdächtige Wehrpflichtige zu überprüfen. Die Bundeswehr wird verkleinert, Standorte werden aufgegeben werden. Damit gibt es weniger zu tun für den MAD. Auch bei seiner jüngsten Kompetenz, der Sicherung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, ist der MAD anscheinend überflüssig, übernimmt doch der Bundesnachrichtendienst zum Beispiel in Afghanistan die militärische Aufklärung. Die Arbeit des MAD beschränkt sich dort sowie im Kosovo und in Dschibuti auf die Binnensicherung der Stützpunkte, womit insbesondere die Sicherheitsüberprüfung ausländischer Dienstleister gemeint ist. Aber könnte dies nicht auch von der Militärpolizei oder dem Verfassungsschutz übernommen werden? Lassen Sie uns doch etwas genauer hinschauen. Können die Aufgaben, die jetzt noch vom MAD wahrgenommen werden, tatsächlich ohne große Schwierigkeiten auf andere Sicherheitsbehörden übertragen werden? Ich rate da zur Vorsicht und zu einer Erweiterung der Sichtweise. Es geht um eine Überprüfung der militärischen Nachrichtengewinnung überhaupt. Das „Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr“ agiert aus meiner Sicht zurzeit in einer rechtlichen Grauzone. Der Kunduz-Untersuchungsausschuss hat hier aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion einen notwendigen Handlungs- und Regelungsbedarf aufgezeigt. Vieles spricht dafür, diesen Bereich und vor allem dessen parlamentarische Kontrolle gesetzlich zu regeln. Dies könnte aus unserer Sicht im Rahmen einer Gesamt-reform der nachrichtendienstlichen Architektur in Deutschland geschehen. Insoweit lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf sofortige Auflösung des MAD ab. Die von mir angesprochene notwendige Neuregelung im Bereich des militärischen Nachrichtenwesens sollte aber nicht auf die lange Bank geschoben werden. Ich rate zu einer umfassenden Diskussion in geordneten Bahnen und fordere die Bundesregierung auf, dem Bundestag möglichst zeitnah Vorschläge zu unterbreiten. Christoph Schnurr (FDP): Der Militärische Abschirmdienst, abgekürzt: MAD, ist einer von drei Geheimdiensten unserer Bundesrepublik. Das parlamentarische Kontrollgremium ist das Organ, das diesen Nachrichtendienst kontrolliert. Doch es ist meiner Meinung die Aufgabe des gesamten Parlamentes, sich Gedanken über die Sicherheitsarchitektur des Bundes zu machen. Das haben wir als FDP-Bundestagsfraktion schon seit längerem intensiv gemacht, und wir haben unser Positionspapier zur Überführung des MAD in das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Bundeswehr im Mai dieses Jahres verabschiedet. Die Grünen fordern dies nun auch in ihrem sehr verkürzten Antrag, den wir heute hier behandeln. Jede Regierung tut nicht nur gut daran, sondern sie ist es auch den Bürgern schuldig, die Sicherheitsorgane kontinuierlich zu überprüfen. In diesem Fall wollen wir als Koalition die Prüfung bezüglich der Möglichkeit einer Aufgabenübertragung vom MAD auf BfV, BND und Bundeswehr. Diesen Auftrag hat die Bundesregierung vom Vertrauensgremium erhalten. Auf den Bericht warten die Kollegen des Vertrauensgremiums sehr gespannt. Auch der Verteidigungsausschuss befasst sich mit der Materie, weil der MAD zum Geschäftsbereich des BMVg gehört. Doch auch wir warten die Feinausplanung der Neuausrichtung der Bundeswehr zunächst ab. Wir wollen uns einen Gesamtüberblick verschaffen. Wir wollen uns eine ganz nüchterne Betrachtung leisten; denn die Umverteilung der Aufgaben und Fähigkeiten des MAD kann man nicht Hals über Kopf mit einem Antrag bis Ende des Jahres machen, wie es die Grünen fordern. Der Bericht unseres Prüfauftrages liegt gegenwärtig noch nicht vor – geschweige denn, dass über diesen in den Ausschüssen beraten wurde. Die FDP-Fraktion lehnt diesen Antrag daher ab. Inge Höger (DIE LINKE): Medien bezeichnen den Militärischen Abschirmdienst, MAD, immer wieder als den „geheimsten aller Geheimdienste“. Öffentlichkeit und Transparenz sind für diesen Geheimdienst völlige Fremdworte. Auch beim Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst werden diese Tugenden nicht großgeschrieben; aber die Öffentlichkeit hat wenigstens eine vage Ahnung über ihre Aufgaben. Der MAD ist mit seinen 1 280 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der kleinste deutsche Geheimdienst und ist sowohl im Inland als auch im Ausland aktiv – eben überall dort, wo auch die Bundeswehr ist. In seiner bisherigen Geschichte war der MAD immer wieder in Skandale verwickelt. Am bekanntesten war die Kießling-Affäre 1983. Es gab aber auch andere Abhöraffären. Weil dubiose Quellen den Bundeswehrgeneral Günter Kießling verdächtigten, schwul zu sein, und weil sie dies für ein Sicherheitsrisiko hielten, wurde er überwacht und ohne Anhörung sowie ohne Prüfung der Vorwürfe in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Dieser Skandal ist symptomatisch für die Gefahren, die von Geheimdiensten für eine demokratische Gesellschaft ausgehen. Die Fraktion Die Linke hat deswegen bereits in ihrem Bundestagswahlprogramm erklärt, dass sie für eine Auflösung der Geheimdienste ist. Folglich begrüßen wir den Vorstoß der Grünen, den MAD aufzulösen. Die Abschaffung des MAD kann ein wichtiger Schritt zur Auflösung aller Geheimdienste sein. Dies wäre ein bedeutender Sieg für die Demokratie in diesem Land. Wenn zusätzlich in diesem Bereich Steuergelder eingespart werden, dann ist dies auf jeden Fall sinnvoll. Leider schlagen die Grünen jedoch nicht vor, ersatzlos auf den MAD zu verzichten, sondern sie wollen seine Aufgaben „anderen Sicherheitsbehörden“ zuordnen. Das bedeutet konkret, dass im Inland die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder noch enger mit dem Militär kooperieren werden. Im Ausland wird dann der Bundesnachrichtendienst noch enger in die Aktionen des Militärs involviert sein. Dies wäre eine bedenkliche Entwicklung. Gerade bei Auslandseinsätzen mussten wir in den letzten Jahren feststellen, dass in der Zusammenarbeit zwischen Militär und BND immer mehr unkontrollierbare Grauzonen entstanden. Dieses Thema hat uns nun schon in mehreren Untersuchungsausschüssen beschäftigt. Ich will an dieser Stelle nur auf die Rolle des BND bei dem Bombardement eines Tanklastzuges am Kunduz-Fluss vor etwas mehr als zwei Jahren erinnern. Eine Entscheidung, die ganz wesentlich von der Task Force 47 getragen wurde, in der Bundeswehr und BND eng zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit muss beendet werden und darf nicht noch institutionell gefestigt werden – was zumindest eine Folge des grünen Antrages sein könnte. Die Trennung der Aufgaben von Militär und Polizei, aber auch von Militär und Geheimdiensten sind wichtige Lehren aus dem Dritten Reich. Damit soll die Demokratie vor möglichen Entwicklungen hin zu einer Diktatur geschützt werden. Wenn nun die Bundeswehr, der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst eine institutionell zementierte Zusammenarbeit haben, dann besteht die Gefahr, dass noch weitere unkontrollierbare Grauzonen entstehen. Der Antrag der Grünen ist leider nicht mutig genug. Sie schlagen zwar vor, das „Problem MAD“ zu lösen, aber durch die von ihnen vorgeschlagenen halbherzigen Alternativen schaffen sie neue Probleme. Die Linke wird sich deswegen bei der Abstimmung enthalten und wirbt dafür, zukünftig mutig das gesamte Problemfeld Geheimdienste anzugehen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Brauchen wir einen dritten, extra für die Bundeswehr zuständigen Geheimdienst, also den Bundesnachrichtendienst, wirklich? Das ist schon lange fraglich. Für die Aufklärung und Informationsbeschaffung im Inland zur Abwehr von Spionage, Terrorgefahren oder verfassungsfeindlichen Bestrebungen war und ist das Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig. Für Aufklärung und Informationsbeschaffung im Ausland ist es der Bundesnachrichtendienst. Nur die Bundeswehr solle von den Bemühungen dieser beiden Geheimdienste weitgehend ausgenommen bleiben. Dafür ist der MAD zuständig. Aber lässt sich Aufklärung und Informationsbeschaffung für diese Ausnahme so einfach von der sonstigen trennen? Gab es da nicht schon immer zwangsläufig Reibungsverluste durch Doppelarbeit, Parallelbefassung und gar Konkurrenz, wenn zum Beispiel Agentennetze ausländischer Mächte von den Inlandsgeheimdiensten in Deutschland aufgeklärt werden? Mit den ersten Auslandseinsätzen der Bundeswehr kam die neue Konkurrenz zum BND hinzu. Wer sollte zuständig sein für die Aufklärung des Umfeldes der Truppe im feindlichen Ausland? Den sich anbahnenden Wildwuchs der Zuständigkeiten hatte das Parlament mit der rot-grünen Mehrheit beschnitten und die Tätigkeit des MAD bei Auslandseinsätzen auf die Unterkünfte und Feldlager der Bundeswehr im Ausland gesetzlich eingeschränkt. Alle Aufklärung und Informationsbeschaffung außerhalb blieb wie bisher dem BND überlassen. Aber auch diese Trennung bringt Abgrenzungs- und Zuständigkeitsprobleme. Wir haben deshalb immer wieder gefordert, den Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr sobald wie möglich aufzulösen. Soweit noch Aufgaben bleiben, die der MAD bisher wahrnahm, sollen diese künftig durch andere Sicherheitsbehörden wahrgenommen werden: im Inland vom Bundesamt für Verfassungsschutz, im Ausland vom Bundesnachrichtendienst. Das bisherige MAD-Personal soll – soweit personalrechtlich zulässig – dorthin übergeleitet werden oder im allgemeinen Bundeswehrdienst tätig bleiben. Wegen Effizienzgewinnen können viele dieser Stellen vermutlich in Zukunft mit Ausscheiden des Stelleninhabers wegfallen. Die Bundesregierung soll dem Bundestag laufend über den Vollzug dieser Reform berichten. Gründe für unseren Antrag ergeben sich auch aus Veränderungen der Sicherheitslage. Sie hat zur faktischen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland geführt. Die Mannschaftsstärke der Bundeswehr wird stark verringert. Ihre Aufgaben sind andere. Gerade Auslandseinsätze finden unter sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen statt, die jeweils gesondert nicht ausreichend aufgeklärt und verstanden werden können. Gefahren und Spionageangriffe auf die Bundeswehr können meist nur aus dem Gesamtzusammenhang wie etwa des internationalen islamistischen Terrorismus erkannt werden. Dazu ist aber allenfalls der BND, nicht aber der MAD in der Lage, zumal der MAD der kleinste der drei deutschen Geheimdienste ist, der circa 1 250 Mitarbeiter, 12 Regionaldienststellen und einen jährlichen Etat von circa 73 Millionen Euro hat. Derzeit werden die Neuausrichtung der Bundeswehr diskutiert, die Verschlankung ihrer Strukturen sowie die Einsparung von Einrichtungen und Dienststellen. Weil die Wehrpflicht ab dem 1. Juli 2011 ausgesetzt ist, entfällt auch die bisherige Aufgabe des MAD, laufend extremismusverdächtige Wehrpflichtige zu überprüfen. Auch zu den Sparbemühungen kann die Abschaffung des MAD beitragen. Viele deutsche Sicherheitsbehörden, nicht nur die Geheimdienste, befassen sich heute im In- und Ausland mit ähnlichen Aufgaben. Dabei kommt es zu teuren Mehrfachzuständigkeiten, Parallelstrukturen und Doppelarbeit. Abgrenzungsbemühungen sind bisher unzureichend. Solche Überschneidungen der Zuständigkeiten des MAD gibt es nicht nur mit dem Bundesamt und den Landesämtern für Verfassungsschutz sowie mit dem Bundesnachrichtendienst, sondern auch mit dem Bundeskriminalamt und dem Zollkriminalamt im In- und Ausland. In Deutschland nimmt der MAD in der Bundeswehr bisher Aufgaben des Verfassungsschutzes wahr: Er erforscht zum Beispiel Extremismus und wehrt Spionage ab. Umgekehrt sind die Ämter für Verfassungsschutz mit derlei befasst: zum Beispiel wenn ein der Spionage oder als Neonazi verdächtigter Soldat außerhalb der Kaserne überprüft werden soll. Auch im Ausland bestehen Überschneidungen: Der MAD wirkt während dortiger Bundeswehreinsätze an personellen sowie technischen Sicherheitsüberprüfungen mit und analysiert Gefährdungen durch Nachrichtengewinnung. Das Gleiche tut innerhalb der deutschen Auslandsstützpunkte und in deren Umfeld der BND. So war es zum Beispiel im afghanischen Bundeswehr-standort Kunduz. Dort sind MAD-Mitarbeiter tätig. Doch seit 2007 operierte dort parallel die geheime „Taskforce 47“ mit BND-Angehörigen in einem gesonderten Teil des Stützpunktes, die von dort gleichfalls afghanische Aufklärer dirigierte. Das wurde erst Ende 2009 durch Zufall bekannt. Besonders dieses Beispiel zeigt nochmals anschaulich, dass solche Parallelstrukturen und Mehrfachzuständigkeiten die Kontrollierbarkeit der dienstlichen Tätigkeit verringern. Auch die zuständigen Ausschüsse und Gremien des Bundestages können ihre Kontrollaufgaben nur schwer wahrnehmen. Auch deshalb sind Parallelorganisationen wie die des MAD aufzulösen. Bisweilen wird gegen unseren Vorschlag eingewendet, dass allein der MAD seine bisherigen Aufgaben wahrnehmen könne und niemand sonst. Das jedoch ist nicht nur unwahrscheinlich und nicht nachvollziehbar. Vielmehr haben die weit größeren Behörden BfV und BND, denen die Aufgaben des MAD übertragen werden sollen, weit größere Erfahrungen mit den entsprechenden Tätigkeiten. Hinzu kommt, dass schon heute gerade auch im BND viele ehemalige oder derzeitige Angehörige der Bundeswehr Dienst tun, nicht nur weil der Geheimdienst unter Angehörigen der Bundeswehr Mitarbeiter wirbt, sondern weil zudem solche zeitweise für besondere Aufgaben und beschränkte Zeit dorthin abgestellt werden. Schon bisher findet somit ein personeller Austausch der Bundeswehr mit den Nachrichtendiensten statt. Auch andere fordern, den MAD abzuschaffen. Dies tun etwa schon seit langem auch mehrere Ämter für Verfassungsschutz unter Verweis auf die genannten Aufgabenüberschneidungen. Auch die Haushaltsexperten von Union und FDP haben sich im zuständigen Teil des Haushaltsausschusses des Bundestages 2010 für die Einsparung des MAD ausgesprochen. Und im Mai 2011 hat sogar die Bundesjustizministerin zutreffend festgestellt: „Die Verteilung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes auf drei verschiedene Dienste führt zu überflüssigen Doppelstrukturen, darauf beruhender Intransparenz und zu der Gefahr doppelter Grundrechts-eingriffe“. Treffender hätte ich es kaum formulieren können. Daher fordere ich Sie auf, den Stimmen auch aus Regierung und Koalition zu folgen und den MAD abzuschaffen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6501 mit dem Titel „Militärischen Abschirmdienst einsparen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen – Drucksache 17/6644 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Die Reden sollen ebenfalls zu Protokoll genommen werden.5 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6644 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes – Drucksache 17/7020 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Die Reden gehen zu Protokoll.6 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7020 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.  Martina Bunge, Katrin Kunert, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Erforderliche Bewilligungen von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen gewährleisten – Drucksache 17/6493 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Die Reden gehen zu Protokoll. Rudolf Henke (CDU/CSU): Eltern-Kind-Maßnahmen sind ein sinnvolles und wichtiges Element für eine erfolgreiche gesundheitliche Prävention und Rehabilitation von Müttern und Vätern, die aufgrund hoher Mehrfachbelastungen physisch und psychisch beeinträchtigt sind. Kindererziehung, Beruf und Haushalt managen, das ist das Alltagsgeschäft vieler Eltern/Alleinerziehender. Erschwert wird die familiäre Situation, wenn finanzielle Sorgen, Partnerschaftsprobleme oder die Pflege eines Angehörigen hinzukommen. Die steigenden Belastungen und Erwartungen werden zu Belastungen, die die Gesundheit beeinträchtigen können und krank machen. Erschöpfungszustände, Unruhe, Nervosität, Angst, Schlafstörungen, Allergien, Magen-Darm-Störungen, Herz-Kreislauf-Störungen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen sind typische Beispiele für Gesundheitsprobleme von Müttern und Vätern in derartigen Situationen. Wenn die ersten Signale von Körper und Seele ignoriert werden, weil Eltern weiter für die Familie funktionieren wollen, können aus Störungen Krankheiten werden, die intensiver Behandlung bedürfen. Um diesen Kreislauf möglichst früh zu unterbrechen und den betroffenen Familien zu helfen, sind Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen seit 2007 Pflichtleistungen der GKV. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde festgelegt, dass von den gesetzlichen Krankenkassen neben den bereits erfassten Daten zu Fallzahlen und Ausgaben erstmals für das Jahr 2008 auch Daten zur Antrags- und Bewilligungspraxis von Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen zu erheben sind. Die Ermittlung des Antrags- und Bewilligungsgeschehens der gesetzlichen Krankenkassen von Mutter-/Vater-Kind-Kuren hat ergeben, dass in den Jahren 2007 und 2008 sowohl die Zahl der Kuren als auch die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen angestiegen sind. In den Folgejahren waren die Ausgaben hingegen rückläufig. Sie gingen im Jahr 2009 um 6,01 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück, im Jahr 2010 sanken sie wiederum um 9,22 Prozent jeweils im Vergleich zum Vorjahr. Auch der Bericht des Bundesrechnungshofes hat dazu beigetragen, dass die Ungereimtheiten in der Bewilligungspraxis der Leistungsträger zutage gefördert wurden. In diesem Bericht wird unter anderem eine fehlende Transparenz in der Bewilligungs- und Ablehnungspraxis der Anträge von Mutter-/Vater-Kind-Kuren bemängelt. Obwohl für alle gesetzlichen Krankenkassen die gleichen rechtlichen Voraussetzungen gelten, weichen die Entscheidungen der einzelnen Kassen bisweilen sehr deutlich voneinander ab. Darüber hinaus wird vom Bundesrechnungshof darauf verwiesen, dass Krankenkassen in der Praxis Kuranträge mit dem Hinweis auf ambulante Angebote ablehnen. Der Gesetzgeber hat im Falle der Eltern-Kind-Kuren festgelegt, dass nicht alle ambulanten Maßnahmen ausgeschöpft sein müssen, um einen entsprechenden Kurantrag zu bewilligen. Diese Entwicklung ist nicht nachvollziehbar und unbefriedigend. Daher hat der Ausschuss für Gesundheit als Konsequenz einen Entschließungsantrag beschlossen, der mit Ausnahme der Linken von allen Fraktionen mitgetragen wird. Mit dem Beschluss setzen wir uns dafür ein, dass der GKV-Spitzenverband und der Medizinische Dienst des GKV-Spitzenverbandes bis spätestens Ende 2011 folgende Vorkehrungen zu treffen haben: Die Begutachtungsrichtlinie Vorsorge und Rehabilitation ist zu überarbeiten. Die Antragsvordrucke sind zu verbessern und zu vereinheitlichen. Es sind verständliche Arbeitshilfen zum Grundsatz zu erstellen, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme nicht voraussetzt, dass zuvor ambulante Maßnahmen ausgeschöpft wurden. Die Entscheidungen der Krankenkassen müssen transparent und mit aussagekräftigen und nachvollziehbaren Begründungen getroffen werden. Die Krankenkassen haben sicherzustellen, dass die Bescheide mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden. Außerdem dürfen Krankenkassen nicht den Eindruck vermitteln, dass Widerspruchsverfahren ohne Widerspruchsbegründung oder Äußerung der Versicherten nicht fortgeführt oder eingestellt würden. Der Beschluss des Gesundheitsausschusses gilt und muss jetzt wirken. Daher dient der Antrag der Linken nur noch der eigenen Positionierung. Wir lehnen ihn ab. In einem weiteren Punkt fand der Bundesrechnungshof Mängel. Die Frage der Zuständigkeit des Leistungsträgers ist nach wie vor problematisch in der Klärung. Im Falle der Mutter-/Vater-Kind-Kuren lehnen Krankenkassen Anträge mit der Begründung ab, der Rentenversicherer sei zuständig, da es sich nicht um eine Präventionsmaßnahme handele, sondern um eine Rehabilitationsmaßnahme. Anstatt – wie gesetzlich im § 14 SGB IX oder § 40 Abs. 4 SGBV geregelt – die Anträge nach Prüfung und Feststellung der Nichtzuständigkeit weiter an den vermutlich zuständigen Leistungsträger zu leiten, weisen einige Kassen die Antragsteller lediglich darauf hin, dass sie die Maßnahme beim Rentenversicherungsträger beantragen können. Im Bereich Prävention und Rehabilitation gibt es eine Vielzahl von Maßnahmen, die erkrankte Menschen und Menschen mit Behinderungen dabei unterstützen sollen, ihren Alltag besser bewältigen zu können, in das Berufsleben wieder eingegliedert zu werden oder etwa die Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Union hat sich in den letzten Jahren für viele dieser Maßnahmen und gesetzlichen Regelungen eingesetzt. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass oftmals diese Ansprüche zu spät, nur zum Teil oder gar nicht umgesetzt werden. Noch immer werden Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke bei der Suche nach den zuständigen Kostenträgern entgegen geltender Rechtslage von einer Stelle zur anderen weitergereicht, ohne die für sie erforderlichen Leistungen zu bekommen. Fristen für die Bearbeitung eines Antrags werden nicht eingehalten, unterschiedliche Leistungen nicht koordiniert. Die sogenannten Gemeinsamen Servicestellen, deren Aufgabe die Beratung und Unterstützung bei der Antragsstellung ist, sind häufig nicht oder nur wenig bekannt. Zudem können sie in vielen Fällen ihre Aufgaben aufgrund fehlender Ressourcen und Kompetenz nicht zweckmäßig erfüllen. Unsere Aufgabe ist es, auch über die Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen hinaus darauf zu achten, dass diese Missstände behoben werden. Erwin Rüddel (CDU/CSU): Die christlich-liberale Koalition unterstützt die Mütter und Väter in unserem Land, die aus gesundheitlichen Gründen eine Kur mit ihren Kindern benötigen. Ich treffe diese Feststellung gleich zu Beginn und ohne jedes Wenn und Aber; denn es handelt sich bei diesen Kuren um wichtige Maßnahmen zur Prävention und Rehabilitation, an denen wir keine Abstriche zulassen werden. Als Vertreter meiner Fraktion im Gesundheitsausschuss und im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte ich Gelegenheit, an allen diesbezüglichen Beratungen teilzunehmen. Die Haltung der CDU/ CSU-Fraktion ist ganz klar: Wir werden keine Ruhe geben, bis die Krankenkassen ihren gesetzlichen Verpflichtungen in Sachen Mutter-/Vater-Kind-Kuren zweifelsfrei nachkommen. Der Wille des Gesetzgebers ist doch ganz eindeutig: Weil immer mehr Erziehungsberechtigte sich in unserem Land Mehrfachbelastungen ausgesetzt sehen, die ihrer Gesundheit abträglich sind, wollen wir dem mit der Stärkung und besseren Durchsetzung von Mutter-/Vater-Kind-Kuren entgegenwirken. Um dies sicherzustellen, sind die entsprechenden Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch das zum 1. April 2007 in Kraft getretene GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, GKV-WSG, von Ermessens- in Pflichtleistungen umgewandelt worden. Zunächst, in den Jahren 2007 und 2008, haben dann ja auch die Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen deutlich zugenommen; das Gleiche galt für die diesbezüglichen Aufwendungen der GKV. Seit 2009 beobachten wir hingegen einen spürbaren Rückgang der entsprechenden Ausgaben der GKV, der sich im Jahr 2010 sogar noch verstärkt hat. Das ist eine Entwicklung, die uns mit Blick auf die Bedeutung der Mutter-/Vater-Kind-Kuren Sorgen macht, zumal es deutliche Hinweise darauf gibt, dass dieser Rückgang ursächlich mit der Bewilligungspraxis der gesetzlichen Krankenkassen zusammenhängt. Tatsache ist jedenfalls, dass uns aus allen Himmelsrichtungen Klagen und Beschwerden über die Genehmigungspraxis erreichen. Das Müttergenesungswerk und die Caritas berichten beispielsweise von stetig steigenden Ablehnungsquoten, von fadenscheinigen Begründungen und groben Verfahrensmängeln; von Müttern, denen schon drei-, vier-, fünfmal die Kur verweigert wurde, wobei oftmals nur falsche Formulierungen in den Anträgen als Begründung für abschlägige Bescheide dienen mussten. In einigen Regionen ist zuletzt fast jeder dritte Antrag abgelehnt worden, anderswo lehnen manche Kassen über 50 Prozent der Anträge ab. Der Verdacht drängt sich förmlich auf, dass hier eine willkürliche Praxis am Werke ist, die nichts mit dem Buchstaben des Gesetzes zu tun hat – eine Praxis, die leider das Prädikat „familienfeindlich“ verdient. Dabei sollten sich doch alle Beteiligten über den Grundsatz einig sein, dass Vorsorge besser ist als Nachsorge. Es kann daher nicht angehen, dass Mütter und Väter zu Bittstellern werden müssen, wenn es um den Erhalt ihrer Gesundheit geht. Auch der Bericht, den der Bundesrechnungshof in dieser Angelegenheit zwischenzeitlich dem Haushaltsausschuss vorgelegt hat, spricht eine deutliche Sprache. Wir haben uns in den zuständigen Ausschüssen wiederholt mit diesen Erkenntnissen beschäftigen müssen. Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass sich sowohl das federführende Bundesministerium für Gesundheit wie auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Problematik angenom-men haben und gegenüber den Krankenkassen, dem GKV-Spitzenverband sowie seinem Medizinischen Dienst auf eine angemessene Entwicklung der Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen drängen. Wir alle erwarten nunmehr von den Krankenkassen, dass diese ihre Bewilligungspraxis überprüfen und insbesondere für transparente Begutachtungen und nachvollziehbare Entscheidungen sorgen. Missverständliche Antragsvordrucke und fehlende Rechtshilfebelehrungen müssen der Vergangenheit angehören. Menschen, die nach dem Willen des Gesetzgebers Ansprüche auf Pflichtleistungen haben, dürfen nicht länger leer ausgehen. Die Kassen sind verpflichtet, in jedem Einzelfall und bei jeder Untersuchung eine individuell nachvollziehbare und begründete Entscheidung vorzulegen. Wir erwarten, dass jetzt möglichst umgehend die richtigen Konsequenzen aus den umfangreichen Beratungen hier im Hause gezogen werden und dass dem Gesundheitsausschuss alsbald ein entsprechender Bericht erstattet wird. Mit unserem vorliegenden Antrag stärken wir die Rechte von Müttern und Vätern, die einen Anspruch haben auf die vom Gesetz gewollte Gesundheitsversorgung. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aufgefordert, ihre bisherige Praxis zügig zu überprüfen, damit die notwendigen Maßnahmen künftig zeitnah und unbürokratisch bearbeitet und bewilligt werden können. Mit einem Wort: Wir erwarten, dass dem Willen des Gesetzgebers Genüge getan wird. Steffen-Claudio Lemme (SPD): Die Sachlage in dieser Debatte zum Antrag der Fraktion Die Linke ist für uns Sozialdemokraten eindeutig. Denn wir waren es, die im Rahmen des GKVWettbewerbsstärkungsgesetzes im Jahr 2007 unter Federführung von Ulla Schmidt dafür gesorgt haben, dass Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen von Ermessensleistungen zu Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wurden, und das aus gutem Grund. Wir sind schließlich grundsätzlich der Überzeugung, dass besonders jene in der Gesellschaft unseres Schutzes und unserer besonderen Förderung bedürfen, die Großes leisten. Die Erziehung von Kindern gehört zu eben jenen anzuerkennenden und herausragenden Lebensleistungen. Halten wir fest: Es geht hier in erster Linie um die betroffenen Mütter und Väter. Sie können im Rahmen besagter Maßnahmen die notwendige Energie, Kraft und Ausgeglichenheit wiederfinden, damit ein harmonisches Zusammenleben in der Familie auch in Zukunft weiter bzw. wieder möglich ist. Deshalb haben wir als SPD während unserer Regierungsverantwortung auch die Bedeutung von Mutter/Vater-Kind-Maßnahmen als ein überaus wichtiges Teilelement einer umfassenden Strategie von Prävention und Rehabilitation unterstrichen. Es ist uns wichtig, dass diese Leistungen die Menschen erreichen, die sie benötigen. Um die Entwicklungen des Leistungsgeschehens beobachten zu können, haben wir die Krankenkassen mit der Umwandlung der Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen in Pflichtleistungen auch zur jährlichen Erhebung von Daten über die Antragsentwicklung und die Bewilligungspraxis gesetzlich verpflichtet. Nach Auswertung der aktuellen Zahlen können wir alles andere als zufrieden sein. Die Bewilligungspraxis der Krankenkassen weist erhebliche Defizite auf. Die Entscheidungsgrundlagen für die Bewilligung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen sind für die Krankenkassen nicht einheitlich geregelt. Es gibt keine einheitlichen Antragsvordrucke und die Entscheidungen sind oft nicht oder nur schwer nachvollziehbar begründet. Auch der Bundesrechnungshof hat diese Defizite in seinem Prüfbericht deutlich aufgezeigt. Hier muss sich schnellstens etwas ändern. Wir haben deshalb – gemeinsam mit den Unionsfraktionen, den Liberalen und Bündnis 90/Die Grünen – den GKV-Spitzenverband und den Medizinischen Dienst des GKV-Spitzenverbandes aufgefordert, bis spätestens zum Jahresende für ein transparentes Bewilligungsverfahren bei Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen zu sorgen. Das schließt die Überarbeitung der „Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation“ ebenso ein wie die Erstellung von verständlichen Arbeitshilfen zum Grundsatz, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme nicht das vorherige Ausschöpfen ambulanter Maßnahmen voraussetzt. Ich stelle für meine Fraktion erneut klar, dass wir dieses fraktionsübergreifende Vorgehen auch weiterhin für den richtigen Weg halten. Ich erwarte jedoch vom Bundesgesundheitsminister und auch von Ihnen, Herr Kollege Zöller – in Ihrer Funktion als Patientenbeauftragter –, das Geschehen sehr genau im Auge zu behalten. Appellschreiben an uns Abgeordnete reichen da nicht. Vielmehr müssen Sie und das Gesundheitsministerium jetzt umso mehr ihrer Verantwortung nachkommen und für eine verstärkte Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit Sorge tragen. Nach meiner Auffassung können Sie in diesem Fall nicht warten, bis sich die betroffenen Mütter und Väter an Sie wenden. Vielmehr müssen Sie jetzt in die Öffentlichkeit gehen, um die Betroffenen über ihre Rechte aktiv zu informieren, bis letztendlich die notwendigen Anpassungen in der Begutachtungspraxis vollzogen sind. Noch ein Hinweis, Herr Kollege Zöller: Das hilft im Übrigen nicht nur den Betroffenen, es stärkt auch das Amt und das Ansehen des Beauftragten für Patientinnen und Patienten in Deutschland. Unsere Forderungen gegenüber dem GKV-Spitzenverband und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen sind unmissverständlich. Wir erwarten mehr Transparenz beim Antragsverfahren und eine korrekte Bewilligungspraxis. Die Betroffenen müssen zu ihrem gesetzlichen Recht kommen. Ich will an dieser Stelle noch einige Worte zum eigentlichen Gegenstand dieser Debatte verlieren, dem Antrag der Fraktion Die Linke. Ich für meinen Teil bedauere ausdrücklich, dass trotz der Tatsache, dass man sich scheinbar im Kern der Sache zu Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen einig ist, von ihnen weitere Forderungen erhoben werden. Ich will auf Punkt eins ihres Forderungskatalogs zu sprechen kommen. Sicher, mir ist Ihre Form des Wirtschaftens wohl bekannt. Nur ist es unsere Überzeugung, dass insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V vor dem Hintergrund der Finanzierungssituation in der GKV unerlässlich ist. Ich will Ihnen auch nochmals kurz begründen, warum. Diesem Gebot müssen insbesondere die Leistungserbringer und auch die Kassen bei der Verordnung und der Bewilligung Folge leisten. Dies steht jedoch nicht – wie von Ihnen suggeriert – im Widerspruch zum Leistungsgedanken der GKV. Im Gegenteil: Diese Regelung kommt im Endeffekt der gesamten Gemeinschaft der Versicherten zugute. Dr. Erwin Lotter (FDP): Wieder einmal entsteht angesichts eines Antrags der Opposition der Eindruck, dass trotz eines erkennbar guten Willens die Realität ignoriert und das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. In der Tat lässt die derzeitige Praxis im Bereich der Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen viele Fragen entstehen. Diese Präventionsmaßnahmen sind von ganz erheblicher Bedeutung, um überlasteten Eltern und gestressten Kindern eine therapeutisch begleitete „Auszeit“ einzuräumen und so dafür zu sorgen, dass physische und psychische Krankheiten vermieden werden können. Insoweit verwundert es, dass die Krankenkassen etwa ein Viertel der gestellten Anträge ablehnen und die Ausgaben für Mutter-/Vater-Kind-Kuren rückläufig sind. Dieser Missstand ist aber allen Beteiligten schon längst bekannt und hat sich auch im Handeln der Politik niedergeschlagen. Der Bundesgesundheitsminister hat schon vor mehreren Monaten den GKV-Spitzenverband und dessen Medizinischen Dienst nachdrücklich zum zügigen Handeln aufgefordert. Sowohl das BMG als auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stehen im Kontakt mit allen Beteiligten, um eine angemessene Entwicklung der Maßnahmen zu forcieren. Im Mai 2011 fanden im BMG Gespräche mit Krankenkassen, dem GKV-Spitzenverband, dem Müttergenesungswerk und dem Bundesverband Deutscher Privatkliniken statt. In den Gesprächen wurden genau die-jenigen Punkte bereits thematisiert, um die es in dem Antrag geht, insbesondere eine bessere Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen der Krankenkassen. Nicht zuletzt haben sich am 6. Juli im Gesundheitsausschuss alle Fraktionen – außer der Linken – auf einen Entschließungsantrag geeinigt, in dem der GKV-Spitzenverband und sein Medizinischer Dienst aufgefordert werden, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehören: die Verbesserung der Transparenz der Entscheidungsgrundlagen in den Bewilligungsverfahren, die Überarbeitung der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation; die Erstellung von Arbeitshilfen zum Grundsatz, dass eine Mutter-/Vater-Kind-Maßnahme keine Ausschöpfung ambulanter Maßnahmen voraussetzt; die Pflicht, bei der Entscheidung über eine solche Maßnahme aussagekräftige und nachvollziehbare Begründungen zu liefern; die Pflicht, Bescheide mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen; eine Berichtspflicht an den Deutschen Bundestag bis 31. März 2012. All diese Maßnahmen sollen bis spätestens Ende 2011 erfolgen – das sind nurmehr etwa drei Monate. Bis dahin haben betroffene Patientinnen und Patienten die Möglichkeit, von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch zu machen oder sich an die Unabhängige Patientenberatung zu wenden. Man muss sich doch fragen, warum dieses Bündel sinnvoller Maßnahmen in der Ausschusssitzung vom 6. Juli von der Linken nicht mitgetragen wurde und sich jetzt, zweieinhalb Monate später, in einem Gesetzesantrag fast wortwörtlich wiederfindet. Leiden die Kolleginnen und Kollegen von der Linken an kollektivem Gedächtnisverlust? Wohl kaum. Vielmehr geht es ihnen offensichtlich darum, wieder einmal eine gesetzliche Regelung in einem Bereich zu erlassen, in dem eine solche nicht nötig ist. Wir sollten die Maßnahmen des GKV-Spitzenverbandes abwarten, statt für alles und jedes nach einem Gesetz zu schreien. Es ist typisch, dass die Fraktion der Linken sich trotz inhaltlicher Übereinstimmungen hiermit von allen anderen Fraktionen abgrenzt – um der Abgrenzung willen. Es ist typisch für Ihre Regelungswut, meine Damen und Herren von der Linken. Und wenn Sie in Ihrem Antrag versuchen, den Schwarzen Peter für die derzeit missliche Situation dem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zuzuschieben, so zeigt dies nichts anderes als Ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Wettbewerb als solchem. Dass dieser letztlich im wohlverstandenen Interesse der Patientinnen und Patienten liegt, entzieht sich der Verständniswelt Ihrer Fraktion. Ich finde es bedauerlich, dass sich die Linke nicht bereits im Juli dem gemeinsamen Entschließungsantrag angeschlossen hat. Das Ergebnis ist diese völlig überflüssige Debatte. Aber so etwas kennen wir ja bereits. Das Bundesgesundheitsministerium, das Bundesfamilienministerium und die Gesundheitspolitiker im Deutschen Bundestag werden sich weiterhin wachen Auges um eine transparente und positive Entwicklung im Bereich der Mutter-/Vater-Kind-Kuren kümmern. Wenn die Linke meint, sich auf diesem Feld mit untauglichen Vorschlägen profilieren zu müssen, so möge sie dies tun. Nützen wird es ihr mit Sicherheit nicht. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Es geht heute um einen Antrag meiner Fraktion zu Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen. Schon vor einiger Zeit haben viele Kur- und Rehabilitationseinrichtungen darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Bewilligungspraxis der Krankenkassen geändert habe. Daraufhin haben wir im Gesundheitsausschuss einen Bericht des GKV-Spitzenverbandes mit Daten der Krankenkassen über die Bewilligungen erhalten: Diese Daten waren vollkommen inkonsistent. Der Bericht zeigte aber zumindest an, dass die Bewilligungen von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen rückläufig sind. Der Bundesrechnungshof hat dann zum 7. Juni 2011 einen Untersuchungsbericht zur Bewilligungspraxis bei Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen vorgelegt. Dieser Bericht zeigt deutliche Mängel bei der Bewilligungspraxis der Krankenkassen auf und macht in einer Würdigung Vorschläge, wie diesen Mängeln abgeholfen werden kann. In einem Entschließungsantrag haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen den Ball zum Spitzenverband der Krankenkassen und zum Medizinischen Dienst zurückgespielt, obwohl der Bericht des Bundesrechnungshofes neben einer Reihe von weiteren Maßnahmen auch eine gesetzliche Klarstellung für notwendig hält. Der Bundesrechnungshof schreibt eindeutig: „Obwohl ambulante Maßnahmen vor einer Mutter-/Vater-Kind-Kur nicht ausgeschöpft sein müssen, können Krankenkassen unter Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot auf ambulante Maßnahmen verweisen. Damit entsteht ein Zielkonflikt zu der vom Gesetzgeber beabsichtigten Stärkung der Mutter-/Vater-Kind-Kuren, der nur durch eine gesetzliche Klarstellung beseitigt werden kann.“ Wir wollen nicht vergessen, dass es Ziel der Gesetzesänderung im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz war, den Rechtsanspruch von Müttern und Vätern auf medizinische Vorsorge und Rehabilitation in eine Pflichtleistung zu überführen und gerade hier den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu beenden. Der Antrag der Fraktion Die Linke enthält neben weiteren Forderungen diese notwendige Aufforderung zu einer gesetzlichen Klarstellung, während alle anderen Fraktionen meinen, das Problem auf kurzem Dienstweg lösen zu können. Leider bleiben diese Fraktionen damit hinter der vernünftigen Forderung des Bundesrechnungshofes zurück. Nicht außer Acht lassen möchte ich allerdings, wo die eigentliche Ursache für den Rückgang der Bewilligungen zu suchen ist: bei der Unterfinanzierung des Gesundheitsfonds, insbesondere bei der Kopfpauschale – durch die Hintertür – mit Einführung der Zusatzbeiträge und beim damit einhergehenden Wettbewerbsdruck im Gesundheitswesen. Die Krankenkassen versuchen um jeden Preis, Zusatzbeiträge zu vermeiden und damit ihre finanzielle Situation zu stabilisieren. Sie handeln letztlich wie privatwirtschaftliche Versicherungsunternehmen, minimieren Kosten, schreiben möglichst viel in Kleingedrucktes, vermeiden Kostenrisiken. Die Pleite der City BKK mit Versicherten, die bangen mussten, von anderen Kassen aufgenommen zu werden, zeigt die Auswüchse einer Politik, die meint, im Gesundheitssystem auf knallharten Wettbewerb setzen zu müssen. Verlierer solcher Politik sind immer die Versicherten und Kranken, besonders die sozial benachteiligten und weniger gebildeten Versicherten und Kranken. Wenn wir solche Verhältnisse wie bei den Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen nicht überall haben wollen, müssen wir endlich eine stabile und zukunftsfähige Finanzierung der Krankenversicherung herstellen. Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wäre ein mehr als gangbarer Weg. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit den Problemen bei der Bewilligung von Mutter-/ Vater-Kind-Maßnahmen beschäftigt sich in regelmäßigen Abständen immer wieder der zuständige Gesundheitsausschuss, und es gibt in den Debatten dazu eine sehr große inhaltliche Übereinstimmung aller Fraktionen. Dies trifft auch auf den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu, der sich immer wieder mit der Thematik befasst. Der im Antrag zitierte Bericht des Bundesrechnungshofs zu den Vorsorgemaßnahmen im Bereich Mutter-Vater-Kind, den § 23 SGB V betreffend, zeigt die bestehenden Probleme deutlich auf. Es wird die hohe Ablehnungsrate kritisiert. Beanstandet wird, dass die Krankenkassen mit Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot oft auf ambulante Angebote verwiesen, obwohl dies hier nicht zulässig ist. Der Bundesrechnungshof sieht Gleichbehandlungsprobleme bei der Genehmigung von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen und stellt fest, dass die Entscheidungspraxis den Versicherten den Eindruck von Willkür vermitteln kann. Im Juli 2011 haben die Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem Ausschussantrag kritisch zur aktuellen Situation Stellung bezogen und die Selbstverwaltung zum Handeln aufgefordert. GKV-Spitzenverband und MDK sollen zeitnah das Bewilligungsverfahren verbessern sowie für transparente, nachvollziehbare und belastbare Entscheidungen sorgen. Die „Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation“ soll überarbeitet, Antragsvordrucke verbessert und vereinheitlicht werden sowie Arbeitshilfen für die Begutachtungs- und Leistungspraxis erstellt werden. Bescheide sollen mit Rechtshilfebelehrungen versehen werden und anderes mehr. Die Umsetzung soll Ende 2012 überprüft werden. Da es ein gemeinsames Anliegen aller im Bundestag vertretenen Fraktionen ist, dass sich die konkrete Praxis bei der Bewilligung von Mutter-/Vater-Kind-Kuren ändert, kann das Bundesgesundheitsministerium guten Gewissens „sanften Druck“ auf die Kassen ausüben. Gleichzeitig darf man sich aber nicht erhoffen, dass alle Rehabilitationsmaßnahmen nach § 41 SGB V und die Vorsorgemaßnahmen nach § 23 SGB V in Zukunft bewilligt werden. Auch bei Pflichtleistungen der Kassen muss für die Bewilligung eine medizinische Indikation vorliegen. Auch wir kritisieren, dass einige Krankenkassen mit Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V auf ambulante Angebote verweisen. Es ist eindeutig geregelt, dass für Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen der Grundsatz „ambulant vor stationär“ nicht gilt. Hier muss durch die Kassen eine rechtskonforme Umsetzung erfolgen. Der Vorschlag der Linken, als Konsequenz das Wirtschaftlichkeitsgebot bei Mutter-/Vater-Kind-Kuren einzugrenzen, überzeugt mich nicht. Auch hier sollte der Grundsatz „ausreichend, zweckmäßig und notwendig“ gelten. Wir alle gehen davon aus, dass Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen nach den §§ 24 und 41 SGB wichtige Elemente für eine erfolgreiche Prävention und Rehabilitation sind. Wenn man diese Annahme belegen will und sich auf die Suche nach unabhängigen Studien macht, wird man kaum fündig. Der Forschungsverbund Familiengesundheit – ein Zusammenschluss von Mutter-/ Vater-Kind-Kliniken und einem wissenschaftlichen Team der Medizinischen Hochschule Hannover – forscht seit einigen Jahren praxisbezogen. Diese Ergebnisse lassen auf Verbesserungen des Gesundheitszustandes und der Erziehungskompetenz schließen. Gleichzeitig weist dieser Zusammenschluss auf das weite Feld offener Forschungsfragen hin. Genannt werden: aktuelle Daten in Bezug auf Belastungen, Beschwerden und Langzeiteffekte bei Müttern und Kindern, die gesundheitliche Situation der Väter in Vater-Kind-Maßnahmen, indikationsspezifische Effektmessung, Unterscheidung zwischen Vorsorge und Rehabilitation, zielgruppenspezifischer Bedarf, zum Beispiel Mütter mit Migrationshintergrund, sowie die Effizienz von Mutter-/Vater-Kind-Maßnahmen. Hier gibt es viel zu tun und hier könnte, wenn sie es wollte, die Bundesregierung kurz- und langfristig tätig werden. Gelder für die Versorgungsforschung stehen sowohl im Haushalt des Gesundheits- als auch des Forschungsministeriums zur Verfügung. Mit etwas politischem Willen würde man hier das Thema Vorsorge und Reha von Eltern und Kindern gut verorten können. In der politischen Debatte steht die Bewilligung von Eltern-Kind-Maßnahmen im Vordergrund. Das Thema Wirksamkeit und Qualität der Angebote habe ich bereits angeschnitten. Auf eine weitere offene Baustelle möchte ich noch hinweisen: Um Erfolge stationärer Maßnahmen langfristig zu sichern, sind Angebote hilfreich, die Eltern und Kinder nach Ende der Kur zu Hause zur Verfügung stehen, um das neu Angeeignete in den Alltag zu integrieren. Auch hier lohnt es sich, Gelder für die Forschung in die Hand zu nehmen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Drucksache 17/6764 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Reden sollen zu Protokoll gehen. Max Straubinger (CDU/CSU): Bei der Mehrheit der Änderungen durch das vorliegende Gesetzesvorhaben handelt es sich um technische Aspekte und um Vorgaben aus dem Europarecht. In den Sozialgesetzbüchern und im Sozialgerichtsgesetz wird eine Vielzahl von Regelungen geändert oder angepasst, um die Verfahren effizienter zu gestalten. Zusätzlich wird eine Reihe von Einzelfragen der Sozialversicherung geklärt. Ich will die entscheidenden Punkte herausgreifen. Für Ehrenbeamte – zum Beispiel ehrenamtliche Bürgermeister, Ortsvorsteher –, die eine Aufwandsentschädigung und eine vor der Regelaltersgrenze beginnende Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten und von der bisherigen Auslegung des Rechts begünstigt waren, wird bei der Berücksichtigung der Aufwandsentschädigung als Hinzuverdienst eine fünfjährige Übergangsregelung geschaffen. Rentenbezieher erhalten bisher jährlich eine Mitteilung über die Anpassung der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies ist bei Änderungen der Höhe des aktuellen Rentenwerts notwendig, da sich diese Änderung individuell unterschiedlich auf die Rentenhöhe auswirkt. Die Anpassungsmitteilung gibt Auskunft über den künftig an Rentnerinnen und Rentner auszuzahlenden Betrag. Entspricht hingegen der aufgrund der Anpassungsformel ermittelte neue aktuelle Rentenwert betragsmäßig dem bisherigen aktuellen Rentenwert, verändert sich die Rentenhöhe nicht und eine Anpassungsmitteilung ist entbehrlich. Deshalb wird in diesem Fall künftig auf den Versand verzichtet. Das hat zuletzt Kosten von 10 Millionen Euro verursacht, obwohl die Rentnerinnen und Rentner über die Medien informiert sind. Die Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen Studiengängen soll einheitlich für alle dualen Studiengänge und für die gesamte Dauer des Studiengangs geregelt werden. Im Beitrags- und Meldeverfahren zur Sozialversicherung sollen weitere Vereinfachungen für die Arbeitgeber eingeführt werden. Die Verfahrensvereinfachungen gehen auf Vorschläge aus der Praxis sowohl vonseiten der Arbeitgeber als auch vonseiten der Sozialversicherungsträger zurück. Es wird klargestellt, dass eine Erstattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger der Einrichtungen nur für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen besteht. Im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen besteht grundsätzlich keine Erstattungspflicht des Bundes. Mit der beabsichtigten Änderung der Regelung über die Erstattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbeiträge behinderter Menschen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen sollen die Kosten für die rentenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und Berufsbildungsbereich tätigen behinderten Menschen rückwirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozialver-sicherungsträger übergehen. Diese Änderung betrifft weder die behinderten Menschen selbst noch die Werkstätten für behinderte Menschen. Es geht allein um einen Erstattungsmodus zwi-schen den betroffenen Sozialversicherungsträgern und dem Bund. Auch wenn bis 2007 anders verfahren wurde, gibt es keinen Grund, diese seinerzeitige fehlerhafte Praxis beizubehalten. Etwa 4,4 Prozent der schwerbehinderten Menschen sind von Geburt an behindert. Sofern diese Behinderung dazu führt, dass sie nur in einer WfbM tätig sein können, ist im Regelfall die Bundesagentur für Arbeit zuständiger Leistungserbringer. Sie hat einzutreten, wenn kein anderer Träger der Rehabilitation zuständig ist, also in der Hauptsache dann, wenn der behinderte Mensch nach Beendigung der Schulzeit zur beruflichen Ersteingliederung in das Arbeitsleben in die Werkstatt eintritt. Für die Zeit im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich ist die Berufsfindung und Berufsausbildung auch bei von Geburt an behinderten Menschen Aufgabe der BA. Dies ist nicht anders als bei anderen Rehabilitanten, unabhängig davon, ob diese von Geburt an oder später behinderte Menschen werden. Bleiben diese Personen in der Werkstatt für behinderte Menschen, so übernimmt wieder der Bund die Erstattung der Beiträge, soweit sie nicht als Arbeitsentgelt beitragspflichtig sind. Im Jahr 2008 und 2009 gab es je etwa 24 000 Förderfälle im Zuständigkeitsbereich der BA, circa 6 000 Förderfälle bei der Deutschen Rentenversicherung Bund. Abschließend will ich auf die zwischen Bundesgesundheitsministerium und Verband der privaten Krankenversicherung getroffene Vereinbarung eingehen, nach der privat versicherten Empfängern von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Beitragsschulden erlassen werden sollen. Die Regelung soll in den Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf mit aufgenommen werden. Zum Hintergrund kurz Folgendes: Seit 2009 gilt auch für die PKV Versicherungspflicht. Für privat versicherte Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zahlten die Jobcenter seither den im Vergleich zum Basistarif geringeren Satz für gesetzlich Versicherte. Zu Beginn dieses Jahres entschied das Bundessozialgericht, dass der PKV-Beitrag voll finanziert werden muss. Die Frage, wer die bis dahin aufgelaufenen Beitragsschulden säumiger Bedürftiger übernimmt, war bislang offen. Ich begrüße die nunmehr gefundene Lösung außerordentlich, nach der die privaten Krankenkassen säumigen Bedürftigen im Basistarif ihre Beitragsschulden erlassen wollen. Ein langwieriger politischer Streit ist endlich beigelegt. Mehrere Tausend bedürftige privat Versicherte können endlich aufatmen; sie sind nicht mehr mit Beitragszahlungsforderungen konfrontiert. Es wird sichergestellt, dass privat krankenversicherte Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II von den Kosten für eine angemessene Kranken- und Pflegeversicherung entlastet werden. Die lautgewordene Kritik an der künftigen Direkt-überweisung der Beiträge durch die Jobcenter ist nicht nachvollziehbar: Es geht nicht darum, Arbeitsuchende gegenüber der Versicherung bloßzustellen. Vielmehr werden die fristgerechte Beitragszahlung und damit die dauerhafte Aufrechterhaltung des vollen Versicherungsschutzes gewährleistet. Auch die Beitragszahlung von gesetzlich krankenversicherten Arbeitsuchenden wird unmittelbar mit dem Versicherer abgewickelt. Ottmar Schreiner (SPD): Der Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch birgt sozial- und arbeitsmarktpolitischen Sprengstoff. So harmlos der Titel klingt, so schwerwiegend sind zum Teil die geplanten Änderungen darin. Bereits im letzten Jahr hat die Bundesregierung das größte Sparpaket in der bundesdeutschen Geschichte mit einem Volumen von über 82 Milliarden Euro geschnürt, das eindeutig zulasten der sozial Schwachen geht. Die Konsolidierung des Bundeshaushalts wurde und wird hauptsächlich durch Kürzungen im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich getragen: Mehr als ein Drittel der Einsparmaßnahmen beziehen sich mit insgesamt 30,3 Milliarden Euro auf den Sozialbereich. Rund 98 Prozent der Sozialkürzungen betreffen den Bereich Arbeitsmarkt. Das Sparpaket bürdet die Lasten überwiegend den Arbeitslosen und sozial Benachteiligten auf und verschont gleichzeitig die Wirtschaft. Im Rahmen dieses Kahlschlags wurde unter anderem der Rentenversicherungszuschuss bei Empfängern von Arbeitslosengeld II abgeschafft. Wer langzeitarbeitslos ist, erzielt ab 2011 keine Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung mehr. Aber damit nicht genug! Die Kürzungsorgie im Sozialbereich wird fortgeführt. Im Haushaltsentwurf 2012 werden im Haushaltsposten Arbeit und Soziales die finanziellen Mittel in den kommenden Jahren stark zurückgefahren werden. Die, die sich in den letzten Jahren bereichert haben, bleiben wieder verschont. Die Bundesregierung führt mit dem Haushaltsentwurf 2012 also die sozialpolitische Umverteilung von unten nach oben fort. Die vermeintliche Konsolidierung des Bundeshaushalts wird damit hauptsächlich durch Kürzungen im Arbeits- und Sozialbereich getragen. Die Serie der Kürzungen führt sich mit dem vorliegenden Änderungsgesetz fort. Technisch gut verpackt finden sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf Verschlechterungen der Einnahmebasis der Sozialversicherungen. Dort heißt es in der Begründung zu der Änderung des § 179 SGB VI: „Es wird nunmehr ausdrücklich gesetzlich klarstellend geregelt, dass eine Erstattungspflicht des Bundes für Beiträge an die Träger der Einrichtungen im Wesentlichen nur für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen (§ 41 SGB IX) besteht. Im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt ist eine Erstattungspflicht des Bundes nur vorgesehen, soweit nicht die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der Unfallversicherung oder die Träger der Rentenversicherung zuständige Träger der Leistungen zur Teilhabe sind. Diese Kostenträger haben den Trägern der Einrichtung die für die dort tätigen behinderten Menschen entrichteten Beiträge nach § 179 Abs. 1 Satz 2 zu erstatten. Die Änderung ist sachgerecht. Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen sind solche Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, bei denen die zuständigen Rehabilitationsträger, also die Bundesagentur für Arbeit und die Rentenversicherungsträger, daneben auch die Unfallversicherungsträger, Ausbildungsgeld oder Übergangsgeld zahlen. Bei diesen Leistungen sind die Rehabilitationsträger grundsätzlich immer verpflichtet, die darauf entfallenden Beiträge zur Rentenversicherung zu erstatten. Für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen wird deshalb ausdrücklich klargestellt, dass die Rehabilitationsträger die gesamten Beiträge zu erstatten haben.“ Worum geht es hier? Die Bundesregierung will die sozialpolitisch unumstrittene rentenrechtliche Regelung für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen, wonach diese Anwartschaften auf Grundlage von 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten erwerben, in der Finanzierung ändern: Für Personen im sogenannten Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt soll die Er-stattungspflicht der höheren Rentenversicherungsbeiträge nicht durch den Bund erfolgen, sondern durch die Rehabilitationsträger, also die Bundesagentur für Arbeit oder die Rentenversicherungsträger. Dabei versucht die Bundesregierung diese Regelung rückwirkend auf den 1.  Januar 2008 zu korrigieren. Dass die Bundesregierung hier vor Jahren ihre Rechtsinterpretation geändert hat, ist schlimm genug. Dass sie nun versucht, durch eine Rückwirkung zum 1. Januar 2008 ein Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes, das diese Praxis für rechtswidrig erklärt hat, zu korrigieren, ist nicht nur peinlich, sondern – so steht es in einer Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung Bund – auch „verfassungswidrig, da hier in abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingegriffen wird“. Durch die Rückwirkung entstehen der Bundesagentur für Arbeit Mehrausgaben in Höhe von 400 Millionen Euro. Zukünftig muss die Bundesagentur für Arbeit mit jährlichen Mehrausgaben in Höhe von 120 Millionen Euro rechnen. Auch die Rentenversicherung wäre mit 130 Millionen Euro rückwirkend und zukünftig mit circa 32,5 Millionen Euro jährlich erheblich belastet. Die Bundesregierung will sich also aus der finanziellen Verantwortung für behinderte Menschen herausziehen. Da die Bundesagentur für Arbeit durch die Sparmaßnahmen im Arbeits- und Sozialbereich schon massiv belastet sowie strukturell unterfinanziert ist, halte ich dieses Vorgehen für verantwortungslos. Es überrascht daher nicht, dass sich der ansonsten sehr moderate Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, im zuständigen Bundestagsausschuss über diese Regelung empörte, da sie nicht in der Haushaltsplanung eingespeist sei. Den Rentenversicherungsträgern geht es nicht anders. Ihnen diese Kosten aufzubürden, ist genauso fahrlässig. Mit der Änderung in der Finanzierung bei der Erstattungspflicht der Beiträge zur Rentenversicherung verabschiedet sich die Bundesregierung von einem tragenden Prinzip bundesdeutscher Sozialpolitik, nach der gesamtgesellschaftliche Aufgaben systematisch korrekt durch Steuern zu finanzieren sind. Die Änderung in der Finanzierung würde allein die Beschäftigten und die Arbeitgeber durch ihre Sozialversicherungsbeiträge belasten. Die SPDBundestagsfraktion wird dies nicht mittragen. Wir sind der Meinung, dass aus verteilungs- und beschäftigungspolitischen Gründen die Erstattung der Beiträge an die Rentenversicherung durch Steuern zu finanzieren ist. Nur so werden alle Mitglieder einer Gesellschaft zur Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben herangezogen. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland ist sehr positiv. Wir sind besser als jedes andere Land in Europa durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen. Die jetzige starke Konjunktur wollen wir durch weitere Entlastungen unterstützen. Angesichts des Ziels der Bundesregierung und der Koalitionspartner, die Haushaltskonsolidierung weiter voranzutreiben, bietet sich hier eine gute Möglichkeit, diese Ziele zu verbinden: durch Bürokratieabbau, durch Effizienzsteigerung, durch praxisnahe Erleichterungen. Unter dem Titel „Fünf Jahre Bürokratieabbau – Der Weg nach vorn“ wurde gestern der Jahresbericht 2011 des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) vorgestellt. Diese Bundesregierung hat den Bürokratieabbau zu einem eigenständigen Politikziel erklärt; denn Bürokratie soll die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum und den Aufschwung nicht bremsen. Der Nationale Normenkontrollrat ist ein wichtiger Partner beim Bürokratieabbau. Er nahm vor rund fünf Jahren seine Arbeit auf. Der NKR hat die gesetzliche Aufgabe, den Gesetzgeber auf den Gebieten des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtssetzung zu unterstützen. Schwerpunkte sind die Vermeidung neuer und die Reduzierung bestehender Bürokratiekosten. Schon wenn neue Gesetze vorbereitet werden, überprüft der NKR, wie viel Aufwand und Arbeit bei denen, die die Vorschriften befolgen müssen, entsteht. Das schwarz-gelbe Regierungsprogramm „Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung“ hat sich für die deutsche Wirtschaft bereits jetzt ausgezahlt. Dank reduzierter bürokratischer Vorschriften haben vor allem mittelständische Unternehmen in den vergangenen fünf Jahren 10,5 Milliarden Euro pro Jahr eingespart. Keine vergleichbare Initiative war bisher so erfolgreich wie dieses Programm. Mehr als 400 bereits auf den Weg gebrachte Maßnahmen haben insbesondere im Mittelstand und bei selbstständigen Freiberuflern gezielt Bremsen gelöst und die selbstbestimmte Lebensführung jedes Einzelnen gestärkt. Dies ist der klugen und mittelstandsfreundlichen Politik von FDP und CDU/ CSU geschuldet. Die Regierungskoalition hat den Normenkontrollrat als zentrale Institution für Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung gestärkt. Der enge Begriff der Bürokratiekosten wurde ausgeweitet auf den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die bei Bürgern, in der Wirtschaft und in der Verwaltung entstehen. Mit der Novellierung des Normenkontrollrates haben wir die Interessen des Mittelstandes maßgeblich gestärkt. Noch vor fünf Jahren mussten Unternehmen in Deutschland jährlich rund 50 Milliarden Euro für amtliche Nachweise, Antragsformulare, das Ablegen von Rechnungen und andere bürokratische Arbeiten aufwenden. Schon bis Mitte 2011 war die jährliche Bürokratiebelastung der Wirtschaft um 22 Prozent deutlich geringer als noch 2006. Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck daran, das Ziel zu erreichen, die Bürokratiekosten bis Ende dieses Jahres um ein Viertel zu verringern. Dazu werden weitere Maßnahmen zur Entlastung der Wirtschaft von Bürokratiekosten verwirklicht. Einen Beitrag leistet der vorliegende Gesetzentwurf. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Regelungen, die zum Bürokratieabbau, zu mehr Praxisnähe und zu mehr Effizienz in der Sozialpolitik beitragen. Dazu gehören die Entlastung von Kleinst- und Kleinunternehmen durch die freiwillige Teilnahme an der elektronischen Betriebsprüfung, die Reduzierung von Meldekopien für Unfallversicherungsmeldungen, die Korrekturen bei der Gewährung von Zuschlägen zur Witwenrente und der Vorschriften zum Rentensplitting sowie die Befreiung der sogenannten „BIWAQ“-Beschäftigungen von der Versicherungspflicht zur Arbeitsförderung. Diese vorgeschlagenen Gesetzesänderungen entlasten die Sozialversicherungen und erleichtern die Betriebspraxis. Dies begrüßen wir sehr. Dazu gehört aber auch, dass wir Vorschläge der Justiz-, Arbeits- und Sozialminister der Länder aufgreifen, um der stetig steigenden Zahl von Verfahren vor den Sozialgerichten besser begegnen zu können. Eine funktionierende Sozialgerichtsbarkeit ist der Grundstein des Vertrauens der Bürger in unseren Rechts- und Sozialstaat. Deshalb ist es auch hier wichtig, effizient zu arbeiten, ohne das Gerichtssystem durch Kürzungen zu belasten. Praxisnähe zeigt auch die Klarstellung des Zuschusscharakters der Arbeitgeberzahlung an berufsständische Versorgungswerke, damit die bewährte Beitragseinzugspraxis der Versorgungswerke beibehalten werden kann. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht an der einen oder anderen Stelle noch Klärungsbedarf, aber genau dazu diskutieren wir das Gesetz und mögliche Änderungen ja hier im Plenum und im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Etwa bei der Erstattungspflicht für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger für anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen bevorzugt unsere Fraktion eine andere Regelung als der hier vorliegende Gesetzentwurf. Hier sehen wir uns im Einklang unter anderem mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesländern. Auch bei der Schaffung einer einheitlichen Regelung der Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen Studiengängen und der Verlängerung des Moratoriums über die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger für rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentlichen Hand sehen wir Liberale noch Diskussionsbedarf. Auch diese Fragen werden wir in Rücksprache mit den Betroffenen klären. So oder so beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf eine Summe von Einzelregelungen, die eine klare Tendenz aufweisen und unter dem Strich einen spürbaren Beitrag zur Reformpolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen sind. Daher freue ich mich auf spannende Debatten. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Mit dem vorliegen Gesetzentwurf will die Bundesregierung eine ganze Reihe von Änderungen verschiedener Gesetze durchsetzen. Wir haben es hier mit einem sogenannten Omnibus-Gesetz zu tun: Aus nahezu jedem Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts ist etwas dabei. Deswegen muss und will ich mich nur auf einige wenige Aspekte konzentrieren. Der politisch und finanziell bedeutsamste Aspekt des Gesetzentwurfs ist die Verlagerung von Kosten des Bundes auf die Bundesagentur für Arbeit und auf die Deutsche Rentenversicherung – also letztendlich auf all jene, die die Bundesagentur und die Rentenversicherung durch ihre Beiträge finanzieren. Bereits im Mai dieses Jahres war in den Zeitungen zu lesen – „FAZ“ vom 22. Mai 2011 –, dass die Bundesregierung plane, die Beiträge für die Rentenversicherung für Menschen mit Behinderung, die im Eingangsverfahren oder im Berufsbildungsbereich von Werkstätten für behinderte Menschen tätig sind, nicht mehr vom Bund, sondern von den Rehabilitationsträgern DRV und BA an die Träger der Werkstätten erstatten zu lassen. Diese Neuregelung solle sogar rückwirkend geltend, hieß es. Das Bayerische Landessozialgericht hat hingegen mit Urteil vom 25. Februar 2010 entschieden, dass es für die Abwälzung der Beitragserstattung vom Bund auf die Deutsche Rentenversicherung und die BA, also genau genommen auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, rechtlich keinen Raum gebe. Der Chef der BA hat sich – auch gegenüber dem Ausschuss für Arbeit und Soziales – empört über diese Planung gezeigt. Ganz zu Recht – findet die Linke. Denn hier werden die Kosten gesamtgesellschaftlicher Aufgaben einfach auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler abgewälzt. Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen: Uns Linken geht es gar nicht darum, dass hier Beiträge geleistet werden sollen. Ganz unbedingt soll das geschehen. Es handelt sich hier insofern um einen weiteren Griff in die Kassen der Sozialversicherungen – insbesondere der BA –, um den Bundeshaushalt zu entlasten. Uns Linken geht es darum, klarzumachen, dass gesamtgesellschaftliche Aufgaben auch von der gesamten Gesellschaft bezahlt werden müssen. Im Zusammenhang mit der Rente gibt es einen weiteren, auf den ersten Blick unscheinbaren, aber bei genauer Betrachtung bemerkenswerten Aspekt: Immer im Juli eines jeden Jahres wird die Rente angepasst. In den vergangenen Jahren ist da nicht viel hinzugekommen – im Gegenteil: Die Rentnerinnen und Rentner haben Nullrunden hinnehmen müssen, die in ihren Geldbörsen als Minusrunden ankamen. Denn wenn die Preise steigen, aber kein Geld hinzukommt, haben die Betroffenen weniger zum Leben. Die Rentenversicherung soll künftig auf den Versand einer Anpassungsmitteilung verzichten, wenn sich der aktuelle Rentenwert nicht verändert hat. Offenbar ist die Mitteilung über die Anpassung der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung um null Euro der Regierung zu peinlich. Vordergründig argumentiert Schwarz-Gelb mit den Verwaltungskosten von 10 Millionen Euro. Tatsächlich will Schwarz-Gelb aber nur eines: Die Wahrheit verschweigen. Das nenne ich feige. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen dritten Aspekt herausgreifen. Die Bundesregierung nimmt mit ihrem Gesetzentwurf verschiedene Vorschläge zur Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit auf. