Plenarprotokoll 17/128 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 128. Sitzung Berlin, Freitag, den 23. September 2011 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Ulrich Petzold Erweiterung der Tagesordnung Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschusses) zu dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 (Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105, 17/6121, 17/6146, 17/6583, 17/6875, 17/7025) Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz GKV-VStG) (Drucksache 17/6906) b) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung (Drucksache 17/3215) Daniel Bahr, Bundesminister BMG Dr. Karl Lauterbach (SPD) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) Johannes Singhammer (CDU/CSU) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Jens Spahn (CDU/CSU) Dr. Karl Lauterbach (SPD) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lothar Riebsamen (CDU/CSU) Dr. Carola Reimann (SPD) Dietrich Monstadt (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 29: a) Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen (Drucksache 17/6372) b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Studienfinanzierung stärken – Das BAföG zum Zwei-Säulen-Modell ausbauen (Drucksache 17/7026) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln – Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern (Drucksachen 17/5899, 17/5475, 17/7051) Nicole Gohlke (DIE LINKE) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) Patrick Meinhardt (FDP) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) Ulla Burchardt (SPD) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) Monika Grütters (CDU/CSU) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Axel Knoerig (CDU/CSU) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 30: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt (Drucksachen 17/6277, 17/6853, 17/7065) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7068) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Mast, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit orientieren – Weichen für gute Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Agnes Alpers, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten und nachhaltig finanzieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung und Perspektiven investieren statt Chancen kürzen (Drucksachen 17/6454, 17/5526, 17/6319, 17/7065) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMAS Hubertus Heil (Peine) (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karl Schiewerling (CDU/CSU) Katja Mast (SPD) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) Pascal Kober (FDP) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Max Straubinger (CDU/CSU) Angelika Krüger-Leißner (SPD) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kinderrechte in Deutschland umfassend stärken (Drucksache 17/6920) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) Diana Golze (DIE LINKE) Miriam Gruß (FDP) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Geis (CDU/CSU) Christoph Strässer (SPD) Norbert Geis (CDU/CSU) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Florian Bernschneider (FDP) Tagesordnungspunkt 32: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts (Drucksachen 17/6276, 176852, 17/7063) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts (Tagesordnungspunkt 32) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Karin Binder (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 128. Sitzung Berlin, Freitag, den 23. September 2011 Beginn: 9.00 Uhr Vizepräsident Eduard Oswald: Liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Morgen! Bitte nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich Ihnen sagen, dass wir Grund zur Freude haben, weil unser Kollege Ulrich Petzold heute mit uns gemeinsam seinen 60. Geburtstag feiert. (Beifall) Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehr herzlich und wünsche alles Gute. Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Steuervereinfachungsgesetz 2011 zu erweitern, die gleich als Erstes aufgerufen werden soll. – Sie sind damit einverstanden; ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 – Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105, 17/6121, 17/6146, 17/6583, 17/6875, 17/7025 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Michael Meister Kollege Michael Meister, wollen Sie Bericht erstatten? (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das ist nicht erforderlich!) – Es ist nicht erforderlich. Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Das spart uns an diesem Freitagmorgen Zeit. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/7025? – Ein Blick genügt, um festzustellen, dass alle Fraktionen zustimmen. Vorsichtshalber frage ich noch nach den Gegenstimmen. – Keine. Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz GKV-VStG) – Drucksache 17/6906 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung – Drucksache 17/3215 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erster in unserer Debatte hat Bundesminister Daniel Bahr für die Bundesregierung das Wort. Herr Bundesminister, bitte. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt, wo der Sommer zu Ende ist, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Welcher Sommer?) können viele Deutsche darauf zurückblicken, welche Gesundheitssysteme sie im Ausland erlebt haben. Eines können wir immer wieder feststellen: Wenn ihnen im Ausland etwas passiert, möchten sie so schnell wie möglich zurück nach Deutschland, um hier behandelt zu werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Ihre Vorgängerin auch immer schon hervorgehoben! – Gegenruf des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja und?) Die Patienten in Deutschland wissen, dass sie hier den Arzt, das Krankenhaus und auch die Krankenkasse ihres Vertrauens selbst wählen können. Die Patienten in Deutschland vertrauen darauf, dass alles medizinisch Mögliche für ihre Gesundheit getan wird und sinnvolle Innovationen schnell Eingang in die Praxis finden. Kurz: Sie vertrauen auf unser deutsches Gesundheitssystem. Wir stellen fest, dass andere Länder uns um unser Gesundheitssystem beneiden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bei aller Kritik im Detail, bei allem, was man noch besser machen kann – darum streiten wir hier im Deutschen Bundestag –, wissen wir, dass es kaum ein anderes Land auf dieser Welt gibt, das es schafft, freie Arztwahl, freie Krankenhauswahl, Therapiefreiheit, freie Wahl der Krankenkasse miteinander zu verbinden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt es auch für die Zukunft zu erhalten. Die Herausforderungen, vor denen das deutsche Gesundheitssystem steht, sind nicht leicht zu bewältigen. Die demografische Entwicklung, die alternde Bevölkerung und der medizinisch-technische Fortschritt sind Herausforderungen, die an die Finanzierbarkeit, aber auch an die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens große Herausforderungen stellen. Tagtäglich leisten Tausende von Pflegern und Pflegerinnen, von Ärzten und Ärztinnen, von Arzthelferinnen und Arzthelfern, von Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und Angehörige vieler anderer Berufsgruppen ihre Arbeit. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wird die Belastung bei dieser Arbeit zunehmen. Für die Leistung, die in den Gesundheitsberufen tagtäglich erbracht wird, braucht es Motivation, Vertrauen und Anerkennung. Genau das ist das Ziel des Versorgungsstrukturgesetzes. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir wollen denjenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten, Motivation, Vertrauen und Anerkennung für ihre Leistung geben und die Versorgung für die Patienten deutlich verbessern. Die Gesundheitsberufe wandeln sich. Während früher die Pflege immer weiblich war, war die Medizin männlich. Wir stellen fest, dass in Deutschland sechs von zehn Erstsemestern in der Humanmedizin mittlerweile Frauen sind. Junge Medizinerinnen wie junge Mediziner haben heute eine andere Einstellung zum Arztberuf, als das früher der Fall war. Früher war der Arzt in der Regel männlich, hat 60 bis 70 Stunden – Notdienste und Wochenenddienste eingerechnet – gearbeitet, und zu Hause hat sich die Frau um die Familie gekümmert. Das wird nicht das Berufsbild des künftigen Arztes, der künftigen Ärztin sein. Deshalb brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von Gesundheitsberuf und Familie. Weil die jungen Medizinerinnen und Mediziner nach geregeltem Einkommen und geregelten Arbeitszeiten suchen, müssen wir die Strukturen etwas verändern. Wir müssen auf diesen gesellschaftlichen Wandel eine Antwort haben, damit nicht diejenigen, die ein teures Medizinstudium, aus Steuermitteln finanziert, aufgenommen haben, später aufgrund der Rahmenbedingungen, die ihnen die Politik gibt, sagen: Wir gehen doch nicht in die ärztliche Versorgung. Wir werden kein Arzt. – Hier läuft etwas falsch, und das ändern wir mit diesem Gesetz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir verbessern die Vertretungsregelung für Mediziner in der Praxis. Wir schaffen eine bessere Möglichkeit, einen Entlastungsassistenten einzustellen. Damit geben wir den jungen Medizinern eine verlässliche Perspektive, eine Praxis auch in der Fläche zu eröffnen. Früher wurde über die Ärzteschwemme diskutiert. Heute stellen wir fest, dass mittlerweile gerade in der Fläche – im Münsterland an der niederländischen Grenze, in der Oberpfalz an der tschechischen Grenze, in der Uckermark, in Schleswig-Holstein und in vielen anderen Regionen in Deutschland – offene Stellen in Krankenhäusern zu beklagen sind und Haus- und Fachärzte keine Nachfolger finden. Es bringt nichts, darüber zu streiten oder den drohenden Ärztemangel zu leugnen. Diese Koalition, diese Regierung hat gehandelt. Wir haben das Problem angepackt, weil wir die Sorgen der Menschen vor Ort ernst nehmen. Die Menschen werden uns danach beurteilen, ob wir ihnen eine medizinische Versorgung vor Ort gewährleisten, und dafür sorgt diese Koalition. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Regelungen, die vielleicht einmal ihre Berechtigung hatten, sind dort infrage zu stellen, wo Versorgungsprobleme drohen. In überversorgten Gebieten hat die Mengenabstaffelung sicher ihre Berechtigung. Aber wenn Mengenabstaffelung, was bedeutet, dass ein Arzt bei immer mehr Patienten immer weniger Geld bekommt, dazu führt, dass junge Mediziner in der Fläche keine Arztpraxis eröffnen, dann läuft etwas falsch. Wir heben diese Mengenabstaffelung auf. Wir erlauben Zuschläge, die gewährt werden können, um jungen Medizinern einen Anreiz zu geben, sich in der Fläche niederzulassen. Wir stärken den Grundsatz „Beratung vor Regress“, weil es nicht sein darf, dass ein Mediziner, der in der Fläche mehr Patienten betreut, doppelt bestraft wird, weil er möglicherweise mehr Arzneimittel verschreiben muss. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir stärken die Notdienste durch Kooperationen zwischen Ärzten und Krankenhäusern. Wenn alle diese Anreize nicht wirken, werden wir dafür sorgen, dass die Kassenärztliche Vereinigung oder sogar Kommunen mit eigenen Einrichtungen eine medizinische Versorgung vor Ort gewährleisten können. Wir bauen Bürokratie ab. Wir regeln, dass delegationsfähige Leistungen von Ärzten auf andere Berufsgruppen übertragen werden können, um den Arzt in seiner Tätigkeit zu entlasten und andere Berufsbilder in ihrer Tätigkeit zu stärken. Während SPD und Grüne während ihrer Regierungszeit und in den Debatten der letzten Wochen und Monate immer den drohenden Ärztemangel geleugnet haben, packen wir als Koalition dieses Problem an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir wollen, dass der Landarzt für die Menschen nicht nur in einer idyllischen Vorabendserie existiert. Wir sorgen mit gezielten Anreizen – nicht mit der Gießkanne – dafür, dass sich auch die Menschen in der Fläche darauf verlassen können, dass sie eine medizinische Versorgung vor Ort bekommen. Es stimmt: Es gibt nicht überall unterversorgte Gebiete. Aber wenn ich mir den Altersschnitt der Ärzte in der Praxis anschaue, dann wird deutlich, dass dieses Problem auf uns zukommen wird. Da gilt es, jetzt zu handeln. Es gilt, den Medizinern eine verlässliche Perspektive zu eröffnen und den Pflegern und Arzthelfern verlässliche Rahmenbedingungen zu bieten. Wir schaffen eine Bedarfsplanung, die sich am wirklichen Bedarf orientiert. Die bisherige Bedarfsplanung war rein historisch begründet, setzte auf den Zustand Anfang der 90er-Jahre auf, anstatt die Demografie und die Morbidität zu berücksichtigen, anstatt den wirklichen Bedarf zu berücksichtigen. Wir schaffen Flexibilität, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) damit vor Ort geschaut werden kann: Wo gibt es wirklich Überversorgung? Wo droht Unterversorgung? Wo müssen gezielt Anreize gesetzt werden, damit sich dort jemand niederlässt? Wir schaffen eine Regionalisierung in der Vergütung. Das heißt, vor Ort wird wieder entschieden, wie vergütet wird. Wir können doch angesichts der unterschiedlichen Situationen nicht glauben, man könne zentralistisch von Berlin aus die richtige Vergütung in ganz Deutschland festlegen. Wir bauen die Überversorgung ab, indem wir die Möglichkeit bieten, dass frei werdende Arztsitze in überversorgten Gebieten aufgekauft werden. Das ist der richtige Weg, um die Überversorgung in Ballungsräumen schrittweise abzubauen. Ich halte nichts davon, dass wir durch Strafen Ärzte demotivieren, die auch in überversorgten Gebieten viele Patienten zu versorgen haben. Wenn Sie durch Deutschland fahren, werden Sie in vielen Städten Diskussionen darüber erleben, wie häufig lange Wartezeiten sind, bis man einen Termin beim Arzt bekommt. Die Diskussion über eine Überversorgung müssen wir sachlich führen. Wir müssen die Überversorgung durch richtige Maßnahmen abbauen, statt einfach nur die Mediziner in Ballungsräumen durch Honorarkürzungen zu bestrafen; denn das ist der falsche Weg. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir schaffen mit diesem Gesetz auch eine neue Möglichkeit für fairen Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Wir geben den Versicherten die Möglichkeit der Wahlfreiheit, das heißt, ihre Krankenkasse nach ihren Bedürfnissen wählen zu können. Krankenkassen können künftig wieder Zusatzleistungen anbieten wie beispielsweise eine bessere Unterstützung durch Haushaltshilfen, wie beispielsweise eine zusätzliche Vergütung bei künstlicher Befruchtung oder wie beispielsweise die Erstattungsfähigkeit von rezeptfreien Medikamenten. Dadurch schaffen wir einen fairen Wettbewerb um eine bessere Versorgung, um bessere Leistungen der Krankenkassen untereinander. Wer profitiert von diesen Maßnahmen? Wen beglücken wir mit diesem Gesetz? Wir beglücken mit diesem Gesetz die Patientinnen und Patienten, weil sie dadurch mehr Wahlfreiheit und eine bessere Versorgung haben. Sie erleben, dass wir ihre Sorgen und Nöte wirklich ernst nehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich möchte ein Beispiel anführen, mit dem meine Vorvorgängerin, Frau Schmidt von der SPD, genauso belastet war; denn eine Krankenkasse bereitet uns seit Jahren wirtschaftliche Sorgen und Probleme. Als die City BKK in Berlin und Hamburg geschlossen werden musste, haben wir erlebt, dass sich die Menschen offensichtlich nicht darauf verlassen können, dass die gesetzlichen Krankenkassen Solidarität untereinander zeigen, und dass es offensichtlich nicht selbstverständlich ist, dass man sich für den notwendigen Krankenversicherungsschutz seine Krankenkasse selbst auswählen kann. Mit diesem Versorgungsstrukturgesetz sorgen wir dafür, dass die richtigen Maßnahmen ergriffen werden, damit sich die Patientinnen und Patienten, die Versicherten darauf verlassen können, dass sie einen Krankenversicherungsschutz unabhängig vom Alter, unabhängig von Vorerkrankungen, unabhängig vom Geschlecht und unabhängig vom sozialen Stand in Deutschland selbstverständlich haben. Wir sorgen dafür, dass, wenn eine Kasse geschlossen wird, unbürokratisch ein Wechsel zu einer anderen Kasse möglich wird. Wenn Kassen noch einmal ein solch inakzeptables Abwimmelverhalten zeigen, dann wird es drastische Strafen geben bis hin zur Abberufung des Vorstandes. Das ist ein notwendiger Schritt, der mit diesem Gesetz gegangen wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Insofern setzen wir mit diesem Gesetz gezielt Anreize, um die Versorgung der Menschen in Deutschland zu verbessern. Das machen wir nicht mit der Gießkanne, sondern mit gezielten Maßnahmen. Diese Maßnahmen sind notwendig. Wenn wir nichts tun, dann wird es deutlich teurer; denn der Ärztemangel in den Regionen führt zu deutlich höheren Kosten, als wenn wir jetzt die richtigen Anreize setzen, um Mediziner in die Fläche zu locken und damit die Versorgung in der Fläche zu gewährleisten. Herzlichen Dank und auf eine gute Beratung dieses Gesetzentwurfs. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Professor Karl Lauterbach. Bitte schön, lieber Kollege. (Beifall bei der SPD) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal ganz konkret: Was hat uns der Minister vorgetragen? (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Nur Gutes!) Was hat der Minister wirklich gesagt? Erster Punkt. Er hat die Verbesserung der Situation der Hausärzte und Landärzte angesprochen. Was passiert denn konkret? Es werden insgesamt 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, nachdem vorher die Hausarztverträge auf dem Land mehr oder weniger sang- und klanglos gekappt worden sind. Dem System wird bei der hausärztlichen Versorgung netto Geld entzogen. Die Hausärzte gehören nicht zu der Gruppe, die sich der Klientelpolitik der FDP sicher sein könnte; die Hausärzte sind nicht geschützt durch den Lobbyismus der FDP. Den Hausärzten ist zunächst ein großer Teil des Geldes entzogen worden. Jetzt werden auch noch Zuschläge für die unterversorgten Gebiete entzogen. Dann gibt es zusätzlich ein Almosen von 100 Millionen Euro, und das will der Minister hier als eine Förderung der hausärztlichen Versorgung verkaufen. Das ist doch Augenwischerei. In Wirklichkeit wird den Hausärzten Geld entzogen, und nichts anderes. (Beifall bei der SPD) Zweiter Punkt. Es wurde darüber gesprochen, was in den überversorgten Gebieten passiert. In den überversorgten Gebieten können die Kassenärztlichen Vereinigungen ein Vorkaufsrecht geltend machen; sie können dort Kassensitze kaufen. Aber welchen Anreiz dazu haben sie denn? Dazu hat der Minister nichts gesagt. Im Prinzip ist es so: Die Kassenärztliche Vereinigung kann zwar ein paar Sitze kaufen, die Politik aber macht nichts. Es ist doch Ihre Aufgabe, sehr verehrter Herr Minister, für den Abbau der Überversorgung zu sorgen. Sie als Minister können bei den Kassenärztlichen Vereinigungen doch nicht als Bittsteller auftreten, ohne einen Mechanismus nennen zu können, wie das Ganze funktionieren soll. Die Überversorgung wird durch dieses Gesetz überhaupt nicht angegangen. Das ist dem Minister auch klar; daher bestritt er die Überversorgung. Er hat gesagt: Wenn man in die überversorgten Gebiete fährt, dann stellt man fest, dass man auch dort warten muss. Das stimmt. Das liegt aber nicht daran, dass dort Ärzte fehlen, sondern das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Honorarpolitik, an der Sie ebenfalls nichts ändern. (Beifall bei der SPD) Sie produzieren die Überversorgung und machen nichts, um sie abzubauen. Vizepräsident Eduard Oswald: Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen? Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sehr gerne, ja. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön, Frau Kollegin. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrter Herr Kollege Lauterbach, Sie reden immer so viel von Überversorgung. Ist Ihnen bekannt, dass die sozialdemokratische Senatorin in Hamburg Frau Prüfer-Storcks, die auch immer gesagt hat, es gebe überall eine immense Überversorgung, auf die Frage, ob die Überversorgung überhaupt bestehe und wie sie abgebaut werden könne, geantwortet hat: „In Hamburg gibt es keine Überversorgung“? Hamburg ist, wie Sie vielleicht wissen, die zweitgrößte Stadt Deutschlands. Warum reden Sie also immer von Überversorgung, wenn dies doch die eigenen Minister bzw. Senatoren negieren und sagen: Nein, bei uns natürlich nicht. – Mich würde interessieren, wie Sie darauf reagieren. Vielen Dank. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sie konfrontieren mich hier mit einem möglichen Zitat, welches ich weder prüfen kann noch kenne. Ich kann nur so viel sagen: Im Hinblick auf ein Gesetz, zu dem der Minister vorträgt, er wolle Überversorgung abbauen, erwarte ich vom Minister, dass er einen zumindest plausiblen Mechanismus erklärt, wie das, was er sich selbst zum Ziel setzt – er bestreitet somit ja die Überversorgung nicht –, funktionieren kann. (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Das steht doch drin!) Das Gesetz ist erneut handwerklich gescheitert. Meine Kritik ist: Wenn man eine Überversorgung einräumt, was der größte Teil im Hause jederzeit bereit ist zu tun, weil es offensichtlich ist – anderes zu behaupten, würde der Bestreitung gleichen, dass die Erde eine Kugel ist –, und sie beseitigen will, muss man hier tätig werden. Da kann der Minister nicht zum Bittsteller bei der Kassenärztlichen Vereinigung degenerieren. (Heinz Lanfermann [FDP]: Auf die Frage antworten Sie offensichtlich nicht! – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen Dank für die Nichtbeantwortung der Frage!) Vizepräsident Eduard Oswald: Das war die Antwort auf die Zwischenfrage der Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Bitte schön, Sie haben das Wort. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Nichtsdestotrotz: Dieses Gesetz enthält eine Reihe von Kostensteigerungen, über die nicht so schnell hinweggegangen werden darf. Es ist zwar so, dass sich die Versorgung nicht verbessert, aber die vorhandene Versorgung – das darf man nicht außer Acht lassen – wird deutlich teurer. So wird beispielsweise in den Regionen, in denen Ärztemangel besteht, die Mengenabstaffelung abgeschafft, was ökonomisch völlig unsinnig ist. Wenn ich mehr Leistungen der gleichen Art erbringe, habe ich natürlich geringere Fixkosten pro Leistung; somit sinken auch meine Kosten für die Grenzleistung. Das ist ökonomisch ein völlig natürlicher Prozess. Aber diese Abstaffelung wird abgeschafft. (Heinz Lanfermann [FDP]: Wollen Sie die Abstaffelung insgesamt erhöhen?) – Von einer Erhöhung spreche ich doch gar nicht, Herr Lanfermann. Die Abstaffelung ist im Großen und Ganzen ein Ergebnis der Arbeit der Großen Koalition. Das war nicht das Schlechteste, was wir gemacht haben. Meine Kritik, dass die Abschaffung der Abstaffelung eine Verteuerung der bestehenden Leistungen darstellt, ist berechtigt. Die vorhandene Versorgung wird teurer. Das spiegelt sich auch in diesem Gesetzentwurf wider. Weshalb sollte das gemacht werden? Weshalb stellen wir nicht das Ziel in den Vordergrund, die Leistungen auszudehnen und zu verbessern? Was ist der Grund dafür? Die Leistungen in den unterversorgten Gebieten müssen ausgedehnt werden; denn dort besteht ein Leistungsbedarf. Dieser Leistungsbedarf wird im vorliegenden Gesetzentwurf aber nicht angesprochen. Die Leistung bei bestehender Unterversorgung wird einfach nur höher vergütet. Somit handelt es sich hierbei nur um ein Geschenk an ein paar Ärzte. Für die Patienten bessert sich die Versorgung in keiner Weise. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sie haben nichts verstanden!) Es handelt sich nicht um den Entwurf eines Strukturgesetzes, sondern um ein Geschenk an ein paar Ärzte. Eine Veränderung der Versorgungssituation wird es nicht geben. (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Nichts verstanden!) Eine ähnliche Entwicklung ist bei der spezialärztlichen Versorgung zu beobachten. In Zukunft wird jeder onkologische Leistungen anbieten können, der auf der Grundlage einer Einschätzung der Kassenärztlichen Vereinigungen die Kriterien dafür erfüllt. Das wird natürlich dazu führen, dass jede noch so kleine onkologische Einrichtung – ob Praxis oder Krankenhaus – diese spezialärztlichen Leistungen extrabugdetär abrechnet. Auch das ist nichts anderes als eine Verteuerung, wenn nicht sogar eine Verschlechterung der jetzigen Leistungen. Das wird doch dazu führen, dass mehr Leistungserbringer die gleichen Leistungen anbieten, sodass sich die Leistungen auf mehr Einheiten verteilen. Es wird dazu führen, dass Onkologen, die kaum Erfahrung haben, Leistungen erbringen. Somit haben wir hier sogar den Fall, dass die bestehenden Leistungen nicht nur teurer, sondern auch schlechter werden. Ich verstehe nicht, worin der Sinn einer solchen Regelung liegt. (Heinz Lanfermann [FDP]: Die Ratlosigkeit ist rundum!) Hinzu kommt, dass der Vorbehalt des Verbots im Hinblick auf die Leistungen im Krankenhaus schwerer wird; denn um eine neue Leistung im Krankenhaus zu verbieten, müssen zwei Drittel der Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses ein Verbotsvorbehalt äußern. Die Krankenhausgesellschaft kann also im Prinzip im Block neue Leistungen im Krankenhaus zulassen, und zwar selbst dann, wenn deren medizinischer Wert in keiner Weise erwiesen ist. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass durch dieses Gesetz – wenn es denn konkret wird – entweder die bestehenden Leistungen teurer werden oder Leistungen eingeführt werden, die in medizinischer Hinsicht unsinnig sind und deren medizinischer Wert zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden kann. Das ist also auch keine Verbesserung der Versorgung. Durch dieses Gesetz wird es in Zukunft möglich sein, als bisher nicht zugelassener Leistungserbringer Leistungen zu erbringen. Ich spreche dabei beispielsweise von Homöopathen oder Heilern. Im Prinzip kann dann eine Leistung zulasten der Krankenkasse erbracht werden, die wir nach unserem jetzigen Verständnis gar nicht als eine medizinische Leistung ansehen. Bei allem Respekt vor der Homöopathie: Sind das tatsächlich Leistungen, die über die Zusatzbeiträge der Versicherten bezahlt werden sollten? Ist das ein Schritt in die richtige Richtung? Auch das ist doch nichts anderes als das Bemühen, die Versorgung aufzubohren. Ich komme zum Ende (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Gott sei Dank!) und will das Gesetz in Gänze beurteilen. Sie selbst haben die Frage gestellt, wen Sie mit diesem Gesetz beglücken. Sie beglücken in erster Linie die Kassenärztlichen Vereinigungen; denn sie werden den größten Teil der Regelungen dieses Gesetzes umsetzen müssen. Die Politik wird somit zum Bittsteller der Kassenärztlichen Vereinigungen. Das bezieht sich sowohl auf den Bundesausschuss als auch auf die Regelungen der regionalisierten Bedarfsplanung. Außerdem beglücken Sie ein paar Ärzte, die die bestehenden Leistungen schlicht und ergreifend höher abrechnen können. Es wird dadurch nicht mehr Hausärzte geben. Es wird auch nicht zu einem Abbau der Unterversorgung oder zu einem Abbau der Überversorgung kommen. Wen Sie definitiv nicht beglücken, sind die Versicherten und die Patienten, da von diesem Gesetz keine Initiative zur Verbesserung der Versorgungsqualität ausgeht. Es sind bestenfalls neutrale oder bedenkliche Vorschläge. Sie beglücken auch nicht die Beitragszahler; denn die Versorgungsstruktur wird verschlechtert und die Zusatzangebote werden am Ende über Zusatzbeiträge zu finanzieren sein, die dann die Nettoeinkünfte der Geringverdiener und Rentner schmälern. Das ist das, worüber wir hier konkret sprechen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Es ist uns aber schwergefallen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Johannes Singhammer. Bitte schön, Kollege Singhammer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen die Gesundheitsversorgung demokratischer, patientennäher und gerechter gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Deshalb bringen wir jetzt und heute das GKV-Versorgungsstrukturgesetz ein und beenden damit die unerfreuliche jahrelange Praxis, Gesundheitsgesetze ausschließlich am Sparzwang auszurichten. Wir gestalten damit nachhaltig eine bessere ärztliche Versorgung, vor allem in ländlichen Regionen. Wir wollen gleiche Lebensverhältnisse in den Ballungsräumen und den ländlichen Regionen. Deshalb ist das Versorgungsstrukturgesetz darauf ausgerichtet, eine Balance zu finden und die Landflucht zu stoppen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben uns auf folgende Maßnahme verständigt – jetzt hören Sie einmal zu! –: Erstens: Demokratisierung der Bedarfsplanung. Die Länder erhalten bei der Bedarfsplanung mehr Mitwirkungsrechte und können damit regionale Besonderheiten ganz anders berücksichtigen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben die Länder erstritten! Zum Glück!) Damit wird mehr Kompetenz dahin verlagert, wo die Entscheidungen getroffen werden. Zweitens: mehr Ärzte in ländlichen Regionen. Ärzte, die bereit sind, sich in unterversorgten Regionen niederzulassen, erhalten – ja, selbstverständlich, Herr Lauterbach – einen Blumenstrauß an erheblichen finanziellen Anreizen. Sie werden von Begrenzungen der Vergütung ausgenommen, können Preiszuschläge für ihre Leistungen erhalten und über einen Strukturfonds von den Kassenärztlichen Vereinigungen gefördert werden, damit die Attraktivität gesteigert wird. (Beifall der Abg. Willi Zylajew [CDU/CSU] und Lars Lindemann [FDP]) Drittens. Wir schaffen einen Bonus für junge Landärzte. Ärzte, die sich in unterversorgten Bereichen niederlassen, werden künftig bei der Auswahl von Nachbesetzungen in den Ballungsräumen, die vielen attraktiver erscheinen, besonders berücksichtigt. Damit soll erreicht werden, dass die erstmalige Niederlassung eines Arztes in einer ländlichen Region nicht zu einer Lebensentscheidung wird, bei der der junge Arzt oder die junge Ärztin das Gefühl hat, man könne sie nicht mehr revidieren. Auf der anderen Seite werden wir die Überversorgung in bestimmten Regionen durch einen Abbau von Arztsitzen mindern. Das geschieht selbstverständlich über die KV, die Selbstverwaltung, weil sie das beste Instrumentarium bietet. Viertens. Wir sorgen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Herr Minister Bahr, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass viele von denen, die künftig den ärztlichen Beruf ergreifen, junge Ärztinnen sind. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, ihren Wünschen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser zu entsprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb tun wir dreierlei: Erstens. Die Möglichkeit für Vertragsärztinnen, sich im zeitlichen Zusammenhang mit einer Entbindung vertreten zu lassen, wird von 6 auf 12 Monate verlängert; das ist natürlich sinnvoll. Zweitens. Die Möglichkeit der Beschäftigung einer Entlastungsassistentin bzw. eines -assistenten wird bei der Erziehung von Kindern für bis zu 36 Monate sowie bei der Pflege von Angehörigen für bis zu 6 Monate eröffnet. Damit synchronisieren wir die Vertretungsmöglichkeiten mit anderen Gesetzen, die schon bestehen. Drittens. Bei der Auswahlentscheidung über die Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes in einem gesperrten Bereich werden Kindererziehungs- und Pflegezeiten, durch die eine ärztliche Tätigkeit unterbrochen worden sind, künftig berücksichtigt. – Das ist ein echter Zugewinn an Familienfreundlichkeit. Wem das nicht passt, der soll hier einmal aufstehen und dagegen sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fünftens. Wir sehen eine gerechtere Honorarverteilung vor. Die Verteilung der Honorare für die ambulante Versorgung erfolgt künftig wieder stärker auf der Ebene der Kassenärztlichen Vereinigungen. Auch dadurch wird regionalen Besonderheiten stärker Rechnung getragen. Sechstens. Wir setzen neueste Technologien ein. Wir sorgen beispielsweise für den Ausbau der Telemedizin. Wir sagen: Diejenigen, die von Ballungsräumen am weitesten entfernt sind, sollen die modernste Technologie bekommen. Deswegen machen wir das. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Breitband im ländlichen Raum!) Siebtens – das ist ganz wichtig – sorgen wir für mehr Transparenz in der Selbstverwaltung. Wir werden die Struktur des Gemeinsamen Bundesausschusses neu gestalten. Wir wollen ein transparenteres, nachvollziehbares Verfahren. Damit sorgen wir für eine größere Akzeptanz der Entscheidungen. Schließlich wollen wir mehr Offenheit. Damit sich Versicherte bei der Wahl ihrer Krankenkasse umfassend auch über die wirtschaftliche Situation der Kassen informieren können, werden die Krankenkassen künftig verpflichtet sein, die Geschäftsergebnisse des vergangenen Jahres in verständlicher Form regelmäßig zu veröffentlichen. Auch damit schaffen wir ein großes Stück mehr Verbraucherschutz und -freundlichkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Neben der Vielzahl von Verbesserungen, die bereits jetzt im Gesetzentwurf vorgesehen ist, werden wir uns im Rahmen des Beratungsverfahrens für eine Reihe von zusätzlichen Verbesserungen einsetzen: Dazu gehören erstens praktische Hilfen für Familien. Wir wollen beispielsweise, dass die Haushaltshilfe künftig eine verpflichtende Leistung der Krankenkasse ist. Warum ist das so wichtig? Weil wir aus einer Vielzahl von Gesprächen wissen, dass das notwendig ist. Wenn in einer Familie beispielsweise die Mutter krank wird, im Krankenhaus liegt, ist es notwendig, dass über einen längeren Zeitraum hinweg eine häusliche Unterstützung da ist. Diese Verlässlichkeit muss gegeben sein. Deshalb wollen wir an dieser Stelle eine Verbesserung. Zweitens. Wir wollen neue Versorgungsformen unterstützen. Kooperative Versorgungsformen wie Ärztenetze wollen wir unterstützen. Sie sollen gerecht gestaltet sein und nicht zu Verwerfungen, sondern zu sinnvollen Synergieeffekten führen. Drittens. Wir wollen kürzere Wartezeiten. Das ist selbstverständlich. Die Wartezeit für einen Behandlungstermin beim Facharzt soll verkürzt werden. Die Selbstverwaltung soll die Maßnahmen für ein besseres Versorgungsmanagement vereinbaren. Wir haben einen ganz entscheidenden Schritt nach vorne unternommen, und zwar im Sinne einer Neuausrichtung der Gesundheitspolitik. Wir können das deshalb tun, und zwar nur deshalb, weil wir anders als im vergangenen Jahr nicht mehr darüber diskutieren müssen, ob wir ein riesiges Haushaltsloch bei den gesetzlichen Krankenkassen schließen müssen. Damals betrug das drohende Haushaltsloch bis zu 11 Milliarden Euro. Jetzt diskutieren wir möglicherweise darüber, was wir mit den vorhandenen Überschüssen des Gesundheitsfonds machen wollen. Eine Diskussion darüber, wie wir Milliarden aus dem Gesundheitsfonds richtig und nachhaltig verwenden, ist mir viel lieber als eine Diskussion darüber, wie wir vorhandene Haushaltslöcher schließen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das zeigt, dass sich in der Gesundheitspolitik Entscheidendes getan hat. Weiteres wird mit diesem Gesetz folgen. Die Opposition behauptet immer, diese Regierung würde in besonderer Weise Klientelpolitik betreiben; weil mich das ärgert, muss ich das ansprechen. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es halt! Ihr liefert jeden Tag einen neuen Beweis dafür!) – Horchen Sie einmal genau hin: Wir haben die Ausgaben für Medikamente um 6 Prozent gesenkt. Das bedeutet für die Krankenkassen eine monatliche Entlastung von 100 Millionen Euro. Die Arzneimittelindustrie leistet dazu einen ganz erheblichen Beitrag; das gilt auch für den Großhandel und andere. Wenn gesagt wird, das sei Klientelpolitik, kann ich nur sagen: Die Dankbarkeit der Pharmaindustrie, die uns für diese Art von Klientelpolitik entgegenschlägt, ist ungefähr so nachhaltig wie die der Atomindustrie gegenüber den Grünen für den Atomausstieg. Wir haben damit eine klare neue Linie nicht nur aufgezeigt, sondern auch umgesetzt. Wir werden noch eine ganze Reihe weiterer Verbesserungen im Gesundheitsbereich angehen. Wir werden zeigen, dass diese Regierung handlungsfähig und in der Lage ist, das Gesundheitswesen nachhaltig zu stabilisieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wollen immer an die Regierung; das ist verständlich. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird auch gelingen!) Aber man muss einmal schauen, was Sie eigentlich wollen und wie fähig Sie sind. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Sagen Sie einmal, was Sie wollen!) Ich möchte auf einen Punkt kommen, über den in dieser Woche auch im Ausschuss diskutiert worden ist. Es ging um die Abschaffung der Zuzahlungen; das ist ein wichtiger Punkt. Die Linken haben beantragt, alle Zuzahlungen abzuschaffen. Es geht ja nur um eine Kleinigkeit von 5 Milliarden Euro. (Heinz Lanfermann [FDP]: 5,5!) Entsprechende Hinweise darauf, wie dies ermöglicht werden soll, sind natürlich nicht erfolgt. Die Sozialdemokraten lehnen das ab – das ist, finde ich, richtig und verantwortlich –, die Grünen enthalten sich der Stimme. So wollen Sie Regierung machen. Wir in Deutschland, die deutschen Patienten und die in der Gesundheitswirtschaft Tätigen, brauchen keine Chaoscombo, sondern eine seriöse Regierung. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Dass wir eine solche sind, zeigen wir mit diesem Gesetzentwurf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sitzt sie doch, die Chaoscombo! Sie sitzt vor uns!) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Bunge. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung“, das ist ein vollmundiger Titel, der große Erwartungen weckt. Aber leider folgen den vollmundigen Ankündigungen – wie so oft bei dieser Regierung – keine, falsche oder nur halbherzige Taten. Was sind für Sie eigentlich die Versorgungsstrukturen der gesetzlichen Kassen? Ein großer Teil der Versorgung findet in Krankenhäusern statt. In Ihrem Gesetzentwurf finde ich kein Wort dazu. Ein großer Teil der Versorgung findet durch Krankenpflegepersonal statt. In Ihrem Gesetzentwurf finde ich kein Wort dazu. Besonders beim Pflegepersonal drückt doch der Schuh erheblich. Ein anderer großer Teil der Versorgung findet durch Heilberufe wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten usw. statt. Dies ist für Sie offensichtlich Gedöns; denn dazu finde ich in Ihrem Gesetzentwurf kein Wort. Wir alle sind in der Pflicht, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Dazu muss der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen endlich barrierefrei werden. Auch hier Fehlanzeige. Das alles ist untragbar. (Beifall bei der LINKEN) Für Sie besteht die Versorgung offensichtlich allein aus ärztlichen Ambulanzen. Aber von den acht Schwerpunkten, die Sie selber in diesem Gesetzentwurf formuliert haben, beschäftigt sich nur einer mit der flächendeckenden ambulanten ärztlichen Versorgung. Wir sehen: Nicht nur der Name Ihres Gesetzes, sondern auch inhaltlich ist Ihr Gesetz aufgebauscht. Das ist angesichts der Probleme, die wir haben und die auch von Ihnen schon beschrieben wurden, fatal. (Beifall bei der LINKEN) Eines muss ich noch loswerden. Es dürfte als ein Novum in der Gesundheitspolitik in Deutschland gelten, dass der Finanzminister, dass das Finanzministerium in einer derart massiven Weise Einfluss auf ein Gesundheitsgesetz genommen hat. Weil der Bundeshaushalt künftig mit den Kosten für den Sozialausgleich zu Ihrer Kopfpauschale belastet wird, hat der Finanzminister festschreiben lassen, dass zusätzliche Kosten für Ärzte und Zahnärzte aus dem Geld für den Sozialausgleich herausgerechnet werden müssen, wenn nicht an anderer Stelle im Gesundheitssystem gespart wurde. Für das zusätzliche Geld für Ärzte haften also immer die Versicherten, entweder mit Leistungsminderungen oder mit Kürzungen des Sozialausgleichs. Beides, also die Leistungen und der Sozialausgleich, sind aber Rechtsansprüche. Wie Sie das praktisch hinbekommen wollen, ist mir völlig schleierhaft. (Beifall bei der LINKEN) Herr Bahr, ich schätze die Satzungsleistungen völlig anders ein. Ich denke, Sie machen deshalb ein Einfallstor für Leistungsminderungen auf, indem Sie den Umfang der freiwilligen Leistungen, also Satzungsleistungen der Krankenkassen, erweitern. Selbst die Kassen gehen davon aus, dass infolge dieser Regelung bald Kernleistungen zu Satzungsleistungen werden und die Regelleistungen der Kassen immer weiter abgeschmolzen werden. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo steht das denn? – Heinz Lanfermann [FDP]: Ist ja Unsinn! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo lesen Sie denn so etwas?) – Dann lesen Sie einmal die Stellungnahmen. Eines ist klar: Noch bevor der erste Cent beim Sozialausgleich aus Bundesmitteln bezahlt wurde, steht fest: Dieser Sozialausgleich ist eine Farce, und: Wer sich auf diese Regierung verlässt, ist verlassen. (Beifall bei der LINKEN) Nun zur Versorgung. Sie haben vielfach angekündigt, etwas gegen den vorhandenen und zu erwartenden Ärztemangel zu tun, aber Sie haben bis heute nicht verstanden, dass wir in allererster Linie ein Problem bei der Verteilung der Ärztinnen und Ärzte haben. Also noch einmal von vorne: Wir wissen doch gar nicht genau, wie viele Ärztinnen und Ärzte wir eigentlich für die Versorgung der Menschen brauchen. Aber wie wollen wir Versorgung sicherstellen, wenn wir das Erforderliche nicht kennen? Die heutige Bedarfsplanung beruht auf Daten von 1990. Da wurden einfach die vorhandenen Ärztinnen und Ärzte gezählt, in Relation zur Bevölkerung gesetzt und der so ermittelte Wert für jede Arztgruppe als 100-Prozent-Wert zugrunde gelegt. Damit agieren wir bis heute. Seit über zwei Jahrzehnten! Ausgehend von dieser völlig unzulänglichen Basis haben wir heute im Bundesdurchschnitt bei allen Arztgruppen eine Versorgung von mehr als 100 Prozent, also offiziell Überversorgung. Bei Hausärzten reichen die Versorgungszahlen nach jetzigem Maßstab von 67 bis 167 Prozent. Aber die praktischen Erfahrungen der Patientinnen und Patienten sind: Überall klemmt es; man muss ewig auf einen Arzttermin warten, lange Wartezeiten in Kauf nehmen und, und, und. Das ist doch nicht hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) An der Ausgangsbasis soll in Ihrem Versorgungsgesetz nichts geändert werden. Ganz speziell sieht die Lage bei den Psychotherapeuten aus. 1999 wurde das Psychotherapeutengesetz novelliert, um Unterversorgung zu beheben. Die damals vorhandene Unterversorgung wurde 1999 dennoch mit einer 100-Prozent-Versorgung gleichgesetzt. Inzwischen sind wir aber vorangekommen. Die Versorgung hat gegenüber dem damaligen Stand 150 bis 190 Prozent erreicht; trotzdem haben wir in etlichen Gebieten immer noch Unterversorgung. Gemäß den Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfs könnten jedoch Psychotherapeutenpraxen aufgekauft und geschlossen werden, solange ein Wert von 110 Prozent der damals festgestellten Versorgung überschritten wird. Das bedeutet: Fast die Hälfte der Psychotherapeutensitze könnte zugemacht werden. Dieser Vorschlag ist doch unglaublich. (Beifall bei der LINKEN) Was wir brauchen, ist, dass endlich wissenschaftlich evaluiert wird, wie viele Ärztinnen und Ärzte, aber auch wie viel Pflegepersonal, wie viele Physiotherapeuten, Hebammen usw. für die Versorgung eigentlich notwendig sind. Grundlage dafür muss der Gesundheitszustand der Menschen und der zeitliche Aufwand sein, einen Arzt oder einen anderen Gesundheitsdienstleister zu erreichen. Sie wollen den tatsächlichen Bedarf an Ärztinnen und Ärzten aber gar nicht wissen; das erinnert Sie viel zu sehr an Planwirtschaft. Es geht hier aber um Daseinsvorsorge. Hier ist der Staat gefordert und nicht der von Ihnen so geliebte Markt. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Seit’ an Seit’ marschieren!) Unabhängig davon, ob wir nun zu viele oder zu wenige Ärzte haben, steht fest, dass die Regionen unterschiedlich gut versorgt sind. Es müssen mehr Ärztinnen und Ärzte in die offiziell unterversorgten Gebiete und weniger Ärztinnen und Ärzte in die offiziell überversorgten Gebiete. Nur wenn an diesen beiden Stellschrauben gedreht wird, können wir wirklich etwas erreichen. Nach Ansicht der Bundesregierung reicht es aber aus, vor allem finanzielle Anreize zu schaffen, damit Ärztinnen und Ärzte vermehrt in unterversorgte ländliche Bereiche gehen. Eine wissenschaftliche Studie hat aber gezeigt, dass man sie mit Geld nicht aufs Land locken kann. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Womit denn dann?) Wenn man die Versorgung gerechter organisieren will, muss man tatsächlich an die Strukturen heran, wie es der Gesetzesname verspricht, und nicht nur an die Geldschatulle der Versicherten. (Beifall bei der LINKEN – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wohl mit DDR-Ehrenmedaillen!) Wenn sich die Versorgung nicht oder nur schwer über freiberufliche Ärzte mit lebenslangen, sogar von Generation zu Generation vererbbaren Zulassungen organisieren lässt, muss man davon Abstand nehmen. Wir brauchen mehr oder eigentlich generell befristete Kassenzulassungen, und es muss viel mehr auf angestellte Ärztinnen und Ärzte gesetzt werden. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Beim Staat wahrscheinlich! Alle beim Staat! – Heinz Lanfermann [FDP]: Oh ja! Super!) Damit wären die Sitze und Anstellungen in unterversorgten Gebieten viel attraktiver und zukunftssicherer, und das starre System wäre endlich flexibilisiert, das heißt planbarer. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, genau! Unbedingt! Kubanisches Modell! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Stellen Sie die nur in Ihrer Partei ein, oder was? Wollen Sie Parteiärzte?) Wir brauchen auf dem Land mobile Arztpraxen und Shuttledienste zu Ärztezentren. So sehen moderne Strukturen aus. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ja, ja! Das wissen wir!) Natürlich muss die Landarzttätigkeit mit ihren vielen Hausbesuchen und langen Anfahrtswegen, aber auch mit ihrer sozialen Funktion adäquat vergütet werden. Nur: Ihr Vorschlag, die Abstaffelung der Leistungsmenge für Ärzte in unterversorgten Gebieten aufzuheben, ist eine Lachnummer. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Na, na!) Diese Regelung betrifft nicht einmal 40 Ärzte (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie hat das Gesetz nicht verstanden!) und bringt keinen Arzt zusätzlich aufs Land. (Beifall bei der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie haben es ja immer noch nicht verstanden! Sehr schade!) Aber Sie gehen damit hausieren – das tun Sie auch heute wieder –, als sei es das Ei des Kolumbus. Was wir brauchen, ist eine dauerhaft aufwandsdeckende Vergütung der Landärzte für ihr oft unermüdliches Engagement in dünnbesiedelten Gebieten. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was denn jetzt? Doch mehr Geld oder nicht mehr Geld?) – Ja, aber dauerhaft; das muss man wissen. – Es darf kein ständiges Hin und Her geben. (Heinz Lanfermann [FDP]: Wie? Erst kein Geld und dann dauerhaft? Das ist ja toll!) – Hören Sie ordentlich zu! (Lachen des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) Das größte Hindernis für eine gerechtere, bessere Verteilung der Ärzte ist Ihr fehlender Wille, (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, genau! Und das dauerhaft!) in offiziell überversorgten Gebieten die Arztdichte zu verringern. So sollen zum Beispiel die gerade erst eingeführten Abschläge wegfallen. Wir denken: Um für eine bessere, gerechtere Verteilung der Ärztinnen und Ärzte zu sorgen, müssen wir in den offiziell überversorgten Gebieten ansetzen. Sonst bleibt alles beim Alten. Auf Dauer müssen wir dahin kommen, dass das Geld dem Bedarf an Versorgung entsprechend in eine Region fließt und dort bleibt. (Lars Lindemann [FDP]: Ach nein! Lesen Sie doch mal den Gesetzentwurf!) Wird es nicht abgerufen, weil Ärztinnen und Ärzte fehlen, können damit andere Versorgungsformen wie mobile Praxen, Shuttledienste oder eingerichtete Praxen finanziert werden. Es ist doch ein Unding, dass das Geld gegenwärtig dorthin fließt, wo die meisten Ärztinnen und Ärzte sind, und nicht dorthin, wo die meisten Ärztinnen und Ärzte gebraucht werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich denke, Sie sollten sich, wenn Sie mir schon nicht zuhören, einmal in Ruhe den vorliegenden Antrag der Linksfraktion anschauen, in dem es darum geht, wie man zukunftsfähige Versorgungsstrukturen gestalten kann. Es lohnt sich, hineinzuschauen. (Beifall bei der LINKEN) Mein Fazit: Ihrer vollmundigen Ankündigung, eine flächendeckende Versorgung zu sichern, kommen Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht oder zumindest nicht ausreichend nach. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ala! Dann also doch!) Das ist kein Versorgungsgesetz für die Patientinnen und Patienten, sondern ein Versorgungsgesetz für die Ärzteschaft, aber nicht einmal für die Ärztinnen und Ärzte, die es am dringendsten bräuchten, sondern für den Berufsstand insgesamt. Insofern sage ich – ich bin ja erstaunt, dass Sie den Begriff „Beglückung“ übernommen haben –: Für den Berufsstand ist es ein Beglückungspaket. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie wollten doch gerade mehr Geld! Erst mehr Geld, dann nicht mehr Geld, dann Beglückung! Was denn nun?) In nicht einmal zwei Jahren Regierungszeit haben Sie es geschafft, dafür zu sorgen, dass der Bundesfinanzminister im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mitbestimmt. Eines ist doch wohl klar: Die Entscheidung, ob Geld in Banken oder in die medizinische Versorgung investiert wird, fällt bei Ihnen immer zugunsten der Banken aus. Für die gesetzlich Versicherten bleibt eine Versorgung nach Kassenlage. Eine Politik für die Menschen, die Patientinnen und Patienten und die Versicherten sieht anders aus. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Birgitt Bender. Bitte schön, Frau Kollegin Bender. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Koalition besteht unser Gesundheitswesen offensichtlich nur aus Ärztinnen und Ärzten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wie anders lässt sich erklären, dass der Bundesgesundheitsminister den Anspruch erhebt, die medizinische Versorgung, vor allem die auf dem Lande, zu verbessern, und dann einen Gesetzentwurf vorlegt, der sich nur auf eine einzige Berufsgruppe im Gesundheitswesen bezieht, nämlich auf die Ärztinnen und Ärzte? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Ohne Ärzte wird es wohl nicht gehen! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie eben eigentlich zugehört?) Herr Minister, Sie sollten vielleicht weniger Fernsehen schauen und nicht die Soapoperas mit den Landärzten zum Leitbild erheben, sondern einmal mit Ihren Fachleuten im Ministerium reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie sollten einmal die Nachrichten hören!) Dann würden Sie nämlich erfahren, dass Ihre eigenen Fachbeamtinnen und Fachbeamten im Jahre 2008 im Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz an einem Bericht zur Sicherstellung der Primärversorgung in Deutschland mitgearbeitet haben. Das ist heute unser Thema. Damals wurde errechnet, dass aufgrund der Alterung der Bevölkerung alleine bis zum Jahr 2020 15 000 zusätzliche Hausärztinnen und Hausärzte notwendig sein werden, und zwar nur, um den Status quo zu erhalten. Darin waren Versorgungsengpässe, die es in ländlichen Gegenden oder in den ärmeren Vierteln der Großstädte bereits gibt, noch nicht eingerechnet. Weiter hätten Sie, Herr Minister, dem Bericht entnehmen können, dass ein derartiger Anstieg eine Verdoppelung der jährlichen Niederlassungen innerhalb der nächsten zehn Jahre voraussetzt. Des Weiteren hätten Sie dann festgestellt, dass nach Einschätzung sowohl Ihrer eigenen Fachleute als auch der Fachleute aus den Ländern ein derartiger Anstieg in so kurzer Frist schlicht nicht möglich ist und allein schon deshalb die vorhandenen Potenziale nichtärztlicher Gesundheitsberufe, wie zum Beispiel die von Pflegekräften, zu erschließen sind. Aber genau das tun Sie nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das heißt, die steigende Nachfrage nach Hausbesuchen, nach Patientenberatung und -schulung und auch nach Unterstützung betreuender Angehöriger wird sich durch Ihr Gesetz nicht befriedigen lassen. Diese seit drei Jahren vorliegenden Erkenntnisse und Empfehlungen entsprechen auch dem, was 2007 der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen festgestellt hat. Aber davon ist in Ihren Gesetzentwurf nichts eingegangen, außer einigen Plattitüden. Man kann auch sagen: Außer Spesen nichts gewesen. Auch ist in Ihrem Gesetzentwurf keine Rede von neuen Versorgungsformen, wie etwa von Kommunen gegründeten Arztstationen, um die Versorgung auf dem Land zu verbessern. Stattdessen wird der weitere Ausbau von medizinischen Versorgungszentren, in denen Patientinnen und Patienten eine Versorgung aus einer Hand vorfinden, behindert, zum Beispiel indem Gründungswilligen der Zugang zum Kapitalmarkt versperrt wird. Stattdessen wird der Geldhahn für die Ärztinnen und Ärzte aufgedreht. Zum vierten Mal innerhalb von vier Jahren steigen die Honorarmittel für die Ärzteschaft, und das nicht etwa mit einer spezifischen Steuerungswirkung, nein, für alle, unabhängig davon, ob sie in über- oder unterversorgten Regionen praktizieren. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Völliger Quatsch!) Die bereits vor Jahren beschlossenen, aber bis heute von der Selbstverwaltung nicht umgesetzten Honorarabschläge in überversorgten Bezirken werden ersatzlos gestrichen. Wirksame Anreize hingegen für die Niederlassung auf dem Land oder in sozialen Brennpunkten gibt es keine. An fehlenden Hausbesuchen, ermüdenden Wartezeiten und langen Anfahrten zur nächsten Landarztpraxis wird dieses Gesetz nichts ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber offensichtlich – ich kann es Ihnen nicht ersparen – hat diese Regierung gar nicht vor, Probleme der Gesundheitsversorgung wirklich zu lösen. Vielmehr kämpft die FDP um ihr Überleben. Sie überlegt sich, wo sie vielleicht noch ein Klientel vorfinden und befriedigen könnte – dies könnte innerhalb der Ärzteschaft sein –, um einmal wieder 1 Prozent hinzuzugewinnen. Ich muss schon sehr ernsthaft sagen, Herr Minister: Für die Zusammenschlüsse der Ärzteschaft ist es ein absolut legitimes Anliegen, für die wirtschaftlichen Interessen ihrer eigenen Mitglieder zu kämpfen. Wenn sich aber eine Regierung dies zu eigen macht, dann ist das eine politische Bankrotterklärung. Das werfen wir Ihnen vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Christine Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss Ihnen sagen: Wenn es hier im Plenum um Gesundheitsthemen geht, freue ich mich immer schon Tage vorher darauf, hier vor Ihnen zu sprechen. Ich schaue in die netten Gesichter der Kolleginnen und Kollegen, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht bei Ihnen nur noch zwei Jahre!) vor allem auf der linken Seite, von denen unentwegt Vorwürfe kommen: Lobbyismus, Klientelpolitik und wen wir angeblich alles beglücken. Ich freue mich jedes Mal darauf. Dabei sind Sie doch eigentlich nur verärgert darüber, dass wir etwas regeln und etwas tun. Sie hingegen haben jahrelang nichts getan und immer behauptet, es müsse auch nichts getan werden. Sie ärgern sich doch nur darüber. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, unser Minister Daniel Bahr hat Ihnen soeben einen Gesetzentwurf vorgestellt, mit dem die zentralen Probleme in der Gesundheitsversorgung gelöst werden. Mit dem Gesetzentwurf gehen wir den drohenden Ärztemangel an und sorgen dafür, dass die Menschen das Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem nicht verlieren. Der Entwurf eines GKV-Versorgungsstrukturgesetzes, das wir Ihnen heute hier vorlegen, ist ein erneuter Beweis dafür, dass sich die christlich-liberale Koalition um die Sorgen der Menschen kümmert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das erzählt?) Mit unserem Gesetzentwurf verbessern wir ganz konkret die medizinische Versorgung der Patienten und rücken wir den Menschen dorthin, wo er hingehört, nämlich in den Mittelpunkt unseres Handelns. Die Menschen vor Ort werden spüren, dass ihre tatsächliche und auch erlebte Versorgungssituation besser ist als in Zeiten sozialdemokratischer Gesundheitspolitik unter Ulla Schmidt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stephan Thomae [FDP]: Das ist aber keine Kunst!) Verantwortlich dafür ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Sie müssen sich den Gesetzentwurf nur einmal durchlesen. Ich nenne vier Beispiele: Erstens. Die am Wohl des Patienten ausgerichtete Weiterentwicklung der Bedarfsplanung. Sie ist nicht zentralistisch, Frau Bunge, sondern zielgenau, flexibel und die regionalen Besonderheiten berücksichtigend, was uns besonders wichtig ist. Zweitens. Die Weiterentwicklung der Steuerung des Niederlassungsverhaltens von Ärzten. Diese ist ebenfalls flexibel und regionalisiert ausgestaltet; denn vor Ort weiß man besser, was zu tun ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drittens. Die stärkere Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung. Viertens. Die sektorenübergreifende Organisation des ärztlichen Notdienstes. Auch durch den Ausbau mobiler Versorgungskonzepte werden wir zur Sicherstellung einer flächendeckenden und bedarfsgerechten Versorgung beitragen. (Stephan Thomae [FDP]: Sehr wichtig!) Während die eine Hälfte des Hauses die Ärzte gebetsmühlenartig als eigennützige Berufsgruppe bezeichnet, die möglichst viel Geld raffen will, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Politik ist klientelorientiert! Das ist das Problem!) sehen wir es als selbstverständlich an, dass die Ärzte mit ihrem Beruf auch Geld verdienen müssen. Das ist doch wohl ganz klar. Deswegen finden wir es ganz im Gegenteil zu Ihnen auch überhaupt nicht schlimm, dass das Niederlassungsverhalten der Ärzte über finanzielle Anreize geregelt wird. Frau Bunge, ich habe es eben in einem Zwischenruf schon einmal gesagt: In der DDR gab es eine Medaille zum Ehrentitel „Verdienter Arzt des Volkes“. Ich glaube, dafür gab es 8 000 Ostmark. Insofern müsste Ihnen das eigentlich bekannt vorkommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das ist ganz was anderes!) Meine Damen und Herren, ich komme aus einer ländlichen Region in Schleswig-Holstein. Mein Wahlkreis ist Rendsburg-Eckernförde. Glauben Sie wirklich, dass ich einen jungen Arzt aus Kiel mit gutem Zureden überreden kann, sich in einer ländlichen Gegend wie zum Beispiel Brekendorf niederzulassen, nur weil dort ein Bedarf besteht? Meinen Sie, er würde sein gesamtes bisheriges familiäres und kulturelles Umfeld aufgeben, weil die Politik nach zehn Jahren Ulla Schmidt gegensteuern und den Ärztemangel auf dem Land bekämpfen muss, was wir jetzt ja tun? Das glaube ich nicht. Wir haben mit den Ärzten gesprochen und ihnen zugehört. Das rate ich Ihnen auch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich ist den Ärzten das Honorar wichtig. Man muss schließlich auch Geld verdienen; das ist völlig legitim. Deswegen schaffen wir einen finanziellen Anreiz dadurch, dass Landärzte von der Abstaffelung der Honorare ausgenommen werden, damit sie für mehr Arbeit nicht auch noch weniger Geld bekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wer den Ärzten zuhört, der wird auch feststellen, dass die Finanzen nicht das Wichtigste sind, sondern ganz besonders wichtig ist für junge Ärzte das Umfeld, in dem sie arbeiten und leben. Genau deshalb lockern wir die Residenzpflicht. Dass Mediziner dort wohnen müssen, wo sie ihre Praxis haben, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Wenn Menschen auf dem Land wohnen und in der Stadt arbeiten können, dann muss das genauso gut auch umgekehrt möglich sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine Lockerung der Residenzpflicht wird dazu beitragen, dass Mediziner ihre Lebensentwürfe stärker als bisher an der Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und Beruf ausrichten können. Das betrifft vor allen Dingen auch Frauen. Wir alle wissen ja: Die Medizin wird weiblich. Durch diese Maßnahme wird die ärztliche Versorgung auf dem Land immens gestärkt. Nicht nur unsere konkreten Schritte zur Verbesserung der medizinischen Versorgung sind wegweisend, sondern auch der Geist dieses Gesetzentwurfs und der Mentalitätsunterschied zu den Ansätzen der Opposition sind im besten Sinne bemerkenswert. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir setzen eben nicht auf Zwang, wie es der SPD-Mentalität entsprechen würde, sondern wir setzen auf Anreize und Motivation. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Wir sagen nicht einfach: Geh aufs Land! Mach, dass du dort hinkommst! – Vielmehr bieten wir Anreize, sich in unterversorgten Regionen niederzulassen. Wir ermutigen und bestärken junge Mediziner, sich bewusst auf dem Land niederzulassen, weil es eben nicht mit Nachteilen verbunden sein wird, weil es eben nicht unattraktiv ist, sondern gewürdigt wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie werden es erleben: Wenn unser Versorgungsstrukturgesetz in Kraft ist, werden Sie zugeben müssen, dass Ihre verbale Geisterfahrt völlig unangemessen war. Wir machen nämlich kein Ärztebeglückungsgesetz. Unser Minister macht ein Patientenbeglückungsgesetz. Das werden Ihnen die Patienten demnächst bestätigen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dr. Marlies Volkmer. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Volkmer. (Beifall bei der SPD) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Menschen in unserem Land müssen sich darauf verlassen können, eine gute medizinische Versorgung zu bekommen, ganz gleich, ob sie in Ballungsgebieten der Großstadt oder auf dem Land leben. Dazu gehört die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt. All das muss unter den Bedingungen der Demografie in einer älter werdenden Gesellschaft erbracht werden. Ein Versorgungsgesetz muss sich daran messen lassen, wie es diese Ziele umsetzt. Ich sage von vornherein: Dieser Gesetzentwurf wird den Zielen nicht einmal im Anspruch gerecht, (Beifall bei der SPD) denn man kann die Anforderungen von morgen nicht mit den Strukturen von gestern lösen. Zu klären ist doch: Was müssen wir in unserem Gesundheitssystem verändern? Wie müssen wir die Strukturen gestalten, damit wir tatsächlich zu einer bedarfsgerechten Versorgung kommen? Dabei ist die Frage entscheidend: Wie ist der Zugang in dieses Gesundheitssystem? Im geltenden Gesetz haben wir das geregelt. Wir hatten noch niemals so viele Medizinerinnen und Mediziner im Lande wie heute. Trotzdem wissen wir alle aus der Praxis, dass Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten haben, Termine beim Facharzt zu bekommen. Sie haben Schwierigkeiten, einen Hausarzt zu finden, wenn ihr bisheriger Hausarzt in Rente geht. Das liegt an vielem, aber es liegt auch daran, dass wir in den strukturschwachen Regionen eine Unterversorgung und in den Ballungsgebieten häufig eine Überversorgung haben. Ein Versorgungsgesetz muss für eine bessere Verteilung der Ärzte sorgen. Dazu gehört es, Überversorgung abzubauen, und zwar wirksam. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Das ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Inzwischen fordern auch Teile der Ärzteschaft, gesetzlich zu regeln, dass überflüssige Praxen nicht wiederbesetzt, sondern aufgekauft werden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist es doch! Lesen Sie doch zur Abwechslung mal das Gesetz!) Freiwilligkeit nützt hier nichts. Damit kommen Sie nicht weiter. Der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung wird dazu führen, dass der Ärztemangel regional sogar noch verstärkt wird, nämlich durch die Regelung für die spezialärztliche Versorgung. (Beifall bei der SPD) Ich will es ganz klar sagen: Sie sehen in Ihrem Gesetzentwurf vor, für die spezialärztliche Versorgung jegliche Bedarfsplanung und jegliche Mengenbegrenzung abzuschaffen. Das heißt, ein Arzt kann seine Leistungen überall im Lande erbringen, und zwar ohne Mengenbegrenzung. Wer kann, der darf. (Hilde Mattheis [SPD]: Genau!) Ich muss keine Hellseherin sein, um vorauszusagen, was passieren wird: Die Ärzte werden danach drängen, in die spezialärztliche Versorgung zu gehen. Das hat zwei Folgen. Die eine Folge ist – das wissen Sie ganz genau – eine deutliche Verteuerung dieses Gesundheitssystems. Zu bezahlen haben es die Versicherten allein, nämlich durch Zusatzbeiträge. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Die zweite negative Folge ist: Der Anreiz von Medizinstudenten, sich zum Allgemeinmediziner ausbilden zu lassen, sinkt. Dadurch wird es nicht mehr, sondern weniger Hausärzte geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist gegen die Interessen der Patientinnen und Patienten, und es ist auch gegen die Interessen vieler Ärztinnen und Ärzte. Um Überversorgung abzubauen, müssen außerdem die Honorarzuschläge in unterversorgten Gebieten Honorarabschlägen in überversorgten Gebieten gegenüberstehen. Sie haben von einem Blumenstrauß an finanziellen Anreizen gesprochen, den Sie Ärzten zur Verfügung stellen wollen, die sich auf dem Land niederlassen. Mit diesem Blumenstrauß werden Sie nicht viel erreichen. Denn es sind nicht in erster Linie finanzielle Gründe, die Ärzte daran hindern, eine Landpraxis zu übernehmen oder zu gründen. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das haben wir auch nicht gesagt! Sie haben mal wieder nicht zugehört!) Ein wesentlicher Grund ist vielmehr, dass sie nicht als Einzelkämpfer rund um die Uhr für ihre Patienten verantwortlich sein wollen. Da ist es sehr schwer, Beruf und Familie zu vereinbaren. (Beifall bei der SPD) Sie wollen auch Zeit für eine kontinuierliche Fortbildung und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen haben. Deswegen liegt es auf der Hand, dass wir Strukturen brauchen, die mehr Teamarbeit ermöglichen. Integrierte Versorgungskonzepte und medizinische Versorgungszentren auch in Krankenhäusern sind gerade in den strukturschwachen ländlichen Regionen extrem wichtig. Mit dem Gesetzentwurf tun Sie aber nichts, um diese Strukturen zu verbessern. Sie erschweren vielmehr die Gründung von medizinischen Versorgungszentren und ihr Fortbestehen. Das ist zwar durchaus im Interesse der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, aber es ist gegen die Interessen von Patientinnen und Patienten und auch in diesem Fall wieder gegen die Interessen vieler Ärztinnen und Ärzte. Es ist auch an der Zeit, nichtärztliche Gesundheitsberufe stärker einzubinden. Ihre Forderung an den Gemeinsamen Bundesausschuss, eine Liste delegierbarer Leistungen zu erstellen, ist bloß ein Feigenblatt. Ärzte können doch schon heute Leistungen delegieren. Das wird auch praktiziert. Viele Maßnahmen der Bundesregierung kranken daran, dass Sie den Arzt immer noch als Einzelkämpfer sehen. Das ist aber überholt. Zusammenfassend stelle ich fest: Der Gesetzentwurf verbessert die Versorgung nicht, er verteuert sie aber. Die steigenden Kosten sind allein durch die Versicherten über Zusatzbeiträge aufzubringen. Der Entwurf dieses Gesetzes mit dem wohlklingenden Namen Versorgungsstrukturgesetz oder, wie ich heute gelernt habe, Patientenbeglückungsgesetz (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja! Genau!) ist nichts anderes als eine teure, schillernde Seifenblase, die schon beim bloßen Hinsehen zerplatzt. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt spricht als Nächster für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Jens Spahn. Bitte schön, Kollege Jens Spahn. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Jens Spahn (CDU/CSU): Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte schadenfroh sein, Herr Kollege Lauterbach und Frau Kollegin Volkmer, wenn man sieht, wie Sie sich hier winden müssen, (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Ich winde mich nicht!) um Argumente zu suchen und Haare in der Suppe zu finden. Denn Sie wissen genau, dass Sie das, was wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz angehen und was im Grunde die Debatte fast der letzten zehn Jahre über die Versorgung im ländlichen Raum widerspiegelt, in den vergangenen Jahren längst hätten tun müssen. Es wurmt Sie, dass wir das jetzt tun. Deswegen suchen Sie mit aller Gewalt und mit zum Teil etwas verqueren Argumentationen das Haar in der Suppe. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn in der letzten Legislaturperiode regiert?) Ärgern Sie sich nicht! Arbeiten Sie konstruktiv mit, damit der Gesetzentwurf in den Beratungen im Deutschen Bundestag noch besser wird! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben im letzten Jahr die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung neu geregelt. Wir haben eine zusätzliche Einnahmequelle jenseits einer lohnabhängigen Finanzierung gefunden, die tragfähig und auf Dauer angelegt ist. In diesem Jahr geht es, nachdem wir im letzten Jahr die Finanzierung besprochen haben, im Schwerpunkt um die Frage, was mit dem Geld passiert. Wie können wir die beiden entscheidenden Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitswesens, die uns deutlich von allen anderen Ländern in Europa und auf der Welt unterscheiden, auch für die Zukunft sichern? Diese beiden Merkmale sind erstens der schnelle Zugang zu Innovation – man findet kaum noch ein Land, in dem ein neu zugelassenes Medikament erstattungsfähig ist; die Erstattungsfähigkeit in Deutschland beizubehalten, ist uns wichtig, weil sie für viele Patienten, etwa für krebskranke, die Hoffnung auf Leidminderung bedeutet – und zweitens eine flächendeckende Versorgung; Spitzenmedizin darf nicht nur in München oder in Hamburg angesiedelt sein, sondern es muss sie auch andernorts geben; wir wollen, dass es überall rund um die Uhr einen guten Zugang zur Versorgung gibt. Die Sicherung dieser beiden Qualitätsmerkmale ist das eigentliche Ziel dessen, was wir hier tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es geht hier heute um ein – dieser Begriff ist zu Recht verwandt worden; mit dem Wort „Patientenbeglückungsgesetz“ tue ich mich allerdings schwer – Patientengesetz. Das ganze Jahr schon stellen wir den Patienten und seine Bedürfnisse, seinen Blick, seinen erlebten Versorgungsalltag in den Mittelpunkt. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Richtig!) Wir haben in diesem Jahr schon das Krankenhaushygienegesetz verabschiedet. Es enthält Regelungen in Bezug auf das Thema: Wie ist eigentlich der Zustand im Krankenhaus? Kommt man aus dem Krankenhaus kränker heraus, als man hineingegangen ist, weil man sich Infektionen zugezogen hat? Wir reden noch über das Patientenrechtegesetz. Die Eckpunkte stehen bereits fest. Es wird gerade am Gesetzentwurf gearbeitet. Wir wollen die Patienten und ihre Rechte stärken. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das aktuelle Gesetz scheint nicht viel zu bieten!) Natürlich steht im Mittelpunkt all dieses Tuns die Absicht, sich anzuschauen, wie ein Patient die Versorgung auf Grundlage dieses Versorgungsgesetzes erlebt. Ein großes Thema in diesem Zusammenhang ist – das ist hier schon angesprochen worden – die flächendeckende Versorgung. In einer 20 000Einwohner-Stadt wie Gescher im Münsterland, meiner Heimatregion, gibt es noch sieben Hausärzte. Wenn man dort eine Veranstaltung zum Thema Patientenversorgung durchführt, kommen 200 Menschen. Die Menschen dort wissen nämlich: Von den sieben Hausärzten dort sind fünf über 55 Jahre. Da man weiß, dass es für Hausärzte im Moment nicht attraktiv ist, aufs Land zu gehen, bewegen die Menschen die Fragen: Was ist eigentlich in zehn Jahren? Was tun die Politiker gegen diese mangelnde Attraktivität? (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bieten doch gar keine Antwort für das Problem! Das ist doch nichts!) Es geht hier nicht um ein Ärztegesetz. Man bringt eine gute Versorgung der Menschen nur mit den Menschen zustande, nicht gegen sie. Wir denken von den Sorgen der Menschen her, wenn wir über diese Maßnahmen an dieser Stelle reden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ansetzen muss man bei der Definition des Istzustandes. Sie haben recht: Die heutige Bedarfsplanung funktioniert nicht. Sie wurde in den 1990er-Jahren zu Zeiten der Ärzteschwemme diskutiert. Aus den uns vorliegenden Zahlen lässt sich die Frage, ob eine Region gut versorgt ist oder nicht, nicht angemessen beantworten. Deswegen führen wir eine neue Bedarfsplanung durch. Wir schauen dabei nicht mehr nur in die Landkreise oder Städte, sondern wir gehen kleinräumiger vor, damit wir genau wissen, wo im Land es einen Versorgungsbedarf gibt. Das Ganze ist übrigens nicht nur – vieles in dieser Debatte war für mich arg verkürzt – ein Stadt-Land-Problem. Natürlich gibt es bei uns im Münsterland, in der Eifel, in Mecklenburg-Vorpommern und in vielen anderen Gegenden Versorgungsprobleme. Aber diese Probleme gibt es auch in den Städten. Vielleicht sollten wir auch darüber einmal eine Diskussion führen. In Berlin-Neukölln gibt es zwar die meisten Kinder, aber in Berlin-Charlottenburg gibt es die meisten Kinderärzte. Auch in den Städten gibt es also Verteilungsprobleme. Auch da müssen wir entsprechende Anreize setzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man die Überversorgung auch angehen!) – Wenn das Einzige, was Ihnen zum Thema „flächendeckende Versorgung“ einfällt, der Abbau von Überversorgung ist, dann ist das aber arg wenig; das muss ich Ihnen sagen. Das in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, wird dem Thema nun wirklich nicht gerecht, zumal Sie genau wissen, dass wir dieses Problem angehen. Jetzt komme ich zum Thema „flächendeckende Versorgung“. Frau Kollegin Bunge, ich muss mich schon sehr wundern. Ich finde es gut, dass wir in einem freiheitlichen Staat leben, in dem jeder selbst entscheiden kann, wo er eine Praxis eröffnet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie sprachen auch von angestellten Ärzten. Ich weiß nicht, ob Sie damit eine Art kubanisches Modell „angestellte Parteiärzte“ meinen. Wir jedenfalls haben ein Bild von freiberuflichen Ärzten, die natürlich selbst entscheiden, wo sie sich in unserem freien Land niederlassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss über Anreize reden, durch die es attraktiv wird, sich auf dem Land niederzulassen. Über ein Staatsdekret geht das seit 1990 glücklicherweise jedenfalls nicht mehr. Aus den beschriebenen Gründen reden wir über solche Anreize. Dazu gehören finanzielle Anreize. Selbstverständlich muss es sich finanziell lohnen, aufs Land zu gehen; schließlich muss man dort viel mehr arbeiten als in der Stadt: Praxen sind länger voll; man ist womöglich der einzige Arzt weit und breit. In Mecklenburg-Vorpommern etwa muss man für einen Hausbesuch zum Teil 30 Kilometer fahren. Auf dem Lande hat man wegen der Zersiedelung und der Kleinräumigkeit weitere Wege. Hinzu kommen andere wichtige Rahmenbedingungen. Geld allein wird es nicht richten; da haben Sie recht. In diesem Zusammenhang geht es um die bereits angesprochene Residenzpflicht: Muss ein Arzt in der Nähe seiner Praxis wohnen, oder ist es ihm gestattet, in der Stadt zu wohnen und auf dem Land zu arbeiten? Darüber hinaus geht es um die Organisation von Notdiensten. Ärzte auf dem Land haben zweimal im Monat am Wochenende Notdienst, Ärzte in der Stadt hingegen nur ein Mal im halben Jahr. Angesichts dessen kann, glaube ich, jeder verstehen, dass dieser Aspekt für eine junge Ärztin oder einen jungen Arzt ein Kriterium bei der Beantwortung der Frage ist, ob man aufs Land oder in die Stadt geht. Deswegen ist nicht nur Geld ein Thema, sondern es müssen auch viele andere Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Genau das tun wir mit diesem Gesetz. Es enthält viele Maßnahmen – größere wie kleinere –, um es insgesamt attraktiver zu machen, sich als Arzt in schwierigen Stadtteilen oder im ländlichen Raum niederzulassen. Wir blicken vor allem auf den Arzt, weil auf Dauer der beste Apotheker ohne einen Arzt in der Nähe es nicht schafft. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit den anderen Gesundheitsberufen?) Eine Apotheke ohne Rezept funktioniert nicht gut. Die Diskussion darüber, wie wir eine flächendeckende Versorgung mit Ärzten hinbekommen, ist nichts anderes als eine Vorbotendebatte über die Frage, wie wir insgesamt eine gute medizinische Versorgung der Bevölkerung hinbekommen. Es wäre gut, wenn Sie sich etwas konstruktiver und etwas weniger plakativ in diese Debatte einbringen würden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiteres Thema, das die Menschen auf allen Veranstaltungen wahnsinnig bewegt, sind die Wartezeiten, wenn es darum geht, einen Facharzttermin zu bekommen. Zum Teil gibt es objektive Probleme. Bei uns im Münsterland etwa ist die Zahl der Neurologen im Moment leider noch sehr überschaubar. Deswegen muss man dort als Parkinsonpatient fünf, sechs Monate auf einen Termin zur Neueinstellung der Medikamente warten. Zum Teil gibt es auch subjektive Probleme, wie man sie aus den großen Städten kennt. Herr Kollege Lauterbach, da unterscheiden wir uns sehr deutlich. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie in den letzten Monaten die Unterschiede so deutlich gemacht haben. Sie wollen mit Strafen arbeiten. Der Arzt, der nicht innerhalb von zwei, drei Wochen einen Termin anbietet, soll 20 000 Euro – oder wie viel auch immer – Strafe zahlen. Nach Ihrem Arztbild müssen die Ärzte gezwungen werden, die Menschen zu versorgen. Sie tun so, als ob die Ärzte gar nichts mit Patienten zu tun haben wollten. Das ist nicht unser Arztbild. Wir wissen, dass wir eine gute Versorgung der Menschen nicht gegen die Ärzte, sondern nur mit den Ärzten hinbekommen. Es ist schön, dass Sie diesen Unterschied zwischen uns im Zusammenhang mit den Maßnahmen, die wir ergreifen wollen, deutlich gemacht haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen bei den Wartezeiten auf gemeinsame Vereinbarungen setzen, aus denen hervorgeht, wie die Abläufe zu erfolgen haben, wann ein Hausarzt einen Patienten an den Facharzt überweist, wie schnell Termine zu finden sind. Ärzte und Krankenkassen sollen vertragliche Rahmenbedingungen vereinbaren. Natürlich geht es dabei auch um Vergütungsstrukturen. Es muss sich lohnen, sich um schwierige Fälle zu kümmern und einen Patienten intensiv zu untersuchen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es dürfen nicht einmal im Quartal nur leichtere Fälle einbestellt werden, weil dann die pauschale Finanzierung ausgelöst wird. Wir müssen also über die Anreize reden und dürfen die Ärzte nicht pauschal diffamieren, wie Sie das tun. Wir haben hier einen anderen Ansatz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiteres Thema, das die Menschen bewegt, ist das Entlassungsmanagement im Krankenhaus. Wenn ich als Patient am Freitagnachmittag nach einer Hüftoperation das Krankenhaus verlasse, dann möchte ich mich nicht fragen müssen, was jetzt passiert. Es gibt schon viele Häuser, in denen das sehr gut klappt. Aber es gibt auch viele, in denen es noch Probleme gibt. Es geht dabei um folgende Fragen: Wie geht es nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weiter, ambulante Pflege oder stationäre Pflege? Gibt es eine Familie, die den Patienten auffängt, oder lebt der Patient allein? Wie geht es mit der Medikation weiter? Braucht der Patient vielleicht ein Rezept für die Physiotherapie oder für ein Arzneimittel? Bislang sind all diese Fragen zu oft ungeklärt. Wir sagen: Das muss besser laufen. Das Einfachste ist eine bessere Kommunikation zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten. Aber auch zwischen Haus- und Fachärzten muss es besser laufen. Deswegen wollen wir vernetzte Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit. Der Patient soll einen Anspruch darauf haben, dass zwischen Krankenhaus und niedergelassenem Arzt eine Kommunikation stattfindet. Das wollen wir regeln. Dabei setzen wir aber nicht auf Strafen, sondern auf Anreize; denn wir glauben, dass das die Versorgung letztlich verbessert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Spahn, der Kollege Dr. Lauterbach möchte eine Zwischenfrage stellen und damit Ihre Redezeit verlängern. Gestatten Sie dies? Jens Spahn (CDU/CSU): Mit Freuden. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sie haben die Problemlage beschrieben, (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Richtig beschrieben!) zum Teil nicht falsch. Aber Sie haben aus meiner Sicht zum Gesetzentwurf eigentlich nichts gesagt. Daher greife ich das einzige konkrete Beispiel auf, das Sie genannt haben. Sie haben gesagt, dass man als Parkinsonpatient in Münster – wenn man so will, in Ihrer Heimatstadt – auf einen Termin für die Neueinstellung der Medikamente sechs Monate warten muss. Was ändert denn Ihr Gesetzentwurf, den wir heute beraten, an diesem konkreten Fall? Meines Erachtens ändert sich dadurch nichts. Münster ist die Stadt, die vom Kollegen Bahr und Ihnen sozusagen mit betreut wird. In dem einzigen Fall, den Sie als Beispiel genannt haben, ändert sich durch das Gesetz aus meiner Sicht nichts. Jens Spahn (CDU/CSU): Erstens, Herr Kollege Lauterbach, ist es immer hilfreich, die Wörter bis zum Ende zu hören. Ich habe vom Münsterland gesprochen. Der Kollege Bahr kommt aus der Stadt Münster. Ich komme aus den Weiten des Münsterlandes. Die Stadt Münster ist hervorragend versorgt – manche sagen sogar: überversorgt –, während es in den Weiten des Münsterlandes ganz anders aussieht. Bei uns, 50 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt, ist es deutlich schwieriger, Ärzte zu finden, die sich dort niederlassen. Insofern ist diese Unterscheidung schon einmal wichtig. Also: Genau zuhören! Zweiter Punkt: Was ändert dieses Gesetz? Natürlich ändert es etwas, weil die Unterversorgung, die die Menschen täglich erleben und die tatsächlich vorhanden ist, aufgedeckt wird – das ist heute nicht der Fall, weil die Statistik so schlecht ist – und eine bessere Vergütung der Ärzte geplant ist, die sich in Regionen wie dem Münsterland niederlassen, die schlecht versorgt sind. Die Frage, wer eigentlich in der Arztpraxis sitzt – das betrifft die Zusammenarbeit der Ärzte untereinander – (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage wird nicht beantwortet!) – doch; hören Sie einmal genau zu, Herr Kollege Kuhn –, hat mit den Vergütungsstrukturen zu tun. Wenn es nur Pauschalvergütungen gibt, dann ist das ein Anreiz dafür, möglichst viele Patienten mit leichten Krankheiten einmal im Quartal zu bestellen. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Was haben Sie für ein Bild von den Ärzten! Als ginge es nur um das Geld!) Wenn es aber die Möglichkeit der Einzelleistungsvergütung gibt, dann stellt das einen Anreiz dar, sich als Facharzt in unterversorgten Gebieten niederzulassen. Wir haben viele konkrete Punkte aufgegriffen. Man hat aber schon an Ihrer Rede gemerkt, dass Sie den Gesetzentwurf nicht besonders intensiv gelesen haben. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Den habe ich genau gelesen!) Sie können das aber bei den Beratungen in den nächsten Wochen noch nachholen, Herr Kollege Lauterbach. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine Eiernummer! Spahn eiert! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die schlechte Nachricht ist: Für das Münsterland ändert sich nichts!) Auch das Thema Regress beschäftigt die Menschen. Dabei geht es nicht nur um die Ärzte. Vielmehr haben die Patienten Angst, dass ihnen ihr Arzt aus Angst vor Regressforderungen nicht die Medikamente verschreibt, die er wirklich braucht. Mit dieser Angst der Patienten müssen wir umgehen. Wir können doch nicht nur mit den Achseln zucken, sondern wir müssen darauf reagieren. Wir wollen den Ärzten die Angst vor dem Regress nehmen, sie aber trotzdem zu wirtschaftlichem Verordnen anhalten; denn es soll nichts verschwendet werden. Deswegen muss das Prinzip „Beratung vor Regress“ und „Beratung vor Bestrafung“ gelten, damit der Arzt keine Angst haben muss, wenn er Medikamente verschreibt, und vor allem der Patient sicher sein kann, dass er das bekommt, was er braucht. Wir tun mit vielen Einzelmaßnahmen etwas für die Patienten. Diese Beispiele machen das sehr deutlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Abschließend kann man mit Fug und Recht sagen, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blühende Landschaften im Münsterland!) dass wir mit diesem Gesetzentwurf die erlebte Versorgungsrealität des Patienten in den Mittelpunkt stellen. Erstmals seit 10, 15 Jahren ist dies auch der Entwurf eines Gesetzes im Gesundheitswesen, das kein Spargesetz ist, sondern durch das Strukturen verändert werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es geht darum, wofür wir wie viel Geld ausgeben, um die Versorgung der Patienten zu verbessern. Ich verstehe, dass Sie sich ärgern und etwas schmallippig sind, weil wir diese Dinge anstoßen, während Sie zehn Jahre lang nur darüber geredet haben. (Zurufe von der SPD: Oh! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange regieren Sie denn schon? Das sind jetzt schon sechs Jahre!) Es wäre schön, wenn Sie sich in den nächsten Wochen konstruktiv in diese Debatte einbringen würden. Sie haben noch viele Gelegenheiten dazu. Ich sage Ihnen eines zu: Vizepräsident Eduard Oswald: Das war doch schon ein wunderbarer Schlusssatz. Jens Spahn (CDU/CSU): Wenn Sie zur Abwechslung einmal einen konstruktiven Vorschlag machen, greifen wir ihn gerne auf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Harald Terpe. Bitte schön, Kollege Dr. Terpe. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer nach den bisherigen enttäuschenden Gesundheitsgesetzen der schwarz-gelben Koalition einen gesundheitspolitischen Aufbruch erwartet hat, der wird auch diesmal enttäuscht: Trippelschrittchen in die Zukunft und weit ausholende Schritte in die Vergangenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Geht es auch mal konkret?) Nun will ich nicht behaupten, dass der Gesetzentwurf überhaupt keine für die Versorgung sinnvollen Einzelregelungen enthält. Es ist manches darunter, wofür Sie unsere konstruktive Unterstützung haben. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist schon mal ein Ansatz! – Weiterer Zuruf von der FDP: Das hören wir gern!) Ich nenne beispielsweise die Überarbeitung der ärztlichen Bedarfsplanung mit regionalem Bezug, die Lockerung der Residenzpflicht, die Datengrundlage für die Versorgungsforschung und nach meiner Meinung – trotz aller Unbestimmtheit – im Grundsatz auch die Schaffung der spezialärztlichen Versorgung. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Na, guck!) Aber gemessen an dem, was zur Verbesserung der Versorgung eigentlich getan werden müsste, ist dieser Gesetzentwurf ein Flop. Wir wissen, dass durch den demografischen Wandel die Zahl der chronisch und mehrfach erkrankten Patientinnen und Patienten zunehmen wird, vor allem in ländlichen Räumen. Deshalb wird sich die Art der Versorgung ohnehin ändern müssen, und zwar weg von der rein arztzentrierten Behandlung hin zu einer ganzheitlichen Versorgung der Patientinnen und Patienten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dazu liegen zahlreiche Studien vor. Beispielsweise hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wiederholt darauf hingewiesen, dass schon heute ein erheblicher Verbesserungsbedarf in der gesundheitlichen Versorgung besteht. Dabei geht es nicht nur um die erlebte Versorgungsqualität – ohne Frage ein wichtiger Punkt –, sondern es geht auch um tiefgreifende Strukturveränderungen. Es geht um eine Stärkung der integrierten Versorgung, damit endlich die überkommene Grenze zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Krankenhäusern überwunden wird. Es geht um eine andere Aufgabenverteilung, um bessere Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen und um eine Stärkung der Primärversorgung. Meine These lautet, dass sektoren- und professionenübergreifende Versorgungsstrukturen die besten Chancen für eine nachhaltig gute Versorgungsqualität bieten. Der Sachverständigenrat hat auch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Anreize in unserem Gesundheitswesen nicht stimmen. Der gesunde Patient lohnt sich für den Arzt überhaupt nicht. Es geht nur noch darum, möglichst viele Leistungen zu erbringen. Das führt zu einer häufig entseelten, nicht am Gesundheitsnutzen der Patientinnen und Patienten orientierten Medizin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es tut mir leid: Ich sehe in diesem Gesetzentwurf wenig oder nichts, durch das dieses spezifische Problem auch nur im Ansatz zu lösen wäre. Stattdessen öffnen Sie die Tür für größtenteils unkonditionierte Honorargeschenke an Ihre vermeintliche Klientel. Ich glaube, es werden mehr Anreize für eine bessere Versorgung, gerade im Primärbereich, gebraucht; gebraucht wird nicht die Belohnung der cleversten Leistungsausweitung. Honorare ja, aber leistungsgerecht und transparent. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ähnlich verfahren Sie mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Auch dort stärken Sie die finanziellen Interessen der Leistungserbringer. Künftig wird es noch schwerer sein, Behandlungsmethoden auszuschließen, die uns alle nur Geld kosten, für die Patientinnen und Patienten aber keinen gesundheitlichen Nutzen bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass unsolidarische Politik zulasten vieler und zum Nutzen weniger leider Tradition in der FDP hat. (Widerspruch bei der FDP) Der Vorgänger im Amt des Gesundheitsministers, Herr Rösler, hat bei der Verabschiedung des GKV-Finanzierungsgesetzes im vergangenen Jahr an dieser Stelle beklagt, dass im Gesundheitswesen reglementiert werde, wer wann welche Leistung bei wem an welchem Ort erbringen dürfe oder eben nicht. Deshalb muss hier gefragt werden: Warum und zu wessen Nutzen reglementieren Sie eigentlich, wer in Deutschland ein Medizinisches Versorgungszentrum gründen darf? Sollen die MVZ in Kliniken gar ausgebremst werden? Warum begrenzen Sie sogar die Wahl der Rechtsform eines solchen Versorgungszentrums? Von den 1 700 MVZ sind ganze 5 MVZ in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Trotzdem wird Zeit darauf verschwendet, eine Regelung für diese fünf Fälle zu treffen. Ich finde, das ist Placebopolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zustimmung der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Auch andere Regelungen in diesem Gesetzentwurf sind mehr als dürftig. Sie rühmen sich unter anderem damit, dass Ärztinnen und Ärzte in unterversorgten Regionen künftig keine Angst mehr vor Honorarkürzungen haben müssen. Wir haben dazu in einer Kleinen Anfrage nachgefragt. Daraufhin wurde uns gesagt: Diese gesetzliche Regelung würde im Grunde aktuell 37,3 Ärztinnen und Ärzte betreffen. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass Hausärztinnen und Hausärzte in den wirklich unterversorgten Regionen eigentlich ohnehin keine Honorarkürzungen haben, dann betrifft das nur noch 7,3 Ärztinnen und Ärzte. (Lachen des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Es ist also auch eine Regelung, die im Grunde kaum eine Bedeutung hat. Wir sind dann bei der Frage, die auch schon aufgeworfen worden ist: Wie gehen wir mit der Unterversorgung um – das ist das Wichtigste bei diesem Thema –, aber auch mit der Überversorgung? Dazu ist schon ein Beispiel genannt worden: Wir müssen uns darum kümmern, wie hier in der Stadt die Charlottenburger Kinderärzte nach Neukölln kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist das!) Abschließend: Dieser unzulängliche Gesetzentwurf bräuchte im Verfahren eine grundlegende Neuorientierung, nämlich eine Orientierung an den Patientinnen und Patienten und nicht am monetären Nutzen einzelner Leistungserbringer. Dafür hätten Sie jedenfalls unsere volle Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Lothar Riebsamen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor der Sommerpause haben wir den Entwurf des Krankenhaushygienegesetzes vorgelegt, und kurz nach der Sommerpause, also heute, legen wir den Entwurf des Versorgungsstrukturgesetzes vor. Sie können erkennen, dass wir bei beiden Gesetzentwürfen die Versorgungsqualität der Menschen in Deutschland in den Fokus rücken. Sie können auch erkennen, dass der Gesetzgebungsprozess des vergangenen Jahres – es ging darum, die GKV-Finanzierung auf der Einnahmeseite wie auf der Ausgabenseite auf sichere Beine zu stellen – kein Selbstzweck war. Damit haben wir sozusagen Mittel freigeschaufelt, um die Versorgungsqualität, die in Deutschland weitestgehend gut ist, zu sichern. Dort, wo sie weniger gut ist – in ländlichen Räumen, aber auch in manchen Stadtbezirken –, soll sie deutlich verbessert werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf orientieren wir uns an der Lebenssituation der Patientinnen und Patienten, aber auch an der Lebenssituation der Ärztinnen und Ärzte im 21. Jahrhundert, an den Strukturen unseres Gesundheitssystems, insbesondere in den Sektoren und an deren Grenzen. Entscheidende Weichenstellungen sind in diesem Zusammenhang im Bereich der Bedarfsplanung vorgesehen. Wir wollen weg von einer eher zentralen Bedarfsplanung hin zu einer dezentralen Bedarfsplanung. Die Fachleute vor Ort kennen die Situation. Sie wissen, wie viele Kilometer es bis zum nächsten Hausarzt, Facharzt oder Krankenhaus sind. Es ist wichtig, diese Bedarfsplangrenzen nicht an politischen Grenzen festzumachen, sondern an Grenzen, die an der Vernunft und am Wissen der Fachleute vor Ort orientiert sind. Es ist folgerichtig, dass die Länder erheblich mehr Mitwirkungsrechte bekommen. In den Landesausschüssen werden Sie mitberaten können. Die Bedarfsplanung ist den Ländern vorzulegen. Sie werden auch beim Gemeinsamen Bundesausschuss ein Mitspracherecht bekommen. Bei der Umsetzung werden allerdings nicht nur die Länder einbezogen, sondern auch die Gemeinden. Wenn die Kassenärztlichen Vereinigungen gemeinsam mit den Gemeinden erkennen, dass die Notwendigkeit besteht, eine Versorgungslücke zu schließen, können die Gemeinden eigene Einrichtungen betreiben. Neben der Bedarfsplanung geht es um die sektorübergreifende Versorgung und um deren Ausbau. Hier entstehen zusätzliche Möglichkeiten, insbesondere im spezialärztlichen Bereich. Jeder, der eine entsprechende medizinische Leistung erbringen kann – die Betonung liegt auf „kann“; die Qualität der Behandlung ist die erste und wichtigste Voraussetzung – darf behandeln. In beiden Sektoren muss die gleiche Leistung erbracht werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir orientieren uns an der Lebenssituation der Ärztinnen und Ärzte, die sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Wir haben in den medizinischen Berufen derzeit mehr Abgängerinnen als Abgänger zu verzeichnen. Deswegen spielt es eine besondere Rolle, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Auch in diesem Zusammenhang spielen die Sektoren eine Rolle. Es ist eine Erleichterung für Männer wie für Frauen, wenn zum Beispiel die niedergelassenen Ärzte bei der notärztlichen Versorgung nicht auf sich alleine gestellt sind, sondern wenn großräumiger gedacht wird und auch Krankenhäuser einbezogen werden und damit die Wochenenden und die Nächte bei der Notversorgung freigestellt sind. Eine weitere Erleichterung für Ärztinnen, die entbunden haben, sind die Entlastungsassistenten, die künftig für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren eingestellt werden können. Auch die Residenzpflicht wurde angesprochen. Leider ist es natürlich so, dass nicht alle Ärztinnen und Ärzte, die grundsätzlich bereit sind, ihren Beruf im ländlichen Raum oder in bestimmten Stadtbereichen auszuüben, dort auch leben und wohnen wollen. Es geht auch um die Situation der Ehegatten bzw. um die Arbeitsplatzfindung der Ehegatten. Deswegen macht es Sinn, die Residenzpflicht nicht mehr vorzusehen. Außerdem haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen, dass Aufgaben vom ärztlichen Bereich an den Pflegebereich delegiert werden können. Auch dies ist eine Erleichterung insbesondere für die Versorgung des ländlichen Raums. Natürlich geht es auch um wirtschaftliche Anreize. Es geht darum, dass es dort, wo es zu viele Arztsitze gibt, erleichtert wird, diese aufzukaufen. Ferner geht es darum, die Honorarverteilung vor Ort dezentral vorzunehmen, sodass den örtlichen Gegebenheiten besser Rechnung getragen wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dabei spielt die Abstaffelung, die heute schon mehrfach angesprochen worden ist, eine ganze besondere Rolle. Es geht nicht darum, wie die Abstaffelung heute aussieht, sondern es geht darum, wie sich die Abstaffelung entwickeln wird. Nehmen wir beispielsweise eine Gemeinde mit 3 000 Einwohnern und zwei Ärzten. Wenn ein Arzt in den Ruhestand geht und nur noch ein Arzt übrig bleibt, so wird dieser selbstverständlich mehr arbeiten müssen als vorher. Das soll nicht bestraft werden. Das wollen wir mit dieser Abstaffelung belohnen. Darum geht es. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit diesem Gesetz sorgen wir für eine Verbesserung der heutigen Situation. Vor allem aber werden wir die Aufgaben erfüllen, die uns erwarten. Die Situation wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung und der Morbiditätsentwicklung natürlich ein Stück weit dramatisieren. Wir begegnen dieser Problematik und werden mit diesem Gesetz die Situation der Patientinnen und Patienten in unserem Land ein weiteres Mal verbessern. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dr. Carola Reimann. – Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Reimann. (Beifall bei der SPD) Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich könnte zu Beginn meiner Rede an die vielen berechtigten Kritikpunkte der Vorrednerinnen und Vorredner anknüpfen. Zunächst einmal möchte ich aber der schwarz-gelben Regierung meine Glückwünsche aussprechen. Bei all dem Chaos und Gezänk der vergangenen Wochen – Herr Kollege Singhammer hat das Chaoscombo genannt – (Heinz Lanfermann [FDP]: Damit waren Sie gemeint!) grenzt es schon an ein kleines Wunder, dass Sie überhaupt noch in der Lage sind, diesem Parlament einen Gesetzentwurf vorzulegen. Hinsichtlich der Pflege – der Minister hat an das kalendarische Ende des Sommers erinnert – können Sie heute noch nicht einmal grobe Eckpunkte vorlegen. Bei all dem, was wir inzwischen von Schwarz-Gelb so gewohnt sind, sind das geradezu überraschende Ansätze eines gemeinsamen Handlungswillens, die viele von uns gar nicht mehr erwartet hatten. Die Abläufe bei Ihren hilflosen Reformbemühungen kennen wir aber leider inzwischen zu gut, um uns über Ansätze so richtig freuen zu können. Egal ob bei der Gesundheitsreform, bei der Pflege oder jetzt beim Versorgungsstrukturgesetz: Die Abläufe sind gleich. Es wird ausgiebig gestritten. Dann wird monatelang entgegen zahlreichen Ankündigungen – die Stichworte waren das Zweibettzimmer oder die Terminvergabe bei Fachärz-ten – weiter gestritten und nichts vorgelegt. Wenn dann am Ende doch noch etwas mit Hängen und Würgen präsentiert wird, dann wünscht man sich, es wäre gar nicht erst zu einer Einigung gekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Entweder wurde wieder einmal munter an den eigentlichen Problemen vorbeireformiert, oder – schlimmer noch – das schwarz-gelbe Reformwerk präsentiert neue zusätzliche Probleme. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist eine Mischung aus beidem. Er ist ein Sammelsurium von Vorschlägen und Maßnahmen mit allen möglichen Auswirkungen auf die Versorgung. Das Hauptziel, nämlich die Versorgung, werden Sie damit aber sicher nicht erreichen. Die Versorgung der Patientinnen und Patienten in unserem Land wird so nicht verbessert. Beginnen wir einmal mit der Kategorie „Gut gemeint, aber an den eigentlichen Problemen vorbeireformiert“. Sie gehen von der Annahme aus – davon muss ich ausgehen –, dass das, was für den Arzt gut ist, auch gut für den Patienten ist und ihm hilft. Der Minister hat selbst davon gesprochen, wer mit diesem Gesetz beglückt wird. Nur so kann man das verstehen; denn sonst ist es lupenreine Klientelpolitik. Natürlich ist es richtig, Anreize auch finanzieller Art zu geben, um Ärztinnen und Ärzte aufs Land zu locken. Wenn man aber auf der einen Seite den Versicherten diese zusätzlichen Kosten zumutet, dann muss es doch auf der anderen Seite auch möglich sein, beim Abbau der Überversorgung den Ärzten etwas abzuverlangen. Zur Erinnerung: Wir hatten noch nie so viele Ärzte im Land wie heute. Es gibt genug; aber sie sind nicht immer da – in der Analyse sind wir uns alle einig –, wo man sie braucht. Um das zu ändern, müssen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Privilegien brechen und etablierte Strukturen verändern. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Aber dazu fehlt Ihnen die Kraft. Ihnen fehlt der Mut, beispielsweise nicht nur Honorarzuschläge – also mehr Geld – zu verteilen, sondern in überversorgten Gebieten Abschläge festzuschreiben. Ihnen fehlt der Mut – Kollegen haben das angesprochen –, noch stärker auf eine bessere Kooperation der Berufsgruppen zu setzen und neue Aufgabenverteilungen einzufordern. Ihnen fehlt einfach der Mut, auch der eigenen Klientel etwas abzuverlangen. Stattdessen belasten Sie die Versicherten weiter durch höhere Ausgaben für Ärztehonorare. Der Gesundheitsminister spricht zwar immer noch von Ausgabenneutralität, der Ministerkollege Schäuble aber, der für die Finanzen zuständig ist, besteht auf einer Klausel zur Minderung der Zahlungen für den Sozialausgleich. Dabei kommt es doch nach Ihrer Überzeugung zu gar keinen Mehrkosten. Das muss mir erst mal einer erklären. (Heinz Lanfermann [FDP]: Der ist übervorsichtig!) Damit sind wir an der Stelle, wo Gesetze nicht nur ihre Ziele nicht erreichen, sondern wo neue, zusätzliche Probleme geschaffen werden. Eben erst haben Sie mit dem GKV-Finanzierungsgesetz eine Kopfpauschale mit der Beruhigungspille „Sozialausgleich“ eingeführt. Jetzt, mit dem nächsten Gesetz, dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz, werden die Gelder für den Sozialausgleich wieder genommen. Sie werden genommen, damit die Honorarmehrausgaben für die Ärzte finanziert werden können. Die Liste der Fehlentscheidungen in dem Entwurf lässt sich weiter fortführen. Nachdem wir mit der letzten Honorarreform gemeinsam in der Großen Koalition die Angleichung der bis dahin sehr verschiedenen Vergütungsniveaus in den Kassenärztlichen Vereinigungen auf den Weg gebracht haben, kehren Sie jetzt wieder um. Als Niedersächsin weiß ich, wovon ich rede. Was nutzen mir denn Zuschläge für unterversorgte Gebiete im Norden – wie zum Beispiel im Harz –, wenn die eigentliche Leistung wesentlich schlechter vergütet wird als zum Beispiel bei Ihnen in Bayern? Herr Singhammer, das ist ein Blumenstrauß allein für die Bayern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Diese Regelung ist ein Rückschritt genauso wie Ihr Plan, weitreichende Einschränkungen bei den medizinischen Versorgungszentren vorzunehmen, obwohl gerade diese im Sinne der Patientinnen und Patienten eine wichtige Brücke für eine bessere ärztliche Versorgung bilden können. (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben die Bedürfnisse und Interessen der Patienten – anders, als es hier gesagt worden ist – ganz offensichtlich keine Rolle gespielt. Sie stellen, wie so häufig, den Arzt ins Zentrum Ihrer Bemühungen und werden deshalb das Ziel, eine bessere Versorgung in Stadt und Land, nicht erreichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich kann Ihnen nur raten: Hören Sie auf, sich an alten Besitzständen zu orientieren. Überwinden Sie etablierte Strukturen, rückständige Zuständigkeiten und Arbeitsverteilungen. Haben Sie auch einmal den Mut, wirklich allen die Bereitschaft zu Veränderungen abzuverlangen. Dann und nur dann werden Sie die Versorgungssituation in unserem Land – auch auf dem Land – im Sinne der Patientinnen und Patienten wirklich verbessern. Danke. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dietrich Monstadt. Bitte schön, Kollege Dietrich Monstadt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte einige Kritik der Opposition zu hören bekommen. Es gab aber nicht nur Kritik, sondern wir haben auch lernen dürfen, welche Fernsehsendungen die Kollegin Bender offensichtlich bevorzugt. Meine Damen und Herren von der SPD, liebe Frau Kollegin Dr. Reimann, ich befürchte, es ist Ihnen nicht klar, was Sie permanent kritisieren. Das, was Sie kritisieren, sind Auswirkungen der Politik, die Ihre Ministerin, Frau Ulla Schmidt, auf den Weg gebracht hat. Diese Auswirkungen müssen wir jetzt mühsam wieder einfangen. Herr Kollege Dr. Lauterbach, Sie haben uns eine Bürgerversicherung angekündigt. Auf dieses Konzept warten wir bis heute. Offensichtlich sind Sie mit der Arbeit der Koalition so zufrieden, dass Sie auf eigene Konzepte gänzlich verzichten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Steht doch im Netz!) Trotzdem und gerade deswegen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erfreulicher Anlass für unsere heutige Debatte. Die Versorgung von Patientinnen und Patienten wird sich verbessern. Arztpraxen und Krankenhäuser werden schrittweise besser miteinander verzahnt. In der neuen spezialärztlichen Versorgung werden Krankenhausärzte und niedergelassene Ärzte ihre Patienten ambulant versorgen. Lassen Sie mich auf einen Kernbereich unseres Gesetzgebungsvorhabens hinweisen, der gerade für mein Bundesland Mecklenburg-Vorpommern besonders wichtig ist: die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung. Die bundesweiten Zahlen zeigen zwar keinen Ärztemangel auf. Wir haben aber ein zunehmendes Ärzteverteilungsproblem. Einerseits gibt es in attraktiven städtischen Ballungsräumen überversorgte Regionen, andererseits sehen wir in ländlichen Gebieten, wie es sie in Mecklenburg-Vorpommern und auch in anderen Ländern gibt, eine drohende Unterversorgung. Die demografische Entwicklung wird diese Probleme noch verstärken; Herr Minister Bahr ist darauf intensiv eingegangen. Es ist richtig, in unterversorgten Regionen neue Versorgungsstrukturen zu ermöglichen, die über die klassischen Praxismodelle hinausgehen. Deshalb gibt es einen umfassenden Katalog von Anreizen und finanziellen Unterstützungen, der Ärzten die Entscheidung, sich in ländlichen oder strukturschwachen Regionen niederzulassen, erleichtern soll. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit einer leistungsgerechten Vergütung wollen wir die Bedingungen für die Ärzte in strukturschwachen Gebieten verbessern. So soll der Arzt, der mehr arbeitet, weil er mehr Patienten versorgen muss, nicht finanziell dafür büßen. Er wird von der Abstaffelung der Vergütung bei Mengenüberschreitungen befreit und damit entscheidend bessergestellt. Wichtig ist auch, dass die Bundesländer künftig mehr Mitwirkungsrechte bei der Bedarfsplanung erhalten. Auf diese Weise können regionale Besonderheiten besser berücksichtigt werden. Aus der Sicht eines Landes wie Mecklenburg-Vorpommern sind das die richtigen Schritte, um eine flächendeckende und hochwertige Versorgung sicherzustellen. Dies wird im Übrigen nicht nur von der Regierungskoalition so gesehen. Positive Bewertungen kommen sowohl vonseiten der Landespolitik als auch vonseiten der Selbstverwaltung und der Patientenvertreter. Erlauben Sie mir eine Bemerkung zur psychotherapeutischen Versorgung: Wir wissen – viele von uns sind in letzter Zeit darauf angesprochen worden –, dass es in diesem Bereich Wartezeiten und Engpässe gibt. Es gibt die Befürchtung, dass die Krankenversicherungen Psychotherapeutensitze abbauen, wenn eine nominelle Überversorgung besteht, obwohl der tatsächliche Bedarf nicht gedeckt ist. Natürlich soll durch das Gesetz gerade dies nicht möglich sein. Ziel ist vielmehr, die Verteilung der Praxissitze am tatsächlichen Bedarf der Menschen auszurichten. Der Abbau von Praxen, gerade auf Kosten einer Facharztgruppe, ist damit eindeutig nicht gemeint. Wir werden aber prüfen, ob es im Versorgungsgesetz noch Klarstellungsmöglichkeiten gibt. Eine wichtige Neuerung führen wir mit der Erprobung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein. Damit sichern wir gesetzlich versicherten Patienten den Zugang zu medizinischen Innovationen. Darüber hinaus sorgen wir für die Gewinnung wissenschaftlicher Daten zum Nutzen einer Methode. Nach der heutigen Rechtslage auf der Grundlage des § 137 c SGB V kann der Gemeinsame Bundesausschuss eine im stationären Bereich eingeführte neue Methode, zum Beispiel eine neue Krebstherapie, auf ihren Nutzen überprüfen. Das soll auch so bleiben. Bislang ist es allerdings so, dass der Gemeinsame Bundesausschuss entweder den Nutzen als Beleg anerkennt oder aber die Methode aus dem GKV-Leistungskatalog ausschließen muss. Bisher hat der Gemeinsame Bundesausschuss keine Möglichkeit, selbst eine Studie zu veranlassen, wenn der Nutzenbeleg noch unzureichend ist. Das ändern wir mit der Erprobung im neuen § 137 e. Der Gemeinsame Bundesausschuss kann künftig innovative Methoden zeitlich begrenzt unter strukturierten Bedingungen bei gleichzeitigem Erkenntnisgewinn erproben. Er muss also nicht sofort zu seiner schärfsten Waffe, dem Ausschluss nach § 137c, greifen, wenn die Studiendaten noch nicht ausreichen. Damit erhält der Gemeinsame Bundesausschuss ein neues Instrument für die Bewertung von Methoden, deren Nutzen zwar noch nicht mit hinreichender Evidenz belegt ist, die aber vielversprechend sind und therapeutisches Potenzial besitzen, weil sie zum Beispiel weniger invasiv sind oder weniger Nebenwirkungen haben. Wenn eine Erprobung stattfindet, heißt das übrigens nicht, dass Patienten außerhalb der Studie keinen Zugang mehr zu dieser Methode haben. Parallel zur Erprobung unter Studienbedingungen haben Patienten weiterhin Zugang zu dieser Methode. Meine Damen und Herren, ein Teil der infrage kommenden Methoden wird Medizinprodukte betreffen. Ich habe neulich die Befürchtung gehört, künftig müsse jeder Rollstuhl durch eine solche Erprobung, eine klinische Studie. Solche Befürchtungen sind nicht begründet. Es handelt sich um Medizinprodukte, die ihre klinische Bewertung nach dem Medizinproduktegesetz längst hinter sich haben, verkehrsfähig sind, legal vermarktet werden dürfen und als Nachweis dafür die CE-Kennzeichnung tragen. Wenn der G-BA feststellt, dass der Nutzen eines solchen Medizinproduktes noch nicht hinreichend belegt ist, heißt dies also nicht, dass das Produkt am Nullpunkt seiner klinischen Entwicklung steht. In § 137 c und e des Fünften Buches Sozialgesetzbuch geht es gar nicht um die Frage, ob solche Medizinprodukte auf den Markt kommen und verwendet werden dürfen oder nicht, sondern darum, ob die gesetzlichen Krankenkassen dafür zahlen oder nicht. Mit den Regelungen des neuen § 137 e SGV V erleichtern wir den Patientinnen und Patienten den Zugang zu Innovationen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz setzen wir unsere Reformen für ein stabiles, zukunftsfähiges, soziales Gesundheitssystem fort. Ich lade Sie dazu ein, sich konstruktiv in die jetzt anstehenden Beratungen einzubringen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege, wir haben zu danken. Sie waren der letzte Redner in unserer Debatte. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6906 und 17/3215 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen – Drucksache 17/6372 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Studienfinanzierung stärken – Das BAföG zum Zwei-Säulen-Modell ausbauen – Drucksache 17/7026 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln – Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern – Drucksachen 17/5899, 17/5475, 17/7051 – Berichterstattung: Abgeordnete Tankred Schipanski Swen Schulz (Spandau) Dr. Martin Neumann (Lausitz) Nicole Gohlke Kai Gehring Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die Fraktion Die Linke unserer Kollegin Nicole Gohlke. Bitte schön, Frau Kollegin Gohlke. (Beifall bei der LINKEN) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Das BAföG hat am 1. September seinen 40. Geburtstag gefeiert. Auch die Fraktion Die Linke gratuliert dem Bundesausbildungsförderungsgesetz zu seinem Jubiläum, war doch das BAföG der erste Versuch in der Bundesrepublik, die Hochschulen für die Breite der Gesellschaft und nach sozialen Kriterien zu öffnen: ein Studium nicht mehr nur für die Kinder von Rechtsanwälten und höheren Beamten, sondern auch für die Söhne und endlich auch vermehrt für die Töchter von Fabrikarbeiterinnen und Bäckern. Wenn man sich das BAföG heute anschaut, dann will es einem zu diesem Jubiläum aber nicht so richtig feierlich zumute werden. Denn die Ausbildungsförderung wird ihren ursprünglichen Zielen immer weniger gerecht; sie ist eigentlich nur noch ein Schatten ihrer selbst. In der Gesetzesbegründung des BAföG von 1971 wurde der Anspruch formuliert, „soziale Unterschiede … auszugleichen“ und „durch Gewährung von individueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken“. Diesem Anspruch wurde das BAföG wahrscheinlich nie völlig gerecht; aber es gab zunächst eine sehr positive Entwicklung. Heute sind wir davon allerdings weiter entfernt denn je, obwohl diese Regierung angeblich eine „Bildungsrepublik“ ausrufen möchte. (Patrick Meinhardt [FDP]: Was wir auch tun!) Was sind die Fakten? In den 60er-Jahren, vor Einführung des BAföG, lag der Anteil der Studierenden aus sogenannten sozial niedrigen Herkunftsgruppen bei durchschnittlich 6 Prozent. 1982, nach Einführung des BAföG, war der Anteil dieser Gruppe auf 23 Prozent gestiegen. Und heute? Im Jahr 2009 gab es einen Rückgang auf nur 15 Prozent. Eine andere Zahl: Nach der Einführung 1971 wurden 44 Prozent der Studierenden mit dem BAföG gefördert; heute sind es nur noch knapp 20 Prozent. Während das BAföG in den ersten Jahren für viele Studierende eine bedarfsdeckende Finanzierung war, deckt das BAföG heute nur noch 15 Prozent der Gesamtfinanzierung der Studierenden ab. Zwei Drittel der Studierenden müssen parallel zum Studium arbeiten, um ihr Leben und ihr Studium bestreiten zu können. Bei den heutigen Mietpreisen und Lebenshaltungskosten erlaubt es nicht einmal der Höchstsatz den Studierenden, ohne Nebenjob auszukommen. Das BAföG war in seiner ursprünglichen Konzeption ein Vollzuschuss. Die Regierung Kohl hat es komplett auf ein Darlehen umgebaut. Das war ein Fehler, den leider auch die nachfolgenden Regierungen nicht mehr vollständig korrigiert haben. Seit 1990 ist das BAföG zur Hälfte ein Darlehen und zwingt seitdem die Studierenden, sich zumindest teilweise zu verschulden. All diese Zahlen machen deutlich, wie sehr die derzeitige Ausgestaltung des BAföG an dem vorbeigeht, was die Studierenden brauchen. Das ist für diese selbsternannte Bildungsrepublik der eigentliche Skandal. (Beifall bei der LINKEN) In dieser Situation lässt Frau Schavan vermelden, dass die BAföG-Erhöhung des Jahres 2010 das vorgezogene Geschenk zum 40-jährigen Jubiläum gewesen sei und sie weitere, von vielen Seiten dringend geforderte Erhöhungen ablehne. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlechter Scherz!) Als Ausgleich – das ist ihr Vorschlag – könnten die Studierenden ja noch ein Darlehen aufnehmen. Noch ein Darlehen! Also weitere Verschuldung statt Förderung. So ein Vorschlag, so ein Umgang mit den Studierenden ist aus meiner Sicht wirklich zynisch und völlig lebensfern; (Beifall bei der LINKEN) denn bereits die Verschuldung, die heutzutage mit dem BAföG verbunden ist, schreckt einen großen Teil der jungen Menschen ab. Auch diese Regierung muss irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen, dass die berufliche Realität von jungen Menschen, auch die von jungen Akademikerinnen und Akademikern, schon seit Jahren nicht mehr so ist, dass alle nach ihrem Studium tolle und hochbezahlte Jobs finden und dann nach wenigen Monaten in der Lage sind, ihre Schulden, die sie während des Studiums gemacht haben, zurückzuzahlen. Muss man dieser Regierung wirklich erklären, dass auch hierzulande und nicht nur in Griechenland oder Spanien viele Hochschulabsolventinnen und -absolventen in Praktika oder in befristeten Beschäftigungsverhältnissen landen oder sie sich erst einmal lange mit irgendwelchen mies bezahlten Jobs, die gar nichts mit ihrem Abschluss oder ihrem Studienfach zu tun haben, über Wasser halten müssen? Deswegen haben junge Menschen Angst vor der Verschuldung. Sie wissen nicht, ob und wie schnell sie in der Lage sein werden, ihre Schulden zurückzuzahlen. Frau Schavan sollte wirklich aufhören, mit dem Hintergrund einer gut dotierten Bundesministerin jungen Menschen, die keine klare berufliche Perspektive haben, eine Verschuldung zu empfehlen. Sie sollte stattdessen das BAföG so ausbauen, dass junge Menschen sorgenfrei studieren können. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert, dass das BAföG endlich wieder als Vollzuschuss gewährt wird; denn nur so kann man junge Menschen, vor allem die aus sogenannten sozial prekären Herkunftsgruppen, ermutigen, ein Studium aufzunehmen. Wir fordern die sofortige Anhebung des BAföG um 10 Prozent, eine jährliche Anpassung an die Lebenshaltungskosten und eine deutliche Ausweitung des Berechtigtenkreises. Und wir wollen, dass Schülerinnen und Schüler der Oberstufe endlich wieder BAföG beziehen können; denn die soziale Auslese, die das deutsche Bildungssystem dramatisch durchzieht, beginnt in der Schule, und das muss endlich durchbrochen werden. Dabei hat die schwarz-gelbe Regierung durch die Veröffentlichung der neuesten OECD-Studie doch gerade wieder einmal die Quittung für ihr sozial diskriminierendes Bildungssystem bekommen. Die Studie stellt fest, dass in Deutschland nur 26 Prozent der jungen Erwachsenen einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss bzw. einen Meisterbrief machen, während der Durchschnitt in den westlichen Industrieländern insgesamt bei 37 Prozent liegt. Die Anzahl der Hochqualifizierten und der Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik wächst also unterdurchschnittlich. In dieser Situation hat Schwarz-Gelb nichts anderes zu tun, als mit dafür zu sorgen, dass Jahr für Jahr Tausende von Bewerberinnen und Bewerbern von den Hochschulen abgewiesen werden und keinen Studienplatz erhalten. Tausende junge Menschen haben zwar Abitur gemacht, haben also vielleicht mühevoll ihr Recht auf ein Studium erlangt, können von ihrem Recht aber keinen Gebrauch machen, weil es nicht genug Studienplätze gibt. Mittlerweile unterliegen die meisten Studiengänge in Deutschland lokalen oder bundesweiten Zulassungs- und Zugangsbeschränkungen. Im Wintersemester 2010/11 waren rund 51 Prozent örtlich zulassungsbeschränkt; bei den Masterstudiengängen sind es mindestens 37 Prozent. Für die meisten Studiengänge reicht schon lange nicht mehr die Abiturnote aus. Nein, es gibt Eignungs- und Sprachtests, es werden Praktikumsnachweise und Motivationsschreiben verlangt. Jede Hochschule, jeder Studiengang entwickelt eigene Ranking- und Auswahlsysteme. Diese für die Bewerberinnen und Bewerber wirklich schwierige Situation ist nicht neu, doch sie wird seit Jahren hingenommen, obwohl der Bund seit 2006 für die Hochschulzulassung zuständig sein kann. Man kann das Thema also nicht einfach den Ländern in die Schuhe schieben. Doch die Regierung schaut beim Zulassungschaos zu. Im Moment bewerben sich Tausende von Studierenden doppelt und dreifach auf Studienplätze aus Angst, sonst überhaupt keinen Studienplatz zu erhalten. Weil es über diese Mehrfachbewerbungen aber keinen bundesweiten Überblick gibt, bleiben trotz eigentlichem Studienplatzmangel Studienplätze unbesetzt. Im letzten Jahr waren es über 16 000. Die Lösung für dieses Problem sollte das dialogorientierte Serviceverfahren werden, eine Stelle, bei der alle Studienplätze und alle Bewerber registriert und die Informationen abgeglichen werden. Doch Software- und Schnittstellenprobleme verhindern dessen Einführung seit Monaten. Es ist überhaupt nicht absehbar, wann es zu einer Lösung dieser Probleme kommt. Seien wir einmal ehrlich: Das eigentliche Problem sind doch nicht Software- oder Technikfragen. Das Grundproblem sind schlicht und ergreifend fehlende Studienplätze und die mangelnde öffentliche Finanzierung des Hochschulsystems. Derzeit kommen auf rund 1,1 Millionen ausfinanzierte Studienplätze 2,2 Millionen Studierende. Die gesamte Infrastruktur der Hochschulen – die Bibliotheken, die Räume, die Studentenwohnheime und die Mensen – ist eigentlich nur für die Hälfte der derzeitigen Studierenden ausgelegt. Das ist doch die eigentliche Katastrophe. (Beifall bei der LINKEN) In der Praxis sieht das dann so aus – diese Bilder kennt man auch aus dem Fernsehen und der Presse –, dass Studierende vor Hörsälen schlafen, um noch einen Platz für die Vorlesung am nächsten Tag zu bekommen, oder dass Kirchen- und Kinosäle angemietet werden, um das Raumproblem der Hochschulen zu lösen. Die, die studieren dürfen, studieren unter erschwerten, oft unzumutbaren Bedingungen. Unter diesem Zustand leiden natürlich nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrenden und die Hochschulmitarbeiter. (Beifall bei der LINKEN) Tausende Bewerberinnen und Bewerber erhalten überhaupt keinen Studienplatz. Dieses Wintersemester werden es wohl bis zu 50 000 sein. Im Rahmen des Hochschulpakts II wurden zwar 275 000 Studienplätze geschaffen, um die doppelten Abiturjahrgänge auszugleichen, und im Zuge der Aussetzung der Wehrpflicht hat die Regierung die Zahl der Studienplätze auf 334 000 erhöht, benötigt werden allerdings – allen seriösen Quellen zufolge – mindestens 500 000. Die Linke will, dass alle, die studieren möchten, auch tatsächlich studieren können. (Beifall bei der LINKEN) Die, die studieren wollen, wissen selbst am besten, für welches Fach sie sich entscheiden und welche Hochschule am besten für sie geeignet ist. Sie kennen ihre Neigungen, ihre Wünsche, ihre individuelle Lebensplanung und ihre Qualifikationen. Dass sie, die Studierenden und ihr Auswahlrecht – und nicht das der Hochschulen –, endlich in den Mittelpunkt gerückt werden, ist nicht nur ein politisches Ziel an sich, es ist auch die Voraussetzung für gutes Studieren. Das gilt auch für das Masterstudium. Die Entscheidung, ob man nach seinem Bachelorabschluss noch ein Masterstudium anhängen möchte oder direkt in den Beruf einsteigen möchte, sollen die Studierenden selbst treffen können. Dies darf nicht durch die Hochschule, irgendwelche Zulassungshürden oder die ständige Mängelverwaltung im Masterstudium für sie entschieden werden. Die Linke fordert deswegen einen Ausbau der Studienplätze um 500 000, um endlich jedem und jeder Studierwilligen das Recht auf einen Studienplatz zu sichern. Wir fordern ein Bundesgesetz, das die transparente und koordinierte Vergabe von Studienplätzen regelt und dieses wahnsinnige Zulassungschaos beendet. Wir fordern das Recht auf einen Masterstudienplatz für alle Bachelorabsolventen. (Beifall bei der LINKEN) Eine Hochschulpolitik, die – wie die schwarz-gelbe Politik – mit dem realen Leben der Studierenden nichts zu tun hat und stattdessen in alter Ständepolitik verharrt, muss scheitern. Ich habe große Sympathie für all diejenigen Studierenden und Schülerinnen und Schüler, die im kommenden Wintersemester vielleicht wieder einmal auf die Straße gehen müssen, um auf ihre Situation und Interessen aufmerksam zu machen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Stefan Kaufmann erhält nun das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute werden wir über gleich vier Oppositionsanträge abstimmen: zwei zum BAföG und zwei zur Regelung der Hochschulzulassung. In meiner Rede möchte ich mich auf die beiden Anträge zum BAföG konzentrieren und nur einen Satz zu dem Antrag der Linken zur Hochschulzulassung und zu den verzerrenden Ausführungen von Frau Kollegin Gohlke sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ihre Forderung, „Wer eine Studienberechtigung hat, hat das Recht, ein Studium im Fach und an der Hochschule seiner Wahl aufzunehmen“, hat bei mir ein Schmunzeln ausgelöst. Im Fach und an der Hochschule seiner Wahl? Das heißt, jede Hochschule müsste entsprechend der Nachfrage ihr Studienplatzangebot beliebig erweitern und zusätzlich auch noch alle gewünschten Studiengänge anbieten. Ich finde, ein bisschen mehr Realitätsnähe könnten wir auch von einer Oppositionspartei erwarten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nun zu den BAföG-Anträgen. Die Grünen fordern gebetsmühlenhaft, die BAföG-Förderung auf ein sogenanntes Zwei-Säulen-Modell umzustellen. Beide Säulen sind natürlich als Vollzuschüsse gedacht. Damit wollen Sie erreichen, dass jeder, der sich an einer Hochschule einschreibt, einen direkt auszahlbaren, bedarfsunabhängigen Studierendenzuschuss bekommt. (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren von den Grünen, das hört sich für mich nach einem bedingungslosen Grundeinkommen an. Ich weiß, dass es in Ihren Reihen und besonders bei den Linken viele Anhänger dieser staatlichen Rundumversorgung gibt, (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Die gibt es bei euch für die Banken!) aber einmal ganz im Ernst: Wie viel soll Ihre BAföG-Reform kosten? Bei mehr als 2 Millionen Studierenden, die monatlich elternunabhängig einen dreistelligen Grundbetrag überwiesen bekommen, wünsche ich Ihnen viel Spaß bei den Auseinandersetzungen mit Ihren Haushältern. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die tragen das mit!) Seltsam ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass wir in Ihrer Regierungszeit von all diesen Reformvorschlägen zum BAföG nichts gesehen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unter Rot-Grün hat sich praktisch überhaupt nichts getan. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist aber eine Frechheit! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war die größte Reform!) Im Jahre 2002 stiegen die Förder- und Freibeträge nur geringfügig. Zudem betraf dies ausschließlich Neuanträge. Für die meisten Betroffenen kamen nicht einmal 10 Euro mehr im Monat heraus. Deshalb wurde diese Minierhöhung von den Studenten auch als „Pizzareform“ verspottet; denn man bekam gerade so viel Geld mehr, dass man sich davon eine Pizza kaufen konnte. Eine wirklich beeindruckende Bilanz rot-grüner BAföG-Politik! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Vielleicht sollte die Regierung ihre Abgeordneten einmal aufklären! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 50 Prozent mehr gefördert!) Doch zurück zu den Anträgen: Wer bietet noch mehr? Sie ahnen es: die Linken. Die Linken – wir haben es gehört – fordern eine Anhebung der Bedarfssätze um 10 Prozent bereits zum 1. Oktober. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das wäre angemessen!) Das ist aber noch nicht genug: Das BAföG soll sich jährlich automatisch erhöhen, und die Freibeträge sollen ebenfalls um 10 Prozent steigen. Zudem soll das BAföG, wie auch von den Grünen gefordert, in einen Vollzuschuss umgewandelt werden. Und nun das Beste: Bei der Berufsausbildungsbeihilfe soll der Staat zusätzlich die Kosten übernehmen, wenn der Auszubildende in eine eigene Wohnung umzieht. Auszubildende könnten sich also in Zukunft auf Staatskosten eine Wohnung dazumieten. Willkommen im roten Schlaraffenland, meine Damen und Herren! Dazu fällt mir, ehrlich gesagt, nur noch ein Ausspruch von Franz Josef Strauß ein. Der hat einmal gefragt: Was passiert, wenn man in der Sahara den Sozialismus einführt? Antwort: Zehn Jahre gar nichts – und dann wird der Sand knapp. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Hunderte von Milliarden für Banken und Spekulanten!) Für mich zeigen die vorliegenden Anträge vor allem eines: Die Opposition zieht wieder die Spendierhosen an. Aber das natürlich nur, solange Sie in der Opposition sind. Ministerin Annette Schavan hat es vorgestern im Ausschuss angesprochen: Nennen Sie mir doch einmal ein einziges Bundesland, das von Ihnen regiert wird, das eine BAföG-Erhöhung mitmachen würde. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir ja sehen!) Gerade erst hat die neue grüne Wissenschaftsministerin in meinem Heimatland Baden-Württemberg, Theresia Bauer, klargestellt, dass eine BAföG-Erhöhung für sie keine Priorität hat. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Es ist genau das Gleiche wie beim BAföG-Änderungsgesetz vor einem Jahr. Vormittags fordert die Opposition pressewirksam BAföG-Erhöhungen, und abends im Vermittlungsausschuss werden diese dann abgelehnt. (Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Auch aktuell ist mir ein Drängen der rot-grünen oder der rot-roten Landesregierungen im Bundesrat auf eine BAföG-Erhöhung nicht bekannt. Im Gegenteil – darauf hatte ich bereits in meiner letzten Rede zum BAföG hingewiesen –: Von den Linken praktizierte Realpolitik sieht ganz anders aus. In Brandenburg wurden den Hochschulen ihre Rücklagen in Höhe von 10 Millionen Euro immer noch nicht zurückgegeben. In Ihrem vorliegenden Antrag beklagen Sie aber gleichzeitig „die strukturelle Unterfinanzierung des deutschen Hochschulsystems“. Fangen Sie also bitte vor Ihrer eigenen Haustür an! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unter der CDU-geführten Bundesregierung und unter Annette Schavan konnten wir hingegen vieles für die Studierenden erreichen, und das trotz strikter Finanzdisziplin und Weltwirtschaftskrise. So wurden zunächst 2008 die Bedarfssätze des BAföG um satte 10 Prozent und die Freibeträge um 8 Prozent angehoben. Zusätzlich gab es kleine Verbesserungen wie zum Beispiel einen Kinderbetreuungszuschlag. Dies, der Richtigkeit halber gesagt, haben wir zusammen mit Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen der SPD, durchgesetzt. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie gnädig!) CDU und FDP schafften es bereits zwei Jahre später, das BAföG nochmals zu erhöhen. Es gab eine weitere Anhebung der Bedarfssätze und der Freibeträge. Außerdem haben wir die Anhebung der Altersgrenze für das Masterstudium auf 35 Jahre durchgesetzt, die Auslandsförderung für Schüler ausgeweitet, den BAföG-Höchstsatz auf 670 Euro pro Monat angehoben und, und, und. Dafür haben wir allein 2010 noch einmal 170 Millionen Euro zusätzlich ausgegeben. Insgesamt haben Bund und Länder damit die Rekordsumme von fast 2,9 Milliarden Euro für das BAföG aufgebracht. Damit ist das BAföG der größte Einzelposten im Bildungshaushalt. Die Erfolge stellen sich ein: Die Zahl der BAföG-Empfänger nähert sich der Millionengrenze. Mit einer Steigerung von nochmals 5 Prozent gegenüber 2009 auf derzeit rund 916 000 BAföG-Empfänger ist diese Regierung auf einem guten Weg. Das müssen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, endlich anerkennen. Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Welt verändert. In den 70er-Jahren stehen zu bleiben (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das von einem Konservativen!) wie große Teile der Oppositionsfraktionen, hilft den Menschen nicht weiter. Die Biografien werden vielfältiger, und somit muss auch die Bildungsfinanzierung vielfältiger werden. Mit Begabtenförderung und Stipendienprogramm setzen wir auf das richtige Pferd. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zum Deutschlandstipendium sagen: Das ständige Schlechtreden des Deutschlandstipendiums, auch wieder in Ihrem Antrag, liebe Kollegen von den Grünen, hat nichts genützt. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Man muss es nicht schlechtreden, es ist schlecht!) Sie haben sich zu früh gefreut. Natürlich bedarf es Zeit, eine neue Stipendienkultur in Deutschland zu etablieren; das haben wir von Anfang an gesagt. Dennoch geben die neuesten Zahlen zum Deutschlandstipendium Anlass zur Freude. (Beifall des Abg. Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]) In Baden-Württemberg haben bereits 20 Hochschulen das Kontingent für 2011 voll ausgeschöpft, (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie viele sind denn das?) darunter auch Kunst- und Musikhochschulen. Das heißt, es ist keineswegs so, dass nur technische Studiengänge vom Deutschlandstipendium profitieren. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Nennen Sie mal Zahlen! – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Zahlen!) Insgesamt hat bereits mehr als ein Drittel der teilnehmenden Hochschulen ihr Kontingent für 2011 voll ausgeschöpft. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viel Prozent der Studis betrifft das denn?) Einige Hochschulen, etwa die FH Eberswalde, die RWTH Aachen, die Universität Augsburg und die TU Bergakademie Freiberg, haben sogar deutlich mehr Stipendien eingeworben, als sie in 2011 vergeben können. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist die soziale Zusammensetzung?) Ihre Befürchtungen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass das Programm nur in wohlhabenden Regionen Westdeutschlands funktionieren würde, haben sich also nicht bestätigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bauen Sie bitte keine Luftschlösser, sondern lassen Sie uns in Zukunft gemeinsam am Erfolg des Deutschlandstipendiums weiterarbeiten! Lassen Sie uns auch gemeinsam das BAföG behutsam weiterentwickeln! Dies heißt aus meiner Sicht eher, die Basis der Anspruchsberechtigten zu erweitern, als ständig nach einer Erhöhung der Fördersätze zu rufen. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das hätten Sie ja mit uns machen können!) Es muss in diesem Zusammenhang schon irritieren, dass laut FiBS nur circa 50 Prozent der Anspruchsberechtigten überhaupt einen BAföG-Antrag stellen. Fazit: In Deutschland steht jedem ein Studium offen. Deutschland ist ein attraktiver Studienstandort. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Warum sind wir dann im europäischen Vergleich so schlecht?) Und: Unser Bildungssystem ermöglicht sozialen Aufstieg durch Leistung – trotz Ihrer Unkenrufe, liebe Frau Kollegin Gohlke. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, die Sie der Presse entnehmen können. Also: Hören Sie bitte auf, das BAföG im 40. Jahr seines Bestehens kleinzureden! Das BAföG ist und bleibt die tragende Säule der Studienfinanzierung in Deutschland. Es hat Millionen Menschen eine akademische Ausbildung ermöglicht, unter anderem mir selbst. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Toll, dass die CDU das endlich anerkennt!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Swen Schulz ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 40 Jahre BAföG – das ist eine wechselvolle, insgesamt aber sehr stolze Geschichte, über die wir diskutieren. (Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP]) Das BAföG wurde 1971 eingeführt, und zwar – man höre und staune – von der sozialliberalen Koalition. (René Röspel [SPD]: Das war noch eine FDP damals!) Damals konnte man mit der FDP tatsächlich noch Staat machen. (Heiterkeit bei der SPD – Ulla Burchardt [SPD]: Ja! Da war die noch zu gebrauchen! – Patrick Meinhardt [FDP]: Wir konnten damals noch mit Ihnen Staat machen!) Aber es war natürlich die SPD, (Zurufe von der FDP: Oh! Oh! – Na klar!) die schon damals der Motor war und darauf gedrängt hat, das BAföG einzuführen. Die SPD hat das BAföG immer verteidigt und es, wo sie konnte, nach Kräften ausgebaut. Das war auch 1998 der Fall, als wir gemeinsam mit den Grünen die Bundesregierung übernommen haben. In der Kohl-Ära ist das BAföG nachgerade kaputtgemacht worden. Wir mussten es erst wieder aufbauen. (Ulla Burchardt [SPD]: Ja!) In der Großen Koalition haben wir das BAföG gegen Angriffe von Ministerin Schavan verteidigt; das ist die Wahrheit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulla Burchardt [SPD]: Das sollte noch nicht mal in den Koalitionsvertrag!) Wir unterstützen das BAföG nicht etwa aus Prinzipienreiterei oder weil es eine schöne Tradition ist, sondern weil wir davon ausgehen, dass es ein Menschenrecht auf Bildung gibt. Es darf nicht vom Geldbeutel abhängen, ob jemand Bildung erhält oder nicht. Das ist im Kern der Unterschied zwischen uns und Ihnen von der Regierungskoalition. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Nein! Da ist kein Unterschied!) Das BAföG war und ist Kernstück der Bildungsoffensive, die wir in den 70er-Jahren gestartet haben. Das BAföG war in der Tat sehr erfolgreich. Es hat Millionen Menschen ermöglicht, ein Studium oder den Schulbesuch zu finanzieren. Aber, Herr Kaufmann: Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen. Wir dürfen es nicht dabei belassen. Wir müssen das BAföG fortwährend weiterentwickeln. Es gibt in der Tat einige Studien – wir haben auch im Ausschuss für Bildung und Forschung über sie diskutiert –, deren Ergebnisse zeigen, dass es in erster Linie finanzielle Gründe sind, die Menschen daran hindern, Bildungsangebote wahrzunehmen, oder sie veranlassen, ein Studium abzubrechen. Darum müssen wir das BAföG weiter ausbauen. (Ulla Burchardt [SPD]: Ja!) Die Linke und vor allen Dingen die Grünen haben hierzu Vorschläge vorgelegt, die durchaus diskutabel sind. Die SPD hat schon letztes Jahr einen umfassenden Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Uns geht es darum, die Förderung zu erhöhen, damit das Geld während der gesamten Dauer des Bildungsprozesses ausreicht. Wir wollen vor allem, dass mehr Menschen in den Genuss der Förderung kommen. Wir beobachten durchaus eine Art Mittelstandsloch, wie wir es nennen: Das Einkommen der Eltern vieler Studierender liegt an einer Grenze. Sie bekommen entweder gar keine oder nur eine geringe Förderung, haben aber trotzdem Schwierigkeiten, ihre Ausbildung zu finanzieren. Da müssen wir durch die Ausweitung der Förderung und auch durch ein neues Instrument, das wir vorschlagen, nämlich das Nullzinsdarlehen, etwas machen. Auch müssen wir auf die Herausforderungen der neuen Studienstruktur reagieren. Bei vielen gibt es in der Förderung eine Lücke zwischen Bachelor und Master. Das müssen wir ausgleichen. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Idee des einheitlichen, elternunabhängigen Sockels durchaus reizvoll ist. Darüber müssen wir diskutieren. Dies ist natürlich eine schwierige Sache, weil wir dann auch das Kindergeld und die Steuerfreibeträge mit einbeziehen müssen. Das ist – auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten – nicht ganz leicht. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber möglich!) Ich denke, das müssen wir einmal gemeinsam diskutieren, wenn wir wieder eine vernünftige Mehrheit im Deutschen Bundestag haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gerne! – Ulla Burchardt [SPD]: Das ist ja bald!) In diesem Zusammenhang, weil ich über Steuern gesprochen habe, will ich noch etwas zum Thema steuerliche Absetzbarkeit sagen: Vor einiger Zeit gab es ein Urteil des Bundesfinanzhofs. Der Kollege Meinhardt von der FDP hat dann gleich gesagt: Super! Jetzt gibt es die Möglichkeit, weniger Steuern zahlen zu müssen. – Ich bitte Sie herzlich, einmal darüber nachzudenken. Das ist doch der falsche Weg. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die nach der Ausbildung viel Geld verdienen, Steuergutschriften erhalten. Vielmehr muss es darum gehen, dass die Leute jetzt, also in der Phase der Ausbildung, Unterstützung erhalten. Da müssen wir Veränderungen herbeiführen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine bessere Bildungsfinanzierung kostet Geld; das wissen wir. Auch wissen wir, dass das Geld nicht auf den Bäumen wächst. Darum haben wir von der SPD ein Konzept vorgelegt, nämlich einen Pakt für Entschuldung und Bildung. Wir wollen, dass jährlich 20 Milliarden Euro mehr von Bund und Ländern in Bildung investiert werden. Da das gegenfinanziert werden muss, wie wir sehr wohl wissen, sagen wir – obwohl dies unpopulär und streitig ist –, dass das mit Steuererhöhungen für diejenigen mit hohen Einkommen und großen Vermögen einhergehen muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darüber werden natürlich harte Diskussionen geführt werden, aber es ist eine klare Ansage und der richtige Weg. Wir streiten tatsächlich für Bildung. Aber was macht die Koalition? (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie gibt mehr Geld für Bildung aus!) Sie dümpelt so vor sich hin. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Im letzten Jahr gab es beim BAföG ein bisschen obendrauf. In diesem Jahr gibt es eine Nullrunde. Was passiert denn im nächsten Jahr? Man weiß es nicht. Aber das Stipendienprogramm soll der große Erfolg sein. Herr Kollege Kaufmann hat gesagt, da gehe es richtig voran. Ich habe einmal nachgeschaut – neulich gab es eine Presseerklärung des Ministeriums –: Aktuell gibt es 4 793 Stipendien. (René Röspel [SPD]: Wow!) Das sind 0,2 bis 0,3 Prozent aller Studierenden. Herzlichen Glückwunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber die rund 1 Million BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger lassen Sie links liegen. Das geht so nicht! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Monika Grütters [CDU/CSU]: Wir haben das BAföG erhöht!) Herr Kaufmann, Sie sagen immer – auch die Ministerin hat dies vor zwei Tagen in der Ausschusssitzung gesagt –: Die Länder machen nichts. Auch sie müssen eine BAföG-Erhöhung mitfinanzieren. Von ihnen kommt aber nichts. – Wie denn auch? Es sind doch Ihre verantwortungslose Steuer- und Finanzpolitik und Ihre Steuergeschenke für Hoteliers und Reiche, die den Ländern die Beine weghauen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Was ist mit der Körperschaftsteuer?) Sie können einem Schwimmer doch keine Bleigewichte anhängen und sagen: Nun schwimm mal schneller! Das ist das, was Sie hier veranstalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU) – Ich weiß, dass das wehtut und dass Sie das aufregt, aber Sie müssen der Wahrheit einmal ins Gesicht sehen. (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Baden-Württemberg hat einen ausgeglichenen Haushalt!) Ehrlich gesagt: Die Selbstbeweihräucherung, wie viel toller Sie sind, als die rot-grüne Regierungskoalition es einmal war, und wie viel mehr Geld Sie für Bildung und Forschung zur Verfügung stellen, geht auf die Nerven. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Schulz, möchten Sie noch unmittelbar vor Schluss Ihrer Rede eine Zwischenfrage des Kollegen Rupprecht beantworten? Swen Schulz (Spandau) (SPD): Gerne, ja. Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Lieber Kollege Schulz, kann es sein, dass Sie übersehen haben, dass es vor zwei Wochen eine intensive Berichterstattung dahin gehend gegeben hat, dass der größte Steuerausfall, den wir in den letzten 20 Jahren zu verzeichnen hatten, durch die große Körperschaftsteuerreform von Rot-Grün verursacht wurde? (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Genosse der Bosse!) Diese Untersuchung wurde nicht von einem konservativen Institut, sondern von einem gewerkschaftsnahen Institut durchgeführt. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Das war eine Entscheidung, die wir gemeinsam getroffen haben. In der Tat sind wir in der Lage, gegebenenfalls auf neue Situationen entsprechend zu reagieren und Konsequenzen daraus zu ziehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben ein klares Programm. Es muss dann eben auch Steuererhöhungen für bessere Bildung geben. Sie können sich aber nicht darauf einigen. Wir werden das dann nach der nächsten Bundestagswahl machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Eine Klatsche vom Bundesfinanzhof haben Sie bekommen!) Ich war gerade dabei, noch einmal die Unterschiede zwischen dieser Koalition und Rot-Grün bei der Finanzierung von Bildung und Forschung zu skizzieren. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das geht jetzt aber nicht mehr. (Heiterkeit) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Das ist schade. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ja, das finde ich auch. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich habe Sie vorhin so gelobt, Herr Präsident. Ich dachte, jetzt bekomme ich eine Minute mehr. Eigentlich hätte ich jetzt darauf hinweisen wollen, (Heiterkeit bei der SPD) dass Ihnen die Steigerung im Haushalt durch die Streichung der Eigenheimzulage möglich ist, die wir als Rot-Grün immer beantragt haben, während Sie sie im Bundesrat blockiert haben. Erst in der Großen Koalition haben wir das gemeinsam geschafft. Wir stehen zum BAföG und streiten dafür, Sie dümpeln herum. Na gut, dann machen wir das mit einer neuen Regierungskoalition besser. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Es ist schade, wenn der Höhepunkt einer Rede dem brutalen Redezeitregime zum Opfer fällt. Ich kann nur immer wieder meine Empfehlung wiederholen, mit dem Höhepunkt zu beginnen. Dann entsteht dieses Problem regelmäßig nicht. (Heiterkeit und Beifall) Nun hat der Kollege Patrick Meinhardt das Wort. Patrick Meinhardt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (René Röspel [SPD]: Jetzt kommt der Höhepunkt!) Liebe Frau Gohlke, Ihre Feststellung, dass das BAföG heutzutage ein Schatten seiner selbst sei, hat noch nicht einmal Ihre eigene Fraktion dazu gebracht, an der Stelle zu applaudieren. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Da gibt es auch nichts zu applaudieren!) Ich darf hier im Namen des ganzen Hauses zuerst einmal feststellen: 40 Jahre BAföG ist eine bildungspolitische Erfolgsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es war 1971 eine richtige Entscheidung, unter dem Vorzeichen des Bürgerrechts Bildung klarzumachen, dass die Chancenverteilung im Bildungswesen auch durch das Instrument BAföG in eine andere Richtung gelenkt werden sollte. Ich glaube, das ist der richtige Ausgangspunkt, unter dem man die BAföG-Gesetzgebung und die BAföG-Reformen in diesen 40 Jahren betrachten muss. Es ist auch gut, dass es unter wechselnden Regierungen unterschiedliche Akzentuierungen und Fortentwicklungen beim BAföG gab. Anhand der 23 Novellen, die es in diesen 40 Jahren gegeben hat, sieht man, dass es beim BAföG mit Sicherheit einen lernenden Prozess gibt. Ich sage auch ausdrücklich: Es war ein richtiges politisches Zeichen, dass die Große Koalition im Jahre 2008 die Bedarfssätze um 10 Prozent und die Freibeträge um 8 Prozent erhöht hat. Die FDP-Fraktion hat damals zugestimmt, weil wir es für ein richtiges bildungspolitisches Zeichen nach einer sehr langen Durststrecke gehalten haben, hier ordentlich etwas draufzusatteln. Es ist auch richtig gewesen, dass wir bei der BAföG-Modernisierung im vergangenen Jahr noch einmal richtig etwas draufgelegt haben: ungefähr 500 Millionen Euro mehr pro Jahr bzw. 1,6 Milliarden Euro mehr in den kommenden drei Jahren. 43 000 Studierende mehr können wir durch diese BAföG-Modernisierung schon jetzt fördern. Wir sind auf dem Weg zur Millionengrenze. Entfall der Grenze von 30 Jahren bei der Masterförderung, verlässliches Beibehalten der Förderungsart auch nach Fachrichtungswechsel, neue Berücksichtigung von Kinderbetreuungszeiten, Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe beim BAföG, Nichtanrechnung des Stipendiums von 300 Euro auf das BAföG: All das zeigt, dass wir erkannt haben, dass das BAföG ein wichtiges Instrument ist. Deswegen war es ein richtiges Zeichen dieser Regierungskoalition, hier zu modernisieren und einen großen Schritt voranzugehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In den vorliegenden Anträgen fordern Sie eine Erhöhung der Fördersätze. Bei den Grünen sind es 5 Prozent und bei den Linken 10 Prozent. Beide Anträge sind offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt, nach dem Motto „Wünsch Dir was“. Sie setzen hier einfach irgendwelche Beträge ein. Ich glaube, es ist wichtiger – das müssen wir ehrlich sagen –, dass wir eine verlässliche Finanzierung haben. Das bedeutet, dass wir vom Bund und von den Ländern her Verlässlichkeit sicherstellen müssen. Erinnern wir uns alle gemeinsam bitte an die letzte Debatte über das BAföG im vergangenen Jahr und daran, welches Hickhack es hier aufgrund der 65/35Finanzierung mit den Ländern gab. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie sie mit dem Deutschlandstipendium erpresst haben!) Wir als Fraktion sind gerne bereit, darüber nachzudenken, wie wir erreichen können, dass es zu einer regelmäßigen Anpassung kommt. Aber eines muss dabei sichergestellt werden: Jeder muss seine Hausaufgaben machen, auch in den eigenen Bundesländern. (Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/ CSU]) Ich weiß, Frau Gohlke, was passieren würde, wenn Sie Ihrer brandenburgischen Landesregierung eine Erhöhung des BAföG um 10 Prozent vorschlagen würden. Die dortigen Minister würden sagen: Mit uns nicht! – Das gefällt mir an dieser Stelle überhaupt nicht. Wir müssen in diese Debatte eine ehrliche und verlässliche Finanzierungsstruktur als Thema hineinbringen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulla Burchardt [SPD]: Brandenburg hat sogar das Schüler-BAföG!) Wir alle wissen doch – die HIS-Studie ist hier schon mehrfach angesprochen worden –, was eines der großen Probleme überhaupt ist: Im Zusammenhang mit dem BAföG fühlen sich 33 Prozent – so das Ergebnis der HIS-Studie – schlecht beraten; bei denjenigen mit einer niedrigen sozialen Herkunft waren es sogar 44 Prozent. Bei der BAföG-Beratung haben wir insgesamt einen enormen Nachholbedarf und müssen in allen Bundesländern etwas voranbringen. Angesichts einer Förderquote von nur 25 Prozent, obwohl über 70 Prozent der Studierenden einen Anspruch auf Förderung haben, muss eines klar sein: Wir müssen zusätzlich in ein frühzeitiges Informationssystem über die Fördermöglichkeiten im Bereich des BAföG investieren. Es geht darum, eine kluge Studienfinanzierung zu erreichen. Dabei geht es einerseits um Bildungsdarlehen und andererseits um BAföG. Darüber hinaus geht es darum, eine moderne, intelligente, kluge, zeitgemäße und sozial gerechte Stipendienkultur in der Bundesrepublik Deutschland zu justieren. Wir brauchen eine neue Stipendienkultur, um das hier sehr deutlich zu formulieren. Der Grund, über die Einführung eines dezentralen Deutschlandstipendiums nachzudenken, ist in allererster Linie der, dass wir innerhalb der OECD-Staaten das Schlusslicht in der Stipendienförderung sind. Es ist für eine Wirtschafts- und Bildungsnation wie die Bundesrepublik Deutschland fahrlässig, die Besten der Besten nicht zu fördern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Besten der Besten zu fördern, heißt eben auch: Wir wollen das unabhängig vom Geldbeutel und unabhängig vom sozialen Status erreichen. Wir haben im Augenblick die Situation, dass wir über die Begabtenförderungswerke, deren Mittel wir deutlich erhöhen, 1 Prozent der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Stipendium ausstatten können. Beim Deutschlandstipendium ist daher der elementare Ansatz: Wir dürfen nicht länger das Schlusslicht in der Stipendienförderung sein. Wir wissen doch alle, dass im Moment Fachhochschüler in der Bundesrepublik Deutschland in der Förderung benachteiligt werden. Nur 9 Prozent der Stipendien der Begabtenförderungswerke gehen an Fachhochschüler. Gleichzeitig wissen wir, dass über 50 Prozent der dort Studierenden aus nicht akademischen Familien kommen. Deswegen ist es für mich ein Zeichen von Bildungsgerechtigkeit, an den Hochschulen eine eigene Stipendienkultur in die Wege zu leiten, um dort für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine allerletzte Bemerkung. In Nordrhein-Westfalen werden auch unter der neuen rot-grünen Regierung weiterhin 2 600 Studierende durch ein Stipendienprogramm gefördert. (Ulla Burchardt [SPD]: Sollen wir die herausschmeißen, Herr Meinhardt?) Ich zitiere eine entsprechende Meldung aus Nordrhein-Westfalen: SPD und Grüne wollen das NRW-Stipendium so lange weiterführen, bis das Deutschlandstipendium in entsprechendem Umfang greift. – Ich wäre froh, wenn dieser Pragmatismus, der hinsichtlich der Studierenden in Nordrhein-Westfalen richtigerweise an den Tag gelegt wird, auch bundesweit bei Rot und Grün in der Debatte um Bildungsgerechtigkeit vorherrschen würde. (Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das heißt, wir müssen das Pinkwart-Programm auslaufen lassen? Talentförderung ist kein Widerspruch zur Breitenförderung. Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch wird ausgedrückt, dass Bildung ein Bürgerrecht ist. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kai Gehring ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zugang zu unseren Hochschulen ist ein ganz zentrales Gerechtigkeitsthema und entscheidend für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Daher können wir es uns schlichtweg nicht länger erlauben, dass der Weg zum Campus für viele junge Menschen blockiert bleibt. Um Zugänge zu verbreitern, muss die Regierung dreierlei tun: Sie muss anlässlich des 40. BAföG-Geburtstags die staatliche Studienfinanzierung weiterentwickeln. Sie muss den Studienplatzmangel bei Bachelor- und Masterstudiengängen wirksam bekämpfen. Sie muss bundesweit für ein funktionierendes Hochschulzulassungsverfahren sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist nicht hinnehmbar, dass unzureichendes BAföG, fehlende Studienplätze, Zulassungschaos und bundesweit gestiegene lokale NCs junge Menschen vom Studium abhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dass die OECD letzte Woche in ihrer Vergleichsstudie Bildung auf einen Blick erneut festgestellt hat, dass hierzulande Hochqualifizierte fehlen, nehmen wir als Grüne sehr ernst. Die Bildungspolitiker der Koalition würden diese alarmierende Botschaft am liebsten vom Tisch wischen. Fakt ist aber: In Deutschland fehlen Fachkräfte und Akademiker. Das muss Warn- und Weckruf für die Bundesregierung sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der von Schwarz-Gelb beklagte Fachkräftemangel ist im Übrigen größtenteils hausgemacht. Sie nutzen das Studierendenhoch nicht. Im Wintersemester fehlen mindestens 50 000 Studienplätze. Deshalb fordern wir einen Hochschulpaktnotfallplan sowie Nachverhandlungen zwischen Bund und Ländern. Kein Studienberechtigter sollte ohne Platz in einer Warteschleife landen. Alle jungen Menschen brauchen einen Zugang zur Hochschule. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie verwalten das anhaltende Zulassungschaos nur, Sie lösen es aber nicht. Es ist ein Fiasko, dass das dialogorientierte Serviceverfahren nach wie vor nicht funktioniert. Es ist auch ein Fiasko, dass trotz der Knappheit Studienplätze unbesetzt geblieben sind – fast 10 000 allein im letzten Semester –, da es nach vier Jahren Reden noch immer kein funktionierendes Einschreibungs- und Zulassungsverfahren gibt. Deshalb brauchen wir bundeseinheitliche Zulassungsregeln und ein funktionierendes und transparentes Vergabesystem, an dem sich möglichst alle Hochschulen beteiligen und das angemessen ausfinanziert ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie sorgen im Ausbildungsbereich nicht dafür, dass es weniger Warteschleifen, Abbrecher und Altbewerber gibt. Sie hoffen einfach auf eine demografische Lösung und lehnen sich zurück. Im Übrigen knausern Sie auch noch bei der Weiterbildung, statt ein umfassendes Erwachsenenbildungsförderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Das alles ist mangelhaft und hilft nicht, den Fachkräfte- und Akademikermangel zu bekämpfen. Bundesministerin Schavan müsste endlich die Bekämpfung des Fachkräftemangels zur Chefinnensache machen. Sie muss endlich von der Zuschauertribüne herunterkommen, um zu gestalten und zu handeln. Sie sollte im Übrigen auch an solchen Debatten wie der heutigen teilnehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Moderne Hochschulpolitik eröffnet Chancen und ermöglicht Teilhabe. An den Schnittstellen und Übergängen in unserem Bildungssystem zeigt sich, ob Chancengleichheit besteht und Aufstieg durch Bildung gelingt. Vergleichsstudien stellen uns immer wieder ein schlechtes Zeugnis aus: Ein Sechstel aller Kinder wächst in ALG-II-Bedarfsgemeinschaften auf. Deren Chancen auf einen Universitätsabschluss sind leider weiterhin sehr gering. Jugendliche aus einkommensärmeren Nichtakademiker-Elternhäusern werden nach wie vor völlig unzureichend gefördert und zu wenig zum Bildungsaufstieg ermuntert. Es ist eine traurige Realität, dass Konto oder Pass der Eltern stärker über Bildungserfolg oder Bildungsmisserfolg in unserem Land entscheiden als Talent und Potenzial. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das muss sich ändern. Bisher ist es so. Daher kann von Bildungsgerechtigkeit keine Rede sein. Wir müssen die krassen Bildungsungerechtigkeiten weiter abbauen. Wir brauchen breite Zugänge zum Campus, und deshalb geht es auch darum, die Studienfinanzierung zu verbessern. Vor 40 Jahren wurde das BAföG eingeführt. Es hat seitdem 4 Millionen Menschen ein Studium finanziert, die es sich sonst nicht hätten leisten können. Wir können heute sagen: Herzlichen Glückwunsch zu einer der großen Erfolgsstorys des deutschen Sozialstaates! Das BAföG hat unser Land definitiv gerechter gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) 40 Jahre sind Anlass zum Feiern, aber auch zum Fortentwickeln. Alle Seiten dieses Hauses haben BAföG-Reformen auf den Weg gebracht. Seit 1998 unter der rot-grünen Bundesregierung ging es dabei glücklicherweise nur noch um Aufbau und Ausbau statt um den Abbau wie in den Zeiten davor. In dem von uns vorgelegten Antrag fordern wir kurzfristige Reformschritte, darunter eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge um mindestens 5 Prozent, um den Berechtigtenkreis zu erweitern und mehr jungen Menschen den BAföG-Bezug zu ermöglichen. Über diese Reparaturen hinaus wollen wir das BAföG mittelfristig zu einem Zwei-Säulen-Modell ausbauen. Herr Kaufmann, ich erkläre es Ihnen und anderen gerne noch einmal: Dieses Modell kombiniert bedarfsabhängige und bedarfsunabhängige Elemente. Die erste Säule ist ein Zuschuss für alle Studierenden und schafft damit eine gewisse Basisabsicherung. Damit würden wir allen Studienberechtigten einen starken Anreiz bieten, ein Studium aufzunehmen. Die zweite Säule ist ein Bedarfszuschuss, der eine starke soziale Komponente für Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern garantiert. Das Ganze ist also bedarfsabhängig. Im Rahmen dieses ZweiSäulen-Modells würden wir die familienbezogenen Leistungen, also das Kindergeld und Steuerfreibeträge, in einen Sockel für alle überführen. Dieses Geld käme dann den Studierenden direkt zugute. Das wäre ein großer Vorteil im Vergleich zum bisherigen BAföG. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Sie wissen doch, dass das rechtlich problematisch ist!) Mit unserem Modell würden wir im Übrigen Studienberechtigte aus dem bisherigen BAföG-Mittelschichtsloch herausholen. Das ist eine ganz wichtige Herausforderung. BAföG-Mittelschichtsloch heißt doch: Die Eltern verdienen knapp über der Grenze und können trotzdem ihren Kindern das Studium nicht finanzieren. Die Gruppe derjenigen, die in dieses Loch fallen, ist ziemlich groß, und da müssen wir Angebote machen. Es ist spannend, dass Linksfraktion, GEW und CHE vergleichbare Säulenmodelle vorschlagen. Vielleicht – so habe ich Herrn Schulz vorhin verstanden – macht sich die SPD ebenfalls noch auf den Weg, das mit uns gemeinsam zu diskutieren oder womöglich bald einzuführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Wir sind gespannt!) Bei Schwarz-Gelb scheint einerseits endlich die Phase überwunden zu sein, das BAföG schlechtzureden, zu attackieren und stattdessen Studienkredite für alle zu propagieren, wie man es gerade Ende der 1990er-Jahre und in den 2000er-Jahren gemacht hat. Andererseits ist es bedauerlich, dass sich die Bundesministerin zum 40. BAföG-Geburtstag verweigert, ein Reformpaket zu schnüren. BAföG ist kein Almosen, kein Geschenk, sondern Lebensunterhaltsfinanzierung vieler junger Menschen in unserem Land. Sie brauchen es dringend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Dann erkennen Sie doch an, dass wir in den letzten zwei, drei Jahren viel gemacht haben!) Schwarz-Gelb wandert trotz gelegentlicher Erleuchtungen weiter auf Irrwegen. Im vergangenen Jahrzehnt haben sieben schwarz-gelb-regierte Bundesländer Studiengebühren eingeführt. Das war sozial ungerecht. Das ist und bleibt ungerecht. Das hat Studienberechtigte reihenweise vom Studium abgeschreckt, und es hat nicht mehr Mittel an die Hochschulen gebracht, weil Sie gleichzeitig die Grundfinanzierung dieser Hochschulen in den Ländern abgesenkt haben. (Patrick Meinhardt [FDP]: Das hat deutlich mehr Mittel an die Hochschulen gebracht! Das ist eine Lüge!) Angesichts dessen ist es ein historischer Erfolg, dass vor allem rot-grüne Länder die ungerechte Campusmaut abgeschafft haben. Darauf sind wir gemeinsam stolz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Und die Hochschulen im Regen stehen lassen! – Ulla Burchardt [SPD]: Das wird in Bayern fortgesetzt!) Letzte Gebührenbastionen sind jetzt Niedersachsen und Bayern. Das sind die letzten Mohikaner, bei denen Studiengebühren für alle anfallen. Ich sage Ihnen voraus: Auch die werden wir knacken, und wir werden endlich eine studiengebührenfreie Republik schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Meinhardt [FDP]: Dass Sie eine andere Republik wollen, ist klar! – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Aber nicht zum Wohle der Hochschulen!) Ein weiterer Irrweg bleiben Ihre Deutschlandstipendien. Die Energie und das Geld, mit dem Sie Ihren Ladenhüter auch heute hier promoten, sollten Sie wirklich lieber ins BAföG investieren. Das brächte auch ein dickes Plus für Bildungsgerechtigkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Deutschlandstipendium ist doch nichts anderes als eine Eliteförderung für bisher 0,3 Prozent aller Studierenden in Deutschland. (Patrick Meinhardt [FDP]: Tja! Hamburger Boykott! Roter Boykott!) Da kann man doch nicht von einer neuen Säule der Studienfinanzierung reden. Daran kann man erkennen: Sie setzen ganz klar eine falsche Priorität. Wir müssen eine bessere staatliche Studienförderung in der Breite erreichen. Wenn 71 Prozent der Akademikerkinder ein Studium aufnehmen, aber nur 24 Prozent der Nichtakademikerkinder, (Patrick Meinhardt [FDP]: Dann müssen wir die Fachhochschulen mehr fördern!) zeigt das doch, dass sich eine gerechte Studienfinanzierung auf diese potenziellen Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger konzentrieren muss. Ihre neue Stipendienkultur, die Sie auch heute hier proklamiert haben, ist nichts anderes als eine Fata Morgana. (Patrick Meinhardt [FDP]: Sie haben die Stipendienwüste in Deutschland hinterlassen!) Ihr Programm ist die falsche Reaktion auf die soziale Schieflage beim Hochschulzugang. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Womöglich ist die Bundesregierung derzeit wieder dabei, einen neuen Irrweg einzuschlagen, nämlich beim Umgang mit dem Urteil des Bundesfinanzhofs zur steuerlichen Absetzbarkeit von Erstausbildungskosten. Wir wollen keine nachlaufende Gutschrift, die vom Studienfach oder der Gehaltshöhe abhängt. Wir wollen auch nicht, dass Studiengebühren an privaten Hochschulen über die Hintertür des Steuerrechts vom Steuerzahler subventioniert werden, sondern wir wollen eine bessere, direkte Förderung während der Ausbildungs- und Studienzeiten, die sich an der Bedürftigkeit des Einzelnen bemisst. Fakt ist: Die staatliche Studienfinanzierung muss gerechter, besser, verlässlicher und leistungsfähiger werden. Niemand soll aus finanziellen Gründen auf ein Studium verzichten müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Muss er heute auch nicht!) Ich setze dabei auch auf die Erkenntnisse in der Koalition, dass Fachkräfte- und Akademikermangel Wohlstand, Wachstum und Innovation bremsen, und das umso mehr in Zeiten demokratischer Schrumpfung und Alterung, in denen das Arbeitskräftepotenzial dramatisch sinkt. Wir brauchen daher dringend mehr Bildungsaufsteiger. Kein Talent darf zurückgelassen werden. Das ist keine Floskel und keine Phrase, sondern das muss die absolute Priorität haben. Alles andere wäre wirtschaftlich widersinnig und absolut ungerecht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erteile ich nun dem Kollegen Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir feiern in diesen Tagen 40 Jahre BAföG. Das ist ein guter Grund, zu feiern; denn über Jahrzehnte hinweg hat das BAföG Millionen von Schülern und Studenten geholfen, (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Schülerinnen!) ihre Ausbildungskosten zu decken. Die christlich-liberale Koalition wird die Geschichte des BAföG erfolgreich weiterschreiben. Gerade in Zeiten, in denen landauf, landab vom Fachkräftemangel gesprochen wird, wird deutlich, welche zentrale Bedeutung eine gute Ausbildung nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für unser Land als Ganzes hat. Die Förderung von Bildung und Forschung war von Anfang an eines der zentralen Projekte dieser Koalition. Der Haushaltsentwurf 2012 für das Bundesministerium für Bildung und Forschung sieht wie die Jahre zuvor erneut eine massive Steigerung vor: im Vergleich zu 2011 um fast 10 Prozent auf 12,8 Milliarden Euro. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel Geld für Bildung und Forschung ausgegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dank Eigenheimzulage!) Wir sind stolz darauf, diesen Schwerpunkt setzen zu können, trotz der schwierigen Haushaltssituation, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steuermehreinnahmen!) und das, ohne unser anderes großes Ziel, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, aus den Augen zu verlieren. Einfach mehr ausgeben, das kann jeder. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können es nicht! Sie setzen die falschen Prioritäten!) Aber die Neuverschuldung konsequent zurückzuführen und dennoch einen solchen Akzent zu setzen, das ist nachhaltige, das ist generationengerechte Politik. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Das ist ein Markenzeichen dieser Bundesregierung und dieser Koalition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Genau, das können nur wir!) Von unserem Schwerpunkt auf Bildung und Forschung haben in den vergangenen Jahren auch die BAföG-Empfänger profitiert. Nach der großen BAföG-Novelle 2008 haben wir 2010 das BAföG noch einmal erhöht. Die Bedarfssätze sind um 2 Prozent gestiegen, die Einkommensfreibeträge um 3 Prozent. Bund und Länder haben im Jahr 2010 über 2,8 Milliarden Euro für das BAföG ausgegeben. Das waren 170 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. 916 000 Schüler und Studenten haben 2010 BAföG-Leistungen erhalten. Das waren über 40 000 mehr als 2009. Kollege Kaufmann hat weitere Verbesserungen beim BAföG angesprochen, die wir im Zuge dieser Novelle vorgenommen haben. Ich brauche das daher nicht zu wiederholen. Hinzu kommt, dass der Anteil derer, die ein Studium aufnehmen, in den letzten Jahren konstant gestiegen ist, allein in den vergangenen fünf Jahren um 10 Prozentpunkte auf heute 46 Prozent des Altersjahrgangs. Das alles kann man natürlich kleinreden. Es geht immer noch mehr. Ich weiß auch, dass im Bildungssystem noch längst nicht alles in Ordnung ist. Aber wir haben eben nicht nur Verantwortung für die finanzielle Unterstützung von Schülern und Studenten während ihrer Ausbildungszeit, sondern auch Verantwortung für den Staatshaushalt und den Staat als Ganzes. Genauso wie bei jeder anderen staatlichen Transferleistung müssen wir beim BAföG immer wieder das Interesse derer, die die Leistung beziehen, mit den Interessen derer in Ausgleich bringen, die mit ihren Steuern diese Leistungen bezahlen, obwohl sie selbst sie nie in Anspruch nehmen. Auch das gehört zur Gerechtigkeit. Es kann dabei nicht danach gehen, wer am lautesten schreit; denn das schafft nur Ungerechtigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gerecht kann es nur auf einer sachlichen Basis geschehen. Die Bundesregierung schafft seit Einführung des BAföG eine solche Basis, indem sie alle zwei Jahre den BAföG-Bericht vorlegt, der aufzeigt, wie sich Einkommen und Verbraucherpreise entwickeln. Bei der letzten Erhöhung 2010 sind wir sogar bewusst darüber hinausgegangen, um unser Schwerpunktthema Bildung noch einmal besonders herauszustellen. Der nächste BAföG-Bericht kommt 2012. Auf dieser Basis und je nach Lage der Staatsfinanzen werden wir im nächsten Jahr darüber beraten, um wie viel wir das BAföG erhöhen können. Sie können sich darauf verlassen: Bildung und Forschung bleiben auch in Zukunft ein Schwerpunktthema dieser Bundesregierung und der Koalition. Wir dürfen aber auch nicht überziehen. Nur wenn wir das BAföG mit Vernunft und Ernsthaftigkeit weiterentwickeln, bleibt auch die breite Akzeptanz für dieses international herausragende Instrument der Studienfinanzierung erhalten. Nur dann werden wir in zehn Jahren einen guten Grund zu feiern haben, nämlich das fünfzigjährige Jubiläum des BAföG. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Burchardt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ulla Burchardt (SPD): Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geld allein bringt noch nichts Gutes. Das sehen wir bei dem neuen dialogorientierten Serviceverfahren, das zu diesem Wintersemester in Kraft treten sollte. Die Einführung eines modernen effizienten Zulassungsverfahrens ist abermals verschoben worden. Das ist – ich glaube, das sehen wir alle so – eine Blamage für den Hochschul- und Wissenschaftsstandort Deutschland. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der Ansturm der Bewerber zu diesem Wintersemester kommt nicht unerwartet. Er ist schon länger bekannt. Das wissen alle. Die Studenten dieses Bewerberjahrgangs finden keinen geebneten Zugang zu den Fächern, die sie studieren wollen, sofern die Hochschulen überhaupt eine ausreichende Zahl an Studienplätzen zur Verfügung stellen. Selbst für diejenigen, die einen der knappen Plätze erhalten, wird der Einstieg nicht geebnet, sondern sie finden wieder einen Bürokratiedschungel vor. Es ist zu befürchten, dass mit viel Geld finanzierte Studienplätze brachliegen werden. So war es im letzten Jahr. Lieber Kollege Gehring, die Zahl des BMBF hinsichtlich nicht besetzter Studienplätze, die mir bekannt ist, lautet 20 000. Das kann nicht länger hingenommen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist noch schlimmer!) Mit diesem Flop setzt sich eine fast zehn Jahre währende Geschichte, ein neues Zulassungsverfahren einzuführen, fort. Es ist eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen. 1999 hat die rot-grüne Koalition den Hochschulen die Freiheit gegeben, Bewerber selber auszusuchen – das als Hinweis für die Redenschreiber der Koalition. Seitdem ist klar – 2002 hat die Kultusministerkonferenz das selber festgestellt –: Ohne ein Mindestmaß an zentraler Koordinierung kann das nicht funktionieren. Dann hat die Kultusministerkonferenz noch einige Jahre gebraucht, um auf die Idee zu kommen, die ZVS, eine Behörde, in eine Stiftung umzuwandeln. Jetzt hat ein Stiftungsrat die Verantwortung übernommen, der sich aus 16 Vertretern der Landesregierungen und 16 Vertretern der Hochschulrektoren zusammensetzt. Erstmals sind die Hochschulrektoren mitverantwortlich, ob etwas klappt oder nicht. Das möchte ich an dieser Stelle festhalten. Man sollte also die Forderungen nicht immer nur an die Politik richten. Übrigens ist auch das BMBF Mitglied des Stiftungsrates, wenn auch ohne Stimmrecht. Über Jahre ist nichts passiert, weil widerstreitende Interessen und Erwartungen, wechselnde Wünsche von Politik und Hochschulrektoren und ideologische Ressentiments gegenüber zentraler Koordinierung die Debatten des Stiftungsrates dominierten. Die Praktiker, die viele Jahre für die Organisation der Bewerbungsverfahren bei der ZVS, bei der Hochschule und dem Unternehmen HIS verantwortlich waren, sind entweder nicht gefragt worden oder auf sie wurde nicht gehört. Dieses Grundproblem ist virulent, seitdem die Anschubfinanzierung von 15 Millionen Euro eingesetzt wurde, die unser Ausschuss bei den Haushältern lockergemacht hat. Das durfte Frau Schavan dann öffentlich verkünden. Auch dieses Hin und Her bei der Entwicklung des dialogorientierten Serviceverfahrens hat eine Rolle dabei gespielt, dass es noch nicht in Kraft gesetzt werden konnte. Dabei muss allen Verantwortlichen von Anfang an bewusst gewesen sein – Bund, Ländern und Hochschulrektoren –, dass es dabei nicht nur um die Entwicklung einer anspruchsvollen Technik geht, sondern auch um ein hochkomplexes Geschäftsmodell. Ein neues, zentrales technisches Verfahren muss mit der ITSoftware, die an den Hochschulen vorhanden ist, kompatibel sein. Das ganze System scheiterte, weil es an 80 Prozent der Hochschulen, die mit einer bestimmten Software gearbeitet haben, nicht funktioniert hat. Das kann eigentlich keine Überraschung gewesen sein, war es aber für die Verantwortlichen in BMBF und Stiftungsrat doch. Jedes Unternehmen weiß, Herr Murmann: Wenn ein neues technisches System eingeführt wird, dann muss es eine Prozessanalyse und ein Schnittstellenmanagement geben. Darauf haben die Damen und Herren von Stiftungsrat und BMBF in ihrer Weisheit aber verzichtet. Auch Frau Schavan ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Sie hat zwar die 15 Millionen Euro vollmundig verkündet, sich aber anschließend um nichts mehr gekümmert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Insofern hat nicht die Technik versagt, sondern das Management, und zwar auf ganzer Linie. Das BMBF hat nicht eingegriffen, als es aufgrund des Finanzierungsstreits zwischen Ländern und Hochschulen mit dem versprochenen Full Service für die Bewerber nichts wurde, sondern eine Version „light minus“ herauskam. Es hat kein zentrales Bewerbungsmanagement gegeben. Das ist keine Entlastung der Bewerber von Bürokratie. Es hat keine Entlastung für die Hochschulen gegeben. Hochschulen mit Mehrfachstudiengängen konnten überhaupt nicht mitmachen. Damit war das Versprechen der HRK überhaupt nicht einlösbar. Sie sind mit dafür verantwortlich, dass es in diesem System und in dem ganzen Verfahren keinen Plan B gab. Das kann keiner verstehen. Jeder muss wissen: Wenn es um ein hochkompliziertes Modell geht, muss es einen Plan B geben. Aber aufgrund des Finanzierungsstreits haben Sie darauf verzichtet, im System eine Funktion programmieren zu lassen, die einen Plan B ermöglicht hätte, nach dem die Hochschulen das Ganze in Ihrem Auftrag, nach Ihren Wünschen an die Zentrale in Dortmund, an die Stiftung, hätten verlagern können. Wenn jetzt HIS, also das Unternehmen Hochschul-Informations-System, zum Sündenbock gemacht wird, dann ist das degoutant und kaschiert nur die eklatante Fehleinschätzung, die es bei Ländern, bei den Hochschulrektoren und auch an der Spitze des BMBF gegeben hat. Das BMBF ist zusammen mit den Ländern Gesellschafter von HIS. Man hätte wissen können, dass an 80 Prozent der Hochschulen eine 13 Jahre alte HIS-Software in Betrieb war. Kein Mensch käme auf die Idee, dass man einen 13 Jahre alten Gebrauchtwagen so tunen kann, dass er bei der Formel 1 mitfahren kann, um dann dem Unternehmen die Schuld aufs Auge zu drücken und zu sagen: Ach, er hat leider nicht das ganze Rennen funktioniert. – Für ein solches Vorgehen fehlt wirklich jegliches Verständnis. Man sollte in Klausur gehen und erkennen: So geht es nicht weiter. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt hat der Neustart begonnen. Im Oktober sollen die ersten Testläufe stattfinden. Zum Wintersemester 2012/13 soll das ganze System in Betrieb gehen. Ein paar Forderungen von uns sind erfüllt worden. Endlich ist ein Lenkungsausschuss eingesetzt worden. Klasse, muss ich sagen; Hauptsache, man hat gelernt. Es hat aber leider ein bisschen zu lange gedauert. Einen Notfallplan haben Sie leider nicht entwickelt. Die Studienplatzbörse, die nie richtig funktioniert hat, ist auf dem alten Stand. Darum hat sich keiner gekümmert. Vor allen Dingen aber – das beunruhigt mich wirklich und, ich glaube, auch Frau Grütters; sie hat gestern im Ausschuss entsprechende Andeutungen gemacht –: Man muss ernsthafte Zweifel haben, ob dieses System zum Wintersemester 2012/2013 tatsächlich zum Einsatz kommen kann, unter anderem deshalb, weil es wieder einen unerträglichen Finanzierungsstreit gibt, diesmal um 5 Millionen Euro, die dem Unternehmen HIS zur Verfügung gestellt werden sollen, damit es die alte Software anpassen kann. Dort, wo die neue HIS-Software angewandt wurde, hat das Ganze übrigens funktioniert; deswegen ist es sowieso total falsch, das Unternehmen zu beschimpfen. Die Gesellschafterversammlung – Bund und Länder – hat beschlossen, dass HIS 5 Millionen Euro erhält, um den Anpassungsprozess hinzubekommen. HIS ist ein Unternehmen. Es muss Gewinne erwirtschaften. Die Länderfinanzminister haben aber gesagt: Die 5 Millionen Euro gibt es nicht. (Monika Grütters [CDU/CSU]: Richtig! Das stimmt!) Im Oktober soll das Ganze anlaufen, und HIS hat bis heute kein Geld gesehen. Meine Damen und Herren, lieber Herr Staatssekretär, vielleicht kümmern Sie sich jetzt endlich einmal um die Sache. (Beifall bei der SPD – Monika Grütters [CDU/ CSU]: Die Länder!) Ich sage Ihnen heute: Aus dieser Verantwortung kommt keiner mehr heraus. Es geht nicht an, das allein auf die Länder zu schieben. Die Länder darf man zwar bei der Kritik nicht außen vor lassen, aber Sie können auch nicht sagen: Das ist alles Ländersache; wir haben damit nichts zu tun. Es gibt viele gute Gründe, über mehr zu diskutieren als nur über dieses Zulassungsverfahren. Der wirkliche Skandal ist, dass es einen flächendeckenden Numerus clausus gibt. Deswegen brauchen wir eine strukturell vernünftige Bildungsfinanzierung, eine Aufhebung des Kooperationsverbots. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD wird dies auf ihrem Bundesparteitag im Dezember beschließen. Wir haben die Verständigung zwischen Bundes- und Landespolitikern erreicht. (Patrick Meinhardt [FDP]: Wir werden uns angucken, ob Sie es wirklich so beschließen werden!) Sie haben die Chance, drei Wochen vorher etwas vorzulegen. – Jetzt hätte es mal Beifall geben dürfen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Wir müssen vor allen Dingen Schluss machen mit der Ideologie der Bestenauslese. Ich habe den Satz von Ihrem Staatssekretär Lange noch im Ohr, der gesagt hat: Der NC ist eine Frage der Qualitätsauswahl. Machen Sie Schluss mit dieser Mottenkiste, sonst kommen wir an dieser Stelle nicht weiter. Wir brauchen endlich eine solide Bestandsaufnahme darüber, wie viele Studienplätze es gibt. Es kann doch nicht sein, dass die KMK in ihrem Bericht zum Masterbereich lapidar feststellt, dass es keine Kenntnis über die Anzahl bundesweit vorhandener Studienplätze gibt. Es kann auch nicht sein, dass Sie nicht im Traum daran denken, eine solche Erhebung durchzuführen, weil sie mit zu viel Bürokratie verbunden wäre. Das ist des Wissenschaftsstandorts Deutschland nicht würdig. Man muss doch eine vernünftige Ressourcenplanung machen können, und dafür braucht man eine empirische Basis. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Ulla Burchardt (SPD): Ich komme zum Schluss. – Wir brauchen ein Bundeszulassungsgesetz und keine Wundertüte, wie die Linke das verspricht. Wir brauchen solide, vernünftige Instrumente und empirische Daten, und zwar nicht nur, damit man weiß, ob ausreichend Studienplätze zur Verfügung stehen, sondern auch, damit man weiß, wie viele Studienplätze es insgesamt gibt und wie viele Menschen einen Studienplatz erhalten. Ich habe die dringende Bitte an die Ministerin und die Koalition: Machen Sie von Ihrer Kompetenz Gebrauch! Sie haben im Zuge der Föderalismusreform zugestimmt, dass der Bund die Kompetenz für die Zulassung hat. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Ulla Burchardt (SPD): Wenn Sie es nicht machen, dann werden wir es in Angriff nehmen. (Beifall bei der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Hat die SPD nicht zugestimmt?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Martin Neumann ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in meiner zur Verfügung stehenden Zeit auf die Anträge von SPD und Linken zum Thema Hochschulzulassung konzentrieren. Schauen wir uns die Anträge genau an. Wir sollten hinterfragen, wie die Probleme, die aufgezeigt werden, tatsächlich gelöst werden können. Zum Antrag der SPD, in dem ein Notfallplan für die Hochschulzulassung gefordert wird. Es ist klar – Frau Burchardt hat das eben deutlich gemacht –, dass das Verschieben des Starts des dialogorientierten Zulassungsverfahrens mehr als nur ärgerlich ist. Darüber sind wir uns einig. Wir haben über die verschiedenen Ursachen, zum Beispiel die Softwareprobleme, diskutiert. Wir gehen davon aus, dass alles geklärt werden kann. Allen Beteiligten ist klar, dass eine große Aufgabe vor uns liegt, die aber erfüllt werden kann. Der Notfallplan und die damit verbundenen konkreten Forderungen an den Bund können nicht allein vom Bund erfüllt werden. Das muss man deutlich sagen. Hier hilft nur – das ist wichtig hervorzuheben – eine gemeinsame Kraftanstrengung der Länder, der Stiftung für Hochschulzulassung und der beteiligten Hochschulen. Der Bund hat vieles gemacht, vor allen Dingen hat er das gemacht, wozu er rechtlich und insbesondere finanziell in der Lage ist. Den Notfallplan kann man daher aus unserer Sicht nur als weiße Salbe beschreiben. Ich komme zum Antrag der Linken. Alle Welt spricht von Vollbeschäftigung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist ein redliches Ziel, völlig klar. Genauso bedeutsam ist es natürlich, eine sogenannte Vollbeschäftigung für Studierwillige zu schaffen. Auch in diesem Punkt sind wir uns einig. Doch es gibt auch gravierende Unterschiede; so bewerten wir das zumindest. Sie sprechen von einem Heer von Studierwilligen. Die Zahlen zeigen, dass im letzten Jahr weit über 10 000 zulassungsbeschränkte Studienplätze frei waren. Das entspricht einer Vakanz von 5 Prozent und einer offensichtlichen Diskrepanz in Bezug auf die Vermutung, dass Menschen, die studieren wollen, nicht studieren können. Die genannte Vakanz geht übrigens mit einer signifikanten Erhöhung der Studierendenquote einher. Fast die Hälfte aller Schulabgänger des Jahres 2010 begann mit einem Studium. Das ist ein neuer Rekord. Das muss man an dieser Stelle würdigen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich also feststellen: Wer studieren möchte, der kann das auch tun. Ich denke an Gespräche, die ich zum Beispiel mit Handwerkskammerpräsidenten führe. Sie sagen: Das ist in Ordnung. Der Weg ist richtig. Wir brauchen Hochqualifizierte. – Auch das ist ein Punkt, den es zu würdigen gilt. Weiter fordern Sie eine freie Studienplatzwahl an jeder beliebigen Hochschule des Landes in jedem beliebigen Studiengang. Das haben Sie so geschrieben. Das klingt ein bisschen nach „Wünsch dir was“. Der eine oder andere Antrag, den Sie vorgelegt haben, hat diesen Anschein. Wenn man sich Ihre Anträge genauer anschaut, dann muss man – Frau Gohlke, das muss ich an dieser Stelle sagen – die Ernsthaftigkeit Ihrer Absicht infrage stellen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Daran kann man sie erkennen!) Wenn man sämtliches Abstraktionsvermögen, über das man verfügt, einmal zusammennimmt und versucht, ein Ziel herauszuarbeiten, dann stellen sich gleich mehrere Fragen. Sie forderten gestern in diesem Hohen Haus mehr Planungssicherheit für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie für Wissenschaftler. Sie wollen also de facto weniger Zeitarbeit und weniger befristete Arbeitsverträge auf diesem Gebiet. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Genau!) So weit, so gut. Das erfordert aber – jetzt kommen wir auf den Punkt – Planungssicherheit für die Hochschulen. Wie sollen die Hochschulen das denn machen? (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das erfordert die Ausfinanzierung der Hochschulen!) – Liebe Frau Gohlke, ohne entsprechende Steuerung käme jedes Jahr eine unbekannte Zahl an Studienanfängern an die Hochschulen oder eben nicht. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das weiß man vorher überhaupt nicht, wie viele Abiturienten wir haben!) Umso wichtiger wäre es in dem Fall für Hochschulen, je nach Bedarf Personal einstellen zu können und nicht benötigte Kapazitäten abzuwickeln. Letztere Alternative stellt im Übrigen ein Problem dar. Werden weniger populäre Universitäten nicht mehr so stark frequentiert, dann müssten dort Stellen abgebaut werden. Aus Zeitgründen möchte ich nur ganz kurz auf das Bundeshochschulzulassungsgesetz eingehen. Sie fordern damit etwas heraus. Das muss Ihnen bewusst sein. Wir wollen die Autonomie der Hochschulen. Wir sehen das als einen sehr wichtigen Punkt an, weil damit in einem gewissen Sinne Freiheit für Wissenschaft entwickelt werden kann. Diese Forderung, die Sie gestellt haben, werden wir von der FDP nicht mittragen. Nun noch zu einer Behauptung, die Sie immer wieder anführen, nämlich zum angeblichen Mangel an Masterstudienplätzen an deutschen Hochschulen. Ich will es an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen. Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Masterstudienplätzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da sind Sie aber falsch informiert!) 90 Prozent der Bachelorabsolventen 2009, die ein Masterstudium aufgenommen haben, gaben an, sowohl ihr Wunschfach als auch einen Platz an ihrer Wunschhochschule bekommen zu haben. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Drei Viertel aller Masterstudiengänge sind nicht mit einem Numerus clausus belegt. Selbst bei den örtlich zulassungsbeschränkten Fächern blieben nach Ende des Nachrückverfahrens (Ulla Burchardt [SPD]: Sonstige Zulassungsbeschränkungen sind in der Statistik gar nicht erfasst!) – Frau Burchardt, hören Sie doch erst einmal zu – fast 20 Prozent der Plätze frei. Wie erklären Sie das? (Ulla Burchardt [SPD]: Durch die Zulassungsregeln!) Nicht alle Bachelorabsolventen – an dieser Stelle komme ich auf den Sinn von Bologna zu sprechen; das dürfen wir nicht vergessen – streben einen Masterabschluss an. Dies anzunehmen beweist wieder einmal Ihr völlig falsches Verständnis des neuen Studiensystems. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das sagt keiner!) Sie verdrehen den Sinn des Bologna-Prozesses. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Mit Absicht!) Ich stelle gerade fest, dass die Zeit etwas knapp wird. Ich habe noch eine Minute. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, eben nicht. Aber für eine schöne Schlussformel reicht es allemal. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die Opposition schafft Studienbeiträge ab, spart kategorisch am falschen Ende und wirft uns dann vor, wir würden die Studierenden im Stich lassen. Ich weiß, das wollen Sie nicht hören, aber ich sage es noch einmal ganz deutlich an dieser Stelle: Knapp die Hälfte aller Deutschen hält Studienbeiträge für ein probates Mittel zur Studienfinanzierung. Mit einem durchdachten System dahinter können gute und auch sozialverträgliche Erfolge erzielt werden. (Beifall bei der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Deshalb sind Sie in Nordrhein-Westfalen abgewählt worden!) Zum Abschluss noch ein Zitat von Herrn Brecht, der einst so treffend schrieb: Wer A sagt, muß nicht B sagen. Er kann auch erkennen, daß A falsch war. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann erkennen Sie es endlich!) In diesem Sinne lege ich Ihnen nahe, Ihre Haltung zu den eben genannten Punkten noch einmal zu überdenken und sie in ein nicht so ganz weltfremdes Licht zu rücken. Ich bedanke mich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Monika Grütters für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Monika Grütters (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Für Sie und nicht zuletzt die jungen und anderen Zuhörer oben auf den Tribünen möchte ich noch einmal sagen: 40 Jahre BAföG sind eigentlich ein freudiger und guter Anlass für eine Plenardebatte. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Das sehen wir alle gemeinsam so; auch das ist bemerkenswert. – BAföG ist immerhin eines der weltweit erfolgreichsten Studienfördermodelle, um das wir von vielen anderen Ländern beneidet werden. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist richtig, dass die Opposition und wir die Gunst der Stunde nutzen, um noch einmal über das leidige Thema Hochschulzulassung zu diskutieren. Frau Burchardt hat natürlich recht: Die Situation ist zum Verzweifeln; auch das eint uns leider. Wir haben im Plenum – das letzte Mal, glaube ich, im Frühjahr – und immer wieder in den Ausschüssen, inklusive Anhörungen, darüber sprechen müssen: Der Bund hat jenseits aller Zuständigkeiten mit seiner Unterstützung in Form der Anfinanzierung in Höhe von 15 Millionen Euro – um die wir ringen mussten; aber diese Maßnahme war sicher rich-tig – seinerseits das Notwendige getan, um die Situation für die Studierenden maßgeblich zu verbessern: mit der Möglichkeit, maximal 12 Studienwünsche anzugeben, und durch die Möglichkeit der Kombination von Fach und Studienort die Suche wesentlich zu erleichtern. Es geht immerhin um nicht weniger als eine Entscheidung für den künftigen Lebensweg. Insofern ist das keine Kleinigkeit, sondern ein zentraler Punkt der Hochschulpolitik. Aber: Selbst wenn das dialogorientierte Serviceverfahren für die Hochschulzulassung derart stolpert, sollten wir es jetzt noch nicht totreden und nicht infrage stellen. (Ulla Burchardt [SPD]: Das tut ja keiner!) Liebe Frau Gohlke, ich glaube, dass selbst die Piraten Softwareprobleme nicht einfach wegbellen können. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber es gibt auch politische Probleme!) Sie können sich natürlich hier hinstellen und fordern, das Chaos gefälligst mal eben zu beseitigen. Es geht aber schließlich nicht um politische Maßnahmen, sondern um Computerprobleme. Die SPD fordert, dass wir eine Taskforce Hochschulzulassung einrichten sollen. Da kann ich nur fragen: Was versprechen Sie sich von einer solchen Bundessteuerung? Die steht uns weder zu, noch wird sie angestrebt, noch könnten wir sie ausfüllen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weil die Verantwortung für das Gelingen des neuen Verfahrens formal und materiell bei den Ländern, bei der Stiftung, bei den Hochschulen und bei den Vertragspartnern liegt. Wir sind keine KMK-Dompteure, wir sind auch keine HRK-Feuerwehr. (Ulla Burchardt [SPD]: Aber Beteiligte!) Übrigens nimmt der Bund seinen Sitz in dem Gremium natürlich wahr, selbst wenn er nicht stimmberechtigt ist. Es wäre frech, das hier in Abrede zu stellen. Mit Gesetzen lassen sich Softwareprobleme eben nicht lösen; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Übrigen auch nicht durch ein Bundeszulassungsgesetz. (Ulla Burchardt [SPD]: Das sagt auch keiner!) Frau Gohlke, in Ihrem Antrag steht noch ein anderer bemerkenswerter Satz, nämlich: Der Ansatz, dass die Hochschulen selbst die aus ihrer Sicht besten Studieninteressierten auswählen sollen, muss als gescheitert betrachtet werden … Darüber kann man sich jetzt lange streiten. Was aber die politische Aussage dabei ist, möchte ich nicht verhehlen. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Studierenden in den Mittelpunkt stellen!) Ich finde es nämlich unverantwortlich, wenn Sie auf diese Weise vor allen Dingen eines zur Disposition stellen: die Autonomie der Hochschulen. Diese Autonomie gilt bei Ihnen offensichtlich reichlich wenig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Es geht darum, dass die Studierenden wählen dürfen!) Sie wäre das erste Opfer einer linken Hochschulpolitik. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen Blick in das Hochschulgesetz des soeben abgewählten rot-roten Senats in Berlin. Dieses Gesetz hat immerhin der Präsident der FU beklagt. Die kleinteilige und bürokratische Gängelung könne er nicht mögen. Und der Präsident der Universität der Künste, Martin Rennert – der nicht verdächtig ist, ein Bürgerlicher zu sein –, hat das Gesetz schlichtweg als Misstrauensvotum des Senats gegenüber den Hochschulen bezeichnet. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Anträge von Linkspartei und SPD, die Hochschulzulassung durch ein Bundesgesetz zu regeln, zeigen keine Möglichkeit auf, wie es in dem Bereich bergauf gehen könnte, sondern spiegeln Ihren Wunsch nach Zentralismus und staatsgläubiger, kleinlicher Gängelung wider. Das können wir nicht haben. Die Entmündigung der deutschen Hochschulen wird es jedenfalls mit der christlich-liberalen Koalition nicht geben. Wir glauben nach wie vor, dass die Hochschulen am besten wissen, wie sie bei der Auswahl der Studierenden qualitätsorientiert und sozial ausgewogen agieren. Zur Forderung der SPD, die Deckelung des Hochschulpakts 2020 aufzuheben und einen „Hochschulpakt Plus“ zu etablieren, möchte ich wissen: Wie sehen das denn Ihre Ministerpräsidenten? Da käme doch eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung nicht zuletzt auf Nordrhein-Westfalen zu. Herr Gehring, Sie wagen sich sogar so weit vor, zu sagen: Wir fordern bis 2015 mindestens 400 000 zusätzliche Studienplätze. Die Zahl von zusätzlich 335 000 Plätzen bis 2015 haben wir ja nicht willkürlich gegriffen. Sie beruhte auf einer Berechnung der KMK. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine glatte Fehlprognose! Es sind ja doppelt so viele gekommen wie prognostiziert!) Wir haben immer gesagt: Wenn es mehr werden, finanzieren wir diese nachlaufend nach zwei Jahren nach; so haben wir das auch im Hinblick auf den Hochschulpakt I gemacht. Ich finde es verwegen, hier irgendwelche Zahlen in den Raum zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber man braucht doch realistische Prognosen!) Ich will Sie nur davor warnen, unsere Zahlen durch eigene Spekulationen zu überbieten. Denn diese Zahlen sind wahrscheinlich nicht stichhaltig. Das gemeinsam von Bund und Ländern vereinbarte System zur Finanzierung – zwei Jahre nachlaufend, weil dann die Zahlen feststehen – ist doch besser, als neue Zahlen in den Raum zu stellen. Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regierung den Etat des BMBF um satte 54 Prozent gesteigert hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir uns trotz der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten mit den Ländern auf einen „Hochschulpakt ohne Grenzen“, den die Opposition fordert, einigen würden, glaube ich, dass er möglicherweise die SPD- und Grünen-geführten Landesregierungen überfordern würde. Schön wäre es, wenn das Stichwort von dieser Seite gekommen wäre. Aber auch in Berlin, lieber Herr Kollege Schulz, muss man erst einmal um jede Komplementärfinanzierung – so auch bei Exzellenzinitiative und Hochschul-pakt – betteln. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, warum ist Berlin denn pleite? Da hat die CDU ja wohl ein paar Aktien drin! – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) – Berlin hat 62 Milliarden Euro Schulden. Das war kein gutes Stichwort, Herr Schulz. Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen Augenblick! Für die Verlängerung des Berliner Wahlkampfes ist jetzt weder Anlass noch Zeit. Die Kollegin sollte Gelegenheit bekommen, ihre Rede zu Ende zu führen. Monika Grütters (CDU/CSU): Das stimmt. Ich bringe meine Rede zu Ende. Allerdings sind Schulden in Höhe von 62 Milliarden Euro nach zehn Jahren unter Rot-Rot eine eindeutige Antwort auf Ihre Frage, Herr Schulz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben dem Qualitätspakt für die Lehre zusätzliche 2 Milliarden Euro an Bundesgeldern zugeführt. Wir haben einen Rekordetat für den Bildungsbereich möglich gemacht. Wir verbessern damit die Situation der Studierenden nachhaltig. Wir arbeiten am Erreichen des 10-Prozent-Ziels und an der Weiterentwicklung Deutschlands zu einer Bildungsrepublik. Sie sollten weder die Erhöhung der Bundeszuschüsse zu den Begabtenförderungswerken noch das Deutschlandstipendium schlechtreden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist einfach schlecht!) Sie sollten auch die BAföG-Erhöhung dieser Regierung nicht schlechtmachen. Eines haben wir damit doch schließlich gemeinsam erreicht: Noch nie gab es so viele junge studierende Menschen in Deutschland. Noch nie wurden so viele vom Bund und von den Ländern gefördert. (Uta Zapf [SPD]: Trotz dieser Regierung!) Ich finde: Das ist auch gut so. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Rossmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Gohlke hat am Anfang ihrer Rede das 40-jährige Jubiläum des BAföG in den Mittelpunkt gestellt. Ich möchte dies gerne aufgreifen: Das BAföG ist wie eine Katze, die einfach nicht kleinzukriegen ist. Es ist richtig stabil und ist immer wieder aufgestanden. Es verdient, auch die nächsten zehn Jahre eine gute Perspektive zu haben. Was sind die Anforderungen dafür? Die erste Anforderung ist sicherlich – Herr Kaufmann, uns hat es gefreut, dass auch Sie das in den Mittelpunkt gestellt haben –, dass wir zu den Zahlen aus dem Jahre 1971 zurückkommen. Damals wurden 45 Prozent der Schüler und Studierenden durch das BAföG gefördert. Aktuell sind es nur noch 25 Prozent. Selbst wenn wir den Anteil von 45 Prozent so schnell nicht erreichen, sollte es unser gemeinsames Ziel sein, zum 50-jährigen Jubiläum auf 35 Prozent zu kommen. Das wäre schon etwas. Wenn wir gut sind, kommen wir vielleicht auch auf 40 Prozent. Wir müssen an dem Ansatz festhalten, die Freibeträge hochzusetzen. Auf diese Weise können auch weitere Bevölkerungskreise aus dem Grenzbereich zwischen Nichtgutverdienenden und der Mittelschicht vom BAföG profitieren. Das war schon bei der letzten Debatte unser Anliegen. Sie sind dem noch nicht nachgekommen. Wir freuen uns aber über alle, die dazulernen. Der zweite Punkt ist, dass wir Ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten wollen, das das BAföG damals stark gemacht hat: Es gab auch eine Förderung für Schülerinnen und Schüler, selbst wenn diese noch zu Hause wohnten. Man wollte anhand des BAföG die bildungsfernen Schichten für höhere Studien- und Bildungsperspektiven gewinnen. Diese Schülerförderung müssen wir wieder aufnehmen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Wir müssen das BAföG an die veränderten sozialen Bedingungen anpassen. Damals war es – das ist nicht diskriminierend gemeint – das katholische Arbeitermädchen vom Lande, das man durch die BAföG-Förderung für weiterführende Bildung gewinnen wollte. Heute ist es der eingewanderte Jugendliche aus Duisburg, der vor folgende Frage gestellt wird: Mache ich eine Berufsausbildung und verdiene schnell Geld, oder nehme ich ein Studium in Angriff? Er könnte dann über die Oberstufenfinanzierung seine Schulausbildung weiterführen und danach sogar ein Studium aufnehmen. Vor diesem Hintergrund sollten Sie einmal ernsthaft darüber nachdenken. Drittens. Das BAföG, das vor 40 Jahren aktuell war, muss sich auf neue Studienstrukturen einstellen. Angesichts der heutigen Bachelor- und Masterstruktur muss es eine Anpassung geben, zum einen durch Einführung einer Förderung ohne Unterbrechung für den Übergang vom Bachelor zum Master, zum anderen durch eine deutliche Anhebung, wenn nicht gar einen Wegfall der Altersgrenzen; wir wollen doch gerade den Wechsel zwischen Studium und Arbeit fördern, aber das funktioniert mit einer Altersbegrenzung nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es muss auch in Bezug auf die Teilzeitstudiengänge eine Verbesserung geben. Wir leben in einer Zeit, in der vermehrt Teilzeitstudiengänge aufgenommen werden; aber dies bildet sich noch nicht im BAföG ab. Dementsprechend müssten Aufstockungsbeträge für Teilzeitstudenten hinzukommen. Eine weitere neue Dimension: Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition die Anerkennung von Kindererziehungszeiten beim BAföG deutlich verbessert, aber noch nicht die Pflegeverantwortung berücksichtigt, die Menschen möglicherweise tragen, wenn sie – vielleicht sogar in einem höheren Alter – im Studium sind. Auch das muss integriert werden; es ist eine neue soziale Qualität, die sich im BAföG wiederfinden sollte. Viertens. Das BAföG hat durch das Meister-BAföG eine Erweiterung erhalten. Wenn wir darüber nachdenken, müssen wir anerkennen, dass wir auch beim Meister-BAföG zu weiteren Verbesserungen kommen müssen, unter anderem bei der Maßnahmenförderung. Andererseits muss das vielleicht heißen, dass jemand, der spät einen Masterstudiengang anfängt, auch eine Maßnahmenförderung erhält; aktuell müsste er den Lebensunterhalt während des Studiums alleine tragen. Es gibt also genügend konkrete Sacharbeit beim BAföG, die wir im Hinblick auf die „Perspektive Bildung 2021“ zu leisten haben. Das gilt umso mehr, als die ganze europäische Dimension 2021 viel virulenter sein wird, als sie 1971 war. Wenn man die europäische Perspektive einnimmt, dann erkennt man, dass es in Europa bei der Studienförderung zwei Denkschulen gibt: zum einen die skandinavische Denkschule – Elternunabhängigkeit –, zum anderen die angelsächsische Denkschule, nach der das Studium von den Betroffenen selbst finanziert wird. Wir in Deutschland haben zum Glück eine Affinität zum skandinavischen Modell, aber noch nicht in Bezug auf die Elternunabhängigkeit der Förderung, die von den Grünen immer wieder eingefordert wird. Es ist natürlich ein gewaltiger Schritt, ein solches Fundament, ein Bildungsgeld, zu finanzieren. Können wir nicht darüber nachdenken, ob es eine Plausibilität dafür gibt, das Kindergeld für über 18-Jährige, das bisher an die Eltern gezahlt wird, stattdessen an die erwachsenen Kinder zu zahlen? (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist doch das grüne Modell!) Es wäre ein erster Weg, um ein Bildungsgeld zu finanzieren, ohne dass die Mittel aufgestockt werden müssten. Wenn das Kindergeld an die erwachsenen Kinder gezahlt würde, würde das ihre Emanzipation befördern. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unser Modell!) Weil SPD und Grüne dies nicht allein schaffen, werben wir jetzt dafür, dass auch die anderen das voranbringen. (Ulla Burchardt [SPD]: Noch nicht!) – Wir schaffen es auch deshalb nicht, weil wir im gesamten Bildungsförderungsverfahren des nächsten Jahrzehnts – es gibt die Perspektive eines Bildungsgesetzbuches – die Unterstützung der anderen Seite im Bundesrat brauchen. Ich will ausdrücklich Herrn Brandl unterstützen, der perspektivisch fragte: Wie sieht das BAföG im Jahr 2021, beim 50. Geburtstag des BAföG, aus? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass es 2002 unter Rot-Grün mit der Deckelung der Darlehen und der Nichtanrechnung des Kindergeldes eine deutliche Verbesserung gegeben hat. (Ulla Burchardt [SPD]: Ja!) 2008 hat es unter Schwarz-Rot mit der Aufstockung der Freibeträge um 10 Prozentpunkte – das war der Struck’sche Kampf, den wir erfolgreich mit Ihnen führen konnten – und der besseren Anerkennung für studierende Eltern deutliche Verbesserungen gegeben. (Zuruf des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/ CSU]) – Herr Kaufmann, wenn wir es bis 2021 schaffen, dass 35 Prozent der Studierenden mit BAföG gefördert werden, und die neuen Bedingungen des Bachelors und des Masters, die Anerkennung der Pflegeverantwortung und die europäische Dimension einarbeiten, dann soll einem um das BAföG nicht bange sein. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Dann haben wir hier bei der Bildungsförderung in Deutschland nicht nur eine stabile, stressresistente Katze, sondern auch eine richtig schöne Katze. Danke. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Axel Knoerig (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 40. Jubiläum des BAföG ist ein Anlass, dieses Gesetz zunächst einmal zu würdigen. Es hat den beruflichen Werdegang vieler junger Menschen erheblich erleichtert bzw. überhaupt erst möglich gemacht. Insbesondere Kindern aus einkommensschwächeren Familien hat dieses Gesetz die Tür zu einer akademischen Laufbahn geöffnet. Wir sollten auch erwähnen: Für viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist das BAföG Teil der persönlichen Lebensgeschichte. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Patrick Meinhardt [FDP]) Es gibt ganz prominente Mitglieder des Hauses, die BAföG erhalten haben; damit ist viel gesagt. In Ergänzung zu meinen Vorrednern möchte ich mich der Wirkung dieses Gesetzes und der Idee, die ihm zugrunde liegt, widmen. Dabei möchte ich vor allem die wirtschaftlichen Aspekte beleuchten. Grundlage war bekanntermaßen das Wissen um die Notwendigkeit, die geistigen Ressourcen in unserer Volkswirtschaft zu fördern. Die staatliche Förderung von Bildung fließt in die Kosten-Nutzen-Rechnung eines jeden Einzelnen ein. Wir sollten uns einmal anschauen, wie die Rechnung ohne BAföG aussieht. Sich über ein Studium zu bilden, ist für den Studenten mit verschiedenen Kosten verbunden. Da sind einmal die Kosten für die Ausbildung selbst. Hinzu kommt der Ausfall des Verdienstes aus einer anderen, oft geringer qualifizierten Tätigkeit, der man sonst nachgegangen wäre. Diesen Kosten steht die Differenz zwischen dem erwarteten, höheren Einkommen nach dem Studium und dem Einkommen, das man ohne akademischen Abschluss beziehen würde, also der mögliche Mehrverdienst aufgrund höherer Bildung, gegenüber. Es ist erwähnenswert, dass der Wert der Persönlichkeitsentwicklung, die man durch ein Studium erfährt, einen besonderen Stellenwert hat. Das Gesetz leistet somit einen sinnvollen Beitrag zur Wohlfahrt unserer Volkswirtschaft. Ohne BAföG entginge der Allgemeinheit der Wohlstandsbeitrag, der später von dem Geförderten geschaffen wird. Dieser schlägt sich unter anderem in höheren Steuerzahlungen nieder. Ich möchte Ihnen aber auch eine andere Betrachtungsweise nahebringen: Die BAföG-Leistungen müssen von Steuerzahlern aufgebracht werden. Diese sind durchaus für die oben dargelegte Argumentation zu gewinnen, auch dann, wenn sie selbst keine Akademiker sind. Allerdings ist ihnen nicht zu vermitteln, dass derjenige, der später meist mehr verdient, seine Ausbildung, wie von der Fraktion Die Linke gefordert, voll staatsbezuschusst und darlehensfrei erhalten soll. Ich frage Sie: Warum soll nicht weiterhin ein Teil der Ausbildungskosten zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Geförderte in seinem Beruf tätig ist, zurückgezahlt werden? Das ist für mich nicht nachvollziehbar, insbesondere nicht vor dem Hintergrund, dass es eine Gruppe von Studierenden gibt, die von uns zu wenig gewürdigt wird. Das sind diejenigen, die berufsbegleitend studieren und deswegen auch kein BAföG erhalten. Wenn ihre Studiengebühren nicht vom Arbeitgeber übernommen werden, müssen sie durchweg fast alle Kosten tragen. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja!) Darüber hinaus zahlen sie Steuern und Sozialabgaben und finanzieren so die Vollzeitstudenten mit. Allein an der größten Privathochschule in unserem Land studieren auf diese Weise über 17 000 junge Menschen ausbildungs- und vor allem berufsbegleitend. Ich meine die FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige GmbH mit über 20 Studienzentren in Deutschland. Diese Studierenden sind in gewisser Weise die akademischen Lastenträger unserer Bildungspolitik; denn abgesehen von der steuerlichen Absetzbarkeit ihrer Studienbeiträge fördern wir sie nicht, und das, obwohl ihre Chancen am Arbeitsmarkt hervorragend sind. Es gibt viele Studien, die ausweisen, dass das berufsbegleitende Studieren eine ideale Verbindung von Theorie und Praxis ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Die Situation beim sogenannten Meister-BAföG sieht ähnlich aus. Der Kollege von der SPD hat das zu Recht angesprochen. Auch hier wird dieses Jahr ein kleines Jubiläum gefeiert: 1996, vor 15 Jahren, wurde das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz – schwieriges Wort – verabschiedet. Junge Menschen, die nach der Schule eine berufliche Ausbildung erfolgreich abschließen, erwerben dadurch einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung, wenn sie sich beruflich weiterqualifizieren wollen. Diese Förderung ist – das sollten wir herausstellen – von Einkommen und Vermögen unabhängig. 166 000 berufstätige Menschen wurden im vergangenen Jahr mit Meister-BaföG-Leistungen gefördert. Diese Zahl steigt weiter an. Vor dem Hintergrund, dass Fachkräfte aus den Bereichen Industrie, Handel, Dienstleistungen und Handwerk in unserer Wirtschaft eine essenzielle Aufgabe erfüllen, halte ich das Meister-BAföG für besonders förderungswürdig. Das ist insbesondere zu berücksichtigen, wenn man über den Ausbau der Maßnahmen reden möchte. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich bedanke mich für die vorbildliche Nichtinanspruchnahme einer vorhandenen Redezeit. Ich nehme das als leuchtendes Beispiel zu Protokoll. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde versuchen, vier Höhepunkte in meine Rede einzubauen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Erstens. Nicht nur in Unternehmen, sondern auch in der Politik gilt: Wer Erfolg haben will, braucht klare Ziele und Prioritäten. 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung, das ist ein mutiges und klares Ziel, wie es vor uns niemand so klar formuliert hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das macht deutlich: Bildung und Forschung haben klare Priorität in unserer Politik. Wenn etwas Priorität hat, dann muss dies auch erkennbar sein. 6 Milliarden Euro mehr für Bildung – davon übrigens ein großer Teil für das BAföG – und 6 Milliarden Euro mehr für Forschung, das verbessert die Chancen für unsere Jugend und für unser Land. Wo stehen wir heute? In 2010 liegen wir bereits bei 9,3 Prozent, und das bei einem steigenden Bruttoinlandsprodukt. Im Forschungsbereich – dort haben wir das 3-Prozent-Ziel – liegen wir zum ersten Mal bei über 2,8 Prozent; denn nicht nur der Staat, sondern auch die Unternehmen haben ihre Forschungsanstrengungen erhöht. Das macht sich bemerkbar: Starke Unternehmen bedeuten starke Wirtschaft, geringe Arbeitslosigkeit, steigende Löhne, steigende Zahlen der Auszubildenden und nicht zuletzt steigende Steuereinnahmen. Das ist nicht nur Glück, sondern auch das Ergebnis einer Politik mit klaren Prioritäten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Und der Abschaffung der Eigenheimzulage!) – Menschlich kann ich natürlich verstehen, dass sich bei dem einen oder der anderen aus der Opposition ein wenig Neid einschleicht. (Horst Meierhofer [FDP]: Ich kann es sogar politisch verstehen!) – Politisch können wir es auch verstehen. Zweiter Punkt: das BAföG. Wir feiern heute Geburtstag; das soll auch so sein. Mit 1,5 Milliarden Euro ist es der größte Einzeltitel in unserem Bildungshaushalt. Das begrüßen wir alle, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung. Zu Recht ist das BAföG eine wichtige Säule der Bildungspolitik, aber das BAföG ist keine sozialistische Wunderwaffe, wie Sie es uns manchmal glauben machen wollen. Es ist ein wichtiges Instrument im Instrumentenkasten. Bei aller Euphorie über die hohe Zahl der Studienanfänger – die Quote liegt bei 46 Prozent; darüber freuen wir uns alle –, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Absolventenquote immer noch unter 30 Prozent liegt. Diese Zahl gilt es jetzt anzugehen. Wir brauchen nicht noch mehr Studienanfänger, wir brauchen mehr Absolventen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies gilt ganz besonders in diesem Jahr, in dem der demografische Wandel zum ersten Mal richtig zuschlägt. Für 100 Akademiker, die in den Ruhestand gehen, kommen nur 90 nach. Das wird eine Wachstumsbremse; darum müssen wir uns jetzt kümmern. Deswegen werden die Studienberatung und der Qualitätspakt Lehre zukünftig sehr hohe und klare Priorität haben. Zum dritten Aspekt: das geforderte Bundeshochschulzulassungsgesetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen an der linken Außenlinie, der Bund soll und kann im Alleingang keine Regelung beim Hochschulzugang treffen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dies würde einen Angriff auf die Autonomie der Hochschulen darstellen. Das wollen wir nicht, und das machen wir auch nicht mit. Wir wollen eigenständige Hochschulen; denn nur eigenständige Hochschulen sind der Garant für hohe Qualität. (Beifall der Abg. Sylvia Canel [FDP]) Wenn Sie eine Garantie für einen Masterstudienplatz geben wollen, so können Sie das ja in Brandenburg, einem der letzten Bundesländer, in denen Sie noch mitregieren, einführen. Dann werden Sie sehen, dass das keinen Erfolg hat. Man muss auch klar darauf hinweisen: Es gibt einen diskriminierungsfreien Zugang zum Masterstudium. Dieser Zugang wird an transparente Leistungskriterien geknüpft. Das ist gut so; denn nur das Leistungsprinzip garantiert eine hohe Qualität des Masterabschlusses, und diese Qualität brauchen wir. Deshalb ist Ihr Antrag, in dem eine reine Garantie für einen Masterstudienplatz gefordert wird, auf keinen Fall zustimmungsfähig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Nun zu meinem vierten Punkt. Bildungspolitik lebt natürlich nicht nur von Zahlen, Bildungspolitik lebt auch von Vorbildern. Vorgestern waren die Preisträger des diesjährigen „Jugend forscht“-Wettbewerbs bei der Bundeskanzlerin. Zum ersten Mal haben sich mehr als 10 000 Schülerinnen und Schüler bei „Jugend forscht“ angemeldet, mehr als je zuvor. Auf der Tribüne sitzen einige junge Menschen; vielleicht war der eine oder andere von euch dabei. (Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/ CSU]) Wenn Sie sich diese jungen Menschen anschauen, dann kommt Begeisterung auf. Sie stellen sich Fragen und suchen Antworten. Sie sind interessiert und setzen sich ein. Sie arbeiten selbstständig und häufig gemeinschaftlich. Sie trauen sich etwas zu und haben Spaß am Wettbewerb. Sie geben nicht auf, bis sie Lösungen gefunden haben. Wenn ich die Begeisterung dieser jungen Leute sehe, dann weiß ich: Wir sind bei Bildung und Forschung auf einem richtigen und guten Weg. Zum Schluss. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wir alle haben sie heute gehört. Deswegen kann ich nicht verstehen, warum man mit so vielen Anträgen – es liegen vier Anträge vor – den Geburtstag des BAföG ein bisschen an den Rand schiebt. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne die Anträge hätten wir gar nicht darüber debattiert!) Solche undurchdachten, unfinanzierbaren, undurchführbaren und zum Teil auch rechtlich gar nicht umsetzbaren Forderungen können wir nicht unterstützen. Wir wollen klare Linien. Irrwege werden wir nicht mitgehen. Wir lehnen sie ab und bleiben bei unserem Ziel: Vorfahrt für Bildung und Forschung. Das ist das Markenzeichen der Politik dieser Bundesregierung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie fahren aber immer in eine Sackgasse damit!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6372 und 17/7026 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 29 c. Hier geht es um die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf der Drucksache 17/7051. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/5899 mit dem Titel „Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/2012 jetzt starten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5475 mit dem Titel „Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln – Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt – Drucksachen 17/6277, 17/6853 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/7065 – Berichterstattung: Abg. Katja Mast – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 17/7068 – Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Priska Hinz (Herborn) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Mast, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit orientieren – Weichen für gute Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Agnes Alpers, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten und nachhaltig finanzieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung und Perspektiven investieren statt Chancen kürzen – Drucksachen 17/6454, 17/5526, 17/6319, 17/7065 – Berichterstattung: Abgeordnete Katja Mast Die Aussprache soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine Stunde dauern. – Das ist offenkundig nicht umstritten, sodass wir so verfahren können. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von der Leyen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Vielen Dank, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Vielleicht, Frau Ministerin, warten wir noch ein paar Sekunden, um den Schichtwechsel ordnungsgemäß abzuwickeln. – Bitte schön. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, das wir heute abschließend beraten, behandelt die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen mit der Neuordnung der Instrumente vor allen Dingen die Zahl der Instrumente reduzieren; denn wir wissen, dass Vermittlerinnen und Vermittler vor Ort aus dem Instrumentenkasten ein bestimmtes Reservoir kennen und das dann auch anwenden. Masse ist hier nicht gefragt – sie verwirrt nur –, sondern Zielgenauigkeit. Wir wollen deshalb auch mehr Flexibilität für die Vermittlerinnen und Vermittler vor Ort ermöglichen. Schließlich haben wir die Akzente verschoben. Über all das wollen wir heute debattieren. Das Gesetz kommt zur rechten Zeit; denn die Nachfrage nach Arbeit ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Das zeigt sich auch an allen Daten: Wir haben eine Rekordbeschäftigung, die höchste seit der Wiedervereinigung; es gibt 1 Million offene Stellen; die Arbeitslosigkeit ist unter 3 Millionen gesunken; und es gelingt uns inzwischen, die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit langsam, aber sicher abzubauen. Das war viele, viele Jahre nicht der Fall. Allein in den letzten fünf Jahren ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen fast auf die Hälfte gesunken, nämlich auf 880 000. Das ist erfreulich für die Menschen; das ist erfreulich für den Arbeitsmarkt. Es ist ein Zeichen der guten Bilanz der Bundesregierung unter Angela Merkel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese gute Zeit am Arbeitsmarkt wollen wir nutzen und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente neu ausrichten. Wir rechnen weiterhin mit einer stabilen Wirtschaft und einem robusten Arbeitsmarkt, auch wenn wir wissen, dass es internationale Risiken gibt. Trotzdem: Der Arbeitsmarkt ist robust. Wir müssen umstellen von dem Szenario der Massenarbeitslosigkeit, das wir lange hatten, auf das Szenario „Wir suchen Fachkräfte“. Dazu müssen die Menschen passgenau qualifiziert werden. Das heißt, wir müssen auch die alten Förderrezepte, die in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit funktioniert haben, sorgfältig überprüfen. Das haben wir getan. Wir räumen gewissermaßen den Instrumentenkasten mit diesem Gesetz auf. Wir wollen eine einfache Handhabung, wir wollen passgenaue und individuelle Hilfen. Deshalb möchte ich zwei Punkte aufgreifen, die oft in der Kritik sind, die aber auch zeigen, wo die neuen Akzente liegen. Wir gehen weg von der globalen Betrachtung der Arbeitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, und sagen nicht mehr: „Alle Instrumente müssen für alle passen“ – also nach dem Motto: „One fits all“, Instrumente von der Stange –, sondern wir wollen Instrumente, die personenzentriert, individuell und passgenau sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nehmen wir zum Beispiel die Gruppe der Alleinerziehenden. Langzeitarbeitslose Alleinerziehende waren über Jahre ein Block, in dem sich kaum etwas bewegt hat, weil die Grundhaltung in etwa lautete: Sie hat ein Kind; es lohnt sich sowieso nicht. – Wir haben im letzten Jahr eine Umstellung vorgenommen und gesagt: Das Motto muss lauten: Weil sie ein Kind hat, müssen wir dafür sorgen, dass Kinderbetreuung gewährleistet ist, dass es familienfreundliche Arbeitsplätze gibt, dass Netzwerke gebildet werden. – Wir stellen jetzt unter dem Strich fest: Die Langzeitarbeitslosigkeit der Alleinerziehenden sinkt schneller als die Langzeitarbeitslosigkeit insgesamt. Dies zeigt: Die passgenaue Ausrichtung unserer Instrumente ist in dieser Zeit der richtige Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Immer wieder wird die Summe, die für die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt wird, kritisiert. Die sinkende Arbeitslosigkeit bringt mit sich, dass wir nicht mehr ein und dieselbe starre Summe ausgeben müssen. Dennoch steht im Rahmen der Grundsicherung in 2012 knapp 1 Milliarde Euro mehr für Eingliederung und Verwaltung zur Verfügung, als es im Jahr 2007 der Fall war. Alle wissen: Dazwischen gab es eine Krise und ein Konjunkturpaket gegen Arbeitslosigkeit. Der Vergleich zeigt: Heute steht 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung. Damals gab es aber 660 000 Langzeitarbeitslose mehr als heute. Das heißt, wir stellen mehr Mittel zur Verfügung, obwohl es weniger Arbeitslose gibt und der Arbeitsmarkt deutlich aufnahmefähiger ist. Es geht also nicht nur um die Masse der Instrumente. Es geht vor allen Dingen um Zielgenauigkeit und Präzision. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung zu? Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Nein. Wir sind am Anfang der Debatte. Im Laufe der Diskussion können alle Argumente ausgetauscht werden. In der Grundsicherung für Arbeitsuchende verändern wir etwas, gerade mit Blick auf die öffentlich geförderte Beschäftigung. Wir gehen weg von der Dauerförderung künstlich geschaffener Arbeitsplätze. Sie waren in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit richtig. Sie sind für Menschen, die überhaupt keine Chance am Arbeitsmarkt haben, auch heute noch richtig. Aber in einer Zeit, in der auf dem ersten Arbeitsmarkt händeringend Arbeitskräfte gesucht werden, dürfen sie nicht weiterhin das dominierende Instrument sein. Die Untersuchungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass zu häufig die Falschen künstlich geförderte Arbeitsplätze hatten und Menschen dadurch sogar Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren, verpasst haben. Deshalb verfahren wir nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip. Wir sagen zum Beispiel: Es muss genau begründet werden, warum jemand einen 1-Euro-Job braucht. Dann kann er auch zur Verfügung gestellt werden. Dies darf aber nicht mehr mit der bisherigen Pauschalität und in der bisherigen Größenordnung geschehen. Ich glaube, das ist eine richtige Umstellung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen weg von der künstlich geförderten Beschäftigung und viel stärker auf Weiterbildung und Qualifizierung setzen, damit die Menschen aufgrund ihrer Qualifikation Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt finden. Deshalb investieren wir bei weniger als 3 Millionen Arbeitslosen 3 Milliarden Euro in Weiterbildung und, insbesondere mit Blick auf Jugendliche, 3,2 Milliarden Euro in den Bereich des Übergangs von Schule, Ausbildung und Beruf. Dadurch helfen wir passgenau den jungen Menschen, die, obwohl es derzeit viele offene Lehrstellen gibt, noch nicht die richtige Lehrstelle gefunden haben. 500 000 jungen Menschen greifen wir damit unter die Arme. Ich glaube, wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zur rechten Zeit kommt, die richtigen Akzente setzt und die richtige Politik unterstreicht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Hubertus Heil ist der nächsten Redner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, was wir gerade erlebt haben, war der Versuch einer doppelten Täuschung der deutschen Öffentlichkeit. Ich will Ihnen sagen, warum. Das, was Sie uns eben geboten haben, war der Versuch, für eine Kürzungspolitik, die Sie mit dem schön klingenden Begriff „Instrumentenreform“ verschleiern, eine Sprache zu finden. Aber die Wahrheit ist: Es geht Ihnen nicht um zielgenaue arbeitsmarktpolitische Instrumente, sondern um die Anpassung der Instrumente an Ihre Kürzungsbeschlüsse aus dem letzten Jahr. Das war der erste Versuch der Täuschung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Iris Gleicke [SPD]: So ist das leider! Leider wahr!) Frau Ministerin, weil Sie, wie so oft, so mit Zahlen hantiert haben, wie es Ihnen gerade in den Kram passt – ich frage mich übrigens, warum Sie nicht 2008 als Referenzjahr genannt haben; denn 2008 war das Jahr vor der Krise, nicht 2007 –, will ich Ihnen und der deutschen Öffentlichkeit sagen, was in den Jahren bis 2015 geschehen wird – die Kürzungspolitik zulasten langzeitarbeitsloser und arbeitsloser Menschen, die Sie in den nächsten Jahren fortsetzen, kann man nämlich, wenn man die Zahlenwerke insgesamt betrachtet, eindrucksvoll belegen –: Sie kürzen erstens im Bereich des SGB II, also zulasten von langzeitarbeitslosen Menschen, bis 2015, also innerhalb von vier Jahren, allein 8 Milliarden Euro bei der Eingliederung. Sie kürzen zweitens durch die sogenannte Instrumentenreform zusätzlich 7,5 Milliarden Euro. Das macht zusammen „round about“ 15 Milliarden Euro zulasten von Langzeitarbeitslosen. Zusätzlich haben Sie schon Kürzungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung auf den Weg gebracht, nämlich 13 Milliarden Euro bis 2015 weniger durch das sogenannte Sparpaket und des Weiteren 12,15 Milliarden Euro durch den Entzug eines halben Mehrwertsteuerpunktes. Frau Ministerin, Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen, es werde gar nicht gekürzt. (Beifall der Abg. Katja Mast [SPD]) Wenn man das, was Sie im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik jetzt auf den Weg bringen, alles zusammenzählt, dann stellt man fest, dass Sie in vier Jahren 40 Milliarden Euro zulasten von langzeitarbeitslosen Menschen kürzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Damit bin ich, weil ich davon gesprochen habe, dass das eine doppelte Täuschung ist, bei einem weiteren Punkt, der in Ihrer Rede wieder zum Vorschein gekommen ist. Frau von der Leyen, es ist eine Milchmädchenrechnung – ich kann Ihnen diesen Begriff nicht ersparen –, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ganz schön sexistisch! – Gegenruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]: Es gibt auch Milchbuben!) wenn Sie nach dem Motto verfahren: Da es weniger Arbeitslose gibt, braucht es auch weniger Mittel. – Tatsache ist: Wir bekommen in Deutschland einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt. Während auf der einen Seite immer mehr Unternehmen aufgrund der Auswirkungen des demografischen Wandels am Arbeitsmarkt händeringend Fachkräfte suchen werden, haben wir nach wie vor einen verfestigten Sockel von Dauer- und Langzeitarbeitslosigkeit. Jeder, der sich in der Materie ein bisschen auskennt, weiß, dass die Menschen, die drei, vier, fünf, sechs Jahre und länger arbeitslos sind, begleitende Hilfen, Qualifizierung und Maßnahmen brauchen, um zu einem selbstbestimmten Leben in Beschäftigung zu kommen. Frau von der Leyen, wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens den Profis der Bundesagentur für Arbeit, die das letzte Woche deutlich gemacht haben. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie den Wohlfahrtsverbänden und den arbeitgebernahen oder arbeitnehmernahen Weiterbildungsträgern an diesem Punkt. Sie sagen Ihnen: Was Sie jetzt machen, ist eine Zerstörung von Maßnahmen und Strukturen. Die langzeitarbeitslosen Menschen werden von Ihnen abgehängt, und zwar dauerhaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau von der Leyen, wenn Sie das fiskalisch damit begründen – Sie könnten das ja –: „Es ist weniger Geld da; wir müssen auch bei mir sparen“, dann sage ich Ihnen eines: Kurzfristig bewirken diese Kürzungen im Haushalt schöne Zahlen bei Ihnen und bei Herrn Schäuble. Aber langfristig läuft das Ganze auf eines hinaus: Diese Gesellschaft findet sich mit Langzeitarbeitslosigkeit ab. Wir lassen die Menschen im Transfer mit allen Folgekosten, die das hat. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr, Herr Heil!) Das wird für den Staat und die Gesellschaft verdammt teuer. Reden wir einmal über die Menschen, die das, was Sie hier an Kürzungen machen, betrifft. Wer sind denn die Langzeitarbeitslosen in dieser Zeit in diesem Land? Das sind die jungen Menschen, die aufgrund von Problemen in den Familien oder Fehlleistungen im Bildungswesen keine anständige Qualifikation haben. 65 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Und was machen Sie? Sie hängen diese Jugendlichen dauerhaft ab. Sie schaffen dauerhaften Nachwuchs für Hartz IV, indem Sie beispielsweise den Qualifizierungszuschuss vollständig streichen. Das, Frau von der Leyen, müssen Sie sich zurechnen lassen. Sie spalten den Arbeitsmarkt in einer Zeit des Fachkräftebedarfs, indem Sie junge Menschen dauerhaft zurücklassen. (Beifall bei der SPD) Und was machen Sie noch? Wir haben ein bewährtes Instrument – nach allen Expertenmeinungen ist es ein gutes Instrument –, das beispielsweise Arbeitslosen in der Vergangenheit die Möglichkeit eröffnet hat, nicht nur in reguläre Beschäftigung zu kommen, sondern auch, sich selbstständig zu machen, nämlich den Gründungszuschuss. Viele Arbeitslose konnten sich mit dieser Hilfe selbstständig machen. Das ist also ein Instrument sowohl der Arbeitsmarkt- als auch der Wirtschaftsförderung, das bewirkte, dass auch noch weitere Arbeitsplätze geschaffen wurden. Sie jedoch trocknen dieses Instrument in wesentlichen Teilen aus. Auch das wird Folgen haben. Frau Ministerin, ich kann Ihnen an dieser Stelle eines nicht ersparen – das Motto „Warme Worte, kalte Taten“ kennen wir ja schon; auch heute haben wir es wieder erlebt –: Ich befürchte langsam, dass in den Reihen der schwarz-gelben Koalition möglicherweise ein Menschenbild zu finden ist, das klammheimlich davon ausgeht, dass es einen großen Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit, von Menschen gibt, die man gar nicht mehr in Beschäftigung bringen mag und die man mit sozialem Transfer abspeisen will. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Herr Heil, das, was Sie heute erzählen, ist unter Ihrem Niveau!) Ich sage Ihnen: Wir bleiben bei dem Grundsatz „Fördern und Fordern“. Wir sagen: Fördern und Fordern ist richtig. Es ist zwar richtig, zu sagen, dass sich Menschen selbst anstrengen müssen. Aber Menschen, die besondere Vermittlungshemmnisse haben, brauchen an diesem Punkt Unterstützung. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das tun wir!) Damit, dass Sie bis 2015  40 Milliarden Euro im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik streichen, sagen Sie diesen Menschen Folgendes: Bleibt draußen, nehmt die Stütze, bleibt in Arbeitslosigkeit! – Was das für die betroffenen Menschen und übrigens auch für die Kinder dieser Familien bedeutet, die in einer solchen Situation sind und nicht erleben, dass es einen regulären Tagesablauf gibt und dass Menschen würdig in Arbeit kommen und von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können, interessiert Sie offensichtlich nicht. Angesichts der zerstörerischen Wirkung, die Sie durch diese Kürzungspolitik verursachen, werden und müssen wir das spätestens 2013 korrigieren. Darauf kann sich die deutsche Öffentlichkeit verlassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau von der Leyen, ich finde es schier unerträglich, dass Sie hier – das tun Sie auch sonst verstärkt – die Wortvernebelungsmaschine angeworfen haben. Das tun Sie in Talkshows, wie gestern Abend im Politikmagazin Markus Lanz, und das tun Sie auch heute hier im Deutschen Bundestag wieder. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf nicht ersparen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Wir haben gestern Seine Heiligkeit hier erlebt. Heute haben wir hier Ihre Scheinheiligkeit erlebt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das war nun wirklich unter allem, was es an Niveau gibt! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Getroffene Hunde bellen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Na ja. – Jetzt hat jedenfalls der Kollege Johannes Vogel für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Heil, ich glaube, Ihre letzte Bemerkung richtet sich selbst. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich will Ihnen sagen, was ich unerträglich finde: Unerträglich finde ich es, wie Sie hier die Öffentlichkeit täuschen. Ich will nur einmal auf die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt hinweisen: Wir haben unter 3 Millionen Arbeitslose. Das ist so wenig wie seit 20 Jahren nicht mehr. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Sockelarbeitslosigkeit, die Zahl derjenigen, die langzeitarbeitslos mit einer schlechten Perspektive sind, sinkt in diesem Aufschwung, lieber Herr Heil. Man kann sich bei der Jugendarbeitslosigkeit ja auch einmal die Vergleichszahlen in den Ländern anschauen, in denen Sie in der Landesregierung Verantwortung tragen, zum Beispiel hier in Berlin. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben für Ihre Konzepte 1,8 Prozent bekommen, lieber Herr Vogel!) Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist die niedrigste aller großen Industrienationen in Europa. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frankreich und auch Schweden haben eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie wir, lieber Herr Heil. Gerade in dieser Lage sagt die Koalition eben nicht: „Auf dem Arbeitsmarkt läuft alles gut“, sondern wir widmen uns jetzt der Aufgabe, allen Menschen eine Perspektive zu geben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb kürzen Sie bei der Arbeitsmarktförderung!) Das ist auch der Gedanke, der hinter dieser Instrumentenreform steht. Wir wollen die Arbeitsmarktvermittlung besser machen. Dieser Gesetzentwurf ist ein sehr guter Beitrag auf diesem Weg. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie nennen immer wieder die Zahlen. Das klingt natürlich auch erst einmal gut. Sie addieren die Milliardenbeträge, die möglicherweise zurückgenommen werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Möglicherweise“? – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das ist beschlossen!) Herr Heil, Sie vergessen aber, darauf hinzuweisen, dass die einzig seriöse Betrachtung von Zahlen in diesem Fall darin liegt, zu ermitteln, wie viel Geld pro Arbeitslosen zur Verfügung steht. (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Lieber Herr Heil, ich kann nur sagen: Wir stellen uns der Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren. Ich will auch auf die großen Risiken für den Arbeitsmarkt hinweisen. Wir befinden uns mitten in der europäischen Schuldenkrise. Wir konsolidieren den Haushalt, Sie wollen Schulden vergemeinschaften. Während wir konsolidieren, sorgen wir dafür, dass nicht an der falschen Stelle gespart wird. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb treiben Sie die EZB auch in Staatsanleihen!) Lieber Herr Heil, pro Langzeitarbeitslosen steht in diesem und im nächsten Jahr genauso viel Geld wie 2008 zur Verfügung, als Sie noch Regierungsverantwortung getragen haben. Das ist die Wahrheit. Alles andere ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie haben von der Gefahr der Spaltung des Arbeitsmarktes gesprochen. (Katja Mast [SPD]: Wie sieht es denn für die Langzeitarbeitslosen aus?) Das ist richtig. Ich kann Ihnen aber sagen, was das Beste ist, um einer Spaltung vorzubeugen, nämlich in Qualifikation zu investieren. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Darum kürzen Sie jetzt gerade!) Der Arbeitsmarkt wird nicht durch Flexibilität gespalten, sondern durch die mangelnde Qualifikation von einigen Menschen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Ich schaue mir einmal die Zahlen an: 2005 hatten wir 5 Millionen Arbeitslose, in diesem Jahr sind es unter 3 Millionen. 2005 war das letzte Regierungsjahr von Rot-Grün. Dieses Jahr geben wir 1 Milliarde Euro mehr für Qualifikation aus, als Sie das 2005 getan haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) Von wegen schlechte Perspektive und gespaltener Arbeitsmarkt! Das war Ihre Politik. Wir machen eine andere. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2005 ist das Gesetz in Kraft getreten! Das ist das Letzte!) In den letzten zwei Minuten will ich noch ein paar Sätze zum Gesetzentwurf selbst sagen. Es geht in der Tat darum, dass wir den Instrumentenkasten aufräumen. Wir sagen: Es ist richtig, auf Instrumente zu verzichten, mit denen Menschen nicht in Arbeit gebracht werden. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass zum Beispiel das Instrument ABM wegfällt, was nie ein erfolgreiches Instrument war, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und der Gründungszuschuss? Und der Qualifizierungszuschuss?) und dass wir uns gleichzeitig auf die Instrumente konzentrieren, durch die den Menschen wirklich eine Perspektive gegeben wird. Das ist der Gedanke, der hinter diesem Gesetzentwurf steht. So etwas legen wir hier vor. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will noch auf einen anderen Aspekt eingehen. Ich freue mich nämlich – das sage ich besonders für meine Fraktion –, dass wir auch die privaten Arbeitsvermittler im Instrumentenkasten der Arbeitsvermittlung erhalten konnten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) Es geht darum, kreative Konkurrenz im Markt zu haben, und zwar Konkurrenz um die besten Lösungen, wie wir den Menschen eine Perspektive geben können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich ahne schon, was gleich kommen wird. Es wäre für das Niveau unserer Debatte – das sage ich offen – schön, wenn wir auf derselben Grundlage ehrlich miteinander diskutieren würden. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten wir auch gerne!) Deshalb, Frau Kollegin Pothmer, würde ich mich freuen, wenn Sie gleich darauf verzichten würden, hier wieder die Lüge zu erzählen, das sei ein schlechtes Instrument. Die Evaluation des IAB hat ergeben: Das ist ein gutes Instrument. Es bringt nämlich Menschen in Beschäftigung. Deswegen erhalten wir es. In der Tat wollen wir auch bei der öffentlich geförderten Beschäftigung dafür sorgen, dass diese nicht das Instrument der ersten Wahl ist, zum Beispiel für junge Menschen, sondern dass es um Qualifikation geht und dass wir uns in der öffentlich geförderten Beschäftigung auf die konzentrieren, die sie wirklich brauchen und sie in diesem Bereich wirkungsvoll halten. Mein Kollege Kober wird dazu gleich etwas sagen. Zum Schluss will ich einen Aspekt, auf den Sie gar nicht eingehen – ich kann verstehen, warum –, hier in der Debatte anführen. Ich meine den Paradigmenwechsel bei der Förderung der Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern. Wir stellen uns mit diesem Gesetzentwurf auch der Aufgabe, den Arbeitsmarkt der Zukunft zu bauen. Es wird Regionen geben – diese gibt es in diesem Land auch schon heute –, in denen Vollbeschäftigung herrscht. Die Frage ist hier: Wie reagieren wir auf den Fachkräftemangel? Wir schaffen hier einen echten Paradigmenwechsel. Erstmalig wird nicht nur die Möglichkeit geschaffen, die Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern, von Geringqualifizierten und Älteren weiter zu finanzieren, sondern auch die Möglichkeit, dass alle Arbeitnehmer von kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Land – bei denen ist die Weiterbildungsquote nicht so hoch wie bei den Konzernen – durch die Bundesagentur für Arbeit teilgefördert werden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Das ist eine echte Innovation, die Sie nie geschafft haben. Wir stellen uns der Aufgabe, auf den Fachkräftemangel und das Problem von mangelnder Qualifikation, das eine Spaltung des Arbeitsmarkts bewirkt, zu reagieren. Dieser Gesetzentwurf bringt einen echten Paradigmenwechsel. Sie haben nichts Besseres zu tun, als über angebliche Haushaltskürzungen zu reden. Man könnte das schon als Kompliment sehen: Was man an diesem Gesetzentwurf inhaltlich kritisieren könnte, fällt Ihnen offenbar nicht ein. Ich bin gespannt, ob dazu im Laufe der Debatte etwas kommt. Ich rechne nicht wirklich damit. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile der Kollegin Sabine Zimmermann das Wort, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollen uns heute abschließend mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verschlechterung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt beschäftigen. (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU) – Ach, ich habe mich versprochen, Entschuldigung. Ich meine natürlich: zur Verbesserung. (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP: Ah!) Doch, ich habe ganz bewusst ausgesprochen – das hat bei Ihnen auch Wirkung gezeigt –, was die Sozialverbände, Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen und die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger von diesem Gesetz denken. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Rhetorisches Feuerwerk!) Die Bundesregierung sorgt damit nur ein weiteres Mal für einen gigantischen Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik, und das auf dem Rücken von erwerbslosen Menschen in diesem Land. Während der Rettungsschirm für die Banken immer größer wird, drückt die Bundesregierung den vielen erwerbslosen Menschen nur einen kleinen löchrigen Knirps in die Hand. Das ist ungerecht, aber das ist Ihre Politik. Dabei machen wir nicht mit. (Beifall bei der LINKEN) Selbst in Zeiten des Aufschwungs gelingt es nicht, Langzeitarbeitslose in nennenswerten Größenordnungen in Beschäftigung zu bringen. Ihr Anteil an allen Erwerbslosen blieb im August mit 33 Prozent genauso wie im Vorjahr. Damit liegt Deutschland deutlich über dem Durchschnitt der europäischen Länder. Nur die Slowakei hat einen noch höheren Anteil langzeitarbeitsloser Menschen. Mit Ihrem Gesetz zur vermeintlichen Verbesserung der Eingliederungschancen werden Sie es bald schaffen, den Spitzenplatz in Europa zu erobern. Dazu können wir nur sagen: Glückwunsch! Deutschland, das Land der Langzeitarbeitslosen! – Das ist Ihr Verdienst von Ihrer Regierung, meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koalition. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte noch etwas zu den absoluten Zahlen sagen. Im Juni betrug die offizielle Zahl der Langzeitarbeitslosen im Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit 868 000. Im Juli belief sich diese Zahl dann auf 962 000. Nun fragen Sie bestimmt, warum, Herr Vogel, der Sie uns so schön Ihre Rechnungen aufmachen. Ich kann Ihnen sagen, woran es liegt. Erstmals konnten nämlich Langzeitarbeitslose ausgewiesen werden, die von den Optionskommunen betreut werden. All die Jahre zuvor – das waren sieben Jahre; seit dieser Zeit bestehen die Optionskommunen – wurden sie vor der Öffentlichkeit offenbar versteckt. Ich frage mich: Was ist hier los? (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist ein Skandal!) Genau genommen weiß man gar nicht genau, wie viele Arbeitslose es in unserem Land gibt. Außerdem gibt es noch die knapp 100 000 über 58-jährigen arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher – die Sie vergessen haben, Herr Vogel –, die aus der Statistik herausgefallen sind, (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Wir haben aber an der Statistik überhaupt nichts verändert!) weil sie in den letzten zwölf Monaten kein Jobangebot vom Jobcenter bekommen haben. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist unerhört!) Ich frage mich: Was ist hier los? Wie wollen Sie uns darstellen, dass die Arbeitsmarktpolitik greift und die Arbeitslosigkeit zurückgeht? Wenn etwas in Bewegung ist, dann sind es nicht die Langzeitarbeitslosen auf dem Weg in ihren neuen Job, sondern allenfalls die Statistiken. Nur 2,2 Prozent der Langzeitarbeitslosen gelang es in den letzten zwölf Monaten, in einen Job zu kommen. Von großen Erfolgen am Arbeitsmarkt, insbesondere für Langzeitarbeitslose, zu reden, halten wir für Augenwischerei. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie, allen voran unsere Ministerin Frau von der Leyen, verschließen die Augen vor der Realität. Vor allem Langzeiterwerbslose benötigen dringend Weiterbildung und Qualifizierung, um eine Chance auf einen Job zu erhalten. Das wurde heute schon mehrfach angesprochen. Die Hälfte von ihnen verfügt nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Doch die Maßnahmen zur Weiterbildung und Qualifizierung haben Sie bereits in diesem Jahr drastisch zusammengestrichen. Die Teilnehmerzahlen sind um 36 Prozent zurückgegangen, Herr Vogel. Gleichzeitig redet die Regierung, auch Sie, Herr Vogel, von einem Fachkräftemangel. Auf der einen Seite werden die Gelder für aktive Maßnahmen gestrichen. Auf der anderen Seite jammern Sie auf hohem Niveau, dass wir einen Fachkräftemangel haben. Ich bitte Sie, das passt doch nicht zusammen. Die Linke steht für eine andere Arbeitsmarktpolitik. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das glaube ich!) Ich denke, das wird Sie nicht wundern. Dazu haben wir einen Antrag eingebracht, den Sie vielleicht einmal lesen sollten. Notwendig ist eine Reform der Arbeitsmarktinstrumente – darin sind wir uns einig –, die aber nicht auf Billigmaßnahmen und Vermittlung in prekäre Beschäftigung setzt und damit lediglich die Arbeitslosenstatistik bereinigt. Es gilt, Qualifizierung und Vermittlung in gute Arbeit zu stärken. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Linke möchte nachhaltige Maßnahmen stärken, die am individuellen tatsächlichen Bedarf der Betroffenen ausgerichtet sind. Damit verbunden sind Rechtsansprüche der Betroffenen auf Fördermaßnahmen. Insbesondere müssen die Erwerbslosen mit den größten Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt besser unterstützt werden: Ältere, Menschen mit Behinderungen, aber auch Langzeiterwerbslose. Denn diese Gruppen sind die großen Verlierer der letzten Jahre und werden dies aufgrund Ihres Gesetzentwurfs auch weiter sein. Die Bundesagentur für Arbeit darf von der Bundesregierung nicht weiter in die chronische Unterfinanzierung getrieben werden. Damit meine ich die Abschaffung der Defizithaftung des Bundes, die vorgesehene Reduzierung des Beitrages zur Arbeitsförderung und die Strafgebühr beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV. Sie pressen die Bundesagentur für Arbeit aus wie eine Zitrone. Das geht zulasten der erwerbslosen Menschen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zudem darf die Arbeitsverwaltung nicht länger Motor für prekäre Beschäftigung sein. Wir fordern eine Neugestaltung der Zumutbarkeitsregelungen und eine bessere Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, um dem Druck zur Aufnahme von niedrig entlohnter und nicht qualifikationsgerechter Beschäftigung entgegenzuwirken. Denn es kann nicht sein, dass Menschen in Arbeit vermittelt werden und zusätzlich Hartz IV beziehen müssen. Damit muss endlich Schluss sein in diesem Land! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Statt die öffentlich geförderte Beschäftigung einzustampfen, wie es die Regierung derzeit tut, wollen wir neue Rahmenbedingungen für gute öffentlich geförderte Beschäftigung schaffen, um Langzeiterwerbslosen eine Perspektive zu geben. Dies sind eben nicht 1-Euro-Jobs; es geht vielmehr um sinnvolle zusätzliche Arbeit, von der man leben und seine Familie ernähren kann. Die Arbeitsverwaltung wurde in den letzten Jahren immer mehr zu einem System umgestaltet, das sich ausschließlich negativ definiert: über Sperrzeiten, Sanktionen und wenig Förderung. Dieser falsche Weg muss ein Ende haben. (Beifall bei der LINKEN) Solange Sie mit Ihrem vorgelegten Gesetzentwurf die Chancen von langzeitarbeitslosen Menschen so dramatisch verschlechtern, werden wir als Linke nie zustimmen. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der hier heute vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich nicht an den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Der hier heute vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich am Rotstiftdiktat des Finanzministers. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dem werden jedenfalls wir nicht zustimmen. Sie behaupten immer, Herr Vogel und Frau von der Leyen, dass die vorgesehenen Einsparungen durch Effizienz und Zielgenauigkeit aufgefangen werden. Diese Effizienz und diese Zielgenauigkeit wollen Sie dadurch erreichen, dass die Entscheidungskompetenz der Jobcenter gesteigert wird. Deswegen werden Pflichtleistungen in Ermessensleistungen umgewandelt. Jetzt will ich Ihnen einmal am Beispiel des Gründungszuschusses erläutern, wie das aussieht. Beim Gründungszuschuss sollen 5 Milliarden Euro eingespart werden; das sind 83 Prozent des Etats. Die Ausweitung der Entscheidungskompetenz vor dem Hintergrund dieser Einsparungen ist nichts anderes, als dass Sie die Drecksarbeit der Ablehnung nach unten verlagern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es gibt aber interessanterweise eine Ausnahme: Die Vermittlungsgutscheine für private Vermittler werden nicht in eine Ermessensleistung umgewandelt. Die Vermittlungsgutscheine für private Vermittler sind so etwas wie die Mövenpick-Steuer der Arbeitsmarktpolitik. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist in gleicher Weise arm und billig!) Das ist das einzige Instrument, das nicht zur Ermessensleistung wird. Sie sind angetreten, um den Instrumentenkasten nach dem Prinzip der Effizienz zu organisieren. Wie sieht die Effizienz bei den privaten Vermittlern eigentlich aus? Im Jahr 2010 sind 634 000 Vermittlungsgutscheine ausgegeben worden. Eingelöst worden sind davon 50 000. Das entspricht 7,9 Prozent. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Ja und?) Arbeit haben davon nur 4,2 Prozent gefunden. Das ist das Prinzip der Effizienz à la FDP. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] – Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Ich will hier aber gar nicht den Eindruck erwecken, als würden schon mit dem Ausgeben des Vermittlungsgutscheines Kosten fällig, auch wenn damit durchaus Beratungs- und Bürokratieaufwand verbunden ist. Aus Seriositätsgründen will ich hier deutlich machen: Die Provision wird erst gezahlt, wenn jemand tatsächlich sechs Wochen in Arbeit ist. Herr Vogel, was ist an 4,2 Prozent effizient? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das hier ist kein Effizienzinstrument; das ist Wahlkampfhilfe für die FDP. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So viele Wahlen gibt es auch nicht!) So viele private Vermittler gibt es aber gar nicht, um der FDP über die Fünfprozenthürde zu helfen. Hinzu kommt noch – das besagt im Übrigen auch die IAB-Studie –, dass die privaten Vermittler im Wesentlichen den Rahm abschöpfen. Die wirklich schweren Fälle bleiben bei der Bundesagentur für Arbeit und bleiben bei den Jobcentern. Aber die schwer Vermittelbaren interessieren Sie ja sowieso nicht; die haben Sie längst abgeschrieben. Dieser Gesetzentwurf konzentriert sich auf diejenigen, die ohne großen Unterstützungsbedarf in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Frau von der Leyen, es geht Ihnen darum, sich im schönen Schein der durch die Konjunktur abnehmenden Arbeitslosenzahlen zu sonnen. Ich sage Ihnen: Wo Sonne ist, da ist auch Schatten. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Lessing!) Ich finde, die Aufgabe einer Arbeitsministerin besteht darin, sich diesem Schatten einmal zuzuwenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was wir nämlich nicht brauchen, ist eine Schattenkanzlerin. Was wir brauchen, ist eine Arbeitsministerin, die sich genau um diese Schattenseiten kümmert, und das sind die schwer Vermittelbaren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) das sind die gesundheitlich Eingeschränkten, das sind die ohne Ausbildung, das sind die Älteren, und das sind die Alleinerziehenden. Frau von der Leyen, wenn Sie hier auftreten und sagen, die Zahl der Arbeitslosen unter den Alleinerziehenden sei überproportional zurückgegangen, dann kann ich nur sagen: Das stimmt nicht. Genauso stimmt Ihre Rechnung nicht, dass Sie pro Kopf mehr als in den Jahren zuvor ausgeben werden. Wenn Sie allerdings das Jahr 2005 zum Referenzjahr nehmen, also das Jahr, in dem diese Regelung eingeführt worden ist und die Jobcenter im Aufbau begriffen waren, dann zeigt das den Mangel an Seriosität in Ihrer Argumentation. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Zahl, die wirklich relevant ist, ist folgende: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist im letzten Jahr um 4 bis 5 Prozent gesunken. Aber Sie kürzen in diesem Bereich um 25 Prozent. Sie können vieles außer Kraft setzen, nicht aber Adam Riese. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Probleme, die wir heute auf dem Arbeitsmarkt haben, sind grundsätzlich anderer Natur als vor zwei Jahren. Heute sind die Menschen arbeitslos, nicht weil Arbeitsplätze fehlen, sondern weil ihnen die Qualifikation für die vorhandenen Arbeitsplätze fehlt. Es ist Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik, das zu verändern. Wenn das nicht gelingt, dann hat die Arbeitsmarktpolitik versagt. Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit, das ist das Versagen der verantwortlichen Ministerin. Dafür tragen Sie die Verantwortung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Anhörung hat das noch einmal deutlich gemacht. Alle fordern eine Rücknahme der Kürzungen, aber auch eine qualitative Verbesserung. Wir brauchen einen besseren Personalschlüssel. Wir brauchen besser qualifiziertes Personal in den Jobcentern. Wir brauchen Qualifizierungsmaßnahmen insbesondere für Geringqualifizierte, die zu einem Abschluss führen. Wir brauchen die volle Finanzierung von Umschulungen, besonders in nachgefragten Berufen wie in der Pflege. Welchen Sinn macht es eigentlich, dass die Kosten der Umschulungen hier nicht übernommen werden? Tatsächlich ist jede Umschulung im Pflegebereich mit einer Jobgarantie verbunden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu finden wir in Ihrem Gesetzentwurf nichts, rein gar nichts. Mit diesem Gesetz treiben Sie die Spaltung des Arbeitsmarktes und damit auch die Spaltung in der Gesellschaft voran. Leider hat der Änderungsantrag, den die Fraktionen vorgelegt haben, daran nicht wirklich etwas geändert. Deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Karl Schiewerling. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es amüsant, dass sich die Opposition an unserer Bundesarbeitsministerin in persönlichen Fragen handfest abarbeitet. Sie scheint eine so gute Politik zu machen, dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nur noch mit Schlägen unterhalb der Gürtellinie operieren können. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage es Ihnen sehr deutlich: Auch Sie, Frau Kollegin Pothmer, können Adam Riese nicht außer Kraft setzen. 5 Millionen Arbeitslose sind nun einmal mehr als knapp 3 Millionen Arbeitslose. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie die Zahlen nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dann nenne ich Ihnen hier in der Öffentlichkeit die Zahlen noch einmal: 2006 gab es 5 Millionen Arbeitslose. Wir haben damals 1 643 Euro pro Kopf ausgegeben. Wir werden im Jahr 2011  2 524 Euro pro Kopf ausgeben, damit Langzeitarbeitslose bzw. Arbeitslose in den Arbeitsmarkt integriert werden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Gegen Adam Riese werden Sie, Frau Kollegin Pothmer, nicht argumentieren können. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mast? Karl Schiewerling (CDU/CSU): Mit verhaltener Freude. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Mast. Katja Mast (SPD): Herr Kollege Schiewerling, vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. – Mich interessiert, wie sich die Pro-Kopf-Ausgaben für Langzeitarbeitslose in Deutschland seit Ihrer Regierungsübernahme entwickelt haben bzw. entwickeln werden. Da Sie offenbar gerne mit Zahlen agieren, wird es für Sie sicherlich kein Problem sein, uns auch hierzu konkrete Zahlen zu nennen. Karl Schiewerling (CDU/CSU): Die habe ich Ihnen gerade genannt. (Katja Mast [SPD]: Nein! Sie haben über Arbeitslosigkeit allgemein gesprochen, nicht über Langzeitarbeitslosigkeit!) – Nein, Frau Kollegin, ich habe Ihnen die Zahlen genannt. – 2011 gibt es geschätzt 2,1 Millionen Arbeitslose im SGB-II-Bereich. Die Pro-Kopf-Ausgaben liegen bei 2 524 Euro. 2006 gab es 2,8 Millionen Langzeitarbeitslose. Damals wurden pro Kopf 1 643 Euro ausgegeben. Das sind die Zahlen. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Sie haben über Arbeitslose allgemein gesprochen!) Frau Kollegin Mast, es tut mir leid, dass die Zahlen nun einmal so sind, wie sie sind, und dass Sie mit Ihrer Argumentation nicht durchdringen. Aber auch Sie müssen diese Zahlen einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir schließen nach der Organisationsreform und der Reform der Regelsätze mit dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute abschließend beraten, nun den dritten Teil der Arbeitsmarktgesetzgebung, die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, ab. Ich finde, dass wir in den letzten zwei Jahren einiges auf den Weg gebracht haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Schiewerling, auch Frau Kollegin Pothmer würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Karl Schiewerling (CDU/CSU): Nein, jetzt nicht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Mut verlässt ihn!) Die Notwendigkeit, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu reformieren – ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit –, besteht unabhängig von der Konjunktur und den Finanzen. Selbst wenn wir 4 Milliarden Euro mehr zur Verfügung hätten, müssten wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente effizienter gestalten; denn ob 4 Milliarden Euro mehr oder 500 Millionen Euro weniger, es geht in jedem Fall darum, die Steuergelder effizient einzusetzen, weil wir gegenüber dem Steuerzahler für das, was wir tun – das bleibt immer so –, Verantwortung tragen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es geht bei dem, was wir tun, um einen Umbau und nicht – das wollen einige von Ihnen suggerieren – um einen Abbau der Sozialleistungen. Es geht erst recht nicht um einen Kahlschlag. Es geht darum, dass auch die Langzeitarbeitslosen ihre Chancen nutzen können, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden. (Zuruf von der LINKEN: Allgemeinplatz!) Diese Gesetzgebung stellt in der Tat einen Paradigmenwechsel dar. Wir müssen konsequent in die Qualifizierung investieren und konsequent eine Treppe zum ersten Arbeitsmarkt bauen. Einige brauchen mehr Stufen, um dorthin zu kommen, einige brauchen nur eine Stufe oder müssen nur einen Schritt gehen; es geht aber darum, dass wir die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Sie, Frau Kollegin Pothmer, sagen, uns habe die Konjunktur geholfen. Die Konjunktur hat uns überhaupt nicht geholfen; sie ist vielmehr die Basis dafür, Menschen wieder im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Arbeitsmarktpolitische Instrumente schaffen keine Arbeitsplätze, sondern sie ebnen den Weg, um wieder in Beschäftigung zu kommen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Arbeitsplätze werden von der Wirtschaft geschaffen, und die Wirtschaft kann sie nur bei einer entsprechenden Konjunktur und dann schaffen, wenn gute Rahmenbedingungen von der Politik gesetzt werden. Wir haben die Rahmenbedingungen richtig gesetzt; sonst hätten wir den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Weg ist von uns dadurch geebnet worden, dass wir die Instrumente zusammengefasst haben, dass wir mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit vor Ort haben und die Instrumente zur Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt geschärft haben. Ich bin auf einige Dinge, die wir jetzt erreicht, aber die wir zusammen in der letzten Legislaturperiode nicht geschafft haben – das sage ich Ihnen sehr deutlich –, ein klein wenig stolz. Wir haben es geschafft, die Entscheidungsfreiheit vor Ort anzusiedeln, weil die Situation zwischen Kiel und Konstanz, zwischen Aachen und Görlitz völlig unterschiedlich ist. Wir flexibilisieren, wir überlassen die Entscheidungsfreiheit den Verantwortlichen vor Ort, haben aber auch die dringende Bitte, dass diese Entscheidungsfreiheit wahrgenommen wird und die Möglichkeiten tatsächlich genutzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir flexibilisieren sogar die Finanzierung dahin gehend, dass die Verantwortlichen entscheiden können, wie sie immerhin 20 Prozent des gesamten Eingliederungstitels – das sind weit mehr als 800 Millionen Euro – einsetzen, um die spezifischen Arbeitsmarktprobleme vor Ort zu lösen. Das setzt Eigenverantwortung voraus. Darauf bauen wir, und darauf setzen wir unsere Akzente. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das hat auch etwas mit dem Fachkräftemangel zu tun. Aber tun wir doch nicht so, als sei das Problem des Fachkräftemangels ein monolithischer Komplex. Es handelt sich vielmehr um eine sehr differenziert zu beantwortende Frage, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!) weil die Situation der Menschen höchst unterschiedlich ist. Dort, wo wir etwas leisten können, damit Jugendliche, Heranwachsende und Menschen, die gerade in Beschäftigung gekommen sind, weiterqualifiziert werden, um eine Perspektive zu haben, weil wir ihre Kraft, ihre Begabungen und ihre Fähigkeiten brauchen, investieren wir und bieten Qualifizierungsmöglichkeiten. Wir bitten alle Träger und Institutionen, die sich in diesem Bereich engagieren, dies weiter mit voller Kraft zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist mir an dieser Stelle ein Anliegen, ein deutliches Wort des Dankes an die vielen Initiativen und Träger zu richten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die werden sich aber über Ihre warmen Worte sehr freuen!) Ich weiß, dass in einigen Bereichen der Beschäftigungsinitiativen, die sich für Langzeitarbeitslose einsetzen, Umstrukturierungen stattfinden werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kürzungen! Reden Sie doch Deutsch!) Diejenigen, die ausschließlich Beschäftigung organisieren, werden es schwer haben, weil wir sie auffordern, Beschäftigung mit Qualifizierung zu verbinden und den Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu organisieren. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit weniger Geld!) Dafür werden wir die Mittel bereitstellen. Dafür werden wir die Rahmenbedingungen schaffen. Wir erreichen mehr Effizienz, weil mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort entsteht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ohne Geld!) Ich bin ganz sicher, dass es nicht nur um die Frage geht, wie wir die Mittel verteilen, sondern auch um die Frage, wie wir die Mittel effizient einsetzen. In diesem Sinne freue ich mich darauf, dass wir zu neuen Aufbrüchen in diesem Bereich kommen. Es geht nicht um Abbau. Es geht um Umbau. Es geht um Schärfung. Es geht um gute Perspektiven für die Menschen, junge wie ältere, damit sie eine gute und hoffnungsvolle Zukunft am Arbeitsmarkt haben. Ich bin froh darüber, dass sich die Zahlen so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben. Ich rate Ihnen, den Menschen das auch nicht schlechtzureden; (Stefan Schwartze [SPD]: Das brauchen wir nicht! Sie haben es so schlecht gemacht!) denn sie brauchen Mut, und sie brauchen nicht permanent Schwarzmaler, die ihnen sagen: Ihr habt sowieso keine Perspektive. – Sie haben eine Perspektive, und wir eröffnen sie ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. (Beifall bei der SPD) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Schiewerling, wer sich Effekte des Aufschwungs so an die Brust heftet, wie Sie es getan haben, der sollte die andere Seite der Brust freilassen; denn dahin heften wir dann die Effekte, die entstehen, wenn der Aufschwung nachlässt. Was hier geschieht, ist unverantwortlich. Es ist unverantwortlich, dass Sie sagen: All das Gute auf dem Arbeitsmarkt haben wir gemacht. – Ich glaube, die Menschen in Deutschland wissen das besser. Auch wenn Sie so froh sind über das Gesetz, das heute verabschiedet wird, und sich einer Noch-Mehrheit im Parlament rühmen können, so haben Sie doch nicht die Mehrheit der Gesellschaft auf Ihrer Seite. Wir haben in diesem Verfahren erlebt, wie Sozialverbände, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Initiativen gegen das Sturm gelaufen sind, was heute verabschiedet wird. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Selbsterhaltung! – Patrick Döring [FDP]: Blanker Lobbyismus!) Zwei Dinge müssen zusammen gesehen werden, Herr Zimmer: Ihre radikalen Kürzungen und die Veränderung der Instrumente. Die Kollegin Pothmer hat es auf den Punkt gebracht. Ich will es noch einmal sagen, weil Sie es offenbar noch nicht verstanden haben: Sie geben den Mitarbeitern in den Jobcentern vor Ort nur die Chance, Nein zu sagen, wenn sie ihr Ermessen ausüben. Das ist fahrlässig. Das haben sie auch wirklich nicht verdient. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir wissen: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts. – Wir Sozialdemokraten haben einmal Instrumente reformiert, zusammen mit der CDU/CSU. Das war ein guter Schritt. Wir haben signalisiert: Wir sind bereit, weiterzumachen. – Das gilt aber nicht, wenn Sie eine Instrumentenreform machen und sich die Instrumente nur noch auf das beziehen, was nach Ihren Milliardenkürzungen hinter dem Komma noch übrig bleibt. Das ist Missbrauch von Reform. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das führt dazu, dass der Graben zwischen jenen Menschen, die in guter Arbeit sind, und denen, die gar keine Arbeit haben oder zu schlechten Bedingungen arbeiten müssen, noch tiefer wird. Das sind die Effekte Ihrer Arbeitsmarktpolitik, auf die Sie so stolz sind. Wir können das am Beispiel der Jugendwerkstätten in Niedersachsen durchbuchstabieren. Frau Ministerin, Sie kennen sich da aus. Sie wissen: Über 100 Einrichtungen arbeiten seit Jahren erfolgreich. Mehr als 5 000 junge Menschen ohne Chance bekommen dort genau das, was sie brauchen, damit sie gut in Ausbildung und Arbeit kommen. Wenn es nicht Proteste gegeben hätte, dann wären diese Werkstätten radikal ans Ende ihrer Existenz gekommen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ach je!) Was wir jetzt haben, Kollege Straubinger, ist ein kleiner Fortschritt. Sie könnten sich bei Ihrer Kollegin Connemann aus Niedersachsen informieren. Sie hat auch berechtigte Sorge in der Frage, wie es in diesem Zusammenhang weitergeht. Das alles zeigt mir: Wenn es konkret darum geht, jungen Menschen Chancen zu eröffnen, dann passen Sie Ihre Politik nicht der Wirklichkeit an, sondern legen wunderbare Sachen ins Schaufenster. Betreten dann aber Bedürftige den Laden, finden sie leere Regale vor. – Das ist die Politik, die Sie machen. Das gilt für den Gründungszuschuss. Das gilt für den Vermittlungsgutschein für junge Leute. Da ist es ja eine wunderbare Ausnahme, wenn es mit den Privaten funktioniert; wir haben das hier hinreichend erörtert. Auch das wird der FDP als Partei nicht weiterhelfen. Möglicherweise eröffnet es Personen, die irgendwann einmal ohne Mandat sein werden, die Chance auf Vermittlung. Ich empfehle da auch unsere öffentlichen Einrichtungen. Auch die vermitteln gut. Diese Aktion wäre nicht notwendig gewesen. (Beifall bei der SPD) Leider müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie können auch zustimmen!) trotz der Änderungsvorschläge, die von CDU/CSU und FDP immerhin noch gekommen sind. Einige waren bitter nötig. Ich denke hier an die Wohnheime und an die Förderung kleiner Einrichtungen, die offenbar von der Frau Ministerin nicht beachtet worden sind. Es wird dringend Zeit, dass sich die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in dieser Republik ändert. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP spricht jetzt der Kollege Pascal Kober. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie tun mir schon leid; (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh! – Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Wir müssen Ihnen nicht leid tun, Herr Kober!) denn es ist offensichtlich sehr schwer, gegen eine so erfolgreiche Regierung Opposition zu machen. Ihnen fällt nichts anderes ein, als auf persönliche Angriffe unter der Gürtellinie auszuweichen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche persönlichen Angriffe denn?) Ich kann es nur wiederholen: Diese Regierung ist so erfolgreich, wie Sie es sich im Interesse der Menschen in unserem Land nur wünschen könnten. Wir haben in der Bundesrepublik gegenwärtig 41 Millionen Erwerbstätige, so viele wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Wir haben weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Die Langzeitarbeitslosigkeit, die die Schwächsten der Schwachen betrifft, sank im letzten Jahr erstmalig seit Einführung des Hartz-IV-Systems um 6 Prozent. Die Jugendarbeitslosenquote liegt bei unter 10 Prozent, also nur halb so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Im letzten Jahr wurden 684 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Von daher kann ich schon verstehen, dass es schwer ist, Opposition gegen eine so erfolgreiche Regierung zu machen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nicht einmal 2 Prozent!) Ich möchte Sie für Folgendes sensibilisieren. Was ich eben genannt habe, waren die nackten Zahlen. Aber stellen Sie sich vor, wie viele persönliche Lebensschicksale Hunderttausender sich konkret dahinter verbergen: Hunderttausende Menschen, die jetzt wieder schlafen können, Hunderttausende Familien, die in den Urlaub fahren können, Hunderttausende Menschen, die wieder eine Perspektive haben – das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten Sie anerkennen um des Lebensglücks dieser Menschen willen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die wählen jetzt alle FDP!) Wir sind nicht so vermessen, alles auf unsere Regierungsführung zurückzuführen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das hörte sich aber anders an!) Wir wissen, dass bereits in der Vergangenheit Wesentliches im Bereich der Wirtschaft geschehen ist, das dazu geführt hat, dass es jetzt so viele Chancen für die Menschen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Es gibt 1 Million offene Stellen, die darauf warten, besetzt zu werden. Deshalb ist es richtig, dass wir in die Weiterbildung investieren. Wir investieren mehr, als Sie je zu investieren bereit waren. Sie haben 2005 2 Milliarden Euro in die Weiterbildung investiert. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2005 gab es die Jobcenter noch gar nicht! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Argumente werden nicht besser, wenn sie wiederholt werden!) Wir investieren 3 Milliarden Euro. Das zeigt deutlich, wo wir uns in der Verantwortung sehen. Wir ergänzen das, was auf dem Arbeitsmarkt durch eine glücklicherweise gute Konjunkturentwicklung möglich war, durch eine kluge Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich daran erinnern, dass ich Sie bei der ersten Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes gebeten habe, sich nicht darauf zurückzuziehen, nur ständig über die Rückführung von Mitteln zu klagen. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist leider gescheitert!) Ich habe Sie aufgefordert, sich konstruktiv an der Verbesserung der einzelnen Instrumente zu beteiligen; aber von Ihnen ist in dieser Hinsicht nichts gekommen. Wir hingegen haben bei den bereits zur Verfügung stehenden Instrumenten die Stellschrauben justiert, um so in Zukunft größere Erfolge zeitigen können. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Bei den 1-Euro-Jobs bzw. den Arbeitsgelegenheiten haben wir eine sogenannte Nachrangigkeitsklausel eingeführt, sodass das Instrument nur dann anwendbar ist, wenn – – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Kober, ich wollte Sie eigentlich nicht mitten im Satz unterbrechen. Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil zulassen? Pascal Kober (FDP): Eine Zwischenfrage des Kollegen Heil natürlich gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Geschätzter Kollege Kober, in der vergangenen Woche war auf meine Einladung hin Herr Staatssekretär Brauksiepe in meinem Heimatwahlkreis. Dies ist der Landkreis Peine, zwischen Braunschweig und Hannover gelegen. Herr Staatssekretär Brauksiepe hat ähnlich argumentiert, wie Sie argumentiert haben, nämlich nach dem Motto: Pro Kopf wird überhaupt nicht gespart. – Komischerweise erleben wir gerade, dass die Strukturen einer hocheffizienten Berufsbildungs- und Beschäftigungsgesellschaft des Landkreises Peine zusammenbrechen. Derzeit vollzieht sich dort ein Strukturwandel. Dass die Caritas und die Diakonie über die Jugendwerkstätten einiges zu berichten haben, hat die Kollegin Lösekrug-Möller bereits angesprochen. Ich habe eine einfache Frage an Sie. Ich schlage vor, dass wir vereinbaren, dass Sie in einem Jahr in meinen Wahlkreis kommen und den Menschen vor Ort erklären, dass alles so toll ist, wie Sie es hier prognostizieren. Nehmen Sie meine Einladung an? Pascal Kober (FDP): Lieber Hubertus Heil, zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Gesetz noch gar nicht wirksam ist. Wenn die Träger jetzt verunsichert sind, was ihnen in Zukunft bevorsteht, dann liegt das im Wesentlichen daran, dass Sie hier nicht sachlich argumentieren, sondern den Trägern Angst machen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun zu Ihrer Frage, Herr Heil. Ich komme gerne und lade Sie zugleich in meinen Wahlkreis ein. Danach tauschen wir uns darüber aus. Ich freue mich darauf. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben im Bereich des 1-Euro-Jobs eine Nachrangigkeitsklausel eingeführt, damit genau diejenigen davon profitieren, die es nötig haben und für die diese Arbeitsgelegenheit sinnvoll ist, statt sie zu verwenden, um irgendwelchen Trägern oder sonstigen Auftraggebern billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So haben wir – die Zeit reicht nicht mehr, dies auszuführen – an ganz vielen Stellen gerade im Bereich des SGB II ganz konkrete kleine Veränderungen vorgenommen, um diese Instrumente zielgerichteter einzusetzen, damit mehr Menschen die Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Uns geht es in der Tat gerade um die Schwächsten. Deshalb – darauf können Sie vertrauen – werden wir auch weiter mit Ihnen die Diskussion und die Auseinandersetzung suchen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Max Straubinger. (Beifall bei der CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt. Damit setzt sich nach der Jobcenterreform und der Leistungsreform die Reform der gesetzlichen Grundlagen der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung fort. Ich glaube, es ist ein sehr gutes Gesetz, das wir heute verabschieden, weil damit ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik verbunden ist. Es geht nämlich darum, mehr Eigeninitiative bei den Jobcentern und bei der Arbeitsvermittlung insgesamt zuzulassen und diese nicht mit irgendwelchen Pflichtleistungen zu strangulieren. Das ist der entscheidende Gedanke bei dieser Gesetzgebung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Alle Arbeitsagenturen begrüßen die Möglichkeit der Eigeninitiative, die damit zukünftig verbessert wird. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) – Natürlich. – Darüber hinaus werden damit den Menschen mehr Chancen eröffnet. In den vergangenen Jahren haben wir bereits eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik betrieben, auch in der Zeit der Großen Koalition; das möchte ich in keiner Weise in Abrede stellen. Mittlerweile ist ein signifikanter Rückgang der Dauerarbeitslosigkeit festzustellen; denn wir sind das Problem der Arbeitslosigkeit kontinuierlich angegangen. Unter Rot-Grün gab es 5 Millionen Arbeitslose. Jetzt sind es 2,8 Millionen Arbeitslose. Gestern wurde gemeldet, dass der Monat September den neuesten Tiefpunkt bei der Arbeitslosigkeit in Deutschland bedeuten wird. Es wird 200 000 Arbeitslose weniger geben als vor einem Jahr im Monat September. Das zeigt sehr deutlich, dass der Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist und dass es deshalb geboten ist, die Instrumente so einzusetzen, dass zunächst in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt wird und nicht in irgendwelche Arbeitsgelegenheiten oder andere Formen der Eingliederung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beides ist wichtig!) Ziel dieses Gesetzes ist es, den ersten Arbeitsmarkt zu bedienen. Ich habe natürlich Verständnis für diejenigen, die sich als Leistungsanbieter von Eingliederungsmaßnahmen betätigt haben. Wichtiger aber ist es, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Dass dieser Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist, möchte ich durch ein Beispiel aus meinem Heimatwahlkreis untermauern. Jüngst in der letzten Woche erschien dort eine Meldung von der Bundesagentur für Arbeit, dass derzeit 197 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können. Das bedeutet, dass es große Chancen für Jugendliche gibt. Sosehr ich die Leistungsfähigkeit von Jugendnetzwerken und sonstigen Einrichtungen schätze, weitaus entscheidender ist es, die jungen Menschen zuerst in eine Lehrstelle zu bringen. Nichts ist lehrreicher als die praktische Erfahrung im Betrieb, um damit ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das ist der Sinn dieser Gesetzgebung. Häufig wird kritisiert, es würden ständig nur finanzielle Kürzungen vorgenommen. Es ist aber ein Unterschied – Vorredner haben es bereits gesagt –, ob wir 5 Millionen Arbeitslose haben oder 3 Millionen oder unter 3 Millionen. Weil auch das oft bezweifelt wird, möchte ich darlegen: Im Jahr 2007 hatten wir im SGBII-Rechtskreis 2,5 Millionen Arbeitslose zu vermelden. Im Jahr 2011 sind wir bei 2 Millionen angelangt. Das heißt, wir haben 500 000 Arbeitslose weniger. Im SGB-III-Rechtskreis hatten wir im Jahr 2007 1,25 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen, im Jahr 2010 waren es 900 000, und im Jahr 2011 – davon bin ich überzeugt – werden wir knapp 800 000 erreichen. Das zeigt sehr deutlich: Auch wenn wir geringere Mittelansätze im Haushalt tätigen, steht trotzdem je Fall mehr Geld zur Verfügung. In dem Zusammenhang kann man hervorheben – es wurde bereits dargelegt –: Im Jahr 2007 wurden je Fall ungefähr 2 000 Euro aufgewandt; im laufenden Jahr werden es ungefähr 2 500 Euro je Fall sein. Wir werden unserer Verantwortung gegenüber den Arbeitslosen mitten in unserem Land gerecht und integrieren sie in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist zuvörderst unsere Aufgabe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deshalb ist es kleinlich, was die Opposition heute betrieben hat. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ja natürlich ist das alles kleinlich, was Sie dargelegt haben. – Sie haben selbst kein richtiges Konzept, außer nach immer mehr Geld und Finanzmitteln zu rufen, dann aber nicht bereit zu sein, den Arbeitslosen die Chancen, die der Arbeitsmarkt bietet, mit effizienter und effektiver Arbeitsvermittlung zu eröffnen. Das werden wir mit den neuen Instrumenten tun. Deshalb werbe ich für Zustimmung des ganzen Hauses. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Angelika Krüger-Leißner. (Beifall bei der SPD) Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ich bis jetzt in der Debatte gehört habe, könnte widersprüchlicher nicht sein. Es ist unglaublich. Wir alle reden zum gleichen Gesetz, auf Regierungsseite sehr euphorisch, mit viel Lob und vielen Versprechungen sowie viel Glauben daran, dass dieses Gesetz nun alles besser machen wird in der Arbeitsmarktpolitik. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Natürlich macht es alles besser!) Die massive Kritik von der anderen Seite des Hauses, Herr Kolb, die hören Sie gar nicht. Die ignorieren Sie genauso wie die Frau Ministerin, die die Oppositionskritik und die Kritik auch der Verbände, der BA, der Gewerkschaften und des Deutschen Landkreistags permanent ignoriert. Eigentlich wundert mich das aber nicht. Schon seit langer Zeit beobachte ich, dass Ihr Programm heißt: Große Ankündigung, Versprechungen, Schönreden, Sparen zulasten der Ärmsten und dann wider besseres Wissen Durchziehen mit der Kraft der Mehrheit der Stimmen dieses Hauses. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zahlen sprechen doch für uns, Frau Krüger-Leißner!) Ich möchte eines klarstellen: Keiner von uns entzieht sich der Verpflichtung, auch Reformen der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik zu machen. Nach den Evaluierungen erscheint es mir ohnehin notwendig, hier Verbesserungen zu erbringen. Auch die Veränderungen in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt erfordern das. Ich frage Sie allerdings: Was ist eine Reform wert, die sich nicht den dringendsten Fragen dieser Zeit stellt? Dazu gehören folgende Fragen: (Florian Bernschneider [FDP]: Was ist mit der Weiterbildung, Frau Kollegin?) Wie gelingt es, die Verfestigung in der Langzeitarbeitslosigkeit aufzubrechen? Wie begegnen wir dem zunehmenden Fachkräftemangel? Oder: Wie verhindern wir Dumpinglöhne im Niedriglohnbereich? Auf all diese Fragen sind in diesem Gesetzentwurf keine Antworten zu finden. Stattdessen höre ich von Ihnen, dass mit der Instrumentenreform alles viel einfacher, viel transparenter und viel effizienter werden soll. Es soll mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben. Sie reden sogar von neuen Perspektiven. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Botschaft ist angekommen!) Aber wo sind diese Perspektiven? In der Anhörung haben selbst die Sachverständigen diese neuen Perspektiven nicht gesehen. Bei allem Gerede über Chancen für die Arbeitsuchenden und insbesondere für die Langzeitarbeitslosen ist eines gewiss: Mit diesem Gesetzentwurf wird alles viel schwieriger. Das gilt sowohl für die öffentliche Beschäftigung als auch für die Qualifizierung, die berufliche Weiterbildung, Umschulungen und die Chance, den Existenzgründungszuschuss zu bekommen. Das betrifft nicht nur einzelne Gruppen, sondern alle, quer durch die Bank. (Beifall bei der SPD) All das ist schon schlimm genug. Das Fatale an diesem Gesetzentwurf ist aber die Verknüpfung mit dem Sparhaushalt, den wir in der letzten Sitzungswoche zum ersten Mal beraten haben. Die Spielräume für die Jobcenter und die BA werden enger und enger. Auch die Gestaltungsspielräume sind nicht mehr gegeben. Das gilt insbesondere für die individuelle Beratung, für eine längerfristige Förderung und für zielgenaueres Handeln. Da geht den Jobcentern die Luft aus. Sie haben den Schwerpunkt Ihrer Sparmaßnahmen genau im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik angesetzt. Allein die für das nächste Jahr geplanten Kürzungen in Höhe von 4 Milliarden Euro sind Beleg dafür, dass diese Reform, über die wir heute reden, nichts weiter als eine Makulatur ist. Auch die am Mittwoch vorgenommenen Änderungen ändern nichts an der Fehlausrichtung Ihres Gesetzentwurfs. Sie zeigen lediglich, dass das, was Sie eingebracht haben, ziemlich stümperhaft ist. Liebe Ministerin, ich bin überzeugt, dass Sie sehr bald zu der Erkenntnis kommen werden, dass die Kürzungen im Bereich der öffentlichen Beschäftigung der schwerwiegendste Fehler sind. Das wird Ihnen auf die Füße fallen. Denn gerade in diesem Bereich brauchen wir intensive Aktivitäten und viele neue Anreize, um dem künftigen Fachkräftebedarf gerecht zu werden. (Beifall bei der SPD) Diese dringenden Investitionen in die Zukunft fehlen. Stattdessen gibt es ganz kuriose Regelungen – anders kann man das nicht sagen, Herr Vogel –, mit denen Sie an erfolglosen Instrumenten festhalten. Aber es ist ja alles durchschaubar. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Danke, Herr Präsident. Auf der anderen Seite kürzen Sie die Mittel für Instrumente wie den Gründungszuschuss, für den es in diesem Land einen großen Bedarf gibt. Man kann nur sagen: ziemlich kopfloses Agieren, nicht weitsichtig und purer Lobbyismus. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Diese Reform steht unter keinem guten Stern. Danke. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Danke schön. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Heilige Vater hat gestern im Plenum dieses Bundestages von dem „hörenden Herz“ gesprochen. Ich finde, das ist eine sehr schöne Metapher. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das linke Herz hat keine Ohren!) Wenn ich mir das eine oder andere, was heute von der Opposition vorgetragen wird, anhöre, bekomme ich den Eindruck, Sie sind der Meinung, ein hörendes Herz bereits dann zu haben, wenn Sie spendierende Hosen anhaben. Das ist falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein hörendes Hirn wäre auch gut!) Dies ist in der Anhörung vor einigen Tagen sehr deutlich geworden. Dort hat die Kollegin Mast erklärt: Gerade dann, wenn die Arbeitslosigkeit abnimmt, müssen wir doch mehr Geld ausgeben. Demnach müssen wir mehr Geld ausgeben, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, aber auch, wenn sie steigt. Da kann ich doch nur fragen: Können Sie mir eigentlich irgendeinen Zeitraum nennen, in dem wir weniger Geld ausgeben können? Oder führt ihr Modell dazu, dass für die Betreuung des letzten Arbeitslosen 8 Milliarden Euro und 15 000 Eingliederungsbeamte zur Verfügung stehen? Was Sie hier vorschlagen, kann doch eigentlich nicht Ihr Ernst sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das erinnert mich ein wenig an die britische Kolonialverwaltung, die in der Zeit von 1935 bis 1957 ihr Personal verdreifacht hat, obwohl die Zahl der Kolonien stark abgenommen hat. Das muss eine sozialdemokratische Regierung gewesen sein. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt etwas zum Inhalt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich finde Loriot übrigens viel witziger als Sie!) Meine Damen und Herren, ich will, weil das nicht erwähnt worden ist, auf einige Höhepunkte der Instrumentenreform eingehen; ich glaube, das ist wichtig. Wir haben nicht nur die Instrumente gestrafft, sondern haben auch – das finde ich besonders wichtig – die Mittel für die freie Förderung deutlich erhöht: Wir haben den Anteil der Eingliederungsmittel, den die Bundesagentur für die freie Förderung nach § 16 e und f SGB II aufwenden darf, auf insgesamt 20 Prozent aufgestockt. Das gibt den Vermittlern vor Ort erheblich mehr Flexibilität. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dadurch wird die Decke nicht größer!) Wir haben das Aufstockungs- und Umgehungsverbot herausgenommen. Auch das trägt zu erheblich mehr Flexibilität bei. Wir haben bei den Arbeitsgelegenheiten – sie sollen wettbewerbsneutral ausgestaltet sein, zusätzlich geschaffen werden und im öffentlichen Interesse liegen – die Rolle der Beiräte gestärkt. Ich bin schon der Meinung, dass die Beiräte eine wichtige Funktion erfüllen können, wenn es darum geht, vor Ort zu entscheiden, welche Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden können. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir ja schon lange!) Wir haben die Senkung der Trägerpauschale auf maximal 150 Euro pro Teilnehmer vom Tisch bekommen. Die Maßnahmen werden, sofern sie wirtschaftlich effizient sind, nach wie vor gefördert; da gab es große Bedenken bei den Trägern. Last, but not least – auch das ist mir wichtig; Kollegin Lösekrug-Möller hat es erwähnt –: Das Jugendwohnen ist wieder ins Gesetz aufgenommen worden. Verehrte Frau Kollegin, es war der Arbeitsminister Scholz, der es herausgenommen hat; wir haben es jetzt wieder hineingenommen. Ich finde das gut. Zudem haben wir eine pädagogische Betreuung installiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde, darauf kann man einmal stolz sein. Wir können sagen, wir haben hier eine gute Reform hinbekommen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das leider nicht!) Bei der einen oder anderen Wortmeldung, die ich hier höre, hatte ich ein wenig den Eindruck, dass die Kritik, die geübt wurde, weit über das Ziel hinausschießt. Frau Kollegin Pothmer, das betrifft vor allen Dingen die Kürzung des Gründungszuschusses. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 83 Prozent!) Ich bin nicht der Meinung – es entspricht auch nicht der üblichen Diktion –, dass wir damit, wie Sie es formuliert haben, „die Drecksarbeit der Ablehnung nach unten verlagern“. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch, so ist es!  – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie mal mit den Beamten vor Ort! Sie empfinden das genau so!) Ich finde, das ist starker Tobak. Ich glaube, die Beamten und Mitarbeiter vor Ort machen das sehr verantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Pothmer, es ist aber nicht verantwortlich, die Mitnahmeeffekte beim Gründungszuschuss zu leugnen. Sie könnten sonst auch gleich das Geld unter das Brandenburger Tor legen und sagen: „Nehmt es doch mit!“ So geht es nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Letzter Punkt: die private Arbeitsvermittlung. Ich finde es schon richtig, dass wir mit der privaten Arbeitsvermittlung einen Wettbewerber der Bundesagentur für Arbeit aufgestellt haben. Ich glaube auch, dass der Wettbewerb der Bundesagentur und den privaten Arbeitsvermittlern guttut. Eine Kollegin hat es bereits gesagt – ich schließe mich dem nur an –: Vielleicht sind wir eines Tages, am Ende unserer parlamentarischen Laufbahn, froh, auf einen guten, fähigen privaten Arbeitsvermittler zu treffen, der uns in einer Notlage weiterhelfen kann. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für die Kollegen der FDP!) Abschließend sage ich: Es ist ein gutes Gesetz, das den Notwendigkeiten am Arbeitsmarkt Rechnung trägt. Ich empfehle Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 30 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7065, den Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksachen 17/6277  und 17/6853 – in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 30 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/7065 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6454 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit orientieren – Weichen für gute Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5526 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten und nachhaltig finanzieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6319 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung und Perspektiven investieren statt Chancen kürzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinderrechte in Deutschland umfassend stärken – Drucksache 17/6920 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht für die antragstellende SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die SPD hat einen Antrag „Kinderrechte in Deutschland umfassend stärken“ eingebracht. Worum geht es uns? In diesem Jahr feiern wir „22 Jahre UN-Kinderrechtskonvention“. Darin sind alle Rechte von Kindern – gemeint sind alle Kinder von 0 bis 18 Jahren – niedergelegt. Das ist übrigens das meistgezeichnete Dokument. Bis auf zwei Staaten, nämlich USA und Somalia, haben alle die Konvention gezeichnet und ratifiziert, auch wir. Wir haben als Staat bei der Zeichnung aber festgelegt, dass wir bei bestimmten Punkten Vorbehalte, Anmerkungen haben. Das Parlament fand das eigentlich überflüssig und hat immer wieder angemahnt, dies zurückzunehmen. Das Parlament und die Kinderkommission waren sich darüber einig, dass es auf internationaler Ebene nicht besonders gut aussieht, wenn Deutschland bei bestimmten Punkten Ausnahmen machen will. Diese Ausnahmen betrafen unter anderem Adoptionskinder, Kindersoldaten, aber auch Flüchtlingskinder. Im Grunde genommen waren alle Punkte geregelt, bis auf die Flüchtlingskinder. Das führte jedoch dazu, dass die Vorbehaltserklärung nach wie vor Bestand hatte. Letztes Jahr ist es gelungen – danke an die Koalition; das muss ich einfach sagen –, dass sie zurückgenommen wurde. International hat es uns geholfen, weil endlich gesehen wurde: Deutschland nimmt es zurück. Ein erster großer Schritt ist getan. Jetzt muss der zweite Schritt erfolgen. Wir müssen die deutsche Gesetzgebung, und zwar die einfache Gesetzgebung, daraufhin überprüfen, ob sie dem entspricht, was die Kinderrechtskonvention vorschreibt. In der Kinderrechtskonvention gibt es den wunderbaren Art. 3. Dieser schreibt den Staaten sehr dezidiert vor, dass sie bei all ihrem Handeln – Ämter, Gerichte, Parlamente – vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen haben. Das ist jetzt notwendig. Das heißt, wir haben die Vorbehalte jetzt zwar zurückgenommen, aber wir haben die einfache Gesetzgebung keineswegs angepasst. Wir haben die Flüchtlingskinder nicht aufgenommen; mein Kollege Strässer wird nachher noch etwas zu den Punkten sagen, die dringend überarbeitet gehören. Wir haben ebenfalls nicht deutlich gemacht, dass wir wollen, dass die Kinderrechte auch im Grundgesetz als Werteausdruck unserer Gesellschaft wiederzufinden sind, und zwar mit den Kindern als Rechtssubjekte, nicht nur als Objekte. Das alles haben wir noch nicht geschafft. Wir brauchen auch dringend ein klares Konzept für Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland. Der Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ ist ausgelaufen. Er müsste in allen Politikfeldern unter Beteiligung aller Kinder und Jugendlichen fortgeschrieben werden; das ist dringend notwendig. Dabei ist ebenfalls notwendig, dass wir festlegen, wie wir messen, was wir erreicht haben und ob wir etwas erreicht haben. Ein Monitoringverfahren muss also verankert werden. Auch das ist unser Ziel. Ich glaube, da gibt es bei uns Kinderpolitikern kaum Unterschiede. Wir Kinderpolitiker wollen das. Es ist dringend notwendig; denn bei allem muss das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen. Also: Kinderrechte ins Grundgesetz und Fortführung des Aktionsplans mit einem Monitoringverfahren für Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland. Ein wichtiger Punkt ist die Beteiligung von Kindern und die Wahrnehmung der Rechte von Kindern. Wir haben keine Anlaufstellen für Kinder, um Beschwerden loszuwerden. Darüber haben wir bei den Runden Tischen zum Kindesmissbrauch diskutiert. Dort wurde gefordert – das steht auch im Abschlussbericht –, sogenannte Anlaufstellen oder Ombudsstellen einzurichten, die im Interesse der Kinder handeln und die Stimme erheben. Diese Aufgabe müssen wir uns als nächstes vornehmen. Ich glaube, Deutschland muss sich mit dem, was wir in all den Jahren auf den Weg gebracht haben, nicht verstecken. Das möchte ich hier betonen. Aber wir dürfen nicht stehen bleiben und sagen, dass wir alles erreicht haben, sondern wir müssen fragen: Wie muss es weitergehen, damit unsere Kinder so aufwachsen, dass aus ihnen selbstverantwortliche, für die Gesellschaft verantwortliche Menschen werden, die die Demokratie stärken? Wenn wir das erreichen, haben wir nicht das Problem, das wir derzeitig feststellen, wenn es um politische Beteiligung geht, nämlich dass sich die Hälfte der Wahlberechtigten enthält. Das ist meiner Ansicht nach eine Katastrophe für die Demokratie. Das kann man ändern, indem man Kindern klarmacht, dass man sie ernst nimmt, indem man auf Augenhöhe, kindgerecht und altersgemäß mit ihnen arbeitet und indem man ihre Rechte gut nachlesbar verankert. Das ist die Aufgabe und die Herausforderung für die nächsten Jahre. Aus diesem Grund haben wir einen Antrag vorgelegt, von dem wir hoffen, dass er Ihre Zustimmung findet und unterstützt wird, damit wir mit dem, was begonnen wurde, fortschreiten können. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Peter Tauber. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über das Thema Kinderrechte sprechen, wenn wir darüber sprechen, wie wir Kinderrechte umfassend stärken wollen, so ist es ganz gut, wie es die Kollegin Rupprecht auch getan hat, die Probleme in den Blick zu nehmen. Es ist aber auch ganz gut, wenn wir uns einmal darüber verständigen, wie viel Gutes in den letzten Jahren eigentlich geschehen ist. Sie haben dankenswerterweise einen Punkt genannt, nämlich die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zu der UN-Kinderrechtskonvention. Ich glaube, dass das ein ganz starkes und wichtiges Signal war, dass wir als politische Entscheidungsträger die Rechte der Kinder ernst nehmen und dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wissen aber auch, dass der einzige Punkt, der noch offen ist, ein bisschen komplizierter ist. Hier geht es um Kinder, die im Rahmen eines Asylverfahrens nach Deutschland kommen. Es beginnt bei der Frage, wie die Identität der Kinder festgestellt werden kann, wenn sie ohne Papiere einreisen. Hier muss man auch fragen, warum sie keine Papiere haben. Es geht weiter mit der Frage, ob es eine Verpflichtung zur Ausstellung einer Geburtsurkunde geben soll. Auch das ist ja eine Forderung, die erhoben wird. Hier muss zunächst einmal gesagt werden, auf welcher Basis denn dann eine Geburtsurkunde ausgestellt werden soll. Das alles ist also ein bisschen schwieriger und komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Deswegen rate ich dazu, ein bisschen vorsichtiger zu sein und nicht frank und frei darüber zu sprechen. Ansonsten könnte nämlich der Eindruck entstehen, als ob hinter gewissem staatlichen Handeln böser Wille steht. Das, glaube ich, ist nicht so. Das kann man zurückweisen. Auch Ihre Partei selbst hat das in der Vergangenheit ja so gewertet, wenn ich das richtig sehe. Wir diskutieren dieses Thema nicht erst seit gestern. Es gab wechselnde politische Mehrheiten in der Frage, ob die Vorbehaltserklärung überhaupt zurückgenommen werden kann. Noch 2007 – da waren, wie ich glaube, Sozialdemokraten in der Bundesregierung vertreten – herrschte politische Einigkeit, die ausländerrechtliche Altersgrenze unangetastet zu lassen. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Insofern warne ich ein wenig vor zu starker Schwarzmalerei. Dadurch entstünde ein völlig falsches Bild. Natürlich liegen uns die Rechte der Kinder, die zu uns kommen, am Herzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir jetzt darüber reden, was wir tun können, um die Rechte von Kindern umzusetzen und zu gewährleisten, dann gehört es auch zur Wahrheit, festzustellen, dass es nicht allein in unserer Hand liegt. Darüber entscheiden nicht wir als Deutscher Bundestag allein, sondern es geht hier um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der eben auch andere Ebenen beteiligt sind. Religionsunterricht zum Beispiel auch für muslimische Kinder – diese Forderung haben Sie ja aufgegriffen – ist eine Aufgabe, der sich die Länder stellen müssen. Das Gleiche gilt für die Vermittlung von Medienkompetenz. Auch hier sind die Länder und ihre Bildungsplanungen gefragt. Ein weiteres Thema, das immer wieder genannt wird, sind die Beteiligungsrechte. Hier haben wir einiges auf den Weg gebracht. Hauptgeldgeber bei der Schaffung eines Individualbeschwerdeverfahrens ist die Bundesrepublik, wenn es darum geht, beim zuständigen Ausschuss für die Rechte des Kindes Beschwerdemöglichkeiten für Kinder einzurichten. So schwarz-weiß und so negativ, wie Sie es andeuten, ist die Welt Gott sei Dank auch in diesem Punkt nicht. Dieser Aspekt ist mir und meiner Fraktion sehr wichtig; denn wir müssen ein wenig aufpassen, mit welchem Duktus wir über Kinder und Jugendliche und ihre Perspektiven in diesem Land reden. Ich halte es schon für richtig, den Finger in die Wunde zu legen und Probleme auch zu benennen, statt sie schönzureden, aber in Ihrem Antrag und zum Teil auch in Ihren Ausführungen suggerieren Sie, dass die Rahmenbedingungen für Kinder und Familien in diesem Land schlecht seien. Ein weiteres Problem ist, dass wir uns allzu oft in den Debatten gegenseitig das Recht absprechen, diese Interessen wirklich in den Blick zu nehmen. Das ist nicht so. Wir können über die sachliche Angemessenheit eines Betreuungsgeldes streiten, aber dem anderen zu unterstellen, er sei bei diesen Überlegungen nicht von dem Bemühen geleitet, die Rechte von Kindern und Familien in den Blick zu nehmen, geht nicht. Wenn wir das nicht ändern, dann tun wir Kindern, Jugendlichen und vor allem auch Familien in dieser Gesellschaft keinen Gefallen. Deswegen mahne ich auch bei diesem Punkt ein bisschen mehr Sachlichkeit in der Debatte an. (Beifall bei der CDU/CSU) Welcher Eindruck entsteht nämlich? Bei jungen Paaren, die vor der Frage stehen, ob sie sich für Kinder entscheiden, entsteht der Eindruck, dass sie von der Politik, aber auch von der Gesellschaft selbst alleingelassen werden. Ich glaube, dieser Eindruck ist falsch. Wir können das so definitiv nicht stehenlassen. Denn die Politik hat in den letzten Jahren an unheimlich vielen Stellen die Rahmenbedingungen für Familien und damit für Kinder deutlich verbessert. (Beifall bei der CDU/CSU) Das beginnt beim Ausbau der Betreuungsangebote. Sie wissen, dass der Bund die Kommunen und die Länder hierbei mit einem unglaublich umfangreichen Programm, dem Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz, unterstützt, sowohl bei den investiven Maßnahmen im Gebäudebereich als auch bei den laufenden Betriebskosten. Wir werden dafür ab 2014 weiterhin 770 Millionen Euro jährlich zur Verfügung stellen. Es geht weiter mit der Unterstützung und dem stärkeren Einsatz von Familienhebammen; auch dies ist ein ganz wichtiges Instrument, das wir den Familien an die Hand geben wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Ein weiterer Aspekt ist das Bundeskinderschutzgesetz, das wir auf den Weg bringen. Zudem bleiben trotz der Sparbemühungen im Hinblick auf den Bundeshaushalt die Mittel des KJP weitgehend ungekürzt. (Caren Marks [SPD]: Na, na, na!) Lediglich im Bereich der Bürokratie sparen wir ein. Die Leistungen für die Verbände und damit für die Kinder und Jugendlichen bleiben gleich; auch dies ist ein ganz wichtiges und starkes Signal. (Beifall des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/ CSU] – Diana Golze [DIE LINKE]: Allein im Kinder- und Jugendplan 2 Millionen weniger! Das ist doch nicht nichts!) Hinzu kommt die Offensive „Frühe Chancen“ zur Sprach- und Integrationsförderung. In diesem Rahmen stellen wir für 4 000 Schwerpunktkitas Sprache & Integration 400 Millionen Euro bereit. (Caren Marks [SPD]: Wir reden aber nicht über den Haushalt, sondern über Kinderrechte!) Auch durch die Erhöhung des Kindergeldes werden die Familien gestärkt. (Diana Golze [DIE LINKE]: Das kommt bei den Armen aber nicht an!) Damit stärken wir auch das Recht der Kinder, in einer Familie groß zu werden. An dieser Stelle sei darüber hinaus die Initiative „Jugend stärken“ erwähnt. Da ich eben vonseiten der Sozialdemokraten den Zwischenruf gehört habe, (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Du musst aber gut hören können!) ich würde nicht zum Thema reden, sage ich Ihnen: Ich rede sehr wohl zum Thema. Denn all diese Maßnahmen tragen am Ende dazu bei, dass Kinder in diesem Land so groß werden können, wie wir alle es uns wünschen; man könnte auch sagen: glücklich und behütet. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht das Thema!) Die Maßnahmen, die ich erwähnt habe, helfen dabei. Deswegen gehören sie in diese Rede. Ich könnte ferner das Bildungspaket, das Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglichen soll, erwähnen. (Iris Gleicke [SPD]: Theorie und Praxis!) Zum Beispiel wollen wir Kindern den Zugang zur digitalen Welt ermöglichen. Die Projektgruppe Medienkompetenz der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ unter Leitung von Thomas Jarzombek hat einen wunderbaren Vorschlag gemacht, um allen Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, digitale Kompetenzen zu vermitteln: Jedem Schüler soll künftig ein Laptop zur Verfügung gestellt werden. Wir versuchen, die Menschen, die mit jungen Leuten zu tun haben, fit zu machen, zu qualifizieren und auszubilden. Hierbei spielen die Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte und die Medienqualifizierung für Erzieherinnen und Erzieher im Netzwerk Frühkindliche Bildung mit dem wunderbaren Namen BIBER eine wichtige Rolle. Ein weiteres Element ist das Elterngeld, das ermöglicht, dass Familie in diesem Land ganz anders gelebt werden kann und Väter ihrer Verantwortung stärker gerecht werden können; auch darauf haben Kinder nämlich ein Recht. Außerdem sind wir der Auffassung, dass Kinderlärm keine Belästigung, sondern Zukunftsmusik ist. Auch dies muss man deutlich sagen. Das gehört dazu, wenn wir über Kinderrechte in dieser Gesellschaft reden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe eine Menge politischer Maßnahmen aufgelistet. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber jetzt mal zum Thema!) Ich persönlich bin der festen Überzeugung: Wenn wir über Kinderrechte reden, dann geht es in allererster Linie darum, dass Kinder ein Anrecht auf Liebe und Fürsorge oder, wie es der Heilige Vater gestern gesagt hat, auf ein hörendes Herz haben. Das kann die Politik nicht verordnen. Das können nur die Eltern ihren Kindern geben. (Beifall der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/ CSU] – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Politik muss Rahmenbedingungen setzen!) Zum Schluss ist mir wichtig, Folgendes festzustellen: In diesem Land haben Kinder trotz vieler Probleme alle Chancen. Es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde, in denen Kinder unter solch guten Rahmenbedingungen heranwachsen können und in denen sie solch gute Perspektiven haben. Wenn wir dies den jungen Menschen nicht zurufen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich zu wenige von ihnen für ein eigenes Kind entscheiden. Aus meiner Sicht haben Kinder vor allem ein Recht: das Recht auf liebende und fürsorgliche Eltern. Weit über 80 Prozent der Eltern in diesem Land machen einen guten Job. (Iris Gleicke [SPD]: Einen „Job“?) In einer Diskussion über Kinderrechte muss man zunächst einmal ihnen herzlich Dank sagen. Sie machen das besser als wir, wenn wir nur reden und Regelungen ins Grundgesetz schreiben. Das hilft den Kindern selten. Die Kinder brauchen Eltern, die sich um sie kümmern. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir müssen die Rahmenbedingungen dafür setzen!) Viele von ihnen machen das ganz toll. Ihnen gilt es Danke zu sagen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Das sagen nicht nur viele Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, das sagt auch das Bundesverfassungsgericht. Ich bin der Meinung, dass diese Auffassung endlich auch eine Mehrheit hier im Haus bekommen sollte, mit der Folge, dass Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein achtjähriger Junge hat mir gegenüber bei einem Workshop einmal den Satz geprägt: Kinderrechte sind das, was Kinder brauchen, damit es ihnen gut geht. – Ich finde, treffender kann man es gar nicht formulieren. Doch was so einfach klingt, scheint schwer in die Realität überführbar zu sein; denn sonst würden wir uns heute nicht zum ich weiß nicht wievielten Mal im Parlament mit diesem Thema befassen. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich der Blick auf die Kinder in unserer Gesellschaft verändert hat. Bei diesem veränderten Blick auf die Kinder merken wir natürlich auch, welche Aufgaben alle noch vor uns liegen. 1992 – Marlene Rupprecht hat es gesagt – wurde die UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesrepublik ratifiziert. Das ist ziemlich lange her. Doch Deutschland ist heute nach wie vor weit davon entfernt, ein wirklich kinderfreundliches Land zu sein. Schauen wir uns die Probleme einmal an: wachsende Kinderarmut, Bildungsungerechtigkeit, fehlende Beteiligungsrechte für Kinder und die nach wie vor bestehende massive Verletzung der Rechte von Flüchtlingskindern. Ja, die Bundesrepublik hat nach langer Debatte endlich den letzten Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen, der die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge betraf. Aber in der Praxis hat sich nichts geändert. Die Aussage von 1992, dass sich die Bundesrepublik vorbehalte, Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen, war weder 1992 tragbar, noch ist sie es heute. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die betroffenen Kinder sind vor Krieg, Gewalt, drohender Zwangsrekrutierung, drohender Zwangsverheiratung, Verfolgung und Beschneidung geflüchtet. Sie kommen zum Teil nach einer dramatischen Flucht in Deutschland an, erhalten aber nach wie vor nicht das, was wir deutschen Kindern ohne Vorbehalte zubilligen, indem wir ihnen Rechte und einen Rechtsbeistand an die Seite stellen. Es fängt doch schon damit an, dass Kinder ab 16 Jahren auch nach der Rücknahme des Vorbehaltes ein Asylverfahren ohne Beistand durchstehen müssen, dass sie in vollgestopften Sammelunterkünften untergebracht werden, dass sie nur die notdürftigste Gesundheitsversorgung haben und dass sie in Abschiebehaft genommen werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand! (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder – und nach der UN-Kinderrechtskonvention sind es Kinder, Herr Dr. Tauber, auch wenn sie 16 oder 17 Jahre alt sind; die UN-Kinderrechtskonvention gilt für alle Kinder unter 18 Jahren – auch als solche behandelt werden, und zwar menschenwürdig und ihrer Situation entsprechend. Wir wollen keine reine Symbolpolitik anstelle von tatsächlicher Umsetzung. Wir wollen, dass das deutsche Asylrecht, das Aufenthaltsrecht, das Asylverfahrensrecht und das Sozialrecht endlich angepasst werden und dass die Rücknahme des Vorbehaltes endlich in die Gesetzgebung einbezogen wird. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir bleiben dabei: Kinderrechte müssen für alle Kinder gelten. Aber das bezieht sich auch auf andere Bereiche in unserer Gesellschaft. Ich habe das Thema gerade schon einmal kurz angesprochen, nämlich Kinderarmut. 2,6 Millionen Kinder in Deutschland leben auf Armutsniveau. Die Regelsätze der Grundsicherung für Kinder sind nicht an den Bedarfen von Kindern orientiert. Sie reichen nicht für gesunde Ernährung, Beiträge für Sportvereine oder Musikunterricht, ganz zu schweigen von Kino- oder Theaterbesuch. Das wollte die Bundesregierung durch das großangekündigte sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket regeln. Aber wie jeder weiß: In der Praxis ist es ein Flop. Es ist bürokratisch und lebensfern. Die Nachweispflicht und die ständige gesonderte Beantragung drangsalieren die betroffenen Eltern. Zudem grenzt es Kinder nach wie vor vom freien und vor allem gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesellschaft aus. Das ist genau das Gegenteil von dem, was die UN-Kinderrechtskonvention einfordert. Seit Jahren wird die Bundesrepublik vom UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder kritisiert, weil hier, wie in kaum einem anderen Industrieland, der soziale Status der Elternhäuser über Schullaufbahn und Bildungserfolg entscheidet. Die Bundesrepublik sagt zwar in ihrem letzten Staatenbericht, Kinder und Jugendliche haben ihre eigenen Rechte, aber davon ist in der praktischen Umsetzung und in der praktischen Politik nichts zu sehen. Ich wiederhole es daher: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Um Kindern einklagbare Rechte zu verleihen, ist es überfällig, den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention zu folgen und Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung im Grundgesetz zu verankern. Im April nächsten Jahres jährt sich die Ratifizierung durch Deutschland zum 20. Mal. Ich fände das einen guten Anlass dafür, dass Deutschland hier einen deutlichen Schritt vorwärtsgeht. Die Kinder warten darauf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Miriam Gruß. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Miriam Gruß (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gebe es zu: Der Antrag der SPD klingt sympathisch. Er beinhaltet aber nur wenig Neues. Deswegen möchte ich anhand von drei Punkten aufzeigen, wie wir die Kinderrechte in Deutschland konkret gestärkt haben und weiterhin stärken: Erstens: die UN-Kinderrechtskonvention; sie ist jetzt schon mehrfach angesprochen worden. Sie wurde im Jahre 1992 mit einer Vorbehaltserklärung ratifiziert. Es war diese Bundesregierung, die die Vorbehalte 2010 zurückgenommen hat. Insofern freut mich die Anerkennung von dir, Marlene, in diesem Punkt. (Beifall bei der FDP) Ich finde wirklich, ein besseres Zeichen der Kinderfreundlichkeit konnten wir in dieser Regierung fast nicht setzen. Das hat vorher nämlich keine Regierung hinbekommen. Es war stets die Auffassung aller Bundesregierungen, dass die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, insbesondere der Schutz der Flüchtlingskinder nach Art. 22, in Deutschland ohne Einschränkung umgesetzt werden sollten. Mit der Rücknahme der Erklärung entsteht deshalb auch keine Notwendigkeit, das innerstaatliche Recht zu verändern. Die Forderung nach einer Änderung des Asylrechts läuft also ins Leere. (Caren Marks [SPD]: Nein! Sie haben es nicht verstanden!) Im Übrigen haben wir in Bayern in vorbildlicher Weise einiges zugunsten der Familien verändert, die hier in schlimmen Unterkünften hausen mussten. Die Vertragsstaaten der UN-Kinderrechtskonvention haben sich außerdem verpflichtet, dem Generalsekretär der UN Berichte über entsprechende Maßnahmen und die dabei erzielten Fortschritte vorzulegen. Wenn die SPD jetzt einen EU-Staatenbericht fordert, dann ist das also kein Mehrwert, sondern etwas, was von den Vertragsstaaten bereits geliefert wird. Eines ist aber ganz entscheidend: Mit der Rücknahme haben wir gezeigt, dass das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer Politik steht. Zweitens: das Individualbeschwerdeverfahren. Rechte ohne Durchsetzungsverfahren sind nichts wert. Deshalb freut es mich, dass auf unsere Initiative hin erreicht wurde, dass der UN-Menschenrechtsrat im Juni 2011 dem Entwurf des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention zur Errichtung eines Individualbeschwerdeverfahrens zugestimmt hat. Damit bekommen die Kinder ganz individuell ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie sich gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren können. Mit dem Individualbeschwerdeverfahren können Kinder und Jugendliche ihre Rechte im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in Genf rügen, und das – darauf wurde Wert gelegt – im kindgerechten Verfahren. Es war unsere Regierung, die diesen Antrag gemeinsam mit neun anderen Staaten beim Menschenrechtsrat eingebracht hat. Drittens: Debatte zum Thema „Kinderrechte ins Grundgesetz“. Ich mache kein Hehl daraus und stehe nach wie vor dazu: Als Mitglied der Kinderkommission – ich gehöre ihr nach wie vor an, wenn auch nur als stellvertretendes Mitglied – bin ich dafür, dass Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU]) Leider hat sich in unserer Koalition keine Mehrheit dafür finden können, aber ich mache mich persönlich nach wie vor dafür stark. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht einmal in der eigenen Fraktion Zustimmung! Da hat niemand geklatscht! – Gegenruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Nur einer aus der CDU/CSU – aus Versehen!) Die Kinderrechte müssen in Deutschland umfassend gestärkt und weiter bekannt gemacht werden. Es gibt aber auch die Möglichkeit – darauf haben wir uns verständigt, und das hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden –, unterhalb der Ebene des Grundgesetzes Kinderrechte zu stärken, und das tun wir. Das beste Beispiel dafür ist der Kinderlärm; das ist schon angesprochen worden. Wir haben erreicht, dass Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage ist. Tatsächlich gilt der alte Spruch der Kinderkommission: Für uns ist Kinderlärm jetzt endlich Zukunftsmusik. – Kinderlärm darf nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden. Kinder haben ein Recht auf kindertypischen Lärm, und das ist gut so. Das ist das beste Beispiel dafür, dass wir auch unterhalb der Ebene des Grundgesetzes eine Menge für die Rechte von Kindern tun konnten und getan haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Grünen hat jetzt die Kollegin Katja Dörner das Wort. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man der Rede von Herrn Tauber lauscht, könnte man glatt meinen, man sei bei Alice im Wunderland. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Bei euch glaubt man, man sei bei Alice Cooper!) Das ist aber nicht der Fall. Ich werde in meiner Rede darlegen, dass die Wirklichkeit dieser Bundesregierung durchaus etwas anders aussieht. Fakt ist nämlich: Die Stärkung der Kinderrechte steht nicht weit vorne auf der Agenda, wenn sie bei dieser Bundesregierung überhaupt vorkommt. Die Ministerin hat ganz lapidar verkündet: Die UN-Konvention ist in Deutschland voll umgesetzt. Es gibt überhaupt keinen Handlungsbedarf. – Der Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ ist ausgelaufen. Er wurde sang- und klanglos beerdigt. Es soll keinen Nachfolgeplan geben. Ein Lichtschimmer an Aktivität – das haben wir heute schon gehört –, die Rücknahme der Vorbehaltserklärung, verlischt letztlich ohne Wirkung, weil die Rücknahme ausdrücklich keine konkreten Folgen haben soll. Ich finde, das ist eine Farce. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Bundesregierung dreht im Zusammenhang mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung und den Folgen für die minderjährigen Flüchtlinge ganz seltsame Pirouetten. Das kann man in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage zur Situation und zur Stärkung der Kinderrechte sehr schön nachlesen. Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir haben gefragt, ob alle 16- und 17-jährigen Jugendlichen nach Auffassung der Bundesregierung Kinder im Sinne der Konvention seien. Die Antwort – Zitat –: Ja, weil Artikel 1 der VN-Kinderrechtskonvention das so bestimmt. Wir haben weiter gefragt, ob alle 16- und 17-jährigen Jugendlichen die gleichen Rechte haben. Antwort: Ja, … soweit nicht die gesetzlichen Regelungen zwischen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen differenzieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt vorne und hinten nicht zusammen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Entweder haben alle unter 18-Jährigen die Rechte, wie sie in der Kinderrechtskonvention dargelegt sind, oder wir unterscheiden nach Staatsangehörigkeit. Letzteres ist aber der Kinderrechtskonvention zufolge überhaupt nicht zulässig. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention längst selbst dazu verpflichtet, minderjährige Flüchtlinge eben nicht wie Erwachsene zu behandeln. Wir Grünen fordern ganz klar, endlich die notwendigen Änderungen im Asyl-, im Aufenthalts- und im Sozialrecht vorzunehmen. Die unselige Geschichte dieser Vorbehaltserklärung sollte und muss endlich voll und ganz ein Ende haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir hören und lesen sehr oft den Satz: Kinder sind unsere Zukunft. Das stimmt. Kinder sind aber bei weitem nicht nur unsere Zukunft, sondern Kinder sind heute und jetzt. Kinder haben heute und jetzt eigene Rechte, und zwar aus sich selbst heraus. „Kinder haben was zu sagen“ – das ist auch das Motto des diesjährigen Weltkindertages. Wir müssen uns alle selber fragen, wo wir Kinder zu Wort kommen lassen. Wo und wie beziehen wir selbst die Perspektive von Kindern in unser eigenes Arbeiten, in die Gesetzgebung mit ein? Die Kinderkommission, der ich selber angehört habe, leistet hier einen ganz wichtigen Beitrag als – im besten Sinne – Lobby für Kinder im Bundestag. Aber auch die Bundesregierung ist gefragt – vor allem nach den großen Ankündigungen, die zu diesem Thema im Koalitionsvertrag zu lesen sind, die aber bisher keine besonderen Auswirkungen hatten –, echte Beteiligungs- und Partizipationsverfahren zu schaffen und auch anzuwenden. Ähnlich verquer wie bei der Vorbehaltserklärung argumentieren Bundesregierung, CDU/CSU und FDP bei der Frage der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Die Argumentation läuft nach dem Motto: Das brauchen wir nicht, das hätte sowieso keine Folgen. – Ich frage mich: Warum gibt es diesen Widerstand gegen eine Maßnahme, die nach eigener Angabe sowieso keine Folgen hätte? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Antwort ist ganz simpel: weil Sie es selber besser wissen. In der UN-Kinderrechtskonvention ist eine klare Anforderung formuliert. Ich möchte Art. 3 dieser Konvention zitieren: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen … ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Diesem Vorrangprinzip kann unserer Meinung nach durch nichts mehr Durchschlagskraft verschafft werden als durch die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Deshalb ist diese Aufnahme überfällig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich mache der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen einen Vorschlag: Sie machen das einfach so wie bei der Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Wir erarbeiten zusammen einen Gesetzentwurf zur Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Die Opposition unterstützt das alles und verschafft die für die Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit. Die rechte Seite des Hauses sagt einfach weiterhin: Das hat keine Folgen. Die linke Seite des Hauses macht dann etwas daraus. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr kreativ!) Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Norbert Geis das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Geis (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe gleich auf die Forderung ein, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Man kann zwar darüber diskutieren, aber denken Sie daran, dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten und deshalb auch für die Kinder; denn Kinder sind ebenfalls Menschen. Wer bezweifelt, dass die Menschenrechte für alle Menschen Geltung haben, der bezweifelt ihre Reichweite. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifeln wahrscheinlich nicht einmal Sie, Herr Geis!) Dies ergibt sich letztlich auch aus der Konvention der Vereinten Nationen vom 20. November 1989, die die Rechte der Kinder hervorhebt. Darin wird betont, dass das Kind von Anfang an eine Person ist und eine eigene Würde hat, wie jeder andere Mensch auch. Deshalb ist es nach meiner bescheidenen Auffassung und auch nach Auffassung vieler anderer nicht notwendig, diese Rechte eigens in das Grundgesetz aufzunehmen. Das würde unter Umständen sogar, statt einen Akzent zugunsten der Kinder zu setzen, zum Nachteil der Kinder wirken, wenn nicht alles so im Grundgesetz niedergelegt wird, wie wir uns das vorstellen, was die Frage angeht, welche Rechte Kinder haben. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Nachteile denn?) Deswegen warne ich davor, solche Rechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Sie sind schon im Grundgesetz enthalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nennen Sie doch mal die Nachteile!) Der Vorrang des Wohles des Kindes ist – das liegt in der Natur der Sache – schon im Grundgesetz niedergelegt. (Diana Golze [DIE LINKE]: An welcher Stelle, bitte?) Die UN-Konvention vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes ist deshalb entstanden, weil man festgestellt hat, dass die Kinder weltweit am ehesten und als Erste darunter zu leiden haben, wenn es zu Hungersnöten, Epidemien und Konflikten kommt. Es gibt aber auch andere interessante Aspekte in der Konvention, mit denen man sich ebenfalls beschäftigen muss. Das Übereinkommen stellt nämlich klar, dass, wie Sie vorhin schon richtig gesagt haben, Kinder keine Erwachsenen im Kleinformat sind, sondern das Recht auf Erziehung haben. Dazu gehören eine liebende Umgebung und das Recht, angenommen zu werden. Dass sie das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern haben, steht in der Konvention. Das hat weitreichende Folgen, die ich gleich noch darlegen werde. Ich weiß jetzt schon, dass Sie nicht mit allem einverstanden sein werden. (Diana Golze [DIE LINKE]: Wenn wir dann auch über Bildung und Teilhabe reden, können Sie das gerne machen!) Sie haben das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat doch niemand etwas dagegen!) Das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern ist im Übrigen auch durch ein interessantes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 2008 herausgestellt worden. Darin wird festgestellt, dass die Eltern nach Art. 6 Grundgesetz die Pflicht haben, Kinder zu erziehen, dass aber daraus auch folgt – das kommt in Art. 6 Grundgesetz nicht direkt zum Ausdruck –, dass die Kinder ein Recht darauf haben, dass die Eltern sie erziehen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das heißt die Mütter und die Väter! – Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist auch die einzige Stelle, wo Kinder vorkommen!) – Ich habe Sie nicht verstanden. Sie müssen eine Zwischenfrage stellen; sonst kann ich nicht darauf eingehen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen Ihre Redezeit nicht unnötig verlängern!) – Wenn Sie das nicht wollen. Sie werden es mir sicherlich nicht übelnehmen, wenn ich meine Redezeit ausnutze. (Caren Marks [SPD]: Wir sind schmerzfrei! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Tauber [CDU/ CSU]: Den Eindruck habe ich nicht immer!) – Dann ist es ja gut. Aber die Schmerzen, die Sie bereiten, sind manchmal kaum noch zu ertragen. (Caren Marks [SPD]: Dann habe ich ja alles richtig gemacht! – Monika Lazar [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür sehen Sie noch gut aus!) Am besten geht man dann hinaus. Aber wir wollen jetzt nicht über Schmerzfreiheit reden, sondern über Kinderrechte. Wenn es richtig ist, dass die Kinder ein Recht darauf haben, von ihren Eltern erzogen zu werden, wie es im Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2008 und in der Konvention aus dem Jahr 1989 festgestellt wird, dann ist es auch richtig, dass die Familien stärker in den Fokus gelangen. Wir müssen die Familien stärker ins Blickfeld nehmen. Kinder können nämlich nur dann richtig erzogen werden, wenn ihre Familien funktionieren. (Zuruf der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Bei manchen Äußerungen hat man das Gefühl – ganz und gar nicht bei Ihren, Frau Rupprecht –, dass die Eltern geradezu gefährlich sind für die Erziehung der Kinder, dass man alles dem Staat überlassen muss (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch Bildungseinrichtungen sind nicht gefährlich für Kinder!) und dass man die Kinder – ich weiß, dass Sie jetzt widersprechen – möglichst schnell in die Kita geben muss, damit sie dort ordentlich erzogen werden. Das ist falsch. (Zuruf der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) – Ich weiß, dass das Ihren ideologischen Vorstellungen durchaus nicht entspricht. – (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben aber keine ideologischen Vorstellungen!) Alle Gutachten bestätigen dies. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!) – Sie kennen sie nicht, und Sie lesen sie nicht, weil Sie bereits eine ideologische Schranke haben. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie nicht! – Caren Marks [SPD]: Sie sind von Schranken umzingelt!) Das ist ja das Problem. Man kann sich mit Ihnen überhaupt nicht darüber unterhalten. Sie regen sich bei diesem Thema sofort auf und gehen hoch wie ein HBMännchen. Man kann mit Ihnen überhaupt nicht ordentlich diskutieren. Sie degradieren dieses Parlament geradezu zum Kindergarten. Das ist wirklich wahr. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der Papst hätte Ihnen gestern widersprochen!) – Der Papst hätte mir nicht widersprochen. Lassen Sie mich wenigstens noch ein paar Gedanken dazu äußern. Vielleicht haben Sie die Geduld, das wirklich einmal anzuhören. Ich wiederhole: Wenn es richtig ist, dass die Kinder einen Anspruch darauf haben, von ihren Eltern erzogen zu werden – das haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die UN-Kinderrechtskonvention festgestellt –, dann müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen. Wir müssen akzeptieren, dass die Erziehung durch die Eltern die Regel ist. Wir müssen dort eingreifen, wo Ausfälle sind. Es gibt Ausfälle in der Bundesrepublik Deutschland, etwa bei 5 Prozent der Kinder. Wir müssen stärker auf unterer Ebene, durch die Jugendämter, dafür Sorge tragen – ich weiß nicht, ob man das ganz und gar gesetzlich regeln kann; wahrscheinlich ist das nicht möglich –, dass die Elternkompetenz gestärkt wird – das ist der nächste und wichtigste Schritt –, damit die Kinder in den ersten beiden Lebensjahren bei ihren Eltern bleiben können. Es gibt genug Gutachten darüber, dass die Kinder in den ersten zwei Jahren die Nähe der Mutter und die Nähe des Vaters mehr als sonst in ihrem Leben brauchen. Diese Nähe ist so wichtig wie die tägliche Nahrung. Sie sagten, wir hätten zu wenig zustande gebracht. Man kann natürlich immer kritisieren. Denken Sie einmal daran, dass wir 1998 das neue Kindschaftsrecht geschaffen haben. Durch die Neuregelung wurde das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ganz entscheidend geändert. Das wird allerseits anerkannt. Für die damalige Neuregelung war Edzard Schmidt-Jortzig verantwortlich. Er hat sich dadurch sicherlich große Verdienste erworben. Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Wir haben uns natürlich auch um die gewaltfreie Erziehung der Kinder zu bemühen. Auf Initiative der damaligen Justizministerin Däubler-Gmelin hat das Parlament im Jahre 2000 im BGB verankert, dass Kinder gewaltfrei zu erziehen sind. Auch daran wird deutlich, dass man im Hinblick auf die Rechte des Kindes vieles bedacht hat. Unser größtes Problem im Augenblick ist der sexuelle Missbrauch. Hierzu gab es einen Runden Tisch. Dieser Runde Tisch hat, wie ich meine, wirklich gute Vorschläge gemacht, die auch aufgenommen worden sind und im Kinderschutzgesetz niedergelegt werden sollen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Am nächsten Montag findet dazu eine Anhörung statt. Deswegen will ich mich gar nicht über all das ausbreiten, was vorgesehen ist. Ich meine, dass wir mit einer Novellierung des Kinderschutzgesetzes vor allen Dingen in dem Versuch einen Schritt weiterkommen, die Kinder vor dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs zu schützen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gut, sich darüber zu streiten. Ich hoffe, dass wir trotz des Streits zu einem gemeinsamen Weg finden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph Strässer das Wort. (Beifall bei der SPD) Christoph Strässer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Geis, ich glaube, Ihr Exkurs in das Verfassungsrecht, was den Art. 6 des Grundgesetzes angeht, beruht auf einem Verständnis des Gewollten, das fundamental anders ist als das, was Sie in diese Bestimmung hineinzuinterpretieren versuchen. Niemand hier braucht eine Belehrung darüber, dass Kinder Persönlichkeiten sind, Persönlichkeitsrechte haben und den Schutz des Grundgesetzes genießen – schon jetzt. Darüber kann und darf es keinen Streit geben. Aber das, was mit der geplanten Änderung des Art. 6 des Grundgesetzes geplant und gewollt ist, bezieht exakt das ein, was im Prinzip alle Rednerinnen und Redner vorgetragen haben, nämlich dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen, dass Kinder in bestimmten Situationen eben nicht mit eigener Stimme sprechen können und dass sie deshalb mehr als alle anderen auf staatlichen Schutz angewiesen sind. Kinder bedürfen daher nach meiner Überzeugung des Schutzes des Art. 6 GG. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Da das alles sehr theoretisch klingt, möchte ich auf die Praxis zu sprechen kommen. (Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Ich bin mir nicht sicher, ob das verfahrensmäßig geht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Natürlich geht das. Wenn Sie es zulassen, kann der Kollege Geis Ihnen eine Zwischenfrage stellen. – Bitte schön. Norbert Geis (CDU/CSU): Ich will nur darauf hinweisen – ich denke, dass Sie mit mir darin übereinstimmen –, dass ich versucht habe, genau den Inhalt des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 2008 wiederzugeben. Danach haben die Eltern die Verpflichtung, ihre Kinder zu erziehen. Aber darauf begründet sich auch das Recht der Kinder auf Erziehung gegenüber den Eltern. Insofern meine ich, dass das, was Sie wollen, durch das Bundesverfassungsgericht ordentlich ausgelegt worden ist. Es gibt einen Brief des ehemaligen Bundespräsidenten und Verfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog an die Bundeskanzlerin, in dem er klar darlegt, dass aufgrund dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nicht erforderlich ist. Christoph Strässer (SPD): Ich will die hektische Debatte nicht fortführen, sondern nur das darlegen, was weder Sie noch offenbar Herr Herzog richtig wahrgenommen haben. Es geht nicht um das Recht eines jeden Kindes auf Erziehung, sondern darum, dass Kinder aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit eines besonderen Schutzes bedürfen und dass dieser im Rahmen einer gesamtstaatlichen Regelung am besten gewährleistet ist, wenn man ihre Rechte in das Grundgesetz aufnimmt. Ich füge als jemand, der der Meinung ist, dass man mit der Aufnahme von Rechten in das Grundgesetz sehr restriktiv umgehen sollte, hinzu: Was ist nicht alles in den letzten Jahren geregelt worden! So ist der Tierschutz in Art. 20 a im Grundgesetz verankert worden. Zudem ist geplant, Sport, Kultur – und was weiß ich noch alles – als Staatsziele aufzunehmen. Angesichts dessen kann man meiner Meinung nach nicht ernsthaft darüber streiten, ob Kinderrechte den gleichen Verfassungsrang haben sollen wie die Staatsziele Sport und Kultur. Dann muss man erst recht die Kinderrechte aufnehmen. Vielleicht sollte man danach aufhören, das Grundgesetz weiter auszudehnen. Aber die Kinder brauchen einen im Grundgesetz verankerten Schutz. Dabei bleibe ich. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben schon sehr oft auf die Kinderrechtskonvention verwiesen. Art. 3 der Kinderrechtskonvention hat aus meiner Sicht genau das, was wir im Hinblick auf das Grundgesetz einfordern, nämlich Verfassungsrang. Das sollte auch in der deutschen Rechtsordnung so sein. Dann könnten wir uns vielleicht andere Sachen sparen. Aber wir kämpfen noch immer darum, dass Art. 3 der Kinderrechtskonvention, in dessen Zentrum das Wohl des Kindes steht, in der Gesetzgebung dieser Regierung und dieser Koalition Berücksichtigung findet. Ich will deutlich auf das Recht derjenigen Kinder hinweisen, die im Gegensatz zu vielen anderen Kindern in Deutschland – der überwiegenden Mehrheit geht es gut; das will ich nicht bestreiten; man wäre völlig verrückt, wenn man das täte – weniger Rechte haben. Diese Kinder bedürfen auch eines besonderen Schutzes durch die Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Regelungen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Strässer, die Kollegin Deligöz möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie es erlauben. Christoph Strässer (SPD): Ja. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Strässer, können Sie mir bestätigen, dass Herr Herzog im Jahre 2006 – das habe ich soeben im Internet gelesen – gemeinsam mit National Coalition eine Erklärung in der Akademie der Künste in Berlin abgegeben hat, in der er fordert, Kinderrechte im Grundgesetz aufzunehmen? Das bestätigt alle Thesen, die Sie gerade vorgetragen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Christoph Strässer (SPD): Da ich nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages nicht befugt bin, am Rednerpult das Internet zu nutzen, gehe ich davon aus, dass die Quelle richtig zitiert ist. Mich würde auch verwundern, wenn Herr Herzog etwas anderes vertreten hätte; denn er ist in der von Ihnen erwähnten National Coalition höchst aktiv. Ich bestätige das also, ohne es zu wissen. Ich glaube, es stimmt. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte gerne noch einmal auf die Regelung der besonders schutzbedürftigen Kinder zurückkommen – sie ist hier angesprochen worden –, die ohne Pass nach Deutschland kommen. Sie, Herr Kollege Tauber, beklagen, dass sie keinen Pass haben. Wenn sie mit einem Pass an die deutsche Grenze kämen, würden sie zurückgewiesen, weil sie dann keine Flüchtlinge wären. Das alles sind Widersprüche, die hier jetzt keine Rolle spielen. Herr Dr. Stadler, ich glaube, dass die Regelung in § 12 Asylverfahrensgesetz, wonach auch ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, zur Vornahme von Verfahrenshandlungen fähig ist, nicht in Übereinstimmung mit der Kinderrechtskonvention steht, insbesondere nicht mit Art. 20 und 22. Dort wird nämlich differenziert zwischen Kindern, die in Deutschland leben, und Kindern, die nach dem Schutzrecht der internationalen Konvention geschützt werden. Hier wird die Grenze bei 18 Jahren gezogen. Es gibt den Einwand, dass es in Deutschland Bereiche gibt, in denen das Alter von 18 auf 16 Jahre gesenkt worden ist. Aber § 12 Asylverfahrensgesetz ist Verfahrensrecht. Verfahrensrechte sind Schutzrechte. Im Rechtsstaat wird Schutz durch das Verfahrensrecht gewährt. Wenn man Kindern, die in diesem Alter nach Deutschland kommen, diesen Verfahrensschutz nimmt oder ihn relativiert, dann verstößt das für mich ganz klar gegen die Regeln der internationalen Kinderrechtskonvention. Das muss geändert werden. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ich glaube, dass auch an anderen Stellen viel nachzubessern und viel nachzuholen ist. Das betrifft insbesondere die Frage: Was passiert eigentlich mit Kindern, die zum Beispiel mit dem Flugzeug in Frankfurt ankommen und um Asyl bitten? Kann man auf diese Kinder wirklich das Flughafenverfahren anwenden? Können Kinder in diesem Alter, die ohne Schutz, ohne Beistand, ohne vernünftige Betreuung sind und die keine Schulbildung haben, diesem Verfahren unterzogen werden? Nein, an dieser Stelle waren wir froh über die Rücknahme. Wenn es aber bei einem Placeboeffekt bleibt, dann machen wir nicht mit. Wir werden Sie weiterhin mit Initiativen – in Anführungszeichen – belästigen, um die Kinderrechte und die Kinderrechtskonvention auch materiell in Deutschland durchzusetzen. Danke schön. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Florian Bernschneider (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nachgesehen: Zum 18. Mal in dieser Legislaturperiode diskutieren wir heute das Thema Kinderrechte. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das zu viel, oder was? – Caren Marks [SPD]: Ein wichtiges Thema!) – Dies ist ein wichtiges Thema, völlig zu Recht. – Grob überschlagen sind das etwa 13 Stunden Diskussion über die Rechte der Kinder. Wenn man die Diskussionszeit der vergangenen Legislaturperioden dazu zählt, haben wir mehrere Tage über die Rechte von Kindern gesprochen. Das ist zunächst einmal – da haben Sie völlig recht – ein gutes Zeichen; denn es zeigt, dass uns allen – das ist einer der beliebtesten Sätze aus all diesen Debatten – die Rechte von Kindern am Herzen liegen. Wenn man sich einige der bisherigen Debatten einmal anschaut, dann muss man etwas schmunzeln, besonders über die Debatten, bei denen Redner aller Fraktionen am Rednerpult stehen und sich darüber ereifern, Kinder an politischen Entscheidungen partizipieren zu lassen, und das gegen 22 Uhr, also zu einer Tageszeit, zu der jedes Kind im Bett liegt. Ich weiß, wir Fachpolitiker bestimmen nicht den Ablauf der Tagesordnung. Wir haben uns auch heute nicht in die Primetime eingetaktet. Trotzdem muss man einmal kritisch sagen: Es ist auch gut, dass Kinder nicht alle Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben, tatsächlich miterleben konnten. Sie würden uns zu Recht fragen, warum wir Jahrzehnte brauchten, um eine Selbstverständlichkeit, nämlich die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention, umzusetzen. Wir als christlich-liberale Koalition haben das jetzt endlich geschafft. Anstatt dies anzuerkennen, nehmen Sie Fahrt auf für das nächste Mammutprojekt, nämlich die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Ich wage einmal den Blick in die Glaskugel: (Caren Marks [SPD]: 1,8 Prozent) Selbst wenn es uns einmal gelingen wird, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, dann werden uns die Kinder die Frage stellen: Jetzt habt ihr jahrelang darüber diskutiert, aber was bringt das genau? Es wurde heute von allen Oppositionsrednern versprochen, darauf konkrete Antworten zu geben. Richtig konkrete Antworten habe ich aber nicht gehört. Die Verfassungsrechtler sagen uns, die Kinderrechte sind im Grundgesetz schon abgebildet. Deswegen wünsche ich mir, dass wir keine Zeit mit abstrakten Debatten verlieren, sondern uns konkret damit beschäftigen, wie wir die Kinderrechte stärken können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das haben in der Vergangenheit auch alle anderen Koalitionsfraktionen getan. Ich glaube aber trotzdem, dass wir die Leistung von Schwarz-Gelb in den letzten zwei Jahren auf keinen Fall kleinreden dürfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Das sehen die Bürger genauso! 1,8 Prozent!) Kinderlärm ist kein Grund mehr für Klagen. Das Bundeskinderschutzgesetz sorgt dafür, dass viel Wichtiges auf den Weg gebracht wird. Die Familienhebammen sind die richtige Entscheidung, wenn es um den Präventionsgedanken geht. Wir investieren 12 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung. Mit der Offensive „Frühe Chancen“ setzen wir 400 Millionen Euro für Chancengerechtigkeit ein. Die Freiwilligendienste, die Sommerferienjob-Regelung, alles das sind konkret erlebbare Rechte für Kinder und Jugendliche in unserem Land. So berechtigt einige der im vorliegenden SPD-Antrag aufgeworfenen Fragen auch sein mögen: Der Antrag liefert wenig Konkretes. Selbst wenn man ihn beschlösse, kämen am Ende wenig spürbare Ergebnisse für die Kinder dabei heraus. Spürbare Ergebnisse aber müssen unser Ziel sein. Ich habe gerade ein paar Punkte aufgezählt, die zeigen, dass die christlich-liberale Koalition genau diesen Weg eingeschlagen hat, nämlich Konkretes zu liefern, anstatt viele abstrakte Debatten zu führen. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns dabei begleiten würden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts – Drucksachen 17/6276, 17/6852 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/7063 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Matthias Zimmer Hierzu ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genommen werden.1 Deswegen kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7063, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/6276 und 17/6852 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. September 2011, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 14.42 Uhr) Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bartol, Sören SPD 23.09.2011 Beckmeyer, Uwe SPD 23.09.2011 Behrens, Herbert DIE LINKE 23.09.2011 Bracht-Bendt, Nicole FDP 23.09.2011 Breil, Klaus FDP 23.09.2011 Burkert, Martin SPD 23.09.2011 Deutschmann, Reiner FDP 23.09.2011 Ernst, Klaus DIE LINKE 23.09.2011 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.09.2011 Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 23.09.2011 Dr. Friedrich, Hans-Peter CDU/CSU 23.09.2011 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 23.09.2011 Glos, Michael CDU/CSU 23.09.2011 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.09.2011 Grindel, Reinhard CDU/CSU 23.09.2011 Grund, Manfred CDU/CSU 23.09.2011 Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 23.09.2011 Dr. Hendricks, Barbara SPD 23.09.2011 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 23.09.2011 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 23.09.2011 Koch, Harald DIE LINKE 23.09.2011 Körper, Fritz Rudolf SPD 23.09.2011 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 23.09.2011 Krestel, Holger FDP 23.09.2011 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.09.2011 Laurischk, Sibylle FDP 23.09.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 23.09.2011 Leidig, Sabine DIE LINKE 23.09.2011 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine FDP 23.09.2011 Liebing, Ingbert CDU/CSU 23.09.2011 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 23.09.2011 Dr. Meister, Michael CDU/CSU 23.09.2011 Nahles, Andrea SPD 23.09.2011 Niebel, Dirk FDP 23.09.2011 Nietan, Dietmar SPD 23.09.2011 Özoðuz, Aydan SPD 23.09.2011 Pieper, Cornelia FDP 23.09.2011 Pitterle, Richard DIE LINKE 23.09.2011 Roth (Heringen), Michael SPD 23.09.2011 Schaaf, Anton SPD 23.09.2011 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 23.09.2011 Schirmbeck, Georg CDU/CSU 23.09.2011 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 23.09.2011 Schneider (Erfurt), Carsten SPD 23.09.2011 Schreiner, Ottmar SPD 23.09.2011 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 23.09.2011 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 23.09.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 23.09.2011 Dr. Sitte, Petra DIE LINKE 23.09.2011 Steinbach, Erika CDU/CSU 23.09.2011 Dr. Stinner, Rainer FDP 23.09.2011 Thönnes, Franz SPD 23.09.2011 Tillmann, Antje CDU/CSU 23.09.2011 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.09.2011 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 23.09.2011 Weinberg, Harald DIE LINKE 23.09.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 23.09.2011 Dr. Westerwelle, Guido FDP 23.09.2011 Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 23.09.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 23.09.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 23.09.2011 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts (Tagesordnungspunkt 32) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Dass die Frage nach der Sicherheit von technischen Geräten in einem europäischen Kontext beantwortet wird, war in den letzten Dekaden mitnichten eine tradierte Selbstverständlichkeit. Sie stellte sich erst mit dem freien Warenverkehr in der Europäischen Gemeinschaft. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde sie – wenn überhaupt – nationalstaatlich beantwortet. Dies führte in der Tendenz eher dazu, dass aufgrund unterschiedlicher technischer Anforderungen an die Produktsicherheit Handelshemmnisse aufgebaut wurden, anstatt sie abzubauen. Gerätesicherheit wird mittlerweile nicht mehr isoliert nationalstaatlich definiert, sondern innerhalb der Europäischen Union miteinander abgestimmt. Mit dem Geräte- und Produktsicherheitsgesetz wurde ab 1. Mai 2004 die europäische Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit in Deutschland in nationales Recht umgesetzt. Es regelt unter anderem das Inverkehrbringen von technischen Arbeitsmitteln, aber auch von komplexen Anlagen und stellt somit auch eine Grundlage für einen funktionierenden Arbeitsschutz dar. Kurzum bietet es eine Rechtsgrundlage, um unsichere Produkte vom Warenverkehr auszuschließen. Es trägt damit zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen bei, weshalb ihm eine umfassende wirtschafts- und damit auch arbeitsmarktpolitische Bedeutung zukommt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts wird unter anderem die Geräte- und Produktsicherheit europarechtlich harmonisiert. Diese Harmonisierung erleichtert den Warenaustausch auf dem europäischen Markt, soll aber in erster Linie den Verbraucher- und Arbeitsschutz EU-weit auf hohem Niveau sichern. Mit dem Produktsicherheitsgesetz wird unter anderem die Zusammenarbeit von Marktüberwachung und Zoll gestärkt werden, um den Import unsicherer Produkte möglichst frühzeitig erkennen und verhindern zu können. Mit dem Gesetzentwurf soll eine gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen Zoll- und Marktüberwachungsbehörden sichergestellt werden. Dabei sollen die Zollbehörden insbesondere berechtigt und verpflichtet werden, alle für weitere Maßnahmen erforderlichen Informationen an die zuständige Marktüberwachungsbehörde weiterzugeben. Hierzu zählen zum Beispiel Informationen wie Name und Anschrift des Empfängers und des Absenders, Versendungsland, Ursprungsland etc. Dies ermöglicht ein Eingreifen der Marktüberwachungsbehörden zu einem möglichst frühen Zeitpunkt, aber auch die Informationsgewinnung über Produkte aus Drittländern, die sich bereits auf dem Gemeinschaftsmarkt befinden. Dadurch wird eine Erhöhung der Effektivität der Marktüberwachungsbehörden erreicht. Darüber hinaus werden Hersteller bei Einführung von Produkten einer Dokumentationspflicht unterliegen. Es muss für die zuständige Marktüberwachungsbehörde überprüfbar sein, dass der Einführer seiner Dokumentationspflicht nachgekommen ist. Die Nichterfüllung bildet zugleich den Anknüpfungspunkt für einen Bußgeldtatbestand. Ebenso werden die Marktüberwachungsbehörden anhand angemessener Stichproben die Einhaltung der Rechtsvorschriften kontrollieren müssen. Ebenso wollen wir das GS-Zeichen für „geprüfte Sicherheit“ nachhaltig stärken, um Missbrauch zu erschweren, denn mit einem gefälschten GS-Zeichen wird nicht nur der betroffenen GS-Stelle ein wirtschaftlicher Schaden zugefügt, sondern die Zuverlässigkeit der mit dem GS-Zeichen verbundenen Aussage insgesamt in Zweifel gezogen. Daher werden die GS-Stellen künftig verpflichtet, gegen Hersteller, die ihr GS-Zeichen unerlaubterweise verwenden, vorzugehen. Sie wird geeignete Maßnahmen zu treffen haben, wie zum Beispiel die Abmahnung eines widerrechtlichen Verwenders, die Aufforderung zur Abgabe von Unterlassungserklärungen, das Einschalten der Wettbewerbszentrale oder die Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen im Klagewege vor den örtlichen Gerichten. Die anderen GS-Stellen sind in diesen Fällen zu unterrichten, da nicht auszuschließen ist, dass auch andere GS-Zeichen von diesem Hersteller unerlaubterweise verwendet werden. Die Hersteller werden verpflichtet, Informationen zu Fälschungen ihres GS-Zeichens zu veröffentlichen. Damit wird die Grundlage für eine „Liste schwarzer Schafe“ gelegt, die letztlich potenzielle Fälscher abschrecken soll. Darüber hinaus streben wir mit unserem Gesetzentwurf eine Erhöhung des Bußgeldrahmens auf 100 000 Euro an. Bußgelder sollen bei schwerwiegenden Verstößen abschreckend sein und auch etwaige Gewinnmargen, die durch einen Verstoß erzielt werden, berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund erscheint uns eine weitere Erhöhung des Bußgeldrahmens für geboten. Ich möchte an dieser Stelle auch noch kurz auf darauf eingehen, warum wir auf eine explizite Ausnahme von Arzneimitteln im Produktsicherheitsgesetz nicht verzichten können. Mir ist dies deshalb wichtig, weil im Laufe des Verfahrens mehrfach eine solche Änderung angeregt wurde. Grundsätzlich stellt die Regelung in § 1 Abs. 4 des Produktsicherheitsgesetzentwurfs klar, dass die Vorschriften des Produktsicherheitsgesetzes nicht zur Anwendung kommen, wenn in anderen Rechtsvorschriften entsprechende oder weitergehende Vorschriften enthalten sind. Demnach haben andere Rechtsvorschriften, die umfassend die Bereitstellung spezieller Produkte auf dem Markt regeln, Vorrang, und das Produktsicherheitsgesetz ist nicht anzuwenden. Für den Fall, dass diese anderen Rechtsvorschriften Regelungen für spezielle Produkte im Hinblick auf bestimmte Teilaspekte für das Bereitstellen auf dem Markt treffen, können im Spezialrecht Regelungslücken bestehen und dann kommt das Produktsicherheitsgesetz insoweit ergänzend zur Anwendung. Arzneimittelrechtliche Vorgaben können unter Umständen eben nicht ausreichen, wie dies beispielsweise bei Arzneimitteln in Druckgasbehältnissen der Fall ist. So regelt der Anhang 6 des EG-Good-Manufacturing-Practice-Leitfadens – kurz: EG-GMP-Leitfaden – die Herstellung medizinischer Gase. Mit diesen Regelungen werden die grundsätzlichen Anforderungen an die Arzneimittelherstellung entsprechend der guten Herstellungs-praxis festgelegt. Dabei geht es insbesondere um die Anforderungen an Räume, Personal und die ordnungsgemäße Abfüllung der medizinischen Gase, die Vermeidung von Kreuzkontaminationen und die Dokumentation des Herstellungsvorgangs. Anforderungen an die Behältnisse selbst werden nicht näher spezifiziert. Insofern können Arzneimittel nicht aus dem Produktsicherheitsgesetz ausgeklammert werden. All das klingt sehr technisch. In der Quintessenz aber geht es darum, den Konsumenten- und Arbeitsschutz über die Geräte- und Produktsicherheit auf einem hohen Niveau EU-weit sicherzustellen und einen fairen Wettbewerb um qualitativ hochwertige Produkte zu wahren. Josip Juratovic (SPD): Das Geräte- und Produktsicherheitsrecht klingt zuallererst nach einem sehr technischen Thema. Man denkt an technische Überprüfungen beispielsweise von Steckdosen, wie sie in der vergangenen Woche in unseren Büros in Berlin stattfanden, oder daran, wie große Maschinen in der Produktion überwacht und gewartet werden. Aber wir dürfen dieses Gesetz nicht nur technisch beurteilen, sondern müssen schauen, was die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind. Denn für uns muss klar sein: Wir müssen die Arbeitswelt, die Arbeitsmaschinen, die Produkte, die in der Produktion verwendet und hergestellt werden, so sicher wie möglich machen, sodass weder die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch die Verbraucher Schaden nehmen. Hier beginnt die sehr praktische Anwendung des Gesetzes. Ich bin froh, dass wir in Deutschland ein so differenziertes Gesetz über die Geräte- und Produktsicherheit haben, und zunächst möchte ich der Regierung danken, dass dieses Gesetz nun rechtssystematisch angepasst wird. Wir können viele unserer Gesetze in dieser Form vereinfachen und damit für den täglichen Gebrauch handhabbarer machen. Diese Überarbeitung geht einher mit der Anpassung des Rechts an eine EU-Verordnung. Zudem werden mit der Neufassung zwei Richtlinien, nämlich die Spielzeugrichtlinie und die Richtlinie über Maschinen zur Ausbringung von Pestiziden, umgesetzt. Hier ist jedoch mein erster Kritikpunkt: Diese Richtlinien hätten bis zum 20. Januar bzw. bis zum 15. Juni dieses Jahres bereits umgesetzt werden müssen. Deswegen hat die Bundesregierung es auch so eilig mit der zweiten und dritten Lesung im Parlament; denn diese Fristen wurden schlichtweg verschlafen. Jedoch habe ich aus Sicht der Arbeitnehmer, die unmittelbar von der Geräte- und Produktsicherheit betroffen sind, weitere Anmerkungen, die leider nicht in den uns heute zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf Einzug gehalten haben. Wir hatten diese Änderungen bereits in einem Änderungsantrag zu diesem Entwurf im Ausschuss vorgelegt. Erstens bin ich der Meinung, dass auch im Geräte- und Produktsicherheitsrecht klargestellt werden muss, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, Maschinen in der Produktion bereitzustellen, die auf dem Stand der Technik sind. Diese Verpflichtung existiert im Arbeitsschutzrecht. Daher müssen wir hier Missverständnissen vorbeugen und diese Verpflichtung auch ins Geräte- und Produktsicherheitsgesetz aufnehmen. Zweitens muss klargestellt werden, dass ein Produkt am Markt nicht bereitgestellt werden darf, wenn Anforderungen, die die Ministerien durch Rechtsverordnungen an Produkte stellen können, nicht berücksichtigt werden. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber Rechtssicherheit ist immer der bessere Weg, als hier Unklarheiten zu hinterlassen. Drittens fordere ich, dass ein Produzent einer Dokumentationspflicht unterliegen muss. Er muss dokumentieren, dass er das Produkt, das er auf den Markt bringt, ausreichend und mit Erfolg geprüft hat. Hier geht es darum, inwiefern auch gebrauchte Produkte noch auf dem Markt gehandelt werden dürfen, wenn sie nicht dem aktuellen Stand der Technik und dem aktuellen Stand der Gesetzgebung entsprechen. Bisher war geregelt, dass Produkte dem Rechtsstand entsprechen müssen, der zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens galt. Das ließ sich im Nachhinein oft schwer nachvollziehen. Daher muss dem Händler eine Nachweispflicht für die Ungefährlichkeit eines solches Produkts auferlegt werden. Hier muss er die Abweichung zur aktuellen Rechtslage dokumentieren und die sich daraus ergebenden Risiken darstellen. Damit können die Beschäftigten mit den Risiken vertraut gemacht werden, und die Risiken können bei der Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden. Im Übrigen wäre dies auch ein Schritt gegen Produktpiraterie. Wenn nämlich gefälschte Produkte auf unseren Markt kommen, die große Gefahren bergen, da sie nicht geprüft werden, kann das so nachvollzogen werden. Viertens müssen wir den Informationsanspruch der Öffentlichkeit regeln. Ich bin der Überzeugung, dass die Öffentlichkeit grundsätzlich informiert werden muss, wenn ein Produkt oder ein Gerät eine Gefahr birgt. Dies darf nur eingeschränkt werden, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht, wenn die Daten derzeit vor Gericht verwendet werden oder wenn Urheberrechte betroffen sind. Damit wollen wir verhindern, dass mehr Informationen als nötig geheim gehalten werden. Fünftens – und dies habe ich bereits in meiner letzten Rede im Juni zum Geräte- und Produktsicherheitsrecht gesagt – müssen die Sanktionen für Verstöße angehoben werden. Art. 41 der Verordnung (EG) 765/2008 fordert Sanktionen, die „spürbar, verhältnismäßig und abschreckend“ sind. Die Regierung hatte ursprünglich 50 000 Euro dafür vorgeschlagen. Das zahlen viele Unternehmen doch aus der Portokasse! Wenn Unternehmen also ein Interesse daran haben, eine alte Maschine, die Risiken für die Arbeitnehmer birgt, weiter zu nutzen, werden sie eher diese Sanktion zahlen, als dass sie eine neue, sichere Maschine anschaffen. Deswegen müssen die Sanktionen dringend erhöht werden, und zwar empfindlich. In Übereinstimmung mit den Bundesratsempfehlungen schlagen wir 300 000 Euro vor. Das wäre ein gutes Zeichen für den Arbeitsschutz. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, in Ihrem Änderungsantrag, mit dem Sie ja nebenbei viele redaktionelle Änderungen an Ihrem eigentlichen Entwurf vornehmen, erhöhen Sie die Sanktionen auf 100 000 Euro. Das ist ein erster Schritt, reicht aber für einen wirksamen Arbeitsschutz nicht aus. Eine weitere Sache, die wir nicht vergessen dürfen, ist, dass all die Regelungen, die wir hier treffen, auch ausreichend kontrolliert werden müssen. Hier appelliere ich an die Länder, dass die Überwachungsbehörden, die in den letzten Jahren einen empfindlichen Personalabbau erleiden mussten, endlich wieder personell aufgestockt werden. Denn was nützt uns ein gutes Arbeitsschutzrecht, wenn es letztlich an der Umsetzung hapert? Mit diesen Änderungen, die Sie in unserem Änderungsantrag schriftlich und juristisch genau nachlesen können, könnten wir die Neuregelung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts dafür nutzen, dass der Arbeitsschutz großgeschrieben wird. Ansonsten bleiben wir leider dabei, dass das Gesetz zwar technisch erneuert wird, aber keine großen politischen Fortschritte zu verzeichnen sind. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Mit diesem Gesetz werden elf europäische Produktrichtlinien in deutsches Recht umgesetzt. Kernelement des Entwurfs ist die Anpassung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts an die seit 1. Januar 2010 geltende Verordnung (EG) Nr. 765/2008 zur Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten. Daneben werden ausgewählte Bestimmungen der Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG und die Richtlinie 2009/127/EG über Maschinen zur Ausbringung von Pestiziden über die Änderung der Maschinenverordnung – 9. GPSGV – umgesetzt. Außerdem greift der Entwurf Vorschläge des Bundesrates zur Verbesserung der Marktüberwachung sowie der Ad-hoc-Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Marktüberwachung auf. Das vorliegende Gesetz wird zukünftig die zentrale Rechtsvorschrift für die Vermarktung und Überwachung von technischen Non-food-Produkten in Deutschland sein. Für die erfasste Produktpalette besteht ein bundesweiter Markt, dessen Funktionsfähigkeit einheitliche Regeln erfordert. Aufgrund des erheblichen Änderungsumfangs wurde das Gesetz komplett neugefasst, wodurch auch an einigen Stellen überfällige Rechtsklarheit geschaffen wurde. Durch die Zusammenfassung sind keine umständlichen neuen Gesetzesnormen geschaffen worden, vielmehr wurden die bestehenden Regelungen erheblich verschlankt. Gerade in der Marktüberwachung haben wir den zuständigen Behörden den Handlungsspielraum gegeben, der notwendig ist, um ein hohes Sicherheitsniveau zu gewährleisten und einen fairen Wettbewerb zwischen den einzelnen Unternehmen zu sichern. Dies wird unter anderem durch die intensivierte Zusammenarbeit zwischen Marktüberwachung und Zoll erreicht. Dadurch können gefährliche Produkte möglichst frühzeitig aufgespürt und aus dem Verkehr gezogen werden. Durch eine verbesserte Marktüberwachung wird der faire Wettbewerb zwischen den Unternehmen unterstützt, gerade auch angesichts der Importe aus Drittländern außerhalb der EU. Durch die Erstreckung der Marktüberwachungsbestimmungen auf alle dem Gesetz unterfallenden Produkte wird die bestehende Einheitlichkeit der Marktüberwachung gewahrt. Für die Vollzugsbehörden in den Ländern wurden die Möglichkeiten erweitert, die Kosten für Amtshandlungen – Prüfungen und Besichtigungen – im Falle berechtigter Beanstandung von den betroffenen Wirtschaftsbeteiligten zu erheben. Damit wird dem Verursacherprinzip einmal mehr Rechnung getragen. Gerade für uns Liberale ist der beste Weg im Verbraucherschutz, Transparenz zu schaffen und somit den Verbraucher durch Informationen in seiner freien Konsumentscheidung zu unterstützen. Dies schafft ein Zeichen in Deutschland besser als alles andere: Das GS-Zeichen – geprüfte Sicherheit – steht für Sicherheit und Verlässlichkeit bei Produkten und Geräten. Es ist neben dem CE-Zeichen das einzige gesetzlich geregelte Prüfzeichen für Produktsicherheit in Europa. Verbraucher erhalten über das GS-Zeichen die Information, dass ein Produkt, das sie erworben haben, sicher ist. Und durch neue, noch strengere Regelungen wird das Vertrauen der Verbraucher in das GS-Zeichen bestätigt und vertieft. So kann noch besser als bisher Missbrauch bekämpft werden. Durch die Zusammenführung der Bestimmungen zum GS-Zeichen wird auch dem Verbraucher der Überblick über die entsprechenden Regelungen erleichtert. Dieser vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt, um die Europäische Union sicherer und für den Verbraucher transparenter zu machen. Daher würde ich mich freuen, wenn auch in diesem Hohen Hause über die Parteigrenzen hinweg diese Regelungen Zustimmung finden würden. Karin Binder (DIE LINKE): Wir behandeln heute die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts, die durch verschiedene Neuerungen auf EU-Ebene, unter anderem durch die sogenannte Spielzeugrichtlinie, notwendig wird. Warum ich mit diesem Gesetzentwurf nicht zufrieden bin, werde ich Ihnen jetzt erläutern. Allerdings möchte ich zumindest anmerken, dass die Regierungskoalition und auch die SPD mit ihren Änderungsanträgen einige sinnvolle Vorschläge des Bundesrates aufgegriffen haben. Aber das reicht leider nicht aus. Wir haben noch immer das Problem, dass mit dem sogenannten CE-Zeichen den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine vermeintliche Sicherheit vorgegaukelt wird, die jedoch nicht besteht. Tausendfach kommen Produkte mit diesem CE-Zeichen und mit all ihren möglichen Mängeln auf einen internationalen Markt. Sie wurden nie auf ihre Sicherheit geprüft. Insbesondere Kinder werden somit vermeidbaren Gefahren ausgesetzt. Das belegt das EU-Informationssystem RAPEX, wo Spielzeuge als zweithäufigste Produktgruppe entsprechende Warnmeldungen verursachen. Die Zahl der Meldungen ist nur noch im Bereich von Textilien höher. Beides sind Produkte des täglichen Bedarfs. Jeder Mensch geht damit täglich um und kommt damit in Berührung – zum Beispiel mit Schadstoffen, die zumindest unsere Gesundheit gefährden können. Kinder können Kleinteile verschlucken oder sich an scharfen Kanten verletzen. Jedes Auto muss zugelassen werden. Und selbstverständlich muss es regelmäßig vom TÜV kontrolliert werden, um seine Plakette zu bekommen. Aber Gegenstände des täglichen Bedarfs, die wir an unsere Haut lassen – unser wichtigstes und größtes Organ –, die wir in den Mund nehmen oder einfach täglich gebrauchen, müssen nicht einmal vor ihrer Fertigung auf ihre unbedenkliche Tauglichkeit hin überprüft werden. Ist das logisch? Sie verweisen mich jetzt auf das GS-Zeichen, das Siegel für geprüfte Sicherheit. Aber auch das liefert leider nicht immer die Qualität, die wir erwarten könnten. Und sein größter Nachteil – es ist eine freiwillige Prüfung. Die Hersteller müssen sich dem Prozedere einer Sicherheitsprüfung nicht unterziehen. Solange nicht alle Hersteller solche Sicherheitsprüfungen vornehmen lassen müssen, solange wird die Politik und werden die Kontrollbehörden immer hinterher- hecheln. Und wir werden auch immer nur die Spitze des Eisberges aus dem Verkehr ziehen können. Daran ändert auch die jetzt im Gesetzentwurf vorgesehene erhöhte Kontrollfrequenz für die Bundesländer nichts. Zum einen haben heute schon einige Länder für ihre Behörden eine größere Zahl von Kontrollen vorgegeben, und zum anderen nützt allein die quantitative Vorgabe nichts, wenn nicht gleichzeitig auch eine qualitative Vorgabe gemacht wird. Um möglichst einheitliche Standards für die Länder zu schaffen, braucht es eine klare Definition, nicht nur über die Anzahl der Kontrollen, sondern auch über das „Wie“ der Überprüfungen. Auch die Bußgelder sind nicht zufriedenstellend geregelt. Der Hinweis der Regierung, dass ja auch der wirtschaftliche Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, nach § 17 (4) OWiG abgeschöpft werden soll und das Höchstmaß der Geldbuße hierfür überschritten werden kann, ist nicht wirklich strafverschärfend. Wir alle wissen, wie schwierig das Thema „Gewinnabschöpfung“ ist, und dass sich die Behörden sehr schwer damit tun, dem Unternehmen den unrechtmäßig erworbenen Gewinn nachzuweisen. Also ist die einzige Möglichkeit zur Abschreckung eine weit höhere Geldbuße, die selbstverständlich den Verbraucherorganisationen zugutekommen muss. Nun komme ich noch auf ein weiteres Problem für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Stellen, an denen Informationen eingehen und durchaus auch veröffentlicht werden. Allerdings haben wir damit die typische Informationsflut, die verhindert, dass Verbraucherinnen und Verbraucher sich die gewünschten Informationen ohne Probleme einholen können. Zur vielbeschworenen Klarheit und Wahrheit gehört, dass diese Informationen gebündelt auf einer Plattform zur Verfügung gestellt werden. Die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) halte ich jedoch nicht für zielführend, dort sucht niemand nach Verbraucherinformationen. Am besten sollten diese Informationen gesammelt auf einer Seite des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zur Verfügung gestellt werden. Zuletzt möchte ich noch einmal auf die Verantwortung der Bundesregierung und der Bundesbehörden aufmerksam machen. In der Rangliste der Herkunftsländer von beanstandeten Produkten sind nach China die „unbekannten“ Herkunftsländer besonders auffällig. Rund 10 Prozent der bei RAPEX gemeldeten Produkte können nicht rückverfolgt werden, da sie nicht einmal eine Herkunftskennzeichnung haben, geschweige denn die Beschaffenheit der Produkte klar ist. Hier ist der Zoll gefordert – und die Politik. Die einführenden Unternehmen tragen hierfür die Verantwortung und müssen auch in die Haftung genommen werden können. Die Sicherheitsinteressen der Verbraucherinnen und Verbraucher, vor allem der Kleinsten, müssen gewahrt werden. Die Linke fordert deshalb, dass kein Produkt ohne entsprechende Prüfung und ohne Zertifikat auf den Markt gebracht werden darf. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute wird der Deutsche Bundestag ein neues Produktsicherheitsgesetz beschließen und das Geräte- und Produktsicherheitsrecht neu ordnen. Das begrüßen wir. Der Gesetzentwurf hat allerdings nach wie vor Mängel. Viele dieser Mängel habe ich bereits in der ersten Lesung benannt, und nur wenige davon, oft nur die redaktionellen Schnitzer, wurden im Beratungsverlauf durch einen Änderungsantrag behoben. Es ist längst überfällig, dass die europäischen Rechtsvorgaben umgesetzt werden, und wir erkennen an, dass das Produktsicherheitsrecht nun insgesamt klarer strukturiert und weitgehend verständlicher gefasst wurde. Das ist ein Schritt nach vorne. Deswegen werden wir Grüne dem Gesetz zustimmen – auch wenn wir meines Erachtens nach von einer klaren und einfachen Rechtsmaterie noch immer weit entfernt sind. Das Produktsicherheitsrecht ist ein Kernelement des Verbraucherschutzes. Es regelt, welche Produkte auf den Markt gelangen und stärkt das GS-Zeichen für geprüfte Sicherheit. Die Marktüberwachungsbehörden müssen im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher konsequent dafür Sorge tragen, dass bei allen Produkten, insbesondere bei Kinderspielzeug, gewisse Grenzwerte für beispielsweise Weichmacher und Schwermetalle nicht überschritten werden. Damit allein ist es jedoch noch nicht getan. Wir sind überzeugt, dass die Grenzwerte selbst nicht niedrig genug sind und die Liste der gefährlichen Stoffe nicht vollständig ist. Dieses Problem wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht gelöst. Produktsicherheit betrifft auch den Arbeitsschutz. Neben Verbraucherprodukten wird nämlich auch die Sicherheit technischer Arbeitsmittel geregelt. Insbesondere in der industriellen Fertigung, aber auch im Handwerk und dem Baugewerbe, also immer, wenn mit Geräten gearbeitet wird, ist Sicherheit für diejenigen, die sie bedienen, unabdingbar. Beschäftigte, die unter Zeit- und Leistungsdruck an komplexen Maschinen arbeiten, müssen sich darauf verlassen können, dass festgelegte Sicherheitsstandards eingehalten werden. Arbeitgeber und Betriebe sind für die Sicherheit ihrer Beschäftigten und damit auch für die Sicherheit der Arbeitsmittel verantwortlich. Sie müssen Garantien haben, dass Geräte, die in Deutschland auf dem Markt sind, bestimmte Vorgaben erfüllen. Und nicht zuletzt die Hersteller von Geräten müssen vor unfairen Wettbewerbsbedingungen geschützt werden, die zulasten der Qualität gehen. Das preiswertere Produkt darf nicht auf dem Markt angeboten werden, wenn es die Sicherheit und Unversehrtheit von Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern gefährdet. Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, muss das Produktsicherheitsrecht jedoch von allen beteiligten Akteuren umgesetzt werden. Bei der Umsetzung werden sich die Mängel des Gesetzentwurfs leider auswirken. So ist zwar die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Marktüberwachung und Zoll ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist jedoch fraglich, ob genügend Personal für diese Aufgaben zur Verfügung steht. Die Länder sind zuständig für die Marktaufsichtsbehörden und müssten sich dabei stärker einbringen – hierauf hat der Bund genauso wenig direkten Einfluss wie auf eine dringend notwendige Stärkung des TÜV und der Verbraucherzentralen. Die fehlende Zuständigkeit darf für die Bundesregierung jedoch kein Anlass sein, sich zurückzulehnen. Wer den Ländern neue und umfassendere Aufgaben zuweist, muss auch sicherstellen, dass sie wahrgenommen werden. Neben effektiven Kontrollen bedarf es auch wirksamer, spürbarer und abschreckender Sanktionen bei Verstößen, was auch für andere Bereiche des Arbeitsrechts und des Arbeitsschutzes gilt. 50 000 Euro als Obergrenze des Bußgeldrahmens, wie ursprünglich vorgesehen, sind zu wenig – und für große Konzerne Peanuts. Vor diesem Hintergrund begrüße ich die Anhebung des Bußgeldrahmens auf 100 000 Euro. Sie hätten aber ruhig mutiger sein können und – wie von Teilen der Opposition gefordert – eine Obergrenze von 300 000 Euro im Gesetz verankern können. Das ist eine Summe, die selbst von größeren Unternehmen nicht einfach aus dem Hut gezaubert werden kann. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: – Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Zehnter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – 2011 – Drucksachen 17/4700, 17/5122 Nr. 1.2 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Innenausschuss Drucksache 17/4598 Nr. A.5 Ratsdokument 14142/10 Drucksache 17/6010 Nr. A.1 Ratsdokument 9731/11 Drucksache 17/6407 Nr. A.3 Ratsdokument 10772/11 Drucksache 17/6407 Nr. A.4 Ratsdokument 10784/11 Drucksache 17/6407 Nr. A.5 Ratsdokument 10834/11 Rechtsausschuss Drucksache 17/5822 Nr. A.17 Ratsdokument 8609/11 Drucksache 17/6010 Nr. A.2 Ratsdokument 8453/11 Drucksache 17/6407 Nr. A.10 Ratsdokument 11055/11 Drucksache 17/6407 Nr. A.11 Ratsdokument 11212/11 Drucksache 17/6407 Nr. A.12 Ratsdokument 11664/11 Drucksache 17/6568 Nr. A.2 Ratsdokument 11658/11 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 17/1100 Nr. A.12 EuB-EP 2005 1Anlage 2 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 15130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung, Berlin, Freitag, den 23. September 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung, Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15129 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 15136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung, Berlin, Freitag, den 23. September 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung, Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15135