Plenarprotokoll 17/130 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 130. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung des Tagesordnungspunktes 31 Nachträgliche Ausschussüberweisung Tagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Drucksachen 17/6916, 17/7067, 17/7130) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäischer Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken (Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130) Volker Kauder (CDU/CSU) Peer Steinbrück (SPD) Rainer Brüderle (FDP) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Schlecht (DIE LINKE) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi Hubertus Heil (Peine) (SPD) Klaus Ernst (DIE LINKE) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks (SPD) Frank Schäffler (FDP) Dr. Hermann Otto Solms (FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Andrej Hunko (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Inge Höger (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Heidrun Dittrich (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Michael Schlecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Kathrin Vogler (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Annette Groth (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Heike Hänsel (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Sabine Leidig (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) Tagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befristung – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Befristung von Arbeitsverhältnissen eindämmen – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Sachgrund, keine Befristung – Befristete Arbeitsverträge begrenzen (Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922, 17/4180) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Klaus Ernst (DIE LINKE) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Petra Ernstberger (SPD) (zur Geschäftsordnung) Bernhard Kaster (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) (zur Geschäftsordnung) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ulrich Lange (CDU/CSU) Ottmar Schreiner (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Klaus Ernst (DIE LINKE) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Klaus Ernst (DIE LINKE) Stefan Rebmann (SPD) Sebastian Blumenthal (FDP) Gitta Connemann (CDU/CSU) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung über die elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union (Drucksache 17/7144) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Andorra über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/7145) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/7146) d) Antrag der Abgeordneten Tankred Schipanski, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken (Drucksache 17/7183) e) Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen (Drucksache 17/7191) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Naturlandschaft Senne schützen – Militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes nach Abzug der Briten beenden (Drucksache 17/4555) b) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen (Drucksache 17/7190) Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über die Erneuerung und die Erhaltung der Grenzbrücke über die Mosel zwischen Wellen und Grevenmacher (Drucksachen 17/6615, 17/7092) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes (Drucksachen 17/6642, 17/7192) c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seesicherheits-Untersuchungs-Gesetzes (Drucksachen 17/6334, 17/7193) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvL 4/10 (Drucksache 17/7035) e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung (Drucksachen 17/6641, 17/7066) f) – n) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316 und 317 zu Petitionen (Drucksachen 17/7036, 17/7037, 17/7038, 17/7039, 17/7040, 17/7041, 17/7042, 17/7043, 17/7044) Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Steuerabkommen mit der Schweiz und damit zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit Joachim Poß (SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Dr. Volker Wissing (FDP) Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Olav Gutting (CDU/CSU) Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen) Dr. Birgit Reinemund (FDP) Martin Gerster (SPD) Peter Aumer (CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) Bettina Kudla (CDU/CSU) Nicolette Kressl (SPD) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 5: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 17/6290) – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 17/5895) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Daðdelen, Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts (Drucksache 17/5896) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksachen 17/4694, 17/7069) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7070) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) Thomas Oppermann (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Peter Altmaier (CDU/CSU) Gabriele Fograscher (SPD) Jörg van Essen (FDP) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Tagesordnungspunkt 9: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 (Drucksachen 17/6987, 17/7213) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7216) Joachim Spatz (FDP) Christoph Strässer (SPD) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Jan van Aken (DIE LINKE) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jan van Aken (DIE LINKE) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jan van Aken (DIE LINKE) Namentliche Abstimmung Ergebnis Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Programme zur Bekämpfung von politischem Extremismus weiterentwickeln und stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstärken – Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus ausbauen und verstetigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme des Bundes danach ausrichten (Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045, 17/4664, 17/2482, 17/5435) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sönke Rix (SPD) Florian Bernschneider (FDP) Petra Pau (DIE LINKE) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dorothee Bär (CDU/CSU) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Eckhard Pols (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben (Drucksache 17/6167) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Frieser (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) Serkan Tören (FDP) Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (Drucksachen 17/6260, 17/7218) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausländische Bildungsleistungen anerkennen – Fachkräftepotentiale ausschöpfen – zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Durch Vorrang für Anerkennung Integration stärken – Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zügige und umfassende Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brain Waste stoppen – Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher Qualifikationen umfassend optimieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Sevim Daðdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse wirksam regeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Anerkennung ausländischer Abschlüsse tatsächlich voranbringen (Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117, 17/123, 17/6271, 17/6919, 17/7218) Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Anette Kramme, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen (Drucksache 17/7176) Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung: Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes – und – Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (Drucksachen 17/3788, 17/6029) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen (Drucksache 17/7182) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Michael Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen (Drucksache 17/7177) Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Drucksachen 17/3802, 17/7217) Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen – EURATOM auflösen (Drucksache 17/6151) Tagesordnungspunkt 15: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen (Drucksachen 17/7141, 17/7171) b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten der Kommunen im Grundgesetz verankern (Drucksache 17/6491) c) Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Drucksache 17/7189) Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern (Drucksachen 17/6467, 17/7174) Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (inkl. 18257/10 ADD 1 und 18257/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) – KOM(2010) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10 (Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891) Dr. Michael Paul (CDU/CSU) Ute Vogt (SPD) Dr. Lutz Knopek (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/7142) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Frank Tempel (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte und Friedensprozess in Sri Lanka fördern (Drucksachen 17/2417, 17/4699) Jürgen Klimke (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Serkan Tören (FDP) Katrin Werner (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (Drucksachen 17/5515, 17/7178) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Serkan Tören (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Krista Sager, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung von Open Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu den Resultaten öffentlich geförderter Forschung (Drucksache 17/7031) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Tankred Schipanski (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Manuel Höferlin (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen (KfiHG) (Drucksache 17/2163) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Marco Buschmann (FDP) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die finanzielle Deckelung von Reha-Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung aufheben – Reha am Bedarf ausrichten (Drucksache 17/6914) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Anton Schaaf (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Perspektiven für Jungen und Männer (Drucksachen 17/5494, 17/7088) Dorothee Bär (CDU/CSU) Michaela Noll (CDU/CSU) Stefan Schwartze (SPD) Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Miriam Gruß (FDP) Yvonne Ploetz (DIE LINKE) Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII garantieren (Drucksache 17/7029) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Angelika Krüger-Leißner (SPD) Pascal Kober (FDP) Katja Kipping (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention (Drucksache 17/6804) Peter Aumer (CDU/CSU) Martin Gerster (SPD) Björn Sänger (FDP) Richard Pitterle (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF Tagesordnungspunkt 27: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes und des Handelsstatistikgesetzes (Drucksachen 17/6851, 17/7200) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Doris Barnett (SPD) Hans-Joachim Hacker (SPD) Gisela Piltz (FDP) Michael Schlecht (DIE LINKE) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Herbert Behrens (DIE LINKE) Veronika Bellmann (CDU/CSU) Karin Binder (DIE LINKE) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Klaus Brähmig (CDU/CSU) Michael Brand (CDU/CSU) Marco Bülow (SPD) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Marco Buschmann (FDP) Sylvia Canel (FDP) Dr. Peter Danckert (SPD) Reiner Deutschmann (FDP) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) Werner Dreibus (DIE LINKE) Alexander Funk (CDU/CSU) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Nicole Gohlke (DIE LINKE) Josef Göppel (CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Heinz-Peter Haustein (FDP) Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) Christian Hirte (CDU/CSU) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Katja Kipping (DIE LINKE) Harald Koch (DIE LINKE) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Gunther Krichbaum (CDU/CSU) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Dorothee Menzner (DIE LINKE) Cornelia Möhring (DIE LINKE) Niema Movassat (DIE LINKE) Jan Mücke (FDP) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Jens Petermann (DIE LINKE) Richard Pitterle (DIE LINKE) Yvonne Ploetz (DIE LINKE) Ingrid Remmers (DIE LINKE) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Raju Sharma (DIE LINKE) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sabine Stüber (DIE LINKE) Alexander Süßmair (DIE LINKE) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Alexander Ulrich (DIE LINKE) Arnold Vaatz (CDU/CSU) Johanna Voß (DIE LINKE) Marco Wanderwitz (CDU/CSU) Harald Weinberg (DIE LINKE) Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Axel Troost und Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Dr. Lutz Knopek und Joachim Günther (Plauen) (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Werner Schieder (Weiden), Klaus Barthel, Dr. Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig), Hilde Mattheis, René Röspel und Rüdiger Veit (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts (Tagesordnungspunkt 5) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (Tagesordnungspunkt 7) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Aydan Özoðuz (SPD) Heiner Kamp (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen (Tagesordnungspunkt 10) Michael Frieser (CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD) Gerold Reichenbach (SPD) Gisela Piltz (FDP) Petra Pau (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes – und – Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung – Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nachhaltigkeit global umsetzen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesordnungspunkt 4) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Dr. Matthias Miersch (SPD) Michael Kauch (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen (Tagesordnungspunkt 12) Veronika Bellmann (CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU) Michael Groß (SPD) Oliver Luksic (FDP) Sabine Leidig (DIE LINKE) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tagesordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD) Christian Ahrendt (FDP) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen – EURATOM auflösen (Tagesordnungspunkt 14) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Marco Bülow (SPD) René Röspel (SPD) Heinz Golombeck (FDP) Alexander Ulrich (DIE LINKE) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen – Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten der Kommunen im Grundgesetz verankern – Antrag: Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Tagesordnungspunkt 15 a bis c) Peter Götz (CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Pascal Kober (FDP) Katrin Kunert (DIE LINKE) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern (Tagesordnungspunkt 16) Erika Steinbach (CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD) Serkan Tören (FDP) Annette Groth (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 130. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Beginn: 9.01 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zur 130. Sitzung des Bundestages. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Haltung der Bundesregierung zur Frage einer Umlenkung von Verkehrsinvestitionsmitteln des Bundes für die Autobahn A 100 auf andere Verkehrsprojekte des Bundes in Berlin (siehe 129. Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Naturlandschaft Senne schützen – Militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes nach Abzug der Briten beenden – Drucksache 17/4555 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen – Drucksache 17/7190 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Steuerabkommen mit der Schweiz und damit zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen – Drucksache 17/7182 – Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunk-te 7 und 9 zu tauschen. Morgen sollen der Tagesordnungspunkt 31 abgesetzt und der Tagesordnungs-punkt 33 an diese Stelle vorgezogen werden. Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen – Drucksache 17/5707 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen einverstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus – Drucksache 17/6916 – Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) – Drucksachen 17/7067, 17/7130 – Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider (Erfurt) Otto Fricke Roland Claus Priska Hinz (Herborn) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäischer Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken – Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130 – Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider (Erfurt) Otto Fricke Roland Claus Priska Hinz (Herborn) Zu dem Gesetzentwurf, über den wir später namentlich abstimmen werden, liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke, ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch darüber scheint es keine Meinungsverschiedenheiten zu geben, sodass wir so verfahren können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir entscheiden unter diesem jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkt über ein Projekt, das nicht wenige für das wichtigste einzelne Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode halten. Ihm kommt tatsächlich überragende Bedeutung zu, sowohl mit Blick auf die wirtschaftlichen und finanziellen Größenordnungen als auch mit Blick auf die exemplarische neue Regelung parlamentarischer Mitwirkung bei einem Vorgang, der bislang typischerweise in die exekutive Zuständigkeit fiel. Darüber ist nun wochenlang in den verschiedensten Gremien des Bundestages und in den Fraktionen verhandelt worden. Es wird nicht wirklich überraschen, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen mit dieser Entscheidung sehr schwergetan haben. Das wird sicher auch in der Diskussion deutlich werden. Ich weise deswegen schon jetzt darauf hin, dass über diese gerade vereinbarte Redezeit hinaus einzelne Kolleginnen und Kollegen, die deutlich machen wollen, warum sie für sich am Ende zu einer anderen Abwägung gekommen sind, als es die überwiegende Auffassung der jeweiligen Fraktion ist, das während dieser Debatte tun können. Damit folgen wir sowohl unserem Selbstverständnis wie den Regelungen, die wir in unserer Geschäftsordnung dafür vorgesehen haben. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute fällen wir im Deutschen Bundestag eine wichtige Entscheidung, eine wichtige Entscheidung für die Zukunft unseres Landes und für die Zukunft Europas. Wir fällen nicht nur eine inhaltliche Entscheidung, sondern – der Präsident hat es angesprochen – es findet heute auch ein kleiner, aber doch sehr bedeutender Paradigmenwechsel statt. Man kann sagen: Von einem Europa der nationalen Regierungen, die in den Räten beieinandersitzen, sind wir auf dem Weg zu einem Europa der Parlamente. Eine solche Parlamentsbeteiligung, wie wir sie heute beschließen, hat es bei Aufgaben, die zunächst einmal rein als Regierungshandeln gesehen wurden, im Deutschen Bundestag noch nie gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Selbst über das, was wir im Zusammenhang mit dem Einsatz der Bundeswehr beim Parlamentsbeteiligungsgesetz gemacht haben, gehen wir heute weit hinaus. Bisher lief Parlamentsbeteiligung immer so ab: Die Regierung hat einen Antrag vorgelegt, und wir haben dazu Ja oder Nein gesagt, oder die Regierung hat verhandelt und uns Ergebnisse mitgeteilt. Heute beschließen wir, dass wir zunächst darüber entscheiden, wie sich die Vertreter unserer Regierung in den jeweiligen Gremien zu verhalten haben. Das ist etwas ganz Neues. Es stärkt die Rechte des Parlaments und geht weit über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt hat. Das heißt, die ganz bedeutenden Fragen „Wer kann unter einen Schutzschirm kommen?“, „Wie sieht Hilfe aus?“ und „Welche Bedingungen verlangen wir dafür, dass wir Hilfe gewähren?“ werden in Zukunft hier im Deutschen Bundestag entschieden, und das ist auch richtig so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klar ist, dass es für uns nicht einfacher wird. Wir müssen die Themen im Deutschen Bundestag inhaltlich beraten. Es kann sein, dass wir sehr schnell entscheiden müssen; denn bestimmte Entscheidungen lassen nicht auf sich warten. Dies alles wissen wir. Dazu sind wir bereit. Ich möchte sagen: Wir wissen sehr wohl, dass schnelle Entscheidungen intensivere Beratungen erfordern. Aber eines ist klar: Eine Beratung, die mehrere Monate dauert, führt nicht immer zu besseren Ergebnissen als eine schnellere Beratung, wenn sie intensiv durchgeführt wurde. Ich kann nur sagen: Das, was wir heute vorlegen, ist das Ergebnis eines intensiven Beratungsprozesses, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das stimmt!) sowohl was die Beteiligungsrechte als auch was die inhaltliche Seite anbelangt. Ich möchte auch feststellen: Es war ein Prozess, in dem jeder die Gelegenheit und Möglichkeit hatte, sich einzubringen, seine Fragen zu stellen und sich zu beteiligen. Es war ein guter Gesetzgebungsprozess, ein gutes Gesetzgebungsverfahren. Wir fühlen uns von niemandem überfahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen: Zu manch einer Äußerung, die ich in diesen Tagen gelesen habe – es hieß zum Beispiel: Regierung überfährt Parlament –, und zu all dem, was ich so höre, kann ich nur sagen: Es sollte sich bitte niemand täuschen. Wir sind selbstbewusst genug, um unsere Rechte wahrzunehmen. Deswegen haben wir auch großen Wert darauf gelegt, dass nicht die Regierung uns einen Vorschlag zur Parlamentsbeteiligung macht, sondern dass wir dies selber tun. Diesen Anspruch haben wir: Wir sind ein selbstbewusstes Parlament und nehmen unsere Rechte wahr, so wie wir es für richtig und notwendig erachten, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn man sich die Äußerungen mancher Wirtschaftsverbände in den letzten Tagen vor Augen führt, wird klar und deutlich, dass es heute um mehr als nur um die Ertüchtigung bzw. Erweiterung eines Rettungsschirmes in Europa geht. Vielmehr geht es hier tatsächlich um unsere Zukunft. Es geht um Arbeitsplätze. Es geht um Perspektiven, vor allem die der jungen Generation. Wir haben in unserer Generation, der ersten Nachkriegsgeneration, Europa als eine große Friedensversicherung angesehen, und wir haben damals gesagt: Wir müssen in Europa zusammenkommen und eng zusammenarbeiten, damit es in Europa nie wieder kriegerische Auseinandersetzungen gibt. – Diesen Anspruch, den wir in unserer jungen Generation damals hatten, haben wir erfüllt. Dieses Europa ist ein friedliches Europa und hat damit die Voraussetzung für Sicherheit und Wohlstand geschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieses Zusammenwachsen in Europa und dieses „Nie mehr Krieg in Europa“ waren die existenziellen Voraussetzungen dafür, dass wir es in Europa zu Wohlstand gebracht haben. Die heutige junge Generation wird mit dem Satz „Nie mehr Krieg in Europa“ nur relativ wenig anfangen können. Sie wird ihn bestätigen und sagen: Das ist ja in Ordnung. – Für die jetzige junge Generation bedeutet Europa eine Perspektive und die Möglichkeit, überall in Europa arbeiten, leben und sich ausbilden lassen zu können. Das heißt, mit diesem Europa können wir im Wettbewerb auf der Welt vorankommen. Schauen wir uns doch einmal die Situation an. Es gibt große starke Zentren in Asien: in China, in Indien. Selbst ein starkes Deutschland wäre zu schwach, um einen Wettbewerb mit ihnen aufzunehmen. Deswegen haben wir in unserer heutigen Zeit ein existenzielles nationales Interesse an der Stabilität in Europa und an der Stabilität des Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heute geht es darum, dass wir ein Instrument verbessern bzw. schärfen, das wir brauchen, um Probleme in Europa lösen zu können. Um dies auch den Menschen zu sagen, die uns heute zuhören: Es geht nicht um Griechenland und um die Auszahlung von Geld an Griechenland, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein wahres Wort!) sondern es geht schlicht und ergreifend darum, dass wir einen Schutzschirm spannen können, dass wir denjenigen, die Schwierigkeiten haben bzw. in Schwierigkeiten geraten sind, unterstützend helfen und dass wir dafür sorgen, dass andere nicht angesteckt werden. Dies ist in unserem deutschen nationalen Interesse. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir sorgen vor, damit wir mit unserer Wirtschaftskraft in keiner Situation unter Druck kommen. Bei manchen Äußerungen, wie zum Beispiel „Was lädt Deutschland sich hier auf?“, kann ich nur sagen: Wir sorgen dafür, dass wir unsere nationale Produktionskraft erhalten können. Wir sind in Europa noch immer die Produktionsnation und müssen dafür sorgen, dass das auch so bleibt und dass unser Mittelstand ausreichend mit Kapital versorgt werden kann. Deswegen haben wir ein nationales Interesse an der Stabilität unserer Banken. Natürlich ist dies nur ein erster Schritt, und natürlich haben all diejenigen recht, die sagen: Wir müssen aber auch Instrumente finden, mit denen es uns möglich ist, Länder, die in Schwierigkeiten gekommen sind, zu restrukturieren und ihnen eine Perspektive zu geben. – Genau dies haben wir in einem weiteren Schritt vor, nämlich bei dem sogenannten ESM, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir werden dafür sorgen, dass die Privaten noch stärker daran beteiligt werden; wir werden Instrumente dafür schaffen, dass Länder, die in Schwierigkeiten gekommen sind, mit Perspektive restrukturiert werden können, und wir werden dafür sorgen, dass auch Kontrollen und Überprüfungen schärfer werden. Ich habe mich sehr gefreut, dass im Europäischen Parlament einen Tag vor dieser Diskussion heute im Deutschen Bundestag ganz entscheidende und wegweisende Dinge vorangebracht wurden, die zu einer schärferen Kontrolle und besseren Struktur führen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Widerstand der Bundesregierung! Jetzt freuen Sie sich schon über Ihre Niederlagen!) Dazu kann ich nur sagen: Diejenigen, die behaupten, es bewege sich in Europa nichts zum Positiven, können einen Blick auf das werfen, was gestern im Europäischen Parlament geschehen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir können unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament dazu nur gratulieren, dass dies geschehen ist. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie gratulieren ihnen dafür, dass sie sich gegen die Bundesregierung durchgesetzt haben!) – Lieber Herr Trittin, was Sie – das gilt auch für die SPD – in den letzten Tagen geboten haben, ist schon besonders bemerkenswert. Auf bestimmte Anzeigen, die sich hart an der Grenze dessen bewegen, was man sich in einer Demokratie noch erlauben kann, will ich gar nicht zu sprechen kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit Steuergeldern, die für Fraktionsarbeit vorgesehen sind, solche Anzeigen zu schalten, ist nicht in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, um das mal klar zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Endlich reden Sie mal mit uns! Gott sei Dank haben Sie sich in Ihrer Rede jetzt mal an uns gewandt!) Herr Kollege Trittin, es ist durchaus richtig, wenn wir jetzt sagen: In einer solchen Situation sind wir uns unserer Verantwortung bewusst. – Das wird auch von Ihnen und von der SPD – wenn Sie heute zustimmen – so formuliert. Aber so zu tun, als ob Sie dabei nie ein Erkenntnisproblem gehabt hätten, ist schon bemerkenswert. Bei den Euro-Bonds rotierten Sie herum: Zunächst einmal hat Herr Steinbrück im Jahr 2010 gesagt, dass es sie auf gar keinen Fall geben dürfe. Dann hat er gesagt: Ja. – Sie haben auch mitgemacht. Ja, nein, ja. – Ich kann nur sagen: Bei uns war die Position klar: keine Vergemeinschaftung von Schulden. Wir waren immer gegen Euro-Bonds. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Wenn man erwischt wird, wie man rumeiert, nutzt auch ein doofes Geschrei nichts, meine sehr verehrten Damen und Herren auf der linken Seite des Hauses. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden heute einen wichtigen Beitrag für unser Land, für die Zukunft Europas und für die Stabilität des Euro leisten. Wir werden heute, abgestimmt mit dem Deutschen Bundestag, einen Beitrag leisten, der unserer Regierung bei den schwierigen Verhandlungen, die auf europäischer Ebene stattfinden werden, den Rücken stärkt. Heute werden wir sicherlich eine breite Zustimmung im Deutschen Bundestag, aber auch in unserer Koalition haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die heute eine andere Auffassung haben. (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!) Aber wir werden zeigen, dass diese Koalition handlungsfähig ist und die Probleme, die auf sie zukommen, sachgerecht lösen kann. (Sigmar Gabriel [SPD]: Und die Sie sich selber schaffen, auch?) Wir werden zeigen: Deutschland ist bei dieser Koalition in guten Händen, Europa auch. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Peer Steinbrück (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gegen den ersten Teil Ihrer Rede, Herr Kauder, habe ich nicht viele Einwände. Ich hatte nur den Eindruck, dass das eine Rede war, die eher auf die Fraktionsebene – in den Fraktionssaal der CDU/CSU – gehörte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Den zweiten Teil mit dem leichten Florettangriff gegen meine Fraktion vergessen wir schnell. Bezogen auf meine Einwendungen und meine Position zu den Euro-Bonds haben Sie sich im Datum geirrt. Ich bin vor Ausbruch der Krise innerhalb der Währungsunion in der Tat gegen Euro-Bonds gewesen, aber nicht mehr in der Phase, als Euro-Bonds gegebenenfalls unter bestimmten Bedingungen, unter einer gewissen Konditionalität – – (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah!) – Das ist doch nichts Neues für Sie. Entschuldigen Sie bitte. Sie lesen doch meine Interviews genauso wie ich Ihre. Also vergessen Sie es! Und ich will mich davon nicht ablenken lassen. Ich will mit der Bemerkung beginnen, dass wir es, wie ich glaube, gemeinsam in diesem Haus – damit meine ich das gesamte politische Spektrum – versäumt haben, den Menschen unseres Landes rechtzeitig eine neue Erzählung von und über Europa zu liefern. Stattdessen haben wir Europa in den vergangenen Jahren in unseren Beiträgen sehr stark reduziert: auf eine Währungsunion, einen Binnenmarkt, eine Dienstleistungsrichtlinie. Wir haben die Menschen mit finanztechnischen Begriffen und Abkürzungen überflutet und sind selten in der Lage gewesen, uns selbst und vor allen Dingen den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes die Komplexität dessen darzustellen, was in Europa passiert. Wir haben Europa auf eine intergouvernementale Veranstaltung von 26 Männern und Frau reduziert. Wir haben gleichzeitig einer Entwicklung Vorschub geleistet, dass sich die Europäische Kommission in dem einen oder anderen Fall Kompetenzen aneignete, die eigentlich nicht auf ihre Ebene gehörten, sondern in den nachgelagerten Ebenen sehr viel besser hätten organisiert werden können. Das fängt bei dem Krümmungsgrad der Salatgurke an, geht über Regelungen zur Glühbirne bis hin zu Eingriffen in den ÖPNV. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch abgeschafft! Handelsklassen sind abgeschafft!) Jacques Delors hat darauf hingewiesen, dass wir über diese Debatten andere Themen verdunkelt haben. Über die Beschäftigung mit der Währungskrise haben wir die Themen verdunkelt, welches Verhältnis Europa zu den USA hat, zu Russland hat, wie ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept aussieht, wie das soziale Europa aussieht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass heute viele Menschen eher ein gewisses Unverständnis gegenüber dem, was auf der europäischen Ebene passiert, ja Skepsis, gegebenenfalls sogar gewisse Ressentiments haben. Einige dieser Ressentiments werden entweder durch naive oder unbedachte Äußerungen, auch aus dem Regierungslager, eher geschürt als abgebaut. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Also müssen wir über Europa eine Neuerzählung entwickeln. Diese Neuerzählung beginnt dort, wo Herr Kauder im ersten Teil seiner Rede gewesen ist. Diese Neuerzählung über Europa beginnt in einer kleinen Kirche in Cornwall, in einer kleinen Kirche in der Bretagne oder in einer kleinen Kirche in der Altmark, wo man Gedenktafeln sieht – das sage ich insbesondere denjenigen der jüngeren Generation, die uns zuhören –, und zwar mit den Namen der Toten aus den Kriegen von 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945. Auf diesen Gedenktafeln sind die Namen von Familien zu lesen, deren Ehemänner und Kinder in diesen Kriegen verheizt worden sind. Das heißt, in einer historischen Rückbetrachtung ist dieses Europa die Antwort auf 1945. Es ist nicht deutlich genug zu machen, dass seit 1945 und danach diejenigen, die mit der europäischen Integration begannen, Schuman, Monnet, De Gasperi, auch Adenauer, in einem privilegierten – – (Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem Adenauer, heißt das! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) – Sind Sie nicht in der Lage, einem solchen Redebeitrag einigermaßen ruhig zu folgen? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Wie nervös müssen Sie eigentlich sein, dass Sie eine solche Formulierung zum Anlass für Einlassungen nehmen? (Beifall bei der SPD) Mit Beginn dieses europäischen Projektes Anfang der 50er-Jahre durch die Namen, die ich nannte, bewegen wir uns in einem privilegierten Ausnahmezustand, jedenfalls gemessen an der europäischen Geschichte. Das ist das eine. Das andere ist, dass dieses Europa die Antwort auf das 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund ist, dass sich global ökonomische und politische Machtverhältnisse verändern. Wenn wir die Vorstellung haben, dass Deutschland in Europa in einer Alleinstellung diesen globalen Veränderungen, den Machtverschiebungen, den neuen Schwergewichten, gewachsen sein könnte, dann täuschen wir uns selber. Aber Europa ist mehr als das. Europa ist Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, die Tatsache, dass man die Regierung verklagen kann. Europa ist Freizügigkeit, Medien- und Pressefreiheit. Europa ist kulturelle Vielfalt. Europa ist so, dass niemand nachts Angst haben muss, dass jemand an der Tür klingelt und einen abführt. Vor dem Hintergrund dieser Qualitäten, insbesondere der Medien- und Pressefreiheit, ist es umso beschämender gewesen, dass weder die Europäische Kommission noch der Europäische Rat noch die nationalen Parlamente gegen die ungarische Pressegesetzgebung so aufgetreten sind, wie dies notwendig gewesen wäre. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es bleibt hinzuzufügen, dass es ohne das Einvernehmen und die Zustimmung unserer europäischen Nachbarn keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte. Es bleibt schließlich auch hinzuzufügen – was Sie ja alle wissen –, dass dieses Europa mit einem Bruttosozialprodukt von über 12 Billionen Euro und über 500 Millionen Menschen einen ökonomischen Stellenwert hat. All dies ist Europa. Das ist der Hintergrund – wenn Sie so wollen: der Überbau – für die heutigen und kommenden Beschlüsse, an denen wir uns orientieren sollten. Sie, Frau Bundeskanzlerin werden den Vorwurf ertragen müssen, dass Sie diesen Hintergrund für unsere Bürgerinnen und Bürger nicht hinreichend beleuchtet haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein Leitgedanke, eine Perspektive oder eine Strategie auch unter Einschluss eines Planes B oder C ist seit Beginn der Krise in der europäischen Währungsunion vor ungefähr anderthalb Jahren, im Frühjahr 2010, nicht erkennbar. Sie haben mindestens lange Zeit versäumt, den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu erklären, warum und dass die Bundesrepublik Deutschland einen bedeutenden und auch belastenden Beitrag zur Stabilisierung Europas leisten muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben Europa politisch nach innenpolitischen Stimmungslagen und innerparteilichen Rücksichtnahmen betrieben. Sie haben laviert, unglaubwürdige Dementis abgegeben, mehrfache Volten geschlagen und nach Ihren europäischen Arien in Brüssel manchmal auch deutschtümelnde Volkslieder, nicht nur im Sauerland, gesungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Widersprüche innerhalb des Regierungslagers und innerhalb Ihrer eigenen Fraktion sind offensichtlich. Es sind nicht nur Widersprüche; es sind klaffende Risse. Ihr Satz, Frau Merkel, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ ist ja nicht falsch; denn uns allen ist bewusst, dass in dem Fall, dass der Euro scheitert, automatisch auch die europäische Integration um zwei Jahrzehnte zurückgeworfen wird und einer monetären Renationalisierung selbstverständlich auch eine politische Renationalisierung zulasten Europas folgt. Dieser Satz von Ihnen ist also richtig. Nur: Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sieht diesen Zusammenhang im Gegensatz zu Ihnen nicht. Er glaubt auch nicht, dass eine Stärkung der europäischen Institutionen mit zusätzlichen Kompetenzen etwas zur Lösung der aktuellen Krise beitragen könnte. Tatsächlich? Sie und wir reden aber mit Blick auf die rigidere Koordinierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik, auf eine makroökonomische Überwachung, auf den Abbau der Staatsverschuldung und auf mögliche Sanktionen über nichts anderes als über eine Stärkung der europäischen Institutionen und ihrer Kompetenzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Will sagen: In welchem Orbit zieht Herr Seehofer eigentlich seine Umlaufbahnen? (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: In einem kleineren sicherlich! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischen Chiemsee und Starnberger See!) Wie passt das zu Ihrer Position? Ich habe übrigens gestern in München erfahren, dass Herr Seehofer zusammen mit Frau Stamm, der Präsidentin des Bayerischen Landtages, Anfang dieser Woche eine Pressekonferenz gegeben hat, in der sie signalisierten, heute in der Abstimmung dem Gesetzentwurf zuzustimmen, aber ab morgen erklären zu wollen, warum das nicht so gemeint sei. Warten wir also die morgigen Erklärungen ab. Ihre Medizin, Frau Bundeskanzlerin, Zeit zu kaufen, indem mit Hilfskrediten der Kapitaldienst Griechenlands und anderer finanziert wird, und Griechenland parallel dazu einer radikalen Diätkur zu unterziehen, mit der das Land dann sehen soll, wie es wieder auf die Beine kommt, ist gescheitert. Der erste Teil stellt sich als Placebo dar, und der zweite Teil, die Diätkur, als eine lebensgefährliche Angelegenheit für Griechenland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Ansatz, Zeit zu kaufen, ist übrigens auch deshalb gescheitert, weil die Zeiten immer schlechter geworden sind, seit Sie vor anderthalb Jahren damit begonnen haben. An die doppelte Medizin glauben übrigens weder die Märkte noch die Menschen, weder die Menschen bei uns noch die Menschen in Griechenland. Es ist an der Zeit, dass die Politik die Bürger auch nicht mehr glauben zu machen versucht, dass dies eine Lösung sei und dass diese Strategie verfangen könnte. Griechenland wird aus eigener Kraft auf absehbare Zeit nicht mehr zu einigermaßen verträglichen Konditionen an die Kapitalmärkte zurückkehren können. Das ist die nackte Realität. Die bloße Finanzierung seines Kapitaldienstes ändert rein gar nichts an der fundamentalökonomischen Voraussetzung dafür, jemals wieder Wind unter die Flügel zu bekommen, und der Rausschmiss aus der Währungsunion, der übrigens verfahrensrechtlich gar nicht vorgesehen ist, auch nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eine Diät à la Brüning’scher Notverordnungen, über die der Wirtschaftsmotor mit massiven Folgen für das griechische Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt abgewürgt wird, bringt den Patienten endgültig auf das Lager und nicht mehr auf die Beine. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Ertüchtigung, die Mandatserweiterung des temporären Rettungsschirms mit dem Kürzel EFSF und die Umsetzung des gestern in der Tat lobenswerterweise vom Europäischen Parlament verabschiedeten sogenannten Sixpacks, also verschiedener Vorschläge der Europäischen Kommission, sind ein richtiger Schritt. Auf die Darstellung von Einzelheiten verzichte ich in der Annahme, dass uns allen das geläufig ist. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Die Annahme ist falsch!) Die SPD wird daher unbenommen ihrer grundsätzlichen Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung aus einer übergeordneten Verantwortung für die Gesetzesänderung stimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die mit dieser Gesetzesänderung verbundene Einigung über die Beteiligungsrechte des Bundestages im Vorfeld von Entscheidungen des Managements über diesen Fonds tragen wir ebenfalls mit. Diese Rechte stellen eine Stärkung der parlamentarischen Beteiligung dar, wie sie den Vorgaben der beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Richtig ist allerdings auch: Wir stimmen heute über notwendige Schritte ab, die dazu dienen, die Europäische Währungsunion zu stabilisieren. Hinreichend sind sie nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will Ihnen die Reden und die Zitate von Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und mir sowie anderen Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion nicht aufzählen, (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist auch besser so!) in denen wir Ihnen seit anderthalb Jahren Vorschläge gemacht haben, aus denen hervorgeht, wie eine umfassendere und tiefgreifendere Strategie zur Stabilisierung der Euro-Zone aussehen könnte. Kommen Sie mir nicht immer wieder, Herr Kauder, mit den ewigen Hinweisen – diesen von Ihnen selbst geklebten Pappkameraden, die Sie dann hier theatralisch erwürgen –, die die Schuldenunion betreffen, in die die SPD dieses Land hineinjagen will. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau so!) – Überhaupt nicht! Sie können überall nachlesen, was wir formuliert haben. – Diese Hinweise sind nichts anderes als Ausdruck Ihrer eigenen Ratlosigkeit und vor allem Ihrer Unwahrhaftigkeit, weil Sie längst den Weg in eine Haftungsunion beschritten haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Sie haben diesen Weg in eine Haftungsunion durch das Versagen des Europäischen Rates im Mai 2010 beschritten, wo die EZB zu einem Ersatzakteur gemacht bzw. genötigt wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, wird inzwischen intern – zumindest in der Regierung, jedenfalls am Rande des Treffens des IWF – eine weiter gehende Instrumentalisierung der Europäischen Zentralbank und über mögliche Hebelwirkungen des Rettungsfonds debattiert. Ich bin gespannt, ob dies heute im Rahmen dieser Debatte offen angesprochen wird, weil das im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten der beiden Regierungsfraktionen sehr delikat werden könnte. Im Übrigen hat Frau Merkel den Finger zugunsten einer weiteren Haftungsgemeinschaft gehoben, als sie am 21. Juli der Mandatserweiterung des Rettungsfonds zustimmte, die zum Inhalt hat, dass dieser auch auf den Sekundärmärkten, also direkt von Banken, Staatsanleihen aufkaufen darf. Frau Merkel, wenn ein Land seine Staatsanleihen nicht zurückzahlen kann: Können Sie dem Publikum erklären, wer dann haftet? Würden Sie mir zustimmen, dass die Bundesrepublik Deutschland pro rata mit 27 Prozent an einer solchen Haftungsgemeinschaft beteiligt ist? Ist es nicht an der Zeit, dies offen darzulegen und die Menschen dementsprechend zu informieren? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Steht doch im Gesetz!) Mit dem bisherigen Krisenmanagement kommen wir jedenfalls nicht aus. Auch das Sixpack wird nicht reichen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir, bezogen auf Griechenland, an einem Schuldenschnitt unter Einbeziehung der Gläubiger nicht vorbeikommen. Warum nehmen Sie nicht das ziemlich einhellige Urteil der Fachwelt zur Kenntnis, wonach wir an einem solchen Schuldenschnitt nicht vorbeikommen? Wir reden längst nicht mehr über das Ob, sondern darüber, wie, wann und unter welcher Begleitung mögliche Kollateraleffekte minimiert werden können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang wird es um die Rekapitalisierung von Banken gehen; das ist richtig. Aber ich würde gerne Stichworte aufgreifen, die wir schon früher genannt haben. Es ist an der Zeit, grenzüberschreitend in Europa auch ein Verfahren für eine Bankeninsolvenz vorzusehen, sodass einige Banken geordnet abgewickelt werden können. Dies ist eine Antwort auf die leidige Problematik des „too big to fail“ oder die Erpressbarkeit, der die Politik unterliegt, indem sich Banken als systemrelevant immunisieren, mit dem Ergebnis, dass die Steuerzahler anschließend zahlen müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Griechenland wird ein wirtschaftliches Hilfsprogramm benötigen, um die realökonomischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, um wieder Überschüsse zu produzieren. Wo ist dieser Ansatz aufgegriffen worden? Wer ergreift die Initiative, die europäischen Strukturfonds, den Kohäsionsfonds und gegebenenfalls auch das Aufkommen aus einer Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte zu benutzen, um Länder wie Griechenland wettbewerbsfähiger zu machen? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen einen verbindlichen Fahrplan zum Abbau der Staatsverschuldung. Die EZB muss auf ihre alleinige geldpolitische Funktion zurückgeführt werden, und sie darf nicht mehr fiskalpolitisch instrumentalisiert werden, wie es in den letzten anderthalb Jahren der Fall war. (Beifall bei der SPD) Finanzmarktgeschäfte sind zu besteuern, gegebenenfalls auch im Konvoi von den kontinentaleuropäischen Ländern, die dazu bereit sind. Ich finde es bemerkenswert, dass die Europäische Kommission mit Blick auf die Besteuerung von Finanzmarktgeschäften inzwischen ehrgeiziger ist als diese Bundesregierung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es geht darum, die Wachstumsstrategie Europa 2020 zu konkretisieren und Sorge dafür zu tragen, dass sie nicht ebenso scheitert wie die Lissabon-Strategie für das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Es geht darum, die Wirtschafts- und Fiskalpolitik sehr viel rigider zu koordinieren, jedenfalls damit anzufangen, bevor man lange über die Einführung einer Wirtschaftsregierung räsoniert. Es geht darum, Steuerdumping, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das Thema der Regulierung der Finanzmärkte gehört dringend wieder auf die Tagesordnung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will eine abschließende Bemerkung machen. (Zurufe von der CDU/CSU: Das ist gut!) – Mein Gott, dieses rituelle Echo, das ich von der CDU/ CSU bekomme! (Zurufe von der CDU/CSU) Es könnte sein, dass hinter der Finanzkrise weit mehr noch eine politisch-legitimatorische Krise liegt. Die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft, dass Risiko mit Gewinn belohnt, aber dass Verspekulieren mit Ruin bestraft wird, gilt offenbar nicht mehr. Haftung und Risiko fallen auseinander, Gewinne werden privatisiert, Verluste werden sozialisiert. Die Verursacher der Krise werden nicht an der Finanzierung der Folgekosten beteiligt, weil sie sich, wie ich gesagt habe, als systemrelevant immunisiert haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Das haben Sie doch gemacht!) Die Politik erscheint nicht mehr als Handelnder, sondern als Getriebener. Ich erinnere an die Daumenbewegungen, die Ratingagenturen vollführen. Täuschen wir uns nicht: Das prägt die Wahrnehmung von vielen Menschen und ihr Verhältnis zu Staat und Politik. Der Journalist Cordt Schnibben hat in einem Artikel geschrieben: „Die ideologischen Folgen des monetären Kollapses sind dauerhafter als die wirtschaftlichen, …“. – Das könnte sein. Das Paradigma der Deregulierung, die Fixierung auf Quartalsbilanzen, die Margenmaximierung und die Verachtung der alten Deutschland AG haben einem ungezähmten Kapitalismus Raum gegeben. Dieser neigt zu Exzessen, er neigt zur Zerstörung von Vermögen, und er erschüttert auch die Ideale der Demokratie. (Beifall bei der SPD) Was wir jetzt erleben – das müsste eigentlich die beiden Regierungsfraktionen beschäftigen –, greift auch das bürgerlich-liberale und das konservative Selbstverständnis von Haftung und Risiko, Belohnung und Bestrafung, Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, Maß und Mitte an. Es sind Ihre Wählerinnen und Wähler, die davon betroffen sind. Vielleicht waren es Ihre Wähler. Diese wollen heute jedenfalls nicht, dass Sie ihnen das Ideal des Modells Irland wie eine Monstranz vorhalten, und können wahrscheinlich mit der Beschlusslage des Leipziger Parteitags der CDU als Antwort auf die jetzige Situation auch nicht mehr so viel anfangen. Das eindimensionale Programm der FDP – weniger Staat, mehr Markt, weniger Steuern – ist jedenfalls eine Beschädigung der Handlungsfähigkeit des Staates und wirkt nicht nur angesichts dieser Finanzkrise und Staatsverschuldung anachronistisch, die Wähler bewerten es auch zunehmend als anachronistisch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen geben weder die Einsicht noch die Kraft zu erkennen, das Krisenmanagement von einem Durchlavieren in einen umfassenderen Lösungsansatz zu überführen. Ich wette, Sie werden den Deutschen Bundestag weiterhin scheibchenweise mit Fortsetzungskapiteln konfrontieren. Sie haben weder die Einsicht noch die Kraft, zu erkennen, dass das, was über den ungezähmten Finanzkapitalismus stattfindet, durchaus zu einer sozialen Entfremdung in dieser Gesellschaft beitragen könnte. Ihnen und Ihrer Regierung, Frau Bundeskanzlerin, fehlt in Zeiten der Gefahr die wichtigste politische Qualität: Vertrauen. Vertrauen erwächst aus Überzeugung und Begründung, aus Konsistenz und Erkennbarkeit. Aber genau daran fehlt es dieser Regierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vor diesem Hintergrund geraten Ihre großen Sprechblasen – „Herbst der Entscheidungen“, „Jahr des Vertrauens“ und „die geistig-moralische Wende“ – zu einer sehr bitteren Pointe. Nach dem chinesischen Kalender befinden wir uns im Augenblick im Jahr des Hasen. Nach meiner Wahrnehmung vermittelt diese Regierung auch genau diesen Eindruck. Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat: Die Welt sortiert sich neu. Dies ist kein europäisches Zeitalter mehr. Zwei Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums stammen von Schwellenländern, etwa China, Indien, Brasilien und Russland. Europa muss sich in diesem verschärften weltweiten Wettbewerb neu aufstellen. Ich teile die Einschätzung, dass Europa für uns Staatsräson ist. Deutschland darf sich nie wieder singularisieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir brauchen Europa, aber wir müssen es richtig machen. Jetzt geht es darum, dass wir die Wirtschaftskraft Europas schützen und stärken. Auch müssen wir unsere Währung schützen und stabil halten, damit Europa eine gute Perspektive hat. Eine Lehre der Geschichte ist: Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. – Auch das haben wir in der deutschen Geschichte gehabt: von Hyperinflation über Massenarmut bis hin zum Krieg und den fatalen Fehlentwicklungen in Deutschland. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deshalb ist unsere Mitgift für die europäische Zukunft die deutsche Stabilitätskultur. Deswegen schaffen wir die EFSF als einen Zwischenschritt hin zu einem dauerhaften Mechanismus. Die Kriterien, die wir damals mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt – eine Wirtschafts- und Währungsunion, keine politische Union! – auf den Weg gebracht haben, wurden gerissen: als Erstes von Rot-Grün in Deutschland, aber auch von Frankreich. Die Kriterien wurden in der Summe 68-mal gerissen. Aber Konsequenzen und Sanktionen gab es nie. Deshalb müssen wir einen Stabilitätspakt II schaffen. Das, was wir heute beschließen, ist der Zwischenschritt auf dem Weg dahin, einen Stabilitätspakt II zu schaffen und zu gestalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Entscheidend ist, dass man Regeln hat, die eingehalten werden. Europa kann und muss rechtsstaatlich sein. Aber Rechtsstaatlichkeit heißt auch, dass man vereinbarte Regeln einhält. Die Realität darf nicht sein, dass man Beschlüsse fasst und Verträge schließt, die nicht eingehalten werden. Deshalb müssen wir dies neu ausrichten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir brauchen quasi Automatismen. Herr Steinbrück, Sie haben sich zu dem bekannt – Stichwort „Sixpack“ –, was gestern im Europaparlament beschlossen wurde. Aber Sie wissen, dass Ihre Genossen und auch die Grünen dagegen gestimmt haben. Sie haben es abgelehnt, die Stabilität in Europa zu stärken. Als es ernst wurde, haben sie sich mal wieder vom Acker gemacht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eines hat Rot-Grün in Europa beschlossen: Wenn Deutschland Exporterfolge hat, dann müssen wir sie in der Makroökonomie zurückführen. Erklären Sie einmal den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betriebsräten und den Gewerkschaften, dass wir unsere Erfolge, die wir aufgrund von Fleiß und Anstrengungen erreicht haben, einseitig zurückführen müssen. Das ist Ihre Politik. Das müssen Sie den Arbeitnehmern in Deutschland einmal erklären. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In den Worten hart, in den Taten weich: Das erinnert an Ihren Umgang mit dem Stabilitätspakt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deshalb ist es entscheidend, dass es nationale Schuldenbremsen gibt und private Gläubiger beteiligt werden, dass es Tests für Wettbewerbsfähigkeit und Elemente einer staatlichen Insolvenzordnung gibt und dass die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank – Herr Steinbrück, da haben Sie recht – wiederhergestellt wird. Ihre Aufgabe ist Geldpolitik und nicht Fiskalpolitik. Deshalb schaffen wir heute dieses Instrument, damit diese Fehlentwicklung bei der Europäischen Zentralbank, die Gelddruckmaschine an der falschen Stelle einzusetzen, gestoppt wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch zu verantworten!) Volker Kauder hat zu Recht herausgestellt, dass durch unsere Beratungen etwas Modellhaftes für Europa entstanden ist, nämlich eine umfassende Parlamentsbeteiligung. Vielleicht werden noch andere Länder unserem Beispiel folgen. Ohne den Willen Deutschlands, ohne den Willen des deutschen Parlaments wird es eine Auszahlung von weiteren Mitteln nicht geben. Die klare Botschaft ist: Der Souverän, die Vertretung des Volkes, entscheidet darüber. Das ist auch richtig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir müssen doch allem, worüber im Dunstkreis von Tagungen aufgeblasen diskutiert wird, klar entgegentreten. Der Rettungsschirm darf nicht zu einer Investmentbank werden – Stichwort „Hebelwirkung“. Warren Buffett hat die Hebelprodukte als Massenvernichtungswaffen bezeichnet. Dieser Unfug muss unterbleiben. Wir sollten diesen Versuchungen widerstehen. (Peer Steinbrück [SPD]: Ja!) Wenn wir anders handeln würden, Herr Steinbrück, dann kämen wir auf die schiefe Ebene. Da sind wir einer Meinung. (Peer Steinbrück [SPD]: Das müssen Sie anderen sagen!) – Nein, Herr Schäuble hat sich dazu klar geäußert. Ich habe heute Morgen im Deutschlandfunk gesagt: Einem ehrenwerten Finanzminister wie Wolfgang Schäuble zu unterstellen, dass er hier tarnt und täuscht, ist unredlich. Dieser Mann ist in Ordnung und hat unsere volle Unterstützung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So weit ist es schon!) – Herr Trittin, Sie haben Deutschland das Dosenpfand beschert. Sie möchten gerne Finanzminister werden. Wir werden verhindern, dass Sie Europa eine Blechwährung bescheren werden. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir müssen den Finanzjongleuren ihr Spielzeug wegnehmen. Der Entschließungsantrag der SPD heute enthält einen richtigen Gedanken. Dieser umfasst die Eigenkapitalunterlegung von Risikoprodukten. Das halte ich für richtig. Darüber sollten wir diskutieren, und dies machen wir. Das Bundesverfassungsgericht hat für den Rettungsschirm einen klaren Deckel hinsichtlich der Rettungsinstrumente gesetzt. Herr Steinbrück, Sie haben heute ein bisschen an Ihrem Image der Vergangenheit, an Ihrem Heiligenschein poliert. Das ist verständlich; denn der Wettlauf, wer Kanzlerkandidat der SPD wird, hat begonnen nach dem Motto „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Sozi im Land?“. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Okay, das kann man so machen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Aber wie war es denn bei der Lehman-Krise? Da haben Sie gesagt: Das ist ein rein amerikanisches Problem. Dass uns das voll erwischt hat, das haben Sie nicht erkannt. (Peer Steinbrück [SPD]: Lesen Sie meine Rede!) Das hat uns viel Zeit gekostet. Dann haben Sie über die Hypo Real Estate schwadroniert, und an der Börse hat es gebumst. Also, so doll ist es mit den Erkenntnissen nicht. Sie sind da sehr selektiv. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Daraus folgt die klare Erkenntnis: Besserwisser sind noch keine Bessermacher. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie haben heute vieles von dem, was Sie draußen erzählen, nicht gesagt. Ich zitiere einmal: Griechenland ist pleite – es ist so langsam Zeit, sich das einzugestehen –; ohne einen Schuldenschnitt kommt man da nicht heraus; im Extremfall geht es um ein geordnetes staatliches Insolvenzverfahren. – Wenn der Vizekanzler nur zart andeutet, dass man das nicht völlig ausschließen kann, wird er von Ihnen massiv beschimpft. Sie predigen das. (Peer Steinbrück [SPD]: Von mir nicht!) – Sind Sie kein Sozialdemokrat mehr, Herr Steinbrück? (Peer Steinbrück [SPD]: Ich bin Steinbrück!) – Sie sind Steinbrück; das ist bemerkenswert. Sie sind nicht mehr Sozialdemokrat; Sie sind Steinbrück. (Peer Steinbrück [SPD]: Quatsch!) Möglicherweise ist das ein Fortschritt. Herzlichen Glückwunsch! (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aber, Herr Steinbrück, wo waren Sie, wo war Herr Steinmeier, als Herr Gabriel, Ihr Parteivorsitzender, die SPD sich bei dem ersten Hilfspaket für Griechenland hat kraftvoll enthalten lassen? Das ist eine tolle Haltung: Nicht Ja, nicht Nein; man enthält sich; „Ich weiß nicht, was ich wissen will“, meine Damen und Herren. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dem fällt nichts mehr ein!) So kann man das nicht machen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie stimmen heute zu, weil es ja gar nicht anders geht. (Sigmar Gabriel [SPD]: Das gilt aber für Sie auch!) Vorher haben Sie gesagt: Ich weiß nicht. Vielleicht sagen Sie morgen wieder Nein. Das ist Zickzack. Ihre Genossen in Europa sagen Nein; Sie sagen: Es ist notwendig. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist unwahr!) Irgendwann müssen Sie sich einmal entscheiden, was Sie wollen, welche Meinung Sie haben, und Sie dürfen die Menschen nicht nur verwirren. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Prozent!) Thema Euro-Bonds. Das ist in Ihrem Entschließungsantrag gar nicht mehr drin. Uns haben Sie dafür beschimpft, dass wir gegen diese Vergemeinschaftung der Schulden sind. Ich empfehle Ihnen, den Arbeitnehmern an den Werkstoren einmal zu sagen, was auf sie zukommt, wenn Deutschland für sämtliche Schulden Europas geradesteht. Das ist wie eine Enteignung breiter Teile der deutschen Bevölkerung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ihre Basis lehnt das ab. Das Bundesverfassungsgericht lehnt das ab. (Zuruf von der SPD: Was?) Die Wirtschaftsweisen lehnen es ab. Diese neue Form von Zinssozialismus ist der falsche Weg. Stellen Sie sich hier einen Moment vor, wir hätten jetzt in Deutschland eine rot-grüne Regierung. Dann wären wir schon längst in der Transferunion, in den Transfermechanismen Europas. Es ist ein Glücksfall, dass jetzt eine bürgerliche Regierung dran ist. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Solche Regierungen haben immer die Wegmarken der Republik gesetzt: bei den europäischen Verträgen, bei der Wiedervereinigung und jetzt bei der Neuausrichtung Europas. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine rot-grüne Regierung wäre ein hohes Risiko für die europäische und deutsche Entwicklung. Deshalb müssen Sie dort bleiben, wo Sie sind: in der Opposition. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Rainer Brüderle (FDP): Nein, ich beantworte keine Zwischenfragen. Ich diskutiere am Stück. Es war Gerhard Schröder, der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet hat. Die Entscheidungen dieses Kanzlers wirken bis heute und sind Mitursache für die europäische Krise: Ihre Aufnahme Griechenlands, Ihre Fehlentscheidung bezüglich Griechenlands, Ihre Brechung des Stabilitätspaktes, das sind doch die Ursachen der heutigen Probleme. Sie sollten in Demut hier sitzen, die Köpfe nach unten senken und keine dicken Backen machen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD) Die Augen der Welt (Christine Lambrecht [SPD]: Sind entsetzt über Ihre Rede!) bezüglich der Euro-Rettung sind auf Deutschland gerichtet, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Ohren der Welt werden gerade zugehalten!) und zwar deshalb, weil Deutschland wieder Power- house der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Das ist ein Ergebnis des Fleißes der Menschen in Deutschland, aber auch der richtigen Politik dieser Koalition. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Sigmar Gabriel [SPD]: Hören Sie auf das Pfeifen im Wald?) Zu Zeiten von Rot-Grün waren wir der kranke Mann Europas. Heute sind wir das Powerhouse. Meine Damen und Herren, es geht weit über Europa hinaus. Wir müssen sehen, dass weltweit neue Strategien entwickelt werden. Die Chinesen wollen ihre Währung in den Vordergrund stellen. Außerdem spielt die Dollardominanz eine Rolle. Die Äußerungen des Präsidenten der USA der letzten Tage – auch wenn es Wahlkampf war – haben bei mir den Eindruck erweckt, dass die Amerikaner möglicherweise gar kein Interesse daran haben, dass der Euro in Europa eine Erfolgsgeschichte ist. Umso wichtiger ist es, dass wir das Richtige machen. Die Bundeskanzlerin hat klare Signale zur Änderung der europäischen Verträge gesetzt. Wenn jemand Geld nimmt, muss er Kontrolle akzeptieren. Wenn er die Ursachen nicht beseitigt, muss es Durchgriffsrechte geben. Dann muss er temporär einen Teil seiner Souveränität an Europa abtreten. Nur die Hand aufzuhalten und die Ursachen der Fehlentwicklung nicht zu beseitigen, ist nicht solidarisch. Das ist unfair. Deshalb muss das ein Ende haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Chance, mit dem Stabilitätspakt II den ESM neu auszurichten, müssen wir nutzen. Der ESM könnte eine Art Wettbewerbfähigkeitsminister sein. Wir brauchen keinen europäischen Finanzminister. Wir brauchen klare Strukturveränderungen, die Europa voranbringen. Wir haben lange miteinander gerungen. Wir haben diskutiert, und wir haben uns entschieden. Wir stehen – und das ist gut so –, und wir werden auch weiter stehen. Wir sind da, und wir bleiben da. Wir werden auch in Zukunft für die richtigen Ziele kämpfen. Es ist gut, dass Deutschland Rot-Grün erspart bleibt. Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen wieder gerne zugehört. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Wir auch!) Ich muss Ihnen allerdings eines sagen: Wenn Sie weiter so leidenschaftlich sind, bekommen Sie bald einen Herzinfarkt. Passen Sie etwas auf! Herr Brüderle, mit Ihrer Rede haben Sie den Wahlkampf eröffnet. Sind Sie sich so sicher, dass es Neuwahlen gibt, dass Sie glauben, jetzt schon solche Attacken reiten zu müssen? Das ist wirklich interessant. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herrn Steinbrück habe ich natürlich auch gern zugehört. Herr Steinbrück, Sie haben festgestellt, die CSU werde heute zustimmen und morgen erklären, warum es falsch sei. Sie haben mir aber heute schon erklärt, dass es falsch sei und Sie trotzdem zustimmen. Darauf wollte ich lediglich einmal hingewiesen haben. (Beifall bei der LINKEN) Das Bundesverfassungsgericht hat eine höhere Parlamentsbeteiligung gefordert. Herr Kauder hat erklärt, diese Vorgabe sei übererfüllt. Ich sage Ihnen: Ich halte es für einen Skandal, dass schon wieder ein Geheimausschuss gebildet werden soll, der entscheidet, ob Tranchen aus dem aufgestockten Rettungsfonds ausbezahlt werden. (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Was heißt das denn? Die Mitglieder dieses Geheimausschusses dürfen noch nicht einmal die anderen Abgeordneten, geschweige denn die Bevölkerung informieren. Hierbei geht es aber um das Geld der Bevölkerung. Es ist unerhört, dass die Bevölkerung nicht informiert wird, wenn dieses Geld ausgegeben wird. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist keine wirkliche Parlamentsbeteiligung. (Beifall bei der LINKEN) Der Präsident der USA hat erklärt, dass die Krise in Europa der ganzen Welt Angst mache. Außerdem hat er gesagt, dass die Regierungen in Europa nicht rasch genug und nicht konsequent genug entschieden hätten. Jeder weiß, dass er damit in erster Linie die deutsche Bundesregierung gemeint hat. Weiter hat Herr Obama gesagt, dass wir hier in Europa nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus der Krise des Jahres 2008 gezogen hätten. Wir hätten uns den Herausforderungen, um die es eigentlich geht, nicht gestellt. Ich weiß nicht, ob Obama über WikiLeaks bei uns abschreibt, aber auf jeden Fall ist es genau das, was wir Ihnen seit geraumer Zeit sagen. Nun sagt es selbst der amerikanische Präsident. Vielleicht hören Sie ja wenigstens ihm zu. (Beifall bei der LINKEN) Am letzten Wochenende fanden zwei Jahrestagungen statt, zum einen vom Internationalen Währungsfonds und zum anderen von der Weltbank. Da gab es, glaube ich, zwei wichtige Momente. Erstens hat der US-Finanzminister erklärt, dass die Staatsschulden und der Bankenstress in Europa größte Risiken für die Weltwirtschaft nach sich ziehen. Zweitens hat die Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Madame Lagarde, gefordert, was wir ebenfalls seit Jahren fordern: die großen privaten Banken öffentlich-rechtlich zu gestalten. (Beifall bei der LINKEN) Das sagt die ehemalige, konservative Finanzministerin Frankreichs! (Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner [FDP]: Und wer soll das bezahlen?) Wir können diese Banken nicht privat lassen, weil die Abhängigkeit der Regierungen und Parlamente von den großen privaten Banken politisch, demokratisch und auch wirtschaftlich unerträglich ist. (Beifall bei der LINKEN) Aber Sie vollziehen auch nicht die weiteren Schritte, die erforderlich sind. Sie alle erklären immer, wir bräuchten gegen die privaten amerikanischen Ratingagenturen endlich eine öffentlich-rechtliche Ratingagentur in Europa. Wo bleibt sie denn? Wo ist Ihr Vorschlag? Wo ist das Konstrukt? (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!) Nichts passiert diesbezüglich! Die Frau Bundeskanzlerin, der französische Präsident – alle sprechen jetzt von der Finanztransaktionsteuer. Nun kommt der EU-Chef Barroso und sagt: 2014 soll sie eingeführt werden. Darf ich Sie daran erinnern, dass dieser Bundestag in der Lage war, zur Rettung der Banken innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen? Für die Finanztransaktionsteuer aber brauchen Sie sechs Jahre. Noch glaubt kein Mensch, dass sie 2014 kommt. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen – und das muss eines Tages auch die FDP begreifen – die Unabhängigkeit der Euro-Staaten von den großen privaten Banken, das heißt: vom derzeitigen Finanzmarkt. Wie könnten wir das erreichen? Wir könnten das erreichen, wenn wir endlich eine öffentlich-rechtliche Bank in Europa schüfen – oder die Europäische Zentralbank dazu machten –, die berechtigt sein soll – – (Christian Lindner [FDP]: Die WestLB!) – Kommen Sie mir nicht mit Ihrer blöden WestLB, die Sie mit in den Sumpf gefahren haben, und zwar weil Sie verlangt haben, dass sie wird wie die Deutsche Bank, statt zu sagen, sie soll eine öffentlich-rechtliche Bank sein. (Beifall bei der LINKEN) Die Sparkassen sind öffentlich-rechtlich, und die sind nicht unser Problem. – Also zurück: Diese öffentlich-rechtliche europäische Bank könnte dann an Staaten wie Griechenland, Italien, Irland, Spanien oder Portugal zinsgünstige Kredite geben. Dann wären sie nicht mehr auf die privaten Banken angewiesen. Dann könnten die privaten amerikanischen Ratingagenturen diese Staaten sogar herabstufen, solange sie wollen – es änderte ja nichts daran, dass sie zinsgünstige Kredite von dieser Bank bekämen. Dann wäre das Problem gelöst. Warum gehen Sie denn nicht diesen Weg? Stattdessen machen Sie die privaten Banken täglich mächtiger. (Beifall bei der LINKEN) Der Höhepunkt ist, dass eine private Bank bei der Europäischen Zentralbank – also von unser aller Geld, dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aller Euro-Staaten – Kredite für 1,5 Prozent Zinsen bekommt. Anschließend gibt sie das Geld weiter an Griechenland für 18 Prozent Zinsen. Das ist eine unvertretbare Zocke, die Sie zulassen, gegen die Sie nichts unternehmen! (Beifall bei der LINKEN) Jetzt passiert Folgendes: Herr Schäuble, in der EU-Kommission gibt es immer mehr Menschen, die das Ganze so sehen wie die Linke in Deutschland. Die sagen: Das geht so nicht weiter. Sie wollen eine europäische öffentlich-rechtliche Bank, die entsprechende Kredite gewähren kann. Warum? Weil sie gemerkt haben, dass die Abhängigkeit von den großen Privatbanken ins Fiasko führt; weil sie gemerkt haben, dass die Demokratie schwer beschädigt wird. Es gibt zwei Gegner in der EU-Kommission: Bundeskanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Schäuble. Ich bitte Sie, doch mal zu erklären: Was haben Sie denn dagegen, ein Primat der Politik über die Banken wiederherzustellen? Was haben Sie denn gegen mehr Demokratie, gegen die Unabhängigkeit der Staaten von den privaten Finanzmärkten, gegen eine Unabhängigkeit der Euro-Staaten gegenüber den Privatbanken? Was haben Sie dagegen? Warum gehen Sie auf die Vorschläge der anderen Mitglieder der EU-Kommission nicht ein? Übrigens, diese Unabhängigkeit erreichten wir natürlich schneller und konsequenter, wenn wir die Banken dezentralisierten und sie eben, wie es auch Frau Lagarde gefordert hat, öffentlich-rechtlich gestalteten. Ich sage es Ihnen noch einmal – ich habe es schon im Zusammenhang mit den Landesbanken gesagt –: Die Sparkassen in Deutschland waren und sind nicht unser Problem und werden es nicht sein. Selbst Brüssel hat inzwischen aufgehört, über die Sparkassen zu meckern. Hätten wir die Sparkassen nicht gehabt, wären wir in einer viel größeren Katastrophe. (Beifall bei der LINKEN) Wenn dieser staatliche Weg beschritten würde, könnte übrigens ein wirklicher Schuldenschnitt erfolgen. Ich weiß: Darüber redet noch keiner gern; aber – ich sage es Ihnen – er wird kommen. Jetzt sage ich Ihnen, was aus unserer Sicht hinter der Ausweitung des Rettungsschirms steht – wir glauben es sehr ernsthaft; darüber wird immer mehr gesprochen und niemand kann es widerlegen –: Über kurz oder lang wird es einen Schuldenschnitt geben. Wenn es einen Schuldenschnitt gibt, ist die Auszahlung der zweiten Tranche von 109 Milliarden Euro an Griechenland gar nicht mehr erforderlich, weil Griechenland dann sowieso nur noch die Hälfte der Schulden hat etc. Dann haben aber die großen Privatbanken riesige Verluste. Wer erstattet sie? Der Rettungsschirm. Deshalb wird er aufgestockt. Ich sage Ihnen: Das ist ein Rettungsschirm nicht für die Griechinnen und Griechen, sondern für die Banken. Genau deshalb sagen wir Nein dazu. (Beifall bei der LINKEN) Lieber Herr Brüderle, lieber Herr Kauder, Sie haben wieder mit großer Leidenschaft Euro-Bonds abgelehnt. Ich finde das unfair, und zwar deshalb, weil Sie der Bevölkerung nicht die Wahrheit sagen. Ich habe es hier schon am 7. September gesagt – ich muss mich aber gleich korrigieren, weil inzwischen schon wieder drei Wochen vergangen sind und mehr passiert ist –: Die Europäische Zentralbank, mithin das Eigentum der Steuerzahlerinnen und -zahler aller Euro-Staaten, damit vornehmlich auch der deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler, hat Staatsschulden aufgekauft; damals habe ich gesagt: „im Wert von 129 Milliarden Euro“, und zwar „von Griechenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien“. Ich habe Ihnen auch gesagt: „Den privaten deutschen Banken und Versicherungen hat sie ein Drittel dieser Staatsschulden abgekauft.“ Jetzt gehören sie alle uns. Da sagen Sie, es gebe keine Euro-Bonds? Damit haften wir doch dafür. In den drei Wochen ist aber etwas passiert, Herr Brüderle – Sie waren an der Regierung –: Die Europäische Zentralbank hat weitere Staatsanleihen gekauft. Nun besitzt sie solche im Werte von 150 Milliarden Euro. Warum sagen Sie denn der Bevölkerung nicht, dass das längst unser Eigentum ist? Da haben Sie doch die Euro-Bonds indirekt eingeführt. Lassen Sie doch die Diskussion um etwas, das längst Realität geworden ist. (Beifall bei der LINKEN) Wir können aus diesen Gründen der Ausweitung des Rettungsschirms nicht zustimmen. Aber es gibt weitere Gründe: Bei Griechenland, Spanien und den anderen Ländern wird ein völlig falscher Weg beschritten. Man handelt nicht nur sozial ungerecht, sondern schwächt auch die Wirtschaft, senkt die Einnahmen des Staates und verbuddelt damit auch unser Geld. Diese Länder brauchen keinen Abbau der Investitionen, sondern mehr Investitionen. (Beifall bei der LINKEN) Sie brauchen keinen Abbau von Löhnen, Renten und Sozialleistungen, sondern eine Steigerung, auch um die Kaufkraft zu stärken und damit die Binnenwirtschaft zu beleben. Nur über eine solche Politik flössen Steuern an die Staaten; damit flösse das Geld, das kreditiert wird, auch an uns zurück. Alles andere – der gegenteilige Weg, den Sie beschreiten – heißt auch, die deutschen Steuergelder zu veruntreuen. Sollte Griechenland pleitegehen oder in der Nähe der Pleite stehen, wird der Rettungsschirm, den sie heute ausweiten, eben nicht ihm zugutekommen, sondern den privaten Banken und – ich muss ergänzen – den Fonds, Versicherungen und Hedgefonds. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften dafür. Aber auch das reicht noch nicht. Es gibt Vermögende in Europa. Über dieses Vermögen muss hier gesprochen werden. (Beifall bei der LINKEN) Denn die weltweite Verteilung des Vermögens, auch in Europa und Deutschland, wird immer ungerechter. Eine Linke ist keine Linke, wenn sie nicht Eigentumsgerechtigkeit fordert; sie wird sonst von keiner Fraktion im Bundestag gefordert. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen dazu etwas: Sie haben festgelegt, dass die Vermögen der Vermögenden in Europa und Deutschland nicht mit einem halben Cent zur Finanzierung der gesamten Krise herangezogen werden; die Vermögenden haben die Krise verursacht und sind dadurch reich geworden, aber sie müssen keinen halben Cent von ihrem Vermögen dafür zahlen. Das, was Sie hier an Ungerechtigkeit organisieren, ist nicht hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage es noch einmal: Die Staatsschulden der Euro-Staaten belaufen sich auf 10 Billionen Euro. Das Vermögen nur der Vermögensmillionäre der Euro-Zone beträgt 7,5 Billionen Euro. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Alles wegnehmen!) – Nein, nein. Ich sagte: eine angemessene Steuer. Das ist nicht Wegnehmen. Seien Sie doch nicht so plump! Machen Sie doch einmal eine richtige Steuer! Dann können wir gerne miteinander reden und über die Höhe verhandeln. (Beifall bei der LINKEN) Die Staatsschulden in Deutschland belaufen sich auf 2 Billionen Euro. Das Vermögen der 10 Prozent, die den reichsten Teil der Bevölkerung ausmachen, beläuft sich auf 3 Billionen Euro. Die haben 1 Billion Euro mehr, als wir insgesamt an Staatsschulden haben. Diese Tatsache muss doch einmal genannt werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich gebe zu: Ich war etwas naiv. Ich habe mich geirrt. Ich dachte, in der Finanzkrise nimmt die Zahl der Vermögensmillionäre ab; wie ich darauf gekommen bin, weiß ich heute gar nicht mehr. Die Zahl hat aber zugenommen. Es sind jetzt 51 000 mehr. Wir haben jetzt 861 000 Vermögensmillionäre, die, wie gesagt, nicht mit einem halben Cent haften. Herr Brüderle, ich bitte Sie um eines – Sie spucken hier schließlich immer große Töne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer –: Erklären Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern, den Arbeitslosen sowie den Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmern, weshalb die Löhne, die Renten und Sozialleistungen sowie die Einnahmen seit zehn Jahren real zurückgeschraubt wurden, während Sie das Vermögen der immer zahlreicher werdenden Vermögensmillionäre nicht mit einem halben Cent belasten. Erklären Sie es! Erklären Sie es der Bevölkerung! (Beifall bei der LINKEN) Nun komme ich zum letzten Punkt. Seitens der Regierung – das gilt insbesondere für Sie, Frau Bundeskanzlerin – fehlt eine notwendige Garantieerklärung. Ich möchte an Folgendes erinnern: Bei der ersten Finanzkrise im Jahre 2008 sind Sie zusammen mit Ihrem damaligen Bundesfinanzminister vor das Mikrofon getreten – das war übrigens die Zeit, als Sie Herrn Steinbrück noch zugeklatscht haben; das haben Sie auch schon vergessen – und haben eine Garantieerklärung für die Sparerinnen und Sparer abgegeben. Sie haben gesagt: Die Spareinlagen werden im Rahmen der Krise nicht gekürzt. Warum machen Sie heute nicht etwas Ähnliches? Die Frage wird man doch stellen dürfen. (Beifall bei der LINKEN) Wenn der Rettungsschirm in Anspruch genommen wird, haftet die deutsche Bevölkerung für 211 Milliarden Euro. Die Deutsche Bank hat ausgerechnet, dass sich das Ganze durch die Zinslasten, die noch hinzukommen, auf bis zu 400 Milliarden Euro steigern kann. Sie organisieren, dass dieser Fall eintritt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) Es stellt sich mir die Frage, wer das bezahlen soll. Wir könnten es durch eine Millionärsteuer, einen höheren Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer, eine Finanztransaktionsteuer, eine höhere und gerechtere Körperschaftsteuer und eine endlich nennenswerte Bankenabgabe finanzieren. Oder müssen etwa wieder die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitslosen und die Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer das Ganze bezahlen? Auf diese Frage antwortet niemand aus der Regierung. Es wird aber höchste Zeit, dass Sie darauf antworten. (Beifall bei der LINKEN) Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte, dass Sie heute eine Garantieerklärung abgeben und den Betroffenen sagen, dass sie nicht dafür bezahlen müssen. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben noch etwas Zeit, Frau Bundeskanzlerin. Wenn Sie diese Garantieerklärung nicht vor der Ratifizierung der entsprechenden Verträge abgeben, dann wissen alle Bürgerinnen und Bürger, wen es treffen wird, wenn der Haftungsfall eintritt. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit!) Ich sage Ihnen: Es gibt wieder einen Riesenunterschied zwischen SPD und Grünen auf der einen und uns auf der anderen Seite. Wir verlangen die Garantieerklärung. Sie verlangen sie nicht. Warum eigentlich nicht? Warum machen Sie das nicht wenigstens zur Bedingung Ihrer Zustimmung? (Beifall bei der LINKEN) Nun gibt es auch Abgeordnete von FDP und Union, deren Gewissen ein Nein verlangt. Aber sie stehen vor der Frage, was sie höher bewerten: ihr Gewissen oder die Angst vor Neuwahlen. Wir werden es nachher sehen. Auf das Ja von SPD und Grünen können Sie sich verlassen. Unser Nein ist sicher. Ich weiß schon jetzt, dass Herr Trittin uns dann als europafeindlich bezeichnen wird. Deshalb möchte ich ihm sagen, dass er auch in diesem Punkt schwer irrt. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen, warum er sich irrt: Ich weiß aufgrund der Geschichte meiner Familie sehr gut, dass die vergangenen Jahrhunderte von Kriegen zwischen den Ländern in Europa, die heute Mitgliedsländer der Europäischen Union sind, gezeichnet waren. Der große Fortschritt der Europäischen Union ist, das verhindern zu können. Das ist eine zentrale Frage, an der in Deutschland niemand vorbeikommt. Das begrüßen wir in jeder Hinsicht. (Beifall bei der LINKEN) Wir wissen auch, dass die EU für die Wirtschaft wichtig ist. Auch das muss man uns nicht erklären. Aber wir haben bei der Einführung des Euro vor Fehlentwicklungen gewarnt. Sie waren ja alle schlauer, auch die Grünen, und haben gesagt: Nichts davon wird passieren. – Vielleicht schauen Sie sich das noch einmal an und nehmen zur Kenntnis, dass unsere Warnungen gestimmt haben und nicht die Glorifizierung der gesamten Vorgänge, die Sie an den Tag gelegt haben. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen auch: Wir wollen die EU. Wir wollen auch den Euro. Wir machen ja Vorschläge zu seiner Rettung, aber keine unsozialen. Das ist der Unterschied. Wir wollen sogar mehr Europa. Jetzt nenne ich Ihnen den Unterschied – der Unterschied ist ganz klar –: Sie alle wollen ein Europa der Banken. Wir aber wollen ein Europa der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, der Bevölkerungen. Das ist der eigentliche Unterschied. (Lebhafter Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Gregor Gysi, wer für Europa ist, wer für internationale Solidarität ist, der darf sich heute nicht einem Instrument verweigern, das dazu dient, Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor der Spekulation an den Finanzmärkten in Schutz zu nehmen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ackermann! Nicht die Bürger!) Das ist das Versagen von Solidarität, und das ist nicht europäisch; das ist national und klein und borniert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ein Unfug!) Genau darum geht es. Es geht nicht darum, ob wir die nächste Tranche für Griechenland zahlen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch!) Es geht um etwas, das diese Bundesregierung um mehr als ein Jahr verschleppt hat. Es geht darum, wie dieses gemeinsame Europa künftig mit solchen Krisen besser umgehen kann, und zwar bevor man Hunderttausende Beamte entlassen muss, bevor man die Pensionen kürzen muss. Um solche Instrumente geht es. Die sollen heute hier verabschiedet werden. Es geht darum, liebe Freundinnen und Freunde von der Linken, dass Spekulationen gegen den Euro und Spekulationen gegen unser gemeinsames Europa erschwert und verhindert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN) Diese Aufgabe wird nicht länger einer getriebenen Regierung überlassen. Künftig muss die Bundesregierung den Bundestag fragen. Wir müssen zustimmen. Künftig gilt Schweigen nicht mehr als Zustimmung. Das ist ein Gewinn an demokratischer Souveränität. Das hat dieses Haus gegen diese Regierung durchgesetzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]) Diese Diskussion findet in einem bemerkenswerten Umfeld statt. Noch nie in der Geschichte der Europäischen Union war Deutschland so isoliert wie heute. (Lachen des Abg. Hermann Gröhe [CDU/ CSU]) Sie haben über ein Jahr lang den Ankauf von Staatsanleihen durch die Stabilisierungsfazilität blockiert, angestiftet von den Neoliberalen und den Europafeinden aus Bayern in ihren eigenen Reihen. Sie haben sich öffentlich gegen einen europäischen Währungsfonds ausgesprochen. Als Nächstes geht es um den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Er stellt die Instrumente für eine Staats-insolvenz zur Verfügung. Er ermöglicht einen Schuldenschnitt mit privater Gläubigerbeteiligung. Und was passiert? Während die Welt, die USA, China und der Rest Europas, darauf drängen, dass das möglichst schnell in Kraft gesetzt wird, höre ich heute Morgen von Herrn Seehofer und zuvor von Herrn Brüderle: Nein, so schnell geht das nicht; da müssen wir noch ein bisschen nachbessern und nachdenken. Was passiert mitten in der Krise? Diese Koalition spielt erneut auf Zeit. Liebe Frau Bundeskanzlerin, Sie haben versucht, dieses Auf-Zeit-Spielen bei Günther Jauch als Politik der kleinen Schritte zu verharmlosen. Aber ich sage Ihnen: Dieses Zaudern und Zögern, diese kleinen Schritte haben die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler viel Geld gekostet, weil sie die Krise verlängert und damit verteuert haben. Das ist das Ergebnis der kleinen Schritte. Diese Krise ist zu groß für kleine Schritte und offensichtlich zu groß für Sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich neige ja manchmal auch zu Lautstärke, lieber Kollege Brüderle. Aber bei Ihrer Lautstärke habe ich mich gefragt: Woran mag das wohl liegen? Ich will es Ihnen sagen. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben? Nicht nur Gewerkschaften, sondern auch der Bundesverband der deutschen Industrie, die Industrie- und Handelskammern und die deutschen Arbeitgeber mussten öffentlich einen Brief an die Abgeordneten Ihrer Koalition schreiben, um sie aufzufordern, der Erweiterung des Euro-Rettungsschirms zuzustimmen. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen. Ausgerechnet diejenigen, die immer Schwarz-Gelb wollten, die Ihren Wahlkampf mit Millionen gesponsert haben, (Unruhe bei der FDP) müssen nun für eine Kanzlermehrheit für den Rettungsschirm werben. Ich glaube, da haben Sie eine Erklärung für Ihre Lautstärke. Sie wissen, dass Sie sich fürchterlich verrannt haben, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ja, es ist wahr. Es gibt keine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Es war ein sehr harter Kampf, lieber Kollege Kauder, den das Europäische Parlament und die Kommission zu führen hatten, um diesen neuen Wachstums- und Stabilitätspakt auf den Weg zu bringen. Interessant ist nur, wenn Sie denen jetzt auch noch gratulieren. Gegen wen musste dieser Kampf geführt werden? Er musste geführt werden gegen die deutsche Bundesregierung; denn sie war es, die nicht wollte, dass auch die Überschussländer in Ergänzung zu den Regeln dieses Stabilitäts- und Wachstumspakts überwacht werden. Da haben Sie eine krachende Niederlage erlitten, und das ist gut so. Es ist gut so, dass Sie sich nicht haben durchsetzen können, sondern das Europäische Parlament. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist nämlich so, dass die Defizite der einen die Überschüsse der anderen sind. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!) – Lieber Kollege Krichbaum, Sie wissen das als Vorsitzender des Europaausschusses sehr gut. Es ist an der Zeit, dass Deutschland seine gravierende Nachfrageschwäche endlich behebt. Es ist Zeit dafür. Ich sage Ihnen, es ist deswegen Zeit dafür, weil nur das dazu führen wird, dass diese Krise, die keine Krise der Defizitländer ist, sondern eine Krise des gesamten Euro-Raumes, überwunden wird. Das ist der Grund, warum das Parlament recht hatte und die deutsche Bundesregierung diese Auseinandersetzung zu Recht verloren hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung. Aber José Manuel Barroso hatte recht, als er gestern sagte: Die Kommission ist die wirtschaftspolitische Regierung der Union. – Ihr Versuch, Frau Merkel, die Kommission in dieser Frage zu entmachten, ist schädlich. Wir brauchen starke, demokratisch legitimierte europäische Institutionen. Das ist der Weg zu mehr Souveränität in einer globalisierten Welt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, wer der Krise begegnen will, der muss sich auch einmal klarmachen, um was für eine Krise es sich handelt. Diese Krise ist keine staatliche Verschuldungskrise. Diese Krise begann 2007, als Michel Glos – ich will Ihnen nicht ersparen, zu sagen, dass auch Herr Steinbrück zu dieser Zeit im Kabinett gesessen hat – noch gesagt hat, das könnte nie zu uns hinüberschwappen. Diese Krise hat uns 6 Prozent des Bruttosozialprodukts gekostet. Sie hat in Deutschland allein in einem Jahr 80 Milliarden Euro neue Staatsschulden verursacht. Sie hat ein Land wie Spanien, das bei der Staatsverschuldung immer besser war als Deutschland, mittlerweile an die Kante der Maastricht-Kriterien gebracht. Das Schlimme ist: Diese Krise ist nicht beendet. Bis heute haben Sie es nicht geschafft, die Krise der Banken von der Schuldenkrise der Staaten zu trennen. Es gibt keine schlagkräftige europäische Bankenaufsicht. Wo ist Ihre Initiative für ein europäisches Insolvenzrecht? Warum gibt es immer noch keine Schuldenbremse für Banken? Wir brauchen sie so dringend wie für Staaten! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt Alternativen – nicht die von Herrn Gysi; vielleicht ist das für Sie kompatibler –: Schauen Sie einmal in die Schweiz. Die Schweiz hat ihre beiden Großbanken zu saftigen Erhöhungen des Eigenkapitals gezwungen. Bei uns kann die Deutsche Bank 4 Milliarden Euro Gewinn machen, ohne dass sie gezwungen wird, ihr Eigenkapital zu erhöhen. (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Aber wir halten uns an das Gesetz!) Sie sabotieren Maßnahmen gegen Spekulationen. Angeblich sind Sie für eine Finanztransaktionsteuer. Gestern hat die Kommission ihren Vorschlag vorgelegt. Die erste Reaktion von Herrn Brüderle? Er ist gegen diese Finanztransaktionsteuer. Liebe Frau Merkel, ich frage Sie: Wer hat in Ihrer Koalition eigentlich die Richtlinienkompetenz, (Zuruf von der SPD: Keiner!) Sie oder der rheinland-pfälzische Dampfplauderer? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, Ihr Zickzackkurs hat die Krise verlängert, verschlimmert und verteuert. Ohne diese regierungsunfähige Koalition hätten wir schon lange einen dauerhaften Krisenmechanismus, und ohne sie wären wir bei der Errichtung einer europäischen Wirtschaftsregierung weiter. Nun sollen wir sogar die Urabstimmung bei der FDP abwarten. Stellen Sie sich einmal vor, was passieren würde, wenn sich die Mitstreiter von Herrn Schäffler durchsetzen würden und sich die größte Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union gegen die Installation eines permanenten Rettungsmechanismus stellen würde. Ich möchte mir das nicht vorstellen; denn das würde für Deutschland unendlich teuer werden. Das muss verhindert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch besser so!) Die Welt schaut zurzeit auf dieses Land. Müsste sie sich nur auf die Bundesregierung verlassen, wäre sie verlassen. Dass sich unsere Nachbarn auf Deutschland verlassen können, liegt auch daran, dass es in diesem Hause eine verantwortungsbewusste und europaverlässliche Opposition gibt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Die bürgerlichen Tugenden, die Sie so gerne in Anspruch nehmen – dazu gehört Verlässlichkeit –, haben sich in Ihrem Koalitionszoff schon lange in schwarz-gelben Rauch aufgelöst. Damit muss Schluss sein. Deutschland hat eine Verantwortung. Wir müssen dieser Verantwortung in Europa bei dieser Krise gerecht werden. Das geht nicht mit dem Dauerzoff in Ihren Reihen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen diese Debatte in einer Zeit, in der die Menschen in unserem Lande mit großen Sorgen auf das, was wir hier zu behandeln und zu entscheiden haben, schauen. Nicht nur die Menschen in unserem Lande, sondern auch die Menschen in vielen anderen Ländern in Europa und auf anderen Kontinenten dieser Welt machen sich Sorgen, dass sich die unruhige Lage auf den Finanzmärkten – anders als 2008, aber in einer vergleichbaren Weise – zu einer großen Krise ausweiten könnte. Das hat auch die Tagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in der vergangenen Woche sehr geprägt. Wir müssen uns dieser Verantwortung bewusst sein. Wir müssen uns im Übrigen auch bewusst sein – ich glaube, das gilt auch für die Art und Weise, wie wir diese Debatte führen, nämlich mit Respekt vor den Argumenten des einen und den Bedenken des anderen; denn keinem fällt diese Entscheidung leicht –, dass sich die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande fragt: Ist die Politik in der Lage, diese Entwicklungen zu steuern? Sind die Entscheidungen, die wir treffen, zu verantworten? Haben wir die Chance, das, was wir in Jahrzehnten erreicht haben, für die Zukunft zu sichern? Es ist wichtig, dass man klarmacht: Wir haben im vergangenen Jahr, in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai 2010, beschlossen, übergangsweise eine Finanzstabilisierungsfazilität in Europa zu schaffen, die ermöglichen soll, Ansteckungsgefahren zu bekämpfen, bis wir, um den Zeitraum zu überbrücken, eine dauerhafte Regelung in Europa zustande bringen. Das braucht in Europa manchmal mehr Zeit, als wir für wünschenswert halten; aber es ist so. Diese ist auf ein Volumen von 440 Milliarden Euro festgelegt worden. Diese 440 Milliarden Euro werden durch die Entscheidungen, die wir jetzt in nationale Gesetzgebung umsetzen, bereitgestellt. Die Mechanik dieser Finanzstabilisierungsfazilität ist so ausgestaltet, dass wir unter der Bedingung der Bewertung mit der höchsten Bonitätsstufe nur dann 440 Milliarden