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Aber auch hier müssen wir genauer hinsehen. Denn die eigentlich entscheidenden Punkte für die zahlreichen Verfahren liegen nicht in den Bestimmungen des Sozialgerichtsgesetzes, sondern in einem Gesetz, das Armut und soziale Ausgrenzung verursacht, nicht verfassungskonform und außerdem handwerklicher Pfusch ist. Darüber hinaus werden massenhaft rechtswidrige Bescheide ausgestellt. Wer die Sozialgerichte und ganz besonders auch die Hartz-IV-Betroffenen entlasten will, muss dafür sorgen, dass Hartz IV grundlegend überwunden wird. Erste notwendige Schritte wären insbesondere die Streichung von Sanktionen in der Grundsicherung. Das entlastet die Gerichte und schützt die Leistungsberechtigten vor existenziellen Gefährdungen. Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält vieles, aber nicht unbedingt das Richtige. Die Bundesregierung greift selbst bescheidene Reformvorschläge wie den der gemeinsamen Kommission der Justizministerkonferenz und Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur materiellen Reform des SGB II nicht auf. Dazu zählt zum Beispiel die Einschränkung der Sanktionsregeln bei den unter 25-Jährigen. Vielmehr verschärfen Union und FDP die Sanktionspraxis durch die aktuelle Gesetzgebung sogar noch. Das ist typisch Schwarz-Gelb – das muss weg. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das IV. Buch Sozialgesetzbuch beschreibt die gemeinsamen Vorschriften aller Zweige der Sozialversicherung. Hierzu gehören die Gesetzliche Krankenversicherung – SGB V –, die Gesetzliche Unfallversicherung – SGB VII –, die Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI –, einschließlich der Alterssicherung der Landwirte, und die Soziale Pflegeversicherung – SGB XI. – Eingeschränkt gelten die Regelungen auch für den Bereich der Arbeitsförderung, SGB III, teilweise auch für die Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II –, sowie die Sozialhilfe, SGB XII. Die schwarz-gelbe Bundesregierung verbindet mit dem vorgelegten Gesetzentwurf unter anderem das Ziel, die Sozialverwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren effizienter zu gestalten, Vereinfachungen für Arbeitgeber einzuführen sowie die Kosten des Bundeshaushaltes zulasten einiger Sozialversicherungsträger zu entlasten. Während viele Änderungen durchaus sinnvoll sind, gilt es, im nun folgenden parlamentarischen Beratungsprozess einige Punkte kritisch unter die Lupe zu nehmen. Schon im Vorfeld ging der Gesetzentwurf mit der Bitte um eine Stellungnahme in den Bundesrat. Sowohl die Ausschüsse für Arbeit und Sozialpolitik, der Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Rechtsausschuss, als auch der Deutsche Richterbund, DRB, sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund, DGB, zusammen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BDA, haben ihre teils kritischen Stellungnahmen abgegeben. Das Gesetz regelt als sogenanntes Omnibusgesetz verschiedene Gesetzesänderungen, angefangen beim SGB IV, SGB III, SGB V, SGB VI, SGB VII über Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes, des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte, des Entschädigungsrentengesetzes, der Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung bis hin zu Änderungen der Renten Service Verordnung und Änderungen der Datenabgleichsverordnung. Im Folgenden möchte ich auf einige Punkte näher eingehen: Art. 2, Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch: Die Bundesregierung möchte künftig Teilnehmer von dualen Studiengängen einheitlich sozialversichern, Nr. 2. Es ist nicht richtig, dass es sich bei diesem Vorhaben um eine Klarstellung im Sinne einer Rechtssicherheit handelt. Vielmehr haben die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung im Nachgang eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 zur Sozialversicherungsfreiheit „praxisintegrierter dualer Studiengänge“ im Sommer 2010 Gegenteiliges vollzogen. In einem mühsamen Prozess mit hohem Aufwand haben die Betriebe nach Angaben der BDA diese Umstellung vorgenommen. Eine erneute Änderung würde zu einem hohen bürokratischen Aufwand führen. Im Beratungsverfahren sollten wir gemeinsam prüfen, wie wir hier zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung kommen. Art. 4, Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch: Die Bundesregierung beabsichtigt, die Kosten für die rentenrechtliche Absicherung der im Eingangs- und Berufsbildungsbereich tätigen Menschen mit Behinderungen rückwirkend zum 1. Januar 2008 auf die Sozialversicherungsträger zu übertragen, Nr. 11, 12 und 14. Dies würde eine jährliche Mehrbelastung der Beitragszahler von 120 Millionen Euro – Bundesagentur für Arbeit – bzw. 32,5 Millionen Euro – Rentenversicherung – bedeuten. Wir finden, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, behinderte Menschen gegen Altersarmut abzusichern. Anstatt die Beschäftigungschancen von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, kommt es lediglich zu einer Kostenverschiebung. Menschen mit Behinderung werden so erneut in die Rolle des Kostenfaktors gedrängt. Der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit ist ohnehin stark belastet. Die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund geht zulasten der BA; ihre Einnahmen werden ab 2014 um mehr als 4 Milliarden Euro pro Jahr gesenkt. Die Bundesregierung plant darüber hinaus, Aufwandsentschädigungen für kommunale Ehrenbeamte sowie für ehrenamtlich in kommunalen Vertretungskörperschaften Tätige oder für Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Versichertenälteste oder Vertrauenspersonen der Sozialversicherungsträger nach einem Bestandsschutz bis zum 30. September 2015 als rentenschädlichen Zuverdienst anzusehen, Art. 4 Nr. 27 und 38 des Gesetzentwurfes. Dies gilt zumindest für den steuerpflichtigen Anteil der gezahlten Aufwandsentschädigung über 2 100 Euro im Jahr. Mit diesem Schritt folgt die Bundesregierung ihrer Logik aus dem Rechtskreis des SGB II. Auch dort werden pauschale Aufwandsentschädigungen oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euro als Einkommen berücksichtigt. Wir halten eine solche Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Politisches und ehrenamtliches Engagement ist grundgesetzlich geschützt und muss, ob pauschal oder nach tatsächlichem, nachgewiesenem Aufwand, anrechnungsfrei entschädigt werden. Art. 8, Änderung des Sozialgerichtsgesetzes: Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes wurde zum 1. April 2008 eine sogenannte Fiktion einer Klagerücknahme für das erstinstanzliche Verfahren eingeführt. Diese Regelung gemäß § 102 Abs. 2 SGG besagt, dass eine Klage als zurückgenommen gilt, „wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt“. Der Gesetzentwurf erweitert die Klagerücknahmefiktion auf Berufungen. Das Gesetz ersetzt mit dieser fiktiven Klagerücknahme nicht nur die Prozesserklärung, wonach ansonsten der Kläger selbst oder sein Verfahrensbevollmächtigter die Klage zurücknehmen kann. Das Gesetz unterstellt mit seiner gesetzlichen Rücknahmefiktion zudem einen Wegfall des Interesses des Klägers an der Fortsetzung des Verfahrens. Sozialverbände machen bei ihren Beratungen hingegen die Erfahrung, dass es schwierig sein kann, zu vermitteln. Die richterliche Praxis sieht aufgrund des strengen Ausnahmecharakters beider Regelungen hingegen wenig Bedenken. Im Gegenteil: Sie hebt auf die verfahrensbeschleunigende Wirkung der Instrumente ab. Bevor es zu einer Erstreckung der Klagerücknahmefiktion auf Berufungen kommt – Art. 8 Nr. 7 des Gesetzentwurfes –, sollte die Regelung einer Rechtstatsachenuntersuchung unterzogen werden. Die Bundesregierung kann ihren Ansprüchen nach einer effizienteren Verwaltungs- und Sozialgerichtspraxis mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht nachkommen. Problematisch bleibt, dass es immer wieder Sozialleistungsträger gibt, die, anstatt im Interesse der anspruchsberechtigten Personen zusammenzuarbeiten und ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, offenbar vorrangig darauf bedacht sind, ihren jeweils eigenen Haushalt möglichst nicht zu belasten. In der Folge kommen Anspruchsberechtigte nicht zu ihren Rechten und müssen unweigerlich den Widerspruchs- und Klageweg beschreiten. Neben zwingend notwendigen Änderungen des materiellen Rechts in den jeweiligen Büchern des Sozialgesetzbuches – siehe hierzu etwa Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache 17/3207 oder 17/3435 – sowie der lang anstehenden Notwendigkeit, ein modernes Patientenrechtegesetz zu erlassen, das die weit verstreuten Rechtspositionen von Patientinnen und -patienten, Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Heilbehandlerinnen und -behandlern zusammenführt – siehe Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/6348 –, gilt es gleichzeitig, die Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen sozialgesetzbuchübergreifend zu stärken. Bündnis 90/Die Grünen werden hierzu in Kürze einen Aufschlag machen, der die individuellen und kollektiven Rechte von Nutzerinnen und Nutzern sozialer Leistungen stärkt und mithin zu weniger Streitverfahren führt. Ebenfalls für nicht sinnvoll erachten wir die im Gesetzentwurf vorgesehene Zuordnung bestimmter Klagen gegen Entscheidungen und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Vertragsarztrecht, Art. 8 Nr. 1 des Gesetzentwurfes. Zwar ist es richtig, die umstrittenen Abgrenzungen und Unsicherheiten zwischen den Zuständigkeiten der Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und der Kammern für Angelegenheiten des Vertragsarztrechts klären zu wollen. Die hierfür im Gesetzentwurf genannten drei Fallgruppen führen nicht zu einer eindeutigen Abgrenzung. Vielmehr sollte, wie es der Deutsche Richterbund vorschlägt, die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts abgewartet werden. Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Die Bundesregierung nimmt regelmäßig aktuelle Anpassungen der Regelungen des Sozialgesetzbuches vor, um den Anforderungen, die die ständigen Veränderungen der Lebenswirklichkeit an die Systeme der Sozialversicherung stellen, schnell und praxisnah gerecht zu werden. Der Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze enthält eine Vielzahl derartiger Anpassungen, deren Ziel es ist, größere Rechtssicherheit in den betroffenen Rechtsbereichen zu schaffen. Lassen Sie mich dafür beispielhaft einige dieser Regelungen darstellen. Durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichtes Ende des Jahres 2009 kam es für einen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem dualen Studiengang zur Versicherungsfreiheit. Diese Entscheidung war und ist in der Praxis hoch umstritten. Nun wird klar geregelt, dass in allen Formen der dualen Studiengänge die Studentinnen und Studenten in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie in der Arbeitsförderung für die gesamte Dauer des Studiengangs versichert sind. Sie werden damit den zur Berufsausbildung Beschäftigten gleichgestellt. Das Gesetz enthält auch eine Reihe kleinerer Anpassungen im Beitrags- und Meldeverfahren für die Arbeitgeber zur Sozialversicherung. Wir setzen hier Verfahrensvereinfachungen um, die auf Vorschläge aus der Praxis sowohl vonseiten der Arbeitgeber als auch der Sozialversicherungsträger zurückgehen. Diese Vorschläge führen zu einem weiteren Bürokratiekostenabbau für die deutsche Wirtschaft von rund 9,3 Millionen Euro pro Jahr. Weiterer Regelungsbedarf ergab sich aus der neueren Rechtsprechung und einem entsprechenden Beschluss der Deutschen Rentenversicherung Bund. Danach sind Aufwandsentschädigungen von Ehrenbeamten – zum Beispiel ehrenamtlichen Bürgermeistern oder Ortsvorstehern – in bestimmtem Umfang als Hinzuverdienst bei Renten der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Hier müssen wir das Vertrauen der aktuell Betroffenen schützen: Wir schlagen eine fünfjährige Übergangsregelung vor, nach der Aufwandsentschädigungen von Ehrenbeamten, die von der bisherigen Auslegung des Rechts begünstigt waren, weiterhin nicht als Hinzuverdienst berücksichtigt werden. Des Weiteren wird klargestellt, dass eine Erstattungspflicht des Bundes für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger der Werkstätten für behinderte Menschen nur für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen besteht. Die Änderung des § 179 SGB VI und die zugehörigen Folgeänderungen stellen den Grundsatz, dass zu den Rehabilitationsleistungen auch die Beiträge zu den Sozialversicherungszweigen gehören, für den Bereich der Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen nun auch für die Maßnahmen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen gesetzlich klar. Die vorgeschlagene Änderung des § 179 SGB VI betrifft weder die behinderten Menschen selbst noch die Werkstätten für behinderte Menschen. Es geht allein um einen Erstattungsmodus zwischen den betroffenen Sozialversicherungsträgern und dem Bund. Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren stetig gestiegenen Zahl sozialgerichtlicher Verfahren sehen wir außerdem Änderungen des Sozialgerichtsgesetzes vor. Verfahren sollen beschleunigt und effizienter durchgeführt werden. Damit wird die Sozialgerichtsbarkeit entlastet. Grundlage für die Änderungen sind Vorschläge der Länder-Arbeitsgruppe der Justizministerkonferenz aus dem Herbst 2009 und der Gemeinsamen Kommission der Justizministerkonferenz sowie der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder vom Oktober 2010. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6764 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Dr. Valerie Wilms, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen – Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis – Drucksache 17/6499 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Reden gehen zu Protokoll. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Die Arktis ist ein sensibles Ökosystem – durch den Klimawandel schmelzen die Polkappen langsam. Dadurch wird der Zugang zu den begehrten Rohstoffen wie Öl und Gas einfacher. Dadurch entwickelt sich aber auch eine vielfältige Problemkulisse. Der Antrag der Grünen beschreibt diese Probleme weitgehend korrekt. Der politische Eindruck, den die Grünen jedoch zu erwecken versuchen, die Bundesregierung vernachlässige die Arktis und müsse erst zu konkretem Handeln aufgefordert werden, ist falsch. Die Bundesregierung widmet sich diesem Thema, und zwar sehr verantwortungsbewusst: sowohl mit Blick auf ökonomische Chancen als auch, und zwar vorrangig, mit Blick auf den Schutz dieses sensiblen Ökosystems. Wir kommen aber an einer Tatsache nicht vorbei: Deutschland ist kein Arktis-Anrainerstaat. Das reduziert unsere Einflussmöglichkeiten. Auch auf europäischer Ebene ist gemeinsames Handeln schwer, da sich Dänemark/Grönland von der EU das Handeln auf eigenem Territorium nicht vorschreiben lässt, und Russland lässt sich schon gar nichts sagen. Dennoch nimmt Deutschland Einfluss, im Interesse der Arktis und ihres Schutzes: Deutschland ist beobachtendes Mitglied im Arktischen Rat, der das gemeinsame Konsultationsgremium aller acht Staaten mit Gebieten, Land und Wasser, nördlich des Polarkreises ist. Hier geht es um die Themen Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung der Polarregion. An den Sitzungen des Rates nehmen auch regelmäßig Vertreter der indigenen Völker teil. Gerade Kanada und die USA haben ein hohes Interesse, die einheimische Bevölkerung in die Entwicklung der Polarregion einzubeziehen. Die fünf Anrainerstaaten – Dänemark/Grönland, Russische Föderation, Kanada, Norwegen, USA – vertreten ihre souveränen Rechte über ihre arktischen Gebiete. Obwohl Deutschland international führend ist in der Polarforschung, verfügt es leider über wenig Mitspracherechte in der Polarregion. Der Rechtsrahmen hierfür ist das Seerechtsübereinkommen der VN von 1982. Daher ist das Ansinnen der Grünen auch überaus schwierig, hier die Staaten zu zwingen, auf ihrem Territorium gewisse Umweltstandards einzuhalten. Wir müssen anerkennen, dass sich Deutschland auf sehr dünnem Eis bewegt, wenn es in die Staatenpolitik anderer Ländern eingreifen soll. Viele Forderungen der Grünen zeugen auch von Unkenntnis der rechtlichen Situation. Wir in Deutschland müssen die internationalen Prozesse verstehen und uns zunächst mit der Beobachterfunktion zufriedengeben. Die Anrainerstaaten machen in der Arktis ihre Hoheitsansprüche geltend; daher ist die Forderung der Grünen in ihrem Antrag, einen „Arktisvertrag“ ähnlich dem „Antarktisvertrag“ aus dem Jahr 1959 auszuhandeln, nicht so einfach per Bundestagsbeschluss zu vollziehen. Im Gegensatz zur Antarkis, wo kein Staat direkte Ansprüche angemeldet hat, es keine nennenswerten auszubeutenden Rohstoffe gibt und es auch kein Ansinnen auf Durchfahrten der Schifffahrt und anderer Transportverkehre gibt, ist die Arktis bereits jetzt zur Zielscheibe weitreichender wirtschaftlicher wie auch verkehrspolitischer Interessen geworden. Dies wurde bereits im März dieses Jahres bei der Zweiten Internationalen Arktiskonferenz des Auswärtigen Amtes deutlich. Hier hielt Außenminister Guido Westerwelle ein Plädoyer für den freien Zugang aller Nationen zur Polarregion – nicht nur der Arktisanrainer. Er erklärte, der Arktische Ozean müsse als gemeinsames Erbe der Menschheit erhalten und die Forschung dürfe durch eine künftige wirtschaftliche Nutzung der Arktis nicht eingeschränkt werden. Auch die Probleme des Klimawandels beträfen alle Staaten. Die Bundesregierung versucht, das Optimum an Schutz der Arktis zu erzielen. Das Bundesumweltministerium hat ein Gutachten zum Thema „Identifizierung deutscher Umweltschutz-interessen und Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die deutsche Umweltpolitik in der Arktis“ öffentlich ausgeschrieben. Das konkrete Ziel dieser Ausschreibung besteht darin, eine eingehende Analyse der Umweltsituation in der Arktis sowie deutsche Umweltschutzinteressen – über den Forschungsbereich hinaus – systematisch zu erfassen. Auf dieser Basis sowie vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtslage sollen die für Deutschland relevanten Handlungsfelder für den Umweltschutz in der Arktis analysiert werden. Das Bundesumweltministerium will der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis mit einer gesonderten deutschen „Arktisstrategie“ gerecht werden. Hierbei stehen die Bereiche Forschung, Wirtschaft, vor allem auch Umwelt und Sicherheit im Vordergrund. Eine deutsche Position ist hinsichtlich der Kernziele Klima- und Umweltschutz der EUArktis-Politik erforderlich. Die ausgeschriebene Studie wird dafür eine Basis liefern. Der Schutz der Arktis ist ein wichtiges Thema, mit dem auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir ernst nehmen. Nach Überweisung des Antrages in die entsprechenden Ausschüsse werden wir hierüber in aller gebotenen Sorgfältigkeit noch einmal beraten können, und wir werden die Bundesregierung und das Bundesumweltministerium in ihren Bemühungen zum Schutz der Arktis unterstützen. Frank Schwabe (SPD): Das Thema Arktis steht gelegentlich im Schatten anderer politischer Themen, es ist allerdings ein Thema, das langfristig für die Menschheit von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag mit der Arktis, den sich ändernden klimatischen Verhältnissen und deren Konsequenzen beschäftigen. Das letzte Mal, dass wir in diesem Raum über die Arktis diskutiert haben, war anlässlich der Debatte um Tiefseeölbohrungen, die auch in arktischen Gewässern geplant sind. Leider war die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im letzten Jahr eine Katastrophe ohne Konsequenzen. Aus „Deepwater Horizon“ hätten Konsequenzen gezogen werden müssen. Das wäre in erster Linie ein Moratorium für Ölbohrungen in tiefer See gewesen, solange die Technologien noch nicht verfügbar sind, um auftretende Unfälle zu beherrschen. Doch nichts dergleichen geschah. Dabei hätte ein Unfall wie „Deepwater Horizon“ in der Arktis gravierendere Auswirkungen als im Golf von Mexiko. Der arktische Winter, dickes Eis und die kalte Temperatur lassen jegliche Versuche, einen Ölunfall schnell einzudämmen, scheitern. Deshalb ist ein sofortiges Moratorium für neue Tiefseeölbohrungen im OSPAR-Raum notwendig. Umweltminister Röttgen hatte versprochen, dass sich Deutschland für „ein Moratorium, eine Pause für neue Bohrungen einsetzen“ wird. Doch der deutsche Antrag auf der OSPAR-Konferenz im Jahr 2010 hatte diese Forderung gar nicht mehr enthalten. Röttgen hat sich abermals als Meister der schönen Worte erwiesen – Worte, die aber ohne Konsequenzen bleiben. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zeigt aber auch, dass es richtig war, dass sich die SPD schon vor einigen Jahren für eine Strategie „weg vom Öl“ entschieden hat. Und das nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern weil das „schwarze Gold“ auf der ganzen Welt dreckige Spuren hinterlässt. Dass es derzeit nicht gut um den Schutz der Arktis steht, zeigt die Entscheidung des Europäischen Parlaments von letzter Woche. Die Abgeordneten im Europaparlament haben sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen, Tiefseebohrungen in ökologisch sensiblen Gebieten wie der Arktis zu verbieten. Sie lehnten auch die Einrichtung eines Moratoriums auf Tiefseebohrungen bis zur Verabschiedung von schärferen EU-Sicherheitsstandards ab. Diese Entscheidung wird hoffentlich von den Europaabgeordneten noch einmal überdacht. Wir können nach „Deepwater Horizon“ nicht einfach weitermachen, als sei nichts geschehen. Hinzu kommt, dass das Ölleck diesen Sommer vor der schottischen Küste gezeigt hat, dass auch in der Nordsee Ölunfälle möglich sind. Da Ölverschmutzungen sich nicht an vom Menschen gezogene Grenzen halten, ist ein gemeinsames Vorgehen wichtig. Solange Unfälle bei Tiefseebohrungen nicht beherrscht werden können, ist es absurd, diese Bohrungen zukünftig auch noch auf so sensible Gebiete wie denen in der Arktis auszuweiten. Dennoch hatte die Entscheidung des Europaparlaments auch positive Seiten. Die verabschiedete Resolution sieht vor, dass neue Öl- und Gasfelder in europäischen Meeren künftig nur dann erlaubt werden, wenn die Firma einen dem Bohrort angemessenen Notfallplan vorgelegt hat. Außerdem sprachen sich die Abgeordneten erneut dafür aus, dass das Verursacherprinzip und die Haftung für Schäden auf Meeregewässer und -artenvielfalt ausgedehnt wird. Der Antrag der Grünen, über den wir heute sprechen, geht jedoch nicht nur auf die Probleme der Ölförderung ein. Er beleuchtet die Rolle der Arktis, die sich durch die Klimaerwärmung wandelt. Durch die fortschreitende Erwärmung und die damit verbundene Schmelze des Eises entstehen Möglichkeiten des Zugangs zum Meeresgrund und zu den dort vorhandenen Rohstoffen. Der Rückgang des Eises ermöglicht neue Schifffahrtsrouten, die neuen Zugänge zum Festland werfen sicherheitspolitische Fragen auf, und die Politik muss handeln, damit aus dem Streit um die Ressourcen in der Arktis keine Spannungen zwischen den Staaten entstehen. Es mutet schon skurril an, dass der Mensch durch den Klimawandel zunächst den Lebensraum massiv verändert und das Eis schmelzen lässt und jetzt nicht mit höchster Kraft dem entgegenwirkt, sondern mehr Engagement darin investiert, wie die Ressourcen verteilt werden, die jetzt erschlossen werden können. Das ist ein Beispiel dafür, wie der Klimawandel Konflikte schüren kann und wie auch für die deutsche Politik die Verzahnung von Klimapolitik und Außen- und Sicherheitspolitik immer wichtiger wird. Wie stark der Klimawandel heute schon die Arktis schädigt, zeigen die dieses Sommers Forschungsergebnisse. Das Meereis der Arktis ist in diesem Sommer auf die kleinste Fläche zusammengeschmolzen, die jemals gemessen wurde. Es wurde eine Negativmarke mit einer Fläche von 4,24 Millionen Quadratkilometern erreicht. Das ist die bisher geringste Eisausdehnung im Nordpolarmeer und hat sogar noch die Ausdehnung des Jahres 2007 unterboten. Es ist geradezu erschütternd, dass der Klimawandel immer erschreckendere Ausmaße annimmt, die internationale Politik zum Schutz des Klimas jedoch auf der Stelle tritt. Auch wenn wir im Dezember auf der Klimakonferenz in Durban wichtige Schritte weiterkommen sollten, die uns zu einem internationalen Klimaschutzabkommen führen können, so sind doch die Zusagen, die die Staaten über ihre Anstrengungen zur Minderung ihrer Treibhausgasemissionen gegeben haben, viel zu gering. Mit den jetzigen Zusagen sind wir weit vom Erreichen des 2GradZiels entfernt. Die schmelzende Arktis und die zukünftigen Spannungen oder Konflikte über ihre Ressourcen ermahnen uns, endlich konsequent im Klimaschutz zu handeln. Doch nicht nur die immer kleiner werdende Eisschicht ist besorgniserregend, sondern auch das seit langem zu beobachtende Tauwetter in der Arktis. Es hat inzwischen ein Wettrennen um die Ressourcen in der Arktis ausgelöst, in der große Vorräte an Erdöl und Erdgas vermutet werden. Russland, Norwegen, Dänemark/ Grönland und Kanada haben eine Ausweitung ihres jeweiligen Hoheitsgebietes um 200 Seemeilen auf Grundlage der United Nations Convention on the Law of Sea angemeldet. Der Arktisschutz bleibt in der Warteschleife, solange die Fragen nach wirtschaftlicher Ausbeutung im Vordergrund stehen. Um dem profitorientierten Treiben der Anrainerstaaten ein Ende zu setzen, bedarf es internationaler Verhandlungen. Solange es keinen rechtlich verankerten Schutz für die Arktis gibt, muss ein Moratorium verhängt werden. Verhandlungen für einen Arktisvertrag nach dem Vorbild des Antarktisvertrags sind ein Gebot wirksamen Klimaschutzes. Deshalb haben wir in unserem Antrag „Unsere Meere brauchen Schutz“ die Bundesregierung aufgefordert, sich für den Abschluss eines internationalen Vertrages zum Schutz der Arktis nach dem Vorbild des Antarktisvertrages einzusetzen. Um die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, muss sich die Bundesregierung nachdrücklich und unverzüglich für ein Moratorium einsetzen, mit dem Ziel, sämtliche Gebietsansprüche oder sonstige Ansprüche im Hinblick auf die arktischen Ressourcen bis zu einem endgültigen Schutzabkommen zurückzustellen. Diese Forderung stellen in ihrem Antrag auch die Grünen auf, was ich sehr begrüße. Die Grünen sprechen in ihrem Antrag auch die deutsche Polarforschung an und betonen die traditionsreiche und renommierte Arbeit des AlfredWegener-Instituts. Aber auch der Wissenschaftsrat hat sich in seinem aktuellen Gutachten „Empfehlungen zur zukünftigen Entwicklung der deutschen marinen Forschungsflotte“ mit der deutschen Polarforschung und ihrer Infrastruktur auseinandergesetzt und stellt zu Recht fest, dass sich die deutsche Polarforschung international auf einem sehr hohen Niveau befindet. Dabei spielt die „Polarstern“ eine maßgebliche Rolle. Mit der „Polarstern“ haben wir ein Forschungsschiff, auf das wir stolz sein können. Für den Zeitraum von 2005 bis 2009 konnten allein 530 Fachpublikationen den Forschungsarbeiten von Expeditionen mit der „Polarstern“ zugeordnet werden. Weltweit ist das Forschungsschiff „Polarstern“ darüber hinaus der einzige moderne Forschungseisbrecher, der dezidiert die Arktis befährt. Die im Einsatz befindlichen Schiffe anderer Staaten weisen hingegen nicht durchgängig die notwendigen Spezifikationen auf, um arktisweit und ganzjährig eingesetzt werden zu können. Die Bedeutung der deutschen Arktisforschung sprechen wir mit unserem Antrag „Polarregionen schützen – Polarforschung stärken“ an. Auch in diesem Antrag fordern wir Vereinbarungen, die eine Analogie zum Antarktisvertrag aufweisen. Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in der Arktisregion muss dabei sichergestellt werden. Um aktuelle Fragen der Meeresforschung geht es auch in einem Workshop der SPD-Fraktion, der morgen stattfindet. Dabei werden wir mit Expertinnen und Experten diskutieren, wie inhaltliche und strukturpolitische Schwerpunkte einer neuen Strategie zur Meeresforschung aussehen können. Ich möchte noch einmal betonen: Als Erstes brauchen wir ein Moratorium, das sicherstellt, dass keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, solange es noch kein endgültiges Schutzabkommen gibt. Die Arktis darf kein Selbstbedienungsladen sein, sie ist das gemeinsame Erbe der Menschheit. Der Arktis kommt auch eine Schlüsselrolle für das Klimasystem der Erde zu. Die Ausbeutung der arktischen Ressourcen würde jede Maßnahme zum Schutz der Arktis und die Anerkennung ihrer Schlüsselrolle für das Klimasystem der Erde konterkarieren. Sei es auf nationaler Ebene, sei es in europäischen oder internationalen Verhandlungen – Ziel muss sein, den Schutz der Arktis sicherzustellen. Ansonsten verspielen wir leichtfertigt dieses gemeinsame Erbe der Menschheit. Angelika Brunkhorst (FDP): Ein Blick auf ein aktuelles Satellitenbild belegt: Die Eisdecke der Arktis nimmt ab. Der Eisrückgang ist ähnlich drastisch wie in 2007. Damals schrumpfte die Eisfläche auf eine Fläche von 4,3 Millionen Quadratkilometern. 2007 war bislang der Negativrekord. Aktuelle Untersuchungen des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung zeigen, dass in den vergangenen Monaten ein ähnlicher Rückgang zu beobachten ist. Die eisfreien Flächen innerhalb der Packeiszone schmolzen im Sommer deutlich ab. Inzwischen hat die eisfreie Fläche die Größe der Niederlande erreicht. Die Experten des AWI sehen vor allem die sehr geringe Dicke des Meereises und den steten Transport von Meereis in eisfreie Regionen des Nordpolarmeeres hierfür verantwortlich. So ist derzeit das Eis im Schnitt 90 Zentimeter stark. 2001 betrug die Meereisdicke im Durchschnitt noch zwei Meter. Je zerklüfteter das Eis, desto mehr steigen die Wassertemperaturen. Je wärmer das Meer, umso schneller schmelzen die darin schwimmenden Eisschollen. In diesem Sommer konnten sowohl die Nordostpassage als auch die Nordwestpassage befahren werden. Dies bedeutet, dass die Hemmnisse einer kommerziellen Nutzung der Arktis weiter sinken. Die Region wird damit vor allem für die Bereiche Schifffahrt, Tourismus, Fischerei oder Rohstoffgewinnung interessant. Die Arktis lag bislang im Dornröschenschlaf und war wenig durch den Menschen beeinflusst. In den vergangenen Jahrtausenden bildeten sich so eine einmalige Flora und Fauna. Viele dieser Tier- und Pflanzenarten sind nur dort beheimatet und deshalb besonders schützenswert. Dieses Paradies aus Eis ist jedoch gefährdet. Der Klimawandel zeigt zunehmend seine Auswirkungen und bedroht dieses sensible Ökosystem. Nun drohen die verstärkten Nutzungsinteressen durch den Menschen als weitere Belastung hinzuzukommen. Ein vernünftiger und nachhaltiger Umgang mit der Arktis ist deshalb erforderlich. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen – Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis“ hat eine lobenswerte Absicht. Er umfasst ein Bündel äußerst unterschiedlicher Bereiche. Diese reichen vom Umweltschutz über Rohstoff- und Schifffahrtsfragen bis hin zu territorialen Ansprüchen. Vieles davon ist gut gemeint, jedoch jenseits des Umsetzbaren. An einem zentralen Punkt möchte ich dies verdeutlichen. Der im Antrag geforderte Arktisvertrag – welcher nach gleichem Muster wie der Antarktisvertrag entwickelt werden soll – wird Wunschdenken bleiben. Die Antarktis ist unbewohnt, rohstoffarm und kein Hoheitsgebiet eines Staates berührt die Region, wohingegen in der Arktis fünf Staaten um rohstoffreiche Gebietsansprüche buhlen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die fünf Arktisanrainer ihr Interesse an den Schätzen im Meeresboden anmelden werden. Eine internationale Aufsicht über die Arktis wäre hier sicherlich die beste Lösung. Dass sie kommt, ist – trotz allen guten Willens – unwahrscheinlich. 1996 wurde der Arktische Rat ins Leben gerufen. Er ist die von Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und den USA gegründete Dachorganisation für zwischenstaatliche Vorhaben in der Nordpolregion. Der Arktische Rat soll den Umweltschutz, die Durchführung von Forschungs- und Verkehrsprojekten sowie die Nutzung von Rohstoffvorkommen koordinieren. Die Ureinwohner der Arktis haben darin ein Mitspracherecht. Der Arktische Rat ist das Forum, in dem sich die Anrainer auf nachhaltige Schutzbestimmungen einigen können. Vor dem Hintergrund immer knapper werdender Rohstoffe werden sich die USA, Kanada, Norwegen, Russland, Dänemark/Grönland und Deutschland keine vertraglichen Fesseln anlegen lassen. Es liegt in den Händen des Quintetts der Anrainer, die Schutzwürdigkeit anzuerkennen und eine umweltverträgliche Nutzung der Region zu regeln. Mit dem AlfredWegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, AWI, bietet Deutschland seit mehr als 20 Jahren ein zentrales und führendes Zentrum der Polarforschung, das auch international Gehör findet. Diese Expertise wollen wir weiterhin fördern. Die Liberalen stehen für einen Schutz der Arktis. Wir wollen keinen „wilden Westen“ am Nordpol. Wir setzen uns dafür ein, dass die Nutzung der Ressourcen im Einklang mit der Natur stattfindet. Unrealistische Forderungen, wie sie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gefordert werden, können wir jedoch nicht mittragen. Deshalb lehnen wir den Antrag ab. Sabine Stüber (DIE LINKE): Seit die Temperaturen im hohen Norden weiter ansteigen und das Eis in einem unvorstellbaren Tempo schrumpft, zieht die Arktis immer mehr begehrliche Blicke auf sich. Denn sie ist eine Schatzkammer, die lange vom Eis fest verriegelt blieb; aber das Eisschloss bricht. Die vermuteten Erdöl- und Erdgasvorkommen werden auf etwa 25 Prozent der weltweit noch vorhandenen Menge geschätzt. Das ist nicht unumstritten; denn solche Schätzungen fallen gern besonders zweckoptimistisch zugunsten der Rohstoffausbeutung aus, und die ökologische Bedeutung der Arktis als Lebensraum und Klimaregulator wird dabei möglichst ignoriert. Ungeachtet der schon bestehenden ökologischen Schäden und der weiteren Risiken drängen die Ölfirmen nach Norden. Der künftig leichtere Zugang zu den Bodenschätzen durch den Eisrückgang ermöglicht ein gewinnbringendes Geschäft. Neben Öl und Gas in der Barentssee vor Russland, vor Norwegen und Grönland sind in den kanadischen Arktisanteilen auch wertvolle Basismetalle, wie Gold, Kupfer, Silber und Zink herauszuholen. Die Anrainerstaaten stecken seit Jahren ihre Claims ab. Nach der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen können die Länder bis zu 200 Seemeilen vor ihren Küsten die natürlichen Ressourcen nutzen. Dort, wo der Festlandsockel noch weiter in die Tiefsee reicht, erstreckt sich der Anspruch der Küstenstaaten auf Ausbeutung der Ressourcen auf bis zu 350 Seemeilen. Genau darum geht es jetzt. Aber es ist Nutzungsrecht und kein Anrecht auf Zerstörung, wie wir es jetzt gerade bei den Meeresfischbeständen erleben. Neben dem neuen Wirtschaftspotenzial eröffnen sich auch neue Seewege. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war im Sommer 2007 die Nordostpassage eisfrei. Vor 100 Jahren bedeutete das für Roald Amundsen eine mühsame Expedition von zwei Jahren. Was für Möglichkeiten dagegen heute für die Schifffahrt – ein Wachstumsmarkt. In den Werften sind bereits eisgängige Schiffstypen geordert, und sie sind im Bau. Doch wie hoch wird der Preis sein? Unabhängig von den globalen Klimaauswirkungen durch den Eisrückgang sind an die extremen Bedingungen des Lebensraums Arktis nur spezielle Arten angepasst. Dazu gehören Meeressäuger genauso wie Gänsearten, die sehr sensibel auf die Geschwindigkeit der Klimaveränderungen reagieren. Schon heute ist die Biodiversität der Arktis erheblich gefährdet. Was bewirkt nun die Eisschmelze? Sie kann die globale Zirkulation in den Weltmeeren verändern, sie verdünnt das Wasser und führt zu einer veränderten Wasserzusammensetzung, was sich auf den globalen Wassertransport auswirkt; sie führt zu geringerer Reflexion des Sonnenlichts, damit zur Erwärmung und so zum weiteren Rückgang des Eises auf dem Meer; sie zerstört den Lebensraum für die an arktische Extrembedingungen angepassten Arten von Flora und Fauna genauso wie die traditionelle Lebensweise der Inuitbevölkerung. Beide Perspektiven – Abbau der Bodenschätze und intensiverer Schiffsverkehr – werden mit weiteren Eingriffen in die arktische Umwelt verbunden sein. Die rasante Zunahme des Energiebedarfs und der internationalen Handelsströme lassen wenig Hoffnung auf einen maßvollen Umgang mit den arktischen Ressourcen und auf eine Begrenzung des Schiffsverkehrs. Die Spirale der Zerstörung hat längst Fahrt aufgenommen; denn das Geschäft will sich niemand entgehen lassen. Auch hier treiben Wirtschaftsinteressen die Politik vor sich her. Die internationale Politik muss die gegenwärtige Entwicklung, die in ihrer Geschwindigkeit dem Tempo der Eisschmelze folgt, fest in den Blick nehmen und handeln; denn die bisherigen Bemühungen zum Schutz der Arktis gehen über Umweltbeobachtung und Informationsaustausch nicht hinaus. Der 1996 gegründete „Arktische Rat“, dem acht Arktisstaaten und zehn Beobachterstaaten angehören, ist ein politischer Zusammenschluss, dessen Beschlüsse in keiner Weise rechtsverbindlich sind. Das zu ändern, ist das Gebot der Stunde, und dafür soll sich die Bundesregierung konsequent einsetzen. Genau so verstehe ich den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den wir als Die Linke voll und ganz unterstützen Die Welt braucht die Arktis, und die Arktis braucht ein rechtsverbindliches Regime. Nur so – da bleibe ich ganz bescheiden und realistisch – können wir die schädlichen Umweltauswirkungen der kommenden Wirtschaftaktivitäten zwar nicht vermeiden, aber auf ein Minimum begrenzen. Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die sommerliche Eisbedeckung der Arktisregion ist seit 1972 um 50 Prozent geschrumpft und hat im Jahr 2011 die geringste Ausdehnung erreicht, wie Forscher der Universität Bremen in diesen Tagen bekannt gegeben haben. Die Zugangsmöglichkeiten zu bisher unzugänglichen Regionen wecken Begehrlichkeiten, neue Schifffahrtsrouten werden möglich, neue Zugänge zum Festland werfen auch sicherheitspolitische Fragen auf. Russlands Präsident Putin sagte Ende August anlässlich der Unterzeichnung eines milliardenschweren Abkommens zwischen russischen und amerikanischen Firmen zur Erschließung der Öl- und Erdgasvorkommen in der Arktis, es täten sich neue Horizonte auf. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels und der Notwendigkeit einer massiven Begrenzung der CO2-Emissionen darf man das getrost als Drohung verstehen, zumindest aus klimapolitischer Sicht. Denn der Verlust an Meereisfläche beschleunigt den Klimawandel gleich doppelt. Die kleiner werdende Eisfläche kann weniger Sonnenstrahlen in die Atmosphäre zurückreflektieren, die größer werdende Wasseroberfläche dagegen absorbiert die Sonnenstrahlen, wärmt sich dadurch auf und beschleunigt wiederum die Eisschmelze. Und nun ist zur befürchten, dass die verstärkte Ausbeute fossiler Ressourcen aus der Arktis ebenso den Klimawandel weiter verstärkt. Man muss sich das einmal vorstellen: Ressourcen die überhaupt erst durch den Klimawandel verfügbar werden, sollen ausgebeutet werden, was wiederum den Klimawandel verstärkt. Das ist absurd. Es ist, als führe man wissentlich auf einen Abgrund zu und drückte mehr und mehr aufs Gas, je schneller man wird. Aber nicht nur aus klimapolitischer Sicht ist die Ausbeutung der Arktis eine Bedrohung. Die Arktis ist einer der sensibelsten Lebensräume der Erde, mit hervorragend an die Lebensbedingungen angepassten Bewohnern. Aber es ist auch gerade diese Anpassung, die die Bewohner dieses Ökosystems so anfällig für Störungen macht. Die Biodiversität der Polarregion ist bereits heute ernsthaft gefährdet. Wir haben in Deutschland eine gute Tradition der Polarforschung und exzellente Wissenschaftler. Diese muss weiter gestärkt werden, und allein daraus ergibt sich auch schon die Verantwortung, eine Arktispolitik zu verfolgen, die sich nicht von Handels- und Ressourceninteressen leiten lässt, sondern den Umwelt- und Klimaschutz in den Mittelpunkt stellt. Die vorhandenen Vereinbarungen und Institutionen zum Schutz der Arktis reichen dafür nicht aus. Wir brauchen einen Arktisvertrag, der den Herausforderungen des fortschreitenden Klimawandels und des Schwundes der Biodiversität Rechnung trägt. Dabei kommt auch der indigenen Bevölkerung eine tragende Rolle zu, und die Wahrung ihrer Rechte muss ein zentraler Bestandteil der Arktispolitik sein. Will man das 2-Grad-Ziel, also die Begrenzung des globalen Klimawandels auf maximal 2 Grad Celsius, erreichen – dazu hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet –, so kann dies sicherlich nicht dadurch geschehen, dass die gewaltigen fossilen Ressourcen, die in der Arktis vermutet werden, nun auch ausgebeutet werden. Ein Arktisvertrag, der diese wirtschaftliche Ausbeutung verhindert, ist für eine erfolgreiche Klimapolitik absolut notwendig und zum Schutz der arktischen Biodiversität unabdingbar. Eine Positionierung der Bundesregierung in diesem Sinne gehört nicht zuletzt auch zu einer glaubwürdigen internationalen Klimapolitik. Die Bundeskanzlerin hat sich vor einigen Jahren vor den Eisbergen Grönlands als „Klimakanzlerin“ fotografieren lassen. Es ist endlich an der Zeit, konkret etwas für die Polarregion zu tun. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6499 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung – Drucksache 17/6905 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auch diese Reden gehen zu Protokoll. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 11. Januar 1993 wurde mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege in § 76 Abs. 2 GVG für die Großen Strafkammern die Möglichkeit eingeführt, in der Hauptverhandlung in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen zu verhandeln. Dieses Gesetz verfolgte ursprünglich das Ziel, die Justiz während des Aufbaus einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern zu entlasten. Diese Regelung wurde bisher im Zweijahresrhythmus verlängert. Nach derzeitiger Gesetzeslage läuft sie am 31. Dezember 2011 aus. Die bisherige Regelung, die die Möglichkeit eröffnet, mit einer auf zwei Richter reduzierten Besetzung zu verhandeln, hat sich bewährt. In der Praxis hat sich diese Regelung schon seit langem durchgesetzt. So waren im Jahre 2009 fast 80 Prozent – in einigen Bundesländern fast 90 Prozent – der Hauptverhandlungen vor den Großen Straf- und Jugendkammern mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt. Durch diese Regelung wurde eine praxistaugliche und sachgerechte Handhabung eingeführt. Die Möglichkeit der Besetzungsreduktion ist angesichts der sehr knappen Personalausstattung unerlässliche Voraussetzung für eine funktionierende Strafrechtspflege. So loben auch die Landesjustizverwaltungen „die Besetzungsreduktion durch die flexible Reaktionsmöglichkeit der Strafkammern auf unterschiedliche Verfahrenskonstellationen und Effektivierungspotentiale …“, wie die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in ihrem Gutachten zur Besetzungsreduktion feststellt. In dem Zielkonflikt zwischen Sicherung der Qualität der Rechtsprechung und Prozessökonomie muss jedoch eine Regelung geschaffen werden, die beide Ziele angemessen abwägt und Verhältnismäßigkeit schafft. Die bisherige befristete Regelung muss folglich durch eine dauerhafte Regelung ersetzt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ausdrücklich zu begrüßen. Durch die Schaffung und gesetzliche Normierung von Ausnahmen, in denen eine Besetzungsreduktion unmöglich ist, wird eine stabile Rechtslage geschaffen, die den Anforderungen an ein faires Verfahren Rechnung trägt. Diese Ausnahmen sind nach wie vor dann gegeben, wenn Umfang und Schwierigkeit der Strafsache eine Verhandlung mit drei Richtern fordern oder das Gericht als Schwurgericht verhandelt. Bei Zweifel bzw. Unklarheit ist die Dreierbesetzung der Zweierbesetzung immer vorzuziehen. Regelbeispiele der Verhandlung vor drei Richtern sind sowohl eine erwartete Verhandlungsdauer von über zehn Tagen als auch die Funktion der Wirtschaftskammer als Große Strafkammer. Letztlich kann eine Reduktion nicht erfolgen, wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Bei solchen Entscheidungen der Großen Strafkammern, die als einzige Tatsacheninstanz mit umfassender Strafgewalt etwa über die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu entscheiden haben, können so das Wissen und die Erfahrung eines vollbesetzten Richterkollegiums genutzt werden. Zu prüfen ist, ob es nicht ausreichend ist, nur die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in § 76 Abs. 2 Nr. 2 GVG zu regeln. Für den bloßen Vorbehalt der Sicherungsverwahrung und die Unterbringung nach § 63 StGB scheint die Regelung nicht zwingend geboten. An dieser Stelle besteht noch Beratungsbedarf; ich bin aber sicher, dass wir auch hier bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens zu einer guten Lösung finden werden. Dies gilt vor allem, da im Hinblick auf § 74 f Abs. 4 GVG. Einigkeit besteht, dass in Verfahren, in denen über die im Urteil vorbehaltene oder nachträgliche Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, keine Reduktionsmöglichkeit besteht. Zusammenfassend kann man Folgendes festhalten: Die neue Regelung des § 76 Abs. 2 bis 5 GVG verbessert den Verfahrensablauf, da er eine unbefristet gültige Regelung statuiert. Dies führt zu einer Erhöhung der Rechtssicherheit und gerade nicht zu einem Entzug des gesetzlichen Richters, da der Angeklagte jederzeit mit Rechtssicherheit seinen gesetzlichen Richter bestimmt weiß. Denjenigen Rechtspolitikern von Bündnis 90/Die Grünen, die unsinnigerweise meinen, es liege in der Festschreibung der bisher befristeten Regelung ein Verstoß des Rechts auf den gesetzlichen Richter vor, empfehle ich einen Blick in die einschlägigen Kommentierungen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ein Entzug des gesetzlichen Richters liegt nur dann vor, wenn der gesetzlich bestimmte Richter nicht der entscheidende Richter ist – zum Beispiel durch einen nachträglichen Eingriff der Exekutive. Mit der angestrebten Regelung wird aber gerade im Vorhinein der entscheidende Richter klar bestimmt und unter Beibehaltung eines hohen Qualitätsstandards schließlich Rechtsklarheit geschaffen. Die Vorteile der unbefristeten Regelung der Besetzung der Großen Straf- und Jugendkammern liegen auf der Hand. Auch an diesem Gesetzgebungsvorhaben zeigt sich die stringente Rechtspolitik der christlich-liberalen Koalition im Hinblick auf die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Effektivität der Justiz. Christoph Strässer (SPD): Bei dem Entwurf eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung haben wir darüber zu entscheiden, ob eine gesetzliche Regelung, die bereits 1993 zunächst befristet eingeführt und dann immer wieder verlängert wurde, nunmehr dauerhaft bestehen oder aber wieder abgeschafft werden soll. Eine weitere Befristung ist nach diesem Vorlauf in der Tat nicht mehr zu vertreten. Gegenstand der Beratung ist die Frage, ob große Strafkammern und große Jugendkammern an den Landgerichten auch zukünftig die Gelegenheit eröffnet werden soll, in bestimmten Fall- und Verfahrenskonstellationen mit zwei statt mit drei Berufsrichtern plus jeweils zwei Schöffen zu verhandeln und zu entscheiden. Von zentraler Bedeutung für die Entscheidung dieser Frage sind die Ergebnisse der Evaluation, die 2009 in Auftrag gegeben wurde. Deren Auswertung wie auch die Gründe aus dem Beschluss des BGH vom 7. Juli 2010 – 5 StR 555/09 – bieten eine gute Grundlage für die jetzt anstehenden Debatten im Rechtsausschuss, um eine Regelung zu finden, die weiterhin eine effiziente und qualitativ hochwertige Rechtsprechung möglich macht. Im Zuge dieser Evaluation wurden rechtstatsächliche Erkenntnisse erhoben und ermittelt, in welchem Umfang von der Besetzungsreduktion Gebrauch gemacht wurde. Ziel waren eine Analyse der Besetzungsreduktion in der Praxis und die Erkenntnis, welche Auswirkung sie auf die Dauer und Qualität des Verfahrens hat. Diese Untersuchung der Qualität der Rechtsprechung verdanken wir unserem früheren rechtspolitischen Sprecher Joachim Stünker, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin dieser Punkt in die Befragungen mit aufgenommen wurde. Nur auf der Basis dieser Evaluation kann also eine sachgerechte Entscheidung getroffen werden. Die Gutachter sind zu dem Schluss gelangt, dass eine komplette Rückführung zu einer Dreierbesetzung in einigen Fällen nicht notwendig ist und mit der aktuellen Haushaltslage auch nicht vereinbar ist, auch wenn ich hinzufügen will, dass im Vordergrund ausdrücklich rechtspolitische Erwägungen zu stehen haben und erst in zweiter Linie fiskalische. Justiz ist keine Unterabteilung des Finanzministeriums; ihr Funktionieren ist Bestandteil unserer rechtsstaatlichen Grundordnung. Betrachtet man aber die Zahlen, wie oft die Besetzungsreduktion in den letzten Jahren der Dreierbesetzung vorgezogen wurde, so lässt sich feststellen, dass diese bei vielen Gerichten überwiegt. Der Trend geht demnach zur Zweierbesetzung. Der Schluss, der sich daraus ziehen lässt, ist, dass die §§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG und 33 b Abs. 2 JGG zu viele Spielräume lassen. Dieses Defizit wird auch in den Gutachten herausgestellt. Der Versuch der Bundesregierung, des Problems der unbestimmten Tatbestandsmerkmale „Umfang“ und „Schwierigkeit der Sache“ durch einen Absatz 3 Herr zu werden, erweist sich jedoch als unzureichend. Indem lediglich beschrieben wird, unter welchen Voraussetzungen eine Dreierbesetzung erfolgen muss, kommt es de facto in allen anderen Fällen zu einer Zweierbesetzung. Das Gesetz zur Besetzungsreduktion, das im Dezember 2011 ausläuft, war jedoch nur dazu gedacht, dass geeignete Fälle in reduzierter Besetzung verhandelt werden. Die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesformulierung führt jedoch dazu, dass die Besetzungsreduktion nicht mehr nur die Ausnahme sein wird, sondern die Regel. Aus diesem Grund sollten § 76 II, III GVG und § 33 b II, III JGG keine Aufzählung für Fälle enthalten, die einen dritten Richter erfordern, sondern die Fälle konkretisieren, die nur zwei Richter erfordern. Nur auf diese Weise können eine Aushöhlung der §§ 76 VG, 33 JGG vermieden und eine Besetzung mit drei Richtern dort garantiert werden, wo sie erforderlich ist. Der BGH hat in seinem bereits zitierten Beschluss vom Juli 2010 deutliche Worte gefunden: Die Rechtspraxis gehe unsensibel mit der Besetzungsreduktion um. Bei einzelnen Landgerichten werde ausschließlich in Zweierbesetzung entschieden. Es sei angezeigt, den Begriff des „Umfangs der Sache“ gesetzgeberisch zu konturieren. Es ist also Zeit, dass wir als Gesetzgeber handeln. Der Entwurf der Bundesregierung zeigt in die richtige Richtung. Ob er auch in den einzelnen Regelungen und gesetzestechnisch so gelungen ist, werden wir uns genau ansehen. Wir werden uns auch kritisch mit den Anregungen auseinandersetzen müssen, die vom Bundesrat kommen. Dort ist im Rechtsausschuss beschlossen worden, dass auch in Verfahren, bei denen die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist, die Zweierbesetzung möglich sein soll. In Berufungshauptverhandlungen soll Zweierbesetzung möglich sein, auch wenn erstinstanzlich auf eine Jugendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde. Diese Anregungen gehen meines Erachtens in die falsche Richtung. Je größer der zu erwartende Grundrechtseingriff, desto wichtiger ist eine gut besetzte Richterbank. Eines ist klar: Sowohl die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes als auch der Bundesgerichtshof gehen davon aus, dass die Dreierbesetzung wegen ihrer strukturellen Überlegenheit der reduzierten Besetzung vorzuziehen ist. Das ist auch meine Ansicht. Zum Schutz der Betroffenen und auch der Richter sollte es deshalb bei der Dreierbesetzung bleiben, wenn der Grundrechtseingriff besonders groß ist. Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen und sage für meine Fraktion eine konstruktive Beteiligung zu. Mechthild Dyckmans (FDP): Das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung hat das Ziel, eine seit der Wiedervereinigung immer wieder befristet verlängerte Regelung nunmehr ohne zeitliche Begrenzung festzuschreiben. Ausgangspunkt war die damals geschaffene Möglichkeit, nach der Strafkammern unter Umständen auch nur mit zwei statt drei Berufsrichtern verhandeln durften. Anlass dafür war der seinerzeit bestehende Mangel an ausreichend qualifizierten Richtern. Ein solcher liegt heute zwar nicht mehr vor, jedoch hat sich die Verhandlung mit lediglich zwei Berufsrichtern in vielen Fällen bewährt. Insbesondere in – rechtlich und tatsächlich – einfach gelagerten Fällen soll auch in Zukunft in dieser Besetzung verhandelt werden können. Dies spart Personal, was anderen Verfahren zugutekommt, und trägt dennoch den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren ohne Qualitätseinbußen Rechnung. Dies belegt nicht zuletzt die von den Professoren Dölling und Feltes erarbeitete Studie, nach der sich kein Anhaltspunkt dafür finden lässt, dass Verfahren in der Besetzung mit zwei Richtern häufiger als andere die Einlegung von Rechtsmitteln zur Folge gehabt hätten. Insofern ist es durchaus sachgerecht, diese Möglichkeit auch weiterhin beizubehalten, was im Übrigen auch von der Bundesrechtsanwaltskammer grundsätzlich anerkannt wird. Andererseits gibt es selbstverständlich Verfahren, bei denen die klassische Besetzung mit drei Berufsrichtern zwingend ist. Grundsätzlich gilt dies im Umkehrschluss für alle Prozesse, die besondere Schwierigkeiten in rechtlicher, tatsächlicher oder beider Hinsicht aufweisen. Dem trägt der Gesetzentwurf durch die ausdrückliche Normierung solcher Fälle hinreichend Rechnung. An erster Stelle sind dabei diejenigen Fälle zu nennen, in denen das Gericht als Schwurgericht besonders schwere Straftaten verhandelt, die in der Regel auch mit einer besonders langen Freiheitsstrafe geahndet werden. Hier verlangt die einer solchen Straftat immanente Komplexität ebenso wie die mit der hohen Strafandrohung verbundene besondere Eingriffsintensität nach dem juristischen Sachverstand dreier Richter. Gleiches gilt für Verfahren, die für den Angeklagten mit einer über die Strafe hinausgehenden Rechtsfolge verbunden sein können – namentlich die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Da hier unter Umständen eine tatsächlich lebenslange Verwahrung ausgesprochen werden kann, muss diese Entscheidung besonders sorgsam abgewogen und getroffen werden. Schließlich stellt der Gesetzentwurf den Gerichten durch eine relativ offen gestaltete Regelung in § 76 Abs. 2 Nr. 3 GVG-E frei, auch in darüber hinausgehenden weiteren komplizierten Verfahren eine Besetzung mit drei Richtern zu wählen. Davon wird im Regelfall bei Verfahren mit einer Dauer von mindestens zehn Verhandlungstagen ebenso auszugehen sein wie bei Verfahren der großen Wirtschaftsstrafkammer, denen naturgemäß ein vielschichtiger Sachverhalt zugrunde liegt. Diese Beispiele sind jedoch keinesfalls abschließend, sodass den Gerichten genügend Spielraum bleibt, auch in anderen sensiblen Bereichen mit drei Richtern zu verhandeln. Wie bereits eingangs erwähnt, nimmt der Gesetzentwurf somit die guten Erfahrungen der letzten 20 Jahre auf und statuiert die Verhandlung mit zwei Richtern als Grundfall. Alle Verfahren, die eine höhere Entscheidungskompetenz erfordern, können auch in Zukunft mit drei Richtern durchgeführt werden. Für einen Großteil wird dies sogar zwingend. Damit werden Prozessökonomie und Rechtsstaatlichkeit in einen angemessenen Ausgleich gebracht. Ich weiß, dass durchaus auch Bedenken gegen den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf vorgebracht werden, und bin mir sicher, dass es uns gelingen wird, diese bei unseren Beratungen auszuräumen. Jens Petermann (DIE LINKE): Wir begrüßen den Versuch, die Notlösung in § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz nicht nochmals zu verlängern. Im Detail können wir dem Einbringer aber zum wiederholten Mal kritische Hinweise nicht ersparen. Worum geht es genau? Nach Herstellung der deutschen Einheit wuchs der Bedarf an Richtern und Staatsanwälten im Beitrittsgebiet kurzfristig stark an. Deshalb entschied sich der Gesetzgeber im Jahre 1993 für eine vorübergehende Notlösung. Er erlaubte den Großen Strafkammern an den Landgerichten, selbst über ihre Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern zu entscheiden. Die Rechtsgrundlage bildete § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz und war bis zum 28. Februar 1998 befristet. Danach sollte die Regelung auslaufen. Man ging davon aus, dass nach fünf Jahren genügend geeignete Juristinnen und Juristen zur Verfügung stehen. Tatsächlich war diese Vermutung bereits im Jahre 1998 auch eingetreten. Eine völlig andere Lage besteht aktuell. Die Zahl der offenen Stellen in der Justiz bleibt weit hinter der Zahl bestens geeigneter Juristinnen und Juristen zurück. Die Geschäftsgrundlage für die damalige Sonderregelung, nämlich der Mangel an geeigneten Fachkräften, ist also längst entfallen. Dennoch hat die Regierung die Ausnahmeregelung ohne Not mehrfach, meist im Zweijahresrhythmus verlängert. Die letzte Frist läuft am 31. Dezember 2011 ab. Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Motiven bei der Besetzung der Großen Strafkammern weiterhin Sonderrecht gelten soll. Eine Antwort könnte lauten: Kosteneinsparung in der Justiz. Durch die Regelung des § 76 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz wurden in jedem Bundesland – also nicht nur in den neuen Bundesländern – mindestens fünf bis zehn Richterstellen eingespart. Das hat die Finanzminister der einzelnen Länder offenbar so sehr gefreut, dass dieser Einspareffekt nun festgeschrieben werden soll. Damit wird nicht nur die viele Arbeit auf weniger Köpfe verteilt, es wird auch leichtfertig mit der Qualität des Strafprozesses gespielt. Dieser Einspareffekt muss die Bundesregierung bewogen haben, den heute zu debattierenden Gesetzentwurf vorzulegen und die Regelung nicht einfach am 31. Dezember 2011 auslaufen zu lassen. Auch der Justizminister der schwarz-gelben Regierung in Schleswig-Holstein fordert für die Großen Jugendkammern eine Besetzung mit drei Berufsrichtern. In einem Antrag für die Bundesratssitzung plädiert er für eine Streichung der Besetzungsreduktion bei den Großen Jugendkammern. Er argumentiert mit Qualitätssicherung, der großen Bedeutung von Jugendverfahren und fordert einen hohen Standard in Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Ich hoffe, viele Landesjustizminister werden seinem Beispiel folgen. Daneben bietet die Dreierbesetzung der Großen Jugendkammern laut Deutschem Richterbund die Möglichkeit der besseren Befassung mit dem Tatgeschehen, der Person des jungen Angeklagten und der erzieherisch gebotenen Sanktion. Damit können Rückfälle vermieden werden, deren volkswirtschaftliche Kosten die Mehrbelastung der Justizhaushalte bei weitem überwiegen. Mit dem vorliegenden Entwurf wollen Sie neben einer Vielzahl von Präzisierungen in den Zuständigkeitsregelungen den § 76 Gerichtsverfassungsgesetz und analog auch das Jugendgerichtsgesetz ändern. Zwar hat die Bundesregierung mehrere Regelbeispiele aufgenommen, die das Ermessen der Kammern bei der Selbstbestimmung ihrer Besetzung reduzieren. Es kann dennoch nicht hingenommen werden, dass ein Gericht selbst entscheidet, in welcher Besetzung es tätig sein will. Damit besteht die Gefahr der Ungleichbehandlung verschiedener Angeschuldigter vor den Großen Straf- und Jugendkammern und somit die Verfestigung unterschiedlicher Standards. Eine derartige Ungleichbehandlung würde gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen. Die Bundesregierung wiederholt hier den Fehler wie bei der Änderung des § 522 Abs. 2 und 3 Zivilprozessordnung. Beide Gesetze öffnen Tür und Tor für eine willkürliche und ungleiche Behandlung der Beteiligten in den Verfahren. Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus der unterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerichten. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in einem Gutachten: In verminderter Besetzung wurden zum Beispiel im Saarland 9 Prozent der Verfahren verhandelt und in Bayern und Sachsen 90 Prozent. Das heißt, in neun von zehn Verfahren wird im Saarland mit drei Richtern verhandelt und in neun von zehn Verfahren wird in Bayern nur mit zwei Richtern verhandelt, und das, obwohl der angeblich in allen Belangen vorbildliche Freistaat Bayern bekanntermaßen nicht zu den neuen Bundesländern mit angeblichem Richtermangel gehört. Dieses Ungleichgewicht vermag auch der vorgelegte Entwurf nicht zu beseitigen, sodass es besser wäre, die befristete Regelung einfach auslaufen zu lassen und zu dem über Jahrzehnte bewährten Rechtszustand vor 1993 zurückzukehren. Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fiskalischen Interessen der Länder unterzuordnen, erteilen wir eine klare Absage. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema, über das wir heute reden, beschäftigt die Rechtspolitik schon seit 1993. Es geht um die Frage, ob eine große Straf- oder Jugendkammer mit nur zwei statt drei Berufsrichterinnen und -richtern auskommt und, gegebenenfalls, für welche Strafverfahren dies festgelegt werden sollte. Mit anderen Worten: Es geht um die sogenannte Besetzungsreduktion. In diesem Zusammenhang wurde zu Recht bereits von einer „fast unendlichen Geschichte“ gesprochen; denn die zugrunde liegende Sonderregelung zur Besetzungsreduktion – Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – stammt ja bereits aus dem Jahre 1993 und wurde seitdem immer wieder verlängert. Nach § 76 Abs. 1 GVG sind die großen Strafkammern mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen zu besetzen. Zum 31. Dezember 2011 läuft nun die Regelung aus, wonach die großen Straf- und Jugendkammern auch beschließen können, in reduzierter Besetzung von nur zwei Berufsrichtern zu entscheiden. Der Gesetzgeber heute hat verschiedene rechtspolitische Optionen. Wenn sich die Regelung zur Besetzungsreduktion bewährt hat, kann sie noch einmal verlängert oder sogar entfristet werden. Wenn sich die Regelung aber nicht bewährt hat, kann sie auslaufen, mit der Folge, dass die Kammern wieder – wie vor 1993 – in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen verhandeln. Schließlich kann der Sachverhalt auch gänzlich neu geregelt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht die Koalition einen Mittelweg zwischen Entfristung und Neuregelung. Die Koalition legt drei Beispiele für die Besetzung mit drei Berufsrichtern in der Großen Strafkammer fest, die überwiegend an die bisherige Formulierung anknüpfen. Sie belässt es aber „im Übrigen“ bei der Möglichkeit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln. Sie hält also an der Möglichkeit der Besetzungsreduktion für große Strafkammern und Jugendkammern fest. Dabei ist eine Besetzung mit drei Berufsrichterinnen und -richtern künftig zu beschließen, wenn das Gericht „als Schwurgericht“ entscheidet, die Mitwirkung eines Dritten „nach Umfang und Schwierigkeit der Sache“ erforderlich ist oder – und das ist neu und greift insoweit eine Anregung der Großen Strafrechtskommission auf – die „Anordnung der Unterbringung in Sicherungsverwahrung oder einem psychiatrischen Krankenhaus“ zu erwarten ist. Für eine Besetzungsreduktion gab es in der mehr als 130-jährigen Entwicklungsgeschichte der Strafprozessordnung bis 1993 kein Beispiel. Der historische Gesetzgeber hatte damals ursprünglich beabsichtigt, damit nur auf die „Notsituation der Justiz in den neuen Ländern“ zu reagieren. Hierzu stellt der vorliegende Gesetzentwurf zu Recht fest, dass diese wiedervereinigungsbedingten Gründe heute nicht mehr gegeben sind. Der Gesetzgeber ist ursprünglich davon ausgegangen, dass die Besetzung mit drei Richtern die Ausnahme und die mit zwei Richtern die Regel sein sollte, im Zweifelsfalle sollte die Dreierbesetzung aber den Vorzug verdienen. In der Praxis ist die Besetzungsreduktion immer mehr zu Regel geworden. Wir Grüne finden diese rechtspolitische Entwicklung – Anstieg der Besetzungsreduktion von durchschnittlich 43 Prozent im Jahre 1994 bis auf 78 Prozent im Jahre 2009 – bedenklich. So wünschenswert es auch ist, dass man wieder zur ursprünglichen Dreierbesetzung zurückkehrt, so unwahrscheinlich und unrealistisch ist dies angesichts der Haushaltslage in den Ländern. Tatsächlich befürchten die Justizminister mit dem Auslaufen der bisherigen Regelung eine erhebliche zusätzliche Belastung für die Justiz und wollen deshalb – das haben sie auf ihrer Frühjahrskonferenz 2011 auch so festgehalten – zügig eine gesetzliche Grundlage schaffen, die dauerhaft eine Besetzungsreduktion ermöglicht. Sicher ist: Die Zahl der beteiligten Richterinnen und Richter allein bietet noch keine Gewähr für die Qualität der Entscheidungen. Aber sie erhöht die Wahrscheinlichkeit richtiger Urteile und damit auch die Rechtssicherheit. Die Vorteile einer Dreierbesetzung liegen dabei auf der Hand: Die Überzeugungskraft von drei Berufsrichtern und das Wissen des Angeklagten darum, dass der Sachverhalt von drei Berufsrichtern und den Schöffen überprüft worden ist, können zur Akzeptanz der Entscheidung und damit auch zum Rechtsfrieden beitragen. Der Gesetzgeber darf in Justizangelegenheiten Finanzierungsfragen nicht zum alleinigen Maßstab machen. Gleichwohl gibt es auch in der Justiz, mit einem übrigens vergleichsweise bescheidenen Haushaltsposten, einen Finanzierungsvorbehalt und die Justizhoheit der Länder. Der Gesetzgeber muss daher einen Ausgleich der betroffenen Interessen schaffen. Der vorliegende Entwurf wirft eine Reihe von Fragen auf: Zum einen sollten statt der ungenauen und auch immer wieder zur Aufhebung von Urteilen durch den BGH führenden Möglichkeit, durch das Gericht selbst eine Besetzungsreduktion vorzunehmen, klare gesetzliche Regelungen getroffen werden, wann in Zweier- und wann in Dreierbesetzung zu entscheiden ist. Künftig gibt es zwar gesetzliche Beispiele, aber das Gericht hat nicht mehr nur darüber zu beschließen, dass die Besetzung reduziert wird, sondern über jede Besetzung. Welche Vorteile dies gegenüber einer gesetzlichen Anordnung haben soll, lässt die Begründung offen. Zum anderen wird im Gesetzentwurf behauptet, dass künftig Reduktionsbesetzungen vorgenommen werden, ohne dass „Qualitätseinbußen“ in den Urteilen zu erwarten sind. Die mit der Besetzungsreduktion verbundene Gefahr, dass die Qualität der Entscheidungen leidet, hat der Gesetzgeber schon 1993 gesehen, glaubte aber, sie im Hinblick auf die besondere Lage für eine vorübergehende Zeit in Kauf nehmen zu können. Im aktuellen Gesetzentwurf wird dieser Sorge nun nicht einmal mehr Ausdruck verliehen. Nach Ansicht der Bundesrechtsanwaltskammer wird die vorgeschlagene Regelung der Bedeutung der Besetzung der großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern nicht gerecht. Die Voraussetzungen für eine Verhandlung mit nur zwei Richtern seien zu vage. Der BRAK-Alternativvorschlag geht den umgekehrten Weg: Er definiert anhand von Beispielen die Voraussetzungen, unter denen eine Besetzung mit nur zwei Richtern möglich ist. Dahinter steht wohl die unausgesprochene Annahme, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung das Regel-Ausnahme-Verhältnis zulasten der Dreierbesetzung zu stark ausweitet. Immerhin ist die bisherige Regelung nunmehr seit über 18 Jahren in Kraft, und es gibt ausreichend Forschungsergebnisse und Rechtspraxis, die zu einer umfassenden Bewertung und Evaluierung der Regelung herangezogen werden können. Das Bundesjustizministerium stützt sich dabei für den aktuellen Gesetzentwurf insbesondere auf zwei eigens in Auftrag gegebene Gutachten. Das Forschungsprojekt Dölling und Feltes vom 15. März 2011 bestätigt tatsächlich den Eindruck, dass die Zweierbesetzung in der Praxis stark zunimmt, insbesondere wenn man die Entscheidung den Gerichten durch unbestimmte Rechtsbegriffe weitgehend selbst überlässt. Interessanterweise gaben drei Viertel der befragten Richterinnen und Richter an, dass sie seltener von der Besetzungsreduktion Gebrauch machen würden, wenn ihr Landgericht personell so gut ausgestattet wäre, dass ihre Kammer problemlos in Dreierbesetzung entscheiden könnte. Das Gutachten der großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, an deren Vorschläge der Gesetzentwurf ja weitgehend anknüpft, hält zu Recht daran fest, dass die Dreierbesetzung von der Struktur grundsätzlich Vorteile gegenüber der Zweierbesetzung hat. Allerdings verschließt auch sie sich den haushaltspolitischen Zwängen nicht. Die Kommission geht davon aus, dass eine Rückkehr zur ausschließlichen Dreierbesetzung mit der gegenwärtigen Haushaltslage unvereinbar und auch rechtsstaatlich nicht in allen Fällen geboten sei, weil eine Vielzahl von Verfahren ohne durchgreifende Bedenken in der Zweierbesetzung bearbeitet werden können. Der Gesetzentwurf übernimmt zwar eine Reihe dieser Kommissionsvorschläge – zu begrüßen sind insbesondere die Beispiele der Unterbringung in Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus –, sieht jedoch davon ab, auch ein bestimmtes Maß an zu erwartender Freiheitsstrafe als Beispiel für eine Dreierbesetzung aufzunehmen. Der Entwurf lässt offen, warum. Eine hohe Freiheitsstrafe, beispielsweise die von der Kommission vorgeschlagene Freiheitsstrafe von acht Jahren, stellt für den Angeklagten eine vergleichbare erhebliche freiheitsentziehende Maßnahme dar wie in den genannten Beispielen. Das allein rechtfertigt es, dass sie in der Regel von drei Berufsrichtern verhängt werden muss. In vergleichbarer Weise sind ja bereits nach geltendem Recht Prognosen des mit der Sache befassten Gerichtes bei der Eröffnung des Hauptverfahrens vorgesehen, beispielsweise die Zuständigkeit des Schöffengerichtes bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, § 28 in Verbindung mit § 25 Nr. 2 GVG, und die Zuständigkeit des Landgerichts bei zu erwartender Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren, § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG. Die Prognose zur Zuständigkeit der Jugendkammern bei bestimmten Verbrechen und gleichzeitiger Straferwartung von mehr als fünf Jahren Jugendstrafe, § 41 Abs. 1 Nr. 5 1. Alt. JGG, hat der Gesetzentwurf ja ebenfalls aufgegriffen und sie zu einem zwingenden Grund für die künftige Dreierbesetzung der Jugendkammer erhoben, § 33 b Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 JGG-E. Hier greift der Entwurf etwas zu kurz. Wir Grünen sind der Auffassung, dass es hinzunehmen ist, wenn es auch künftig zu Besetzungsreduktionen kommt. Wir werden aber in den weiteren Beratungen darauf dringen, dass der Ausnahmecharakter der Besetzungsreduktion noch stärker im Gesetz zur Geltung kommt. Zumindest in allen Fällen, in denen es zu erheblichen freiheitsentziehenden Maßnahmen kommen kann, sollte auch eine Dreierbesetzung gewährleistet sein. Nur dann werden wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben können. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6905 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz erweitern – Drucksache 17/3747 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Erika Steinbach (CDU/CSU): Menschen sind keine Ware! Das sollte nicht nur unsere Grundüberzeugung, sondern auch Tatsache sein. Offiziell ist Sklaverei weltweit abgeschafft. Die Realität jedoch sieht erschreckend anders aus. Sklaverei und Menschenhandel florieren heute mehr denn je! Diese Verbrechen sind nicht weit zurückliegenden historischen Zusammenhängen zuzuordnen. Sie gehören zu den drängendsten Problemen unserer Zeit. Sie spielen sich auch nicht nur in fernen Regionen dieser Erde ab. Auf und zwischen allen Kontinenten werden Menschen gehandelt. Auch Europas Staaten sind Herkunfts-, Transit- und Zielländer dieses modernen Sklavenhandels. Auch Deutschland ist Zielland. Die Zahl der Opfer des Menschenhandels im Bereich der sexuellen Ausbeutung steigt jährlich. Vorwiegend sind Frauen und Mädchen betroffen. Aber auch als Zwangsarbeiter, als lebende „Ersatzteillager“ für menschliche Organe, als Zwangsverheiratete und Zwangsadoptierte werden Menschen ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt. Die „Ware“, von der hier die Rede ist, ist immer wieder verwendbar und mit geringem Aufwand zu beschaffen. Dieser Gedankengang zeigt, wie abgrundtief menschenverachtend das Geschäft mit Menschen weltweit betrieben wird. Laut einer Studie der International Labour Organisation werden jährlich 2,4 Millionen Menschen über Grenzen hinweg verkauft, gekauft und gegen ihren Willen in sklavereiähnlichen Verhältnissen gehalten. Die Vereinten Nationen sprechen sogar von bis zu 4 Millionen Menschen pro Jahr. Nichtregierungsorganisationen, wie „AntiSlavery International“, schätzen die Anzahl gehandelter Menschen sogar auf 27 Millionen. Verlässliche Zahlen über das Ausmaß des modernen Menschenhandels gibt es nicht. Statistiken sind rar, und die Dunkelziffer ist hoch. Eines aber ist sicher: Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es mehr Sklaven als heute. Interpol spricht vom drittgrößten grenzüberschreitendem Verbrechen nach Drogen- und Waffenhandel. Jedes einzelne dieser Schicksale ist eines zu viel! Es geht um Menschen, die durch Verführung, Betrug, Täuschung oder Zwang in Abhängigkeitsverhältnisse gebracht wurden, die sie brutaler Gewalt aussetzen. Sie werden eingesperrt, eingeschüchtert und ausgebeutet. Ihre Rechte auf persönliche Freiheit, auf körperliche Unversehrtheit, auf ein Leben frei von Sklaverei, Zwangsarbeit und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung werden in höchstem Maße verletzt. Wir müssen Mittel und Wege finden, um den barbarischen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Wir haben es mit einem sehr komplexen Verbrechen zu tun, dessen Bekämpfung aus drei Dimensionen bestehen muss: Vorbeugung, Schutz der Opfer sowie Strafverfolgung der Täter. Deshalb greift der Antrag, den wir hier beraten, auch zu kurz. Opferschutz ist einer der drei eng miteinander verbundenen und wichtigen Ansätze zur Bekämpfung des Menschenhandels. Ohne die Verfolgung der beiden anderen Ziele ist er geradezu wertlos, weil er die Täter unbehelligt lässt und die potenziellen Opfer nicht warnt. Auch über dieses Problem müssen wir dringend nachdenken. Männer, die als Freier zu Prostituierten gehen, müssen wissen, dass sie ihr Geld vielleicht mitten hinein ins organisierte Verbrechen tragen, dass sie möglicherweise schwersten Menschenhandel mitfinanzieren, dass sie das Leid von Menschen mit verursachen. Die Strafverfolgung nicht nur der Menschenhändler, sondern auch dieser Freier ist nötig. Denn ohne Nachfrage gäbe es kein Angebot! Staatliche Maßnahmen in den drei Bereichen Prävention, Schutz der Opfer und Strafverfolgung der Täter haben jüngst Wissenschaftler der Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit Forschern der London School of Economics and Political Science für 177 Staaten im Zeitraum von 2000 bis 2009 untersucht. Deutschland erreichte die höchstmögliche Punktzahl in allen drei Bereichen. Das ist ein Grund zur Freude. Nur sechs weitere Staaten konnten die gleiche Bewertung erreichen. Eines der wichtigen Forschungsergebnisse ist, dass positive „Ansteckungseffekte“ zwischen Nachbarländern zu verzeichnen sind. Staaten verbessern ihre Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels, wenn ihr Umfeld mit positivem Beispiel vorangeht. Bei aller Anpassungsfähigkeit der transnational organisierten Kriminalität besteht so Hoffnung, diesen menschenverachtenden Sumpf doch trockenlegen zu können. Durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit müssen die Menschen für das Thema sensibilisiert werden. Auch Wissen über das Verbrechen Menschenhandel und die Empörung darüber können treibende Kräfte für Veränderungen sein. Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung der Täter – ein Trio, kein Duo, kein Solo. Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute über einen Antrag der Faktion Die Linke, der sich mit der Bekämpfung des internationalen Menschenhandels und der Stärkung des Opferschutzes beschäftigt. Menschenhandel stellt eine der schlimmsten und menschenverachtendsten Formen internationaler Kriminalität dar. Die sogenannten Beschaffungsmärkte dieses globalen Phänomens liegen in der Dritten Welt, in Entwicklungsländern und in osteuropäischen Staaten. Bei den Zielländern handelt es sich aber ganz überwiegend um Länder der sogenannten Ersten Welt. Das trifft leider auch auf Deutschland zu, das als Ziel- und Transitland eine ganz zentrale Rolle im internationalen Menschenhandel spielt. Die konkreten Zahlen zu Umfang und Profit des Menschenhandels sind größtenteils ungesichert, da es insofern an belastbaren Daten bzw. statistischen Erhebungen fehlt. Bei allen Zahlen ist zudem nicht eindeutig, ob und inwieweit zwischen freiwilliger Sexarbeitsmigration und Zwang unterschieden wird. Seriöse Schätzungen zeigen jedoch, dass diese Form der organisierten Kriminalität gigantische Ausmaße angenommen hat. Das geringe Aufdeckungsrisiko und die – auch im Vergleich zu anderen kriminellen Geschäftsfeldern – enormen Gewinnmargen lassen den Schluss zu, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist und der Menschenhandel im Kontext der Globalisierung stetig weiter zunimmt. Im Februar 2008 fand im Rahmen der United Nations Global Initiative to Fight Human Trafficking das Wiener Forum gegen Menschenhandel statt, bei dem mehr als 1 200 Experten teilgenommen haben, um Strategien gegen den internationalen Menschenhandel zu suchen. Nach Schätzung der Experten und der UN wurden im Jahr 2008 weltweit 2,5 Millionen Menschen ausgebeutet, wovon die große Mehrheit junge Frauen und Kinder waren. Es wird zudem geschätzt, dass weltweit jedes Jahr weitere fast 700 000 Frauen und Mädchen verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Die Internationale Organisation für Migration geht davon aus, dass jährlich allein bis zu 500 000 Frauen und Kinder aus Mittel- und Osteuropa nach Westeuropa gehandelt werden. Ebenso gehen der Bericht der Parlamentarischen Versammlung vom Januar 2002 und der Bericht des United Nations Development Programmes aus dem Jahr 1999 davon aus, dass die Zahl der Menschenhandelsopfer in Europa bei bis zu 500 000 jährlich liegt. Der Profit, der im Bereich des internationalen Menschenhandels weltweit erzielt wird, liegt nach Erkenntnissen der UN und der Experten des Wiener Forums gegen Menschenhandel bei jährlich 32 Milliarden Dollar. Mit Blick auf Europa geht man davon aus, dass allein hier zwischen 7 und 13 Milliarden Dollar pro Jahr durch Frauenhandel und Zwangsprostitution verdient werden. Die Profite sollen nach Angabe des Europarates in den vergangenen zehn Jahren um 400 Prozent gestiegen sein. Das unendliche Leid, das die Opfer dieser Taten erfahren müssen, wird allerdings in keiner dieser Statistiken erfasst. Gespräche mit Beratungsstellen und Opferhilfen lassen aber ansatzweise erahnen, was den Opfern und hier insbesondere den Frauen in Deutschland und anderswo auf dieser Welt täglich widerfährt. Auf uns als Gesetzgeber lastet eine große Verantwortung, den Opfern zu helfen und Menschenhandel künftig effektiver zu bekämpfen. Dies erfordert gleichermaßen die Forcierung von Repression mit Blick auf die Täter und Prävention, Hilfe und Unterstützung mit Blick auf die Opfer. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der deutsche Gesetzgeber in den vergangenen Jahren bereits eine Reihe von Maßnahmen im Kampf gegen Menschenhandel und zum Schutz der Opfer ergriffen hat: Dazu zählt beispielsweise die umfassende Neuregelung der Strafvorschriften gegen Menschenhandel. Demzufolge sind nunmehr der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder der Ausbeutung der Arbeitskraft, aber auch die Förderung des Menschenhandels explizit unter Strafe gestellt. Des Weiteren haben wir im Jahr 2007 die Richtlinie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Menschenhandelsopfer aus Drittstaaten, die sogenannte Opferschutzrichtlinie, in nationales Recht umgesetzt. Sie dient der Bekämpfung des Menschenhandels und verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einer Reihe von Maßnahmen zugunsten jener Opfer, die bereit sind, mit den Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten zusammenzuarbeiten und sich als Zeugen zur Aufklärung und Verfolgung entsprechender Straftaten zur Verfügung zu stellen. Hierzu zählen insbesondere die Einräumung eines Aufenthaltsrechts zumindest für die Dauer des Strafverfahrens, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten sowie die medizinische Versorgung, Beratung und Betreuung. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben zeitnah eins zu eins umgesetzt. Nach geltendem Recht steht den Opfern aus Drittstaaten ein Recht zum vorübergehenden Aufenthalt für die Zeitdauer der Mitwirkung im Strafverfahren unter Befreiung von allgemeinen Erteilungsvo-raussetzungen zu. Zudem wurde im Aufenthaltsgesetz eine Ausreisefrist von mindestens vier Wochen als Bedenkzeit für eine Kooperation mit den zuständigen Behörden festgelegt. Darüber hinaus wird den Betroffenen für die Dauer des Aufenthaltstitels der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten eröffnet. Schließlich gewährleistet das Asylbewerberleistungsgesetz eine hinreichende medizinische Versorgung sowie Betreuung und Beratung. Keineswegs werden wir uns aber mit der Erfüllung der europarechtlichen Vorgaben zufriedengeben. So stehen wir im regelmäßigen Austausch mit Opferhilfen, Beratungsstellen und internationalen Hilfsorganisationen. Darüber hinaus koordinieren wir uns mit anderen Staaten und beobachten aufmerksam, welche Ansätze unsere internationalen Partner wählen. Dabei suchen wir ständig nach Wegen, wie sich der Kampf gegen Menschenhandel noch effektiver gestalten lässt. So prüfen wir beispielsweise, ob Elemente des sogenannten TVisums, das in den USA Menschenhandelsopfern ein sehr großzügiges Aufenthaltsrecht einräumt, auch auf Deutschland übertragen werden können. Zugleich müssen wir jedoch auch etwaige Missbrauchsgefahren im Blick haben, die solche Regelungen naturgemäß in sich bergen. Hier gilt es, eine ausgewogene Regelung zu finden. Aus Sicht der Union kann Menschenhandel nur dann wirksam bekämpft werden, wenn es gelingt, auch die Nachfrage spürbar und nachhaltig zu senken. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hat sich daher in der Vergangenheit wiederholt für einen Straftatbestand gegen den sexuellen Missbrauch von Menschenhandelsopfern ausgesprochen. Dieser präventive Ansatz fehlt in dem heute zur Beratung stehenden Antrag leider gänzlich. Darüber hinaus gibt es auch unter repressiven Gesichtspunkten durchaus strafrechtliche Ansatzpunkte, die es im weiteren Verfahren noch im Einzelnen zu prüfen gilt. Da Menschenhandel bekanntlich ein reines Kontrolldelikt ist, müssen wir Polizei, Ordnungs- und Strafverfolgungsbehörden geeignete Instrumente an die Hand geben, um an den Orten, an denen die Opfer sich aufhalten, auch Kontrollen durchführen zu können. Das Bundeskabinett hat zudem am 22. Juni 2011 den Entwurf des Gesetzes zum Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels verabschiedet. Damit wird das erforderliche Gesetzgebungsverfahren für den Beitritt zu diesem Übereinkommen eingeleitet. Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung einen weiteren Meilenstein für die internationale Bekämpfung des Menschenhandels. Mit dem Übereinkommen wird der Grundsatz der Nichtabschiebung bei Verdacht von Menschenhandel völkerrechtlich etabliert, und es wird eine Erholungs- und Bedenkzeit für die Opfer von mindestens 30 Tagen eingeführt. Geregelt werden außerdem die Gewährung von Aufenthaltstiteln für Opfer des Menschenhandels sowie soziale Rechte und das Recht auf Entschädigung. Das Übereinkommen zeichnet sich neben den Opferschutzregelungen durch einen effektiven und unabhängigen Kontrollmechanismus aus. Der Geltungsbereich umfasst alle Fälle von Menschenhandel und Ausbeutung und beschränkt sich nicht auf Fälle mit grenzüberschreitendem Charakter. Die Regelungen sind zudem Grundlage für die Fortentwicklung des EU-Rechts, zuletzt der Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer. Ich gehe davon aus, dass Bundesrat und Bundestag das Gesetz zügig verabschieden, sodass Deutschland dem Übereinkommen noch in diesem Jahr beitreten kann. Insofern hat sich dieser Punkt ihres Antrages bereits erledigt. Unsere Anstrengungen werden damit aber nicht enden. Während des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, der am 1. Juli beginnt, werden wir auch die Zusammenarbeit der Ostseeanrainerstaaten zur Bekämpfung von Menschenhandel weiter intensivieren. Wie Sie sehen, befassen gerade wir als Union uns intensiv mit diesem Thema. In den vergangenen Jahren konnten wir bereits wesentliche Verbesserungen bewirken. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft konsequent fortschreiten. Belehrungen und Vorhaltungen, wie sie im vorliegenden Antrag leider auch zu finden sind, sind daher völlig fehl am Platz. Im Interesse der Opfer sollten wir stattdessen sachlich und fraktionsübergreifend an geeigneten Lösungsansätzen arbeiten, mit denen wir diese widerwärtige Form der Kriminalität noch wirkungsvoller bekämpfen können. Für entsprechende konstruktive Gespräche stehen wir selbstverständlich zur Verfügung. So werden wir beispielsweise in Kürze im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe eine öffentliche Expertenanhörung durchführen, von der ich mir noch einmal wichtige Impulse erhoffe. Parteipolitische Spielchen, die nur der eigenen Profilierung dienen, führen uns jedoch nicht weiter. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Mit dem Menschenhandel lässt sich richtig viel Geld verdienen, mehr noch als mit Drogen und Waffen. Die ILO schätzt, es sind weltweit circa 32 Milliarden USDollar pro Jahr, bei 270 000 betroffen Menschen, allein in den Industriestaaten. Erzwungene Prostitution, Sklaverei und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse sind die häufigsten Hintergründe für Menschenhandel, und am häufigsten sind Frauen und Mädchen betroffen. Ein Blick in die Praxis und die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen von Menschenhandel: Neben dem Menschenhandel über Landesgrenzen hinweg gibt es in schwachen Staaten häufig auch Binnenverschleppung. Beispielsweise werden in Mexiko mexikanische Mädchen und Frauen in hoher Anzahl organisiert in die Prostitution gezwungen. Allein in diesem Land arbeiten mehr als 16 000 Kinder – Mädchen und Jungen – in der Prostitution. Dem Staat fehlt es an Rechtsstaatlichkeit und Erzwingungskompetenzen, um etwas dagegen auszurichten. In Ländern, die von Katastrophen heimgesucht werden, folgt in der Regel die nächste Katastrophe auf dem Fuß. Gibt es irgendwo einen Tsunami, Hurrikan oder ein Erdbeben, dann sind die Menschenhändler nicht weit. Im Chaos nach der Katastrophe sind sie gut organisiert. Menschenhändler sprechen Waisenkinder oder obdachlose Frauen an, bieten die Dinge, die sie am meisten brauchen: Wasser, Nahrung, die Suche nach Verwandten und Obdach. Organisationen wie Terre des Hommes und die Kindernothilfe berichteten darüber, dass in Haiti nach dem Erdbeben 2010 wohl Tausende Kinder – häufig ohne Identitätsprüfung – zu angeblichen Adoptionen ausgeflogen wurden. Ungezählt sind diejenigen, die nicht durch das Beben, sondern in dem Chaos danach verschwunden sind. Menschenhandel gibt es auch bei uns in Deutschland. 750 Fälle wurden 2009 vom Bundeskriminalamt registriert, und die Dunkelziffer liegt sicher weit höher. Erst am 9. September wurde eine 13jährige in einem Bordell in Oberhausen aufgefunden. Das türkischstämmige Mädchen wurde vor der Einschleusung in das Bordell auch von Ihren Entführern missbraucht und dann regelmäßig im Bordell vergewaltigt. Wie kommen solche Vorfälle zur Strafverfolgung? Die Anzeige- und Aussagebereitschaft von Menschen, die in die Prostitution oder sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse gezwungen werden, ist sehr gering. Das wissen wir seit Jahren. Ohne die Aussagebereitschaft der Opfer besteht aber nur eine geringe Chance, die Täter dingfest zu machen. Das BKA hat 2010 eine wissenschaftliche Studie erstellt, in der deutlich gemacht wird, welche Faktoren die Aussagebereitschaft der Opfer beeinflussen. Herausgekommen ist wenig Überraschendes: Während der Zwangsprostitution befinden sich die Opfer in einer akuten Zwangssituation. Sie und oft auch ihre Familien werden bedroht, ihnen werden „Schulden“ für ihren Transport und Handel zum „Abarbeiten“ auferlegt. Werden sie dann durch die Polizei aufgegriffen, bleibt die Angst vor den Täternetzwerken. Die Angst und Unwissenheit um Aufenthaltsstatus und Opferrechte kommen hinzu. Generell wurde die Polizei von den Betroffenen sehr negativ bewertet. Welche Erfahrungen wurden da außerhalb Deutschlands wohl mit der Polizei gemacht? Hinzu kommen falsche und enttäuschte Hoffnungen, fehlende Sprachkenntnisse und die Scham über das Erlittene. Wen wundert es, dass man darüber nicht sprechen will! Ganz zu schweigen ist von den Fällen, in denen Frauen in den Verfahren auch heute noch nicht als Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution erkannt, sondern als Mittäterinnen behandelt oder wegen Passvergehen angeklagt werden. Ein Beispiel aus der Studie des BKA: Eine Frau aus Osteuropa wird unter Täuschung nach Deutschland gebracht. Sie hat hier einen irregulären Aufenthaltsstatus, kann aber mithilfe ihrer Familie die Polizei verständigen. Sie erhält dann jedoch keine Sprachmittlung und versteht nicht, was die Polizei von ihr will. Am Ende wird sie wegen Passvergehens angeklagt – niemand hatte sie als mögliches Opfer von Menschenhandel gesehen, man hat sie nicht verhört oder berücksichtigt, dass sie es war, die die Polizei rief. Diese Probleme aus der Praxis sind in der EU und in Deutschland bekannt. Deshalb gibt es eine neue EU-Richtlinie vom März 2011. In dieser wird EU-weit eine gemeinsame Definition des Straftatbestands festgelegt, eine EU-Initiative, die ich wegen der Grenzenlosigkeit des Phänomens sehr begrüße. Darin wird außerdem geregelt, wie Menschenhändler wirksam bestraft werden, welche Verfolgungsmöglichkeiten es außerhalb der EU geben wird, welche besonderen Ansprüche auf Sonderbehandlung schutzbedürftige Betroffene haben und wie der Opferschutz und die Prävention ausgestaltet sein sollen. Zudem sollen die Implementierung überwacht und der Fortschritt regelmäßig geprüft werden. Wir brauchen nun die Ratifizierung der Richtlinie in Deutschland. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu der EU-Richtline liegt bereits vor, und hat nach meiner Meinung und nach Meinung vieler Opferverbände und NGOs einige Lücken. Die Bundesregierung ist leider der Ansicht, dass bei Ratifizierung der Richtlinie keine Änderungen im nationalen Recht notwendig seien. Das sehen wir anders. Ganz konkret ist aus den vorherigen Schilderungen abzuleiten: Erstens. Opfer, die als Zeuginnen aussagen, brauchen unmittelbar kompetente und zielgerichtete Beratung zur Minderung ihrer Offenbarungsangst. Die Polizei muss bei Feststellung eines Opfers von Menschenhandel sofort Beratungsstellen in den Prozess integrieren und in jedem Fall eine Sprachmittlerin oder einen Sprachmittler hinzuziehen, auch wenn das Opfer sich im Alltag auf Deutsch verständigen kann. Zweitens. Die Opfer brauchen umgehend eine Unterkunft, die ihrer Traumatisierung gerecht wird, medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten. Drittens. Bei Aussagebereitschaft muss ein sicherer Aufenthaltsstatus ermöglicht werden, über den auch eventuelle Kinder aus den Herkunftsländern nach Deutschland geführt werden können. Dies gilt in abgewandelter Form auch für Opfer aus NichtEU-Ländern: Sie müssen zumindest für einen gewissen Zeitraum einen Aufenthaltstitel und Unterstützungsleistungen erhalten, unabhängig von ihrer Aussagebereitschaft; § 25 Abs. 4 a. Viertens. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die Opferberatung und -hilfe anbieten, müssen finanziell abgesichert werden. Fünftes. Den Mitarbeiterinnen von Beratungsorganisationen muss endlich ein Zeugnisverweigerungsrecht zubilligt werden. Zudem muss die Bundesregierung bei Katastropheneinsätzen einen Schwerpunkt ihrer Arbeit darauf richten, Menschenhandel vorzubeugen. Kurzum: Opfer von Menschenhandel brauchen mehr Schutz, mehr Perspektive und mehr Betreuung und Beratung. Deshalb: Wir, die SPD-Fraktion, fordern die Bundesregierung auf, diese Lücken zu schließen und die Implementierung der EU-Richtlinie mit den notwendigen Änderungen im nationalen Recht zu begleiten. Pascal Kober (FDP): Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, mit dem sie den Menschenhandel bekämpfen und die Opfer dieser Verbrechen besser schützen möchte. Dieses Anliegen – nicht die Ausgestaltung ihres Antrages – finde ich richtig; denn im Zuge der europäischen Einigung ist vor allem der innereuropäische Menschenhandel aufgrund des Wegfalls der Grenzkontrollen gewachsen. Wir haben es hier mit einer Schattenseite europäischer Integration und internationaler Mobilität zu tun, der wir entschieden entgegentreten müssen. Dass sich auch die Opposition an der Suche nach Maßnahmen und Lösungen beteiligen will, begrüße ich. Nur kurz werde ich etwas zu den erschreckenden Fakten sagen. Zu Deutschland speziell ist zu sagen: Das Bundeslagebild Menschenhandel für das Jahr 2009 gibt an, dass 710 Opfer des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ermittelt werden konnten, was ungefähr einer Zunahme von 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. 87 Prozent der Opfer sind weiblich, und rund die Hälfte aller Opfer stammte aus osteuropäischen Staaten, größtenteils aus Rumänien und Bulgarien, also aus Ländern, für die die Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsbestimmungen in der EU während der letzten Jahre wesentlich erleichtert wurden. Hinsichtlich des Ausmaßes des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft kommt das Bundeslagebild zu dem Schluss, dass die vorliegenden Zahlen nicht belastbar sind. Es ist aber davon auszugehen, dass es an dieser Stelle eine hohe Dunkelziffer gibt. Fest steht hingegen, dass weltweit noch immer unvorstellbare Profite mit Menschenhandel, Ausbeutung von Arbeitskraft und Sklaverei erzielt werden. Expertenschätzungen zufolge beliefen sich im Jahr 2010 die weltweiten Einnahmen aus diesen Verbrechen auf 34 Milliarden Dollar. Dazu gehören beispielsweise der Menschen-, Frauen-, und Kinderhandel, die Zwangsprostitution oder auch das Rekrutieren von Kindersoldaten. Der Kinderhandel floriert vor allem in Zentral- und Westafrika, Jungen werden häufig als Kindersoldaten zwangsrekrutiert, Mädchen zu Prostitution und Pornografie gezwungen. Menschenhandel, Prostitution und Zwangsarbeit sind eng miteinander verbunden. Wo die individuelle Freiheit der Betroffenen dergestalt eingeschränkt wird, dürfen wir nicht wegsehen. Für die FDP ist klar, dass wir sowohl den Handel mit Menschen bekämpfen als auch die Opfer schützen müssen. Dass wir es mit dem Opferschutz ernst meinen, kann man daran sehen, dass wir bereits ein Gesetz zum Schutz der Opfer von Zwangsheirat auf den Weg gebracht haben. Dadurch werden einerseits die Täter bestraft, andererseits geben wir den Opfern hierzulande eine Perspektive. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die christlich-liberale Koalition mit dem Gesetzespaket zur Bekämpfung der Zwangsheirat, zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften eine neue Integrationspolitik auf den Weg gebracht hat. Dadurch ist uns der Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung gelungen, indem erstmals für minderjährige und heranwachsende geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen wurde. Wie Sie sehen, teilt die FDP-Fraktion das Anliegen der Kolleginnen und Kollegen der Linken, den Menschenhandel einzudämmen und dem Opferschutz mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Dennoch muss ich Ihren Antrag, den ich in der Sache unterstütze, ablehnen. Zwar betont er zu Recht die Notwendigkeit, Opfer von Menschenhandel besser zu schützen, umfassender zu betreuen und ihnen mehr Rechte zu geben, Ihr Antrag enthält allerdings auch einige Forderungen, die ich nicht unterstützen kann. Dafür bleiben andere wichtige Maßnahmen außen vor, die jedoch dringend geboten sind. Ich möchte hier nur einige Beispiele aus Ihrem Antrag herausgreifen. Anscheinend haben Sie sich, wie so häufig, über die Finanzierung Ihrer Forderungen keine Gedanken gemacht. Etwas wolkig verweisen Sie auf staatlich abgeschöpfte Gewinne aus dem Menschenhandel, die zur finanziellen Entschädigung der Opfer einzusetzen seien, ohne jedoch zu präzisieren, welche Gewinne Sie eigentlich meinen oder wie hoch Sie diese einschätzen. Weiter fordern Sie eine nationale Berichterstatterstelle, von der jedoch die tatsächlichen Opfer nur sehr indirekt profitieren würden. Dieser Vorschlag dürfte wohl eher Symbolpolitik sein. Auch halte ich Ihre Liste an Einzelforderungen, mit denen Sie die Opfer unterstützen wollen, für unausgegoren und nicht durchdacht. Statt das bestehende Netzwerk an Fachberatungsstellen konsequent in Hinblick auf die kommenden Herausforderungen auszubauen, listen Sie etwas willkürlich anmutende einzelne Maßnahmen auf. Schließlich gehen Sie mit keinem Wort darauf ein, wie Sie denn gegen die international agierenden organisierten Menschenhändler vorgehen wollen. Bei aller Notwendigkeit europäischen und innenpolitischen Handelns dürfen wir aber nicht die Hauptursachen von Menschenhandel aus dem Blick verlieren. Neben der kriminellen Energie der Täter sind es vor allem die großen Wohlstandsunterschiede zwischen den Ländern, die absolute Armut in den Herkunftsländern der Opfer, die mangelnde Bildung der Betroffenen und häufig das zum Teil auch berechtigte mangelnde Vertrauen der Opfer in die staatlichen Systeme. Denn wer die Erfahrung macht, dass den Strafverfolgungsbehörden in seiner Heimat kein Vertrauen entgegengebracht werden kann, der wird sich auch nur schwerlich in unserem Land an die Polizei wenden. Ich begrüße daher an dieser Stelle ausdrücklich das engagierte Eintreten des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, für Wohlstandentwicklung, Bildung und Rechtsstaatsbildung auf der Welt. Vorsorge ist immer besser als Nachsorge. Annette Groth (DIE LINKE): Kriege und Konflikte, wo immer sie stattfinden, führen zu einem unerträglich hohen Ausmaß an Gewalt gegen Mädchen und Frauen – so der jüngste Bericht von Amnesty International. Im Irak zum Beispiel sind Frauen von den Folgen des Krieges doppelt betroffen: durch ihren Status in einem Kriegsgebiet und durch ihr Geschlecht. Früher konnten im Irak viel mehr Frauen schreiben und lesen als in anderen Ländern der Region. Heute sind viele Frauen mittellos und leiden besonders an den Folgen des Krieges und der katastrophalen Sicherheitslage. Auch wenn es keine verlässlichen Zahlen gibt, wissen Organisationen und Expertinnen, dass der Handel mit Frauen zunimmt. Immer mehr Frauen werden Opfer von Zwangsprostitution und auch über die Grenze verschoben. So werden sie in die immer stärker globalisierte Sexindustrie hineingezogen. Irakische Frauenorganisationen, die dieses Tabu brechen und die Involvierung irakischer Politiker im Frauenhandel an die Öffentlichkeit bringen, kommen selbst in Gefahr. Anwältinnen, die die Rechte der Opfer vertreten wollen, sind zunehmend Opfer von Anschlägen. Zurzeit liegt bei der Regierung in Bagdad ein Gesetz gegen Menschenhandel in der Schublade. Eine Vertreterin von Norwegian Church Aid beklagt, dass es viel zu oft nur um Strafen für die Täter gehe. Die Stimmen der Opfer werden nicht gehört, oder sie werden sogar kriminalisiert. Dieses Problem kennen wir aus Deutschland. Laut polizeilichen Ermittlungsstellen sind auch in Deutschland im Rotlichtmilieu Menschenhandel, Nötigung, Erpressung und Gewalt an der Tagesordnung. Die Dunkelziffer ist hoch. Gerade erst vor wenigen Tagen wurden in Bielefeld zahlreiche Wohnungen und Bordelle mit dem Verdacht auf Menschenhandel durchsucht. Opfer sind heute meist Frauen aus osteuropäischen Ländern wie Bulgarien oder Rumänien. Vor allem junge Roma-Frauen aus diesen Ländern werden mit falschen Versprechungen eingeschleust. Manchmal werden sie auch von ihren Familien verkauft, wenn diese darin ihre einzige Überlebenschance sehen. Menschenhandel ist leider ein überaus profitables Geschäft, ungefähr so einträglich wie der Drogen- und Waffenhandel. Wenn wir den Menschenhandel bekämpfen wollen, müssen wir uns auch mit seinen Ursachen auseinandersetzen. Rassismus, Sexismus und nicht zuletzt globale wirtschaftliche Ausbeutung sind hier zu nennen. Was den Schutz der Opfer angeht, kann Deutschland es nicht einmal mit anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Italien aufnehmen. Es ist eine Schande, dass in Deutschland noch immer die Täter geschützt und die Opfer bestraft werden: Nach nur vier Wochen droht den Opfern von Menschenhandel in unserem Rechtsstaat die Abschiebung. Eine Reihe von Gesetzen fällt weit hinter europäische Rechtsstandards zurück. Viele Frauen sind schwer traumatisiert und benötigen angemessene Beratung und Rechtsbeistand. Daher fordert die Linke, den Opferschutz zu verbessern. Das heißt auch, die Rolle und Kompetenzen von Beratungsstellen zu stärken, auf die diese Frauen so dringend angewiesen sind. Um gegen den organisierten Menschenhandel anzugehen, müssen wir den Opfern einen sicheren Aufenthaltstitel gewähren. Bislang können in Deutschland die Opfer von Menschenhandel schon nach vier Wochen abgeschoben werden, wenn sie nicht bereit sind, gegen die Täter auszusagen. So wird mit der Angst der Opfer Politik gemacht. Das ist ein Skandal! Der Aufenthaltsstatus der Opfer darf nicht von der Bereitschaft, im Strafverfahren auszusagen, abhängig gemacht werden. Noch immer hat die Bundesregierung nicht die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert. Diese Ratifizierung ist dringend geboten, um den Zusammenhang zwischen Aussagebereitschaft der Opfer gegen die Täter und der Erteilung von sicheren Aufenthaltstiteln zu entkoppeln. Die Linke fordert für die Opfer von Menschenhandel einen verlängerbaren Aufenthaltstitel von mindestens sechs Monaten. Die Opfer von Menschenhandel benötigen psychische und soziale Beratung, Rechtshilfebeistand, kurz: Unterstützung, um sich wieder im Leben zurechtzufinden. Ihre Versorgung muss gewährleistet sein. All das kostet Geld. Daher begrüßt die Linke den Vorschlag des Instituts für Menschenrechte, einen Rechtshilfefonds für Opfer von Menschenhandel einzurichten. Bislang ist auch die Versorgung der Opfer in Deutschland mehr als mangelhaft geregelt. Mit einem Aufenthaltstitel haben die Opfer von Menschenhandel Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbeweberleistungsgesetz. Diese Leistungen liegen aber sogar noch 30 Prozent unter dem normalen Sozialhilfesatz. Sie berücksichtigen in keiner Weise die besondere Schutzbedürftigkeit der Opfer. Ein Vergleich mit Italien: Opfer von Menschenhandel erhalten dort einen Aufenthaltstitel für sechs Monate, mit der Aussicht der Verlängerung um ein Jahr. Mit dem Aufenthaltstitel haben sie Zugang zu sozialen Leistungen und können auch eine Arbeitserlaubnis erhalten. Es wird Zeit, dass Deutschland sein Bekenntnis zu den Menschenrechten in die Tat umsetzt und insbesondere diejenigen schützt, die vollkommen schutzlos sind. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie viele Menschen in Deutschland Opfer von Menschenhandel sind, wissen wir nicht. Die meisten von ihnen sind Frauen, oft sogar minderjährige, die unter Zwang sexuell ausgebeutet werden. Es werden jedoch auch immer mehr Fälle bekannt, in denen Menschen wie Ware verkauft werden, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Menschen, deren Arbeitsbedingungen in einem auffälligen Missverhältnis im Vergleich zu den Bedingungen anderer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen stehen, arbeiten in den unterschiedlichsten Branchen der Wirtschaft. Von der Fleischverarbeitungsindustrie über das Baugewerbe bis hin zum künstlerischen Gewerbe ist alles dabei. Alle Betroffenen stehen unter vielfältigen Formen von Druck, Zwang und körperlicher, sexueller sowie psychischer Gewalt. Dass etwas unternommen werden muss, um den Menschenhandel in Deutschland zu bekämpfen, sollte allen klar sein. Dafür reicht es nicht aus, die Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels zu ratifizieren. Es gilt, den Fokus auch durch gesetzliche Anpassungen auf die betroffenen Menschen zu legen. Es sollte nicht erst seit der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010 klar sein, dass bei der Bekämpfung von Menschenhandel in Deutschland ein opferzentrierter Ansatz nottut. Die Betroffenen von Menschenhandel sind nicht ausschließlich, aber überwiegend Migrantinnen und Migranten. In Deutschland ist eine Aufenthaltserlaubnis für Betroffene von Menschenhandel immer noch an deren Bereitschaft zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden gekoppelt. Dabei gilt es immer, zu bedenken, dass es sich bei den Betroffenen oftmals um psychisch schwer beeinträchtigte Menschen handelt. Sie befinden sich in einem fremden Land, dessen Sprache sie nur mangelhaft oder gar nicht beherrschen. Oft fühlen sie sich von den Täterinnen oder Tätern bedroht oder sind schlicht zu verängstigt im Umgang mit staatlichen Behörden, um auszusagen. Selbst wenn sie sich dazu entschließen, auszusagen, droht ihnen noch die Abschiebung: Sollten die Behörden ihre Aussagen als nicht gerichtsverwertbar betrachten, sind von Menschenhandel betroffene Migrantinnen und Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung nach einer Frist von vier Wochen verpflichtet, auszureisen. Sollte ihre Zeugenaussage verwertbar sein, ist die Aufenthaltsgenehmigung an die Dauer des Strafverfahrens gegen die Täter gebunden. Ist es abgeschlossen, sind Betroffene erneut ausreisepflichtig. Dies stellt in keiner Weise den von Europarat und -parlament geforderten opferzentrierten Umgang mit der Problematik des Menschenhandels dar und ist ein unhaltbarer Zustand. Zahlreiche Länder in der EU, wie Italien, haben die Richtlinie des Europarats schon heute besser umgesetzt als Deutschland. Ohne sofort gegen ihre Peiniger aussagen zu müssen, haben Betroffene dort die Möglichkeit, sich mit den Informationen über die Tat zunächst an Nichtregierungsorganisationen zu wenden und eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung mit Aussicht auf Verlängerung zu erhalten. Parallel durchlaufen sie ein Integrationsprogramm, in dem sie geschützt, begleitet, psychosozial unterstützt und für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden. Nach erfolgreichem Abschluss des Programms und Integration in den Arbeitsmarkt erhalten sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Auch in der Bundesrepublik Deutschland haben Opfer von Menschenhandel zahlreiche Rechte. Dazu gehören unter anderem der einklagbare Anspruch auf Schadenersatz, Schmerzensgeld, Entschädigung sowie auf Lohnauszahlung. Das ist gut und richtig, nur leider greifen diese Möglichkeiten nicht. Laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte nehmen die Betroffenen diese Rechte kaum wahr, weil sie sie entweder gar nicht kennen oder Angst um ihre Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten haben. Zu Recht: Aufgrund bestehender Meldepflichten droht ihnen die Ausweisung, wenn sie nicht als Betroffene von Menschenhandel anerkannt werden; das passiert derzeit leider nur selten. Auch im Falle einer Anerkennung haben sie oftmals aufgrund ihrer Ausreiseverpflichtung spätestens nach Ablauf des Strafverfahrens gar keine Möglichkeit mehr, zivilrechtlich Schadenersatz oder Arbeitslohn geltend zu machen. Aus all diesen Gründen fordern wir die Bundesregierung ein weiteres Mal auf, die EU-Richtlinie und die Entschließung des Europaparlaments angemessen umzusetzen und von Menschenhandel betroffenen Migranten endlich die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte wahrzunehmen. Meldepflichten der Behörden für Migranten ohne Aufenthaltstitel sind, wo sie Migrantinnen und Migranten daran hindern, zu ihren Rechten zu kommen, zu lockern, vergleiche Gesetzentwurf zur Verbesserung der sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, Bundestagsdrucksache 17/ 6167. Jedem Opfer von Menschenhandel muss außerdem unabhängig von der Bereitschaft, in einem Strafprozess auszusagen, mindestens eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt werden, die es zeitlich zulässt, Entschädigungs-, Schadenersatz- und Lohnansprüche geltend zu machen, Bundestagsdrucksache 17/6167. Ein menschenzentrierter Ansatz bedeutet auch, dass die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, eine neue soziale Perspektive zu entwickeln. Laut Art. 12 EU-Opferschutzrichtlinie haben die Opfer von Menschenhandel einen Anspruch auf Zugang zu Maßnahmen, die ihnen die Rückkehr in ein normales soziales Leben erleichtern. Das schließt Lehrgänge zur Verbesserung der beruflichen Fähigkeiten ebenso ein wie Sprach- und Orientierungskurse des Aufenthaltslandes. Besonders für Minderjährige ist der Zugang zum öffentlichen Bildungssystem elementar. Besondere Bedeutung bei der Unterstützung der Opfer von Menschenhandel kommt den nichtstaatlichen Organisationen zu. Damit sie ihre wichtigen Aufgaben ausüben können, muss die Bundesregierung sicherstellen, dass die Organisationen auf eine sichere und verbindliche Finanzierung zurückgreifen können. Diese und weitere Forderungen haben wir bereits in der letzten Wahlperiode in unserem Antrag „Menschenhandel bekämpfen – Opferrechte weiter ausbauen“, Bundestagsdrucksache 16/1125, vorgelegt. Die Bundesregierung muss sich, was die Menschenrechte betrifft, unter anderem am Umgang mit den Opfern von Menschenhandel messen lassen. Europa hat auf diesem Gebiet viel geleistet. Jetzt ist es an der Bundesregierung, die guten Vorgaben zu erfüllen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3747 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung des Abkommens vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 17/6257 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 17/6258 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 17/6259 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 17/6565 – Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Manfred Kolbe (CDU/CSU): Dem Deutschen Bundestag liegen heute drei Gesetzesentwürfe zur Ratifikation von überarbeiteten Doppelbesteuerungsabkommen vor. Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Damit können die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verbessert und Investitionshemmnisse aufgrund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden. Mit den Ländern Schweiz, Irland und Zypern wird nach dem heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch besser die Doppelbesteuerung nach OECD-Standard vermieden. Gleichzeitig ist mit besagten Ländern ein verbesserter Austausch in Steuersachen vereinbart, sodass wir mit der heutigen Ratifizierung dieser Abkommen Steuerhinterziehung noch wirksamer und effektiver bekämpfen können. Zunächst möchte ich aber auf die einzelnen Doppelbesteuerungsabkommen jeweils eingehen. Schweiz: Die steuervertraglichen Beziehungen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland reichen bis in das Jahr 1931 zurück; das bislang geltende Doppelbesteuerungsabkommen, DBA, wurde 1971 in Bonn unterzeichnet. Dieses wurde seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1972 dreimal, zuletzt mit Protokoll vom 12. März 2002, revidiert. Es enthält jedoch eine Informationsaustauschklausel, welche erheblich hinter dem weltweit anerkannten OECD-Standard zurückbleibt: Informationen zur Durchführung des innerstaatlichen Rechts werden derzeit nur bei beiderseits mit Freiheitsstrafe bedrohten Betrugsdelikten, das heißt in Fällen von Steuerbetrug oder Abgabenbetrug nach Schweizer Recht, nicht jedoch bei Steuerhinterziehung erteilt. Wesentlicher Gegenstand des am 27. Oktober 2010 unterzeichneten Änderungsprotokolls ist deshalb die gegenseitige – nun verbesserte – behördliche Unterstützung in Steuersachen und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch auf Ersuchen im Einzelfall auf der Grundlage der Informationsaustauschklausel in der aktuellen Fassung des Art. 26 des OECD-Musterabkommens für Doppelbesteuerungsabkommen. Das Änderungsprotokoll umfasst darüber hinaus vier weitere Komponenten, die zusammen eine ausgewogene Kompromisslösung bilden. Hierzu gehören eine umfassende verbindliche Schiedsklausel, die Senkung der Mindestbeteiligungsschwelle für die Gewährung einer Quellensteuerbefreiung für zwischengesellschaftliche Dividendenzahlungen, ein Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Abziehbarkeit von grenzüberschreitenden Zins- und Lizenzzahlungen bei Unternehmen entsprechend Art. 24 Abs. 4 des OECD-Musterabkommens für Doppelbesteuerungsabkommen sowie der temporäre Verzicht Deutschlands – bis einschließlich Veranlagungszeitraum 2016 – auf die Ausübung des Besteuerungsrechts für Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit von Mitgliedern des Bordpersonals von im internationalen Verkehr eingesetzten Luftfahrzeugen, die bereits vor dem 1. Januar 2007 in der Schweiz ansässig und bei einer deutschen Fluggesellschaft angestellt waren und seitdem noch sind. Irland: Das Abkommen vom 30. März 2011 orientiert sich am OECD-Musterabkommen in seiner aktuellen Fassung. Das bisherige Abkommen entspricht nicht mehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten, da sich insbesondere die gesetzlichen Vorschriften in beiden Staaten geändert haben. Deutschland hat im Jahr 2007 die Initiative ergriffen, das bisherige Abkommen durch ein modernes und den Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse besser angepasstes Abkommen zu ersetzen. Der Quellensteuersatz bei Dividenden in Höhe von 15 Prozent bei zwischengesellschaftlichen Beteiligungen wurde auf 5 Prozent herabgesetzt. Der Kassenstaat hat nunmehr ein Besteuerungsrecht für Sozialversicherungsrenten. Hat ein Vertragsstaat über einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren den Aufbau anderer Renten gefördert, hat er künftig das alleinige Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten verbleibt es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht des Wohnsitzstaats des Rentenempfängers. Für Tätigkeiten vor der Küste, zum Beispiel Offshore-Ölförderung und -erforschung, wurde eine 90-Tage-Frist für Erforschungstätigkeiten und eine 30-Tage-Frist für Fördertätigkeiten vereinbart, ab der ein Besteuerungsrecht des Küstenstaats besteht. Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftig den umfassenden Informationsaustausch und erstreckt sich nicht nur auf Bankenauskünfte, sondern auch auf Sachverhalte wie zum Beispiel die Bekämpfung von Geldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinanzierung. Zypern: Das in Nikosia am 18. Februar 2011 unterzeichnete Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen löst das bisherige Abkommen vom 9. Mai 1974 ab. Da das bisherige Abkommen nicht mehr dem Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten entspricht, hat Deutschland im Jahr 2004 die Initiative ergriffen, es durch ein modernes und den Anforderungen der gegenwärtigen Verhältnisse besser angepasstes Abkommen zu ersetzen. Strukturell und inhaltlich orientiert sich das neue Abkommen am OECD-Musterabkommen von 2003. Als Investitionsanreiz sind insbesondere die Absenkung des Quellensteuersatzes bei Dividenden aus zwischengesellschaftlichen Beteiligungen von bisher 10 vom Hundert auf 5 vom Hundert und die Minderung der Mindestbeteiligungshöhe von bisher 25 vom Hundert auf 10 vom Hundert zu nennen. Für Sozialversicherungsrenten haben nach dem neuen Abkommen Wohnsitz- und Kassenstaat ein geteiltes Besteuerungsrecht. Für sonstige Renten, Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen – mit Ausnahme von Wiedergutmachungsleistungen und Unterhaltsleistungen – verbleibt es bei dem ausschließlichen Besteuerungsrecht des Wohnsitzstaats des Empfängers. Der Methodenartikel sieht für die Bundesrepublik Deutschland nur die Anrechnungsmethode vor. Der bilaterale Auskunftsverkehr beinhaltet zukünftig den umfassenden Informationsaustausch nach dem Standard, den die OECD im Rahmen ihres Programms zur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbs entwickelt hat, und erstreckt sich nunmehr sowohl auf Bankenauskünfte als auch auf Sachverhalte wie die Bekämpfung von Geldwäschedelikten, Korruption und Terrorismusfinanzierung. Bewertung: Die heute vorliegenden Abkommen sind ein Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und zur Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbewerbs allgemein. Sie dienen weiterhin der Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den jeweiligen Vertragspartnern. Insbesondere hervorzuheben sei die große Bedeutung des Protokolls zur Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens mit der Schweiz. Auch wenn es sich hierbei nur um eine Teilrevision des Abkommens aus dem Jahr 1972 handele, sei die Bedeutung immens. Es ändere den im bisherigen Verhältnis mit der Schweiz sehr schwierigen Aspekt des Informationsaustausches. Dies stelle einen großen Erfolg dieser und der vorherigen Bundesregierung dar. Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die Verhandlungsvertreter der Bundesrepublik sehr gute Ergebnisse und Regelungen im Sinne unser Steuer- und Wirtschaftspolitik ausgehandelt haben. Trotz alledem müssen wir in diesem Hause darüber diskutieren, wie zukünftig Doppelbesteuerungsabkommen ausgestaltet werden sollen. Die Diskussion in dieser Woche im Finanzausschuss hat dabei gezeigt, dass die Methodik – Anrechnungs- oder Freistellungsmethode – von Land zu Land unterschiedliche Auswirkungen auf die Steuereinnahmen und/oder auf die wirtschaftliche Situation unserer Unternehmen haben kann. Hier gilt es künftig, zwischen den globalen Entwicklungsmöglichkeiten unserer Unternehmen, der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und der Verbesserung der Einnahmesituation des Fiskus abzuwägen. Heute aber haben wir zunächst über die drei vorliegenden ausgehandelten Abkommen abzustimmen. Die Unionsfraktion begrüßt die vorliegenden Gesetzesentwürfe und wird ihnen aus den von mir erläuterten Gründen zustimmen. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir behandeln heute drei Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz, Irland und Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung, wenn wir das Abkommen mit der Schweiz überhaupt so nennen wollen. Die Doppelbesteuerungsabkommen setzen den aktuellen OECD-Standard zu Transparenz und effektivem Informationsaustausch für Besteuerungszwecke um. Deutschland sowie die Schweiz, Irland und Zypern verpflichten sich in den jeweiligen bilateralen Abkommen dazu, auf Ersuchen Informationen, die für das Besteuerungsverfahren voraussichtlich erheblich sein werden, an die anfragende Stelle zu übermitteln. Zu diesen Informationen gehören auch Bankinformationen und Informationen über Anteilseigner an juristischen Personen. Angesichts der engen wirtschaftlichen Beziehungen mit den genannten Staaten, insbesondere mit der Schweiz, werden die zuständigen Steuerverwaltungen davon profitieren, wenn ihnen künftig bessere Instrumente für die zwischenstaatliche Amts- und Rechtshilfe zur Sachverhaltsaufklärung als erstem Schritt eines ordnungsgemäßen Besteuerungsverfahrens zur Verfügung stehen. Im Austausch mit der Schweiz stellt die Revision des Doppelbesteuerungsabkommens einen Paradigmenwechsel dar. Bislang war die Schweiz nur zur Leistung von Amtshilfe bei Betrugsdelikten, die beiderseits mit Freiheitsstrafe bedroht waren, verpflichtet. Diese Klausel stellte eine wirksame Abschirmung des Geschäftsmodells vieler Schweizer Banken dar; denn Amtshilfe musste nur in Fällen des Steuerbetrugs und des Abgabenbetrugs nach Schweizer Recht geleistet werden. Steuerhinterziehung hingegen ist nach Schweizer Rechtsverständnis nur eine Ordnungswidrigkeit. Mit der Neuregelung verpflichtet sich die Schweiz, auf Ersuchen die Informationen zu übermitteln, die im ersuchenden Staat für die Besteuerung „voraussichtlich erheblich“ sind. Diese Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Steuerangelegenheiten ist ein wichtiger Schritt, um die rechtliche Gleichstellung und behandlung aller Steuerpflichtigen zu erreichen, egal, ob sie ihre Einkünfte aus dem In- oder Ausland beziehen. Wir können das Abkommen mit der Schweiz allerdings erst dann angemessen bewerten, wenn wir auch die Regelung der sogenannten Altfälle, das heißt der unversteuerten Altvermögen, in die Überlegungen einbeziehen. Die Bundesregierung hat das zwischenstaatliche Abkommen über die Besteuerung bislang unversteuerter Kapitalerträge von Deutschen in der Schweiz heute unterzeichnet. Über den Inhalt dieses Abkommens ist bislang kaum etwas an die Öffentlichkeit oder das Parlament gedrungen. Die Bundesregierung hat unsere Anfragen stets mit dem Hinweis auf die angeblich erforderliche Geheimhaltung abgeblockt, um den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der Schweiz nicht zu gefährden. Die Vorsitzende von Transparency International nannte diese Art von „Geheimdiplomatie“ am vergangenen Dienstag „aus demokratischer Perspektive beschämend“. Es ist in der Tat eine peinliche Missachtung des Bundestags, des Bundesrats und der gesamten deutschen Öffentlichkeit, dass die einzig relevanten Informationen ausgerechnet auf der Internetseite der Schweizer Bankiersvereinigung zu finden waren. Ein merkwürdiges Verständnis von Transparenz! Schweizer Banken verweisen gerne darauf, dass ihr Geschäftsmodell auf Vertrauen und Vertraulichkeit, Seriosität und Schutz der Privatsphäre basiert. Mich ärgern diese wohlklingenden, meist in vornehmem Tonfall vorgetragenen Formulierungen, weil sie verschweigen, dass dieses System der Geheimkonten und Steuerschlupflöcher nur funktioniert, wenn anderen Staaten Steuereinnahmen verloren gehen. Um es in den Worten der Schweizer Bankiersvereinigung zu sagen: „In Deutschland steuerpflichtige Kunden von Banken in der Schweiz erhalten eine Brücke zur Steuerehrlichkeit bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Privatsphäre.“ Hier wird deutlich, dass das Gerede vom Schutz des Bankgeheimnisses in einem Staat meist Hand in Hand mit der Verstetigung von Steuerungerechtigkeit und Mindereinnahmen in einem anderen Staat geht. Wer Peer Steinbrücks klare und etwas ironisch gemeinten Worte für irritierend hält, der sollte sich ernsthaft darüber Gedanken machen, ob die eigentliche politische Geschmacklosigkeit nicht in diesem Geschäftsmodell auf Kosten Dritter beruht. Wenn man sich an den bislang verfügbaren Informationen orientiert, wundert man sich, woran genau die Bundesregierung denn nun genau den angeblichen Erfolg des Abkommens erkennen will und wer von den vorgesehenen Regelungen profitieren soll. Die weit überwiegende Zahl der ehrlichen Steuerpflichtigen in Deutschland können es nicht sein; denn für sie sind die angeblichen Verhandlungserfolge ein Schlag ins Gesicht. Reiche Privatpersonen dagegen, die in vielen Fällen über Jahre und Jahrzehnte hinweg ihr Vermögen im Ausland versteckt und die fälligen Steuern auf ihre Kapitalerträge hinterzogen haben, können sich zu sehr vorteilhaften Bedingungen der Nachstellung durch die Steuerverwaltung entziehen und bleiben weiterhin anonym. Auch die deutsche Steuerverwaltung wird das Verhandlungsergebnis kaum als Erfolg bezeichnen. Steuerfahnder dürfen künftig keine angekauften Steuer-CDs mit Daten über Steuerhinterzieher mehr nutzen, die ihr Vermögen dem Schutz des Schweizer Bankgeheimnisses anvertraut hatten. Mitarbeiter Schweizer Banken haben künftig keine Strafverfolgung mehr zu befürchten. Die Bundesregierung tut einfach so, als gäbe es diese Informationen nicht, als hätten Schweizer Banken nicht aktiv und in großem Stil „Lösungsmöglichkeiten“ für Steuerpflichtige angeboten, die nicht bereit waren, ihren Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens zu erbringen. Aber vielleicht vertrauen CDU, CSU und FDP auch darauf, dass schon ihre bloße Ankündigung von Steuersenkungen die Steuerhinterzieher in Scharen zurück nach Deutschland lockt. Wer braucht dann noch die Kavallerie der Steuerfahnder? Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden angesichts einer vorab zu leistenden Abschlagszahlung der Schweizer Banken von gerade einmal 2 Milliarden Schweizer Franken sonderlich profitieren werden. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass deutsche Steuerzahler Vermögenswerte zwischen 150 und 200 Milliarden Euro in der Schweiz verstecken. Bund, Länder und Gemeinden sollen also auf hohe Steuereinnahmen verzichten im Gegenzug für – ja, für was eigentlich? Vielleicht kann ein genauerer Blick auf einige der bislang bekannt gewordenen Regelungen hier zur Aufklärung beitragen: Für die Besteuerung künftiger Kapitalerträge gilt eine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge aus Vermögen deutscher Kunden in Höhe von 26,375 Prozent. Dieser Steuersatz gilt auch für Einkünfte, die bislang dem Steuersatz der EU-Zinsbesteuerungsrichtlinie in Höhe von 35 Prozent unterliegen. Der deutschen Steuerverwaltung wird das Recht zu „Kontrollmaßnahmen“ über die Umsetzung der Abgeltungsteuer eingeräumt. Unsere Steuerbehörden dürfen innerhalb von zwei Jahren etwa 1 000 stichprobenartige Auskunftsersuchen an Schweizer Behörden richten. Darin muss der Name des Steuerpflichtigen, nicht allerdings der Bank enthalten sein. Gemeldet werden von Schweizer Banken die Kontoverbindungen, nicht allerdings die Kontobestände. Wenn die deutsche Seite weitere Informationen zu gemeldeten Kontodaten erhalten möchte, muss sie ein normales Amtshilfegesuch nach Art. 26 OECD-MA stellen. Die stichprobenartige Abfragemöglichkeit erinnert etwas an den Versuch, einen U-Bahnschacht mit einer Taschenlampe auszuleuchten. Wir werden dadurch über die Steuerhinterzieher, die schon vor Jahren ihr Vermögen in Schweizer Depots versteckten, nichts erfahren; denn die Aufklärungsmöglichkeit bezieht sich lediglich auf Vermögenswerte, die neu, das heißt nach Abschluss des Abkommens, in die Schweiz transferiert wurden. Und Vermögen, die mittels der Pauschalzahlung abgeltend erfasst wurden, können nicht mehr Gegenstand der Kontrollabfrage sein. Die im Dunkeln sieht man also weiterhin nicht. Der Strahl der Steuerfahndertaschenlampe wird auch diejenigen nicht erfassen, die den langen zeitlichen Vorlauf bis zum Inkrafttreten des Abkommens nutzen, ihr dunkles Vermögen unerkannt in andere Länder zu transferieren. Schweizer Banken werden gegenüber deutschen Behörden lediglich eine saldierte, anonyme Meldung über aufgelöste Konten und Depots abgeben, die in eine andere Steueroase weiterwandern. Die Schweizer nennen das „Abschleich“; diese Formulierung trifft es wohl ganz gut. Denn bei einem Steuerschlupfloch groß wie ein Scheunentor wird man sich nicht wundern dürfen, wenn die Simulation entschlossener Steuerbeitreibung in einen leeren Anwendungsbereich verweist, weil sich die meisten Steuerhinterzieher schon längst vom Hof geschlichen haben. Jeder Steuerfahnder kann über diese Regelung nur den Kopf schütteln. Für unversteuerte „Altvermögen“, die schon vor Inkrafttreten des Vertrags in die Schweiz gewandert waren, sieht das Abkommen eine „Regularisierung“ vor. Bei diesem Begriff denke ich an Regeln, Vorschriften und Gesetze – Normen, an die sich alle halten und die alle gleich behandeln. Aber vielleicht habe ich hier ja etwas nicht richtig verstanden; denn von Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen, gar von Gerechtigkeit konnte ich in diesem „Ablasshandel“ nichts erkennen. Das Abkommen sieht ein Wahlrecht zwischen der einmaligen Abführung einer anonymen, rückwirkenden Abgeltungsteuer für bislang unversteuerte Kapitaleinkünfte und einer strafbefreienden Selbstanzeige nach deutschem Recht vor. Bei der ersten Möglichkeit zur Regularisierung von „Altvermögen“, der pauschalen, anonymen Abgeltungsteuer, liegt der Steuersatz zwischen 19 Prozent und 34 Prozent in Abhängigkeit von der Dauer der Kundenbeziehung mit dem Institut und dem Anfangs- und Endbetrag des Kapitalvermögens. Individuelle Besteuerungsmerkmale des Steuerpflichtigen spielen keine Rolle. Wie dieses Verfahren genau funktioniert, wie Bemessungsgrundlage und Steuersätze ermittelt werden, wissen wir nicht. Die Schweizer Bankiersvereinigung schätzt die durchschnittliche steuerliche Belastung unter Berücksichtigung von Verjährungsregeln allerdings deutlich geringer ein, nämlich auf etwa 20 bis 25 Prozent. Bei der pauschalen Besteuerung wird allerdings nur ein Zeitraum von zehn Jahren berücksichtigt. Das heißt, wenn man davon ausgeht, dass viele unversteuerte Altvermögen schon deutlich länger bestehen, vielleicht sogar schon vererbt wurden, wird die Bemessungsgrundlage künstlich begrenzt. Im Ergebnis werden erhebliche Kapitalerträge steuerfrei gestellt. Viele Steuerhinterzieher bleiben straffrei. Die Anonymität der Steuerhinterzieher bleibt gewahrt. Die Bundesregierung ignoriert dabei die schlechten Erfahrungen der USA – auch mit Blick auf das Steueraufkommen – mit einem anonymen Quellensteuerverfahren unter dem Qualified Intermediary Agreement mit der Schweiz. Die USA gehen in ihren Verhandlungen mit der Schweiz daher den umgekehrten Weg und streben die Übermittlung persönlicher Steuerdaten durch die Schweiz an. Aber angeblich ist die Wahrung der Privatsphäre ihrer Kunden eine nicht verhandelbare Position der Schweizer Bankiers, wenn man den Worten von Bundesfinanzminister Schäuble glaubt. Mit Blick auf die laufenden amerikanisch-schweizerischen und die britisch-schweizerischen Verhandlungen frage ich mich, ob die deutsche Seite ihre Karten geschickt und entschlossen genug ausgespielt hat. Ich würde die Bundesregierung auch gerne fragen, ob die pauschale Besteuerungsregelung insofern „abgeltend“ wirkt, als länger als zehn Jahre zurückliegende Vermögensbestände für den deutschen Fiskus endgültig außer Reichweite der Finanzämter geraten. Wir würden nichts über die Herkunft der unversteuerten Vermögen erfahren: Wurden sie legal erworben oder stammen sie aus illegalen Geschäften? Wir würden nichts über die Identität der Begünstigten erfahren: Woher stammen die Steuerhinterzieher, wie viele sind es, um welche Summen geht es? Und wir würden nichts über die Beteiligten in den Banken erfahren, die bei der Steuerhinterziehung mit Rat und Tat zur Verfügung standen: Wie arbeiten sie, welche Schleichwege bieten sie ihren Kundinnen und Kunden an, wie hoch sind die Provisionen? Die Wirkung der pauschalen Besteuerung zielt anscheinend auch darauf ab, dass damit auch Forderungen aus anderen Steuerarten abgegolten sind, etwa aus der vermögensbezogenen Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen oder den ertragsabhängigen Unternehmensteuern. Wenn man den tatsächlichen Steuersatz, der nach Einschätzung der Schweizer Bankiersvereinigung bei nur 20 bis 25 Prozent der Kapitalerträge liegt, beispielsweise mit dem Steuersatz von 50 Prozent für sehr hohe Vermögen in Steuerklasse II vergleicht, wird schnell deutlich, wie sehr steuerehrliche Bürgerinnen und Bürger erneut benachteiligt werden, wie stark unser Gerechtigkeitsempfinden ins Lächerliche gezogen wird. Die zweite Option für unversteuerte Altvermögen besteht in der steuerlichen Nacherklärung im Rahmen einer strafbefreienden Selbstanzeige. Hinsichtlich des Steuersatzes werden dabei die persönlichen Steuermerkmale des Steuerpflichtigen berücksichtigt; je nachdem liegt der Steuersatz also höher oder niedriger als der pauschale Abgeltungsteuersatz der Option 1. Für den Steuerhinterzieher beginnt mit Blick auf die Rendite und die absolute Höhe seiner Kapitalerträge in den vergangenen Jahren das Rechnen, ob eine Selbstanzeige mit Nachversteuerung zu jährlichen Hinterziehungszinsen von 6 Prozent oder eine pauschale Abgeltungsteuer günstiger ist. Es ist allerdings fraglich, ob diese Art der „Mitwirkung“ dazu beitragen kann, die Steuerehrlichkeit zu stärken und die Aufklärungsmöglichkeiten der deutschen Steuerverwaltung zu verbessern. Die deutsche Steuerverwaltung ist am Prozess der Erhebung und Abführung der Abgeltungsteuer nicht beteiligt. Vielmehr übernehmen Schweizer Banken die Ermittlung und Abführung der Kapitalertragsteuer, angeblich um die Anonymität des Verfahrens zu gewährleisten. Ich kann nicht erkennen, dass die Privatsphäre des Steuerhinterziehers besonders schützenswert ist oder Vorrang vor den Transparenz- und Aufklärungsgeboten der Steuerbehörden genießt. Umso schlimmer ist es, dass sich die Bundesregierung auf diese Aufgabenteilung einlässt. Aber offensichtlich verursacht es keine Bauchschmerzen bei Schwarz-Gelb, wenn ausgerechnet diejenigen Banken bei der Ermittlung und Abführung der Abgeltungsteuerbeträge mithelfen sollen, die zuvor Anleitungen zur Steuerhinterziehung gegeben haben. Mit einer belastbaren „Brücke in die Steuerehrlichkeit“ hat das wenig zu tun. Welche Steuereinnahmen können wir von der Regularisierung hinterzogener Vermögen aus der Schweiz erwarten? Schweizer Banken haben sich bereit erklärt, bei Inkrafttreten des Abkommens Anfang 2013 eine Abschlagszahlung als „Zeichen des guten Willens zur Umsetzung des Abkommens“ – so die offizielle Erklärung – in Höhe von 2 Milliarden Schweizer Franken zu leisten. Überschreitende Überweisungen werden verrechnet, bei unterschreitenden Beträgen haften die Banken für den Differenzbetrag. Ich wäre nicht überrascht, wenn es im Ergebnis schließlich auf einen Überweisungsbetrag hinauslaufen würde, der recht nahe an die Abschlagszahlung heranreicht – rein zufällig natürlich. Insgesamt ist das Verhandlungsergebnis mit der Schweiz ein schlagender Beleg für eine Bundesregierung, deren Kräfte vom internen Streit zwischen FDP und CSU, zwischen CDU und FDP und zwischen CSU und CDU aufgezehrt werden. Deshalb hat Deutschland auch ein Verhandlungsproblem in Europa, einen Schwächeanfall in den Verhandlungen über die European Financial Stability Facility, EFSF, und den Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM. Wie lange können wir uns diese Regierung noch leisten? Holger Krestel (FDP): Der FDP hat die Steuergerechtigkeit schon immer sehr am Herzen gelegen. Dies trifft aber nicht nur auf das eigene Land zu, sondern behält auch im internationalen Geldverkehr nach wie vor seine Gültigkeit. Darum ist es unabdingbar, dass wir mit anderen Staaten zusammenarbeiten, Vereinbarungen treffen und Abkommen schließen, um durch transparenten Informationsaustausch Bürger und Unternehmen, welche Wirtschaftsleistungen nicht in ihren Heimatländern erbringen, weiterhin gerecht und ordnungsgemäß besteuern zu können. Hierbei werden sowohl die Interessen der beteiligten Länder als auch die des Steuerpflichtigen geachtet und einbezogen. Es ist absolut inakzeptabel, dass Straftäter in Einzelfällen immer noch die Möglichkeit haben, Steuern zu hinterziehen und dabei von anderen Staaten Unterstützung erfahren. Wir haben in den letzten Jahren durch eine konsequente Politik der internationalen Zusammenarbeit zahlreiche Abkommen treffen und Lücken schließen können. Diesen erfolgreichen Weg wollen wir weiterhin gehen. Heute stehen hierzu drei Gesetzesvorschläge auf der Tagesordnung. Zwei davon, nämlich die zu den Abkommen mit Irland und Zypern, orientieren sich dabei sowohl inhaltlich als auch strukturell weitestgehend an den Vorgaben des OECD-Standards. Der dritte Vorschlag jedoch, welcher das Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft betrifft, beinhaltet einige wichtige Modifikationen zum bisher gültigen Abkommen. Allerdings drohten wir nicht mit der Kavallerie, sondern haben stets auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit unseren Partnern gesetzt. Denn der Erfolg in der Sache steht vor dem billigen Medieneffekt. Wer aus der Opposition heraus Maximalforderungen stellt, muss sich fragen lassen, was er aus seiner eigenen Regierungszeit außer dem Austausch von Verbalattacken vorzuweisen hat und ob ihm der Umgang zwischen souveränen, mitteleuropäischen Demokratien wirklich geläufig ist. Wir haben bei unseren Verhandlungen zwei wichtige Anliegen ins Gleichgewicht gebracht: Zum einen werden berechtigte Steueransprüche konsequent durchgesetzt, zum anderen wird die Privatsphäre der Kapitalanleger jedoch weiterhin geschützt, da Informationsanfragen nicht blind erfolgen dürfen und stets für den ersuchenden Staat „voraussichtlich erheblich“ sein müssen. Zudem können nun auch sämtliche Delikte weitergemeldet werden. Bisher galt das Abkommen nur für Betrugsfälle, und da unsere schweizerischen Freunde Steuerhinterziehung lediglich als Ordnungswidrigkeit mit Geldstrafen ahnden, war in vielen Fällen kein Informationsaustausch möglich. Diesen Missstand haben wir mit diesem Gesetz behoben und die Schweiz hat den hier gültigen OECD-Standard anerkannt. Künftig werden Erträge und Gewinne aus Vermögenswerten deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz mit grundsätzlicher Abgeltungswirkung besteuert anfallen. Da das Abkommen jedoch auch in die Vergangenheit wirkt, wird auch bisher unversteuertes Vermögen erfasst und auf Basis des Abkommens nachbesteuert. Wir haben zudem die Basis unserer Wirtschaftsbeziehungen gestärkt, indem wir schweizerischen Kreditinstituten den Marktzugang in Deutschland erleichtert haben. Es wird in Zukunft weniger administrative und bürokratische Hürden in der internationalen Zusammenarbeit von deutschen und schweizerischen Banken geben. Dies gilt insbesondere für die Durchführung des Freistellungsverfahrens für schweizerische Institute in Deutschland, welches enorm vereinfacht wurde. Die Pflicht zur Anbahnung von Kundenbeziehungen über ein Institut vor Ort wurde ebenfalls aufgehoben. Mit diesen Maßnahmen stärken wir den Markt und sorgen für mehr Wettbewerb, wirtschaftliche Möglichkeiten und Entwicklung. Vor allem aber wird es aus Deutschland heraus immer schwerer, Steuern durch die Flucht ins Ausland zu hinterziehen. Das sorgt für Gerechtigkeit und Mehreinnahmen für unseren Staat, nachdem internationale Abkommen viel zu lange vernachlässigt wurden. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Schongang bei Doppelbesteuerungsabkommen und roter Teppich für Steuerbetrüger durch das Schweizer Zusatzabkommen! Die Bundesregierung sagt, sie werde die Bemühungen im Kampf gegen die internationale Steuerhinterziehung weiter vorantreiben. Ja, sie wollte auch für Steuerentlastungen sowie ein gerechteres Steuersystem sorgen. So steht es in ihrem Koalitionsvertrag. Doch Fehlanzeige! Keine Steuerentlastungen und auch von Steuergerechtigkeit kann keine Rede sein, betrachtet man aktuelle Verteilungsstatistiken zur Entwicklung von Einkommen und Vermögen. Ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Steu-erbetrug sind Doppelbesteuerungsabkommen. Um die geht es heute, genau gesagt, um die mit der Schweiz, Irland sowie Zypern. Mit diesen Doppel-besteuerungsabkommen soll eine Doppelbesteuerung von Steuerpflichtigen vermieden werden. Da sich die Welt in einem ständigen wirtschaftlichen wie technologischen Wandel befindet, müssen diese zwischenstaatlichen Verträge ab und zu an die aktuelle wirtschaftliche Lage angepasst werden. Sie sind aber auch nötig, um bisher vor dem Fiskus verstecktes Geld sowie Vermögen offenzulegen, und es der Besteuerung zu unterziehen. Wir, die Linken, werden uns bei den vorliegenden Doppelbesteuerungsabkommen enthalten, weil wir der Ansicht sind, das Steuerhinterziehung nicht wirklich bekämpft wird, dass weitreichendere Änderungen nötig sind und auch möglich gewesen wären. Das heute von der Bundesregierung unterzeichnete Zusatzabkommen mit der Schweiz lehnen wir hingegen strikt ab; denn dieses ist ein Affront gegen die Steuergerechtigkeit. Bei den uns hier vorliegenden Doppelbesteuerungs-abkommen begrüßen wir, dass bei Zypern durchgängig die Anrechnungsmethode – von uns seit langem gefordert – Anwendung finden soll. Allerdings kritisieren wir, dass ein veralteter OECD-Standard für den Informationsaustausch gelten soll. Auch beim Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz sollen Auskünfte nur auf Ersuchen hin möglich sein. Prinzipiell halten wir den OECD-Standard nicht mehr für ausreichend, um Steuerbetrug wirksam zu bekämpfen. Nötig ist endlich ein automatischer Informationsaustausch, den die Bundesregierung unabhängig vom OECD-Standard vorantreiben könnte. Solange es aber bei Auskunft auf Ersuchen bleibt, können sich Steuerbetrüger wohl weiterhin sicher wähnen. Das Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz wird noch durch das heute unterzeichnete Zu-satzabkommen ergänzt und soll Altfälle sowie zukünftige Fälle regeln. Die Bundesregierung heftet sich den vermeintlichen Verhandlungserfolg mit der Schweiz an die Brust. Dabei muss man das Zusatzabkommen genauer ansehen. Es ist ein Affront gegen die Steuergerechtigkeit. Steuerbetrüger können sich mit diesem Abkommen mehrfach freuen und sich wie auf Rosen gebettet fühlen. Die Altfälleregelung gleicht einem Ablasshandel. Für Altfälle ist geplant, auf bislang unversteuertes Geld in der Schweiz – Schätzungen gehen von bis zu 300 Milliarden Euro aus – für die vergangenen zehn Jahre eine pauschale Steuer zwischen 19 und 34 Prozent zu erheben, je nach Dauer der Kundenbeziehung sowie des Anfangs- und Endbetrages des Kapitalbestandes. Dabei sollte das doch egal sein, Steuerbetrug bleibt Steuerbetrug, und dieser ist eben eine Straftat. Mit der Pauschalnachversteuerung profitieren Steuer-flüchtlinge; denn vor Einführung der Abgeltungsteuer hätte für sie wohl eher der Einkommenspitzensteuersatz Anwendung gefunden. Zudem dürfen sie straffrei ausgehen und anonym bleiben. Das ist nicht nachvollziehbar und gehört dringend geändert. Für zukünftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zinsen und Dividenden eine Quellensteuer von 26,375 Prozent, inklusive Soli, zu erheben. Aber ob das so alles funktioniert, wenn allein die Schweizer Banken zuständig sind, muss erst einmal abgewartet werden. Skandalös ist auch die vertragliche Verpflichtung seitens der Bundesregierung, keine weiteren Steuer-CDs mehr aus der Schweiz zu kaufen. Da wundert es nicht, dass die Schweizer Bankiervereinigung von einem Meilenstein für den Finanzplatz Schweiz spricht; so auch nachzulesen in einem 21seitigen Papier von Swiss Banking. Auch heißt es dort, dass die Lösung, wie es sie mit Deutschland gab, ebenfalls mit anderen europäischen Ländern angestrebt wird. Das hat nichts mit Steuergerechtigkeit zu tun, sondern dient nur den Interessen der Banken. Es wird Zeit, dass die Bundesregierung nachbessert und das Zusatzabkommen mit der Schweiz nachverhandelt, zum Wohle aller ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Kapital ist ein flüchtiges Reh“, heißt es. So wichtig offene Grenzen für den internationalen Warenaustausch gerade für die starke Exportnation Deutschland sind, so wichtig ist aber auch Transparenz der Geldströme. Denn vor allem „schwarzes“ Kapital flüchtet vor den deutschen Steuerbehörden, obwohl Einkünfte aus Kapitalzinsen in Deutschland nur mit einer pauschalen Abgeltungsteuer von 25 Prozent belegt sind. Von Experten wird vermutet, dass allein in der Schweiz nicht deklariertes Schwarzgeld von deutschen Steuerbürgern in der Höhe von 150 bis 200 Milliarden Euro liegt – Kapital, das am deutschen Fiskus vorbei ins Ausland transferiert wurde. Deshalb kämpfen wir Grüne seit langem für eine Verbesserung des Informationsaustausches in den Doppelbesteuerungsabkommen. Daher begrüßen wir die vorgelegte Abkommensänderung und die Erklärung der Schweiz, sich zum Informationsaustausch und zu den OECD-Standards zu bekennen. Diese Änderung ist als Schritt in die richtige Richtung zu werten, geht jedoch nicht weit genug. Um echte Transparenz herstellen zu können, brauchen wir einen automatischen Informationsaustausch ohne Begrenzung der Menge der Informationsanfragen. Denn für effektive Bekämpfung der Steuerflucht reicht das OECD-Musterabkommen nicht aus: Nur in einem konkreten Verdachtsfall wird ein Informationsgesuch an den Vertragsstaat übersandt, und nach entsprechender Prüfung durch die Behörden des Landes soll Auskunft über den konkreten Fall gegeben werden. Es ist jedoch sehr schwierig, genug Indizien für Steuerhinterziehung zu sammeln, bevor die Behörden des anderen Landes Auskunft geben. Genau aus diesem Grund wurde mehr als zehn Jahre in der Europäischen Union die sogenannte Zinsrichtlinie verhandelt. Im Rahmen dieser Zinsrichtlinie ist ein automatischer Informationsaustausch vereinbart worden. Wir sind fast am Ziel. Die letzten Widerstände in Österreich, Luxemburg und Belgien dürften bald überwunden werden. Wenn in dieser Situation aber eine Regelung zwischen Deutschland und der Schweiz eingeführt wird, die unterhalb der in Europa verhandelten Linie bleibt, ist abzusehen, was passiert: Länder wie Österreich, Luxemburg und möglicherweise weitere Länder werden die in Europa verabredeten Transparenzregeln nun doch nicht umsetzen. Die Zinsrichtlinie muss unser Maßstab bleiben und darf durch ein bilaterales Amnestie- und Abgeltungsteuerabkommen mit der Schweiz nicht unterlaufen werden. Die USA haben in ihren Verhandlungen mit der Schweiz gezeigt, dass das Bestehen auf einem Informa-tionsaustausch nicht nur möglich, sondern auch erfolgreich sein kann. Die Bundesregierung hat dagegen einen schlechten Deal gemacht, der von den vereinbarten Ablasszahlungen nur notdürftig überdeckt werden kann. Der öffentlich vorgetragenen Argumentation, zum Beispiel von Herrn Wissing von der FDP, kann ich gar nicht folgen: Mit Hinweis auf die 1,6 Milliarden Euro, die die Schweiz verpflichtend als Ablass bezahlen will, fordert er die Zustimmung zum Steuerabkommen mit der Schweiz. Diese Summe beträgt gerade einmal 1 Prozent der vermuteten Schwarzgelder in der Schweiz. Deutschland wird diese Summe aber nie nachprüfen können; denn in dem Abkommen mit der Schweiz sind Nachforschungen explizit ausgeschlossen. Das Abkommen würde bei einer Ratifizierung mehr steuerliche Ungerechtigkeit bringen und würde die Verfolgung von Steuerhinterziehung praktisch unmöglich machen. Die anonyme Abgeltungsteuer führt zu einer Amnestie für Steuersünder. Der ehrliche Steuerzahler wird so der Dumme. Auch Vergehen wie Erbschaftsteuerbetrug und Geldwäsche bleiben durch die Anonymität im Dunkeln. Zukünftige Steueränderungen in Deutschland, mit denen eine gerechtere Besteuerung von Kapitaleinkünften umgesetzt werden soll, würden erschwert. Zudem muss die deutsche Finanzverwaltung Kompetenzen ohne weitere Prüfmöglichkeit an die Schweizer Banken abgeben und hat viel zu beschränkte Möglichkeiten für die Verfolgung von Steuerhinterziehung. Abschließend zu den Doppelbesteuerungsabkommen mit Zypern und Irland. Wir begrüßen im Grundsatz das Abkommen mit Zypern, da dieses, wie von uns Grünen gefordert, die Anrechnungsmethode vorsieht. Beim Abkommen mit Irland befürworten wir ausdrücklich die Aktivitätsklausel. Allerdings wäre gerade bei einem Niedrigsteuerland wie Irland die Anrechnungsmethode und nicht die Freistellungsmethode dringend erforderlich. Bei der Anrechnungsmethode würde eine steuerlich motivierte Verlagerung von Steuersubstrat verhindert, weil in diesem Fall die Einkünfte trotzdem der höheren deutschen Steuer unterliegen würden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung des Abkommens vom 11. August 1971 mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6257 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 30. März 2011 mit Irland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6258 unverändert anzunehmen. Die Denkschrift zu dem Abkommen soll mit der vom Finanzausschuss beschlossenen Maßgabe geändert werden. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 18. Februar 2011 mit der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6565, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 17/6259 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte wiederum diejenigen, die dem zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Menschenrechtslage in Westsahara – Drucksachen 17/4440, 17/4994 – Berichterstattung: Abgeordnete Sibylle Pfeiffer Christoph Strässer Marina Schuster Annette Groth Tom Koenigs Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll. Frank Heinrich (CDU/CSU): Von der Weltöffentlichkeit weithin unbemerkt schwelt in der Westsahara seit nunmehr 36 Jahren eine Situation, die völkerrechtlich und menschenrechtlich höchst problematisch ist. Als Leiter einer Delegation des Menschenrechtsausschusses habe ich mir im Juni ein eigenes Bild vor Ort machen können. Es war, gelinde gesagt, bedrückend. Neben den Besuchen in den Flüchtlingslagern selbst und den Gesprächen mit Sahraui sowie Vertretern der Polisario sprachen wir mit marokkanischen Politikern, darunter der Menschenrechtsbeauftragte Marokkos, über die Situation. Es gab einige überraschend positive Eindrücke, etwa die erstaunlich hohe Bildung der Sahraui oder die hohe Quote von Frauen in leitenden Funktionen und politischen Ämtern. Und doch überwog das erwähnte Gefühl der Bedrückung. In den Flüchtlingslagern wächst eine Generation heran, die noch niemals in Freiheit gelebt hat. Gut ausgebildete junge Menschen haben keine Perspektive: weder auf Arbeit oder Wohlstand, noch auf freie demokratische Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Land – ja, sie wissen nicht einmal, ob der völkerrechtliche Status der Westsahara zu ihren eigenen Lebzeiten geklärt werden wird. Dass hier ein Nährboden für extremistisches Gedankengut zumindest entstehen kann, liegt auf der Hand. Bedrückend war ferner die spürbare Gängelung selbst einer offiziellen Delegation wie der unseren durch die marokkanische Seite. Medien und Gesprächspartner wurden vorausgewählt, unsere selbstentworfene Agenda durcheinandergewirbelt, politischer Druck wurde auf uns ausgeübt. Der marokkanische Botschafter war ausgesprochen bemüht, die diplomatischen Wogen zu glätten. Doch es bleibt zu bemerken: wir haben etwas von der Unfreiheit der Sahraui am eigenen Leib zu spüren bekommen. Auch deshalb begrüße ich die heutige Debatte im Bundestag. Die menschenrechtliche Lage in der Westsahara braucht Öffentlichkeit. Nicht umsonst verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 28. April 2011 einstimmig die Resolution 1979 zur Lage in der Westsahara und zur Verlängerung des Mandats der VN-Mission MINURSO. Diese Resolution bringt in der Präambel erstmals die Notwendigkeit der Verbesserung der Menschenrechte in der Westsahara und den Lagern in Tindouf zur Sprache. Ich zitiere aus der Erklärung des Sicherheitsrates vom 27. April 2011: The Council stressed the importance of improving the human rights situation in Western Sahara and the Tindouf camps and encouraged the parties to work with the international community to develop and implement independent and credible measures to ensure full respect for human rights. Eine wesentliche Forderung des Antrags von Bünd-nis 90/Die Grünen, nämlich „sich selbst und im Rahmen der EU stärker als bislang bei den Vereinten Nationen für eine dauerhafte Lösung des Konflikts einzusetzen und sich für die Durchführung des 1991 in der VN-Resolution 690 avisierten Referendums stark zu machen oder aber sich im VN-Sicherheitsrat für eine neue Resolution einzusetzen“ – Quelle: Drucksache 17/4440 –, ist damit, zumindest für den Moment, erfüllt. Das begrüße ich ausdrücklich! Dem Antrag, wie er uns vorliegt, kann ich dennoch nicht zustimmen. In einigen Punkten muss ich widersprechen, in anderen gehen mir die Forderungen nicht weit genug. Lassen Sie mich zur Erläuterung zunächst noch etwas ausholen und auf die Entstehungsgeschichte des Konflikts eingehen. Das Auswärtige Amt beschreibt den umstrittenen völkerrechtliche Status der Westsahara: Das Gebiet war nie eine staatliche Einheit, sondern durch Stammesverbindungen, Handelsstraßen und Lehnsabhängigkeiten lange an Marokko gebunden, ohne historisch zum Territorium Marokkos zu gehören. Hieraus leitet Marokko seinen Territorialanspruch ab. Seit 1884 spanische Kolonie, wurde die Westsahara 1963 von den Vereinten Nationen in die Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung aufgenommen ... Laut Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) aus dem Jahr 1975 handelte es sich bei dem Gebiet weder um eine sogenannte terra nullius, noch bestanden zum Zeitpunkt der Kolonisierung des Gebiets durch Spanien territoriale Souveränitätsbeziehungen zu Marokko oder Mauretanien. Nach Veröffentlichung des IGH-Gutachtens ließ König Hassan II am 06.11.1975 einen „Grünen Marsch“ von 350 000 unbewaffneten Zivilisten in die Westsahara organisieren. 1976 rief die Polisario die „Demokratisch-Arabische Republik Sahara“ aus. Nach dem Rückzug Mauretaniens 1979 blieb Marokko einzige „Verwaltungsmacht“ in der Westsahara. Nachdem 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Marokko und der Polisario getroffen wurde, beschlossen die VN am 29. April 1991 die Resolu-tion 690, in der ein Referendum über den völkerrechtlichen Status der Westsahara gefordert wird. Diese begründet die MINURSO-Mission der VN. Bis heute ist es nicht zur Durchführung des Referendums gekommen, vor allem weil die Parteien unterschiedliche Optionen für eine Fragestellung des Referendums vertreten: Die Frage nach der Unabhängigkeit der Westsahara wird von der Polisario gefordert, aber von Marokko abgelehnt. Weitere Möglichkeiten wären: eine Autonomie innerhalb Marokkos oder ein Bundesstaat „Westsahara“ in Marokko. Die Afrikanische Union hat die Polisario als Vertretung der Sahraui anerkannt, woraufhin Marokko ausgetreten ist. Folglich ist die Frage nach der Unabhängigkeit der Westsahara von größter Bedeutung und muss zuerst geklärt werden. Bei den Gesprächen vor Ort kamen wir immer wieder auf diese grundlegende Frage zurück. Unsere Gegenfrage: „Why not (independence)? – Warum keine Unabhängigkeit möglich sei?“ blieb unbeantwortet. Zur menschenrechtlichen Lage ist zu sagen: Bis heute leben, je nach Schätzung, zwischen 100 000 und 200 000 Sahraui in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in der algerischen Sahara. Das Gebiet der Westsahara ist aktuell durch eine befestigte und verminte Grenzanlage geteilt, die von Marokko entlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde. Die gewaltsame Räumung eines Lagers in der Westsahara Anfang November 2010 hat die Situation noch einmal verschärft. Es kam unter marokkanischen Sicherheitskräften und unter Sahrauis zu Toten und Verletzten. Anfang März 2011 kam es in den Lagern von Tindouf zu einer Demonstration gegen die Polisario-Führung. Menschenrechtsverletzungen werden sowohl vonseiten der Marokkaner als auch vonseiten der Polisario berichtet. Nun konkret zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Forderung, sich innerhalb der EU für eine einheitliche Position zu Marokko und Westsahara einzusetzen, ist richtig; sie muss meines Erachtens nach aber flankiert sein von besonderen Gesprächen mit Spanien, zur postkolonialen Verantwortung, und mit Frankreich, zum Umgang mit Marokko und zum Fischereiabkommen. Das Fischereiabkommen mit Marokko ist am 29. Juni 2011 verlängert worden. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit Slowenien und Irland eine Erklärung zur Verpflichtung Marokkos, die Partizipation der Bevölkerung der Westsahara an den Rückflüssen aus dem Abkommen darzulegen, abgegeben. Die Zustimmung erfolgte auf Grundlage von Analysen der Europäischen Kommission über Rückflüsse aus dem Abkommen an die Bevölkerung der Westsahara sowie der erstmaligen Verpflichtung Marokkos, hierüber Bericht zu erstatten. Die Forderung des Antrags ist insofern obsolet. Eine notwendige Klärung des Rechtsstatus der Meeresgewässer der Westsahara hingegen sollte im Zuge des Referendums schnellstens erfolgen. Über diese Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen hinaus werbe ich für folgende Anliegen: Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland eine diplomatische Vermittlerrolle zwischen Marokko und Algerien einnimmt, und für die politische Option eines Autonomiestatus der Westsahara innerhalb Marokkos werben, bei der keiner der Partner sein Gesicht verlieren würde. Insbesondere die Rolle des Sondergesandten der Vereinten Nationen für die Westsahara, Christopher Ross, gilt es zu stärken. Im Rahmen dieser Rolle sollen auch Hinweise auf die Gefahr einer Radikalisierung der sahrauischen Bevölkerung und eine Eskalation von Gewalt gegeben werden, und es soll dem durch menschenrechtliche Fortschritte, Bildung, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit unter anderem, weiterhin entgegengewirkt werden. Die bereits bestehenden guten Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere der GIZ und privatwirtschaftlicher Unternehmen im Rahmen des Projektes Desertec, der Bundesrepublik zu den Konfliktparteien gilt es zu vertiefen, und es gilt, in diesem Zusammenhang die Menschenrechtsproblematik anzusprechen bzw. auf sie aufmerksam zu machen. Hier wäre es wichtig, sich dafür einzusetzen, dass bei der nächsten Mandatsverlängerung die Beobachtung der Menschenrechtssituation in Westsahara Teil des Mandats der MINURSO, United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara, wird, wie es ein Punkt der Forderungen des Antrags der Grünen zum Ziel hat. Nicht enthalten ist dieser Passus bislang nur, weil das Mandat schon vor so langer Zeit entstand. Aber: Lieber spät als nie. Künftig ist es mein Anliegen, dass die EU-Flüchtlingshilfe vermehrt finanzielle Unterstützung erhält und dass über das Programm der Deutschen Akademischen Flüchtlingsinitiative beim UNHCR weiterhin Stipendien für sahrauische Studierende sowie internationale Begegnungen ermöglicht werden. Meines Erachtens nach muss das Ziel all unserer Bemühungen die schnellstmögliche Durchführung des Referendums sein, wobei es im Vorfeld wichtig ist, bei der Formulierung der darin gestellten Fragen einen Konsens zu erzielen. Ich behalte mir vor, diese Anliegen über Anfragen oder Anträge an die Bundesregierung auszudrücken oder zu verstärken. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Im Juni dieses Jahres besuchte eine Delegation des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe die Westsahara. Wir waren sowohl auf der algerischen als auch auf der marokkanischen Seite, und ich muss sagen: Dies war eine Reise, die einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Die Situation der 308 000 Sahrauis in den Flüchtlingslagern von Tindouf in Algerien ist erschreckend, selbst wenn der UNHCR sie den Umständen entsprechend gut versorgt. Auch die Polisario kümmert sich um die Lebenssituation vor Ort. So gibt es Schulen, Behinderteneinrichtungen, Krankenhäuser und Sommerferienreisen für Kinder. Aber die Bedingungen für die Flüchtlinge bleiben schwierig: Es gibt wenig Schatten oder Schutz vor dem Wüstensand. Wie ist es um die Perspektive auf ein freies Leben unter gesicherten Bedingungen bestellt? In der Westsahara sieht man, was passiert, wenn politisch nichts passiert: Dieser Konflikt, diese nicht vorhandene Lösung des Grenzproblems – ein fatales Erbe des Kolonialismus in Nordafrika – schränken direkt die Rechte auf persönliche Entwicklung, politische Mitbestimmung und persönliche Sicherheit ein. Lebensverläufe sind unter diesen Bedingungen nicht frei wählbar. Dort als Flüchtling geboren zu sein, bestimmt maßgeblich den weiteren Lebenslauf. Die Sahrauis sind politische Opfer. Unvorstellbar ist, wie lang sich dieser Konflikt bereits hinzieht. Von dem Zeitpunkt, als die spanischen Truppen 1976 das Land verlassen hatten, Mauretanien den Südteil und Marokko den Nordteil annektierte und 100 000 Menschen in die Westsahara und 200 000 sahrau-rische Flüchtlinge ins Ausland flohen, bis zu dem Waffenstillstand 1991 – kontinuierlich wurde eine politische Lösung des Konfliktes verhindert. Die letzten informellen Gespräche zwischen der marokkanischen Regierung und der Frente Polisario zu dem in einer UN-Resolution von 1991 beschlossenen Referendum zur Beilegung der Grenzstreitigkeiten und der damit verbundenen Probleme sind im Juli dieses Jahres wieder einmal gescheitert. Marokko will nichts akzeptieren, was über die derzeitige Lage hinausgeht. Dabei ist der Prozess eigentlich schon relativ weit. Fällig zur Durchführung des Referendums ist lediglich noch die Aktualisierung der Wählerlisten. Hier zeigen Marokko und insbesondere der marokkanische König Mohammed VI. wieder einmal, dass es kein Interesse an einer einvernehmlichen Lösung gibt. Die Reise und die Gespräche, die wir führen konnten, haben sehr klar gezeigt: Es ist ein doppeltes Spiel Marokkos: Einerseits die Zusicherung der Achtung des internationalen Völkerrechts, andererseits eine absolute politische Inflexibilität und Missachtung der Menschenrechte, die sich durchaus auch auf die in Marokko lebenden Sahrauis auswirken. Wir mussten feststellen: Die Lebensbedingungen der Menschen haben nichts mit der Gewährleistung der Menschenrechte zu tun. Schlimmer noch: Wir haben mit Menschen gesprochen, welche darüber klagten, dass Befürworter des Referendums in Marokko gefoltert werden und im schlimmsten Fall ungeklärt „verschwinden“. Die jüngsten Proteste – inspiriert von dem Arabischen Frühling – wurden blutig niedergeschlagen. Journalisten werden drangsaliert. Menschenrechtlich sind wir in der Pflicht, uns international für die Lösung des Konfliktes zu engagieren und gegebenenfalls Druck auf die Beteiligten auszuüben. Die Menschen in der Westsahara müssen endlich die Wahl bekommen: Wollen sie ein Teil Marokkos sein, oder davon unabhängig? Teil des derzeitigen Problems ist auch die deutsche „Fähnchenim-Wind-Dreherei“ bezüglich des marokkanisch-europäischen Fischereiabkommens. Es ist mir unverständlich, warum sich Deutschland im Juni nun doch für dessen Verlängerung ausgesprochen hat. Die Fischgründe der Westsahara sollten angesichts des ewigen Konfliktes und der ungeklärten Zugehörigkeit für europäische Fischer tabu sein. Die Sahrauis hatten in dem Prozess keine Vertretung und konnten sich zu dem Abkommen folglich nicht offiziell äußern. Dies kommt Räuberei gleich – und das sollten wir wahrlich nicht unterstützen. Nun sind im August auch noch reichhaltige Bodenschätze, darunter wertvolle Kimberlit-Diamanten, Gold, Uran, Kupfer, Kobalt und andere Rohstoffe vom kanadischen Bergbauunternehmen Metalex Ventures in der Westsahara entdeckt worden. Der überwiegende Teil soll auf dem von der Frente Polisario kontrollierten Gebiet nahe Mauretanien liegen. Dies könnte eigentlich ein Anlass zur Freude sein, könnten die armen Menschen der Westsahara denn davon profitieren. Dies zeichnet sich jedoch nicht ab, denn der Staat Marokko hat die kanadische Firma mit den magnetischen und radiologischen Messungen beauftragt. Marokko hat wohl einen weiteren Grund gefunden, die Sahrauis nicht über das Referendum befinden zu lassen. Ich hoffe sehr, dass in Marokko nicht über Abschöpfung nachgedacht wird. Dies könnte die friedliche Lösung des Grenzstreites schwer belasten. Im September gibt es wieder eine UN-Vollversammlung in New York, bei der auch dieses Fischereiabkommen noch einmal besprochen werden soll. So wie ich es sehe, spitzt sich die Situation in der Westsahara immer weiter zu. Dies ist keine gute Aussicht in einer Region, die von Unruhe geprägt und von gewaltsamen Konflikten bedroht ist. Deutschland sollte sich hier vernünftig und verantwortlich zeigen. Serkan Tören (FDP): Das Parlament beschäftigt sich heute mit der Menschenrechtslage in der Westsahara. Wir begrüßen dies als FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Vom 13. bis 17. Juni 2011 habe ich mit einer Delegation des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe neben Algerien und Marokko auch die Westsahara besucht. Diese sehr wichtige Reise stand im Zusammenhang mit der Auflösung des Protestlagers in der Westsahara am 8. November 2010, als marokkanische Sicherheitskräfte das Lager außerhalb der Stadt Laayoune räumen ließen, wobei es zu Toten und Verletzten kam. Neben allgemeinen Fragen der Menschenrechte wurde vor allem die Situation der Sahraui in der Westsahara und in Algerien in dem Flüchtlingslager in Tindouf thematisiert. In den Gesprächen mit Regierungs- und Parlamentsvertretern Marokkos, der Frente Polisario in Algerien, den Vertretern des UNHCR und von MINURSO sowie den Vertretern von Menschenrechtsorganisationen der Sahrauis ging es zum einen um die humanitäre Situation der Betroffenen sowohl in dem Lager in Tindouf als auch in der Westsahara und zum anderen um die politische Frage eines Referendums und einer möglichen Unabhängigkeit der Westsahara. Insgesamt wurde deutlich, wie kompliziert der Westsahara-Konflikt ist. Der Einfluss Deutschlands darf nicht überbewertet werden. Auch wurde bei der Reise eines sehr offensichtlich: Innerhalb der Delegation sowie zwischen den Koalitions- und Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundestages gibt es unterschiedliche politische Positionen zu der Referendumsfrage in der Westsahara. In einem sind wir uns aber alle einig: Eine Lösung des Konflikts in der Westsahara ist dringend notwendig. Als christlich-liberale Koalition fordern wir: Repressionen gegen Personen, die das Referendum einfordern, müssen aufhören. Es ist nicht glaubwürdig, wenn der marokkanische Menschenrechtsrat bislang keiner Beschwerde nachgegangen ist. Marokko muss einsehen: Auch den Sahrauis steht das hohe Gut der Selbstbestimmung zu. Mehrfach habe ich daher in den Gesprächen mit marokkanischen Repräsentanten auf die mögliche Isolierung der marokkanischen Regierung mit ihrer Position zum Westsahara-Konflikt hingewiesen. Auch Marokko muss aus Eigeninteresse an einer schnellen Konfliktlösung interessiert sein. Insgesamt bleibt für uns als FDP-Bundestagsfraktion festzuhalten: Die Westsahara-Problematik ist eine zentrale Frage für die Zukunft Marokkos und der gesamten Region von Algerien bis Mauretanien. Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien und steht der Kooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen. Der Konflikt existiert schon seit vielen Jahrzehnten. Seit Mitte der 60erJahre des letzten Jahrhunderts wurde Spanien wiederholt von der UN aufgefordert, die Westsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Parallel dazu gründete sich die sahrauische Befreiungsfront Frente Polisario, die für eine politische Unabhängigkeit der Westsahara kämpfte. Nach dem Tod Francos 1975 zogen die Spanier ab, und Mauretanien und Marokko besetzte den Großteil des Gebiets der Westsahara. 1976 erklärte Marokko die Annexion der nördlichen zwei Drittel des Westsahara-Gebietes und 1979 des restlichen Territoriums, nachdem sich Mauretanien aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Diese Annexionen wurden von den Vereinten Nationen nicht anerkannt. Ebenso wenig wurden ohne die Abhaltung des von den Vereinten Nationen geforderten Referendums die Ansprüche der Demokratischen Arabischen Republik Sahara auf das Gebiet der Westsahara anerkannt. Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Marokko und der Polisario geschlossen, aber auch dies reichte nicht, um das geforderte Referendum abzuhalten. Daher leben bis heute etwa 100 000 Sahrauis in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in der algerischen Sahara. Hinzu kommt, dass das Gebiet von Westsahara aktuell durch eine befestigte und verminte Grenzanlage geteilt ist, die von Marokko entlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde. Vor diesem Hintergrund scheint eine kurzfristige Lösung des Westsahara-Konflikts kaum realistisch. Trotz aller Bemühungen sowohl der Bundesregierung als auch der internationalen Gemeinschaft war es bislang nicht möglich, die Konfliktparteien zu einer einvernehmlichen und friedlichen Lösung zu bewegen. Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion liegt der Schlüssel zur Lösung dieses Konflikts in einer erfolgreichen politischen Vermittlung durch die Vereinten Nationen. Als christlich-liberale Koalition setzen wir daher weiterhin auf Bemühungen der Vereinten Nationen, im Einverständnis zwischen den Beteiligten und auf der Grundlage bestehender UN-Resolutionen, eine friedliche Lösung des Westsahara-Konflikts zu finden. Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedoch eines klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssen die Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt werden. Folgendes darf nicht sein: Die Augen dürfen nicht vor der schwierigen Menschenrechtslage verschlossen werden. Dies betrifft ausdrücklich beide Seiten. Dennoch lehnen wir als FDP den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus folgenden Gründen ab: Die Feststellung im Antrag, „dass sich die Bundesregierung zum Konflikt um Westsahara und den damit verbundenen Problemen sowohl bilateral als auch im Rahmen der EU sehr zögerlich und zurückhaltend agiere“, ist nicht zutreffend. Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle hat am 15. November 2010 in Rabat Gespräche unter anderem mit seinem marokkanischen Amtskollegen geführt. Es war der erste Besuch eines deutschen Außenministers in Marokko seit 2006. Die schwarz-gelbe Bundesregierung flankiert durch verschiedene Maßnahmen die Bemühungen der Vereinten Nationen um eine Lösung des Westsahara-Konflikts. Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbildenden Maßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008 bis 2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Euro zur Verfügung gestellt. Über die EU – European Commission – Humanitarian Aid & Civil Protection, ECHO – wurden seit Bestehen des Konfliktes rund 130 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt; das jährliche ECHO-Budget für die Flüchtlingslager beträgt rund 10 Millionen Euro. Über den Mediationsfonds der Vereinten Nationen unterstützt Deutschland indirekt den UN-Sondergesandten für die Westsahara. Im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik und auch des fortgeschrittenen Status – „advanced status“ – Marokkos in der Partnerschaft mit der EU werden regelmäßig die Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Der politische Dialog des Aktionsplans mit Marokko sieht dies genauso vor wie das Assoziierungsabkommen, welches den Menschenrechten eine grundlegende Bedeutung für die Innen- sowie die Außenpolitik der EU und Marokkos zuweist. Aus den oben genannten Gründen ist der Antrag daher abzulehnen. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Es ist überraschend, mit welchem Gleichklang bei der Bundestagsdebatte am 27. Januar dieses Jahres ein fraktionsübergreifendes Hohelied auf die Menschenrechte angestimmt wurde, mit welchem die Rednerinnen und Redner von CDU/CSU über FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihre Besorgnis über die verheerende Lebenssituation der Sahrauis zum Ausdruck bringen wollten. Dabei wurde deutlich, dass für die Regierungskoalition die „Westsahara-Problematik“ nur dann auf die Tagesordnung rückt, wenn die dort verübten Menschenrechtsverletzungen, wie zuletzt bei der brutalen Räu-mung des „Camps der Würde“ im Oktober 2010, ein Ausmaß erreichen, welches nicht mehr totgeschwiegen werden kann wie all die bisherigen totgeschwiegenen Opfer der marokkanischen Besatzungspolitik. Offenbar spielen Menschenrechte in der Westsahara erst dann eine Rolle, wenn der dortige Generalvertreter europäischer Handels- und Wirtschaftsinteressen bei der Plünderung der Region den Umfang seiner Geschäftsführungsbefugnis überschreitet und den Auftraggeber in Misskredit zu bringen scheint. In den Worten des Kollegen Klimke aus der CDU/CSU-Fraktion wird diese Kosten-Nutzen-Kalkulation folgendermaßen beschrieben: „Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien und steht der Kooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen.“ Angesichts der geschilderten Einigkeit in Bezug auf die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte stellt sich dennoch die Frage, warum trotz der übereinstimmenden Situationsbeschreibung der Fraktionen bezüglich der völkerrechtlichen Lage und der Hervorhebung der Notwendigkeit der Umsetzung der Sicherheits-ratsresolution 690 zur Abhaltung eines den endgültigen Status der Westsahara klärenden Referendums die Menschen in diesem Land seit mehr als 30 Jahren auf Frieden warten müssen. Die Antwort liegt nicht in der Theorie der Menschenrechte und ihre Lösung nicht in Lippenbekenntnissen, sondern in der Praxis ungerechter wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Beziehungen Europas und der Bundesregierung. Es ist dann auch kein Zufall, dass der menschenrechtliche Meineid der Bundesregierung in Bezug auf die Westsahara folgenlos bleiben muss und soll. Denn die Aufmerksamkeit der Bundesregierung gilt nicht dem menschenrechtlichen Fortschritt, sondern den agrar- und energiepolitischen Interessen in der Region. In diesem Zusammenhang sind die Forderungen des Antrags der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen „Menschenrechtslage in Westsahara“ zwar richtig und unterstützenswert, auch wenn sie die ökonomischen Hintergründe des deutschen Engagements und die deutschen Interessen in der Westsahara unbeleuchtet lassen. Marokko ist neben anderen nordafrikanischen Mittelmeerländern Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) und Mitgliedsstaat der Union für den Mittelmeerraum. Es nimmt teil an der NATO-AU-Kooperation und dem NATO-Mittelmeerdialog. Neben der Flüchtlingsabwehr und seiner sicherheitspolitsichen Rolle für die NATO ist Marokko jedoch vor allem ein wichtiger Handelspartner der EU, der die Sicherung von Rohstoffen gewährleistet. In dem Afrika-Konzept der Bundesregierung heißt es dazu knapp: Die Bundesregierung unterstützt den Aufbau bilateraler Energiepartnerschaften mit Nordafrika (zunächst vor allem mit Marokko und Tunesien). Durch sie profitieren Nordafrika und langfristig auch Deutschland von der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien … Die Bundesregierung unterstützt die DESERTEC-Initiative deutscher, europäischer und nordafrikanischer Unternehmen. DESERTEC als Energiegroßprojekt will Sonnen- und Windenergie in der Wüste Nordafrikas für die lokale Stromversorgung nutzen und langfristig Strom auch nach Europa exportieren. Damit soll laut dem Afrika-Konzept der Bundesregierung die Lieferung von Rohstoffen aus afrikanischen Staaten unterstützt und „deutsche Rohstoffinteressen mit langfristigen Lieferverträgen“ abgesichert werden. Das Afrika-Konzept erwähnt mit keinem Wort, dass hier selbstverständlich über die Rohstoffe der Sahrauris verfügt wird. Die DESERTEC-Investitionen sollen nämlich auch die völkerrechtswidrig besetzte Westsahara umfassen. Nicht anders verhält sich die EU im Zusammenhang mit dem erst kürzlich verlängerten EU-Fischereiabkommen mit Marokko. Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflotten und internationalen Konzernen preisgegeben werden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit erstellt wurde und ganz selbstverständlich Standorte in der Westsahara mit einschließt, soll deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einführung und Privatisierung erneuerbarer Energien durch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vorstufe des DESERTEC-Projektes gelten. Der Plan des von deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Münchener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank dominierten und von der Bundesregierung unterstützten Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen in Nordafrika zu beziehen. Das hat weder mit Ökologie noch mit der Förderung von Menschenrechten zu tun. Das ist ökologisch total irrsinnig, weil Sie schon wieder den hundert Jahre alten Fehler wiederholen auf Großprojekte zu setzen statt auf kleinteilige, dezentrale Lösungen. Meine Damen und Herren von den Grünen, wer den Umweltschutz will, wie Sie es hier auch mit dem Projekt DESERTEC vorgeben, muss zuerst die Menschen schützen und kann nicht mit solchen Großprojekten auch noch die Sicherheitslage verschärfen und die Missachtung des Völkerrechts ignorieren. Die Linke lehnt DESERTEC ab und fordert die Einhaltung des Völkerrechts und dezentrale, kleinteilige Energieerzeugung nicht auf Kosten der Länder und Menschen des Südens. Auch die derzeit stattfindenden Gespräche über ein Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko wollen die Rechte der Sahrauis nicht zur Kenntnis nehmen. Dies hat nur ein Ziel: die Plünderung der Rohstoffe der Westsahara. Die Aufrechterhaltung der marokkanischen Besatzung der Westsahara sichert so den Zugriff auf dieses rohstoffreiche Gebiet für die EU und die Bundesrepublik. Und gerade deshalb ist seit mehr als 30 Jahren eine Lösung des Konfliktes nicht möglich. Menschenrechte können hier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ihre ritualisierte Anrufung im Bundestag ist allenfalls ein untauglicher Versuch, die Kritiker der unge-rechten EU-Handelspolitiken zu beschwichtigen, damit keine negative Signalwirkung auf die mit dem hervorgehobenen Status – sprich dem advanced status – ausgestatteten Handelspartner ausgeht. Die Bundesregierung versucht auch deshalb nicht, Menschenrechte in der Westsahara durchzusetzen, sondern sieht sich im Gegenteil genötigt, Marokko dafür zu belohnen, dass es durch die völkerrechtswidrige Besatzung und kontinuierliche Verübung schwerster Menschenrechtsverletzungen ihre Wirtschaftsinteressen sichert. Seit 1966 leistet Deutschland militärische Ausbil-dungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte, obwohl sie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere haben Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen der Bundeswehr absolviert. Die Bundesregierung belohnt zusammen mit der EU Marokko durch Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte, also genau jene, die auch an der Räumung des „Camps der Würde“ und den Gewalttaten gegen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren und sind. Die Linke meint, dass gerade die Entwicklungen in Nordafrika gezeigt haben, dass diese Militär- und Polizeihilfe für autoritäre Regime wie Marokko skandalös sind und dringend beendet werden müssen. Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indem sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zugunsten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 eingestellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten 100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung für die Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe wurde bereits 2007 eingestellt. Auch die EU belohnt Marokko, mit wohlwollender Zustimmung der Bundesregierung, seit Jahren in der EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenen Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen eine Milliarde Euro allein zwischen 2007 und 2010. Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Verlängerung des EU-Fischereiabkommens– und das trotz der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiabkommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in 2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die unveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohne Selbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Das meint auch der Juristische Dienst des Europaparlaments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der Westsahara stattfindet noch die Bevölkerung die Einnahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen Fischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völkerrechtswidrig. Die Linke fordert von der Bundesregierung, sich auf die Seite des Rechts zu stellen und das Abkommen abzulehnen. Die Bundesregierung muss die permanenten Rechtsverletzungen der marokkanischen Regierung deutlich öffentlich verurteilen und Konsequenzen ziehen. Die Fraktion Die Linke hat der Bundesregierung die möglichen Handlungsoptionen zur Lösung der Probleme in der Westsahara in ihrem Antrag „Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara“ (Bundestagsdrucksache 17/4271) aufgezeigt. Sie darf Marokko nicht weiter darin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fällige Referendum über den Status der Westsahara und damit das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das ihnen im Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu können. Deshalb fordert Die Linke die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 des UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991 umsetzt und das Referendum über die Zukunft der Westsahara unter UN-Aufsicht nicht weiter blockiert. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die gewaltsame Auflösung des Protestcamps Anfang November 2010 und die Niederschlagung der anschließenden Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale Untersuchung der Vorfälle einzufordern. Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizei- und Armeekräfte ist einzustellen. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung innerhalb der EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Assoziationsabkommen der EU mit Marokko sowie der fortgeschrittene Status der Beziehungen zur EU zumindest solange ausgesetzt werden, bis Marokko seine völkerrechtswidrige Besatzung beendet hat und den Weg für ein Referendum zur endgültigen Klärung der Statusfrage frei macht. Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich in der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiabkommen mit dem Königreich Marokko gekündigt wird und es nicht automatisch verlängert werden kann. Eine automatische Verlängerung des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko muss so lange verhindert werden, wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag ausgeschlossen ist. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Regimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orientieren. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Juni dieses Jahres war ich gemeinsam mit anderen Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen in der Westsahara. Zudem haben wir das riesige sahrauische Flüchtlingslager in Tindouf in Algerien besucht. Was wir dort gesehen, gehört und erlebt haben, hat uns alle betroffen gemacht. In unmittelbarer Nähe zu Europa und zu den spektakulären Ereignissen im Rahmen des arabischen Frühlings schwelt dort seit Jahrzehnten ein Konflikt, der von der europäischen und weltweiten Öffentlichkeit kaum registriert wird. Vor nunmehr über 20 Jahren, am 29. April 1991, setzte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 690 die UN-Mission MINURSO ein, die ein Referendum über die Zukunft der Westsahara absichern sollte. Nach jahrzehntelangen Kämpfen hatte sich die Regierung von Marokko mit der Polisario, der Befreiungsbewegung der maurischen Saharauis, auf eine Volksabstimmung geeinigt. Diese Abstimmung hat es bis heute nicht gegeben. Stattdessen durchzieht von Nordost nach Südwest eine befestigte Grenzanlage die Westsahara, die das Gebiet ziemlich genau nach der wirtschaftlichen Nutzbarkeit aufteilt: in eine marokkanisch besetzte Speckschwarte zur Küste hin samt Fischreichtum und Phosphatvorkommen und in ein der Polisario überlassenes Knochenstück mit viel Wüste und Dürre. Als ich diese krassen Unterschiede in den Lebensverhältnissen gesehen habe, habe ich begriffen, dass es sich hier tatsächlich um den wohl letzten kolonialen Konflikt der Welt handelt. Was völkerrechtlich noch als schwerwiegendes Versäumnis durchgehen könnte, hat katastrophale menschenrechtliche Konsequenzen. Einem Großteil der sahrauischen Bevölkerung in dem von Marokko besetzten Gebiet werden wesentliche Menschenrechte vorenthalten. Sie dürfen weder ihre Meinung äußern noch sich frei versammeln, sie werden staatlich diskriminiert und benachteiligt. Die Bevölkerung in dem von der Polisario kontrollierten Teil leidet unter der von Marokko bewusst herbeigeführten schlechten wirtschaftlichen Lage und zahlreichen Aktivitäten des marokkanischen Geheimdienstes. In beiden Teilen verschwinden Aktivistinnen und Aktivisten; sie werden willkürlich verhaftet und zum Teil in den Gefängnissen gefoltert. Eine Strafverfolgung dieser Menschenrechtsverletzungen findet nicht statt. Katastrophal ist nach wie vor die Lage in den Flüchtlingslagern auf algerischer Seite, wo weit über 100 000 Menschen zum Teil seit über 30 Jahren und in dritter Generation unter erbärmlichen Umständen leben müssen, ohne eine Aussicht darauf zu haben, jemals in ihre Heimat zurück zu können und ein normales Leben zu führen. Die schlechten humanitären Bedingungen im Lager Tindouf, der Wassermangel und die Hitze sind mir noch in guter Erinnerung. Die Perspektivlosigkeit an diesem Ort hat mich tief getroffen. Dass der Westsaharakonflikt immer noch nicht gelöst ist, liegt in erster Linie an den wirtschaftlichen Interessen und der Sturköpfigkeit Marokkos. Aber es liegt auch daran, dass weder die UN über MINURSO noch die EU noch Deutschland genügend Willen und Elan zeigen, diese Situation wirklich zu ändern. Die UN nutzen ihre Möglichkeiten, um das überfällige Referendum endlich gegen den marokkanischen Widerstand durchzusetzen, nicht, weil wohl in erster Linie französische Interessen dagegenstehen. Frankreich sieht sich in einer traditionellen Schutzpflicht für Marokko und unterhält dorthin enge politische, wirtschaftliche und persönliche Beziehungen. Als im Jahre 2009 angedacht wurde, dem MINURSO-Mandat einen Menschenrechtsmechanismus hinzuzufügen, scheiterte dies an der Androhung Frankreichs, notfalls ein Veto einzulegen. Eine entsprechende Vorlage zur Änderung des Mandats kam somit erst gar nicht zur Abstimmung. Hier ergibt sich für Bundesaußenminister Westerwelle die Möglichkeit, aus dem Schatten der Kanzlerin zu treten, die ihm mehr und mehr das außenpolitische Wasser abgräbt. Hier könnte er sich auf diplomatischem Parkett profilieren. Deutschland könnte seinen Einfluss im Sicherheitsrat geltend machen, um die französische Blockade zu überwinden und zumindest der MINURSO das Recht einzuräumen, über die Achtung der Menschenrechte in Westsahara zu wachen. Auch in der EU sollte Deutschland sein Gewicht nutzen, um eine neue europäische Position zu Westsahara zu erwirken. Die EU hat ganz handfeste Interessen daran, den derzeitigen Status, der eigentlich keiner ist, beizubehalten. In Kürze soll das Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko wieder verlängert werden, und schon jetzt wird erneut über die Aufteilung der Fangmöglichkeiten verhandelt. Im Rahmen dessen verkauft Marokko auch die reichen Fischbestände vor der Küste Westsaharas. Gut 36 Millionen Euro ist den Europäern dieser Fang wert. Völkerrechtlich müssten diese Beträge eigentlich der Bevölkerung der besetzten Gebiete dienen; doch hiervon findet sich in dem Abkommen kein Wort. Die von der marokkanischen Seite bisher übermittelten Unterlagen zur Verwendung der Mittel aus dem bisherigen Abkommen lassen nur deutlich werden, dass ein beträchtlicher Teil der Gelder in den Ausbau der Modernisierung des Fischereisektors gesteckt wurde. Dies kommt nicht der Bevölkerung der Westsahara, sondern Marokkos Mächtigen zugute. Vonseiten der EU und der profitierenden Mitgliedstaaten wird hier bewusst weggeschaut. Auch Deutschland hat im Rahmen des Abkommens Lizenzen für den Fang von 4 850 Tonnen Fisch gekauft, ohne die Statusfrage Westsaharas zu debattieren. Wichtig erscheint der Bundesregierung nur, diese lästige völkerrechtliche Frage gar nicht zu berühren, um nichts thematisieren oder gar präjudizieren zu müssen. Wer sich aber nicht einmal traut, Menschenrechtsfragen auf dem Fischbasar in die Waagschale zu werfen, der sollte aufhören, von einer wertegebundenen Außenpolitik zu schwadronieren. Was ist es, was Schwarz-Gelb dazu bewegt, unseren Antrag abzulehnen? Die fünf in unserem Antrag erhobenen Forderungen waren auf unserer Delegationsreise Konsens bei allen mitfahrenden Abgeordneten aus allen fünf im Bundestag vertretenen Fraktionen. Es geht um Menschenrechte und humanitäre Bedingungen für die sahrauische Bevölkerung. Aber zurück in Berlin gilt die Koalitionsräson, der Opposition nicht ein Jota entgegenzukommen. So weit, so schlecht. Doch wer solche machtpolitischen Spiele nicht auf dem Rücken der Menschenrechte austragen will, muss zumindest einen eigenen Antrag vorlegen. Den vermisse ich vonseiten der Koalition. Ich fordere Sie auf, endlich etwas zu unternehmen, um die wirtschaftliche und politische Zukunft der Menschen in Westsahara und in den algerischen Flüchtlingscamps zu verbessern. Ich fordere Sie auf, endlich etwas Handfestes zur Verbesserung der Menschenrechtslage in den von der Polisario und dem Königreich Marokko kontrollierten Gebieten zu tun. Ein erster Schritt wäre es, unserem vorliegenden Antrag zuzustimmen oder aber endlich selber das Heft in die Hand zu nehmen, um dieses üble Überbleibsel des Kolonialismus zu einem guten Ende zu führen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4994, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4440 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Danke schön. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 22. September 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22.47 Uhr) Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 21.09.2011 Beckmeyer, Uwe SPD 21.09.2011 Dr. Geisen, Edmund FDP 21.09.2011 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 21.09.2011 Kolbe, Manfred CDU/CSU 21.09.2011 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 21.09.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 21.09.2011 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine FDP 21.09.2011 Nahles, Andrea SPD 21.09.2011 Rupprecht (Tuchenbach), Marlene SPD 21.09.2011* Schaaf, Anton SPD 21.09.2011 Schlecht, Michael DIE LINKE 21.09.2011 Dr. Strengmann-Kuhn, Wolfgang BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.09.2011 Tack, Kerstin SPD 21.09.2011 Thönnes, Franz SPD 21.09.2011 Vogler, Kathrin DIE LINKE 21.09.2011 Weinberg, Harald DIE LINKE 21.09.2011 Dr. Westerwelle, Guido FDP 21.09.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 21.09.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 21.09.2011 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Antwort des Parl. Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) (Drucksache 17/6994, dringliche Frage 1): Welches sind die konkreten verfassungsrechtlichen Bedenken der Bundesregierung hinsichtlich einer Zwangsversetzung ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit, Stasi, in der Stasi-Unterlagen-Behörde, von denen der Regierungssprecher am Freitag, den 16. September 2011, sprach in Zusammenhang mit der seitens der Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP geplanten Fixierung einer entsprechenden Regelung im Stasi-Unterlagen-Gesetz, StUG, dessen Novellierung am Mittwoch, den 21. September 2011, in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages abschließend beraten werden soll, und wann wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag diese Bedenken und deren Begründung vortragen? Bei der Bewertung des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen sind verschiedene verfassungsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen gewesen. Hier hat es einen intensiven Meinungsbildungsprozess gegeben. Zum Zeitpunkt der Äußerung des Regierungssprechers standen noch Bedenken im Raum. Diese sind zwischenzeitlich ausgeräumt. Bei den Bedenken, die der Regierungssprecher erwähnte, ging es insbesondere um die Frage, inwiefern eine gesetzliche Anordnung zur Versetzung in die Personalhoheit der Ressorts eingreift. Diese Bedenken wurden durch die zuständigen Verfassungsressorts geprüft und im Ergebnis ausgeräumt. Die Personalhoheit der einzelnen Ressorts bleibt gewahrt, weil die Entscheidung über eine konkrete Versetzung im Einzelfall den jeweiligen Ressorts überlassen bleibt. Deshalb hält die Bundesregierung die vorgesehene Regelung für vertretbar. Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Fragen des Abgeordneten Christian Lange (Backnang) (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 1 und 2): Sind durch die im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorliegenden Entwürfe für den Investitionsrahmenplan auch geplante Verkehrsprojekte in Baden-Württemberg, wie beispielsweise die B-29-Ortsumfahrung Mögglingen oder der Weiterbau der B 14 bis nach Backnang, gefährdet, und stimmt es, dass es angesichts „begrenzter Mittel“ in den nächsten Jahren grundsätzlich keine Neubeginne geben soll? Welche konkreten Maßnahmen sind durch die im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorliegenden Entwürfe für den Investitionsrahmenplan in Baden-Württemberg betroffen? Derzeit wird der Entwurf des Investitionsrahmenplans 2011 bis 2015 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes, IRP, erarbeitet. Der Referentenentwurf befindet sich gegenwärtig in der Abstimmung. Aussagen zu konkreten Projekten sind angesichts dieses Arbeitsstandes derzeit noch nicht möglich. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 5): Hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, seine Äußerung, ein Ausstieg Griechenlands aus der Euro-Zone wäre kein „Weltuntergang“, (Interview in der Zeit vom 15. September 2011, mit dem Bundeskanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie abgestimmt, und welche Konsequenzen hätte dieser Ausstieg aus verkehrspolitischer und europäischer Sicht? Die Bundesregierung stimmt sich zu Themen der Regierungsarbeit eng ab – dies gilt auch für die Europapolitik. Im Interview mit der Zeit vom 15. September hat Bundesminister Dr. Peter Ramsauer unter anderem betont: „Uns eint der Wunsch, dass der Euro stabil bleibt. Außerdem wollen wir die Risiken überschaubar halten. Wir wissen zudem, dass alle Wege, die Athen aus der Krise führen, riskant und schmerzhaft sind.“ Zudem hatte er darauf hingewiesen, dass Griechenland alle seine Zusagen erfüllen müsse. Und, dass es keine Musterlösungen gebe. Mögliche konkrete Konsequenzen eines griechischen Ausstiegs aus der Euro-Zone wurden nicht thematisiert. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 6): Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag des Verkehrsausschusses des Bundesrates vom 7. September 2011, Bundesratsdrucksache 462/11, zur Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes hinsichtlich der Regelungen zur Barrierefreiheit, und wird die Bundesregierung diese Regelung in ihrem Gesetzentwurf aufgreifen? Gegenstand des Regierungsentwurfes eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften, Bundesratsdrucksache 462/11, ist es, erforderliche Anpassungen des Bundesrechts im Hinblick auf die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Straße und Schiene vorzunehmen sowie die Zulassung nationaler Fernbuslinienverkehre zu vereinfachen. Im Rahmen der umfangreichen Vorabstimmungen mit den Ländern zum Gesetzgebungsvorhaben etwa im Bund-Länder-Fachausschuss Straßenpersonenverkehr ist vonseiten der Länder bisher nicht vorgeschlagen worden, die vorhandenen Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes über die Anforderungen an Inhalt und Zustandekommen zu berücksichtigender Nahverkehrspläne in § 8 Abs. 3 Satz 3 und 4 des Personenbeförderungsgesetzes zu erweitern. Für die Bundesregierung ist die Verstetigung und Verstärkung der Barrierefreiheit bei der Mobilität von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Personenverkehr ein wichtiges Anliegen. Die Nahverkehrspläne haben die Belange behinderter und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit zu erreichen, wobei Aussagen über zeitliche Vorgaben und erforderliche Maßnahmen getroffen werden sollen. Es bleibt abzuwarten, ob der Bundesrat die angesprochene Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf übernehmen wird. Die Bundesregierung wird dann die Vorschläge des Bundesrates prüfen und die Ergebnisse in ihrer Gegenäußerung darlegen. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage des Abgeordneten Uwe Beckmeyer (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 9): Wann wird die Bundesregierung die Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstraßen im Jahr 2011 einführen? In 2011 ist die Erhebung der Maut auf Bundesstraßen nicht mehr realisierbar. Die technischen Voraussetzungen für die Mauterhebung liegen noch nicht vor, da die Verhandlungen mit der Mautbetreibergesellschaft Toll Collect noch andauern. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage des Abgeordneten Uwe Beckmeyer (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 10): Wann wird die Bundesregierung das sogenannte Mautschiedsverfahren im Jahr 2011 abschließen, und wie sehen die nächsten Verfahrensschritte aus? Die Beendigung des vom Bund gegen das Toll-Collect-Konsortium geführten Schiedsverfahrens liegt nicht in der Hand des Bundes. Für eine Beendigung durch Vergleich sieht Toll Collect derzeit keine Grundlage. Eine streitige Entscheidung müsste durch das Gericht erfolgen. Das Gericht will die hierzu nötige Entscheidungsreife auf Grundlage der zum 15. November 2011 fälligen Parteischriftsätze zügig herbeiführen. Mit einer Verfahrensbeendigung noch im Jahr 2011 ist nicht zu rechnen. Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Fragen des Abgeordneten Franz Thönnes (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 17 und 18): Liegt ein Förderantrag für die Maßnahme „Anpassung der Oststrecke des Nord-Ostsee-Kanals“ im Rahmen der von der Europäischen Union geförderten transeuropäischen Netze inzwischen vor, bzw. bis wann ist mit seiner Vorlage zu rechnen? Welchen Inhalt hat dieser Förderantrag bzw. soll er haben? Ein Förderantrag kann derzeit nicht eingereicht werden, da noch keine Aussagen für einen Realisierungszeitraum gemacht werden können. Denn zum einen liegt noch kein rechtskräftiger Planfeststellungsbeschluss vor, und zum anderen muss für einen Antrag sichergestellt sein, dass das Projekt auch durch nationale Haushaltsmittel voll finanziert ist. Hierbei ist zu beachten, dass der Zuschuss der EU-Förderung höchstens bei 20 Prozent liegen könnte. Der Zuschuss kann nicht mit in die Finanzierung eingerechnet werden, da keine Gewissheit besteht, ob die Förderung zum Tragen kommt. Aufgrund begrenzter Haushaltsmittel kann ein Zeitplan für die Maßnahme wegen der zu knappen Ressourcenausstattung derzeit nicht erfolgen. Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 21): Mit welcher Begründung stellt die Bundesregierung in dem Entwurf des Bundeshaushaltes 2012 lediglich 25 Millionen Euro für Um-, Aus- und Neubaumaßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal und damit nur 3,9 Millionen Euro für den Bereich Schleusen ein? Die Veranschlagung der Um-, Aus- und Erweiterungsmaßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal erfolgt unter Berücksichtigung des in 2012 zur Verfügung stehenden Haushaltsansatzes für alle Maßnahmen an allen Bundeswasserstraßen. An den Schleusen Kiel-Holtenau und Brunsbüttel sind für vorgezogene Maßnahmen geplanter Neubau- und Ersatzmaßnahmen insgesamt 2,9 Millionen Euro vorgesehen. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 22): Plant die Bundesregierung eine Erhöhung der Gebühren und Abgaben für die Schifffahrt – einschließlich Sportschifffahrt – am Nord-Ostsee-Kanal? Mit dem Ziel einer stärkeren Beteiligung der Nutzer an der Infrastrukturfinanzierung wird unter anderem auch eine Erhöhung der Befahrungsabgaben am Nord-Ostsee-Kanal, NOK, erwogen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung lässt hierzu zunächst eine Untersuchung der zu erwartenden Effekte durchführen. Parallel dazu werden die Lotsabgaben, die ab dem 1. April 2010 temporär um 10 Prozent abgesenkt wurden, zum 1. Januar 2012 wieder angehoben und dabei gegenüber dem Abgabenstand vom April 2010 um 10 Prozent erhöht. Lotsgeld ist keine öffentliche Abgabe, sondern ein privates Entgelt für die Leistung der Lotsen. Die Anpassung der Tarife wird mit den Verbänden und den Küstenländern in regionalen Arbeitskreisen vereinbart. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage des Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 23): Bemüht sich die Bundesregierung bei der Finanzierung von Investitionsmaßnahmen zur Ertüchtigung des Nord-Ostsee-Kanals um Mittel im Rahmen der Europäischen Union? Ein Antrag auf Förderung von Infrastrukturmaßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal aus der Haushaltslinie TEN-V kann bei der EU derzeit nicht gestellt werden, da noch keine Aussagen über die Realisierung der erwogenen Maßnahmen am Nord-Ostsee-Kanal getroffen werden können. Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Fragen der Abgeordneten Bettina Hagedorn (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 24 und 25): Welches Investitionskonzept hat die Bundesregierung bei der Modernisierung der Brücken, Fähren und anderen Einrichtungen des Querverkehrs am Nord-Ostsee-Kanal? Ist es geplant, die Zeiten des Fährverkehrs am Nord-Ostsee-Kanal einzuschränken? Die Investitionen an Brücken und anderen Einrichtungen des Querverkehrs am Nord-Ostsee-Kanal werden nach dem jeweiligen Instandhaltungsbedarf ausgerichtet. Wo erforderlich, werden hierzu auch Ersatzinvestitionen vorbereitet – zum Beispiel Hochbrücke Levensau. Darüber hinaus erarbeitet die WSD Nord zurzeit ein Konzept zur Sicherstellung und Modernisierung des Fährbetriebes. Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage des Abgeordneten Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 34): Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den von der Deutschen Bahn AG ermittelten Ergebnissen, dass als Alternative zur Bündelungstraße im Rheintal der Bau zweier Gütergleise an der Autobahn plus die Ertüchtigung der Rheintalbahn auf 200 km/h mit Einsparungen von 20 Millionen Euro verbunden wäre? Der Bundesregierung sind entsprechende Ergebnisse einer Untersuchung der Deutschen Bahn AG nicht bekannt. Der Projektbeirat zur Rheintalbahn hat auf seiner 5. Sitzung am 8. Februar 2011 zu dieser sogenannte Kernforderung 2 Folgendes beschlossen: „Der Projektbeirat begrüßt die Bereitschaft der Deutsche Bahn AG, zum Vergleich mit der Antragstrasse vertiefende Untersuchungen für eine autobahnparallele Trassenführung von Offenburg bis Riegel vorzunehmen. Er dankt der Bundesregierung und der Landesregierung für ihre Zusage, die hierfür erforderlichen Mittel in Höhe von 550 000 Euro zur Verfügung zu stellen. Der Projektbeirat erwartet von der Deutsche Bahn AG, dass sie die entsprechenden Untersuchungen auf der Grundlage des von der Arbeitsgruppe Cluster 3 einvernehmlich erarbeiteten Pflichtenhefts in der Fassung der Diskussion des heutigen Projektbeirats zeitnah und in enger Abstimmung mit dieser Arbeitsgruppe durchführt. Bei der Prüfung der Belange des Emissionsschutzes soll auf der Grundlage des Gutachtens Dr. Wendler auch die maximale Kapazität berücksichtigt werden.“ Dementsprechend ist die sogenannte Kernforderung 2 „BAB-Trasse“, als Tagesordnungspunkt 7 auf der nächsten Sitzung des Projektbeirates am 26. September 2011 im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Berlin eines der zu diskutierenden Themen. Dabei wird die Deutsche Bahn AG über den in der Arbeitsgruppe bisher erreichten Sachstand berichten. Abschließende Beschlüsse oder Empfehlungen in dieser Frage werden voraussichtlich nicht getroffen werden. Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Jan Mü cke auf die Frage des Abgeordneten Heinz Paula (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 35): Kann der Bund gewährleisten, dass, wie angekündigt, die Elektrifizierung der Bahnstrecke München–Memmingen–Lindau bis 2017 fertiggestellt ist, auch wenn laut Zeitungsberichten die Fortschreibung des Investitionsrahmenplanes für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes aufzeigt, dass angeblich bis zum Jahr 2015 keine neuen Projekte begonnen werden können? Die Durchführung der Elektrifizierung der Bahnstrecke München–Memmingen–Lindau ist durch Abschluss von Finanzierungsvereinbarungen finanziell sichergestellt worden. Mit korrespondierenden Bestandsnetzmaßnahmen wurde im Jahr 2010 begonnen. Die DB Netz AG hat mitgeteilt, dass der Abschluss der Vorplanung für die Bedarfsplanmaßnahmen Ende 2011 erwartet wird. Aus derzeitiger Sicht erwartet die DB AG den Baubeginn erst nach dem Jahr 2013. Hierbei sind Verzögerungen in den Planrechtsverfahren nicht eingeschlossen. Gleichwohl wird seitens der DB Netz AG derzeit von einer Inbetriebnahme in Jahr 2017 ausgegangen. Anlage 15 Antwort der Parl. Staatssekretä rin Ursula Heinen-Esser auf die Fragen des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Fragen 42 und 43): Sollen die einzelnen geplanten Solarprojekte beim „Helios“-Solarprojekt in Griechenland ausgeschrieben werden, und wird sich Deutschland an der Entwicklung des Auswahlverfahrens beteiligen? Wie viele langfristige Arbeitsplätze sollen durch das „Helios“-Solarprojekt entstehen – bitte nach Griechenland und Deutschland unterscheiden –, und mit welchen Wertschöpfungsanteilen ist bei dem Projekt für Griechenland und Deutschland jeweils zu rechnen? Der griechische Minister für Umwelt, Energie und Klimawandel, Herr Georgios Papakonstantinou, hat am 14. September 2011 dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, dem Bundesminister der Finanzen und dem Staatssekretär des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, Jochen Homann, die Grundzüge des von der griechischen Regierung entworfenen „Helios“-Konzepts erläutert. Aus der bisherigen Darstellung der Projektidee durch die griechische Regierung geht nicht hervor, ob das „Helios“-Projekt ausgeschrieben werden soll oder welche Arbeitsplatz- bzw. Wertschöpfungseffekte damit verbunden sind. Anlage 16 Antwort der Parl. Staatssekretä rin Ursula Heinen-Esser auf die Fragen des Abgeordneten Dirk Becker (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 44 und 45): Welche Forschungsaktivitäten bezüglich der Entwicklung von Biokraftstoffen der zweiten bzw. dritten Generation existieren zurzeit in Deutschland, und wie weit sind sie fortgeschritten? Welche Folgen erwartet die Bundesregierung aus der Insolvenz der Firma CHOREN Industries GmbH für die weitere Forschung und die Markteinführung von Biokraftstoffen der zweiten bzw. dritten Generation? Zu Frage 44: Die Bundesregierung hat Projekte gefördert, die die Biomass-to-Liquid-Technologie, BtL, sowie die Gewinnung von Ethanol aus Lignocellulose betreffen. Hinsichtlich BtL-Kraftstoffen fördert das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, BMELV, insbesondere die erfolgversprechende bioliq-Pilotlinie des Karlsruher Instituts für Technologie, KIT, die voraussichtlich in 2013 den Versuchsbetrieb aufnehmen wird. Das Verfahren ist besonders interessant, da sich eine breite Palette an Reststoffen wie zum Beispiel Stroh oder Restholz zu Kraftstoff verarbeiten lässt. Ergebnisberichte sollen öffentlich zugänglich gemacht werden. Erste Informationen sind öffentlich abrufbar über das Internet. Vor diesem Hintergrund ist nach Informationen, die der Bundesregierung vorliegen, mit Demonstrationsanlagen nicht vor dem Jahr 2015 zu rechnen. Zu Frage 45: Die Bundesregierung erwartet keine Auswirkungen auf die Forschung. Zur Frage, ob die Insolvenz der Firma Choren Industries GmbH Einfluss auf den Zeitpunkt einer zukünftigen Markteinführung von Biokraftstoffen der zweiten Generation haben könnte, kann keine genaue Einschätzung vorgenommen werden. Anlage 17 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 46): Wie viel Prozent der, unter anderem vom Abgeordneten Heinz-Peter Haustein am 8. September 2011 in der ersten Lesung des Entwurfs des Bundeshaushalts 2012 dargestellten, Steigerung der Förderung der „Naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung“ um 67 Prozent im Entwurf für den Bundeshaushalt 2012 im Vergleich zum Vorjahr entfallen auf gestiegene Kosten für bereits beschlossene Projekte, und wie viel Prozent der 67-prozentigen Steigerung stehen für neue Projekte zur Verfügung? Der Aufwuchs um 95,073 Millionen Euro resultiert zum einen daraus, dass der erwartete Baubeginn der neuen Forschungseinrichtung FAIR in Darmstadt in das Jahr 2012 fällt, gleichzeitig ist der Bau des XFEL in Hamburg noch nicht abgeschlossen, sodass für eine begrenzte Zeit bis voraussichtlich 2015 ein erhöhter Mittelbedarf durch diese Parallelität entsteht. Beim XFEL entstehen in 2012 gestiegene Kosten insbesondere beim Bau der Tunnel. Der Mittelbedarf im Bereich Großgeräte der Grundlagenforschung steigt dadurch um 27,7 Millionen Euro. Der verbleibende Aufwuchs beinhaltet Vorsorge für Projekte der nationalen FIS-Roadmap bzw. ESFRI-Projekte. Anlage 18 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Fragen der Abgeordneten Ulla Burchardt (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 47 und 48): Auf welche Fördermaßnahmen und Projekte verteilen sich die zusätzlichen Mittel – rund 17 Prozent Aufwuchs – für die Position „Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschafts- und Innovationssystems“ im Entwurf für den Bundeshaushalt 2012? Aus welchen Gründen senkt die Bundesregierung die Projektfördermittel für den Bereich „Elektroniksysteme“ deutlich ab, minus 8 Millionen Euro für innovative Elektroniksysteme, minus 6,34 Millionen Euro für die Kompetenzzentren für Elektronikforschung? Zu Frage 47: Für das Kapitel 3003 „Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschafts- und Innovationssystems“ ist ein Anstieg von 4 118,5 Millionen Euro im Soll 2011 auf 4 823,173 Millionen Euro im Regierungsentwurf 2012 vorgesehen. Dies ist ein Aufwuchs von rund 705 Millionen Euro bzw. 17,1 Prozent. Hierin enthalten sind insbesondere die Steigerungen beim Hochschulpakt angesichts der Finanzierung zusätzlicher Studienanfänger, +549,727 Millionen Euro, des Qualitätspaktes Lehre, +35 Millionen Euro, die Steigerungen beim von DFG, MPG und WGL, +102,676 Millionen Euro, insbesondere 5 Prozent Aufwuchs gemäß Pakt für Forschung und Innovation, sowie Leistungen für die Europäischen Forschungseinrichtungen, +16,045 Millionen Euro. Zu Frage 48: Die Bundesregierung räumt der Förderung der Elektromobilität in dieser Legislaturperiode eine hohe Priorität ein. Die Ansätze für Elektromobilität im Titel „Elektroniksysteme, Elektromobilität“, 3004/683 23, waren damit deutlich anzuheben, andere Ansätze waren entsprechend anzupassen, so auch die Ansätze für innovative Elektroniksysteme und Kompetenzzentren für die Elektronikforschung. Ab 2012 werden allerdings alle FuE-Maßnahmen der Bundesregierung zur Elektromobilität ausschließlich aus dem Energie- und Klimafonds gefördert. Die Titelansätze in den jeweiligen Einzelplänen werden daher um die Höhe der im EKF zu verlagernden Mittel abgesenkt. Anlage 19 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 49): Welche internationalen Probleme bestanden bzw. bestehen bei den Verhandlungen zu den Großprojekten XFEL und FAIR, und welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in die Wege geleitet, um diese Probleme anzugehen? Die Verhandlungen zu XFEL und FAIR konnten mit den internationalen Partnern erfolgreich abgeschlossen werden. Jedoch haben sich beim Bau des XFEL neben den allgemeinen Preissteigerungen seit 2005 Preissteigerungen beim Tiefbau gegeben, die mit der Erteilung des Zuschlags im Ausschreibungsverfahren zu einem Zeitpunkt zusammenhingen, in dem die Baukonjunktur besonders angespannt war. Daher wurden erneut Verhandlungen mit den internationalen Partnern aufgenommen. Russland hat sich inzwischen bereit erklärt, über die anteilige Preissteigerung seit 2005 hinaus mit 50 bis 60 Millionen Euro zur Deckung des Finanzierungsdefizits beizutragen, wenn sich Deutschland in vergleichbarer Höhe beteiligt. In der Haushaltsplanung 2012 wurde dem entsprechend für einen möglichen deutschen Deckungsanteil der Finanzierungslücke eine Vorsorge von insgesamt 113,5 Mil-lionen Euro für 2012 bis 2015 getroffen, diese setzt sich aus der anteiligen Preissteigerung seit 2005 sowie weiteren 60 Millionen Euro analog entsprechend dem Angebot von Russland zusammen. Auch durch den für Oktober 2011 vorgesehenen Beitritt Spaniens zum XFEL-Übereinkommen wird sich die Finanzierungslücke weiter schließen. Die baukonjunkturbedingte Finanzierungslücke kann vollständig geschlossen werden, wenn sich neben Russland und Deutschland auch die anderen Vertragsstaaten anteilmäßig zur Übernahme der Mehrkosten bereit erklären. Die Verhandlungen darüber sind auf gutem Wege. Bei FAIR sind die internationalen Verhandlungen zunächst abgeschlossen. Dennoch setzen sich das BMBF und die Geschäftsführung der FAIR GmbH dafür ein, weitere Partner zu gewinnen. Es laufen Gespräche mit Brasilien und China, Großbritannien hat zugesagt, sich finanziell an den Experimenten zu beteiligen. Anlage 20 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 50): Aus welchen Gründen streicht die Bundesregierung die erfolgreiche Förderung für kleine und mittlere Unternehmen, KMU, im Rahmen der Hightech-Strategie KMU-innovativ im Haushaltsentwurf 2012 – beispielsweise im Bereich „Sicherheitsforschung“ –, und mit welchen Maßnahmen soll weiterhin eine angemessene Beteiligung von kleinen und mittleren Unternehmen bei der Projektförderung sichergestellt werden? Die Förderinitiative KMU-innovativ ist ein bewährter, integrierter Baustein der Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen, KMU, in den Fachprogrammen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, BMBF. Das Instrument wird in allen Technologiefeldern innerhalb der Fachprogrammförderung des BMBF auch zukünftig auf hohem Niveau weitergeführt. Erläuterungen in den Titelgruppen 20, 30 und 40 des Einzelplans 30 beziehen sich grundsätzlich auf Inhalte der Förderung, nicht aber auf die Instrumente. Entsprechend dieser Systematik wird im Allgemeinen auf eigene Erläuterungsziffern für einzelne Instrumente in der KMU-Förderung im Haushaltsplan des BMBF verzichtet. Dies gilt auch für den von Ihnen als Beispiel genannten Bereich der Sicherheitsforschung. Die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen wird auch weiterhin für das BMBF von hoher Priorität sein. Im Vergleich zum Haushaltsjahr 2005 ist die Förderung des BMBF an KMU in 2010 um 60 Prozent – also stärker als die Haushaltsansätze – gewachsen. Damit geht inzwischen die Hälfte der FuE-Förderung in Unternehmen an KMU. Über die Entwicklung der KMU-Förderung insgesamt sowie KMU-innovativ in allen Titelgruppen berichtet das BMBF jährlich. Kleine und mittlere Unternehmen werden zudem maßgeblich im Rahmen des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand, ZIM, des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie unterstützt. Anlage 21 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 51): Aus welchen Gründen kommt das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Hinblick auf die seit 2007 fertiggestellten Forschungsbauten mit einem Volumen von lediglich 221 Millionen Euro und damit weniger als einer einzigen vollen Jahresrate von 298 Millionen Euro, permanenten Minderabflüssen aus dem Bundeshaushalt in diesem Bereich seit 2007 und der Erwirtschaftung der Globalen Minderausgabe 2010 mit über 95,7 Millionen Euro aus dem Titel „Überregionale Forschungsförderung im Hochschulbereich“ (Kapitel 30 03 Titel 882 01) in der sogenannten Haushaltsfibel (Seite 161) zum Regierungsentwurf 2012 zu dem Schluss, dass sich das Verfahren nach AV-FuG (Ausführungsvereinbarung über die gemeinsame Förderung von Forschungsbauten an Hochschulen einschließlich Großgeräten) bewährt hat, und wie will die Bundesregierung im Hinblick auf die in § 11 AV-FuG vorgesehene Evaluierung der Ausgestaltung dieser Gemeinschaftsaufgabe bis Mitte 2012 die angeführten Mängel künftig abstellen? Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz entscheidet jährlich über die Titelanteile für die Großgeräte und die Forschungsbauten. Seit 2007 beträgt die Aufteilung unverändert: 213 Millionen Euro für die Forschungsbauten und 85 Millionen Euro für die Großgeräte. Das Volumen der fertiggestellten Forschungsbauten beträgt 221 Millionen Euro und liegt damit über einer Jahresrate für die Forschungsbauten. Bis zum Jahr 2010 blieb der Mittelabfluss hinter den gesetzlich zur Verfügung zu stellenden Mitteln zurück, was neben einem in der Startphase geringen Antragsaufkommen vor allem darauf beruhte, dass Verzögerungen im Planungs-, Genehmigungs- und Bauprozess unvermeidbar Minderabflüsse zur Folge hatten. Der gegenüber den Vorjahren im Haushaltsjahr 2010 geringere Mittelabfluss ist durch das Auslaufen der Mitfinanzierung der Überleitungsvorhaben nach § 4 AV-FuG zu erklären. Aufgrund der Bedarfsmeldungen der Länder und den für die Förderrunde 2012 vom Wissenschaftsrat empfohlenen Forschungsbauten ist ab 2012 ff. mit einem der Titelausstattung angemessenen Mittelabfluss zu rechnen. Der Bericht gemäß § 11 AV-FuG zur Bewertung des Verfahrens zur Förderung von Forschungsbauten wurde von der GWK in ihrer Sitzung am 20. Juni 2011 zustimmend zur Kenntnis genommen. Darin wird insbesondere festgehalten: „Das Verfahren nach AV-FuG hat sich bewährt und kann in seiner derzeitigen Ausgestaltung weitergeführt werden. Das gewählte wettbewerbliche Verfahren auf Antragsbasis, Begutachtung durch den Wissenschaftsrat und im Großgerätebereich zusammen mit der DFG sowie Beschlussfassung durch Bund und Ländern im Rahmen des AV-FuG-Verfahrens gewährleistet eine Verwendung von Fördermitteln entsprechend der Forschungsprogrammatik. Auf allen Verfahrensstufen sind Bund und Länder in jeweils unterschiedlicher Weise angemessen beteiligt; das antragstellende Land und die für das Forschungskonzept verantwortliche Hochschule können aktiv am Begutachtungsverfahren im Wissenschaftsrat mitwirken.“ Im Anschluss hieran prüft das BMBF derzeit gemeinsam mit den Ländern administrative Anpassungen unterhalb der Ebene der AV-FuG, um die Mittelbewirtschaftung zu verbessern. Anlage 22 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Oliver Kaczmarek (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 52 und 53): Für welche konkreten Maßnahmen sieht die Bundesregierung in ihrem Finanzplan 2013 bis 2015 Mittel in Höhe von 275 Millionen Euro vor, die für „vor- und außerschulisches Lernen im Lebenslauf“ reserviert sind? Wie stellt sich der gesamte Beitrag des Bundes zu einem angestrebten „Alpha-Pakt“ für die Grundbildung von Erwachsenen angesichts der alarmierenden Zahl von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten dar, und sieht die Bundesregierung den geplanten Beitrag in Höhe von jährlich 8,5 Millionen Euro – Einzelplan 30 Titel 685 42 Erläuterungsnummer 2 – als ausreichend an? Zu Frage 52: In Umsetzung des Koalitionsvertrages plant die Bundesregierung die Förderung lokaler Bildungsbündnisse. Mithilfe dieser Bündnisse aus zivilgesellschaftlichen Akteuren beabsichtigt die Bundesregierung, Maßnahmen für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche zu fördern. Eine entsprechende Förderbekanntmachung wird derzeit vorbereitet, die Förderung wird 2013 beginnen. Mit diesen Bündnissen für Bildung sollen pädagogisch qualitätsgesicherte Angebote im außerschulischen bzw. außerunterrichtlichen Bereich bundesweit ermöglicht und zugleich zivilgesellschaftlich getragene Initiativen, die vor Ort für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen, gestärkt werden. Zu Frage 53: Bund und Länder haben vereinbart, einen „Nationalen Pakt für Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland“ zu initiieren und gemeinsam mit den Sozialpartnern, den kommunalen Spitzenverbänden und den gesellschaftlich engagierten Gruppen gezielte Maßnahmen zu konzipieren. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung plant, im Rahmen des Grundbildungspaktes einen neuen Förderschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung“ aufzulegen, denn 56 Prozent der funktionalen Analphabeten unter den Erwachsenen sind erwerbstätig. Ziel dieses Förderschwerpunktes soll es insbesondere sein, das Interesse von Unternehmen und Akteuren am Arbeitsmarkt zu steigern, Alphabetisierungs- und Grundbildungsangebote am Arbeitsplatz einzurichten und durchzuführen. Zudem sollen Unternehmen und gesellschaftlich relevante Akteure wie zum Beispiel Arbeitsvermittlungen, Gewerkschaften, Kammern und Verbände für die Thematik sensibilisiert sowie in die Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit eingebunden werden. Für dieses Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur „arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung“ sind insgesamt 20 Millionen Euro bis 2014 vorgesehen. Darüber hinaus stellt der Bund mit den Integrationskursen, den Eingliederungsmaßnahmen für Arbeitslose der Bundesagentur für Arbeit, der beruflichen Weiterbildung für KMU nach dem SGB III und der Weiterbildungsprämie Instrumente bereit, in deren Rahmen bereits heute Alphabetisierungsmodule enthalten sind. Die finanzielle Größenordnung ist wegen des integrativen Charakters dieser Module nicht bestimmbar. Im Rahmen der weiteren Gespräche zur Gestaltung des Grundbildungspakts wird auch darüber beraten, wie diese Instrumente noch zielgerichteter auch auf Alphabetisierungselemente ausgerichtet werden können. Anlage 23 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 54): Wie viele Anträge auf ein Aufstiegsstipendium sind in den Jahren 2009, 2010 und 2011 – bis dato – gestellt worden, und wie viele positive Förderzusagen konnten in denselben Jahren jeweils gegeben werden? Im Programm Aufstiegsstipendium wurden im Jahr 2009 bei 3 301 Bewerbungen 896 positive Förderzusagen gegeben. Im Jahr 2010 standen 3 383 Bewerbungen 1 014 ausgewählte Personen gegenüber. Im Jahr 2011 wurden bis dato 3 388 Bewerbungen eingereicht, von denen voraussichtlich rund 1 000 zur Förderung ausgewählt werden. Einschließlich der im Jahr 2008 erfolgten Auswahlrunde wurden seit dem Programmstart insgesamt 12 806 Bewerbungen eingereicht; die Zahl der positiven Vergabeentscheidungen wird bis Ende 2011 voraussichtlich rund 3 500 betragen. Anlage 24 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 55): Welchen konkreten Projekten soll der im Finanzplan ab 2013 geplante Aufwuchs in der beruflichen Bildung insbesondere zur besseren Ausschöpfung aller Potenziale (Einzel-plan 30 Titel 685 20 Erläuterungsnummer 2) zugutekommen? Beim Titel 30 02/685 20 „Innovationen und Strukturentwicklungen in der beruflichen Bildung“ ist der Aufwuchs für Maßnahmen im Rahmen der Initiative „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Aus-bildungsabschluss“ vorgesehen, insbesondere Berufseinstiegsbegleitung – Erhöhung der Zahl der Berufseinsteiger auf 1 000 –, Potenzialanalysen, Einsatz von Mentoren zur Verhinderung von Abbrüchen und Stärkung Jugendlicher in der Berufsausbildung (VerA). Anlage 25 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 56): Welche Vorkehrungen hat die Bundesregierung im Finanzplan 2013 bis 2015 für den Hochschulpakt zur Ausfinanzierung aller Studienanfänger getroffen, sollten wie gegenwärtig erwartet deutlich mehr als die bisher geplanten 275 000 zusätzlichen Studienanfänger ein Studium aufnehmen? Als Folge der Aussetzung der Wehrpflicht haben Bund und Länder in der GWK-Sitzung am 21. März 2011 bereits ihre Finanzzusage auf rund 320 000 bis 335 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten für die Jahre 2011 bis 2015 erhöht. Darüber hinaus hat der Bund zugesichert, seinen Beitrag für die Ausfinanzierung der Studienanfänger der ersten Programmphase entsprechend der tatsächlichen Studienanfängerentwicklung zu erhöhen. Insgesamt stellt der Bund für die zweite Programmphase rund 1,5 Milliarden Euro mehr zur Verfügung als ursprünglich mit den Ländern vereinbart wurde, davon mehr als 700 Millionen Euro für die Jahre 2013 bis 2015. In den nächsten Jahren stehen damit ausreichende Mittel für den Ausbau der Studienangebote bereit. Es besteht in der GWK Einvernehmen, dass Bund und Länder für den Fall, dass die Zahl der zusätzlichen Studienanfänger der zweiten Programmphase die in dem GWK-Beschluss vom 21. März 2011 genannte Zahl von 320 540 bis 334 940 zusätzlichen Studienanfängern übersteigt, rechtzeitig Gespräche zu sich daraus ergebenden Folgerungen aufnehmen. Anlage 26 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 57): Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung auf den Umfang der Förderung des Studenten- und Wissenschaftleraustausches des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, DAAD, aus dem Titelansatz für den Bundeshaushalt 2012, der rund 15 Millionen Euro unterhalb der Ist-Ausgaben aus 2010 liegt? Es ist vorgesehen, den Ansatz der DAAD-Förderung in 2012 gegenüber dem Soll 2011 um 10 000 Euro zu erhöhen. Diese Mittel sollen zur Verfügung gestellt werden, um Individualstipendien zu verstärken und neue Auswahlrunden in allen Programmen zu ermöglichen, – insbesondere beim Programm „Ausländische Gastdozenten“, sowie das auf Anhieb sehr nachgefragte neue Programm PROMOS, „Programm zur Mobilität von deutschen Studierenden und Doktoranden“, zu verstetigen. Anlage 27 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Fragen 58 und 59): Wie erklärt sich die Bundesregierung die Zurückhaltung von Unternehmen und privaten Stiftern, sich am sogenannten Deutschlandstipendium finanziell zu beteiligen, obwohl doch eine staatliche Kofinanzierung bereitsteht – bis zum Jahresende rechnet die Bundesregierung aktuell damit, dass nur etwa zwei Drittel der geplanten Mittel gebraucht werden – und wie bewertet die Bundesregierung diesen schleppenden Anlauf des nationalen Stipendienprogramms auch vor dem Hintergrund, dass der Ansatz für das Haushaltsjahr 2011 von 10 Millionen Euro deutlich unter dem ursprünglich im Gesetzentwurf genannten Ansatz lag, 65 Millionen Euro, und diese Differenz zwischen Gesetzentwurf und kommenden Haushaltsjahren sich weiter verschärft, 2013: Gesetzentwurf sah 160 Millionen Euro vor, mittelfristige Finanzplanung nennt 51 Millionen Euro? Welche einzelnen Parameter – Zahl der Stipendien, Dauer der Förderung, Herkunft der Geförderten, Bürokratiekosten usw. wird die jährliche Bundesstatistik enthalten, die „erstmals nach Ablauf des Kalenderjahres 2011 erstellt“ werden soll (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD auf Bundestagsdrucksache 17/6796 zu Frage 11), und zu welchem Datum soll diese Statistik erscheinen? Zu Frage 58: Die Mutmaßung, es gebe eine Zurückhaltung von privaten Mittelgebern, sich am Deutschland-Stipendium zu beteiligen, kann die Bundesregierung nicht bestätigen. Der Mittelplanung für das Jahr 2011 lag die Annahme einer durchschnittlichen Förderungsdauer von sieben Monaten zugrunde. Ein erheblicher Anteil der Hochschulen wird erst zum Wintersemester 2011 mit der Vergabe von Stipendien beginnen, nachdem sie die vergangenen Monate genutzt haben, um sich auf die Beteiligung an dem Programm vorzubereiten. Aus diesem Grund ist die tatsächliche Förderungsdauer pro Stipendium in 2011 wesentlich geringer als ursprünglich veranschlagt. Hierdurch verringert sich auch der erwartete Mittelabfluss. Die Finanzplanung für die kommenden Jahre wurde bereits im Sommer 2010 auf der Grundlage der Ergebnisse der Anhörung im Deutschen Bundestag am 9. Juni 2010 überarbeitet, um den Wünschen der am Programm Beteiligten, insbesondere der Hochschulen zu entsprechen. Zu Frage 59: Die jährliche Bundesstatistik zum Deutschlandstipendium erfasst folgende Erhebungsmerkmale: Erstens. Zu den Stipendiatinnen und Stipendiaten – Geschlecht – Staatsangehörigkeit – Art des angestrebten Abschlusses – Art der Ausbildungsstätte – Studienfachrichtung – Semesterzahl, Fachsemesterzahl – Zahl der Fördermonate – Bezug von Leistungen nach dem BAföG Zweitens. Zu den privaten Mittelgebern – Rechtsform – Angaben zur Zweckbindung der Stipendien – Gesamtsumme der bereitgestellten Mittel. Die Übermittlung der Daten von den Statistischen Landesämtern an das Statistische Bundesamt ist für den 31. März 2012 vorgesehen. Das genaue Erscheinungsdatum der Bundesstatistik steht noch nicht fest. Anlage 28 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Fragen des Abgeordneten Willi Brase (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 60 und 61): Nach welcher Maßgabe koordiniert die Bundesregierung die gleichgerichteten Maßnahmen der Berufseinstiegsbegleitung nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch und der Bildungslotsen im Rahmen der Bildungsketten (Einzelplan 30 Titel 685 20), zumal erstere mit dem noch in Beratung befindlichen Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 17/6277 auf alle Schulen ausgedehnt werden sollen, letztere hingegen weiterhin auf 1 000 Zielschulen beschränkt bleiben? Welche Überlegungen rechtfertigen aus Sicht der Bundesregierung die Dopplung gleichgerichteter Maßnahmen zur Berufsorientierung und zur Potenzialanalyse im Bildungshaushalt, die einerseits im Rahmen der Bildungsketten (Einzelplan 30 Titel 685 20) sowie andererseits im Rahmen der Förderung kooperativer Angebote der Berufsorientierung gefördert werden sollen (Einzelplan 30 Titel 685 21)? Zu Frage 60: Die Auswahl der Schulen im Rahmen des Sonderprogramms Berufseinstiegsbegleitung der Initiative „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“ erfolgte auf Vorschlag der Länder, die nur Schulen für eine Berufseinstiegsbegleitung benennen sollten, an denen noch keine Berufseinstiegsbegleitung nach § 421 s SGB III realisiert wurde. Die Umsetzung des Sonderprogramms des BMBF erfolgt über die Bundesagentur für Arbeit, sodass hier eine Koordination mit den Maßnahmen nach SGB gesichert ist. Bei einer möglichen Ausdehnung auf alle allgemeinbildenden Schulen wird durch die Bundesagentur für Arbeit die Koordination auch zukünftig sichergestellt. Zu Frage 61: Es handelt sich nicht um eine Dopplung, da das BMBF-Berufsorientierungsprogramm in überbetrieblichen und vergleichbaren Einrichtungen, BOP, Bestandteil der Initiative Bildungsketten ist und systemisch damit die Form der Berufsorientierung abbildet. Ziel der Initiative Bildungsketten ist es gerade verschiedene Instrumente systemisch zu verzahnen. So werden aus dem Einzelplan 30, Titel 685 21 nur Maßnahmen der Berufsorientierung, BOP, finanziert – zweiwöchige Werkstatttage und Potenzialanalyse. Des Weiteren ist durch die Vorgaben im Rahmen der Förderrichtlinie zum BOP und den Vorgaben im Rahmen des Sonderprogramms Berufseinstiegsbegleitung sichergestellt, dass die Potenzialanalysen nur einmal durchgeführt und gefördert werden. Anlage 29 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Thomas Rachel auf die Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 62): Welche konkreten Vorhaben und Maßnahmen gibt es – mit Blick auf den Gastbeitrag der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, im Info-Bulletin des Deutsch-Russischen Forums, Ausgabe 3 – seitens der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Rahmen des am 23. Mai 2011 in Moskau eröffneten Deutsch-Russischen Jahres der Bildung, Wissenschaft und Innovation 2011/2012, und wie sind bei der Planung und Durchführung Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen einbezogen? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Russischen Föderation stellen in der Ausgestaltung des Deutsch-Russischen Jahres der Bildung, Wissenschaft und Innovation 2011/12, DRWJ, vier strategische Schwerpunkte in den Vordergrund. Dementsprechend sind alle disziplinären und interdisziplinären Forschungsbereiche aufgerufen, ihre Kooperationsmaßnahmen zu präsentieren und zu intensivieren. In diesen Schwerpunkten wurden keine gesonderten Vorhaben geplant, die speziell auf die Belange von Menschen mit Behinderung zugeschnitten sind. Soweit bei solchen Vorhaben, Maßnahmen und Veranstaltungen auch Menschen mit Behinderung angesprochen oder beteiligt sind, wird auf deren besondere Belange – zum Beispiel barrierefreier Zugang – selbstverständlich Rücksicht genommen. Organisationen von Menschen mit Behinderung oder andere Verbände außerhalb von Bildung und Forschung wurden nicht gezielt in die Planung und Durchführung des DRWJ eingebunden. Anlage 30 Antwort der Parl. Staatssekretä rin Gudrun Kopp auf die Frage der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 63): Wann wird die Bundesregierung nach der jetzt erfolgten Veröffentlichung der Ergebnisse des High-Level-Panel-Berichts zu den Korruptionsvorwürfen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gegen den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria, GFATM, die zurückgehaltenen Mittel in Höhe von 100 Millionen Euro auszahlen, und wird sie jetzt auf die den Statuten des GFATM und den Zusagen der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel widersprechenden Konditionierungen für die weitere Vergabe von Mitteln verzichten? Die Bundesregierung begrüßt die Vorlage des Berichts der unabhängigen Kommission zu den Mittelfehlverwendungen beim GFATM. Der darin festgehaltene erhebliche und dringende Reformbedarf beim GFATM und bei der Nutzung von länderspezifischen, nach Korruptionsrisiko differenzierten Umsetzungswegen sowie neuen Managementstrukturen für den GFATM unterstreicht einmal mehr die Wichtigkeit dieser politischen Initiative der Bundesregierung – im Interesse einer künftigen Vermeidung von Korruption und Mittelfehlverwendung im Bereich des GFATM wie auch im Interesse einer Neuorientierung des Fonds mit Blick auf eine Steigerung der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit seiner Beiträge. Der Bericht fordert gravierende Änderungen in der Struktur, im Management und bei den Instrumenten des GFATM. Die Bundesregierung hat den GFATM aufgefordert, dazu noch vor Ende September eine konkrete Umsetzungsplanung zu entwickeln und den Gebern des Fonds zur Entscheidung vorzulegen. Sobald sich das GFATM-Board und das Sekretariat verbindlich verständigt haben, wie und wann die Empfehlungen der Kommission umgesetzt werden, wird die Bundesregierung die noch ausstehende Tranche über 100 Millionen Euro für 2011 freigeben. Zukünftige Beiträge werden an konkrete Reformfortschritte geknüpft werden. Anlage 31 Antwort der Parl. Staatssekretä rin Gudrun Kopp auf die Frage der Abgeordneten Heike Hänsel (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 64): Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, mit dem ehemaligen Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung, FNSt, in Honduras, Christian Lüth, der öffentlich den Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya unterstützt hat, nun bereits nach Harald Klein der zweite Mitarbeiter der FNSt in eine wichtige Position im BMZ eingestellt worden ist, der zuvor in Honduras die Putschisten unterstützt hat, entgegen der Position des Auswärtigen Amts, der EU und der Vereinten Nationen? Die Auswahl von Beschäftigten des BMZ erfolgt, wie in allen Bundesbehörden, nach Leistung, Eignung und Befähigung. Der in der Anfrage benannte Mitarbeiter wird als Referent des BMZ im Bereich der Steuerung der Durchführungsorganisationen eingesetzt. Die Funktion eines Referenten auf Bearbeiterebene ist in der Ministerialbürokratie nicht herausragend. Alle Beschäftigten des BMZ vertreten im Übrigen die politische Linie der Bundesregierung. Anlage 32 Antwort der Parl. Staatssekretä rin Gudrun Kopp auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Sascha Raabe (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 65 und 66): Wie beurteilt insbesondere der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Einführung einer Finanztransaktionsteuer in ihrer Auswirkung auf Entwicklungs- und Schwellenländer, und auf welche Weise kann er in seiner Funktion als Gouverneur der Weltbank die Bemühungen der Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, und des französischen Staatspräsidenten unterstützen, dieses Instrument der Finanzmarktregulierung erneut auf die Tagesordnung der Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank zu setzen? Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer zunächst für die Armutsbekämpfung vor allem in Entwicklungsländern gedacht waren, und wie ist die heutige Position der Bundesregierung, insbesondere des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, über die Verwendung eines Teils des Aufkommens aus einer von der Bundesregierung geplanten Finanztransaktionsteuer für Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern? Die Bundesregierung setzt sich für eine weltweite Einführung einer Finanztransaktionsteuer ein. Zumindest soll eine Finanztransaktionsteuer, FTT, innerhalb der EU eingeführt werden. Die FTT bietet die Möglichkeit, zusätzliche Einnahmen zu generieren. Sie kann auch der Stabilisierung und Marktregulierung von Finanzmärkten dienen. Die Prognosen der fiskalischen Wirkungen einer Finanztransaktionsteuer gehen jedoch weit auseinander und hängen stark davon ab, ob eine Finanztransaktionsteuer in einzelnen Ländern, regional oder in allen wichtigen Handelsplätzen oder sogar weltweit eingeführt wird. Man kann zum jetzigen Zeitpunkt weder absehen, in welcher Form eine Finanztransaktionsteuer durchsetzbar sein wird, noch ob sie überhaupt weltweit durchgesetzt werden kann. Detaillierte Aussagen über die Auswirkungen auf Entwicklungs- und Schwellenländer lassen sich daher derzeit ebenfalls nicht treffen. Die diskutierte Frage der Aufkommensverwendung auch zur Finanzierung globaler Kollektivgüter macht erst bei Einführung einer Finanztransaktionsteuer Sinn. Über die Verwendung der Einnahmen des Bundeshaushaltes entscheidet im Rahmen seines Budgetrechts der Deutsche Bundestag. Anlage 33 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Fragen des Abgeordneten Gerd Bollmann (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 67 und 68): Beabsichtigt die Bundesregierung, bis zum weiteren Vorliegen wissenschaftlicher Erkenntnisse die Erteilung von Genehmigungen zum Fracking auszusetzen? Beabsichtigt die Bundesregierung, bei Bohrungen nach unkonventionellem Erdgas die Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben, UVP-V Bergbau, zu ändern, um die Öffentlichkeit besser einzubinden? Zu Frage 67: Die Erteilung von Genehmigungen zum Fracking liegt in der Zuständigkeit der Bergbehörden der Länder, die auf der Grundlage des Bundesberggesetzes und der Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben, UVP-V Bergbau, unter Beteiligung weiterer zuständiger Behörden entscheiden. Zu Frage 68: Die Bundesregierung prüft derzeit den Änderungsbedarf. Jedoch müssen aus Sicht der Bundesregierung im Rahmen von Zulassungsentscheidungen bei Erdgasförderung aus unkonventionellen Lagerstätten die Umweltauswirkungen grundsätzlich berücksichtigt werden. Anlage 34 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 69): Sieht die Bundesregierung § 14 Abs. 5 und § 23 Abs. 1 der Niedersächsischen Verordnung über die Feld- und Förderabgabe, wonach die Gasförderung aus Tongesteinen, Tight Gas, von der Förderabgabe befreit bzw. die Kosten nicht fündiger Gasexplorationsbohrungen seit dem 1. Januar 2011 bis zu einer Höhe von 2 Millionen Euro von der zu entrichtenden Förderabgabe abgezogen werden können, für beihilferechtlich sowohl nach nationalen als auch europäischen Regelungen als zulässig an, und wenn ja, wann wurden die niedersächsischen Regelungen bei der EU-Kommission notifiziert? Die Bundesregierung und das Land Niedersachsen sind zu einer etwaigen beihilferechtlichen Relevanz dieser Regelungen der Niedersächsischen Verordnung zur Erhebung der Förder- und Feldesabgabe im Gespräch. Eine beihilferechtliche Notifizierung dieser Regelungen bei der Europäischen Kommission ist bisher nicht erfolgt. Anlage 35 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 70): Sieht die Bundesregierung weiterhin keine europarechtlichen Bedenken beim angekündigten Förderprogramm für fossile Kraftwerke, wie in ihrer Antwort auf meine schriftliche Frage 46 auf Bundestagsdrucksache 17/6658 geäußert, vor dem Hintergrund der jüngsten Äußerungen des EU-Energiekommissars, Günther Oettinger, der das Förderprogramm als nicht „zwingend europatauglich“ (siehe energate-Meldung vom 11. September 2011) sieht, das aufgrund des Gleichbehandlungsgebots gegen EU-Recht verstößt, und wie will die Bundesregierung daher konkret sicherstellen, dass lediglich Kraftwerksbetreiber eine Förderung erhalten, die weniger als 5 Prozent an den deutschen Erzeugungskapazitäten besitzen und somit Deutschland keine möglichen späteren Strafzahlungen an die Europäische Union begleichen muss? Die Bundesregierung wird selbstverständlich eine beihilferechtskonforme Ausgestaltung des geplanten Kraftwerksförderprogramms sicherstellen. Hierfür ist zunächst die Schaffung der konkreten beihilferechtlichen Grundlage durch die Europäische Kommission notwendig. Die hierfür zuständige Generaldirektion Wettbewerb unter Vizepräsident Almunia hat zugesagt, bis Ende dieses Jahres bzw. spätestens Anfang nächsten Jahres die erforderlichen Regeln zu schaffen. Anschließend muss das deutsche Förderprogramm notifiziert und von der Kommission genehmigt werden. Bei den bisherigen Gesprächen mit der Generaldirektion Wettbewerb wurde die geplante Begrenzung des Kreises der Zuwendungsempfänger auch auf ausdrückliche Nachfrage nicht beanstandet. Strafzahlungen wären überhaupt nur denkbar, wenn eine rechtswidrige Beihilfe gewährt und einer Entscheidung der Kommission zur Rückforderung der Beihilfe nicht Folge geleistet worden wäre. Anlage 36 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Frage der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 71): Kann die Bundesregierung garantieren, dass für die Energieforschung im Jahr 2012 die vollen Fördermittel (laut Aussage des Abgeordneten Albert Rupprecht (Weiden) am 8. September 2011 im Plenum des Deutschen Bundestages 657 Millionen Euro) laut Finanzplan 2011 bis 2015 des Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ zur Verfügung stehen werden, obgleich diese Fördermaßnahmen aus Versteigerungserlösen gespeist werden sollen, und welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Förderung in voller Höhe für die Forscherinnen und Forscher zu garantieren? Für 2012 sind aus dem Energie- und Klimafonds für die Energieforschung in den Bereichen erneuerbare Energien und Energieeffizienz Mittel in Höhe von 50 Millionen Euro vorgesehen. Dieser Betrag wird, vorbehaltlich der Entscheidung des Parlaments zum Haushalt und zum Wirtschaftsplan des EKF 2012, in voller Höhe zur Verfügung stehen. Sollten die Einnahmen des Sondervermögens in einem Wirtschaftsplanjahr unter den Erwartungen liegen, kann der EKF unter den Vo-raussetzungen von § 4 Abs. 4 Satz 2 EKFG n. F. ein Liquiditätsdarlehen aus dem Bundeshaushalt erhalten. Anlage 37 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Frage der Abgeordneten Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 72): Befürwortet die Bundesregierung die Namensnennung von Unternehmen, wenn die zu gründende Schlichtungsstelle Energie, wie in § 111 b des Energiewirtschaftsgesetzes vorgesehen, Entscheidungen von allgemeinem Interesse für den Verbraucher veröffentlicht, und wenn nein, warum nicht? Die Nennung des Unternehmensnamens durch die Schlichtungsstelle im Rahmen der Veröffentlichung einer Entscheidung von allgemeinem Interesse für den Verbraucher auf Grundlage des § 111 b Abs. 5 Satz 3 EnWG erscheint hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Grundrecht des Unternehmens auf informationelle Selbstbestimmung bedenklich. Primäre Aufgabe des Schlichtungsverfahrens ist gerade nicht, einen Rechtsverstoß festzustellen, sondern eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung zu finden. Die Feststellung eines Rechtsverstoßes kann weiterhin nur durch die Gerichte erfolgen. Aus dem Schlichterspruch lassen sich daher nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Seriosität des Unternehmens ziehen. Die mit der Veröffentlichung bezweckte Verbraucherinformation, soweit sie den Namen des Unternehmens betrifft, wird daher in der Regel hinter dem Unternehmensinteresse aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zurücktreten. Anlage 38 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Frage der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 73): Unterstützt die Bundesregierung das Vorhaben der EU-Kommission, die Energieversorger im Rahmen der Energieeffizienzrichtlinie zu jährlichen Energieeinsparungen von 1,5 Prozent zu verpflichten? Die zuständigen Ressorts der Bundesregierung stimmen derzeit ihre Position zu diesem Vorschlag der EU-Kommission ab. Anlage 39 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Hans-Joachim Otto auf die Frage der Abgeordneten Heike Hänsel (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 74): Was sagt die Bundesregierung zu der im Rahmen der Haushaltsdebatte zum Entwurf des Bundeshaushalts 2012 zu Einzelplan 23 am 7. September 2011 getroffenen Aussage, dass das seit Monaten öffentlich kritisierte mögliche Panzergeschäft mit Saudi-Arabien nicht stattfinden würde? Zu dem im Rahmen der Haushaltsdebatte angesprochenen möglichen Panzergeschäft mit Saudi-Arabien kann die Bundesregierung keine Stellung nehmen, da Tagesordnung und Entscheidung des Bundessicherheitsrats der Geheimhaltung unterliegen. Das Thema wurde in der Fragestunde am 6. Juli 2011 bereits ausführlich erörtert. Anlage 40 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der Abgeordneten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 75): Wie ist der aktuelle Stand der Planungen und der konkreten Durchführung von Bildungsprogrammen wie akademischem Austausch, Stipendienprogrammen und Bildungsinitiativen, die die Bundesregierung zur Unterstützung des arabischen Frühlings im Februar 2011 angekündigt hatte? In dem am 6. Juli 2011 vom Bundeskabinett beschlos-senen Regierungsentwurf für den Haushalt 2012 sind für den Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik des Auswärtigen Amts 20 Millionen Euro als Sondermittel für arabische Länder im Umbruch vorgesehen. Zur Mittelverwendung bestehen im Auswärtigen Amt bereits konzeptionelle Überlegungen: So sollen unter anderem im Rahmen einer Bildungs-, Kultur- und Medieninitiative unter dem Titel „Platz der Zukunft“ insbesondere Sonderstipendienprogramme und Bildungsprojekte finanziert werden. Der Name des Programms soll den Tahrir-Platz in Kairo und die öffentlichen Räume in den anderen Ländern der Region würdigen, von denen die Freiheitsbewegungen ihren Ausgang genommen haben. Da der Haushalt noch unter dem Vorbehalt der parlamentarischen Zustimmung steht, kann die Bundes-regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine konkreteren Auskünfte über Projekte und Partnerorganisationen geben. Anlage 41 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der Abgeordneten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 76): Welchen Standpunkt nimmt die Bundesregierung zu den im Anschluss an ein Treffen am 8. September 2011 in Hannover erhobenen Forderungen der Innenminister der norddeutschen Bundesländer ein, den vom Deutschen Bundestag bewilligten Rahmen für die EU-geführte Operation ATALANTA von 1 400 Soldaten konsequent auszuschöpfen, und wie lautet die derzeitige Position der Bundesregierung zu der im zweiten Halbjahr 2011 anstehenden Verlängerung und dann zu erfolgenden Neuausgestaltung des Mandats für die Operation ATALANTA? Die Bundesregierung plant, den Deutschen Bundestag zeitgerecht vor Ablauf des bis zum 18. Dezember 2011 vom Bundestag erteilten Mandates mit einem Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation ATALANTA zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias zu befassen. Nach Wunsch der Bundesregierung soll das Mandat um ein weiteres Jahr verlängert werden. Die im nationalen Mandat festgelegte Obergrenze von 1 400 Soldatinnen und Soldaten ist geeignet, auch bei Lageverschärfungen die zeitweilige Unterstützung der regulären Einsatzkräfte durch Verstärkungskräfte mit entsprechendem Fähigkeitsprofil zu ermöglichen – unter anderem Unterstützung von Geiselbefreiungsoperationen. Die im Mandat vorgesehene Obergrenze deckt in diesem Sinne die maximal mögliche Zusammenziehung bewaffneter deutscher Kräfte zur Erfüllung aller mandatierten Aufgaben ab. Eine dauerhafte, durchhaltefähige Entsendung der im nationalen Mandat definierten Obergrenze von 1 400 Soldatinnen und Soldaten würde die Kapazitäten der Deutschen Marine übersteigen. Deutschland ist unter anderem mit der dauerhaften Gestellung einer Fregatte mit zwei Bordhubschraubern, bewaffneten Schutzteams der Bundesmarine und zeitweilig eingesetzten Seefernaufklärern engagiert. Somit sind wir mit Spanien und Frankreich der verlässlichste und größte Truppensteller in der Anti-Piraterie am Horn von Afrika. Zeitweise wurde das deutsche Kräftedispositiv bereits durch weitere Fregatten, Einsatzgruppenversorger und Betriebsstofftransporter verstärkt. Anlage 42 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 77): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Äußerung des tschechischen Außenministers Karel Schwarzenberg (Interview im Tagesspiegel vom 12. August 2011), dass der Beitritt der Staaten des westlichen Balkans Vorrang hat, und mit welchem der Länder des westlichen Balkans sollten aus Sicht der Bundesregierung im Zeitraum der kommenden zwei Jahre Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden? Auf dem Europäischen Rat in Thessaloniki hat die EU eine Beitrittsperspektive für alle Länder des westlichen Balkans formuliert, die weiterhin gültig ist. Für jeden Schritt der EU-Annäherung sind allerdings von den Beitrittsaspiranten Voraussetzungen zu erfüllen, die unter anderem in den Kopenhagener Kriterien formuliert und im Rahmen der Konditionalität des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses umgesetzt werden. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die jeweils benannten Voraussetzungen ohne Abstriche erfüllt werden müssen, um den nächsten Schritt der Annäherung zu vollziehen. Die EU-Kommission erstellt auch zu diesem Zweck jährliche Fortschrittsberichte. Im Oktober 2011 erwarten wir die Berichte – und die darin enthaltenen Empfehlungen – zu den Ländern Montenegro, Serbien, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und Albanien. Diese wird die Bundesregierung als wichtigen Teil ihrer Meinungsbildung rasch und gründlich prüfen. Anlage 43 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 78): Wie soll aus Sicht der Bundesregierung die Perspektive der Erweiterung für die Partnerstaaten der Europäischen Nachbarschaftspolitik in die Erklärung für den von der polnischen EU-Präsidentschaft geplanten Gipfel zur Östlichen Partnerschaft einfließen, und wie beurteilt die Bundesregierung die Rolle der unter polnischer Führung bestehenden Informations- und Konsultationsgruppe? Die Europäische Nachbarschaftspolitik und die Erweiterung der EU sind zwei voneinander getrennte Prozesse. Die Frage eines möglichen Beitritts zur EU wird weder in der Europäischen Nachbarschaftspolitik noch in der Östlichen Partnerschaft, ÖP, thematisiert. So sieht es auch das Gründungsdokument der Östlichen Partnerschaft vor. Aus Sicht der Bundesregierung ist diese Trennung sinnvoll und sollte beibehalten werden. Die Warschauer Gipfelerklärung hingegen sollte eine ambitionierte Agenda für die Östliche Partnerschaft entwerfen. Die ÖP bietet allen interessierten Staaten der Region eine Möglichkeit zum Dialog und zur Kooperation. Die Bundesregierung begrüßt daher die Einrichtung der Informations- und Koordinierungsgruppe als Möglichkeit, auch Drittstaaten in die ÖP einzubinden. Anlage 44 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des Abgeordneten Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Fragen 79 und 80): In welchen Distrikten des Regional Command North hat das Innenministerium Afghanistans den Einsatz der Afghan Local Police zugelassen, und in welchen dieser Distrikte wurden Einheiten aufgestellt? Inwieweit setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass die staatliche Aufsicht und Kontrolle der Afghan Local Police verbessert wird? Zu Frage 79: Im deutschen Verantwortungsbereich hat das afghanische Innenministerium den Aufbau einer afghanischen Lokalpolizei in Pul-e Khomri – Baghlan Provinz – zugelassen. Dort wurden 210 von 225 Polizeieinheiten aufgestellt. Weiter hat das afghanische Innenministerium den Aufbau in Kunduz – Kunduz Provinz – zugelassen. Dort wurden 115 von 225 Einheiten aufgestellt. Weitere Zulassungen liegen vor für die Distrikte Chahar Dara, Imam Saheb, Dasht-e Archi – Kunduz Provinz –, Dardak und Kwajah-e Ghar – Takhar Provinz – sowie im Westen in Quesh Tepah und Darzap – Jowsjan Provinz –, Sayad und Kohistanar – Sar-e Pul Provinz –, Ghowrmach – Badghis Provinz. Die Aufstellung ist dort jedoch noch nicht erfolgt. Zu Frage 80: Afghanistan ist ein souveräner Staat. Vertreter der Bundesregierung unterstreichen jedoch bei bilateralen Gesprächen mit Vertretern der afghanischen Regierung regelmäßig die Notwendigkeit, die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Afghanistan eingegangen ist, einzuhalten. Hierzu gehören unter anderem der Internationale Pakt zum Schutz von bürgerlichen und politischen Rechten. Diese eingegangenen Verpflichtungen gelten selbstverständlich auch für die Aufsicht und die Kontrolle über die afghanische Lokalpolizei. Anlage 45 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 81): Mit welchen Kosten – aufgeführt nach den einzelnen Kostenstellen – rechnet die Bundesregierung für den unmittelbar bevorstehenden Papstbesuch, dessen Verlauf nun weitgehend feststehen müsste (vergleiche Bundestagsdrucksache 17/6827), und wer wird diese Kosten tragen? Der Besuch des Papstes gliedert sich in einen offiziellen Besuchsteil – überwiegend in Berlin – und einen pastoralen Teil. Nur für die offiziellen Besuchsteile trägt der Bund die protokollarische Verantwortung und die damit verbundenen Kosten. Die pastoralen Teile des Besuchs liegen – auch auf der Kostenseite – in der Verantwortung der katholischen Kirche. Wie bei anderen vergleichbaren Besuchen von Staatsoberhäuptern gewährleistet der Bund als Gastgeber jedoch während des gesamten Aufenthaltes – offizielle und pastorale Teile – in Deutschland die Sicherheit und das Wohlergehen des Gastes. Hierunter fallen insbesondere die Kosten des sicheren Transportes im Inland. Die Sicherheit der Veranstaltungsteilnehmer wird durch die Bundespolizei und die Polizeien der Länder in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich gewährleistet. Die Kosten gliedern sich im Einzelnen wie folgt: Erstens. Protokoll – Auswärtiges Amt/Bundespräsidialamt: Die Ausgaben für protokollarische Zwecke – Beflaggung, Transport, Tribünen für Gäste und Ähnliches – dürften nach jetziger Schätzung bei etwa 250 000 Euro liegen. Zweitens. Bundesministerium der Verteidigung: Die protokollarischen Maßnahmen seitens des BMVg umfassen die Maßnahmen des Staatszeremoniells, die für jeden Staatsbesuch durchgeführt werden. Zusätzliche Kosten entstehen darüber hinaus nicht. Drittens. Bundespresseamt: Für die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Abstimmung mit der Deutschen Bischofskonferenz verantwortete Medienbetreuung – zum Beispiel Journalistenakkreditierung, Poolbetreuung, Journalistentransporte – wird voraussichtlich circa 1 Million Euro zu veranschlagen sein. Viertens. Bundesministerium des Innern: Im Zuständigkeitsbereich des BMI lässt sich die Größenordnung der entstehenden Kosten zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zuverlässig einschätzen. Sie ergibt sich aus dem tatsächlichen Besuchsverlauf. Anlage 46 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 82): Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Beteiligung ehemaliger Bundeswehrsoldaten bzw. polizisten und/oder anderer deutscher Staatsbürger in den Vereinigten Arabischen Emiraten als Angestellte der dem Gründer der Firma Blackwater, Erik Prince, zuzurechnenden Sicherheitsfirma R2 an der Ausbildung der aus privaten Sicherheitskräften zusammengesetzten Special Security Force, deren Hauptzweck die Aufstandsbekämpfung ist? Die Bundesregierung prüft derzeit einen Ersthinweis, demzufolge deutsche Staatsangehörige Beraterfunktionen in dem von Ihnen benannten Kontext wahrnehmen. Anlage 47 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 83): Welche konkreten Vorhaben und Maßnahmen gibt es seitens der Bundesregierung mit Blick auf das geplante „Jahr Russlands in Deutschland“ sowie das „Jahr Deutschlands in Russland“ in den Jahren 2012 und 2013 zu dem Thema bilaterale Zusammenarbeit im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zwischen Deutschland und der Russischen Föderation, und wie sind bzw. werden dabei Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen einbezogen? Die Vorbereitungen für das „Jahr Deutschlands in Russland“ sind vor kurzem angelaufen. Im Fokus der Projekte und Veranstaltungen stehen im zweiten Halbjahr 2012 Moskau und St. Petersburg, in der ersten Jahreshälfte 2013 die russischen Regionen, darunter Nowosibirsk, Jekaterinburg, Kaliningrad. Im Rahmen des Deutschlandjahres sind verschiedene Projektformate, unter anderem zu dem konzeptuellen Oberthema Gesellschaftliche Herausforderungen, geplant. Es ist der Bundesregierung wichtig, dass eines der Themen in diesem Bereich lautet: „Behinderung, Invalidität, barrierefreie Stadt“. Weitere Schwerpunkte sind „Zivilgesellschaftliche Teilhabe“ und „Gesundheitswesen“ – beides ebenfalls wichtige Themen für Menschen mit Behinderungen. Die Ausschreibung, auf deren Grundlage Projektvorschläge für eine Förderung im Rahmen des „Jahres Deutschlands in Russland“ eingereicht werden können, ist vor kurzem veröffentlicht worden. Die Bundesregierung wird sich weiter dafür einsetzen, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen in diesem Kontext in angemessener Weise Berücksichtigung finden. Über diesen Prozess und die entsprechenden Projekte werden sich auch über das Jahr hinaus hoffentlich gute Anknüpfungspunkte für eine weitere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland ergeben. Die Bundesregierung wird auch weiterhin das Thema Menschen mit Behinderungen in den bilateralen Beziehungen anbringen. Darüber hinaus hoffen wir aber auch auf Anknüpfungspunkte für verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement. Anlage 48 Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 84): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Einschätzung des österreichischen Rechtswissenschaftlers und Berichterstatters der UN-Menschenrechtsorganisation, Professor Dr. Manfred Nowak, der Westen habe viel an Legitimität in Bezug auf Menschenrechte eingebüßt durch seinen Krieg gegen den Terror, die Unterhöhlung von Rechtsstaatlichkeit, wodurch insbesondere die USA unter der Bush-Regierung an einem „absoluten Tiefpunkt ihrer Politik in Bezug auf die Menschenrechte angelangt“ seien, doppelte Standards, die Internierung von Gefangenen außerhalb der USA in Lagern in Afghanistan und Guantánamo, durch das „Spinnennetz“ von CIA-Geheimflügen und -gefängnissen in Folterstaaten, die Aushöhlung des Folterverbots und dass die EU-Staaten viel Kredit verspielt hätten, weil sie die US-Politik mittrugen? Die Bundesregierung kennt die Berichte von Professor Manfred Nowak, dem ehemaligen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter. Jedoch liegen uns die Aussagen, die Sie Herrn Nowak in Ihrer Frage zuschreiben, nicht vor. Zum Inhalt Ihrer Frage: Im Januar 2009 verabschiedete die US-Regierung unter Präsident Obama grundlegende Dekrete zur Terrorismusbekämpfung. Diese umfassen insbesondere: die beabsichtigte Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo, ein Folterverbot und die Sicherstellung gesetzeskonformer Verhörmethoden sowie die Anordnung der schnellstmöglichen Schließung von sogenannten CIA-Geheimgefängnissen und das Verbot der Errichtung neuer sogenannter CIA-Gefängnisse sowie neue Ansätze im rechtlichen Umgang mit Gefangenen in bewaffneten Konflikten und in Anti-Terror-Operationen, insbesondere die Durchführung von Prozessen möglichst vor ordentlichen Gerichten. Die Obama-Administration hat sich klar von der Praxis der ihr vorangegangenen Regierung Bush distanziert. Die Stärke der amerikanischen Demokratie liegt in der Selbstkorrektur, wie sie von US-Präsident Barack Obama gegenüber der Politik seines Vorgängers vorgenommen wurde. Dies hat auch zu neuem Ansehen der USA in der Welt geführt. Die Bundesregierung hat die durch die Obama-Administration ab Januar 2009 vorgenommenen Änderungen begrüßt. Gegenüber der Bush-Administration hatte die Bundesregierung stets deutlich gemacht, dass die Herausforderungen durch den Terrorismus nur im Einklang mit dem Völkerrecht, insbesondere dem humanitären Völkerrecht und unter Achtung der Menschenrechte, erfolgreich bewältigt werden können. Die Bundesregierung und die EU haben sich gegenüber der Bush-Administration wie der Obama-Administration wiederholt für die Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo sowie für die Aufklärung bezüglich der Existenz sogenannter CIA-Geheimflüge bzw. -gefängnisse eingesetzt. Dieser Einsatz der Bundesregierung und der EU für die Wahrung der Menschenrechte und die Einhaltung des Völkerrechts, auch beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus, hat uns hohes Ansehen in der Welt verschafft. Anlage 49 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ole Schrö der auf die Frage des Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 85): Welche Erläuterungen kann die Bundesregierung zur Beteiligung des US-Department of Homeland Security – wie von WikiLeaks im Cable „FRONTEX: EU Border Control Cooperation at Frankfurt Airport“ vom 13. März 2007 veröffentlicht – an der Operation AMAZON II machen, gemäß dem ein „DHS representative“ in Frankfurt einen Tag lang die Operation zur Migrationsabwehr AMAZON II beobachtete – „spent a day at the Frankfurt airport observing FRONTEX operations“ –, innerhalb derer 29 Angehörige von Polizeibehörden aus sieben EU-Mitgliedstaaten unter deutscher Leitung der damals noch jungen EU-Grenzschutzagentur FRONTEX für mehr als zwei Wochen Tausende Identitätskontrollen am Frankfurter Flughafen vornahmen, bei deren 15 Menschen „ins Netz gingen“, und welche anderen Polizeimaßnahmen bzw -behörden wurden seitdem vom „DHS representative“ in Frankfurt derart „beobachtet“? Die von der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX koordinierte Joint Operation AMAZON II fand im Zeitraum vom 19. Februar 2007 bis zum 9. März 2007 statt. Im Rahmen der Maßnahme wurden insgesamt 29 Gastbeamte aus sieben Mitgliedstaaten zur Unterstützung an acht europäischen Flughäfen eingesetzt. Das damalige Bundespolizeiamt Flughafen Frankfurt/ Main wurde von sieben Gastbeamten aus Spanien (3), den Niederlanden (1), Portugal (1), Italien (1) und Frankreich (1) unterstützt. Darüber hinaus waren sieben weitere Grenzschutzbeamte aus Rumänien (2), Polen (2), Griechenland (2) und Bulgarien (1) als Beobachter eingesetzt. Mitarbeiter des U.S. Departments of Homeland Security, U.S. DHS, waren an der FRONTEX-Operation AMAZON II nicht beteiligt. Bedienstete des DHS, Customs and Border Protection, CBP, beraten am Flughafen Frankfurt am Main Luftfahrtunternehmen im Vorfeld von Einreisen in die USA. Sie nehmen keine hoheitlichen Aufgaben wahr. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Berater des DHS sich informell bei an der FRONTEX-Operation teilnehmenden Beamten informiert hat. Anlage 50 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ole Schrö der auf die Frage der Abgeordneten Ulrike Gottschalck (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 86): Wann rechnet die Bundesregierung mit der Einsatzfähigkeit von ausgereiften und fehlerfreien Körperscannern auf deutschen Flughäfen? Die grundsätzlich für Luftsicherheitskontrollen geeignete Technologie der erprobten Körperscanner muss vom Hersteller weiterentwickelt werden. Wie viel Zeit dafür benötigt wird, kann von der Bundesregierung nicht vorhergesagt werden. Anlage 51 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ole Schrö der auf die Frage der Abgeordneten Ulrike Gottschalck (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 87): Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Einführung einer bundeseinheitlichen Luftfrachtsicherheitsgebühr für die Luftfrachtunternehmen, die sich zum Beispiel nach dem jeweiligen Frachtaufkommen richtet, wie sie offenbar bereits im Bundesministerium des Innern geprüft wird? Die ergebnisoffene Prüfung der Refinanzierbarkeit der Aufwendungen der Bundespolizei für die Kontrolle von Luftfracht – zum Beispiel über eine Abgabe – wird derzeit im Fachressort vorgenommen und dauert noch an. Die Meinungsbildung der Bundesregierung wird auf Grundlage dieser Prüfung erfolgen. Anlage 52 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ole Schrö der auf die Frage der Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 88): Was ist die Aufgabe des im Rahmen der Umsetzung des seit 2005 bestehenden Abkommens über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich in Abu Dhabi stationierten Verbindungsbeamten des Bundeskriminalamts, BKA, und welches sind gegebenenfalls die Aufgabengebiete eventuell zusätzlich in den Vereinigten Arabischen Emiraten eingesetzter Beamten des BKA oder anderer Bundesbehörden im Rahmen des erwähnten Abkommens? Das Bundeskriminalamt, BKA, hat den ersten BKA-Verbindungsbeamten in die Vereinigten Arabischen Emirate bereits im Jahr 1999 entsandt, also lange bevor das Sicherheitsabkommen abgeschlossen wurde. Derzeit ist ein Beamter des BKA in Abu Dhabi mit Zuständigkeit auch für Katar eingesetzt. Aufgrund der vorübergehenden Schließung der Deutschen Botschaft im Jemen wegen der dortigen aktuellen Sicherheitslage nimmt zudem der regulär in Sanaa tätige Beamte seine Aufgaben derzeit von Abu Dhabi aus wahr. Dieser ist zudem auch für den Oman zuständig. Die Aufgaben dieser Beamten sind die gleichen wie die aller anderen durch das BKA entsandten Verbindungsbeamten weltweit. Sie umfassen vornehmlich alle Aspekte des polizeilichen Informationsaustausches zur Unterstützung deutscher Ermittlungsverfahren im Ausland. Hinzu kommen zum Beispiel die Unterstützung der zuständigen Behörden im Gaststaat bei ihren eigenen Ermittlungsverfahren mit Bezug zu Deutschland und die Betreuung deutscher Beamter bei Dienstreisen. Die Verbindungsbeamten nehmen zudem an Konferenzen und Fachtagungen teil, beraten die deutschen Auslandsvertretungen polizeilich und arbeiten eng mit deren Rechts- und Konsularabteilungen zusammen. Eine weitere Aufgabe des BKA-Verbindungsbeamten in Abu Dhabi ist die Koordinierung polizeilicher Ausbildungshilfemaßnahmen. Gegenwärtig werden BKA-Lehrgänge im Bereich der Tatortarbeit und der Sprengstoffentschärfung durchgeführt oder sind für das Jahr 2011 in Planung. Zur Durchführung dieser Maßnahmen halten sich BKA-Beamte anlassbezogen in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf. Sie fungieren als Dozenten und vermitteln Fachwissen auf Lehrgängen und Seminaren. Auch die Bundeszollverwaltung setzt einen Verbindungsbeamten in den Vereinigten Arabischen Emiraten am Standort Dubai ein, der die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten im Zollbereich unterstützt. Im Rahmen dieser Zollzusammenarbeit und der allgemeinen und einzelfallbezogenen Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung von Verstößen gegen Zollvorschriften sind die Proliferationsbekämpfung sowie die Kriminalitätsbereiche Zigarettenschmuggel und Markenrechtsverstöße besondere Schwerpunkte seiner Arbeit. Die Bundespolizei hat zwar keinen grenzpolizeilichen Verbindungsbeamten, wohl aber einen Dokumenten- und Visumsberater in die Vereinigten Arabischen Emirate entsandt. Dieser fungiert als Ansprechpartner für Mitarbeiter der deutschen Auslandsvertretungen insbesondere beim Erkennen von gefälschten Dokumenten im Zusammenhang mit der Visumserteilung. Ferner übernimmt er die Beratung von Beförderungsunternehmen und von Mitarbeitern der für die grenzpolizeilichen Kontrollen zuständigen Behörden in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Daneben führt die Bundespolizei Maßnahmen der grenzpolizeilichen Ausbildungshilfe durch. Schwerpunkte sind dabei die Bekämpfung der irregulären Migration und die Erhöhung der Luftsicherheit. Anlage 53 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Steffen Kampeter auf die Frage des Abgeordneten Klaus Ernst (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 89): Mit welcher zusätzlichen Nettokreditaufnahme wäre nach den aktuellen Prognosen der Bundesregierung bei einer Staatspleite Griechenlands auf die dann fälligen Bürgschaften der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des sogenannten Euro-Rettungsschirms, bitte mindestens angeben, mit welcher Belastung minimal und maximal gerechnet wird, für die Haushaltsjahre 2012 und 2013 zu rechnen, und wie hoch läge der daraus resultierende kumulierte fiskalische Anpassungsdruck für die folgenden Haushaltsjahre? Die Bundesregierung beteiligt sich nicht an Spekulationen über eine Staatspleite Griechenlands. Anlage 54 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Steffen Kampeter auf die Frage der Abgeordneten Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 90): Warum geht die Bundesregierung davon aus, dass die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 7. September 2011 genannten inhaltlichen Voraussetzungen, insbesondere die Kontrollrechte des Deutschen Bundestages, zwar in Regelungen zum Euro-Rettungsschirm normiert werden könnten, in Regelungen zu Euro-Bonds aber nicht zu erreichen sind, und wird die Bundesregierung die Vorschläge der EU-Kommission zu Euro-Bonds, die für Oktober 2011 erwartet werden, einer genaueren Prüfung unterziehen, oder schließt die Bundesregierung die Einführung von Euro-Bonds kategorisch aus? Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen darf. Es dürfen insbesondere keine völkerrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen. Dies bedeutet insbesondere, dass es keinen unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus einer Haftungsunion geben darf. Diese Gefahr besteht bei den Hilfen der Europäischen Finanzstabilitätsfazilität, EFSF, nicht. Der Bundestag wird über das Euro-Stabilisierungsmechanismusgesetz, StabMechG, in die Entscheidung über die Gewährung der Finanzhilfen einbezogen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Beteiligungsrechte des Bundestages bei der Begebung von Euro-Bonds in vergleichbarer Weise bewerkstelligt werden könnten. Die Bundesregierung prüft alle Vorschläge der EUKommission eingehend. Die Inhalte der geplanten Vorschläge sind der Bundesregierung nicht bekannt. Die gemeinsame Begebung von Anleihen mit gesamtschuldnerischer Haftung lehnt die Bundesregierung jedoch ab, da sie die nationale Verantwortlichkeit und Haftung der einzelnen Mitgliedstaaten aushebeln und die bestehende Marktdisziplinierung durch unterschiedlich hohe Zinssätze beenden würde. Anlage 55 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Steffen Kampeter auf die Frage des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 91): Wie ist im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Griechenlandhilfe und zum sogenannten Euro-Rettungsschirm vom 7. September 2011 (Az. 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10) in den Mitgliedsländern der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, die jeweilige Parlamentsbeteiligung – insbesondere bei Grundsatzentscheidungen bei der Übernahme von Gewährleistungen, Notmaßnahmen – sogenannten Financial Assistance Facility Agreements –, in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit sowie bei der Freigabe weiterer Tranchen im Einzelnen – geregelt bzw. vorgesehen, und welche Konsequenzen hat ein Mehr an parlamentarischer Mitwirkung wie in Finnland auf die Handlungsfähigkeit der EFSF? Wie die parlamentarische Beteiligung bei Hilfsmaßnahmen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, in den anderen Mitgliedstaaten im Einzelnen ausgestaltet ist, ist der Bundesregierung nicht bekannt. Bereits die nationale Umsetzung des geänderten EFSF-Rahmenvertrags – die in Deutschland durch das aktuelle Gesetzesvorhaben zur Änderung des Euro-Stabilisierungsmechanismusgesetzes, StabMechG, erfolgt – wird in den Mitgliedstaaten unterschiedlich gehandhabt. So sind etwa nach Kenntnisstand der Bundesregierung in Griechenland, Italien und Portugal keine parlamentarischen Verfahren zur Umsetzung der EFSF-Ertüchtigung erforderlich. Aus Sicht der Bundesregierung muss die parlamentarische Beteiligung so ausgestaltet sein, dass die Funktionsfähigkeit der EFSF sichergestellt ist. Die Marktteilnehmer dürfen nicht an der Einsatzfähigkeit des EFSF zweifeln. Entscheidend sind klare Entscheidungsstrukturen und schnelle Entscheidungsverfahren. Anlage 56 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Steffen Kampeter auf die Frage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 92): Wird seitens der Finanzbehörden ein Datenabgleich, Verprobung, zwischen Umsatzsteuer-Voranmeldung und Zusammenfassender Meldung durchgeführt, und welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Grad der Abweichung? Für die Erhebung und Kontrolle der Umsatzsteuer sind nach der Finanzverfassung die Länder zuständig. Der Bundesregierung ist bekannt, dass die Finanzbehörden einzelfallbezogen bzw. bei Vorliegen von Unregelmäßigkeiten Verprobungen durchführen zwischen den an die Landesfinanzbehörden übermittelten Angaben über die Teilnahme am innergemeinschaftlichen Warenverkehr in der Umsatzsteuer-Voranmeldung und den Angaben in den dem Bundeszentralamt für Steuern übermittelten Zusammenfassenden Meldungen. Soweit hierbei Abweichungen festgestellt werden, sind diese regelmäßig Anlass für die Durchführung von Außenprüfungen. Der Bundesregierung liegen außerdem Informationen vor, dass die Prüfer gehalten sind, im Rahmen der Vorbereitung von Außenprüfungen insbesondere von Umsatzsteuer-Sonderprüfungen entsprechende Verprobungen durchzuführen. Über den Grad der Abweichungen liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. Anlage 57 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Steffen Kampeter auf die Frage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 93): Wann ist konkret mit der Veröffentlichung des Abkommens mit der Schweiz über unversteuerte Kapitalerträge zu rechnen, und welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Höhe bisher nicht versteuerter Vermögen in der Schweiz? Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt wird am Tag der Unterzeichnung dieses Abkommens veröffentlicht werden. Die Unterzeichnung ist für den 21. September 2011 vorgesehen. Der Bundesregierung liegen lediglich Schätzungen aus unterschiedlichen Quellen vor, die in ihrer Höhe stark variieren. Belastbare Erkenntnisse liegen nicht vor. Anlage 58 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Steffen Kampeter auf die Frage des Abgeordneten Heinz Paula (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 94): Ist es zutreffend, dass im Fall der Vererbung eines Eigenheims an einen Elternteil – zum Beispiel Tod des Sohnes – auch dann Erbschaftsteuer anfällt, wenn es sich um ein von der Mutter und dem verstorbenen – ledigen, kinderlosen – Sohn eigengenutztes Familienwohnheim handelt, welches auch weiterhin vom erbenden Elternteil genutzt wird, und wenn dem so ist, wie ist dies zu erklären, wenn im umgekehrten Fall – gemeinsam genutztes Familienwohnheim wird an den Sohn vererbt – keine Erbschaftsteuer zu zahlen ist? Im Fall der Vererbung eines vom erblassenden Sohn zu eigenen Wohnzwecken genutzten Grundstücks an einen Elternteil fällt auch dann Erbschaftsteuer an, wenn das Grundstück weiterhin vom erbenden Elternteil zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird. Der Gesetzgeber hat mit der Steuerbefreiung im umgekehrten Fall, also beim Erwerb eines sogenannten Familienheims des erblassenden Elternteils durch ein Kind oder mehrere Kinder, nur den Erwerb in der normalen Generationenfolge von den Eltern auf die Kinder begünstigen wollen. Die Befreiung ist in diesem Fall auf eine Wohnung mit einer Wohnfläche bis 200 Quadratmeter beschränkt – § 13 Abs. 1 Nr. 4 c ErbStG. Anlage 59 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fragen der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE LINKE ) (Drucksache 17/6994, Fragen 95 und 96): Wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden in den Jahren 2007, 2008 und 2009 von der Bundesagentur für Arbeit befristet eingestellt, wie viele davon sachgrundlos befristet (bitte gesondert Arbeitsvermittler im Bereich des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, SGB II, und über 50-Jährige, insgesamt und als Arbeitsvermittler im SGB-II-Bereich aufführen)? Wie viele von den in den Jahren 2007, 2008 und 2009 befristet und sachgrundlos befristet eingestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben jeweils einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten – bitte gesondert Arbeitsvermittler im Bereich des SGB II aufführen –, und wie viele davon waren über 50 Jahre alt? Die gewünschten Informationen zu befristeten Einstellungen und die Umwandlung in unbefristete Beschäftigungen für die Jahre 2007 bis 2009 können nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit nicht geliefert werden. Eine zentrale Auswertung ist der Bundesagentur für Arbeit über ihr IT-System nicht möglich, da die Personalverantwortung dezentral bei den Regionaldirektionen und Agenturen für Arbeit organisiert ist. Anlage 60 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Anton Schaaf (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 97): Warum beabsichtigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in seinen Überlegungen zu Änderungen im Bereich der Erwerbsminderungsrente, die Zurechnungszeit nach § 59 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch parallel zu der Anhebung der Regelaltersgrenze zu verlängern, obwohl die Bundesregierung bislang bestritten hat, dass sich aus der Anhebung der Regelaltersgrenze ein Handlungsbedarf für Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten ergibt? Die sogenannte Zurechnungszeit – also die Phase des Erwerbslebens, die ab Eintritt der Erwerbsminderung für die Berechnung der Erwerbsminderungsrente fiktiv angenommen wird – reicht heute bis zum 60. Lebensjahr. Um Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit langfristig besser abzusichern, soll diese Zeit stufenweise auf das 62. Lebensjahr angehoben werden. Dies soll angemessen und im Gleichklang mit der Anhebung der Regelaltersgrenze erfolgen. Der Erwerbsminderungsschutz wird so dem längeren Erwerbsleben angepasst. Bei der Anhebung der Regelaltersgrenze blieb es zunächst bei der Zurechnungszeit bis zum Erreichen des 60. Lebensjahres. Nun wird der alte Fünfjahresabstand wieder hergestellt. Die Rentenansprüche derer, die nicht mehr arbeiten und vorsorgen können, werden aufgewertet. Anlage 61 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Anton Schaaf (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 98): Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit vereinbar ist, dass ein Versicherter, der die Zugangsvoraussetzungen für die sogenannte Zuschussrente erfüllt, beispielsweise bei einer gesetzlichen Rente von 500 Euro und einer Betriebsrente von 100 Euro eine Aufstockung auf einen Nettozahlbetrag von 850 Euro erhalten soll, während ein Versicherter, der ausschließlich eine gesetzliche Rente von beispielsweise 750 Euro erhält und damit eine höhere Vorleistung durch höhere Beitragszahlungen erbracht hat, keine Aufstockung erhalten soll? Die Bundesregierung sieht hier keinen Widerspruch zum Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Bei der Zuschussrente werden – vorbehaltlich des weiteren Verlaufs des „Regierungsdialog(s) Rente“ – nicht automatisch alle Renten auf die Höhe von 850 Euro aufgestockt, sondern nur die von Personen, die lange gearbeitet, Kinder erzogen oder gepflegt haben und neben der gesetzlichen Rentenversicherung zusätzlich vorgesorgt haben. Wer diese Voraussetzung erfüllt, erhält ein garantiertes Alterseinkommen von 850 Euro unabhängig davon, wie hoch die durch eigene Vorleistungen erbrachte Rente ist. Der in der Fragestellung genannte Versicherte, der eine eigene Rente von 750 Euro bezieht, hat keine eigene zusätzliche Vorsorge betrieben und sich damit – anders als der andere in der Fragestellung genannte Versicherte – nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten um eine Steigerung seines Alterseinkommens bemüht. Daher ist es gerecht, dass die Rente des Versicherten in Höhe von 750 Euro nicht aufgestockt wird. Für die Prüfung der Leistungsgerechtigkeit bei der Zuschussrente ist nicht die absolute Höhe der Vorleistungen entscheidend, sondern die Frage, ob der Betroffene für die eigene Altersversorgung vorgesorgt hat. Anlage 62 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fragen des Abgeordneten Marco Bülow (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 99): Ist bei der Zuschussrente, deren Gewährung an Einkünfte aus der gesetzlichen Rente und einer betrieblichen oder privaten Quelle geknüpft ist, daran gedacht, sie bedürftigkeitsorientiert zu gestalten, sodass weitere Einkünfte, zum Beispiel aus einem anderen obligatorischen Alterssicherungssystem oder auch Zinseinkünfte oder Einkünfte aus Vermietung oder Verpachtung, anzurechnen sind, und soll Vermögen angerechnet werden? Das Konzept der Zuschuss-Rente sieht eine Einkommensprüfung vor, damit sie bei denen ankommt, die sie tatsächlich benötigen. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung gibt es noch keine abschließenden Festlegungen. Im Übrigen bleibt der weitere Verlauf des „Regierungsdialog(s) Rente“ abzuwarten. Anlage 63 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 100): Nach welchem Verfahren bzw. in welcher Form soll der Nettozahlbetrag der Zuschussrente von 850 Euro dynamisiert werden, um sowohl Preissteigerungen als auch sich verändernde Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu berücksichtigen und den relativen Abstand zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, deren Regelbedarfe jährlich nach § 28 a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch fortzuschreiben sind, zu wahren? Der Regierungsdialog ist ein breit angelegter, offener Diskussionsprozess, an dem Rentenversicherung, Fachpolitiker, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber und anlassbezogen weitere Institutionen beteiligt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht offen in den Dialog. Bezüglich der Frage der Dynamisierung der Zuschussrente ist noch keine Vorfestlegung getroffen. Anlage 64 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fragen der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner (SPD) (Drucksache 17/6994, Fragen 101 und 102): Wie verteilen sich die Personen, die nach Einschätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahr 2013 die Anspruchsvoraussetzungen für die Zuschussrente erfüllen werden, auf west- und ostdeutsche Versicherte, und wie wird sich die Zusammensetzung der anspruchsberechtigten Personen mutmaßlich in den nächsten Jahren entwickeln? Soll jeder der Träger der Deutschen Rentenversicherung mit der Administration der Zuschussrente betraut werden, oder ist daran gedacht, die Zuständigkeit an einen oder mehrere bestimmte Träger zu vergeben? Zu Frage 101: Gebietspezifische Unterscheidungen wurden bei den Schätzungen zur Zuschussrente nicht vorgenommen, denn wie sich die Berechtigten auf Ost und West aufteilen, ist vor dem Hintergrund der Zielsetzungen der Zuschussrente ohne Belang. Das Ziel der Zuschussrente ist, die Lebensleistung von Personen, die trotz langjähriger Anstrengungen im Alter nicht über ein angemessenes Einkommen verfügen, besser zu honorieren. Dieses Ziel gilt für die alten Länder wie auch für die neuen Länder gleichermaßen. Denn es bedeutet keinen Unterschied, wo jemand erwerbstätig war, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat, und es bedeutet auch keinen Unterschied, wo jemand zusätzlich für sein Alter vorgesorgt hat. Die Zuschussrente ist in den alten und neuen Ländern gleich hoch. Zu Frage 102: Das Konzept der Zuschussrente sieht die zentrale Administrierung auf Bundesebene durch die Deutsche Rentenversicherung vor. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung gibt es noch keine abschließenden Festlegungen. Im Übrigen bleibt der weitere Verlauf des „Regierungsdialog(s) Rente“ abzuwarten. Anlage 65 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Katja Mast (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 103): Soll die Zuschussrente unabhängig vom Einkommen eines Partners/einer Partnerin gezahlt werden, also als ausschließlich individualisierte Leistung, und falls ja, wie bewertet die Bundesregierung diese Regelung gegenüber den Regelungen des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, in der die Höhe der Leistungen für Angehörige einer Bedarfs- bzw. Einstandsgemeinschaft je nach unterschiedlichen Regelbedarfsstufen gewährt wird? Nein. Das Konzept der Zuschussrente sieht auch die Berücksichtigung von Partnereinkommen vor. Denn die Zuschussrente soll zielgenau bei denen ankommen, die diese zusätzliche Leistung auch benötigen, weil sie trotz langjähriger Bemühungen über kein ausreichendes Alterseinkommen verfügen. Die Einkommenssituation im Alter ist aber nicht nur von den eigenen Einkünften, sondern auch vom Erwerbs- bzw. Alterseinkommen von Ehegatten und Lebenspartnern abhängig. Personen, die in Haushalten mit hohem Einkommen leben, sind auf ergänzende Leistungen nicht angewiesen. Deshalb sieht das Konzept der Zuschussrente eine Einkommensprüfung sowohl bei den Berechtigten als auch bei Ehe- oder Lebenspartnern vor. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung gibt es aber noch keine abschließenden Festlegungen. Im Übrigen bleibt der weitere Verlauf des „Regierungsdialog(s) Rente“ abzuwarten. Anlage 66 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Katja Mast (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 104): Inwiefern kann die Anspruchsvoraussetzung der Wartezeit der zusätzlichen Vorsorge durch unterschiedliche Formen der privaten Vorsorge erfüllt werden, oder ist daran gedacht, sie ausschließlich an einen Vertrag zu binden, der die Kriterien des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes erfüllt? Als Anspruchsvoraussetzung für die Wartezeit in der zusätzlichen Altersvorsorge sind Zeiten der betrieblichen Altersversorgung und Zeiten der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge vorgesehen. Einzelheiten sollen und können im Rahmen des „Regierungsdialog(s) Rente“ mit den Beteiligten erörtert werden. Anlage 67 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Anette Kramme (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 105): In welcher Form beabsichtigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen an dem „Regierungsdialog Rente“ zu beteiligen? Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales strebt an, dass die Gesetzesänderungen, die sich aus dem „Regierungsdialog Rente“ ergeben, in einem möglichst breiten Konsens im Parlament verabschiedet werden. In welcher Form die Beteiligung der verschiedenen Fraktionen erfolgen soll, ist noch nicht entschieden. Anlage 68 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Anette Kramme (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 106): Wie erklärt sich die Aussage der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen, wonach bei einer Verlängerung der Rente nach Mindestentgeltpunkten nach § 262 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch „viele Frauen durch den Rost [fallen]“ (Der Tagesspiegel vom 10. September 2011), obwohl im Zugang in eine Altersrente im Jahr 2010 90 Prozent der Versicherten, die von diesem Instrument profitiert haben, Frauen waren und so etwa ein Viertel aller Frauen hiervon profitiert hat, während es bei den Männern nur knapp 4 Prozent waren? Richtig ist, dass von der Regelung der Rente nach Mindestentgeltpunkten gegenwärtig überwiegend Frauen begünstigt werden. Jedoch wird durch die Hochwertung von vor dem Jahr 1992 zurückgelegten Beitragszeiten nach dieser Regelung nicht erreicht, dass Versicherte – Frauen ebenso wie Männer – in jedem Fall eine Rente erhalten, die über dem durchschnittlichen Grundsicherungsbedarf liegt. Dieses Ziel verfolgt die Zuschussrente. Auch entfalten Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung, die Frauen für die Erziehung eines Kindes bis zum vollendeten 10. Lebensjahr gutgeschrieben werden, nach dem Konzept der Zuschussrente eine bessere Wirkung. Denn dort werden sie Zeiten der Beschäftigung wirkungsmäßig gleichgestellt, während bei der Rente nach Mindestentgeltpunkten nur vollwertige Beitragszeiten hochgewertet werden. Beispielsweise würde eine Frau, die 20 Jahre lang zu 75 Prozent des Durchschnittslohns gearbeitet hat, danach zwei Kinder erzogen hat und dann zehn Jahre vor dem Rentenbezug arbeitslos war, keine Rente nach Mindesteinkommen erhalten. Von der Zuschuss-Rente würde sie hingegen profitieren. Anlage 69 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 107): Wie wird sich die Verlängerung der Zurechnungszeit um einen Monat auf den Zahlbetrag der Rente bei einem Versicherten auswirken, der vor Vollendung des 60. Lebensjahres auf Grundlage von 45 Entgeltpunkten in eine Erwerbsminderungsrente geht, und wie würde sich dies auf Grundlage einer Rentenanwartschaft von 40 bzw. 30 Entgeltpunkten darstellen? Versteht man die Frage so, dass in der Anzahl der jeweils genannten Entgeltpunkte die Auswirkungen aus der Zurechnungszeit nach geltendem Recht bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres bereits enthalten sind und in allen drei Varianten vor Beginn der versicherungspflichtigen Tätigkeit mit 20 Jahren drei Jahre Schulbesuch unterstellt werden, wirkt sich die Verlängerung der Zurechnungszeit um einen Monat wie folgt aus: Die monatliche Nettoleistungsverbesserung beträgt bei einem Rentenzugang vor Vollendung des 60. Lebensjahres auf der Grundlage von 45 Entgeltpunkten rund 2,10 Euro, 40 Entgeltpunkten rund 1,80 Euro und 30 Entgeltpunkten rund 1,40 Euro. Diese Werte erscheinen zwar gering, spiegeln aber die anfangs ebenfalls nur sehr geringe Anhebung der Regelaltersgrenze wider, an der sich die Verlängerung der Zurechnungszeit orientiert. Langfristig fallen die Erwerbsminderungsrenten um etwa 5 Prozent höher aus als ohne diese Verlängerung. Anlage 70 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Josip Juratovic (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 108): Mit welcher Begründung verzichtet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in seinen Überlegungen offensichtlich darauf, den Erwerbsminderungsschutz auch in der betrieblichen Alterssicherung und der geförderten privaten Altersvorsorge obligatorisch zu verankern, obwohl im Rahmen der Mehr-Säulen-Strategie alle biometrischen Risiken in allen Säulen der Alterssicherung abzusichern wären? Eine gesetzlich verpflichtende Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos hält das Bundesministerium für Arbeit und Soziales weder im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung noch im Rahmen der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge für sinnvoll, da die Bereitschaft zum Aufbau einer – grundsätzlich freiwilligen – privaten oder betrieblichen Altersvorsorge durch diese Vorgabe insgesamt eher verringert werden dürfte. Eine Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos in der betrieblichen Altersversorgung ist bereits heute auf freiwilliger Basis möglich und auch in vielen Fällen Teil des Leistungskatalogs. So liegt es zum Beispiel im Ermessen der Tarifvertragsparteien, entsprechende Regelungen zu treffen. Viele Tarifvertragsparteien haben dies erkannt und entsprechende Tarifverträge abgeschlossen. Bei der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge muss außerdem Folgendes bedacht werden: Wegen der grundsätzlichen Freiwilligkeit zum Abschluss eines entsprechenden Vertrages würde es zu einer negativen Risikoselektion kommen, die es den Versicherungen versicherungsmathematisch verbieten würde, entsprechende Angebote ohne Gesundheitsprüfung zu machen. Zudem müsste eine obligatorische Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos eine Befreiungsmöglichkeit für diejenigen vorsehen, die bereits über eine entsprechende Absicherung verfügen. Dies wäre mit großem Verwaltungsaufwand verbunden. Bei gleichem Fördervolumen ginge nicht zuletzt ein Teil der zusätzlichen Absicherung fürs Alter verloren, und bei einer Kündigung des Vertrages würde in aller Regel auch automatisch der Erwerbsminderungsschutz wegfallen. Anlage 71 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Josip Juratovic (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 109): Wird die Bundesregierung im Rahmen des „Regierungsdialog(s) Rente“ auch Modelle unterstützen, die den Bezug einer Teilaltersrente auch bereits mit dem vollendeten 60. Lebensjahr ermöglichen, wenn sicher ausgeschlossen werden kann, dass durch die erhöhten Abschläge das Risiko von Altersarmut entsteht? Die Bundesregierung wird im Rahmen des „Regierungsdialog(s) Rente“ Möglichkeiten einer weitergehenden Flexibilisierung der Übergänge in den Ruhestand prüfen. Bei der Prüfung entsprechender Vorschläge sollte jedoch stets unter anderem hinterfragt werden, ob es angesichts des drohenden Arbeitskräftemangels gesellschaftlich verantwortbar ist, Anreize für einen früheren Renteneintritt zu schaffen; Menschen, die arbeiten können und wollen, die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, vorzeitig Rente zu beziehen, und wenn ja, welche Bedingungen hierfür gelten müssen; ob die mit einem vorzeitigen Rentenbezug verbundenen lebenslangen Abschläge bei der Rente für den Einzelnen hinnehmbar und für die Allgemeinheit verantwortbar sind, und ob die Kosten einer Rückkehr zur Frühverrentung zukünftigen Generationen zuzumuten sind. Anlage 72 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE ) (Drucksache 17/6994, Frage 110): Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um den Anteil der 50 Jahre alten und älteren Langzeitarbeitslosen, der binnen Jahresfrist um über 2 Prozentpunkte auf über 31 Prozent gestiegen ist (vergleiche Bundesagentur für Arbeit, Sockel- und Langzeitarbeitslosigkeit, Broschüre der Arbeitsmarktberichterstattung, Nürnberg 2011), zu reduzieren? Der in der Fragestellung zitierte Anstieg von „über 2 Prozentpunkten auf über 31 Prozent“ bezieht sich auf den Anteil der älteren Arbeitslosen (50 und älter) an allen Arbeitslosen. Der Anteil der Älteren über 50 Jahre, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind, an allen älteren Arbeitslosen ist von 42,6 Prozent im Juni 2010 auf 42,8 Prozent im Juni 2011 lediglich geringfügig gestiegen. Absolut ist sowohl die Zahl der älteren Arbeitslosen als auch der älteren Langzeitarbeitslosen in diesem Zeitraum zurückgegangen. Zur Verbesserung der Wiedereingliederung von Arbeitslosen steht im SGB III und SGB II eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, die auch für die Eingliederung älterer Arbeitsloser genutzt werden können. Hierzu zählen beispielsweise Eingliederungszuschüsse ebenso wie Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung. Die Bundesregierung hat darüber hinaus zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und Beschäftigungschancen älterer Langzeitarbeitsloser ab 50 Jahren im Oktober 2005 das Bundesprogramm „Perspektive 50 plus – Beschäftigungspakte für Ältere in den Regionen“ gestartet. Mittlerweile sind 78 regionale Beschäftigungspakte am Bundesprogramm beteiligt. Ziel dieser Beschäftigungspakte ist die Aktivierung, Förderung und Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Wiedereingliederung älterer Langzeitarbeitsloser in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Der hierbei verfolgte regionale Ansatz ermöglicht es den Beschäftigungspakten, gezielt auf die Besonderheiten vor Ort einzugehen sowie eigenverantwortlich neue Ansätze zu entwickeln. Im Jahr 2010 wurden rund 190 000 Personen aktiviert und über 56 000 Personen in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert. Das Bundesprogramm wurde nochmals vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2015 verlängert. Das Ziel der dritten Programmphase, die regionale Ausweitung des Bundesprogramms auf möglichst alle Grundsicherungsstellen zu realisieren, ist mit derzeit über 400 beteiligten Jobcentern annähernd erreicht. Ein weiteres wichtiges Ziel der dritten Programmphase ist die Identifizierung besonders erfolgreicher innovativer Ansätze der Beschäftigungspakte, die ins Regelgeschäft übernommen werden können. Im Jahr 2011 sind insgesamt rund 200 000 Aktivierungen und 65 000 Integrationen in den Arbeitsmarkt geplant. Bis Ende August 2011 konnten bisher knapp 151 000 Aktivierungen und knapp 48 000 Arbeitsmarktintegrationen erzielt werden. Damit liegt das Programm deutlich über dem bis zu diesem Zeitpunkt gesetzten Ziel. Es ist daher zu erwarten, dass auch im Jahr 2011 die Programmziele über das geplante Maß hinaus erfüllt werden. Anlage 73 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE ) (Drucksache 17/6994, Frage 111): Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Feststellung des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, angesichts einer sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit müssten umso mehr Mittel für Qualifizierung, Training, Schuldner- oder Suchtberatung ausgeben werden (vergleiche Süddeutsche Zeitung vom 15. September 2011), vor dem Hintergrund der von der Bundesregierung bereits vorgenommenen und weiter geplanten Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Milliardenhöhe? Im Bundeshaushalt für das Jahr 2011 wurden die Ansätze für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und für Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende gegenüber dem Jahr 2010 unter anderem an die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angepasst. Diese Anpassung soll in den Jahren 2012 und 2013 fortgesetzt werden. Damit wird berücksichtigt, dass die Entwicklung der Arbeitslosigkeit infolge des konjunkturellen Aufschwungs bisher insgesamt günstiger als erwartet ausgefallen ist und sich die positive Entwicklung nach den vorliegenden Prognosen fortsetzen wird. Darüber hinaus trägt die Anpassung der Ansätze selbstverständlich auch den zwingenden Erfordernissen zur Reduzierung von Ausgaben des Bundes Rechnung. Im Rahmen der wirkungsorientierten Steuerung der Maßnahmen gelingt es den Jobcentern zunehmend, Integrationen in den Arbeitsmarkt ohne begleitende Fördermaßnahmen zu realisieren. Damit können mehr Mittel für Personen eingesetzt werden, die dem Arbeitsmarkt fernstehen. Dort erzielen sie die größte Wirkung. Aus den genannten Gründen ist die Bundesregierung der Auffassung, dass auch in den kommenden Jahren für Eingliederungsmaßnahmen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende Mittel in ausreichender Höhe zur Verfügung stehen. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der Schuldner- und Suchtberatung um kommunale Eingliederungsleistungen handelt. Anlage 74 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Frage des Abgeordneten Steffen-Claudio Lemme (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 112): Welche Bilanz zieht die Bundesregierung nach einem Jahr Mindestlohn in der Pflegebranche im Hinblick auf seine Umsetzung und die Einhaltung bzw. Kontrolle der Lohnuntergrenze? Die bestehenden gesetzlichen Regelungen zum Mindestlohn sind Gegenstand einer innerhalb der Koalitionsfraktionen vereinbarten und noch nicht abgeschlossenen Evaluation. Ende März 2011 hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung eine bundesweite Schwerpunktprüfung bei ambulanten Pflegediensten durchgeführt. Es wurden circa 2 800 Unternehmen geprüft und etwa 6 900 Personen befragt. In 144 Fällen ergaben sich Anhaltspunkte für Mindestlohnverstöße. Die weiteren Ermittlungen dauern noch an. Anlage 75 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Gerd Mü ller auf die Frage der Abgeordneten Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 113): Kann die Bundesregierung ausschließen, dass sie einer Kürzung der Mittel in der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik, GAP, im Zuge der Reform der GAP zustimmen wird? Richtschnur für die Weiterentwicklung der GAP sind die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag, wonach auch nach 2013 eine starke erste Säule für die Direktzahlungen und die Marktausgaben sowie eine finanziell gut ausgestattete zweite Säule für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung erforderlich sind. Dabei kommt den Fördermaßnahmen der zweiten Säule eine wichtige Aufgabe zur Begleitung struktureller Veränderungen landwirtschaftlicher Betriebe, zur Bereitstellung von Umweltleistungen wie auch zur Entwicklung ländlicher Räume zu. Auf dieser Linie wird die Bundesregierung die Verhandlungen zur Weiterentwicklung der GAP nach 2013 führen. Wie sich das Verhandlungsergebnis gestaltet, kann zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden. Anlage 76 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Gerd Mü ller auf die Frage des Abgeordneten Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 114): Durch welche neuen Maßnahmen will die Bundesregierung im Zuge der anstehenden Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik den Verlust der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft stoppen, und warum lehnt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Vorschläge der EU-Kommission zum Greening der ersten Säule der GAP ab? Die Bundesregierung teilt die Zielsetzung der Kommission, Umweltziele verstärkt im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, GAP, zu berücksichtigen. Dafür sollten Maßnahmen entwickelt werden, die tatsächlich in effizienter Weise zu einem höheren Umweltbeitrag der GAP führen, ohne im Gesamtsystem zusätzlichen Bürokratieaufwand zu verursachen. In diesem Rahmen muss die GAP auch einen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten. Die Bundesregierung wird erst dann Vorschläge der EU-Kommission beurteilen, wenn diese vorliegen. Anlage 77 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Gerd Mü ller auf die Fragen des Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Fragen 115 und 116): Gegen welche Vorschläge der EU-Kommission zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik versucht die Bundesregierung derzeit eine „Phalanx“ mit anderen Mitgliedstaaten zu bilden, wie in der Frankfurter Rundschau vom 14. September 2011 mit Bezug auf Regierungskreise gemeldet wurde? Warum lehnt die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, die Begrenzung von Monokulturen, unter anderem bei Mais, durch die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zum sogenannten Greening der Gemeinsamen Agrarpolitik wie etwa die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung einer mindestens dreigliedrigen Fruchtfolge ab, obwohl auch die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, vor dem Deutschen Bauerntag 2011 wörtlich erklärt hat: „Nur noch Maisfelder, nur noch Rapsfelder – das kann und darf es nicht geben“? Nach Kenntnis der Bundesregierung sollen die Legislativvorschläge der Europäischen Kommission für die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2013 am 12. Oktober diesen Jahres vorgelegt werden. Die Bundesregierung wird die Vorschläge dann prüfen und eine detaillierte Position erarbeiten. Bis dahin hält die Bundesregierung es nicht für angebracht, zu den sich noch im kommissionsinternen Abstimmungsverfahren befindenden Entwürfen Stellung zu nehmen. Die Bundesregierung hat ihre grundsätzlichen Überlegungen in ihrem Positionspapier vom 31. März 2010 zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik sowie in ihrer Stellungnahme vom 28. Januar 2011 zur Mitteilung der Europäischen Kommission „Die GAP bis 2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und ländliche Gebiete – die künftigen Herausforderungen“ vom 18. November 2010 dargelegt. Sie sind auch die Basis von Gesprächen mit anderen Mitgliedstaaten. Anlage 78 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Gerd Mü ller auf die Frage der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 117): Wie will die Bundesregierung angesichts ihrer Ablehnung einer Deckelung oder degressiven Ausgestaltung der Direktzahlungen verhindern, dass das System der Direktzahlungen aufgrund zahlreicher nichtlandwirtschaftlicher Großempfänger weiter an gesellschaftlichem Rückhalt verliert? Eine Deckelung oder degressive Ausgestaltung der Direktzahlungen ist nicht geeignet, um einer eventuellen Kritik wegen der Gewährung von Direktzahlungen an „nichtlandwirtschaftliche Großempfänger“ zu begegnen. Bei der Deckelung oder degressiven Ausgestaltung der Direktzahlungen erfolgt die Kürzung in Abhängigkeit von der Höhe der betrieblichen Direktzahlungen und nicht nach Kriterien, die am Betriebsinhaber anknüpfen. Insofern ist eine Deckelung oder degressive Ausgestaltung der Direktzahlungen kein angemessenes Instrument, um gezielt Zahlungen an „nichtlandwirtschaftliche Großempfänger“ zu vermeiden. Anlage 79 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Gerd Mü ller auf die Frage der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 118): Welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung aus der Einführung von Gutschriften für australische Agrarbetriebe, die Methan- oder CO2-Emissionen vermeiden, und was spricht aus Sicht der Bundesregierung für bzw. gegen ein solches klimapolitisches Instrument für die EU-Landwirtschaft? Das australische Parlament beschloss erst am 23. August 2011 ein Gesetzespaket zur Einbeziehung der Landwirtschaft in den innerstaatlichen Emissionshandel. Es bleibt daher abzuwarten, welche Erfahrungen die Landwirte in Australien mit den neuen Regelungen machen, welche Wirkungen für den Klimaschutz das Gesetzespaket erbringt und wie die wirtschaftlichen Auswirkungen zu beurteilen sind. Gleichwohl können die australischen Regelungen nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragen werden, da Deutschland in das europäische Emissionshandelssystem eingebunden ist. Änderungen hierzu können daher nur auf europäischer Ebene erfolgen. Die Landwirtschaft gehört zu den Sektoren und Bereichen, die derzeit nicht dem Emissionshandel unterworfen sind. Ein Grund hierfür ist, dass die Erfassung von Emissionen mit hinreichender Genauigkeit auf betrieblicher Ebene derzeit nicht mit vertretbaren Kosten vereinbar ist. Anlage 80 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Gerd Mü ller auf die Frage der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 119): Welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung aus dem vom Freistaat Bayern aufgelegten Programm für den einheimischen Anbau von Eiweißfutterpflanzen als Maßnahme gegen die aktuell große Abhängigkeit der einheimischen Tierhaltungsbetriebe von Futtermittelimporten aus Südamerika, und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung ihrerseits zur Erhöhung des einheimischen Anbaus von Eiweißfutterpflanzen? Zwischen 1990 und 2010 förderte die Bundesregierung die Entwicklung der heimischen Körnerleguminosen Ackerbohnen, Erbsen und Lupinen mit insgesamt rund 20 Millionen Euro. Trotz der erheblichen öffentlichen Förderung konnte der Wettbewerbsunterschied von Körnerleguminosen zu anderen landwirtschaftlichen Kulturen nicht völlig abgebaut werden. Im Jahre 2009 hat BMELV erneut seine Aktivitäten im Eiweißpflanzenbereich intensiviert. Nach einer Reihe von klärenden Fachgesprächen im Julius-Kühn-Institut in Braunschweig und zuletzt einem Fachforum der Deutschen Forschungsallianz, DAFA, sowie zahlreichen Fachgesprächen auf Bundes- und Länderebene hat BMELV seine FuE-Fördermittel in diesem Bereich weiter verstärkt. Die bundesdeutsche und die bayerische Initiative zur Förderung des Anbaus von Eiweißpflanzen ergänzen sich somit. Anlage 81 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Christian Schmidt auf die Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 120): Welche Überlegungen hat die Bundesregierung dahin gehend angestellt, dass der Sinn der in den Richtlinien für die Durchführung der Informationsarbeit geregelten Zugangsbeschränkung für Waffen bei Minderjährigen darin besteht, diesen weder Waffensysteme noch Waffen als Spielzeug zu präsentieren, um sie nicht an den Gebrauch tödlicher, kriegerischer Gewalt zu gewöhnen, und dass diese Absicht konterkariert wird, wenn nun ausdrücklich geregelt ist, dass Kinder Zugang zu Panzern, Kriegsflugzeugen und anderen Großsystemen haben? Die Bundesregierung weist entschieden zurück, dass die Bundeswehr Waffen und Großgerät als Spielzeug präsentiert. Jugendliche hatten, so zum Beispiel bei Tagen der offenen Tür, schon zuvor Zugang zu Schiffen, Flugzeugen sowie nichthandelsüblichen Fahrzeugen der Bundeswehr. Im Rahmen einer Ergänzung der Bestimmungen der Richtlinie zur Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr wurde die Mitfahrgelegenheit von Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr in nichthandelsüblichen Fahrzeugen der Bundeswehr – im Beisein oder bei Vorliegen einer Erlaubnis der Sorgeberechtigten – zur Darstellung der Ausrüstung und Leistungsfähigkeit der Streitkräfte erlaubt. Der in der Richtlinie für die Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr enthaltene Begriff „Waffensystem“ führte zu Rückfragen aus der Truppe, wie dieser zu interpretieren sei, da damit auch Großgerät der Bundeswehr wie zum Beispiel Flugzeuge oder Schiffe bezeichnet werden, die von dieser Regelung aber nicht betroffen sind. Eine Anpassung erfolgte zur Klarstellung des Begriffs „Waffensystem“, um Handlungssicherheit für die Truppe bei öffentlichen Veranstaltungen herzustellen. Anlage 82 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Christian Schmidt auf die Fragen des Abgeordneten Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE ) (Drucksache 17/6994, Fragen 121 und 122): Aufgrund welcher Überlegungen hat das Bundesministerium der Verteidigung am 16. Februar 2011 die Richtlinie zur Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr dahin gehend geändert, dass Kindern und Jugendlichen im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen der Zugang zu Schiffen, Flugzeugen sowie nichthandelsüblichen Fahrzeugen der Bundeswehr in Zukunft erlaubt wird? Warum bezieht sich das Bundesministerium der Verteidigung in der aktuellen Fassung der Richtlinie zur Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr bei der Regelung des Zugangs von Minderjährigen zu Waffen nur auf Waffen im Sinne des Waffengesetzes und nicht auch auf Waffen im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes bzw. der Kriegswaffenliste Teil B? Zu Frage 121: Jugendliche hatten, so zum Beispiel bei Tagen der offenen Tür, schon zuvor Zugang zu Schiffen, Flugzeugen sowie nicht handelsüblichen Fahrzeugen der Bundeswehr. Im Rahmen einer Ergänzung der Bestimmungen der Richtlinie zur Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr wurde die Mitfahrgelegenheit von Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr in nicht handelsüblichen Fahrzeugen der Bundeswehr – im Beisein oder bei Vorliegen einer Erlaubnis der Sorgeberechtigten – zur Darstellung der Ausrüstung und Leistungsfähigkeit der Streitkräfte erlaubt. Der in der Richtlinie für die Durchführung der Informationsarbeit der Bundeswehr enthaltene Begriff „Waffensystem“ führte zu Rückfragen aus der Truppe, wie dieser zu interpretieren sei, da damit auch Großgerät der Bundeswehr wie zum Beispiel Flugzeuge oder Schiffe bezeichnet werden, die von dieser Regelung aber nicht betroffen sind. Eine Anpassung erfolgte zur Klarstellung des Begriffs „Waffensystem“, um Handlungssicherheit für die Truppe bei öffentlichen Veranstaltungen herzustellen. Zu Frage 122: Das Verbot zum Umgang von Personen unter 18 Jahren mit Waffen trägt den Bestimmungen des Waffenrechts Rechnung, das für Waffen, die nicht dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterfallen, Entsprechendes regelt. Waffen im Sinne anderer Definitionen, nämlich Kriegsschiffe oder mit Waffensystemen ausgestattete Fahrzeuge, sind vom Waffengesetz nicht betroffen. Anlage 83 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Christian Schmidt auf die Frage des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) (Drucksache 17/6994, Frage 123): Hat Deutschland bzw. haben Bundeswehreinheiten seit 2001 Gefangene, die von deutschen ISAF-Soldaten in Afghanistan gemacht wurden, an Haftanstalten oder Internierungslager der afghanischen Sicherheitskräfte überstellt, von denen in jüngster Zeit – dpa-Meldung vom 6. September 2011 – nach einem BBC-Bericht bekannt wurde, dass in ihnen Folterpraktiken angewandt werden, die in einem nach diesem BBC-Bericht „noch unveröffentlichten“ UNAMA-Bericht „alltäglich und systematisch“ genannt wurden? Die angekündigte Veröffentlichung des UNAMA-Berichts zu Menschenrechtsverletzungen in afghanischen Hafteinrichtungen ist bisher nicht erfolgt. Eine abschließende Bewertung ist vor der Veröffentlichung nicht möglich. Erst nach der Veröffentlichung werden sowohl die afghanischen Behörden wie auch die ISAF-Führung den darin enthaltenen Feststellungen im Einzelnen nachgehen können. Schon jetzt hat die ISAF-Führung im Vorgriff auf den Bericht mit einer Einschränkung der Übergabe von Gewahrsamspersonen an afghanische Stellen reagiert. Zu den Fragen, welche Haftanstalten letztlich in dem Bericht genannt werden, welche Vorwürfe sich im Einzelnen an die zuständigen afghanischen Behörden richten und welche Schlussfolgerungen daraus auch für das Regionalkommando Nord zu ziehen sind, können heute noch keine abschließenden Antworten gegeben werden. Wie schon mehrfach gegenüber dem Bundestag dargelegt, ist der Informationsstand über die vor April 2007 durch das Deutsche Einsatzkontingent ISAF in Gewahrsam genommenen Personen lückenhaft. Nach Durchsicht der vorliegenden Dokumente ist davon auszugehen, dass diese Personen noch vor Ort an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wurden. Seit April 2007 kam es vor dem Hintergrund der geltenden Weisungslage nicht mehr zu Ingewahrsamnahmen durch deutsche ISAF-Kräfte. Gemäß geltender Weisungslage nehmen Soldatinnen oder Soldaten des Deutschen Einsatzkontingents ISAF Personen zur Auftragserfüllung nur in Gewahrsam, wenn die Ingewahrsamnahme nicht durch begleitende oder durch kurzfristig zuziehbare zuständige afghanische Stellen möglich ist. Eine Übergabe von durch deutsche Soldatinnen oder Soldaten in Gewahrsam genommenen Personen an afghanische Behörden kommt nur in Betracht, wenn Garantien der afghanischen Seite für die Gewährleistung einer menschenrechtskonformen Behandlung vorliegen. Anlage 84 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Hermann Kues auf die Frage der Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 124): Wie steht die Bundesregierung zu den verdeckten Anrufen, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Zusammenhang mit der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes getätigt hat, um zu kontrollieren, in welcher Form Träger und Verbände den Bundesfreiwilligendienst bewerben, und spiegelt diese verdeckte Form der Erkenntnisgewinnung das neue Geschäftsgebaren der Bundesregierung wider? Die Doppelstrategie der Bundesregierung, die bestehenden Jugendfreiwilligendienste Freiwilliges Soziales Jahr, FSJ, und Freiwilliges Ökologisches Jahr, FÖJ, auszubauen und durch den Bundesfreiwilligendienst, BFD, neue Engagementmöglichkeiten zu schaffen, hat sich bewährt. Die aktuellen Entwicklungen zeigen: Während die bereits zu Anfang des Jahres auf über 29 000 erhöhte Zahl der geförderten Plätze im FSJ/FÖJ weiter steigt, konnten im Bundesfreiwilligendienst in den ersten zehn Wochen seit Bestehen dieses neuen Angebotes schon über 14 000 Verträge abgeschlossen werden. Diese positive Entwicklung ist nicht zuletzt auch der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege, BAG FW, zu verdanken. Anfängliche Schwierigkeiten konnten so erfolgreich überwunden werden. Dazu gehörte auch, dass das BMFSFJ im Rahmen seiner Aufgaben Beschwerden und Eingaben von abgelehnten Interessentinnen und Interessenten am Bundesfreiwilligendienst prüfte und diesen Hinweisen in der gebotenen Sorgfalt nachging. Anfang August 2011 schloss das Bundesfamilienministerium deshalb mit der BAG FW eine Vereinbarung ab, die es jeder Interessierten und jedem Interessierten ermöglichen soll, einen FreiwiIligenplatz zu bekommen. Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Wohlfahrtsverbände betonen in dieser mit dem BMFSFJ abgeschlossenen Vereinbarung ausdrücklich, dass die Bundesregierung ihre Zusagen eingehalten hat und einhält. Das Ziel einer gleichmäßigen Entwicklung beider Freiwilligenformate rückt – angesichts der vorgenannten Zahlen – nunmehr in greifbare Nähe. Ich bin daher zuversichtlich, dass der positive Trend anhält, nachdem alle Probleme mit den Trägern und Verbänden geklärt werden konnten. Anlage 85 Antwort des Parl. Staatssekretä rs Dr. Hermann Kues auf die Frage der Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/6994, Frage 125): Dürfen nach Auffassung der Bundesregierung die Träger und Verbände interessierte Freiwillige nicht darauf aufmerksam machen, dass im Bundesfreiwilligendienst der Anspruch auf Kindergeld zwar im Rahmen des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes geregelt werden soll, dass dieses Gesetz aber noch nicht durch den Deutschen Bundestag verabschiedet ist und es damit derzeit einen faktischen Unterschied zwischen den verschiedenen Freiwilligendiensten gibt? Der jetzige Gesetzentwurf des Beitreibungsrichtliniengesetzes sieht die Gewährung eines Kindergeldes als neuen Tatbestand im Katalog des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d EStG bzw. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d BKGG vor. Diese Regelung wird rückwirkend für das Jahr 2011 zur Anwendung kommen. Um eine kindergeldrechtliche Begünstigung entsprechender Fälle gewährleisten zu können, hat das Bundeszentralamt für Steuern mit Einzelweisung vom 24. Juni 2011 die Familienkassen angewiesen, offene Kindergeldanträge von der Bearbeitung zurückzustellen, bis das parlamentarische Verfahren zum Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften abgeschlossen ist – Anmerkung: nach derzeitigem Planungsstand: 4. November 2011. Unabhängig hiervon kann jedoch in bestimmten Fällen ein Anspruch auf Kindergeld bestehen, wenn sich ein über 18 Jahre altes Kind bei der Bundesagentur für Arbeit, BA, arbeitslos gemeldet hat – Altersgrenze: Vollendung des 21. Lebensjahres –, ein über 18 Jahre altes Kind – Altersgrenze: Vollendung des 25. Lebensjahres – ausbildungswillig ist, aber eine Ausbildung oder ein Studium mangels Ausbildungs- oder Studienplatz nicht beginnen kann. Das Kind muss sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemühen und dies auch entsprechend nachweisen können – zum Beispiel durch die Anmeldung als Bewerber in der Berufsberatung der BA, durch Bewerbungen um Ausbildungsplätze, Bewerbung um Studienplatz oder Ähnliches. Da dies häufig den Trägern und Verbänden nicht bekannt ist, sollte eine entsprechende Beratung der Kindergeldberechtigten durch die zuständigen Familienkassen erfolgen. Anlage 86 Antwort der Parl. Staatssekretärin Ulrike Flach auf die Frage des Abgeordneten Steffen-Claudio Lemme (SPD) (Drucksache 17/6994, Frage 126): Aus welchem Grund hält die Bundesregierung das ihr bereits vorliegende Gutachten des gemeinsamen Wissenschaftlichen Beirates zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zurück, und wann ist mit einer Veröffentlichung seitens der Bundesregierung zu rechnen? Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt hat der Fachebene des Bundesministeriums für Gesundheit den ersten Entwurf einer Endfassung des Evaluationsberichts zum Jahresausgleich 2009 im Mai 2011 übermittelt. Dieser Entwurf wurde auf der Fachebene detailliert überprüft. Die Endfassung des Berichts wurde am Montag zum ersten Mal von den Koalitionspartnern beraten und wird in den nächsten Tagen veröffentlicht. Anlage 87 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete (Tagesordnungspunkt 9) Michael Frieser (CDU/CSU): Ich bin schon etwas verwundert, heute zu diesem Antrag der SPD sprechen zu müssen; denn wir haben doch in diesem Jahr bereits die aufenthaltsrechtlichen und asylrechtlichen Vorschriften geändert und mehr Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete hergestellt: Mit dem Gesetzentwurf 17/4401 wurde im März die Möglichkeit einer Ausnahme von der räumlichen Beschränkung in Fällen der Ausübung einer Beschäftigung, des Schulbesuchs, der Ausbildung und des Studiums geschaffen. Dies alles gegen die Stimmen der Grünen, der Linken, vor allem aber auch gegen die Stimmen derselben SPD, die heute erneut einen Antrag zu diesem Thema eingebracht hat. Wenn ich Ihren heutigen Antrag lese, frage ich mich, warum Sie nicht damals unserem Antrag zugestimmt haben. Wenn es Ihnen wirklich um Verbesserungen für die in Deutschland Asyl Suchenden und Geduldeten ginge, dann hätten Sie damals unserem Antrag zustimmen müssen. Stattdessen gehen Sie nun mit dem von Ihnen vorgelegten eigenen Antrag, die Residenzpflicht gänzlich aufzuheben, fast schon provokativ noch einmal ein ganzes Stück über die gerade neu geschaffenen Regelungen hinaus. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers gibt es für die räumlichen Beschränkungen, die den Geduldeten und den Asylbewerbern auferlegt werden, gute Gründe: Asylbewerber haben während des Verfahrens Anspruch auf Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland. Grundsätzlich und in der Hauptsache sollen sie die Entscheidung über ihre Anträge abwarten und sich nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland überall niederlassen und vor allem umziehen können. Residenzpflicht und räumliche Beschränkungen sollen primär gewährleisten, dass die Asylbewerber und die Geduldeten jederzeit für die Zustellung und Umsetzung asylrechtlicher Entscheidungen erreichbar sind. Auch ist es nicht so, dass in Deutschland durch diese Regelung zu enge räumliche Einschränkungen verfügt werden. Es ist nicht so, dass den Menschen nur engste Räume zur Verfügung stehen, innerhalb derer sie überhaupt keine Möglichkeit haben, von Ort zu Ort zu wechseln, Beschäftigungen nachzugehen oder schulische Bildung zu erlangen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der Vergangenheit mehrfach mit der Residenzregelung auseinandergesetzt und stets festgestellt, dass die Residenzregelung keinen Verstoß gegen unsere Rechtsordnung darstellt und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ebenfalls dieser Sicht gefolgt. Dass eine restriktive Auslegung der Residenzpflicht gerade bei oftmals überlangen Asylverfahren der Integration nicht dienlich ist, das hat auch Schwarz-Gelb verstanden und deshalb die Vorschriften geändert. Die Aufenthaltsbeschränkungen wurden zur Ausübung einer Beschäftigung, des Schulbesuchs, einer Ausbildung oder eines Studiums gelockert. Hierdurch haben wir nicht nur den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Bildungseinrichtungen erleichtert, sondern auch die Möglichkeiten zur Integration verbessert. Ich halte die Residenzpflicht in ihrem Kern noch immer für eine sinnvolle Regelung, auf die ich ungern gänzlich verzichten würde: Es geht um Menschen, deren Erlaubnis zum Aufenthalt in Deutschland noch unsicher ist – und in vielen Fällen abgelehnt wird. Wenn diese Menschen sich völlig grenzenlos bewegen und niederlassen dürften, bestünde durchaus die Gefahr, dass einige Bewerber das Ende Ihres Asylverfahrens nicht abwarten, sondern versuchen werden, sich dem Zugriff des Staates durch ständigen Umzug, keine Bekanntgabe der neuen Adresse etc. zu entziehen. Ich halte viel eher einen anderen Punkt für entscheidend: Wir müssen es schaffen, die Asylverfahren schneller durchzuführen. Wir dürfen es uns aus integrationspolitischer Sicht nicht erlauben, dass Asylsuchende im Jahre 2009 im Schnitt 8,1 Monate auf die materielle Entscheidung in der Sache warten mussten. Entweder nehmen wir die Menschen nach der Entscheidung über den Asylantrag auf – dann müssen wir aber auch sofort unsere Integrationsbemühungen verstärken – oder aber wir setzen, wenn der Antrag abgelehnt wurde, diese Entscheidung auch zügig um. Im Ergebnis muss es doch vor allem darum gehen, den Menschen, die zu uns kommen, möglichst schnell eine klare Perspektive und bei einem erfolgreichen Antrag auch eine Zukunft zu geben und sie nicht so lange wie bisher im Unklaren zu lassen. Zurück zu diesem Antrag der SPD: Wenn wir die Residenzpflicht vollumfänglich aufheben würden, bestünde die Gefahr, dass sich die Asylbewerber und die Geduldeten in Deutschland schneller fest einrichten, ein Bereitstehen für Entscheidungen über ihre Anträge verzögert und mit weiterem unnötigen Verwaltungsaufwand verbunden wäre und es auch für diese selbst im Falle einer Ablehnung des Asylantrages weitaus belastender würde, Deutschland wieder verlassen zu müssen. Die Residenzregelung ist deshalb, auch aus dem Verständnis für die schwierige Situation der Betroffenen heraus, eine Regelung, die im Interesse der Asylbewerber selbst liegt. Helmut Brandt (CDU/CSU): Die Debatte zur Abschaffung der Residenzpflicht flammt sowohl im Bund als auch in den Ländern immer wieder auf, hier im Bundestag zuletzt im Zuge der Debatte um Zwangsverheiratungen. Aber ich sage es Ihnen ganz offen: Wir wollen keine komplette Abschaffung der Residenzpflicht. Ich will Ihnen auch sagen warum: Für die Residenzpflicht nach § 56 Asylverfahrensgesetz und § 61 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz, das heißt dafür, dass das Aufenthaltsrecht nur beschränkt ausgeübt werden darf, gibt es gute rechtspolitische Gründe. Bei vollziehbar Ausreisepflichtigen, also den geduldeten Ausländern, liegt die Notwendigkeit einer räumlichen Beschränkung auf der Hand: Die für diesen Personenkreis zuständige Ausländerbehörde muss in der Lage sein, die Ausreisepflicht zu überwachen und durchzusetzen. Ein Ortswechsel hätte im Übrigen auch zur Folge, dass der Geduldete hierdurch in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde käme und dadurch ein erheblicher zeitlicher und personeller Mehraufwand bei der Überwachung und Durchsetzung der Ausreisepflicht entstünde. Die Intention der Residenzpflicht nach § 56 Asylverfahrensgesetz – schnelle Erreichbarkeit im Asylverfahren, Aufteilung über das Land und die bessere öffentliche Verteilung der Lasten – ist ebenfalls durchaus gerechtfertigt. Genau deshalb hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden, dass die gesetzlich angeordnete und vorgesehene räumliche Beschränkung weder gegen die Grundrechte auf Freiheit der Person und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit noch gegen das Grundrecht auf Asyl verstößt. Insbesondere, so das Bundesverfassungsgericht, lässt sie den notwendigen Abschiebungsschutz unberührt, gewährleistet die Möglichkeit der personalen Durchsetzung des Asylanspruchs und ist nicht unverhältnismäßig. Ich denke, dass sich die große Mehrzahl derjenigen, die sich auf ein Asylrecht berufen, rechtsstaatlich verhält. Es gibt aber auch eine Realität, an der wir nicht vorbeikommen, nämlich des Missbrauchs von Sozialleistungen, von Schleusungen und anderem. Um dies zu verhindern, müssen wir unseren Behörden die Möglichkeit einer Kontrolle geben. Für mich haben sich deshalb die Vorschriften zur Residenzpflicht bewährt. Sie ist meiner Meinung nach schlicht notwendig. Richtig ist, dass die Aufenthaltsbeschränkung eine gewisse Härte darstellen kann, besonders dann, wenn die Unterbringung im ländlichen Raum erfolgt. Selbstverständlich sehen auch wir die Problematik, die sich aus einer strikten Anwendung der Residenzpflicht ergeben kann. Aber: Dafür gibt es Ausnahmen von der Residenzpflicht. § 56 Asylverfahrensgesetz beschränkt das Aufenthaltsrecht eines Asylbewerbers räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde, dem er zugewiesen ist. In § 58 desselben Gesetzes wird aber auch geregelt, unter welchen Voraussetzungen die Ausländerbehörde einem Ausländer die Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des gesetzlich zugewiesenen Aufenthaltsbereichs erteilen kann oder erteilen muss. So ist die Erlaubnis zu erteilen, wenn hieran ein dringendes öffentliches Interesse besteht, zwingende Gründe es erfordern oder die Versagung eine unbillige Härte bedeuten würde. Falls diese besonderen Voraussetzungen nicht vorliegen, kann die Ausländerbehörde die Erlaubnis dennoch nach pflichtgemäßem Ermessen erteilen; es gibt also einen Handlungsspielraum, zum Beispiel, wenn der Asylbewerber im Bereich einer anderen Ausländerbehörde eine Arbeitsstelle hat, wenn er als Mitglied einer Sportmannschaft, Musikkapelle oder Hilfsorganisation an Veranstaltungen des Vereins bzw. der Organisation außerhalb des zugewiesenen Bereichs teilnehmen möchte oder wenn er aus einem besonderen Anlass – Hochzeit, Tod, besondere Geburtstage – nahe Verwandte, die sich im Bundesgebiet außerhalb des ihm zugewiesenen Aufenthaltsbereichs aufhalten, besuchen möchte. Nach meiner Kenntnis haben die meisten Bundesländer ihre Behörden angewiesen, mit den Ausnahmetatbeständen sehr großzügig umzugehen, und sie aufgefordert, von ihrem Handlungsspielraum nach Möglichkeit auch weitestgehend Gebrauch zu machen. Es gibt also entsprechende Regelungen, um Härtefälle zu vermeiden. Nach § 58 Abs. 6 des Gesetzes kann die Landesregierung zudem durch Rechtsverordnung bestimmen, dass sich Ausländer auch ohne Erlaubnis vorübergehend in einem mehrere Ausländerbehörden umfassenden Gebiet aufhalten können. Von dieser Möglichkeit haben bereits einige Bundesländer Gebrauch gemacht. Schleswig-Holstein, Sachsen, Berlin, Brandenburg haben bereits die Bewegungsfreiheit von Ausländern ausgeweitet. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wollen diesem Beispiel folgen oder sind ihm bereits gefolgt. Und nicht zuletzt möchte ich Sie daran erinnern, dass wir die Residenzpflicht bereits im Rahmen des Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsverheiratung sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften für Geduldete und Asylbewerber gelockert haben, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, Ausbildung oder eines Studiums zu erleichtern. Damit sind wir bereits weit über den Koalitionsvertrag hinausgegangen. Wir haben nämlich nicht nur eine hinreichende Mobilität hinsichtlich einer Arbeitsaufnahme geschaffen, so wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, sondern wir haben auch die Mobilität zum Zwecke eines Schulbesuches oder einer Ausbildung sichergestellt. Sie selbst sprechen in Ihrem Antrag davon, dass abzuwarten bleibe, ob die grundsätzlich begrüßenswerte beschlossene Soll-Ausnahme zugunsten berufstätiger Asylbewerber Verbesserungen bringt. Ich bin vollkommen Ihrer Meinung: Warten wir ab. Zum Schluss lassen Sie mich noch eines sagen: Selbst wenn wir die Residenzpflicht abschaffen würden, müsste die Frage der Kostenträgerschaft eindeutig geklärt werden, um finanzielle Ungerechtigkeiten zwischen Flächenländern und Stadtstaaten zu vermeiden. Mit einem „können verpflichtet werden“, wie es in Ihrem Antrag heißt, ist dieses Problem nicht zu lösen. Insofern geht Ihr Antrag neben den Gründen, die ich Ihnen bereits genannt habe, auch gar nicht weit genug. Lassen Sie mich zusammenfassen: Für die hier geltende Regelung gibt es ordnungspolitische, arbeitsmarktpolitische und sicherheitspolitische Gründe. Wir halten an dieser Regelung fest, weil sie in der Praxis notwendig ist. Zudem haben wir mit der Lockerung der Residenzpflicht zum Zwecke der Arbeitsaufnahme, aber auch mit einem Paket an Maßnahmen im Rahmen des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex zahlreiche Erleichterungen und Verbesserungen für hier lebende Ausländer geschaffen, an die ich an dieser Stelle auch einmal erinnern möchte. Wir lehnen deshalb Ihren Antrag ab. Die bestehenden Regelungen haben sich bewährt. Rüdiger Veit (SPD): Mit unserer heutigen Initiative wollen wir das, was beschönigend „Residenzpflicht“ für Asylsuchende und Geduldete bezeichnet wird, jedenfalls im Grundsatz abschaffen. Erstmals durch Gesetz vom 21. Juli 1982 ist in § 20 AsylVfG Asylantragsstellern der Aufenthalt auf den Bezirk der jeweils zuständigen Ausländerbehörde, also der kreisfreien Stadt oder des Landkreises, beschränkt worden. In einer Vielzahl von weiteren Änderungen der Gesetze ist diese Regelung angepasst, verändert und auch im Personenkreis ausgedehnt worden. Sie bedeutet im Kern aber eben nicht nur die Pflicht, in einer bestimmten Stadt oder in einem bestimmten Kreis die Residenz im Sinne des ständigen Aufenthalts zum Wohnen zu haben. Sie beinhaltet vielmehr auch das Verbot, ohne besondere Erlaubnis der Ausländerbehörde ihren Zuständigkeitsbereich auch nur vorübergehend zu verlassen, es sei denn, ihnen wurde dies nach einem kostenpflichtigen und verwaltungsaufwendigen Genehmigungsverfahren in Einzelfällen zuvor erlaubt. Liest man die ursprüngliche Gesetzesbegründung nach, so ist angesichts steigender Asylbewerberzahlen mit diesen Regelungen zur Aufenthalts- und Wohnsitzbeschränkung die Absicht verbunden gewesen, Obdachlosigkeit oder die Belastung in Grenz- und Notstandsgebieten zu vermeiden. Mindestens im Hinterkopf ist sicher auch von vielen daran gedacht worden, dass man nach ihren Verfahren abgelehnte Asylbewerber und Geduldete, also vollziehbar Ausreisepflichtige, einfacher auffinden kann, um sie abschieben zu können. Da das unerlaubte Verlassen des Bezirks der Ausländerbehörde aber jedenfalls bei Wiederholungen auch mit Geldstrafe und sogar mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden kann, sollen diese Vorschriften dem einen oder anderen geeignet erscheinen, am Hauptbahnhof einer Großstadt sich aufhaltende Ausländer, die zum Beispiel des Drogenhandels oder Taschendiebstahls zwar verdächtig sind, bei denen der Nachweis einer Straftat aber nicht gelingt, mit eben diesen Vorschriften des Nebenstrafrechtes zu vertreiben bzw. zu bestrafen. Im Übrigen: Mein Vertrauen in den Wahrheitsgehalt mancher Quellen im Internet ist zwar beschränkt. Es findet sich dort aber ein Zitat des vormaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der Ende der 80er-Jahre gesagt haben soll: „Die Buschtrommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager.“ Es ist also nicht ganz abwegig, anzunehmen, dass diese Regelungen auch deutlich abschreckenden und repressiven Charakter haben sollten. Egal welches Motiv sich dahinter aber verbirgt: Die Regelung hat sich längst überholt. Sie bedeutet Schikane, örtliche und soziale Isolation und unnötige Kosten für die betroffenen Flüchtlinge und überflüssigen Verwaltungsaufwand für die Ausländerbehörden. Richtigerweise haben daher schon einige Bundesländer angeordnet, dass die Erlaubnis zum Aufenthalt auf ganze Regierungsbezirke bzw. das jeweilige Bundesland ausgelehnt wird. Es sind dies zum Beispiel Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern und – sogar ländergrenzenübergreifend – Berlin und Brandenburg. Wir sollten daher jetzt auch als Bundesgesetzgeber die Konsequenz ziehen, das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren und auf das notwendige Mindestmaß an Steuerung beschränken. Das bedeutet: Asylbewerber und Geduldete können sich zwar grundsätzlich im ganzen Bundesgebiet aufhalten, müssen aber in einem bestimmten Bundesland, Landkreis oder sogar in einer bestimmten Gemeinde ihren Wohnsitz nehmen. Diese Wohnortzuweisung ist erforderlich, um einen weiterhin gerechten Ausgleich zwischen den Bundesländern sowie innerhalb der Bundesländer zwischen den Landkreisen oder Kommunen zu gewährleisten. Denn sie sind es, die die Sozialleistungen tragen, um eine überproportionale Belastung der Ballungszentren zu vermeiden. Der Vollständigkeit halber will ich aber an dieser Stelle auch erwähnen, dass wir als SPD-Fraktion in unserem Bemühen nicht nachlassen werden, eine vernünftige Altfall- und Bleiberechtsregelung zu finden, um vor allem in den Fällen langjähriger sogenannter Kettenduldungen zu einem Aufenthaltsrecht mit Perspektive zu kommen. Bis dahin könnte aber eine bessere Bewegungsfreiheit der betreffenden Personen auch leichter dazu führen, dass sie eine Arbeitsstelle finden und ihre Familien ernähren, somit Sozialkassen entlasten und sich selbst die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer Altfallregelung schaffen können. Ich bitte daher um Zustimmung. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Koalition aus Union und FDP hat eine neue Integrationspolitik auf den Weg gebracht. Wir erschließen die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser und stärken den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft. Fördern und Fordern gehört zusammen. Wir haben die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen von jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unserer Gesellschaft weiterzuentwickeln. Die christlich-liberale Koalition eröffnet so Perspektiven für Menschen, die in unser Land gekommen sind. Multikulti-Romantik oder Desintegration durch Wegschauen helfen uns nicht weiter. Der Antrag der SPD hält an der alten Multikulti-Romantik fest und gibt sich mitleidsvoll. Da wird der Einschränkung der Bewegungsfreiheit als Folge „unerwünschte soziale Isolation“ angehängt. Das ist absurd. Die Residenzpflicht hilft mit, dass die Betroffenen sich nicht in wenigen Ballungsräumen ballen und ethnisch homogene Milieus bilden können. Nicht zuletzt der Bildung von Parallelgesellschaften kann so entgegengesteuert werden. Wer nach Deutschland mit der Absicht kommt, hier dauerhaft zu bleiben, möge sich auch hier integrieren – vor allem am Wohnort! Deshalb tritt genau dann, wenn die Betreffenden dies tun, auch keine soziale Isolation auf – weil sie mit den ortsansässigen Deutschen in Kontakt treten und keine ethnischen Parallelgesellschaften bilden. Die im Antrag der SPD befürchtete Isolation tritt nur auf, wenn die Zuwandernden unter sich bleiben. Dass gleichwohl Bürgerrechte, zum Beispiel zur rechtlichen Vertretung oder auch zur Teilnahme an Bildung, wahrgenommen werden müssen, ist richtig und notwendig. Hier hat die Koalition auch einiges getan. Aber dem Wunsch der SPD nach möglichst vielen von der staatlichen Sozialbürokratie abhängigen Menschen entgegenzukommen, hilft den betroffenen Menschen langfristig aber nicht. Zentrales integrationspolitisches Anliegen der FDP ist das Beherrschen der deutschen Sprache. Menschen, die Asyl bei uns beantragen, bekunden damit, dass sie in Deutschland leben wollen. Auch wenn über den Antrag noch nicht entschieden ist oder sie nach einem abschlägigen Bescheid dennoch hier geduldet werden, müssen sie ihrer Willensbekundung auch die dazugehörige Tat folgen lassen und die Integration in die deutsche Gesellschaft suchen – und suchen können. Ethnische Gruppenbildung und Herkunfts-Volkstümelei war den politisch fortschrittlichen Kräften in Deutschland immer verpönt. Es wäre gut, wenn die SPD in dieser Hinsicht dem Fortschritt treu bleiben würde. Ihr Antrag ist in seiner Grundphilosophie leider reaktionär. Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht dagegen ohne Scheuklappen bestehende Defizite der Integrationspolitik an. Es gilt, die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser zu nutzen. Mit unseren bisherigen Gesetzesinitiativen wurden in ausgewogener Weise Maßnahmen zur Förderung der Integration und zur humanitären Besserstellung von Ausländern, die in Deutschland Hilfe und Schutz suchen, ergriffen. Wir haben erstmals für minderjährige und heranwachsende geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Die rot-grüne Koalition hatte das nicht zustande gebracht. Wir helfen Frauen in Not. Zwangsheirat wird jetzt explizit als Straftat benannt. Wir haben auch den Opfern von Zwangsverheiratungen eine Perspektive mit einem eigenständigen Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht gegeben. Jetzt erhalten sie eine Chance, sich zu befreien. Dem dient auch die Verlängerung der Antragsfrist für die Aufhebung der Ehe. Die Ausländerbehörden haben wir verpflichtet, vor Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen, ob der Pflicht zur ordnungsgemäßen Teilnahme an Integrationskursen nachgekommen wurde. Damit können die Integrationskurse besser fokussiert und aktive Integrationspolitik gestaltet werden. Das erhöht die Chancen für Menschen, die nach Deutschland kommen, auch in Deutschland wirklich anzukommen und sich eine Existenz aufzubauen. Die Anträge von Rot-Rot-Grün in den vergangenen Jahren – und auch der heutige der SPD – dienen dagegen nur dazu, Zersplitterung unserer Gesellschaft unter dem Deckmantel scheinbarer Ausländerfreundlichkeit zu fördern. Die SPD hat einen klugen Satz in ihren Antrag geschrieben, nämlich, die Wirkung der von CDU/CSU und FDP als Gesetz beschlossene und in der Tat „begrüßenswerte … Soll-Ausnahme zugunsten berufstätiger Asylbewerber“ bleibe abzuwarten. – Das hätte die SPD in der Tat besser getan! Stattdessen praktiziert sie einen haltlosen Aktivismus, um sich an bestimmte, integrationsfeindliche Gruppierungen anzubiedern. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP dagegen verbessert tatkräftig die Integration ausländischer Menschen in Deutschland und eröffnet ihnen Chancen, wie sie unter dem von Rot-Rot-Grün propagierten erniedrigendem Mitleidsgestus nie möglich waren. Wir fördern und fordern! So kommt Deutschland – und alle, die hier leben wollen – voran. Der Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist erfolgreiche Integration. Wir stellen die Weichen dafür! Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die SPD-Fraktion legt hier einen Antrag vor, mit dem die Aufhebung der sogenannten Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete gefordert wird. Dieses Anliegen teilt die Fraktion Die Linke im Grundsatz, auch wenn es in einzelnen Fragen noch Klärungsbedarf gibt. Doch zunächst zum derzeitigen Stand. Asylbewerber, Geduldete und bestimmte Gruppen von Flüchtlingen unterliegen der Residenzpflicht. Sie dürfen den ihnen zugewiesenen Landkreis nicht ohne Genehmigung verlassen. Für diese Verlassenserlaubnis haben die Kommunen in der Vergangenheit sogar rechtswidrig Gebühren bis zu 10 Euro verlangt – Gebühren, die die Betroffenen von ihrem Taschengeld in Höhe von 40 Euro bezahlen mussten. Wir erleben derzeit, wie diese Residenzpflicht mehr und mehr erodiert. In vielen Bundesländern dürfen sich die Betroffenen zumindest in ihrem jeweiligen Regierungsbezirk bewegen, in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen sogar im gesamten Land. Für Geduldete gilt ohnehin grundsätzlich Bewegungsfreiheit innerhalb ihres Bundeslandes, die bei angeblich fehlender Mitwirkung bei Abschiebemaßnahmen allerdings beschränkt werden kann. Die Residenzpflicht komplett aufzuheben, ist aus menschenrechtlicher Sicht schon lange überfällig. Denn mit der Residenzpflicht wird die Bewegungsfreiheit von Menschen allein aus Gründen der Verwaltungseffizienz oder als Sanktionsmittel gegen unliebsame Ausländer eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Festlegung der Hartz-IV-Sätze ausgeführt, dass Menschen notwendigerweise in sozialen Bezügen leben. Dazu gehört auch, Freunde und Verwandte zu besuchen, ohne dafür um Erlaubnis einer Behörde zu fragen. Die Residenzpflicht ist ein Eingriff in die Bewegungsfreiheit und die Würde der Betroffenen. Sie ist aus dem Geist der Abschreckung und des Misstrauens geboren. Es wird höchste Zeit, diese erniedrigende Maßnahme auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Doch zur Bewegungs- und Reisefreiheit gehört nicht nur die formale Freiheit von Beschränkungen. Dazu gehören auch die materiellen Mittel, diese Bewegungsfreiheit überhaupt wahrnehmen zu können. Doch das kommt im Antrag der SPD gar nicht vor. Freiheitsrechte sind erst dann verwirklicht, wenn die Individuen sie auch tatsächlich wahrnehmen können. Für Asylbewerber und Geduldete gilt aber neben der Residenzpflicht noch das Asylbewerberleistungsgesetz. Sie erhalten lediglich 60 Prozent der Sozialleistungen, die Empfänger von Hartz-IV-Leistungen bekommen, die Kinder sogar noch weniger. Soziale Kontakte zu pflegen, politisch aktiv zu sein, zu reisen – all das scheitert schon an den fehlenden Mitteln. Diese Kritik an den Auswirkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes fehlt im Antrag der SPD vollkommen. Daran schließt sich ein weiterer Kritikpunkt an. Die SPD will am Prinzip der Verteilung von Asylbewerbern und Geduldeten auf die Bundesländer und darüber hinaus auf die Kommunen festhalten. Das ist in gewisser Hinsicht konsequent. Schließlich wird auch das Asylbewerberleistungsgesetz im Antrag der SPD nicht hinterfragt. Damit bleibt es bei der zwangsweisen Verteilung von Asylsuchenden. Diese lehnen wir ab, weil sie genau wie die Residenzpflicht zur Entwürdigung und Entrechtung von Asylsuchenden führt. Dennoch werden wir den Antrag der SPD in den weiteren Beratungen unterstützen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der Residenzpflicht gibt es in Deutschland ein bundesweites und in Europa einzigartiges System der Aufenthaltsbeschränkung, das tief in die Rechte der Betroffenen eingreift. Diese sind nicht nur verpflichtet, ihren Wohnsitz in dem ihnen zugewiesenen Gebiet zu nehmen. Vielmehr dürfen sie den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich auch nicht verlassen – es sei denn mit einer behördlichen Verlassenserlaubnis für eine kurze Zeit. Schön, dass nun auch die SPD-Fraktion endlich einen Antrag zur Abschaffung dieser Aufenthaltsbeschränkungen vorgelegt hat! Meine Fraktion und auch die Linken hatten dies ja bekanntermaßen schon früher getan, aber besser spät als nie. Denn diese unnötig restriktive Regelung führt zu einer erheblichen Einschränkung der Freizügigkeit der Betroffenen und oft zu deren weitgehender sozialer Isolation. Freunde und Verwandte können nicht besucht und kulturelle oder sonstige Angebote in anderen Landkreisen und Städten nicht genutzt werden. Der Zugang zu rechtlicher und sozialer Beratung und Betreuung im Asylverfahren, zu Bildungseinrichtungen, zum Arbeitsmarkt und zu medizinischer Versorgung werden erheblich erschwert, insbesondere wenn die Betroffenen entsprechend der Verteilungsentscheidung zum Aufenthalt in kleineren Gemeinden oder im ländlichen Raum verpflichtet sind. Dies führt zu kaum erträglichen Einschränkungen für die Betroffenen. Diese Einschränkungen sind auch deshalb stark belastend, da die für das Verlassen des Residenzpflichtbezirkes notwendige Verlassenserlaubnis in jedem Einzelfall bei der zuständigen Ausländerbehörde beantragt werden muss, wobei das Verfahren oftmals mit Gebühren verbunden ist und häufig restriktiv gehandhabt wird. Verschärft wird die Situation noch dadurch, dass der Verstoß gegen die räumliche Beschränkung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe geahndet werden kann. Von den Beschränkungen sind derzeit laut Ausländerzentralregister circa 40 000 Asylsuchende und mehr als 87 000 Geduldete betroffen, wobei viele der geduldeten Personen schon seit Jahren und unverschuldet an der Ausreise gehindert sind. Einige Bundesländer, darunter Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, NRW, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und selbst Bayern, nutzen in jüngster Zeit bestehende Spielräume, um die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und Geduldeten auszuweiten; doch sind dies nur erste kleine Schritte zu mehr Freizügigkeit. Denn die schwarz-gelbe Koalition will grundsätzlich an der Residenzpflicht festhalten. Zwar wurden im sogenannten Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz von der Koalition auch minimale Lockerungen der Residenzpflicht im Falle einer Arbeitsaufnahme beschlossen – dies reicht aber bei weitem nicht aus! Es wäre vielmehr eine grundlegende Überprüfung der gegenwärtig in Deutschland vorgesehenen und praktizierten Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit auch im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben – namentlich die Flüchtlingsaufnahmerichtlinie – geboten. Auch wenn in einigen Bundesländern derzeit die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und Geduldeten gelockert werden, so ist es doch an der Zeit, die Residenzpflicht bundeseinheitlich und vollständig abzuschaffen. Wir setzen uns weiterhin für eine vollständige Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber und die Aufhebung der Beschränkungen des Aufenthalts von Geduldeten sowie der damit zusammenhängenden Straf- und Bußgeldvorschriften ein und unterstützen daher den Antrag der SPD-Fraktion. Anlage 88 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Den Staat Palästina anerkennen – Beschlussempfehlung und Bericht: Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesordnungspunkt 3) Peter Beyer (CDU/CSU): Die Vision von einer Region, in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an Seite innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen existieren, ist in zahlreichen UN-Resolutionen beschrieben worden. Das ist und bleibt auch unsere Maxime. Der Nahe Osten gewinnt an Dynamik. Der „Arabische Frühling“ widerlegt das verbreitete Vorurteil, die Religion des Islam und das Gesellschaftsmodell der Demokratie passten nicht zueinander. Gerade viele junge Muslime finden Freude an der politischen Mitwirkung, dem Kampf für soziale Gerechtigkeit. Endlich ist ein Tor aufgestoßen worden, ein Tor der Möglichkeiten, der in der islamischen Welt verbreiteten Willkür, Korruption und den mangelnden Bildungschancen entgegenzuwirken. Ich hoffe, dass auch die Palästinenser dieses Momentum für sich nutzen können. Es ist jedenfalls zu beobachten, dass die Palästinenser, beispielsweise in der Reform von Legislative und Judikative, Fortschritte erzielen. Nach aktuellem Stand muss man davon ausgehen, dass die palästinensische Führung beabsichtigt, die Aufnahme in die Vereinten Nationen noch in dieser Woche zu beantragen, vermutlich am Freitag im Rahmen der Zusammenkunft der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat ist und bleibt unbestritten. Aber Palästinenser-Präsident Abbas muss mit mehr als einem bloßen Antrag daherkommen; denn dieser bringt keine Besserung der Sicherheitslage am Boden geschweige denn eine Lösung im Lande. Daher werden zurzeit erhebliche Bemühungen unternommen, mit den Palästinensern eine Kompromisslösung zu erreichen. Hervorheben möchte ich insbesondere die Rolle des Nahostquartetts, bestehend aus der EU, den USA, Russland und den Vereinten Nationen. Wenn es dem Quartett gelingt, eine gemeinsame Position zum Vorgang zu veröffentlichen, wäre dies hilfreich. Wir sollten jedenfalls keine Schritte unternehmen oder unterstützen, die die Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern erschweren. Ebenso sind wir gut beraten, alles zu unterlassen, was vom Grundsatz her geeignet ist, die Situation vor Ort insgesamt zu verschlechtern. Einseitige Schritte haben den Nahost-Friedensprozess zu keiner Zeit voranbringen können, im Gegenteil. Lassen Sie uns den Blick nun auch ein wenig weiter richten: Der größere Nahe und Mittlere Osten ist als Schlüsselregion für Europa von herausragender Bedeutung. Was also kann die Europäische Union tun, um künftig einen Beitrag zu leisten, dass sich die Lage im Nahen Osten nicht weiter verschärft, sondern ein tragfähiger Frieden möglich wird? Dazu braucht es einerseits der engen Abstimmung zwischen den europäischen Partnern und andererseits einer besonnenen Strategie für den Nahen Osten, vor allem aber einer die Interessen der Beteiligten berücksichtigenden, ausgewogenen Position. Genau daran mangelt es dem einseitigen Antrag der Linken. Allerdings kommt er vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Positionierung der Partei zur Nahostpolitik – ich nenne nur die krude Beteiligung an der sogenannten Gaza-Hilfsflottille – wenig überraschend daher. Wir hingegen wollen, dass die EU zusammensteht, so eng wie irgend möglich abgestimmt mit unseren transatlantischen Partnern, ohne deren entschiedene Führung substanzielle Fortschritte in der Region unrealistisch waren und sind. Die Bundesrepublik trägt eine historische, eine besondere Verantwortung für die – legitimen – Sicherheitsinteressen Israels. Eine Entscheidung gegen die unmittelbaren Interessen Israels ist für uns schlichtweg undenkbar. Wenn ich diese Position vertrete, will ich gleichzeitig nicht übersehen, dass die Regierung in Jerusalem es selbst Israels Freunden mit ihrer Politik nicht immer leicht macht. Nennen möchte ich hier nur die Siedlungspolitik. In der Praxis hat auch die israelische Regierung dazu beigetragen, dass das Land Gefahr läuft, künftig mit weniger Sicherheit leben zu müssen. Das Existenzrecht Israels wird sich nur sichern lassen, wenn auch das Recht der Palästinenser auf ihren Staat und ihre Würde anerkannt werden. Auch die Palästinenser sind Opfer der verfahrenen Situation und leiden unter den zuweilen überzogenen Maßnahmen Israels. Israel wird auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung Kompromisse machen müssen. Zur Realität gehört aber auch, dass es für israelische Politiker nicht immer ein leichtes Unterfangen darstellt, die eigenen Menschen für Friedensverhandlungen zu gewinnen, wenn diese sich täglicher Gewalt ausgesetzt sehen. Im März 2011 gab es eine Welle von Raketenangriffen auf Israel aus dem Gazastreifen. Allein im letzten Monat waren 178 Attacken auf israelisches Gebiet zu beklagen, in 134 Fällen mit Raketen oder Mörsern, neun Menschen starben. Kann da eine demokratische Regierung über Frieden verhandeln? Friedensverträge und gleichzeitig Terror – das ist kein Erfolgsrezept. Solange die palästinensische Führung den Verdacht nicht entkräften kann, dass sie den Terror unterstützt, kann sie kein Partner in den Friedensgesprächen sein. Die Charta der Hamas spricht Israel das Existenzrecht ab. Zwar hat die Hamas eine wohl taktisch motivierte Gesprächsbereitschaft zu erkennen gegeben, ein klares Bekenntnis zu friedlichen Beziehungen mit Israel fehlt aber noch immer. Noch einmal: Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat ist unbestritten. Doch das Ziel, ein in Sicherheit lebendes, von allen anerkanntes Israel und ein lebensfähiger palästinensischer Staat, ist nur über den Weg der Wiederaufnahme von ernsthaften Friedensverhandlungen zu erreichen. Nur eine verhandelte Zweistaatenlösung bringt dauerhaften Frieden. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Für uns gilt auch heute das, was Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2008 vor der Knesset zu den besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel gesagt hat: Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Schon vor dem Hintergrund, dass die antisemitischen Tendenzen bei der Linken weder zufriedenstellend aufgearbeitet geschweige denn ausgeräumt sind, ist deshalb der heute vorliegende heuchlerische Antrag abzulehnen. Aber auch eine Vielzahl weiterer Gründe spricht gegen den Antrag: Nach derzeitigem Stand ist davon auszugehen, dass die palästinensische Führung ein Schreiben an den UN-Generalsekretär richten wird, mit dem zwar nicht die staatliche Anerkennung, aber die Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen beantragt werden soll. Denkbar ist allerdings auch, dass die Palästinenser versuchen werden, ihre Anerkennung ohne den Sicherheitsrat in der Generalversammlung zu betreiben. Dazu könnten sie den Antrag stellen, zu einem „Non-Member Observer State“ erklärt zu werden. Die Palästinenser bekämen dann zwar nicht mehr Rechte, aber die symbolische Anerkennung als Staat. Seit Sonntag tagt das sogenannte Nahost-Quartett wieder. Es ist also auch durchaus möglich und es wäre zu hoffen, dass es in diesem Rahmen Anfang nächster Woche zu einer Erklärung des Quartetts kommen wird, die den weiteren Fahrplan vorgeben wird. Die Absicht, eine Aufnahme Palästinas in die Gemeinschaft der Vereinten Nationen ohne entsprechende Verhandlungen mit Israel zu erreichen, ist in der Arabischen Liga und selbst in der Regierung von Abbas umstritten. Es gibt unter Palästinensern durchaus auch Verständnis dafür, dass eine Abstimmung darüber nicht übereilt werden sollte. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass es den Palästinensern vor allem auf die Zustimmung der EU-Länder ankommt. Die EU aber hat bislang keine einheitliche Position in dieser Frage. Klar ist jedenfalls, dass ein solcher Antrag im UN-Sicherheitsrat am Veto der USA scheitern würde. Ich bin der Auffassung, dass einseitige Schritte im Nahost-Friedensprozess der falsche Weg sind und in eine Sackgasse führen. Wir treten klar für eine Zwei-Staaten-Lösung ein, die das Ergebnis von Verhandlungen sein muss. Nur eine verhandelte Zwei-Staaten-Lösung kann dauerhaften Frieden bringen. Ein einseitiger Schritt einer Resolution hätte voraussichtlich die Verhärtung der israelischen Position zur Folge. Er könnte im schlimmsten Falle dazu führen, dass auf israelischer, aber auch auf palästinensischer Seite so viel Frustration bzw. Druck aufgebaut wird, dass schon bald neue gewaltsame Auseinandersetzungen drohen. Deutschland wird deshalb nichts unterstützen, was Verhandlungen erschweren oder zu einer Eskalation der Lage führen könnte und was nicht innerhalb der EU abgestimmt ist. Lassen Sie mich zusammenfassen: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht, was genau Gegenstand eines palästinensischen Antrags sein und an wen dieser gerichtet werden wird. Unabhängig davon gilt jedoch: Fortschritte im Friedensprozess können nur in Verhandlungen erzielt werden. Deshalb müssen nun alle Kräfte darauf konzentriert werden, die Wiederaufnahme der direkten Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu erreichen. Bei diesen Bemühungen muss berücksichtigt werden, dass die Palästinenser in den letzten Jahren substanzielle Fortschritte beim Aufbau eines Staatswesens gemacht haben. Damit nimmt eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine Zwei-Staaten-Lösung weiter Gestalt an. Zu einer Verhandlungslösung gehört selbstverständlich auch die Anerkennung des Existenzrechts und die Gewährleistung der Sicherheit Israels, aber auch, dass die israelische Regierung die Siedlungspolitik im Westjordanland endlich beendet und darlegt, wie aus ihrer Sicht eine Regelung aussehen könnte, die den Interessen aller Beteiligten bestmöglich gerecht wird. Wir halten unserer grundsätzlichen Position fest: Einseitige Schritte Israels ebenso wie einseitige Schritte Palästinas sind der falsche Weg. Christian Lange (Backnang) (SPD): Man muss sich schon schwer wundern, wenn man den Antrag der Fraktion Die Linke liest. „Den Staat Palästina anerkennen“, das hört sich zunächst ganz vernünftig an; denn letztendlich ist jede im Deutschen Bundestag vertretene Partei für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt. Doch schaut man sich den Antrag der Linkspartei genauer an, stellt man schnell fest, wieso man ihm nicht zustimmen kann. Die Tendenz des Antrags ist eindeutig zu erkennen: Es liege fast einzig und allein in den Händen Israels, ob eine friedliche Lösung, sprich: eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung, realisiert werde oder nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, so einfach ist die Welt, ist der Nahostkonflikt aber nicht. Nicht alles ist schwarz-weiß, nicht für jedes Problem gibt es eine einfache Lösung. Wer anderes behauptet, ist ein Populist, und das ist auch der Grund, wieso wir Sozialdemokraten Ihrem Antrag nicht zustimmen werden. Die Situation im Nahen Osten ist momentan alles andere als ruhig oder stabil. In Syrien ist die Lage völlig außer Kontrolle geraten, und der syrische Diktator Assad lässt auf die eigene Bevölkerung schießen, die sich endlich gegen sein Regime auflehnt. In Ägypten weiß nach dem arabischen Frühling niemand, wohin die Reise gehen soll. Doch die schlimmen Anschläge in Eilat vor einigen Wochen und die Stürmung der israelischen Botschaft in Kairo lassen Böses befürchten. Vor diesem Hintergrund ist eine Lösung des Nahostkonflikts dringender denn je; denn nur durch eine Lösung kann die Situation in der ganzen Region besänftigt werden, und vor allem kann nur so auch den Islamisten die „Legitimation“ für ihre antiisraelische und antisemitische Propaganda und für ihre Hasstiraden entzogen werden. Mit dem Abbruch der direkten Friedensverhandlungen zwischen der israelischen und palästinensischen Regierung im September 2009 ist eine politische Lösung des Konflikts erneut und zum wiederholten Mal gescheitert. Alle Versuche, neue Gespräche über einen dauerhaften und gerechten Frieden anzustoßen, waren bislang vergeblich. Ob und wann es wieder zu ernst gemeinten Verhandlungen zwischen beiden Konfliktparteien kommt, ist derzeit nicht absehbar. Das Versöhnungsabkommen zwischen Hamas und Fatah ist nicht über ein Anfangsstadion hinausgekommen und grundlegende Vereinbarungen über eine Einheitsregierung sind nicht getroffen. Aber auch von der aktuellen israelischen Regierung scheint keinerlei Initiative zu kommen. Wir Sozialdemokraten begrüßen daher den Aufruf von US-Präsident Barack Obama an Israel und die Palästinenser, mutige Schritte zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu unternehmen. Er bekräftigt in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 8. Dezember 2009 das Ziel, dass der Staat Israel und ein souveräner, unabhängiger, demokratischer, zusammenhängender und lebensfähiger Staat Palästina Seite an Seite in Frieden und Sicherheit leben. Das Existenzrecht des Staates Israel und das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat dürfen niemals infrage gestellt werden. Derzeit findet eine Welle der Anerkennung eines palästinensischen Staates statt. Damit wächst die Dringlichkeit, Bewegung in den festgefahrenen Friedensprozess zu bringen. Jetzt ist es die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, die nächsten Tage, ja Stunden zu nutzen, um den nötigen diplomatischen Druck auf die Konfliktparteien zugunsten einer umgehenden Wiederaufnahme von Verhandlungen auszuüben. Auch die Bundesregierung muss ihrer außenpolitischen Verantwortung nachkommen und sich im Rahmen der EU, der Vereinten Nationen und des Nahostquartetts für neue Initiativen einsetzen, die die rasche Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern zum Ziel haben. Die Bundesregierung muss Palästinensern und Israelis klarmachen, dass sie durch eine Zuspitzung der Auseinandersetzung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen einer Lösung der Endstatusfragen nicht näherkommen. Bisher hat es die Bundesregierung nicht geschafft, innerhalb der Europäischen Union eine einheitliche Haltung zur Anerkennungsfrage zu bilden. Momentan droht die Gefahr, dass sich Deutschland zusammen mit den USA international isoliert. Deutschland droht die Gefahr, seinen guten Ruf als Vermittler im Nahen Osten zu verlieren. Das wäre hinsichtlich möglicher Friedensverhandlungen keine gute Perspektive. In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung hat der ehemalige Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde und Leiter der Außenkommission der Fatah, Nabil Schaath, die Position der Palästinenser sehr klar zum Ausdruck gebracht. In einem Punkt muss ich Herrn Schaath deutlich widersprechen – ich darf zitieren –: „Wie können Angela Merkel und Guido Westerwelle die Palästinenser ungeachtet aller Erfolge im Staatsaufbau und der ungebremsten israelischen Siedlungspolitik auf einen Verhandlungsprozess mit einem ungleich stärkeren Gegenüber verweisen?“ Hier wird deutlich, dass die palästinensische Seite endlich anerkennen muss, dass letztendlich nur direkte Verhandlungen mit dem vermeintlich „stärkeren Gegenüber“ zu einem Frieden, zu einer Zwei-Staaten-Lösung führen wird. Doch in einem anderen Punkt stimme ich Herrn Schaath voll und ganz zu – ich darf wieder zitieren –: „Die Rolle eines Ratgebers und Vermittlers kann die Europäische Union aber nur dann einnehmen, wenn sie einen gemeinsamen Kurs für den Umgang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt findet. Deutschland muss eine zentrale Rolle spielen, wenn ein gesamteuropäischer Kompromiss gefunden werden soll, der es der EU erlaubt, sich aktiv in den Verhandlungsprozess einzubringen. Die Position der Bundesregierung zur Aufnahme des palästinensischen Staates in die Völkergemeinschaft darf sich daher nicht auf die Ablehnung unseres Strebens nach Staatlichkeit in den Vereinten Nationen beschränken.“ Daher fordern wir Sozialdemokraten die Bundesregierung mit unserem Antrag „Den Nahost-Friedensbemühungen neuen Schwung verleihen“ auf, dass sie ihre negative Vorfestlegung gegen die palästinensischen Bemühungen bei den Vereinten Nationen aufgibt und stattdessen alle Wege offenhält, die zu einer gemeinsamen europäischen Haltung führen können, einschließlich der Option, von europäischer Seite das palästinensische Ansinnen dann zu unterstützen, wenn Friedensgespräche bis dahin nicht begonnen haben und sich die künftige palästinensische Regierung zuvor dazu bekennt, dass sie das Existenzrecht Israels anerkennt, Gewaltverzicht garantiert und der Gültigkeit der bisherigen Abkommen zustimmt. Nur wenn Europa mit einer Stimme spricht, können wir als internationaler Akteur glaubwürdig auftreten. Doch zurück zu dem Antrag der Linkspartei. Was ich in Ihrem Antrag vermisse, sind klare und deutliche Signale auch an die palästinensische Seite. Zunächst haben Sie in Ihrem Antrag nicht einmal mit einem einzigen Satz auf das schlimme Schicksal von Gilad Schalit hingewiesen. Die palästinensische Regierung muss sich endlich – ich werde nicht müde, dass heute nun zum wiederholten Male hier im Deutschen Bundestag zu fordern – für die bedingungslose Freisetzung von Gilad Schalit einsetzen, der heute genau seit 1913 Tagen irgendwo im Gazastreifen von Islamisten gefangen gehalten wird, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Nicht einmal das Internationale Rote Kreuz darf zu ihm. Jeder von uns, der Israel kennt, weiß, dass das momentan mit der Haupthindernisgrund für Israel ist, Gespräche mit den Palästinensern zu führen. Darüber hinaus bin ich schon ziemlich entsetzt, wenn ich in Ihrem Antrag lesen muss – ich darf zitieren –: „Die notwendige Verpflichtung der Palästinenser zum Gewaltverzicht verlangt auch einen Gewaltverzicht von Israel.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, die terroristischen Anschläge der Hamas oder anderer islamistischer Gruppen aus dem Gazastreifen auf Israel gleichzusetzen mit einer „Gewalt“ von Israel ist schon ein starkes Stück. Wir wissen doch alle, dass wir ohne den Terrorismus der Hamas schon ein ganzes Stück weiter wären im Nahen Osten. Wir wissen alle, dass die Hamas sämtliche Friedensbemühungen torpediert und verhindert, nicht nur auf Kosten Israels, sondern auch auf Kosten der eigenen Bevölkerung. Wir Sozialdemokraten halten die unmittelbare Wiederaufnahme von Friedensgesprächen für vordringlich. Denn nur so können die Endstatusfragen einvernehmlich und dauerhaft gelöst werden. Israel muss seine Verantwortung wahrnehmen und sofort den Siedlungsbau stoppen. Die palästinensische Regierung muss sich ihrerseits klar zu den Quartettkriterien bekennen und darüber hinaus umgehend für die bedingungslose Freilassung Gilad Schalits sorgen. Voraussetzung für die Wiederaufnahme von Direktgesprächen ist die Verständigung über klare Parameter, wie sie Großbritannien mit Unterstützung Frankreichs und Deutschlands in einer Stimmerklärung vom 18. Februar 2011 definiert hat. Diese Parameter sind Folgende, wie sie Sie unserem Antrag entnehmen können: a) eine Übereinkunft über die Grenzen von zwei Staaten auf der Grundlage der Grenzen von 1967 und einen gleichwertigen Austausch von Land; b) Sicherheitsvereinbarungen, die die palästinensische Souveränität achten, das Ende der Besatzung bringen und die den Israelis Sicherheit gewährleisten, der Wiederkehr des Terrorismus vorbeugen und neu entstehenden Bedrohungen wirksam begegnen; c) eine gerechte, faire und gemeinsame Lösung der Flüchtlingsfrage und d) die Einlösung der Ansprüche beider Seiten in der Jerusalemfrage. Verhandlungen müssen einen Weg eröffnen, um eine Lösung für das Problem des Status von Jerusalem als künftige Hauptstadt beider Seiten zu finden. Dabei weisen wir Sozialdemokraten ausdrücklich darauf hin, dass eine Lösung der Flüchtlingsfrage den jüdischen Charakter des Staates Israel nicht infrage stellen darf. Ich kann die Ängste vieler Israelis, mit denen ich gesprochen habe, sehr gut nachvollziehen. Auch habe ich in den vergangenen Wochen mit zahlreichen Vertretern aus unseren jüdischen Gemeinden in Deutschland, mit Vertretern von israelischen Organisationen oder NGOs gesprochen, die mir ihre Ängste und Sorgen zum Ausdruck gebracht haben. Beispielsweise war ich selbst sehr schockiert, als ich in der USA Today vor einigen Tagen gelesen habe, dass sich der PLO-Vertreter in den USA, Maen Areikat, de facto für einen „judenfreien“ Staat Palästina ausgesprochen hat. Wir müssen diese Bedenken und diese Sorgen ernst nehmen. Momentan scheint wieder etwas Bewegung in die Sache gekommen zu sein. Anscheinend sind Netanjahu und Abbas nun zu Gesprächen bereit. Ich hoffe, dass durch die Initiative der Palästinenser der Friedensprozess wieder in Fahrt kommt. Wir müssen beiden Seiten deutlich machen, dass nur durch direkte Verhandlungen ein dauerhafter Frieden möglich sein wird, und wir sollten uns alle vor einseitigen Schuldzuweisungen hüten. Dr. Rainer Stinner (FDP): Wir debattieren heute zum dritten Male in ganz kurzer Zeit über dasselbe Thema. Und wir diskutieren es zu einem Zeitpunkt, wo alles im Fluss ist und wo in New York jede Stunde eine neue Situation entsteht. Wir haben dazu heute Morgen im Ausschuss ausführlich diskutiert. Aber die Partei Die Linke will ein weiteres Mal dieses Thema diskutieren, statt jetzt eine Woche abzuwarten, was in New York herauskommt. Deshalb bringe ich noch einmal die Argumentationskette, die unser Denken und Handeln bestimmt. Wir wollen die Zwei-Staaten-Lösung. Wir sind der Meinung, dass die Möglichkeit dafür angesichts der Siedlungsaktivitäten jedenfalls nicht besser werden. Wir haben daher ein Interesse daran, alles zu tun, dass der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung nicht noch weiter verbaut wird. Denn eine Zwei-Staaten-Lösung ist ja kein Selbstzweck, sie soll konkret das Leben der Menschen verbessern. Das tut sie nur, wenn sie von beiden Seiten gewollt und akzeptiert wird. Deshalb kommen wir an der Notwendigkeit von Verhandlungen zwischen den Palästinensern und Israel über die bekannten Inhalte nicht vorbei. Wir verhandeln in diesen Minuten in New York über eine Lösung, die diese Verhandlungen ermöglichen. Ob dazu der schon heute zum Scheitern verurteilte Antrag auf die Vollmitgliedschaft Palästinas im Sicherheitsrat einen Beitrag leisten kann, darf hier und heute bezweifelt werden. Bei jeder Lösung müssen die völlig berechtigten Sicherheitsinteressen Israels Berücksichtigung finden. Ich wiederhole aber gerne: Ob das Vorgehen der israelischen Regierung in den letzten Monaten diesen Sicherheitsinteressen dienlich war, darf mit Fug und Recht auch bezweifelt werden. Ein weiteres Ziel ist, möglichst ein gemeinsames Vorgehen der Staaten der Europäischen Union zu erreichen. Das mag bezüglich der zu behandelnden Frage von nachrangiger Bedeutung sein; aber auch die Palästinenser haben ein Interesse daran, dass einer ihrer wichtigsten Partner, die EU, einheitlich agiert. Für die Handlungsfähigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ist das natürlich von ganz erheblicher Bedeutung. Wir haben also eine Optimierungsnotwendigkeit mit mehreren Variablen. Das macht die Lösung so schwer. Die Linke hat wieder einmal die einfache Lösung: Volle Anerkennung jetzt. Dabei vergisst die Partei, dass mit Deklamationen nichts gewonnen ist, wenn sie keine Relevanz für die Bürger vor Ort haben. Und genau das ist die Gefahr des Vorschlags der Linken. Die Probleme der Besatzung, die Probleme der mangelnden wirtschaftlichen Perspektive, die Probleme der Zweiteilung in die West Bank und in den Gazastreifen werden ja in keiner Weise gelöst. Deshalb führt an Verhandlungen kein Weg vorbei. In diese Richtung arbeitet die Bundesregierung. In diese Richtung arbeitet seit Monaten der Außenminister. Wenn diese hartnäckige Arbeit dazu führt, dass das Quartett in einer Erklärung die Rahmenbedingungen für solche Verhandlungen festlegt und dieser Fahrplan dann die Grundlage für Verhandlungen ist, ist es diese hartnäckige Arbeit wert. Dann erwarte ich aber auch, dass die Opposition diese Bemühungen lobt und nicht kritisiert. Klar ist allerdings auch, dass nach den großen Erwartungen, die zum Beispiel auch Präsident Obama geweckt hat, dieses Mal das Ergebnis nicht sein kann, dass die westliche Welt den Palästinensern zwar ihre Sympathie vermittelt, ansonsten aber alles beim Alten bleibt. Das geht jetzt nicht mehr. Dazu kommt jetzt natürlich die neue Situation in der arabischen Welt, die in jedem Fall eine neue Dynamik in den Nahost-Friedensprozess bringen wird, wobei diese Dynamik noch nicht eindeutig als positiv oder negativ bewertet werden kann. Sie bietet Chancen, enthält natürlich aber auch Risiken. Daher bringe ich ein weiteres Mal als möglichen Zwischenschritt die sogenannte Vatikan-Lösung ins Spiel. Diese Lösung könnte übrigens besser Deutschland-Lösung oder Schweiz-Lösung heißen; das würde den Vorläufermodellen mehr gerecht. Wenn das Ergebnis der Bemühungen in New York eine verbindliche Vereinbarung mit einem klaren Zeitrahmen für bilaterale Verhandlungen und die Statusaufwertung der Palästinenser wäre, könnten wir von einem neuen Hoffnungsschimmer am sonst leider so trüben Himmel des Nahen Ostens sprechen. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir werden in dieser Woche Zeugen einer Bewegung im israelisch-palästinensischen Konflikt, wie es sie seit einem Jahr nicht mehr gegeben hat. Hintergrund sind die Blockade der israelisch-palästinensischen Verhandlungen und die Absicht der Palästinenser, die Mitgliedschaft eines palästinensischen Staates bei den Vereinten Nationen zu beantragen und damit implizit zumindest die symbolische Anerkennung als palästinensischer Staat zu erreichen. Meine Fraktion begrüßt grundsätzlich diese Initiative; denn es ist angesichts der Verhandlungsblockade und der fortgesetzten israelischen Siedlungspolitik in der Westbank und in Ostjerusalem dringend erforderlich, etwas zur Rettung der Zwei-Staaten-Regelung zu tun. Wir wissen allerdings noch nicht genau, was die palästinensische Seite am Freitag in die Vereinten Nationen einbringen wird, und ob sie letztlich einen Antrag in den Sicherheitsrat oder einen in die Generalversammlung einbringen wird. Nach allem, was bisher bekannt ist, sind bei einer Befassung des UN-Sicherheitsrates zwei Optionen denkbar: Entweder der palästinensische Antrag wird dort in einer Kommission mit einem unbestimmten Zeithorizont behandelt oder er wird zeitnah abgelehnt, wahrscheinlich durch ein Veto der USA. Insbesondere wegen des drohenden Vetos der USA scheint es mir bei aller grundsätzlichen Sympathie für das Anliegen der Palästinenser nicht sehr ratsam, in diese volle Konfrontation mit den Amerikanern zu gehen. Gerade wenn man sich die Rede von Präsident Obama von heute Morgen anschaut, erkennt man: Dieser Präsident unterstützt nach wie vor einen eigenen selbstbestimmten Staat der Palästinenser. Er hat allerdings davon gesprochen, dass es keinen „shortcut“, keine „Abkürzung“, geben sollte, sondern dass die Zwei-Staaten-Regelung letztlich nur verhandelt werden kann. Das war deutlich. Allerdings muss man auch sehen: Liefern konnte dieser Präsident bisher nicht, weder was eine Fortsetzung des Siedlungsmoratoriums betrifft noch was die Bereitschaft der Israelischen Regierung zu substanziellen Verhandlungen betrifft. Das ist für die Palästinenser ein ziemlich unerträglicher Zustand. Insofern stellt sich die Frage, ob nicht ein Zwischenschritt, nämlich der Gang in die Generalversammlung mit dem Ziel der Aufwertung Palästinas zum beobachtenden Nichtmitgliedsstaat, ein tragfähiger Kompromiss wäre. Zwar wenden sich die Israelis auch hiergegen, aber auch dieser Schritt würde das international anerkannte Konzept der Zwei-Staaten-Regelung stärken und wäre gleichzeitig ein wichtiges Zeichen an die palästinensische und israelische Gesellschaft, die derzeitigen Blockaden zu überwinden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Ich bin fest davon überzeugt: Um die Palästinenser davon zu überzeugen, dass ein solcher Zwischenschritt sinnvoll ist, ist es erforderlich, dass vor allem die EU, einschließlich Deutschland, mit einer Stimme spricht. Denn eine Mehrheit in der Generalversammlung haben die Palästinenser. Aber es macht für sie einen großen Unterschied, ob die EU, inklusive der Deutschen, mit dabei ist oder nicht. An diesem Punkt ist die Bundesregierung gefordert: Die Bundeskanzlerin, der Außenminister, sie müssen sich jetzt innerhalb der EU für ein einheitliches Abstimmungsverhalten einsetzen und signalisieren, dass sie bereit sind, einer entsprechenden Resolution in der Generalversammlung zuzustimmen, etwa wenn die palästinensische Seite bereit wäre, von einem Gang in den Sicherheitsrat abzusehen. Auch eine solche Resolution würde das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat stärken, und sie würde gerade die Legitimität des Staates Israel unterstreichen. Im Übrigen könnte die Bundesregierrung mit einer Zustimmung gegenüber den Staaten des arabischen Frühlings Glaubwürdigkeit zurückerlangen, die sie in der Vergangenheit verloren hat. Nur wenn die europäischen Staaten endlich mit einer Stimme sprechen, könnte es vielleicht noch gelingen, eine Konfrontation im Sicherheitsrat zu vermeiden. Europa hat hier die große Chance, eine vermittelnde Rolle zwischen den Konfliktparteien und den USA einzunehmen, die am Ende zu neuen Verhandlungen führen könnte. Der deutsche Außenminister darf diese Chance und große Verantwortung nicht erneut leichtfertig verspielen, wie in der Libyen-Entscheidung. Meine Fraktion wird sich heute zu dem Antrag der SPD und dem Antrag der Linken enthalten. Beide Anträge gehen leider nicht auf die zentralen Fragen der aktuellen Situation ein, etwa wie ein möglicher Zwischenschritt in der Generalversammlung aussehen kann oder, ganz zentral, ein einheitliches Vorgehen der EU. Anlage 89 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Tagesordnungspunkt 12) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Durch eine Schleuserorganisation werden jahrelang ukrainische Frauen illegal über die Grenze nach Deutschland gebracht, und zwar nicht mehr mit dem aufwendigen und riskanten Verfahren, sie nächtens über die Neiße zu schleusen. Die Tathandlungen sehen schon seit Jahren raffinierter aus: Die Frauen werden im Ausland als Tänzerinnen angeworben, die Visabeschaffung erfolgt mit Falschangaben vermeintlicher deutscher Einlader, fingierte Verpflichtungserklärungen liegen natürlich vor. Für den Sachbearbeiter einer deutschen Visumbehörde ist dies mangels besserer Erkenntnisse damit ein unverdächtiger Fall. Tatsächlich aber sollen die Frauen in Deutschland zur Prostitution gezwungen werden – ein Tatbestand, wie er immer wieder vorkommt. Hinter Visaerschleichung stecken oft professionelle Organisationen, die damit ihr Geld verdienen. Nicht selten ist diese Form der Schleusungskriminalität für die Täter nichts anderes als Transferlogistik im Bereich der organisierten Kriminalität. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen, dieser organisierten kriminellen Praxis wie auch den „Visashoppern“ mit der Visa-Warndatei entgegenzuwirken. Deutschland hat ein gutes und durchdachtes System der Visumvergabe, das wir durch eine bessere Vernetzung der Informationen sichern wollen. Die Visa-Warndatei wird also insbesondere die deutschen Visumbehörden bei ihrer Tätigkeit unterstützen. Spätestens seit dem Visa-Untersuchungsausschuss ist klar, dass Visumverfahren fehleranfällig sind. So werden schwerwiegende Delikte insbesondere aus Bereichen wie Menschenhandel und Schleusungskriminalität immer wieder mit erschlichenen Visa verübt. Die Visumbehörden haben derzeit aber keine ausreichenden Möglichkeiten, die an einem Visumantrag beteiligten Personen gezielt auf rechtswidrige Handlungen im Visumverfahren oder sonstige Verurteilungen mit Auslandsbezug zu überprüfen. Diese Lücke müssen wir schließen; denn das Visumverfahren leistet einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Terrorismus und irregulärer Migration. Sinn und Zweck des Visumverfahrens ist es, sicherzustellen, dass nur Ausländer nach Deutschland einreisen, die die gesetzlichen Voraussetzungen für Einreise und Aufenthalt erfüllen. Ob diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, ist gewissenhaft zu prüfen. Das erleichtern wir mit der Visa-Warndatei deutlich. Denn in ihr werden Warndaten zu Personen aufgenommen, die im Zusammenhang mit einer der für das Visumverfahren relevanten Katalogstraftaten nach dem Aufenthaltsgesetz und dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz oder im Zusammenhang mit Schleusung, Menschenhandel und Kinderhandel oder schwersten Betäubungsmitteldelikten auffällig geworden sind. Auffällig heißt, indem sie wegen solcher Delikte als Täter oder Teilnehmer rechtskräftig zu Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Wir haben den Deliktkatalog auf wenige Straftaten beschränkt, die einen besonderen Bezug zum Visumverfahren oder einen entsprechenden Auslandsbezug aufweisen. Es geht also stark eingegrenzt nur um Informationen, mit denen der Visummissbrauch entdeckt bzw. verhindert werden kann. Darüber hinaus werden Warndaten nur gespeichert zu Visumantragstellern, die sich im Visumverfahren selbst rechtswidrig verhalten haben, sowie zu Einladern, Verpflichtungsgebern und Personen, die im Visumverfahren Bestätigungen abgegeben haben, wenn diese im Rahmen ihrer Erklärungen falsche Angaben gemacht haben. Dies gilt auch, wenn ein Verpflichtungsgeber seiner Verpflichtung zur Kostenübernahme nicht nachgekommen ist. Diese Informationen werden dann nur den Visumstellen im Visumverfahren sowie den mit der polizeilichen Kontrolle des grenzübergreifenden Verkehrs beauftragten Behörden für die Erteilung von Ausnahmevisa und Rücknahme von Visa an den Grenzen zur Verfügung gestellt. Daneben soll es ein weiteres Datenabgleichsverfahren geben, getrennt von der Visa-Warndatei und den bereits bestehenden Verfahren zur Konsultation von Sicherheitsbehörden. Dieses neue, ergänzende Verfahren sieht den Abgleich der Visumantragsdaten mit den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden zu Personen mit Verbindung zum internationalen Terrorismus vor. Für Staatsangehörige und Personengruppen, bei denen eine Visumpflicht besteht, wird so ein Hinweis durch die Sicherheitsbehörden an die Auslandsvertretung ermöglicht, wenn ihnen Erkenntnisse vorliegen, dass diese Personen Verbindungen zu internationalen Terrornetzwerken haben. Hierzu übermitteln die Auslandsvertretungen auch die Daten von Einladern, Verpflichtungsgebern und sonstigen Referenzpersonen des Visumantragstellers an eine im Bundesverwaltungsamt einzurichtende besondere Organisationseinheit. Hier wird dann ein Abgleich mit bestimmten Daten aus der Antiterrordatei durchgeführt. Nur im Trefferfall werden dann die Daten aus dem Visumverfahren an die betreffende Sicherheitsbehörde zur Prüfung übermittelt, ob Versagungsgründe oder Sicherheitsbedenken gegen die Einreise des Visumantragstellers bestehen. Wenn beim Abgleich kein Treffer erzielt wird, werden die Daten unverzüglich gelöscht. Mit diesem weiteren Verfahren wird verstärkt dem besonderen sicherheitspolitischen Interesse in Visumverfahren Rechnung getragen, Personen mit Beziehungen zu Terrornetzwerken nicht nach Deutschland einreisen zu lassen. Denn selbstverständlich gehören die für den Bereich Schleusungskriminalität und OK beschriebenen Modi Operandi zum Handwerkszeug von Terroristen oder auch Hasspredigern. Es kann nicht sein, dass Terroristen in deutschen Botschaften irgendwo auf der Welt Visa beantragen und sie auch bekommen, um anschließend einen Anschlag in Deutschland vorzubereiten oder gar durchzuführen. Es war daher höchste Zeit, unseren Visum- und Grenzbehörden die Möglichkeit einer intensiveren Prüfung bei der Visavergabe zu geben. Ich bin der Überzeugung, dass diese beiden neuen Verfahren einen sinnvollen Beitrag zur Stärkung der inneren Sicherheit leisten werden. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Die Vergabe von Visa, die zur Einreise nach und zum Aufenthalt in Deutschland berechtigen, ist einer der sensibelsten Punkte für die Sicherheit unseres Landes. Sie stellt ein potenzielles Einfallstor nicht nur für kriminelle, sondern auch für terroristische Aktivitäten dar. Gleichzeitig hat Deutschland als wichtige und stark vom Export abhängige Wirtschaftsnation und beliebtes Reiseland aber natürlich auch ein großes Interesse an einer schnellen und effektiven Vergabe von Visa, um so einen grenzüberschreitenden außereuropäischen Reise- und Wirtschaftsverkehr zu ermöglichen. Die sicherheitspolitische Bedeutung der Vergabe von Visa und der fortdauernde Missbrauch der geltenden Einreisebestimmungen sind besonders durch die Arbeit des Visa-Untersuchungsausschusses in der 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages offensichtlich geworden. Durch den Untersuchungsausschuss wurde eine Vielzahl von gravierenden und vor allem strukturellen Mängeln bei der Vergabe von Visa in den deutschen Auslandsvertretungen aufgedeckt. In der nachfolgenden Zeit sind die bekannt gewordenen Missstände leider nur zögerlich und teilweise auch unzureichend behoben worden. Immerhin gibt es mittlerweile eine Arbeitseinheit zur Korruptionsprävention sowie ein Frühwarnsystem für einen möglichen Missbrauch. Die deutschen Auslandsvertretungen haben jedoch bisher noch immer nicht die Möglichkeit, bei allen Anträgen die an einem solchen Antrag beteiligten Personen gezielt auf rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit einem Visumverfahren oder mit sonstigem Auslandsbezug zu überprüfen. Hinzu kommt, dass den Auslandsvertretungen in der Regel nur die von ihnen selbst erkannten Missbrauchsfälle auch bekannt sind. Erkenntnisse anderer Stellen, wie auch die Erkenntnisse anderer deutscher Auslandsvertretungen und Grenzbehörden erfahren sie nur zufällig oder auf Nachfrage im Einzelfall. Oftmals liegen die Kriterien für die Ablehnung eines Antrages jedoch gerade nicht in der Person des Antragstellers, sondern vielmehr in der Person des Einladers begründet. Dies kann jedoch erst durch gezogene Quervernetzungen infolge eines Datenabgleichs mit problematischen anderen Visumantragstellern bei anderen Auslandsvertretungen belegt werden. Angesichts von jährlich mehr als einer Million bewilligter Visumanträge mögen die bisher festgestellten Missbräuche von mehreren Hundert Fällen pro Jahr zwar quantitativ nicht besonders ins Gewicht fallen. Die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden belegen jedoch eine starke qualitative Relevanz. So befinden sich unter den aufgedeckten Fällen der letzten Jahre nicht nur Verbrechen des Menschen- und Kinderhandels, sondern vor allem auch „Einschleusungen“ von islamistischen Hass- und Gewaltpredigern nach Deutschland. Sie nutzen Deutschland vornehmlich, um für finanzielle und personelle Unterstützung für ihre extremistischen und terroristischen Aktivitäten zu werben. Die christlich-liberale Koalition hat sich daher darauf verständigt, über die bestehenden Sicherheitsmaßnahmen hinaus weitergehende gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Visummissbrauchs und zur Verhinderung von illegaler Migration zu ergreifen. Zukünftig werden in einer Warndatei zentral Daten über Personen gespeichert, die im Zusammenhang mit einer der für das Visumverfahren relevanten Katalogstraftaten nach dem Aufenthaltsgesetz und dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz oder im Zusammenhang mit Schleusung, Menschen- und Kinderhandel oder schwersten Betäubungsmitteldelikten auffällig geworden sind. Der Deliktskatalog ist mit Blick auf den mit der Visa-Warndatei verfolgten Zweck der Vermeidung des Visummissbrauchs auf wenige Straftaten beschränkt, die einen besonderen Bezug zum Visumverfahren oder einen entsprechenden sonstigen Auslandsbezug aufweisen. Ein Zugriff von Sicherheitsbehörden auf diese Datei wird – abgesehen von den mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden für die Erteilung von Ausnahmevisa und die Rücknahme von Visa an den Grenzen – nicht möglich sein. Aus sicherheitspolitischen Erwägungen hätte man sich sicher auch einen größeren Zugriff durch die nationalen Sicherheitsbehörden auf die Visa-Warndatei an dieser Stelle vorstellen können. Mit dem ebenfalls beschlossenen Datenabgleichsverfahren wird den sicherheitspolitischen Interessen im Visumverfahren jedoch zumindest in Bezug auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus Rechnung getragen. Für das neue Datenabgleichsverfahren wird beim Bundesverwaltungsamt eine besondere Organisationseinheit eingerichtet, bei der künftig Daten aus dem Visumverfahren mit bestimmten Daten aus der Antiterrordatei automatisiert abgeglichen werden. Durch den Abgleich soll eine Rückmeldung durch Sicherheitsbehörden an die Visumbehörden ermöglicht werden, wenn Personen aus dem terroristischen Umfeld beabsichtigen, nach Deutschland einzureisen. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt somit im Ergebnis einen weiteren wichtigen Baustein der christlich-liberalen Koalition im Kampf gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität dar. Rüdiger Veit (SPD): Ein Teil der Vorgeschichte zu diesem Gesetzgebungsprojekt liegt schon in der letzten Legislaturperiode. CDU/CSU und SPD hatten damals in der Koalitionsvereinbarung festgehalten: „Die Bundesregierung wird sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, das für 2006 geplante EU-Visa-Informationssystem entsprechend auszugestalten. Sollten diese Bemühungen bis dahin nicht erfolgreich sein, wird eine nationale Warndatei geschaffen werden“. Diese europäische Regelung, nämlich die VIS-VO ist dann aber im Juli 2008 in Kraft getreten und anschließend in der Praxis umgesetzt worden. Aus heutiger Sicht mag es ein Fehler gewesen sein, dass ich damals als Berichterstatter und Verhandlungsführer auf der Seite der SPD das Gesetzesvorhaben einer nationalen Einlader- und Warndatei damit nicht sofort, sondern erst in buchstäblich letzter Minute am Freitag vor der Kabinettssitzung aufgehalten habe. In meiner eigenen Fraktion bestanden schon damals – insbesondere bei der vormaligen Justizministerin Brigitte Zypries – und bestehen noch heute erhebliche Bedenken datenschutzrechtlicher Art, die ich zunächst nicht ernst genug genommen hatte. Spätestens im Bundesrat wären wir seinerzeit mit dem Projekt sowieso an der FDP gescheitert, die sich anders als heute diesem Gesetzesvorhaben entgegenstellte. Für den damaligen Anlauf ebenso wie für den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf gilt aber, dass der zu erwartende Nutzen und der zu befürchtende Schaden – ganz zu schweigen von dem unnötigen Aufwand – in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Denn der Anwendungsbereich der europäischen Norm erfasst zwar nur die – kurzfristigen – Schengen-Visa; diese machen aber der Visa-Statistik des Auswärtigen Amtes zufolge 93 Prozent aller Fälle aus. Bei den noch verbleibenden 7 Prozent handelt es sich um die langfristigen nationalen Visa gemäß § 6 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes. Bei diesen Fällen erfolgt naheliegenderweise eine ohnehin wesentlich eingehendere Prüfung des Aufenthaltszwecks – zum Beispiel Arbeitsaufnahme oder Familiennachzug – und unter Beteiligung auch der Ausländerbehörden, aus deren Akten im Zweifelsfall mehr Sachverhalt und Begleitumstände ersichtlich sind, als sie legitimerweise in einer Datei gespeichert werden können. Dabei wird man auch dem Sachbearbeiter des Auswärtigen Amtes die Durchsicht des Bundeszentralregisters, zu dem er bereits jetzt Zugriff hat, in Bezug auf einschlägige strafrechtliche Verurteilungen weiterhin zumuten können. Das heißt, es braucht auch keine gesonderten Arbeitserleichterungen für die Bediensteten in den Auslandsvertretungen durch eine neu zu schaffende Datei. Was also im Wesentlichen durch eine eigene deutsche Visa-Warndatei erreicht würde, wäre ganz überwiegend eine unseres Erachtens unzulässige Doppelspeicherung von Daten mit großem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Nutzen. Und bei denjenigen, die sich mit gezielten Angaben und Nachweisen um ein längerfristiges Visum bemühen, handelt es sich nun sicherlich nicht gerade um den Personenkreis derjenigen, die sich um eine Einreise nach Deutschland bzw. in den Schengenraum bemühen, um hier zum Beispiel Straftaten zu begehen oder einer illegalen Beschäftigung nachzugehen. Damit gilt der alte Satz von Charles-Louis Montesquieu: Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, ein Gesetz nicht zu erlassen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Derzeit haben deutsche Behörden nicht die Möglichkeit, bei Visumanträgen die beteiligten Personen auf rechtswidriges Verhalten im erforderlichen Ausmaß zu überprüfen. Schon in der 15. Wahlperiode wurde im Bundestag eine Visa-Warndatei als Mittel zur Unterstützung unserer Behörden für sinnvoll erachtet. Es war auch damals klar, dass das Visa-Verfahren die Einreise von Schwerstkriminellen verhindern soll. Deshalb musste eine Lösung her, die sowohl den Bedürfnissen des internationalen Reiseverkehrs, der Abwehr von Verbrechern, aber auch dem Datenschutz und den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren gerecht wird. Die Koalition aus FDP und Union wird nun diese Visa-Warndatei schaffen. Die Koalition ist handlungsfähig, und im Gegensatz zur SPD bringen wir die Rechtsstaatlichkeit erhöhende Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss. Der Visa-Missbrauch wird durch diese Datei eingedämmt werden; die Rechtssicherheit für die Anwender wird erhöht. Die am Visumantrag beteiligten Personen sollen gezielt auf rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit Delikten mit Terrorismusbezug, Menschenhandel, Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz überprüft werden. Durch die Einführung der Visa-Warndatei werden die Visumsbehörden in ihrer Arbeit unterstützt: Bisher haben Auslandsvertretungen lediglich separat Daten über die am Visumverfahren beteiligten Personen gespeichert. Im Verdachtsfall müssen diese dann jeweils bei einzelnen anderen Auslandsvertretungen oder Behörden nachfragen. Die Visa-Warndatei hilft, diese Lücke zu schließen: Dort werden zentral die Daten von Personen gespeichert werden, die rechtskräftig wegen Straftaten mit Bezug zum Visumverfahren oder sonstigem Auslandsbezug verurteilt wurden; darunter fallen schwere Straftaten, insbesondere Menschenhandel und Verstöße gegen das Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz. Weiter werden am Visumverfahren beteiligte Personen etwa Antragsteller und Einlader, gespeichert, wenn sie falsche Angaben gemacht haben oder ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Der FDP ist in diesem Zusammenhang der zurückhaltende Umgang mit Datentransfers wichtig: Die Datenspeicherung ist auf das Nötigste begrenzt: Gespeichert wird nur ein Datensatz pro Person bzw. Organisation, nicht jeder einzelne Visumantragsvorgang. Das ist geeignet, erforderlich und angemessen. Die Speicheranlässe sind eng umgrenzt und abschließend numerisch aufgezählt. Die zugriffsberechtigten Behörden sind nur die am Visumverfahren beteiligten Behörden: Auswärtiges Amt, Auslandsvertretungen, Ausländerbehörden und Behörden, die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragt sind. Die Informationen in der Visa-Warndatei dienen den Behörden für die Sachverhaltsaufklärung und ermöglichen ihnen eine umfassende Sachverhaltsbewertung. Eine Speicherung hat nicht automatisch die Ablehnung eines Visumantrags zur Folge, vielmehr soll der betroffenen Behörde eine alle wichtigen Aspekte umfassende Ermessensentscheidung ermöglicht werden. Sie muss wissen, an welcher Stelle sie weiter nachfragen muss. Die Rechte der Betroffenen sind zentral berücksichtigt durch Protokollierungs-, Datensicherungs- und Löschungsvorschriften sowie den Auskunftsanspruch. In Ergänzung zu dieser Visa-Warndatei wird eine Organisationseinheit beim Bundesverwaltungsamt geschaffen, wo einzelne Daten von Personen aus dem Visumverfahren mit einem sehr eng begrenzten Teilbereich der Antiterrordatei abgeglichen werden. Damit sind auch Top-gefährder identifizierbar. Durch dieses Vorgehen kann sicherheitsrelevanten Interessen Rechnung getragen werden, ohne durch einen unkontrollierten Datenabgleich unverhältnismäßig in die Schutzrechte der Betroffenen einzugreifen. Eine anlasslose Speicherung der Daten findet nicht statt. Vielmehr wird ein besonderes Verfahren eingerichtet: Wenn beim Abgleich an neutraler Stelle festgestellt wird, dass die betreffende Person in der Datei gespeichert ist, wird die Sicherheitsbehörde, die die Daten eingestellt hat, darüber informiert. Das bedeutet „Rechtsstaatlichkeit durch Verfahren“. Freiheit und Sicherheit mit menschlichem Gesicht in einer Gesellschaft des Miteinanders: Das ist das Leitbild für die innenpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre. Der vorliegende Gesetzentwurf wird dem auf vorbildliche Weise gerecht. Wir erleichtern so den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stärken zugleich die Sicherheit unseres Landes – ohne ausufernde Datenerfassung. Die FDP in der gemeinsamen Koalition sorgt dafür, dass Freiheit und Sicherheit in einem angemessenen, ausgewogenen Verhältnis bleiben. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will die datentechnische Durchleuchtung von Ausländerinnen und Ausländern weiter ausbauen und legt einen Gesetzentwurf für eine Visa-Warndatei vor. Dabei sind Ausländerinnen und Ausländer bereits heute diejenigen, die am stärksten durchleuchtet werden. Es existiert eine Unmenge von Dateien, die gezielt und ausschließlich für Nichtdeutsche geschaffen wurden: Seit 15 Jahren existiert das Ausländerzentralregister in Köln. Diese Datenbank enthält über 23 Millionen Daten von Ausländerinnen und Ausländern, zum Teil noch Jahre über ihren Aufenthalt in Deutschland hinaus. Die Fingerabdrücke von Asylantragstellern werden ebenfalls in einer zentralen Datei erfasst. Auf beide Dateien haben sämtliche Polizeibehörden Zugriff. Delikte im Bereich Einreise und Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern, Fälschung und Vorlage von ge- und verfälschten Dokumenten im Visumverfahren, im Bereich Schwarzarbeit – zu alldem gibt es in Deutschland Dateien. Die Vorgänge zu jedem Visumverfahren werden bei den Botschaften und den zuständigen Ausländerbehörden gespeichert. Im November dieses Jahres startet das Visa-Informationssystem der EU, in dem sämtliche Visumverfahren auch zentral erfasst werden. Wer ein Visum beantragt, einen Ausländer einlädt oder als Bürge garantiert, dass aus seinem Aufenthalt keine Kosten entstehen, ist in einer oder mehreren Dateien erfasst. Der Bundesregierung reicht das nicht, sie will nun auch noch die sogenannte Visa-Warndatei. Zu jedem Visumverfahren sollen alle beteiligten Personen gespeichert werden, also die einzuladenden Gäste, die Einlader und die Bürgen, außerdem noch sogenannte relevante Personen, ein völlig unklarer und im Gesetz nicht definierter Begriff. Sie sollen gespeichert werden, wenn es aus Sicht der Behörden zu Unregelmäßigkeiten kommt. Dabei geht es nicht nur um die Vorlage von gefälschten Dokumenten oder den illegalen Verbleib im Bundesgebiet über die Gültigkeitsdauer des Visums hinaus. Schon die unverschuldete Verletzung der Verpflichtungen aus der Bürgschaft für den ausländischen Besucher führt zur Speicherung. Auch falsche Angaben im Visumverfahren führen zur Erfassung; auch hier spielt der Vorsatz keine Rolle. Die Konsequenz: Der oder die Betroffene wird auf Jahre hinaus keine Verwandten oder Freunde aus dem Ausland einladen können. Selbst wer unwissentlich und ohne bösen Vorsatz im Visumverfahren falsche Angaben macht, muss mit dieser Konsequenz rechnen. Im Gesetzentwurf ist nicht vorgesehen, die Betroffenen über ihre Speicherung zu informieren. Ein wirksamer Rechtsschutz ist also nicht möglich. Die Bundesregierung ist bislang jeden Beweis schuldig geblieben, dass die Einrichtung einer solchen Visa-Warndatei wirklich notwendig ist. Ein paar Zahlen dazu: Im vergangenen Jahr hat die Bundespolizei in 1 686 Fällen den Verdacht gehabt, dass sich jemand rechtswidrig einen Aufenthaltstitel beschafft haben könnte. Das sind bei über 2 Millionen erteilten Visa weniger als 1 Promille. Selbst unter Annahme eines großen Dunkelfeldes ist die Durchleuchtung aller Visumantragsteller, Einlader und Bürgen schlicht unverhältnismäßig. Alle Zahlen, die die Union in diesem Zusammenhang in den Raum stellt, sind schlicht aus der Luft gegriffen und durch nichts belegt. Auch der geplante Abgleich der Daten der Visumantragsteller mit der Antiterrordatei ist überflüssig und eine reine Ressourcenverschwendung. Für eine Reihe von Staaten gilt ohnehin, dass die Daten ihrer Bürger im Visumverfahren mit den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden abgeglichen werden sollen. Die Datei des Bundeskriminalamtes, in der diese sogenannten Konsultationsverfahren erfasst werden, enthält mittlerweile 3,5 Millionen Vorgänge. Sie wurde 2009 eingerichtet. Es ist nicht bekannt, ob dadurch in nur einem Fall die Einreise einer möglicherweise gefährlichen Person verhindert werden konnte. Ich vermute, das ist nicht der Fall – sonst hätten die Sicherheitsbehörden das sicherlich an die große Glocke gehängt. Dieser Datenabgleich soll nun auf alle visumpflichtigen Staatsangehörigen ausgedehnt werden. Über Ausländerinnen und Ausländer wird also noch ein Datennetz geworfen. Die Notwendigkeit einer solchen Durchleuchtung ist durch nichts belegt. Die Begründung des Gesetzentwurfs schweigt sich dazu komplett aus. Die von der Bundesregierung geplante Rasterung aller Personen, die einen Visumantrag für den Schengen-Raum stellen, egal ob an einer deutschen oder der Botschaft eines anderen EU-Staates, ist vollkommen unverhältnismäßig und ein Datenmissbrauch auf breiter Front. Weder für die Visumantragsteller noch die Einlader und Bürgen ist nachvollziehbar, wer ihre Daten bekommt. Ich kann die Koalition an dieser Stelle nur auffordern: Stoppen Sie diesen Unsinn! Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit ihrem Gesetzentwurf möchte die Bundesregierung eine Visa-Warndatei errichten. Darin sollen Daten von Visumantragstellern, Einladern und Verpflichtungsgebern gespeichert werden, die in der Vergangenheit durch festgestelltes missbräuchliches Verhalten im Zusammenhang mit Visumverfahren aufgefallen sind. Teile des Visumantrags sollen außerdem automatisch mit der Anti-terrordatei abgeglichen werden. Selbstverständlich unterstützen wir Grünen das Ziel der Bundesregierung, Visummissbrauch und schwerer Kriminalität mit Auslandsbezug entgegenzuwirken. Die Regierung geht aber einen falschen und voreiligen Weg. Aus vermeintlichen Sicherheitsgründen versucht sie, die Rechte der am Visumverfahren Beteiligten zu unterlaufen. Sie missachtet das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das auch für Ausländerinnen und Ausländer gilt und den Staat verpflichtet, personenbezogene Daten sparsam zu erheben, und zwar nur dann, wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse besteht. Dass die von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen erforderlich sind, um den Visummissbrauch einzuschränken, leuchtet nicht ein. Im Gegenteil, die bestehenden und bereits beschlossenen sicherheitsrechtlichen Instrumentarien in diesem Bereich sind sehr wohl ausreichend. Die in der geplanten Visa-Warndatei zu speichernden Daten liegen überwiegend bereits in anderen Datenbeständen vor, auf die die Visumbehörden Zugriff haben, bzw. sie können in solchen Datenbeständen erfasst werden. So sind sämtliche Tatbestände des § 2 Abs. 1 Nr. 1 bereits im Bundeszentralregister erfasst. Die Tatbestände des § 2 Abs. 1 Nr. 2 gehören zu den Versagungsgründen, die im Visa-Informationssystem, VIS, zu erfassen sind. Die Bundesregierung versucht nicht einmal, zu erklären, warum die Errichtung einer Visa-Warndatei und der Abgleich mit der Antiterrordatei notwendig sein sollen. Vielmehr soll nach der Gesetzesbegründung erst nach dreijährigem Bestehen der Warndatei eine Evaluierung überprüfen, „ob sich die Speicherung von Daten, die bereits im vom Bundesamt für Justiz geführten Bundeszentralregister zentral gespeichert sind, in der neu eingeführten Datei als für die Erreichung des Zwecks des Gesetzes notwendig erweist …“. Die Mitwirkung der FDP, die sich mal als Bürgerrechtspartei verstanden hat, an einer solchen Missachtung der Grundrechte ist der blanke Hohn. Es ist völlig unklar, warum die Bundesregierung mit einem halbgaren Gesetzentwurf vorprescht, anstatt den Beginn des Visa-Informationssystems abzuwarten, um dann zu prüfen, ob weitere Maßnahmen überhaupt notwendig sind. Noch viel problematischer als die Warndatei ist der Vorschlag, ein neues Verfahren beim Bundesverwaltungsamt einzurichten, das jeden Visumantragsteller, Einlader, Verpflichtungsgeber oder jede sonstige Referenzperson automatisch mit bestimmten Einträgen in der Antiterrordatei abgleicht. Bei Treffern sollen die Daten an die Sicherheitsbehörden zur weiteren Prüfung übermittelt werden. Anders als bei der Warndatei erfolgt ein Abgleich mit der Antiterrordatei also nicht nur bei Personen, die in der Vergangenheit auffällig geworden sind, sondern bei ausnahmslos allen Personen, die am Visumverfahren beteiligt sind und keinen Anlass für eine Überprüfung gegeben haben. Mit dieser Regelung werden friedliche Menschen, die ihre Verwandten für einen Besuch einladen oder sich an internationalen Jugend-, Wissenschafts- und Studierendenaustauschprogrammen beteiligen, pauschal als mögliche Terroristen verdächtigt. Es ist bezeichnend für die rückwärtsgewandte Politik der Bundesregierung, dass sie immer noch meint, Ausländer-innen und Ausländer seien grundsätzlich ein Sicherheitsrisiko. Diese Einstellung wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass sich die gewünschten Hochqualifizierten und ihre Familienangehörigen oder Touristen für Deutschland entscheiden. Abgesehen von der negativen Signalwirkung, die von einer solchen Sicherheitsmaßnahme ausgeht, ist ein automatisierter Abgleich mit der Antiterrordatei auch nicht notwendig. Das Aufenthaltsgesetz sieht bereits ein Verfahren zur Überprüfung von Sicherheitsbedenken bei Visumantragstellern aus bestimmten Staaten vor. Dieses sogenannte Konsultationsverfahren könnte auch auf die Angehörigen weiterer Staaten ausgeweitet werden. Unzureichend ist der Gesetzentwurf auch im Hinblick auf den Schutz der Betroffenen vor falschen Eintragungen in der VisaWarndatei. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gebietet es zum einen, dass die Betroffenen über die Speicherung ihrer Daten und ihr Auskunftsrecht informiert werden; zum anderen müssen ihnen Ansprüche auf Berichtigung und Löschung unrichtiger Daten gewährt werden. Das Ausländerrecht darf nicht länger als Polizeirecht verstanden werden. Dieser Gesetzentwurf würde den vielen friedlichen Menschen, die erfreulicherweise Interesse an unserem Land haben, schaden. Das lehnen wir Grünen ab. Dass sich die FDP, die in der letzten Wahlperiode noch vehement gegen die Visa-Warndatei protestiert hat, heute nicht zu schade ist, diese stigmatisierende Datensammelwut der Unionsparteien zu unterstützen, nur weil die Unionsparteien im Gegenzug auf die Internetsperren verzichtet haben, ist bezeichnend für ihren desolaten Zustand. Anlage 90 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen (Tagesordnungspunkt 14) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Vielleicht ist für den einen oder anderen heute hier vordergründig ein Tag des stillen oder lauten Triumphs. Wir beraten in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen. Ich will nicht verhehlen, dass meine Empfindungen zwiespältig sind, und es mag nicht nur mir so gehen. Vor allem: Die bloße Beseitigung eines Gesetzes vermag diesen Zwiespalt nicht so einfach zu beseitigen. Zunächst einmal ist das Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommunikationsnetzen ein Lehrstück, ein Lehrstück für vieles. Es ist erstens ein Lehrstück dafür, was passiert, wenn Gesetze im Zuständigkeitsgestrüpp einer Regierung wachsen. Bei der Entstehung des Gesetzes hat seinerzeit das eigentlich federführende Ministerium nicht die Feder geführt. Ein anderes Ministerium hat sich dann die Zuständigkeit aus der Verfassung konstruiert, und ein unzuständiges Ministerium hat die Debatte beherrscht. Ich scheue mich nicht, das hier so anzusprechen; denn am Schluss des Prozesses hat sich eine Regierung ja auch als Erste von diesem, ihrem Werk durch Nichtanwendung distanziert. Und was bleibt? Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass das insbesondere einem nicht gedient hat: der Sache selbst. Das Gesetz ist zweitens ein Lehrstück dafür, wie aus der Umdeutung von Begriffen, aus der Umwertung von Werten, politische Kampfinstrumente werden. Rasch bekam die öffentliche Diskussion einen Spin, der gar nichts mit dem Thema Kinderpornografie zu tun hat. Das Stichwort Zensur rückte in den Vordergrund. Dieser Begriff sollte fortan die Diskussion beherrschen. Man mag an dem Gesetz vieles kritisieren, vieles auch zu Recht, aber mit Zensur hat es überhaupt gar nichts zu tun. Und es bleibt für mich die bange Frage: Welches Staats- und Gesellschaftsbild haben diejenigen im Kopf, die mit Verve „Zensur“ gebrüllt haben, um das Gesetz zu Fall zu bringen? Denn da geht es denjenigen ja wohl um mehr als um die Frage der Tauglichkeit des Mittels Internetsperren. Es geht um die grundsätzliche Haltung zu staatlichen Eingriffen zur Abwehr von Straftaten. Gesetzmäßigkeit, Rechtschutzgarantie und Verhältnismäßigkeit, also Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, sind die klassischen Instrumente des Rechtsstaats zur Limitierung von Eingriffen. Wer diese Mechanismen aufgeben möchte, redet entweder dem überstarken Staat das Wort oder einem Staat, für den unter dem Diktum vorgeblicher Freiheit der Ausgleich divergierender Grundrechte – etwa die Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, für deren Sicherheit zu sorgen – gleichgültig zu sein hat. Das aber ist meiner Ansicht nach ein Verständnis von Freiheit, das mit der Gefahr behaftet ist, sich in letzter Konsequenz gegen sie selbst zu richten. Mich besorgt das, und ich hoffe, dass ich mit dieser Sorge nicht alleine stehe. Wie sehr im Übrigen das Zensurargument tönend Erz ist, zeigt ein Blick auf die Polizeigesetze der Länder, die das Sperren von Internetseiten bisher, jetzt und auch in Zukunft auf gesetzlicher Grundlage zur Gefahrenabwehr erlauben. Sie erlauben es, weil es ein ganz normales Mittel zur Gefahrenabwehr darstellt, sofern es auf rechtsstaatlicher Grundlage erfolgt. Und das sind keine chinesischen Verhältnisse! Drittens ist das Gesetz ein Lehrstück für politische Halbwertszeiten – auf allen Seiten. Die SPD – ich habe seinerzeit in verschiedenen Reden die damaligen Einlassungen der Kolleginnen und Kollegen bereits genüsslich zitieren dürfen – hat mit dem Verlassen der Großen Koalition offensichtlich auch ihre Haltung zum Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommunikationsnetzen sehr schnell hinter sich gelassen. Aber auch die Koalition hat sich schon im Koalitionsvertrag, um es vorsichtig zu formulieren, durch einen Formelkompromiss von einem geltenden Gesetz distanziert. Aus legislativer Sicht ist das eine bedenkliche Situation. Hier wird ein über ein Jahr währender Konflikt zwischen Gesetzeslage und mangelnder Gesetzesanwendung durch Aufhebung des Gesetzes gelöst. Wenn in solchen Konflikten stets die Legislative vor der Exekutive durch die Beseitigung von Gesetzen zurückweichen würde, dann wäre dies sicherlich eine Bankrotterklärung des demokratischen, auf Gewaltenteilung basierenden Rechtsstaats. Was wir heute tun, darf daher keine Schule machen. Schließlich: Was bleibt übrig? Ein sicherlich nicht optimales Gesetz wird aufgehoben. Das Problem indessen bleibt nach wie vor nicht gelöst. Nach wie vor sind die Löscherfolge ausgesprochen dispers. So finden sich im ersten Halbjahr des Jahres 2011 einige Monate, in denen über 80 Prozent der identifizierten Seiten innerhalb einer Woche gelöscht werden konnten. Ebenso gibt es aber auch Monate, in denen nur rund 30 Prozent der Seiten gelöscht wurden. Im Durchschnitt gelingt es, bei knapp über 60 Prozent der Seiten eine Löschung innerhalb der ersten Woche zu veranlassen. Damit sind aber immer noch 40 Prozent der Seiten nach einer Woche verfügbar. Das alles zeigt: Nach wie vor mangelt es an einer wirksamen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen. Ich möchte nicht verschweigen, dass sich im vergangenen Jahr hier eine Menge bewegt hat, nicht zuletzt was die Zusammenarbeit von staatlichen Stellen und Selbstregulierungseinrichtungen der Internetwirtschaft angeht. Das ist ausdrücklich positiv zu bewerten. Aber gerade in grundrechtssensiblen Bereichen kann nicht bloß eine gut funktionierende Zusammenarbeit von Behörden und privaten Einrichtungen Maßstab sein. Das genügt den rechtsstaatlichen Vorgaben nicht, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Bereitstellung von Eingriffsmöglichkeiten, sondern auch ebenso mit Blick auf deren Limitierung. Daher ist das pure Aufheben des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommunikationsnetzen aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion zu wenig. In der weiteren Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes sollten wir daher folgende Überlegungen miteinander diskutieren. Zum einen sollten wir darüber nachdenken, ob wir zumindest die Evaluierungspflicht hinsichtlich des Löschens weiter gesetzlich konstituiert lassen. Ich habe es eben schon ausgeführt: Die Löschergebnisse sind ausgesprochen dispers. Unserer Ansicht nach täten wir gut daran, wenigstens hierauf auch weiterhin ein wachsames Auge zu haben. Denn wie ebenfalls bereits gesagt: Nach wie vor ist eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Kinderpornografie nicht oder nur in Ansätzen zu erkennen. Wir halten hier die Vorschläge des Bundesrates ausdrücklich für bedenkenswert. Zum anderen: Es wäre gut, eine ausdrückliche Zuständigkeitsregelung für das BKA im Hinblick auf die Bekämpfung der internationalen Kinderpornografie im Sinne des § 184 b StGB gesetzlich festzuschreiben. Derzeit wird diese Zuständigkeit allein aus der Zentralstellenfunktion des BKA abgeleitet. Damit wird das BKA allein aufgrund der Entscheidung der Exekutive tätig. Hier ist unserer Ansicht nach aber der Gesetzgeber gefordert. Wenn die von allen Fraktionen stets wiederholten Beteuerungen, wir sollten den Kampf gegen Kinderpornografie mit dem Mittel des Löschens konsequent fortführen, wirklich ernst gemeint ist, reicht das Aufheben eines Sperrgesetzes eben nicht. Denn einen Löschauftrag suchen wir im Bundesrecht weit und breit vergebens. Wir sollten daher festlegen, wozu eine Polizeibehörde zuständig ist und wozu nicht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf könnten wir daher beispielsweise eine Ergänzung des BKA-Gesetzes vornehmen. Die Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommunikationsnetzen steht an. Doch die Herausforderung bleibt. Wie können wir wirksam gegen Kinderpornografie in einem Medium vorgehen, das keine Grenzen kennt? Die Aufhebung eines Gesetzes gibt darauf leider keine Antwort. Lars Klingbeil (SPD): Besser spät als nie! Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Aufhebung der Netzsperren. Um es vorweg zu sagen: Es ist gut, dass sich nunmehr – nach über drei Jahren Debatte und zwei Jahre nach der Verabschiedung des Zugangserschwerungsgesetzes – alle Fraktionen im Deutschen Bundestag und auch die Bundesregierung einig sind, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen sind. Internetsperren können damit keinen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderpornografie leisten und schaffen zudem eine Infrastruktur, die grundsätzliche Bedenken hervorruft und verfassungsrechtlich problematisch ist. Die Regierungsfraktionen hatten in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Zugangserschwerungsgesetz zunächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Dementsprechend wurde das BKA durch Erlass des Bundesministeriums des Inneren aufgefordert, den „in § 1 Abs. 2 ZugErschwG eingeräumten Beurteilungsspielraum dahin gehend zu nutzen, dass keine Aufnahme in Sperrlisten erfolgt und Zugangssperren unterbleiben“. Einen solchen Beurteilungsspielraum gibt es aber nicht, und von daher kann diese Anordnung der Nichtanwendung eines Gesetzes durch Ministererlass durchaus als Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes, Art. 20 Abs. 3 GG, bewertet werden. Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese verfassungsrechtlichen Bedenken immer wieder deutlich gemacht. Auch die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses zum Thema hat diese Bedenken aus unserer Sicht eindeutig bestätigt. Die Bundesregierung begründet ihren nun vorgelegten Gesetzentwurf wie folgt: „Die Möglichkeiten einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und nicht staatlichen Einrichtungen wie Selbstregulierungsorganisationen der Internetwirtschaft und Nichtregierungsorganisationen wurden in jüngster Zeit weiter genutzt, um national und international eine schnellstmögliche Löschung der Inhalte zu erreichen. Dieses Vorgehen hat sich als erfolgreich erwiesen, so dass Sperrmaßnahmen nicht erforderlich sind. Das Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in Kommunikationsnetzen (Zugangserschwerungsgesetz – ZugErschwG) wird daher aufgehoben.“ Zu möglichen Alternativen ihres Gesetzentwurfes gibt die Bundesregierung den bemerkenswerten Hinweis: Keine. Alternativen liegen seit Anfang 2010 vor. Die SPD-Bundestagsfraktion hat ihre Zustimmung zu diesem Gesetz im Jahr 2009 als Fehler eingeräumt und im Februar 2010 einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen eingebracht. Es war die Koalition, die immer wieder verhindert hat, dass dieser Gesetzentwurf und die vergleichbaren Gesetzentwürfe der anderen Oppositionsfraktionen auf die Tagesordnungen im Plenum und der Ausschüsse gesetzt wurde. Am 25. Oktober 2010 hat der Unterausschuss Neue Medien auf Antrag der SPDFraktion ein Expertengespräch zu den Gesetzentwürfen der Opposition zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes und hierbei insbesondere zu den technischen und organisatorischen Fragen und Problemen bei der Löschung von Kindesmissbrauchsdarstellungen im Internet durchgeführt. Hierbei wurde überaus deutlich, dass es große Erfolge bei der Durchsetzung der Löschung und vor allem deutliche Verbesserungen bei der Zusammenarbeit zwischen dem BKA, den Beschwerdestellen und den Selbstkontrolleinrichtungen gibt, vor allem mit Blick auf das direkte Zugehen auf die Hostprovider im Ausland. Einhellige Feststellung bei diesem Expertengespräch war, dass Internetsperren kein geeignetes Instrument zur Bekämpfung von Kinderpornografie sein und bestenfalls Symbolpolitik darstellen können, zugleich aber eine Infrastruktur schaffen, die bedenklich ist und die missbraucht werden kann. Am 10. November 2010 hat der federführende Rechtsausschuss eine öffentliche Anhörung zu den Gesetzentwürfen der Opposition zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes durchgeführt. Auch hier wurde von der überwiegenden Mehrzahl der geladenen Sachverständigen festgestellt, dass das Gesetz verfassungsrechtlich zumindest bedenklich ist und keinen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen leisten kann. Immerhin ein knappes Jahr nach der Anhörung des federführenden Rechtsausschusses legt die Bundesregierung nun endlich ihr Aufhebungsgesetz vor und schlägt – wie die Gesetzentwürfe der Opposition – vor, dass das Zugangserschwerungsgesetz ersatzlos aufgehoben werden soll. Dies ist richtig und findet unsere Zustimmung, allerdings kommt diese Einsicht sehr spät. Auf jeden Fall ist zu begrüßen, dass das Instrument der verfassungsrechtlich bedenklichen und zur Verfolgung von Straftaten untauglichen Netzsperren abgeschafft wird, und es ist – angesichts vergleichbarer Forderungen beispielsweise bei Urheberrechtsverletzungen – zu hoffen, dass die Bundesregierung sich damit hoffentlich vollständig von der Absicht, eine solche Sperrinfrastruktur aufbauen zu wollen, verabschiedet. Bedauerlich ist, dass – weil die Bundesregierung sich seit ihrem Amtsantritt und trotz entsprechender öffentlichkeitswirksamer Ankündigungen in ihrem Koalitionsvertrag nicht auf eine gemeinsame Linie hat verständigen können – es keine wirklich unabhängige Evalu-ierung gegeben hat, denn nur so hätte man noch bestehende Defizite bei der Durchsetzung der Löschung aufzeigen können. Daher ist es bis heute so, dass es zwar überdeutliche Verbesserungen bei der Löschung entsprechender Inhalte in kürzester Zeit gibt, dass aber zugleich nach wie vor erhebliche Differenzen zwischen den Zahlen des BKA und den Selbstregulierungseinrichtungen vorliegen. Aufgrund ihrer internen Differenzen ist die Bundesregierung hier zwei Jahre lang untätig geblieben, sodass eine unabhängige Evaluation leider immer noch aussteht. Aus diesem Grund hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme eine Änderung des Gesetzentwurfes gefordert und einen Evaluierungsbericht gefordert, um möglicherweise erneut auftretende Schutzlücken rechtzeitig erkennen zu können. Problematisch ist zudem, dass – trotz zweijährigen Wartens – viele der Verabredungen zur besseren Zusammenarbeit zwischen BKA und den Beschwerdestellen und den Selbstkontrolleinrichtungen lange gar nicht greifen konnten, weil das diesbezügliche „Harmonisierungspapier zum zukünftigen Umgang mit Hinweisen auf kinderpornografische Webseiten beim BKA, den deutschen Beschwerdestellen (eco e.V., FSM e.V., jugendschutz.net) sowie der BPjM“ – welches seit dem Frühjahr 2010 vorlag – erst im März 2011 unterzeichnet wurde. Besser spät als nie: Wir begrüßen es dennoch ausdrücklich, dass diese Vereinbarung nunmehr endlich unterzeichnet wurde und in Kraft getreten ist. Mit diesem Harmonisierungspapier wurden einheitliche Verfahren vereinbart, um eine Löschung derartiger Inhalte tatsächlich durchzusetzen. Von entscheidender Bedeutung – auch das ein zentrales Ergebnis der parlamentarischen Beratungen unserer Gesetzentwürfe – ist dabei die Tatsache, dass diese Stellen über ihrer Partnerorganisationen oder auch direkt den Kontakt mit den jeweiligen Hostprovidern im Ausland aufnehmen, weil hierbei am schnellsten und effektivsten eine Löschung erreicht werden kann. Das Fazit lautet daher: Internetsperren sind zur wirksamen Bekämpfung der Darstellung von Kindesmissbrauch im Internet – wie auch zur Verfolgung anderer Straftaten – nicht geeignet. Von daher werden wir natürlich der ersatzlosen Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes zustimmen. Aber dabei allein darf es nicht bleiben: Es bedarf vielmehr der Weiterentwicklung von effektiven Bekämpfungsstrategien, um die Löschung derartiger Angebote im Internet auf der Grundlage des geltenden Rechts durchzusetzen. Zur Bekämpfung der Verbreitung von sexueller Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen im Internet sind eine verbesserte technische und personelle Ausstattung der Polizeibehörden, die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit auf nationaler und insbesondere auf internationaler Ebene erforderlich, um die Löschung kinderpornografischer Netzinhalte zeitnah und effektiv durchzusetzen und eine konsequente Strafverfolgung zu erreichen. Auch all dies hat die SPD-Bundestagsfraktion und haben die anderen Oppositionsfraktionen in den letzten beiden Jahren eingefordert, und auch hierzu stehen die Konzepte der Bundesregierung aus. Wir werden weiter auf die Vorlage einer entsprechenden Strategie drängen. Die hitzigen und aufgeregten Debatte um die Netzsperren im Bundestagswahlkampf 2009, die erfolgreiche Petition zur Aufhebung des Internetsperrgesetzes und die Debatten in dieser Legislaturperiode haben aber auch etwas Positives mit sich gebracht: Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag haben begriffen, wie wichtig das Thema Netzpolitik künftig sein muss, und erklärt, dass das Thema der politischen Gestaltung der digitalen Gesellschaft auf die Agenda zu setzen ist. Aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft eingesetzt, die im Mai 2010 ihre Arbeit aufgenommen hat. Die Koalition hat immer wieder angekündigt, dass sie ein netzpolitisches Konzept zur Gestaltung der digitalen Gesellschaft vorlegen und auf den Weg bringen will. Wenn man nun so eine Art Zwischenbilanz ziehen will, dann fällt die Bilanz dürftig aus. Bei denjenigen netzpolitischen Projekten, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, verweigert sie jede Diskussion, beispielsweise bei dem Thema Netzneutralität und der Notwendigkeit einer gesetzlichen Verankerung. Bei den Themen Datenschutz im Internet bestreitet die Koalition zunächst jeden Handlungsbedarf, um sich dann mit ein paar Selbstverpflichtungserklärungen zufrieden zu geben und auf die europäische Ebene zu verweisen. Und um noch ein drittes Beispiel zu nennen: Die Vorlage des dritten Korbes zur Reform des Urheberrechtes für die digitale Gesellschaft ist nunmehr auch längst überfällig, und alles was zu vernehmen ist, lässt nicht auf den großen und überzeigenden Wurf hoffen. Gleichzeitig und reflexartig wiederholen aber die Sicherheitspolitiker der Unionsfraktion – oftmals ohne jedes Argument – ihre immer weiter gehenden Überwachungsforderungen, fordern eine Verlängerung der Vorratsdatenspeicherung, gleichsam so, als hätte es die engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nie gegeben. Oder sie fordern ein Vermummungsverbot und das Ende der anonymen und pseudonymen Nutzung des Internets, wohl wissend, dass wir diese Nutzungsmöglichkeit aus guten Gründen sogar gesetzlich abgesichert haben. Auf der anderen Seite aber werden alle Vorschläge in Richtung Transparenz und Öffnung des Staates sowie alle Versuche, die neuen Kommunikationsmöglichkeiten für eine Stärkung der politischen und parlamentarischen Prozesse zu nutzen, von eben diesen Hardlinern boykottiert. Heute ist ein guter Tag für die Netzpolitik. Heute wird eines der Missverständnisse zwischen jungen, engagierten Netzaktiven und einer Generation von Politikern, die meint, Regeln der Offlinewelt in die Onlinewelt zu übertragen, endlich aus der Welt geschafft. Die Verabschiedung dieses Gesetzes zur Aufhebung des Internetsperrgesetzes ist ein Sieg für all diejenigen, die sich für ein freies Internet einsetzen und die wirksame Maßnahmen in den Mittelpunkt stellen, statt auf Symbolpolitik zu setzen. Auch in allen Fraktionen gibt es Akteure, die sich für den heutigen Erfolg eingesetzt haben. Das Ende der Netzsperren sollte nicht das Einzige bleiben, was wir bis zum Ende der Legislatur netzpolitisch erreichen. Sebastian Blumenthal (FDP): Mit dem heutigen „Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen“ ziehen wir einen Schlussstrich unter ein in jeder Hinsicht problematisches Gesetzesvorhaben mit dem ausgesetzten Zugangserschwerungsgesetz und dem damit verbundenen Nichtanwendungserlass. Wir erinnern uns: Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen“ sollten die Internetprovider in Deutschland gezwungen werden, Webseiten mit kinderpornografischen Inhalten zu sperren und die Nutzer auf ein virtuelles Stoppschild umzuleiten. Die technische Umsetzung sollte mithilfe von DNS-Filtern erfolgen. Am 22. April 2009 hatte das damalige Kabinett dem Gesetzentwurf zugestimmt. Diese vorgesehene technische Maßnahme war nicht nur leicht zu umgehen und für die eigentliche Bekämpfung von kinderpornografischen Inhalten völlig ungeeignet; das Gesetz war auch in anderen Belangen fragwürdig. So sollte ausschließlich durch das Bundeskriminalamt festgelegt werden, welche Seiten die Internetprovider sperren mussten. Eine Mitwirkung durch Gerichte oder andere unabhängige rechtliche Instanzen war in diesem Entwurf nicht vorgesehen. Nicht nur, dass damit eine unabhängige Überprüfung der Sperrlisten vom Gesetzgeber offensichtlich nicht erwünscht war, es sollten auch die Zugriffsversuche auf die gesperrten Seiten gespeichert werden, um sie zu Strafverfolgungszwecken nutzen zu können. Zu Recht wurden Bedenken geäußert, diese Vorgehensweise würde früher oder später dazu führen, die Internetsperren zu einer Zensurinfrastruktur auszubauen, um jegliche missliebigen Inhalte sperren zu können. Diese Annahmen wurden leider von einer großen Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses ignoriert, sodass das Zugangserschwerungsgesetz am 18. Juni 2009 beschlossen worden ist. Aus den Reihen der Koalitionsfraktionen gab es drei Gegenstimmen, die Fraktionen FDP und Die Linke stimmten gegen den Entwurf, 15 Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen enthielten sich, die übrigen Abgeordneten der Grünen haben ebenfalls gegen den Gesetzentwurf gestimmt. Angesichts der damaligen überwältigenden Mehrheit für das Gesetz bin ich heute sehr erleichtert über den Umstand, dass wir heute die entscheidenden Weichen dafür stellen, diesen fehlerhaften Ansatz wieder zu korrigieren und das Zugangserschwerungsgesetz endgültig aufzuheben. Die Debatte um die Netzsperren hatte sich im Jahr 2009 in eine Richtung entwickelt, die alle Befürchtungen bestätigt hatte. So wurde unter anderem gefordert, die Netzsperren auch als Instrumentarium zur „Gewaltprävention“ zu nutzen und sogenannte „Killerspiele“ zu sperren. Es wurde auch die Möglichkeit ins Gespräch gebracht, „verfassungsfeindliche“ Inhalte zu sperren. Die Sperrung von ausländischen Onlinekasinos wurde mehrfach empfohlen, um das staatliche Glücksspielmonopol in Deutschland zu „schützen“. Vonseiten der Musikindustrie wurde die Forderung erhoben, Filesharing-Angebote zu sperren. Nicht nur zu Oppositionszeiten und während der Wahlkämpfe, sondern auch als Träger von Regierungsverantwortung haben wir als FDP uns diesen Überwachungs- und Verbotsbegehrlichkeiten entgegengestellt und zum Grundsatz „Löschen statt Sperren“ bekannt. Im permanenten Dialog mit den anderen Fraktionen und zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen haben wir uns dafür eingesetzt, dieses Ziel zu erreichen und das Zugangserschwerungsgesetz aufzuheben. Über alle Politikfelder hinweg, in zahlreichen Ausschüssen, bei diversen Anhörungen und Expertengesprächen haben wir in diesem Hause über Netzsperren sehr engagiert, aber dennoch konstruktiv und vor allem in einem dem Ernst der Sache angemessen Ton gestritten, gerungen und letzten Endes eine Einigung erzielt, sodass wir heute einführend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Aufhebung der Netzsperren beraten können. In Vorbereitung auf den heutigen Tag haben wir debattiert, informiert und aufgeklärt. Ich freue mich sehr, dass diese Arbeit Früchte getragen hat und dazu beitragen konnte, die Entwicklung umzukehren, sodass wir in diesem Hause heute nicht mehr über die vermeintlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Netzsperren debattieren, sondern stattdessen über ihre Unverhältnismäßigkeit, ihre technische Untauglichkeit, ihre Nichtumsetzung und – nach über zwei Jahren – über ihre Aufhebung. Ausdrücklich begrüße ich daher für die Fraktion der Freien Demokraten, dass mit der Prozedur nach „notice and take down“ ein besseres und treffsicheres Instrument als Alternative geschaffen wurde, um den dokumentierten Missbrauch von Opfern aus dem Netz entfernen zu können und nicht hinter virtuellen Stoppschildern zu verstecken. Insofern freue ich mich sehr auf die weiteren Beratungen zu diesem Gesetzentwurf und danke der Bundesjustizministerin für ihren persönlichen couragierten Einsatz auf dem Weg zum Aufhebungsgesetz. Die FDP-Fraktion wird diesem selbstverständlich zustimmen. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Zahlreich sind die Beispiele nicht gesät, dass die Bundesregierung ein Gesetz aufhebt – auch dann nicht, wenn das Gesetz von Beginn an falsch, überflüssig und ein Armutszeugnis für die Demokratie war. Sicher gilt der tröstliche Satz: Lieber spät als nie. Aber das sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Erlass des Zugangserschwerungsgesetzes eine Zäsur darstellte. Die Große Koalition hat mit diesem Gesetz 2009 den Versuch unternommen, die Zensur im Internet einzuführen, bei einem Thema, dass niemanden kalt lässt und alle berührt, bei dem jede und jeder eine Lösung herbeisehnte, mit der jeglicher Darstellung sexueller Gewalt gegen Kinder im Internet Einhalt geboten werden kann. Deshalb hatte die Regierung ein relativ leichtes Spiel. Jene Stimmen der Vernunft, die sagten, dass Sperrlisten kontraproduktiv und der falsche Weg sind, wurden nicht gehört, obwohl alle Erfahrungen beweisen: Diese Listen bleiben niemals geheim und verkehren das ursprüngliche Anliegen genau ins Gegenteil. Sie werden nämlich zu Wegweisern im Internet. Auf all diese Argumente wurde nicht gehört. Auch die SPD stand zu Beginn für das vermeintlich kleinere Übel: für Netzsperren. Das Gesetz öffnete Türen und Tore für Willkür, und es bot zugleich die Möglichkeit, einmal auszutesten, ob sich über ein sensibles und hochemotionales Thema eine Zensurinfrastruktur festzurren lässt, auf der man künftig aufbauen kann. Darüber konnte auch der geradezu absurde Fortgang der Geschichte nicht hinwegtrösten. Bereits kurz nachdem das Gesetz im Februar 2010 in Kraft getreten war, wurde eine Dienstanweisung erlassen, es in der Praxis nicht anzuwenden. Auch da könnte man sagen: Besser als nichts. Aber es warf doch ein bezeichnendes Licht auf die Regierung, die sich von der damaligen Familien- und jetzigen Arbeitsministerin, und weil gerade Wahlkampf war, zu einer juristisch nicht haltbaren, inhaltlich unsinnigen und praktisch nicht durchsetzbaren Regelung drängen ließ. Nun könnten wir froh sein, dass mit dem heute zu diskutierenden Entwurf eines „Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Internetpornografie in Kommunikationsnetzen“ eine Korrektur des peinlichen Versuchs vorgenommen wird. Aber das haben wir eben auch dem Glücksumstand zu verdanken, dass es sich hier um gesetzlich verankerte Regelungen handelt, die sich einfach als nicht praxistauglich erwiesen haben und verheerende Kollateralschäden anrichten würden. Die Intention aber, die dahinter steckte – der Wille, den Kulturraum Internet durch Zensur kontrollieren zu wollen –, ist damit nicht verschwunden. Nur weil der Koalition der Wind – auch aus den eigenen Reihen – scharf ins Gesicht blies, reden wir heute über dessen Aufhebung. Das sollten wir nicht vergessen. Und das liegt eben nicht nur an der offensichtlich weit verbreiteten Unsicherheit im Umgang mit dem Kulturraum Internet. Er offeriert uns eine Form der Informationsverbreitung, Transparenz und Freiheit, mit der offensichtlich viele Politikerinnen und Politiker große Schwierigkeiten haben. Die Anfang 2010 rechtlich verordneten Internetsperren waren und sind eine Bedrohung. Selbst wenn sie funktioniert hätten, wären wir einen Schritt in die völlig falsche Richtung gegangen und wir hätten der Demokratie erheblichen Schaden zugefügt. Die einzig wirklich positive Erfahrung, die wir aus meiner Sicht am heutigen Tag verbuchen können: Es ist in diesem Land offensichtlich nicht einfach, an der Öffentlichkeit vorbei die Freiheit des Internets einschränken zu wollen. 134 000 Menschen zeichneten die Online-Petition gegen das Zugangserschwerungsgesetz. Diese große außerparlamentarische Aktion ist ermutigend. Sie zeigt, dass es auch künftig nicht einfach sein wird, derartige Debatten an der Öffentlichkeit vorbei zu führen. Sie zeigt, welche Potenziale das Internet hat, wenn es um Mitbestimmung und demokratische Diskussionsprozesse geht. Und sie wird uns nützen, wenn – wie längst begonnen – über Eingriffe in die Netzneutralität nachgedacht wird. Sie wird uns nützen, wenn die Koalition in diesem Bereich weiterhin so unkritisch wie bisher mit der Lobby der Netzbetreiber und Telekommunikationskonzerne umgeht. Die wollen lieber heute als morgen die Nutzung verschiedener Dienste, wie Internettelefonie oder Videoplattformen, vom Geldbeutel der Nutzerinnen und Nutzer abhängig und mit eigenen Inhalten Kasse machen. Sie wird uns nützen bei der Debatte um Vorratsdatenspeicherung, die voll im Gang ist. Die Linke lehnt die Vorratsspeicherung ab – egal unter welchem Namen und unter welchem Vorwand sie durchgesetzt werden soll. Und weil wir in all diesen Fragen konsequent sind, waren wir auch die erste Fraktion, die 2010 einen Vorschlag zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes unterbreitete. Bei anderen Dingen dauert es etwas länger, aber in diesem Fall hat uns die Geschichte erstaunlich schnell Recht gegeben. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nun ist es also endlich soweit: Nach einer über zweijährigen Diskussion debattieren wir hier heute in erster Lesung über ein längst fälliges „Gesetz zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen“. Ursula von der Leyens kontraproduktive Initiative zur Schaffung von Stoppschildern bzw. Internetsperren aus den letzten Tagen der Großen Koalition kommt so zu einem längst überfälligen Ende. Meine Fraktion und ich begrüßen den Schritt der Bundesregierung, sich endlich von dem Placebo-Instrument Netzsperren zu verabschieden, ausdrücklich – auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass dieser Schritt sehr viel früher erfolgt wäre und wir keine wertvolle Zeit im Kampf gegen derartige Darstellungen im Netz vertan hätten. Denn das haben wir leider. Am Ende der vergangenen Legislatur von der schwarz-roten Koalition auf den Weg gebracht, war allen schnell bewusst, dass der von der damaligen Ministerin von der Leyen eingeschlagene Weg, entsprechende Inhalte im Netz nicht konsequent zu löschen, sondern diese lediglich hinter einem leicht zu umgehenden Stoppschild zu verstecken, nicht nur nicht zielführend, sondern letztendlich für eine wirkliche effektive Bekämpfung dieser Straftaten kontraproduktiv ist. So haben wir es als Grüne begrüßt, dass die schwarz-gelbe Koalition sich am Anfang der Legislatur dazu durchgerungen hat, zunächst keine entsprechenden Sperren vorzunehmen. Was wir jedoch scharf kritisiert haben, war der Weg, den die Koalition hierfür wählte. Ein vom Deutschen Bundestag ordnungsgemäß verabschiedetes, vom Bundespräsidenten unterschriebenes und im Bundesgesetzblatt veröffentlichtes Gesetz per Moratorium einfach nicht anzuwenden, es quasi par ordre du mufti für ein Jahr auszusetzen, ist ein Vorgang, der aus verfassungsrechtlicher Sicht unhaltbar war und eine schwarze Stunde für das Hohe Haus darstellte. Auch aus diesem Grund haben wir, wie alle anderen Oppositionsfraktionen auch, unmittelbar nach Beginn der Legislatur einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem wir die Bundesregierung aufforderten, das Gesetz, das sich als in hohem Maße kontraproduktiv erwiesen hat, auf verfassungsrechtlich sauberem Wege zu begraben. Nachdem sich die Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen in diesem Haus bereits einig waren, dass man sich statt Netzsperren nun tatsächlich effektiven Instrumenten zuwenden wollte, haben die Vertreter der Union, statt sich auf europäischer Ebene konsequent gegen einen entsprechenden Passus auszusprechen, den Entwurf einer Richtlinie der Europäischen Kommission dazu genutzt, die eigentlich längst zugunsten einer tatsächlichen Bekämpfung derartiger Darstellungen im Netz beendete Diskussion wieder aufzunehmen und plötzlich auch wieder in Deutschland über die Sinnhaftigkeit von Netzsperren zu diskutieren. Dies führte letztendlich dazu, dass sich auch das Hohe Haus, nachdem eigentlich bereits alle Argumente zu Beginn der Legislatur ausgetauscht waren, noch einmal intensiv mit dieser Thematik beschäftigte. So führten neben dem Petitionsausschuss, in dem eine Anhörung durch die Petition von Franziksa Heine angestoßen wurde, welche mit über 133 000 Mitunterzeichnerinnen und -unterzeichnern die bislang zweiterfolgreichste in der Geschichte des Bundestages war, auch der Unterausschuss Neue Medien und der Rechtsauschuss des Bundestages entsprechende Anhörungen durch. Während im Unterausschuss von beinahe allen Sachverständigen unisono betont wurde, dass Netzsperren nicht nur wenig zielführend sind, sondern letztendlich sogar dazu führen, dass der dringend notwendige internationale Austausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden eingestellt wird, wurde im Rechtsausschuss, selbst von den Sachverständigen von CDU und FDP, massiv das Vorgehen der Koalition bei der Aussetzung des Gesetzes par ordre du mufti kritisiert. Als Grüne haben wir uns in einem weiteren Antrag und in einer Art.-23-Stellungnahme klar gegen das Ansinnen der Europäischen Kommission ausgesprochen. Nachdem selbst unter Federführung einer konservativen Berichterstatterin im Europäischen Parlament keine Mehrheit für eine die Mitgliedstaaten verpflichtende Regelung erzielt werden konnte, wurde der entsprechende Passus aus der Richtlinie entfernt und – auch durch den Einsatz engagierter Abgeordneter des Europäischen Parlaments wie meines Kollegen Jan Phillip Albrecht – die bestehenden Regelungen sogar im Vergleich zum bisherigen Status quo aus bürgerrechtlicher Sicht noch verbessert. Durch das Wegfallen der verpflichtenden Regelung zu Netzsperren in der Kommissions-Richtlinie fiel es auch den Netzsperren-Befürwortern, die trotz der in den verschiedenen Anhörungen von allen Seiten immer wieder geäußerten vielfältigen Bedenken nach wie vor unbeirrt an dem nutzlosen Instrument festhielten, zusehends schwerer, dies zu begründen. Schließlich sah sich das BKA längere Zeit auch angesichts völlig schwammiger Vorgaben der Koalition kaum in der Lage, die Statistiken zur Evaluierung der Löscherfolge zu führen. Dies könnte auch mit den gerade einmal 6,3 Vollzeitstellen zusammenhängen, die im BKA mit der Aufgabe direkt betreut wurden. Allerdings verwundert die Tatsache, dass es dem Bundesinnenministerium, in dessen Zuständigkeit das BKA liegt, trotz wiederholter Aufforderung bis heute nicht gelingt, den Mitgliedern der betreffenden Ausschüsse die Evaluierungsstatistiken regelmäßig zur Verfügung zu stellen. Auch gelang es uns Abgeordneten erst nach mehrfacher Aufforderung, das zwischenzeitlich zwischen dem BKA und den Beschwerdestellen ausgehandelte Harmonisierungspapier zur Bewertung vorgelegt zu bekommen. Trotz dieser widrigen Umstände steht heute fest, dass sich die nach den Anhörungen durchgeführten Verbesserungen der Zusammenarbeit aller Akteure – auch auf internationaler Ebene – ausgezahlt hat. Dies bestätigten auch gerade wieder die vom eco vorgelegten Zahlen. Die Diskussion um Netzsperren war viel zu lange eine über ein Placebo-Instrument, das den Herausforderungen des Themas schlicht nicht ansatzweise gerecht wurde. Umso froher bin ich, dass wir hier heute endlich über die tatsächliche Aussetzung der sinnlosen Netzsperren diskutieren können. Ich bin froh darüber, da wir nun, nachdem endlich auch der Letzte begriffen haben dürfte, dass es jetzt ein für alle Mal an der Zeit ist, sich endlich effektiven Instrumenten und Strategien zuzuwenden, uns nunmehr dem tatsächlichen Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern zuwenden können. Hierzu fordern wir Grünen die Koalition seit Anfang der Legislatur auf. Und ich muss es leider so hart sagen: Bisher haben sich ihre Aktivitäten darin erschöpft, sich einseitig auf das Netz zu konzentrieren und sich über das Placebo-Instrument Netzsperren auszutauschen, den wichtigen Kampf gegen den sexuellen Missbrauch, der zwar im Netz dokumentiert, jedoch in der realen Welt tagtäglich geschieht, jedoch nicht richtig aufgenommen zu haben. So fehlt ihnen heute, auch aufgrund der Tatsache, dass in den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit vergeudet wurde, ein Kompass, wie sie sich dieser gesellschaftlichen Herausforderung, dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, der jeden Tag an Schulen, in Kirchen, Sportvereinen und Familien stattfindet, entgegenstellen wollen. Trotz oder gerade wegen der zweijährigen Diskussionen über nutzlose Netzsperren haben sie hier bisher nichts, aber auch rein gar nichts geliefert. So haben sie bis heute keine mehrdimensional angelegte Strategie zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs und sexualisierter Gewalt erarbeitet, wie wir es am Anfang der Legislatur zum ersten Mal und seitdem kontinuierlich von Ihnen gefordert haben. Daher nutze ich auch diese Debatte noch einmal dazu, Ihnen das zu sagen, was wir Ihnen bei jeder Gelegenheit in den letzten Monaten bereits gesagt haben: Wenden sie sich endlich einer mehrdimensional angelegten Strategie zu, die sowohl den gesellschaftlichen Herausforderungen als auch den Besonderheiten des Netzes gerecht wird! Dies ist zweifellos eine größere Herausforderung, als die zur Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes seit nunmehr zwei Jahren vorliegenden Gesetzesentwürfe der Oppositionsfraktionen einfach zu kopieren. Sie können jedoch auf wichtige Vorarbeiten zurückgreifen. Als Oppositionsfraktion haben wir Grünen bereits vor Monaten ein sehr ausführliches Eckpunktepapier zur Bekämpfung der Verbreitung von Darstellungen sexueller Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen vorgelegt. In unserem Papier haben wir Ihnen sehr konkrete Vorschläge unterbreitet, wie Prävention und Opferschutz gestärkt sowie das Löschen von Internetseiten auch im internationalen Kontext effektiver gestaltet und die Strafverfolgung verbessert werden kann. Zu einer solchen Strategie gehören der Auf- und Ausbau sowie die solide Finanzierung von Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Betroffene und ihre Familien. Ich bitte Sie, schauen Sie in unser Papier und schreiben Sie notfalls einfach ab! Nutzen Sie den unter Rot-Grün auf den Weg gebrachten „Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“ als Vorlage und legen Sie diesen schnellstmöglich wieder auf. Auch hierzu fordern wir sie seit langem auf. Zum Löschen von Missbrauchsdarstellungen muss die Zusammenarbeit zwischen Internet-Beschwerdestellen und Bundeskriminalamt weiter verbessert werden. Auch müssen die personellen und technischen Ressourcen bei den Strafverfolgungsbehörden aufgestockt werden. Letztendlich bedarf es einer völkerrechtlichen Vereinbarung zum Löschen von Missbrauchsbildern und -filmen. Die entsprechende Konvention muss in einem ersten Schritt auf europäischer Ebene geschlossen und danach auch international – zum Beispiel durch bilaterale Verträge – ausgeweitet werden. Ich gebe nach wie vor die Hoffnung nicht auf, dass Sie nun endlich erkennen, dass es nicht hilft, sich weiter hinter Placebo-Instrumenten und Scheindebatten zu verstecken. Es ist zwar spät, aber nicht zu spät! Da dieses Thema so wichtig ist, möchten wir Ihnen nochmal die konstruktive Mitarbeit unserer Fraktion versichern. Ich bin mir sehr sicher, dass wir dies auch für die gesamte Opposition tun können, sofern Sie endlich den Willen zeigen, tatsächlich tätig zu werden. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Sexueller Kindesmissbrauch ist ein schweres Verbrechen. Die Verbreitung bildlicher Darstellungen solcher Taten über das Internet ist nicht nur ebenfalls strafbar, für die Betroffenen bedeutet sie zudem die kaum erträgliche Perpetuierung ihres Leides. Deshalb – und darüber sind wir uns in diesem Hause über die Fraktionsgrenzen einig – müssen wir alles daransetzen, diese widerwärtigen Bilder und Filme aus dem Netz zu bekommen. Während die Mehrheit dieses Hohen Hauses in der letzten Legislaturperiode meinte, Internetsperren seien hierfür der richtige Weg, sind wir der Auffassung, dass solche Bilder und Filme im Interesse eines bestmöglichen Opferschutzes an der Quelle gelöscht werden müssen. Sperren, wie sie das geltende Zugangserschwerungsgesetz vorsieht, sind faktisch wirkungslos, weil sie einfach und problemlos umgangen werden können. Wir setzen deshalb auf das Löschen solcher Inhalte durch intensive Zusammenarbeit des Bundeskriminalamtes mit zivilen Einrichtungen wie den Selbstregulierungsorganisationen der Internetwirtschaft, die weltweit vernetzt sind. Wie erfolgreich eine solche Kooperation ist, belegt die Statistik des internationalen Beschwerdestellen-Netzwerks INHOPE eindrucksvoll. Der INHOPE-Jahresbericht 2010 legt dar, dass etwa 80 Prozent der gemeldeten Seiten innerhalb von sieben Tagen gelöscht werden, wobei knapp 50 Prozent der Seiten bereits nach zwei Tagen gelöscht sind. Nach 14 Tagen verbleiben noch zwischen 5 und 10 Prozent der Seiten. Die Statistik des BKA weist vergleichbare Werte auf. Das zeigt, dass Löschen erfolgreich ist. Das Zugangserschwerungsgesetz ist deshalb überflüssig und sollte – wie es der Gesetzentwurf vorsieht – aufgehoben werden. Anlage 91 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Dem Deutschen Bundestag liegt heute in erster Lesung der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes vor. Der Inhalt dieses Gesetzesvorhabens ist dabei kurz und knapp: Die Umsatzgrenze für die Anwendung der Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer wird auf 500 000 Euro dauerhaft festgeschrieben. Generell gilt die sogenannte Sollbesteuerung. Das heißt, die Unternehmer sind verpflichtet, die Umsatzsteuer nach Rechnungslegung nach vereinbarten Entgelten an das Finanzamt abzuführen, ohne dass sie eventuell das Geld von ihren Kunden bereits erhalten haben. Dies kann zu Liquiditätsengpässen insbesondere bei klein- und mittelständischen Unternehmen führen, da der Kunde erst nach Rechnungsstellung und dann teilweise später oder gar nicht zahlt. Deshalb gilt für kleinere Unternehmen mit einem Jahresumsatz bis 250 000 Euro bisher deutschlandweit grundsätzlich die sogenannte Istbesteuerung, wonach die Umsatzsteuer erst nach vereinnahmten Entgelten an das Finanzamt abgeführt werden muss. Befristet bis 31. Dezember 2011 wurde die Möglichkeit der Istbesteuerung für Unternehmen mit einem erhöhten Jahresumsatz von bis zu 500 000 Euro eröffnet. Ohne gesetzgeberisches Handeln würde diese Sonderregelung auslaufen, und die Einführung der geringeren allgemeinen Umsatzgrenze in Höhe von 250 000 Euro würde für deutsche Unternehmen mit Liquiditätsengpässen verbunden sein. Bis zum 31. Dezember 2009 bestand für Unternehmen in den östlichen Bundesländern mit einer Umsatzgrenze in Höhe von 500 000 Euro die Möglichkeit, die Istbesteuerung zu nutzen. Für die Jahre 2010 und 2011 wurde diese Möglichkeit dann auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt. Diese Regelung würde zum 31. Dezember 2011 auslaufen, wenn wir als Gesetzgeber das Umsatzsteuergesetz nicht entsprechend ändern. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte bereits im Sommer 2009 für die Ausweitung der sogenannten Istbesteuerung als Dauerrecht votiert. Die Umsetzung wurde damals allerdings von Bundesfinanzminister Steinbrück und der SPD verhindert. Die christlich-liberale Koalition hat sich deshalb entschieden, dauerhaft und deutschlandweit die Umsatzgrenze für Istbesteuerung auf 500 000 Euro festzulegen. Durch diese unbefristete Regelung schaffen wir Rechtssicherheit für Unternehmen und die Finanzverwaltungen. Dies stärkt die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die Träger unserer Volkswirt-schaft sind. Wir tragen damit einmal zu Bürokratieabbau in Deutschland bei. Die Belastungen für die Haushalte der Länder und des Bundes schlagen im Jahr 2012 kassenmäßig mit geschätzten Mindereinnahmen in Höhe von circa 1,1 Milliarden Euro zu Buche, da sich dieser Verlust der Umsatzsteuer nur in die Folgejahre verlagert. Dabei ist noch zu beachten, dass praktisch für die Unternehmen und die Finanzverwaltungen keine Unterschiede beim Jahreswechsel spürbar sein werden, da sich die Rechtslage grundsätzlich nicht ändert, sondern nur von einem befristeten in einen unbefristeten Zustand gebracht wird. Ich nehme an, dass wir diesen Gesetzentwurf im Sinne der deutsche Wirtschaft zügig in den kommenden Wochen im Ausschuss beraten werden, damit einem Inkrafttreten zum 31. Dezember 2011 nichts im Wege steht. Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): „Hektik weist auf ein krankes Gemüt. Hauptmerkmal eines geordneten Verstandes ist Beharrungsvermögen und die Fähigkeit, mit sich selbst umgehen zu können.“ Das hat der römische Dichter und Philosoph, der gute Herr Seneca gesagt. Und er hat Sie gemeint, liebe Damen und Herren von der schwarz-gelben Regierungsfraktion. Sie sollten sich den Seneca-Spruch zu Herzen nehmen! Denn Hektik wird Ihnen in den Meinungsumfragen nicht helfen. Seneca fordert: Beharrungsvermögen – nicht Beliebigkeit und Wandelbarkeit. Seneca fordert: Die Fähigkeit mit sich selbst, also mit der Koalition, umgehen zu können – und nicht gegenseitiges Belauern, Beschuldigen und Bekämpfen, auch wenn dies natürlich auch eine Form des Umgangs ist. Und Seneca fordert: einen geordneten Verstand. Drei Forderungen, klar und einfach. Dennoch: Mit dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes folgen Sie Senecas Forderungen nicht. Müssen Sie ja auch nicht, sagen Sie. Denn Sie beabsichtigen ja etwas prinzipiell Gutes mit ihrem Gesetzentwurf. Sie sorgen dafür, dass die Unternehmen mit einem Jahresumsatz von unter 500 000 Euro weiterhin in der Istversteuerung bleiben können und die Unternehmen daher nicht beispielsweise Kredite aufnehmen müssen, um Steuern zu tilgen. Somit müssen die Unternehmen nicht den Finanzbedarf des Staates vorfinanzieren. Aber das Gute, das Sie tun, tun Sie hektisch und aus den falschen Gründen. Warum diese Hektik? Weil Sie dringend, ganz dringend eine positive Nachricht in der Öffentlichkeit, vor allem in den Medien, brauchen, etwas, wenigstens eine Kleinigkeit, bei der nicht irgendjemand aufschreit und die Hoffnung in das Negative wendet. Aber, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie hätten doch gar nicht so hektisch handeln müssen. Sie hätten ihre Absicht auch ruhig und überlegt umsetzen können. Zum Beispiel hätten Sie diese Regelung als Änderungsantrag zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie bringen können. Auf diese Idee hätte man kommen können. Oder lag dies so fern? Nein. Denn auf diese Idee ist auch jemand gekommen, nämlich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Begründet es vielleicht Ihre Hektik, dass Sie den Erfolg den Grünen nicht gönnen, weil Sie ihn selber brauchen? Da waren Sie schlecht beraten. Denn wer hektisch handelt, der handelt auch nicht überlegt genug. Ja, die Istbesteuerung bejaht auch meine Fraktion bei Unternehmen mit einem Jahresumsatz von unter 500 000 Euro. Und wir würden auch noch einen Schritt weitergehen und uns zumindest auch mal über die Möglichkeit einer Ausdehnung des Prinzips der Istbesteuerung auf den Vorsteuerabzug unterhalten. Denn wie der Bundesrat richtigerweise in seiner Stellungnahme vom 17. Juni 2011 zum Gesetzentwurf zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie gefordert hat, sollte auch die Frage geklärt werden, ob es nicht sinnvoll oder sogar notwendig ist, demjenigen, der die Umsatzsteuer erst abführt, wenn er das Geld erhält, auch die Vorsteuer erst zu gewähren, wenn er tatsächlich gezahlt hat. Der Bundesrat hatte daher gefordert, dass zunächst die Befristung auf 2012 geschoben wird, um diese Frage zu prüfen. Dafür waren Sie zu hektisch. Warum wohl? Vielleicht weiß Friedrich Nietzsche die Antwort: „Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist.“ Dr. Daniel Volk (FDP): Das Dritte Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes wird die deutsche Wirtschaft und dabei vor allem die kleineren Unternehmen erheblich entlasten und dafür sorgen, dass diese ihre Liquiditätssituation verbessern können. Die bisher gültige Regelung, nach der für die Berechnung der bis zu einem Umsatz von 500 000 Euro abzuführenden Umsatzsteuer nur die tatsächlich vereinnahmten Entgelte angesetzt wurden, war bis zum 31. Dezember 2011 befristet. Ein Auslaufen dieser Regelung würde den betroffenen Unternehmen wichtige Liquidität entziehen. Die Umsatzsteuer entsteht grundsätzlich mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistung ausgeführt wurde, Stichwort Sollversteuerung. Auf die Bezahlung der Leistung durch den Leistungsbezieher kommt es dabei grundsätzlich nicht an. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Umsatzsteuergesetz bietet den Unternehmern, deren Gesamtumsatz im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500 000 Euro betragen hat, die Möglichkeit, die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen, Stichwort Istbesteuerung. Dabei entsteht die Steuer mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt für die Leistung durch den Unternehmer vereinnahmt worden ist, das heißt die Abführung der Steuer an das Finanzamt muss erst erfolgen, wenn und soweit der Kunde gezahlt hat. Eine erneute nur befristete Verlängerung würde wieder neue Unsicherheit über die Geltungsdauer der Regelung schaffen. Die Umsatzgrenze von 500 000 Euro soll daher auf Dauer beibehalten werden. Die Unternehmen erhalten dadurch mehr Planungssicherheit und eine Verbesserung der Liquidität, da auf die Zwischenfinanzierung der Umsatzsteuer für kleinere und mittelständische Unternehmen eine erhebliche Belastung entfällt. Deswegen plädiert die FDP für eine dauerhafte Einführung der Istbesteuerung. Nur so kann den kleineren und mittelständischen Unternehmen, die kaum über eine so hohe erforderliche Kapitalausstattung verfügen, um ohne Probleme in Vorleistung gehen zu können, eine dauerhafte Entlastung geboten werden. Wir sehen keinen Sinn darin, dass der deutsche Klein-/Mittelunternehmer als unfreiwilliger Kreditgeber des Staates fungiert. Dies entspricht nicht unserem Bild einer sozialen Marktwirtschaft. Auch würde der Fiskus bei einer Verlängerung der Istbesteuerung nichts einbüßen, weil es sich dabei nicht um Steuergeschenke, sondern um eine Steuerstundung handelt. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die EU-Kommission den Mitgliedstaaten unlängst vorgeschlagen hatte, die Sollbesteuerung für kleine und mittlere Unternehmen durch eine ausschließliche Istbesteuerung zu ersetzen. Die Istbesteuerung sorgt für erheblich mehr Planungssicherheit, erhöht den Liquiditätsspielraum spürbar, senkt die Finanzierungskosten und bringt Zinsvorteile mit sich, da die Umsatzsteuer nicht vorfinanziert werden muss. Die Auswirkungen für die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden betreffen nur das Jahr 2012, da es sich lediglich um eine Verlagerung der Besteuerung handelt und es dementsprechend keine dauernden Ausfälle gibt. Sowohl die Vertreter des Deutschen Handwerks wie auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sehen dieses Gesetz positiv für die Stärkung der kleinen und mittleren Betriebe. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition nimmt damit eine wichtige Weichenstellung für den Mittelstand vor. Wir appellieren an den Bundesrat, dem Gesetz jetzt zeitnah zuzustimmen, damit die Betriebe langfristige Planungssicherheit erhalten. Richard Pitterle (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine lange bestehende Forderung der Linken umgesetzt. Dass die Unternehmen, deren Gesamtumsatz im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500 000 Euro betrug, die Möglichkeit der Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer unbefristet beibehalten sollen, können wir nur unterstützen. Das bedeutet, dass die betreffenden Unternehmen erst dann die Umsatzsteuer an den Fiskus abführen müssen, wenn ihre Rechnung bezahlt worden ist, und nicht schon mit Rechnungsstellung. Gerade in Krisenzeiten, in denen die Zahlungen auch schon ausbleiben oder verspätet erfolgen, hat die Regelung die Stärkung der Liquidität für die betreffenden Unternehmen zur Folge, und das begrüßen wir ausdrücklich. Wir hätten nichts dagegen, wenn Sie auch andere steuerpolitische Vorschläge der Linken umsetzen würden. Wir werden nicht auf dem Copyright bestehen. Nachdem Sie mit dem vorliegenden Gesetz schon an der Umsatzsteuer dran sind, muss ich aber auch fragen, was denn aus Ihren großen Ankündigungen geworden ist. Wenn ich Sie an Ihren Koalitionsvertrag erinnern darf: Dort heißt es, dass es bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen – ich zitiere – „Handlungsbedarf“ gebe und dass sie auf den – Zitat – „Prüfstand“ müssten. Dort heißt es ebenfalls, dass eine Kommission eingesetzt werden soll, die sich – Zitat – „mit der Systemumstellung bei der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßigten Mehrwertsteuer befasst“ – Zitat Ende. Wo stehen wir aber heute? Statt einer Reform der ermäßigten Mehrwertsteuer hat die FDP in der Koalition die Privilegierung von Hoteliers durchgesetzt. Statt systematischer Reform bekamen wir Klientelpolitik. Selbst die Reformkommission scheinen Sie nicht auf die Reihe zu bekommen. Für den 23. Februar diesen Jahres hatten Sie angekündigt, dass sich die Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer konstituieren werde. Kurz darauf wurde dieser Termin abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben. Jetzt haben wir September – volle sieben Monate, und es gibt noch immer keinen neuen Termin. Dabei hatten Sie ja sogar schon die Kommissionsmitglieder genannt: Finanzminister Schäuble, Wirtschaftsminister Rösler, der Chef des Bundeskanzleramtes Pofalla sowie weitere CDU- und FDP-Mitglieder. Sie haben wohl Angst, dass, wenn Sie die Kommission einberufen, bei dem kontroversen Thema der ermäßigten Mehrwertsteuersätze Ihre Koalition vollends auseinanderbricht. Aber Ihre internen Querelen sind keine Rechtfertigung für Ihre Untätigkeit. Bei dem Katalog der Produkte, die dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen, müssen Sie handeln, schon alleine wegen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai diesen Jahres. Da hat er entschieden, dass es nicht rechtens ist, Pferde mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz zu begünstigen. Die Begünstigung sei nur für Tiere erlaubt, die üblicherweise als Nahrungs- und Futtermittel verwendet werden. Finanzminister Schäuble scheint die Umsatzsteuerreform abgeschrieben zu haben. In seiner Rede vom Mai vor dem Deutschen Steuerberaterkongress meinte er, dass er eine umfassende Mehrwertsteuerreform für ein unproduktives Unterfangen halte, bei dem viele Diskussionen ausgelöst würden, ohne dass am Ende etwas Substanzielles herauskomme. Diese Meinung mag die Situation in der Regierungskoalition richtig wiedergeben. Aber nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs kann es nicht sein, dass die Bundesregierung weiterhin untätig bleibt. Nur eines wollen wir nicht: dass eine solche Reform zulasten der niedrig verdienenden Verbraucherinnen und Verbraucher geht, dann wäre es besser Sie bleiben weiterhin untätig. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Koalition versucht sich mal wieder an der Umsatzsteuer. Die gute Nachricht dabei ist, dass Union und FDP endlich eine sinnvolle Änderung auf den Weg bringen. Die schlechte Nachricht aber ist, dass Schwarz-Gelb es schafft, selbst gute Gesetze schlecht umzusetzen. Das Gesetz zur Entfristung der 500 000-Euro-Grenze für die Istbesteuerung kommt viel zu spät. Seit Anfang des Jahres haben wir vergeblich darauf hingewiesen, dass kleine und mittlere Unternehmen Planungssicherheit für die Zukunft brauchen. Mit Verweis auf ihre Umsatzsteuerkommission hat die Bundesregierung das Vorhaben immer weiter nach hinten geschoben. Heute musste sie eingestehen, dass ihre letztes Jahr eingesetzte Kommission bis jetzt nicht ein einziges Mal getagt hat. Trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung sieht sich die Koalition zudem nicht in der Lage, die absolut nicht gerechtfertigten verminderten Mehrwertsteuersätze wie zum Beispiel für Schnittblumen oder Tierfutter endlich zu korrigieren. Auf der anderen Seite droht Schwarz-Gelb da zu spät zu kommen, wo nach eigener Aussage gar kein Steuerverlust droht, aber kleinen Unternehmen eine erhebliche Erleichterung gegeben werden kann, wie es bei der Istbesteuerung der Fall ist. Nach Willen der Bundesregierung soll die Änderung des Umsatzrechts als Einzelgesetz verabschiedet werden. Auf den allerletzten Drücker hat sie heute einen eigenen Gesetzentwurf ins Plenum eingebracht. Nach bisherigen Planungen kann der Bundesrat erst im Dezember, womöglich in seiner letzten Sitzung im Jahr, über den Entwurf entscheiden. Das ist eine Frechheit gegenüber den vielen betroffenen Unternehmen und äußerst schädlich für die deutsche Wirtschaft, die von vielen kleinen und mittleren Unternehmen und Handwerksbetrieben getragen wird. So kann es dazu kommen, dass kleine Unternehmen, die im Dezember einen Auftrag bekommen, nicht wissen, ob sie die Umsatzsteuer vorfinanzieren müssen oder nicht. Im schlimmsten Fall müssen sie Aufträge ablehnen, weil sie keine ausreichende Kreditlinie besitzen und davon ausgehen müssen, dass sie nach der Sollbesteuerung veranlagt werden. Schwarz-Gelb verunsichert die Wirtschaft durch sein zögerliches Handeln nicht nur, es gefährdet Arbeitsplätze und Existenzen. Das ist skandalös. Dies kann unsere Fraktion so nicht hinnehmen. Um den Gesetzgebungsprozess zu beschleunigen, haben wir schon Anfang September einen Änderungsantrag zum Beitreibungsrichtlinien-Umsetzungsgesetz gestellt. Dadurch kann die Gesetzgebung so schnell umgesetzt werden, dass sich der Schaden für die betroffenen Unternehmen in Grenzen hält. Es liegt an der Koalition, auf taktische Spielchen zu verzichten und zum Wohl der einheimischen Wirtschaft unserem Anliegen hier zuzustimmen. Leider beweist die Bundesregierung auch, dass das Umsatzsteuerrecht in dieser Legislatur lediglich zur Befriedigung von Lobbyinteressen oder zu taktischen Machtspielchen missbraucht wird. Eine grundlegende Reform der ermäßigten Sätze mit dem Ziel eines einfachen und gerechten Umsatzsteuergesetzes wird es bis zum Ende dieser Koalition nicht geben. Dabei ist es hier besonders nötig, für Wettbewerbsgleichheit zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen zu sorgen und Branchenermäßigungen schnell abzuschaffen. Lediglich die Ermäßigungen im Bereich der Daseinsvorsorge haben eine positive Wirkung für alle und sind deswegen zu rechtfertigen. An diesen Änderungen hat die Bundesregierung aber leider kein Interesse. Es ist umso bedauerlicher, dass Verbesserungen, von denen alle Branchen und hier vor allem Handwerksbetriebe und kleine Unternehmen profitieren, wie die Beibehaltung der Grenze für die Istbesteuerung, nur schleppend vorankommen. Die Bundesregierung hat keinen wirtschaftspolitischen Kompass. Sie wechselt zwar den Wirtschaftsminister, hat aber offensichtlich den Bock zum Gärtner gemacht. Ein erfahrener Wirtschaftsmann hätte ein so dilettantisches Vorgehen nicht durchgehen lassen. Wir Grüne werden uns weiter für ein gerechtes und einfaches Umsatzsteuerrecht und die kleinen und mittleren Unternehmen einsetzen. Anlage 92 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Antrag: Den Staat Palästina anerkennen (Tagesordnungspunkt 11) Ich befürworte eine Zwei-Staaten-Lösung als eine Chance für Israel und Palästina. Ich hätte mir gewünscht, dass die israelische Regierung den geplanten Vorstoß von Präsident Abbas und Ministerpräsident Fayyad mit einem Aufnahmeantrag Palästinas in die UN-Vollversammlung zu gehen, unterstützt; denn ein künftiger Staat Palästina würde dann ebenso wie ein Staat Israel allen völkerrechtlichen Verpflichtungen unterliegen. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass Präsident Abbas und Ministerpräsident Fayyad nur für das Westjordanland und nicht für den von der Hamas regierten Gazastreifen sprechen. Ein Staat Palästina wäre demnach ein geteiltes Land, in dem ein Teil der Regierung – die Hamas – den von der Fatah angekündigten Antrag vor den Vereinten Nationen auf Anerkennung Palästinas als Staat in den Grenzen von 1967 ablehnt, weil sie ganz Israel beansprucht. Diese Haltung kommt einem Aufruf zur bewaffneten Auseinandersetzung gleich. Der Antrag 17/6150 der Linken, der diesen Sachverhalt nicht benennt und damit die Verletzlichkeit Israels unterschlägt, wird von mir abgelehnt. 1Anlage 87 2 Anlage 88 3 Anlage 92 4 Anlage 89 5 Anlage 90 6 Anlage 91 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 14966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14965 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 14994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 126. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 21. September 2011 14995