Euro – dieser Betrag ist die Obergrenze – auf den Anleihemärkten aufnehmen können, wenn die Garantien der Länder, die über diese Bonität verfügen, entsprechend aufgestockt werden. Deswegen beträgt der deutsche Garantierahmen 211 Milliarden Euro; er wird nicht erhöht und steht nicht zur Debatte. Das ist die Entscheidung, die getroffen wurde. Im Übrigen treffen wir heute auch die Entscheidung – der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, hat das ausgeführt –, dass in Zukunft alle Entscheidungen in diesem Zusammenhang – niemand weiß, was die Zukunft bringt; das ist immer so gewesen – der Zustimmung des Deutschen Bundestags bedürfen. Insofern sollten wir uns nicht gegenseitig fragen: Was kommt als Nächstes? Wer hat dies oder jenes vor? Entweder führt dies zu Verunsicherung oder es ist unseriös. In Wahrheit ist es auch unanständig. Herr Kollege Schneider, da gestern Vormittag unter den Sprechern im Haushaltsausschuss verabredet worden ist, dass die persönliche Anwesenheit des Bundesfinanzministers im Haushaltsausschuss nicht erwartet wird, sollte man abends nach der Sitzung nicht das Gegenteil sagen. Das ist eine Form der Diffamierung, die ich persönlich für nicht in Ordnung halte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist nicht verabredet worden! Sie hätten sich dem stellen müssen!) Es wird auch nichts vergeheimnist und verschwiegen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ach ja!) Natürlich darf man aber nicht zu jedem Zeitpunkt jede Spekulation auf dem Markt austragen. Herr Kollege Oppermann, von der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, die ein Gesamtvolumen von 440 Milliarden Euro hat – auch dazu braucht es keine Aufforderung; die entsprechenden Zahlen sind oft genug im Deutschen Bundestag genannt worden –, sind bisher durch das Programm für Portugal insgesamt 26 Milliarden Euro und durch das Programm für Irland insgesamt 17,7 Milliarden Euro zulasten der EFSF belegt worden. Davon wurden jeweils die bisherigen Raten ausbezahlt, nicht mehr und nicht weniger. Das ist im Haushaltsausschuss zu jeder Zeit dargelegt worden. Hier wird also nichts verschwiegen. Ich habe Ihre Aufforderung aber gerne zum Anlass genommen, dies noch einmal klarzustellen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Minister, darf der Kollege Schick Ihnen eine Zwischenfrage stellen bzw. eine Zwischenbemerkung machen? (Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein! – Muss das sein? – Gegenruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht?) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Bitte, ja. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, ich habe gestern in der Fragestunde die Frage gestellt, ob die Bundesregierung eine Nutzung der in Washington diskutierten Instrumente, die ein Leveraging bezüglich der Garantien im Rahmen der EFSF vorsehen, ausschließt. Daraufhin hat der Staatsminister bei der Bundeskanzlerin, Herr von Klaeden, gesagt: Ja. Dann hat Herr Kampeter weitere Ausführungen gemacht, mit denen er meine Frage aber nicht beantwortet hat. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, was Sie mit der Formulierung der effizienten Nutzung der EFSF, die Sie in Washington getroffen haben, gemeint haben – alle Fachleute verstehen darunter die Hebelung der EFSF; das heißt, dass mit den gewährten Garantien ein wesentlich größerer Umfang an Krediten ausgereicht werden kann – und ob diese Hebelung vor dem Hintergrund der Entscheidung, die der Bundestag heute zu treffen hat, möglich ist oder ob es dazu einer neuen Parlamentsentscheidung bedarf. Wenn es dazu nämlich keiner neuen Parlamentsentscheidung bedarf, dann müssen die Abgeordneten dieses Hauses wissen – das gilt auch mit Blick auf die Öffentlichkeit –, dass sie mit ihrer heutigen Entscheidung auch eine Hebelung ermöglichen. Mein Kenntnisstand dazu ist, dass darüber bereits verhandelt wird. Ich finde, dem Bundestag muss bekannt sein, ob dem so ist oder nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege, die Antwort ist völlig eindeutig: Die Guidelines, die für die erweiterte EFSF angewendet werden, sind noch nicht abschließend verhandelt. (Zuruf von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Aha!) – Warten Sie vor dem „Aha“ doch meinen zweiten Satz ab. – Der Bundestag hat die Absicht, zu beschließen – genau das steht in dem Gesetzentwurf, den wir hier in zweiter und dritter Lesung behandeln –, dass diese Guidelines der Zustimmung des Deutschen Bundestags bedürfen. Danach werden wir das in diesem Rahmen behandeln. Deswegen ist jede Verdächtigung und jede Verunsicherung unanständig und unangemessen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen bleibt es dabei: Wir beschließen einen deutschen Garantierahmen von 211 Milliarden Euro. Der ist hoch genug. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist mit den Hebeln?) – Ich habe das doch gerade beantwortet. Durch Wiederholung der Frage wird es nicht besser. Herr Kollege Schneider, Ihre Methoden habe ich gerade an einem konkreten Beispiel dargelegt. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Können Sie es ausschließen?) Die Sache ist zu ernst, (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, eben!) als dass Sie die Bevölkerung, die verunsichert genug ist, auf diese Weise weiter durch falsche Behauptungen und Insinuierungen verunsichern sollten, wenn Sie mit uns gemeinsam Verantwortung dafür tragen wollen, dass wir Europas Sicherheit und unsere Währung erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich will eine zweite Bemerkung machen. Herr Kollege Steinbrück, man muss sich entscheiden. Wir sind übereinstimmend der Auffassung, dass die Europäische Zentralbank auch in Extremsituationen – Sie wissen, was alles Extremsituationen sein können; Sie haben das im Amt des Bundesfinanzministers erlitten – nicht die Aufgabe hat oder nicht haben sollte, am Sekundärmarkt zu intervenieren. Gerade deswegen ist es richtig, dass wir der EFSF diese Möglichkeit unter engen Voraussetzungen einräumen. Es bedarf in jedem Fall eines Memorandum of Understanding, und auf jeden Fall ist durch das, was wir heute beschließen, die Beteiligung des Deutschen Bundestages an diesen Entscheidungen sichergestellt. Das eine oder das andere müssen wir machen. In Ihrer Rede haben Sie beides kritisiert. Das war eines zu viel. Darauf wollte ich aufmerksam machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt noch einmal in großer Klarheit: Wir sind in einer außergewöhnlich schwierigen Lage, weil die Nervosität an den Finanzmärkten hoch ist und weil die Gefahr besteht, dass sich die Beunruhigung der Finanzmärkte auch auf die Realwirtschaft auswirken kann. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie einmal der FDP!) Das haben wir erlebt. Sie haben das vor drei Jahren nicht für möglich gehalten. Es ist dann so gekommen; man kennt die Zukunft nicht genau im Vorhinein. Deswegen ist es klug, dass wir unsere Verantwortung mit großem Ernst wahrnehmen und dass über jeden Schritt offen diskutiert und auch entschieden wird. Ich will daher die nächsten Schritte beschreiben: Wir gehen jetzt hinsichtlich des Kreditprogramms für Griechenland, das im April des vergangenen Jahres beschlossen wurde, weiter vor. Internationaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission, die zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für die Auszahlung der nächsten Tranche gegeben sind, werden ihre Mission heute wieder aufnehmen. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, wird die nächste Tranche ausgezahlt werden. Darüber wird voraussichtlich in der Sitzung der Euro-Gruppe am 13. Oktober 2011 eine Entscheidung zu treffen sein. Die Entscheidung ist offen, weil wir den Bericht noch nicht haben. Erst wenn wir den Bericht haben, werden und können wir entscheiden. Dann wird sich zeigen – darüber haben wir im Juni und Juli schon diskutiert –, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit Griechenland auf längere Sicht tragfähig wird. Der griechische Ministerpräsident hat in diesen Tagen auch auf Initiative der deutschen Bundesregierung – Herr Kollege Rösler, wir beide haben uns da sehr engagiert – mit vielen verantwortlichen Vertretern der deutschen Wirtschaft darüber geredet, ob die deutsche Wirtschaft bereit ist, sich stärker am Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft in Europa zu beteiligen. Die Europäische Kommission soll die Fonds noch effizienter und noch schneller nutzen können. Die Bundesregierung drängt darauf; die Staats- und Regierungschefs haben das verlangt. Aber jeder weiß: Die Entscheidungsprozesse in Brüssel sind nicht so schnell und einfach, wie wir uns das gelegentlich wünschen würden. Um auch dieses zu sagen: Ich bin froh, dass die Europäische Kommission endlich – ich habe anderthalb Jahre darauf gedrängt – eine Initiative für eine Finanztransaktionsteuer ergriffen hat; denn sie alleine hat das Recht für solche Initiativen. In den letzten anderthalb Jahren haben wir hier wieder und wieder darüber geredet. Gestern hat sie endlich den Vorschlag gemacht. Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung alles daransetzen wird, dass diese Initiative so schnell wie möglich zu einem Erfolg gebracht wird. Ich glaube, dass das ein weiterer guter Schritt ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]) – Wir sind uns doch in diesen Fragen einig. Das ist eine gemeinsame Position der Bundesregierung. Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone haben das am 21. Juli wieder gefordert. Übrigens, das, was jetzt in den fast sechs Gesetzgebungsvorschlägen zur Verstärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Parlament akzeptiert worden ist, geht auf die Arbeiten der Taskforce unter dem Ratspräsidenten Van Rompuy zurück, die auf Initiative der Bundeskanzlerin zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im vergangenen Jahr eingeleitet wurden. Das wird jetzt umgesetzt, und ich bin froh, dass es endlich erreicht worden ist. Herr Kollege Trittin, mit allem Respekt: Überschüsse und Defizite sind etwas Unterschiedliches. Im Gesetzgebungspaket ist genau festgelegt, dass das nicht das Gleiche ist. Die Euro-Zone als Ganzes hat ein Gleichgewicht nur deswegen, weil Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss hat. Sonst wäre der Euro eine Defizitwährung. Gott sei Dank hat Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss, mit dem wir Europa insgesamt stabilisieren können. Deswegen sollten Sie das nicht kritisieren und nicht sagen, die Überschüsse seien schuld an den Problemen. Nein, die Schulden und die Defizite sind die Ursache der Probleme, und die müssen wir gemeinsam bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will auch sagen: Wir werden jede Möglichkeit nutzen. Was wir national noch an Gesetzgebungsspielraum hatten, haben wir ausgeschöpft. Wir haben in Deutschland im Gegensatz zu anderen ein Restrukturierungsgesetz für die Banken verabschiedet. Wir haben im Gegensatz zu anderen im Alleingang – viel kritisiert – bereits im vergangenen Jahr ungedeckte Leerverkäufe national verboten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Mehr Spielraum hat der nationale Gesetzgeber nicht. Aber wir werden darauf drängen – ich hoffe, alle im Europäischen Parlament, auch Ihre Kollegen und Freunde –, dass wir mehr und schneller regulieren. Ich bin in der Tat der Meinung, dass die Frage, ob die Politik für die Märkte schnell genug ist, so beantwortet werden muss, dass wir als Politik die Märkte so regeln, dass klar ist, dass die demokratisch legitimierte Politik die Regeln macht, Grenzen setzt und dies auch durchsetzt. Es darf nicht sein, dass wir wegen des Arguments der Standortvorteile am Ende nicht in der Lage sind, zu Entscheidungen zu kommen. Nein, wir wollen besser regulierte Märkte. Wir wollen die strukturierten Produkte transparenter und besser regulieren. Bei jedem Schritt in diese Richtung werden wir im europäischen und weltweiten Rahmen darauf drängen, so schnell wie möglich voranzukommen. Es muss klar sein: Gerade bei der Frage der demokratischen Legitimation geht es einerseits darum, dass die Märkte der Welt nicht sicher sind, ob die westlichen Demokratien noch schnell genug die notwendigen Entscheidungen treffen können – Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Minister, lassen Sie noch eine weitere Frage zu? Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: – Herr Präsident, ich würde gerne den Satz zu Ende führen –, und andererseits darum, dass unsere Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Frage verzweifeln, ob die Märkte die Oberhand haben oder ob die Politik entscheidet. Wenn die freiheitlich und rechtsstaatlich verfasste Demokratie stabil bleiben will, muss sie klarmachen, dass sie die Regeln setzt und diese auch durchsetzt, und dazu ist die Bundesregierung entschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Es gab noch den Wunsch nach einer Zwischenbemerkung durch den Kollegen Schlecht, die ich, auch wenn die gemeldete Redezeit eigentlich überschritten ist, noch gerne zulassen würde, weil sie vorher angemeldet war, wenn Sie damit einverstanden sind. Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Bitte, Herr Präsident. Michael Schlecht (DIE LINKE): Herr Minister, Sie haben eben die Außenhandelsüberschüsse Deutschlands angesprochen und behauptet, sie seien nicht das eigentliche Problem, sondern das eigentliche Problem sei die Verschuldung. Sie müssten schon noch einmal erläutern, weshalb jenseits der deutschen Grenzen – rauf und runter – insbesondere die deutschen Außenhandelsüberschüsse und die Schwäche des deutschen Binnenmarktes im Grunde genommen als eine der zentralen Ursachen dafür benannt wird, dass die Verschuldung der anderen Länder spiegelbildlich zu dieser Entwicklung zustande gekommen ist. Man muss konstatieren: Wir haben in Deutschland über die letzten zehn Jahre einen aufsummierten Außenhandelsüberschuss von 1,2 Billionen Euro. Dieser wurde nur möglich, weil sich die anderen Länder verschulden mussten. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hanebüchene Logik!) Die Frage ist, weshalb Sie diesen Zusammenhang einfach negieren und nicht sehen, dass wir in Deutschland etwas dafür tun müssen, dass dieser Außenhandelsüberschuss abgebaut wird, insbesondere durch eine Stärkung der Binnennachfrage. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Schauen Sie, Herr Kollege, das Problem liegt darin: Wenn man wie die Linke davon überzeugt ist, dass eine Wirtschaft möglichst staatlich durchreguliert und zentralisiert verwaltet werden muss (Zurufe von der LINKEN) – lassen Sie mich doch die Frage beantworten –, und man nicht an die Überlegenheit einer Ordnung, die auf Markt und Wettbewerb gründet, glaubt, dann hält man natürlich den Wettbewerb für etwas Negatives. Wenn man aber an den Wettbewerb glaubt, dann heißt das, dass derjenige, der erfolgreicher ist, von den anderen natürlich etwas beneidet wird. Es ist leicht, zu sagen: Wärt ihr nicht so erfolgreich, würde unsere Schwäche nicht so auffallen. – Aber Europa hängt an der Stärke der deutschen Wirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deswegen, liebe Freunde: Die Solidarität der Deutschen ist klar. Sie muss sich auch darin zeigen, dass wir weiterhin eine Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, die dafür sorgt, dass Deutschland ein Anker der Stabilität in Europa und ein Motor des europäischen Wachstums bleibt. Die Bundesregierung wird auf diesem erfolgreichen Weg weiter vorangehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer kritischen Situation. Aber noch viel kritischer als die Situation an den Finanzmärkten in Europa ist die Situation dieser Koalition; denn nicht anders kann ich die Büttenrede interpretieren, die Sie, Herr Brüderle, heute an die Adresse Ihrer Koalition gerichtet gehalten haben. (Beifall bei der SPD) Sie war weder angemessen noch in der Sache irgendwie berechtigt. Herr Minister Schäuble, Sie haben eben gesagt, wir hätten darauf verzichtet, Sie gestern im Haushaltsausschuss zu hören. Das Gegenteil ist richtig: Ich habe beantragt, dass Sie uns im Haushaltsausschuss, bevor wir hier im Bundestag über diesen Gesetzentwurf abstimmen – das auch nach Ihren Aussagen das wichtigste Gesetz dieser Legislaturperiode ist –, Klarheit darüber verschaffen, ob weitere Maßnahmen geplant sind oder nicht, ob wir in Richtung einer weiteren Verschuldung gehen oder nicht. Sie sind diese Antwort, auch im Rahmen der Frage des Kollegen Schick, schuldig geblieben. Ich finde das nicht hinnehmbar! Ich habe den Eindruck, dass wir, insbesondere vor dem Hintergrund der wackligen Koalitionsmehrheit, hinter die Fichte geführt werden sollen. Worum geht es in diesem Paket? Es wird nicht nur um die 750 Milliarden Euro gehen. Es wird auch um die Frage gehen, ob das Risiko eventuell noch höher ist. Das wird mit dem Begriff „Hebel“ beschrieben. Ich will zitieren, was in der heutigen Ausgabe des Handelsblatts steht: Berlin habe Barroso „dringend gebeten“, das heikle Thema in seiner Grundsatzrede zur Lage der EU am Mittwoch im Straßburger Europaparlament nicht zu erwähnen, sagte ein hochrangiger Vertreter der Euro-Zone. … Dabei ist der Hebel längst beschlossene Sache. Frankreichs Premier François Fillon hat ihn vorgestern im französischen Parlament bereits angekündigt: „Wir werden Vorschläge machen, um den Kampf gegen die spekulativen Angriffe auszuweiten.“ Dabei sprach er ausdrücklich von einer „Hebelung der Mittel“ des Fonds. Herr Minister, ich finde, Sie wären Ihrer Verantwortung als Bundesfinanzminister vor dem deutschen Volk, aber auch vor den Kollegen, die hier im Bundestag abstimmen, dann gerecht geworden, wenn Sie Auskunft darüber gegeben hätten, was Sie beim Internationalen Währungsfonds beraten und bereits zugesagt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist nicht so, dass der Deutsche Bundestag darüber entscheiden wird, ob es diesen Hebel geben wird. Es ist so, dass der Haushaltsausschuss darüber entscheiden wird. Jeder, der heute diesem Gesetzentwurf seine Stimme gibt, muss wissen, dass er diese Entscheidung an die Mitglieder des Haushaltsausschusses delegiert. Das muss man wissen, bevor man abstimmt! Sie wollen das aber nicht transparent machen, weil Sie Angst um die eigene Mehrheit in Ihrer Koalition haben. Das ist der Grund. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Angst und Unsicherheit ziehen sich ebenso wie Ihr permanenter Zickzackkurs, wenn überhaupt von einem Kurs die Rede sein kann, durch die gesamte Griechenland-Krise. Ich will kurz daran erinnern, wie das Ganze abgelaufen ist. Im Februar 2010 haben Sie gesagt: Griechenland ist kein Problem. Es wird kein deutsches Geld geben. – Im Mai haben wir ein Hilfspaket in Höhe von 22 Milliarden Euro beschlossen. Der Kollege Fricke sagte hier noch: 22 Milliarden Euro und keinen Cent mehr. Dem hat keiner von Ihnen widersprochen. Am selben Tag, an einem Freitag, ist die Bundeskanzlerin nach Brüssel gefahren und hat dort ein Paket über 123 Milliarden Euro vereinbart. Meine Damen und Herren, Sie sind in Europa Getriebene der Märkte. Sie führen nicht. Sie haben Deutschland isoliert, und Sie haben mit Ihrem fehlerhaften Krisenmanagement die Krise verschärft, statt zu deeskalieren. (Beifall bei der SPD) Dass Sie Angst um Ihre eigene Mehrheit haben, kann ich nachvollziehen. Denn bei allem, was Sie bisher beschlossen haben, ist das Gegenteil eingetreten; denn Sie sind von den Märkten und der Notwendigkeit, die anderen europäischen Länder zu überzeugen, überholt worden. Ich habe einen Entschließungsantrag herausgesucht, den die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP am 26. Oktober 2010 zu dem Thema vorgelegt haben. Darin geht es um den Stabilitätspakt, der gestern im Europäischen Parlament beschlossen worden ist. Unter Punkt 3 des Antrags steht – ich zitiere –: Diese Sanktionen müssen zudem früher als bisher und weitgehend automatisch zum Einsatz kommen. Genau diesen Automatismus hat die Bundeskanzlerin einen Tag später in Deauville geopfert. Der Stabilitätspakt war nicht Bestandteil ihrer Verabredung mit Herrn Sarkozy. Erst das Europäische Parlament hat ihn wieder eingebracht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unter Punkt 5 des Antrags steht: Dies beinhaltet zur Vermeidung von Fehlanreizen den Verzicht auf die Einrichtung eines dauerhaften Fonds für überschuldete Staaten, in dem andere Staaten der Währungsunion oder die EU Kredite oder Garantien bereitstellen müssen. Auch eine Entfristung des gegenwärtigen Rettungspakets wird abgelehnt … Heute beschließen wir wieder das glatte Gegenteil von all dem, was Sie uns vor einem Jahr vorgetragen haben. (Beifall bei der SPD) Das, was wir heute beschließen wollen, ist zwar richtig, es hätte aber ein Jahr früher kommen müssen. Dann hätte es erst gar keine Krisensituation in Italien und Spanien gegeben, die dazu führt, dass wir heute mit mehr Geld gegen die Finanzmärkte vorgehen müssen. Diesen Punkt muss man Ihnen vorhalten; denn Sie sind nicht bereit, Führung zu übernehmen und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen, was für Vorteile wir von Europa haben. Sie setzen auf Populismus, sind damit aber letztlich zu Recht gescheitert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie machen uns, die wir die Verantwortung mittragen, Vorwürfe. Wir sind an dieser Stelle von Ihrer Seite beschimpft worden. Ich habe in Washington viele Gespräche mit Vertretern anderer Länder geführt. Ihre erste Frage war immer: Wird denn die Opposition mit dafür stimmen? Das ist uns wichtig. Denn auch wir wissen, dass diese Regierung nicht mehr lange hält, und wir brauchen Sicherheit in Europa. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) All das, was dazu geführt hat, dass wir in Europa so stark sind, dass wir wirtschaftlich prosperieren und dass die Arbeitslosigkeit sinkt, haben Sie abgelehnt. Sie haben die Konjunkturprogramme, das Kurzarbeitergeld und die Investitionsprogramme abgelehnt. Das alles aber macht uns heute stark. Nichts davon ist Ihr Thema gewesen. Sie haben das in der Oppositionszeit abgelehnt und keine Alternativen gehabt. (Beifall bei der SPD) Sie sollten still sein und dankbar dafür sein, dass Sie trotz dieser Regierung eine breite Mehrheit im Bundestag bekommen werden. Zum Thema Schuldenbremse: Sie tun jetzt so, als wären Sie der intellektuelle Urheber gewesen. Wenn ich mich richtig entsinne, geht der Entwurf der Schuldenbremse – die hoffentlich auch in anderen nationalen Parlamenten eingeführt wird und dazu führt, dass Europa auch eine Stabilitätsunion wird und letzten Endes stärker daraus hervorgeht als bisher, dass die Länder zusammenrücken, die Finanzpolitiken vereinheitlicht werden und das bisherige Steuerdumping unterbunden wird – auf Peer Steinbrück zurück. Wie haben Sie sich damals in der Abstimmung im Deutschen Bundestag verhalten, Herr Brüderle? Sie haben sich enthalten. Sehr mutig! (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von SPD: Oh! – Hört! Hört!) Wir Sozialdemokraten werden heute dem Gesetzentwurf zustimmen. Wir sind der Auffassung, dass wir ein wehrhaftes Europa brauchen, das zusammenhält, und zwar unter der klaren Kondition, die Haushalte zu sanieren und die Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, aber auch den sozialen Zusammenhalt in Europa nicht zu gefährden. Das bedeutet, auch die Finanzmärkte an den Kosten der Krise zu beteiligen. Das haben Sie in den letzten Jahren verhindert. (Beifall bei der SPD) Das bedeutet, dass die Finanzmärkte, diejenigen, die Spekulationsgewinne erzielen und noch heute enorme Gewinne mit griechischen Papieren machen, besteuert werden und dass die daraus resultierenden Steuereinnahmen genutzt werden, um die Investitionstätigkeit in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern voranzubringen. Reines Sparen ist zu wenig. Wir brauchen einen Ansatz, der die Investitionstätigkeit wieder anregt. (Beifall bei der SPD) All dies bleiben Sie leider schuldig. Meine Hoffnung ist, dass die anderen europäischen Länder Sie so wie bisher auf den rechten Weg bringen. Eine weitere Hoffnung, die ich habe, ist: Jede Abstimmung in diesem Parlament wird zu einem Lackmustest für diese Regierung. Über kurz oder lang werden Sie daran zerbrechen. Heute werden Sie vielleicht noch einmal die Mehrheit bekommen. Aber das wird nicht auf Dauer so sein. Je früher Ihre Regierungszeit endet, desto besser für Europa und für Deutschland! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wunschbilder der Opposition! Das kann man nicht verstehen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirtschaft, Philipp Rösler. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in Deutschland nicht nur großartige Wachstumszahlen. (Zurufe von der SPD: Trotz Ihrer Partei! – Aber nicht bei der FDP!) Gerade heute hat Frau von der Leyen auch großartige Zahlen zu verkünden, was die Beschäftigung anbelangt. Im September ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland unter 2,8 Millionen gesunken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dass wir Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung haben, ist unter anderem ein Verdienst eines starken, gemeinsamen Europas und eines starken, stabilen Euro. Deswegen ist es richtig, dass wir alles dafür tun, beide zu stärken. Wir brauchen ein starkes gemeinsames Europa, aber auch eine gemeinsame, starke Währung, eben einen stabilen Euro. Das ist das Problem: Die Menschen haben längst das Vertrauen verloren. (Zurufe von der SPD: Ja! – In euch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: In Ihre Partei! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir haben leider eine geordnete Insolvenz der FDP! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ich komme gleich auf Sie zu sprechen, aber das Schreien nutzt Ihnen nichts. – Es schadet der Politik insgesamt, dass die Menschen das Vertrauen verloren haben. Sie glauben nicht, dass ihnen Europa guttut und dass Europa richtig ist. Deswegen müssen wir alles dafür tun, das Vertrauen zurückzugewinnen. Jeder, der proeuropäisch denkt und fühlt, muss alles dafür tun, die Akzeptanz Europas zu erhöhen. (Zuruf von der SPD: Wo haben Sie Ihre Wahlplakate in Berlin gelassen?) Das heißt, man muss alles, was man macht, vernünftig erklären. Man muss die Frage beantworten, in welche Richtung sich Europa in den nächsten Jahren entwickeln soll. Wir beantworten diese Frage sehr klar. Wir wollen nicht wie Sie ein Schuldeneuropa, sondern endlich eine echte Stabilitätsunion in Europa. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie haben die Maastricht-Kriterien aufgeweicht. Sie wollen Euro-Bonds für alle. Obwohl Sie hier anders reden, haben Rot und Grün gestern im Europäischen Parlament gegen eine Verschärfung der Stabilitätskriterien gestimmt. Das hat nichts mit proeuropäischer Geisteshaltung zu tun und erst recht nichts mit wirtschaftspolitischer Kompetenz. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Minister, darf der Kollege Heil Ihnen eine Zwischenfrage stellen? Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Nein. Es ist richtig, dass wir heute gemeinsam über die EFSF und das Gesetz zum Stabilisierungsmechanismus diskutieren. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie, wir diskutieren heute doch nicht mehr darüber! Was ist das denn schon wieder? – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir stimmen heute ab!) Denn hier werden klare Kriterien vorgegeben. Rettungspakte sind immer nur das letzte Mittel. (Zuruf von der SPD: Wir wollen Guido wiederhaben!) Sie können und dürfen niemals der Ersatz für verfehlte Haushaltspolitik und verfehlte Wirtschaftspolitik in anderen Mitgliedstaaten der Euro-Zone sein. Künftig wird es Hilfen nur unter klar definierten Bedingungen geben. Ob es solche Hilfen gibt, wird dann positiv beschieden, wenn Einstimmigkeit in den entsprechenden Gremien herrscht. Das ist ein eindeutiger Vorteil im Vergleich zu anderen Gremien, in denen Deutschland wie in der EZB überstimmt werden kann und Entscheidungen manchmal vielleicht gegen die ordnungspolitische Vernunft und den ordnungspolitischen Sachverstand getroffen werden. Das wird jetzt durch die zu beschließenden Maßnahmen eindeutig besser werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Haftungsobergrenze ist selbstverständlich festgelegt. Natürlich kann es hier nur mithilfe des Deutschen Bundestages zu Änderungen kommen. Das heißt, das, was immer gefordert wurde und was vollkommen richtig ist, nämlich dass der Haushaltsgesetzgeber immer das letzte Wort hat, wird hiermit verwirklicht. Damit bleibt es dabei: Das Königsrecht, das Haushaltsrecht, bleibt beim Parlament. Das ist eine richtige und kluge Entscheidung und eine vernünftige Ausgestaltung der im Änderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich kann deswegen nur an Sie appellieren, nicht aus parteitaktischen Erwägungen zuzustimmen, sondern weil Sie wissen, dass Sie damit den richtigen Weg in Richtung einer Stabilitätsunion gehen, die klare Regeln vorgibt. So muss die Schuldenbremse in allen Mitgliedstaaten verankert werden, es muss ein Wettbewerbsfähigkeitstest, für den wir heute im Anschluss im Wettbewerbsfähigkeitsrat werben werden, eingeführt werden, und es müssen Maßnahmen für all die Staaten ergriffen werden, die nicht aus eigener Kraft in der Lage sind, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit herzustellen. Dafür brauchen diese Staaten die neuen Instrumente der EFSF und später des ESM. Das zeigt, dass wir mit den Maßnahmen, die jetzt noch anstehen, genau die richtigen Schritte in eine Stabilitätsunion tun; denn man muss den Menschen die Frage beantworten: Wohin soll sich Europa in den nächsten Jahren entwickeln? Nur wenn man diese Frage beantworten kann, dann wird man wieder Vertrauen in die Politik insgesamt herstellen können. Dafür steht die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich mache jetzt einige wenige geschäftsleitende Bemerkungen. Es gibt zwei Wünsche auf Kurzintervention, und zwar des Kollegen Heil und des Kollegen Ernst. Die Kollegen werde ich gleich der Reihe nach aufrufen. Danach wird der Minister Gelegenheit haben, darauf zu antworten. Des Weiteren will ich, wie von Einzelnen gewünscht, gerne darauf aufmerksam machen, dass im weiteren Verlauf der Debatte sowohl der Kollege Willsch als auch der Kollege Schäffler das Wort erhalten, sie aber nicht für die jeweiligen Fraktionen, denen sie angehören, reden. Sie machen von dem Rederecht Gebrauch, das sie als Mitglieder des Deutschen Bundestages selbstverständlich haben, mit und ohne Zugehörigkeit und Zuordnung zur jeweiligen Fraktion. Ich denke, es entspricht sowohl unserem Selbstverständnis als auch der völlig unmissverständlichen Verfassungslage, dass wir diesem Anspruch Rechnung tragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Nun bekommt der Kollege Heil die Gelegenheit zu einer Kurzintervention. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Rösler, Sie haben eben davon gesprochen, dass es darum gehe, eine klare proeuropäische Position zu beziehen, dazu zu stehen und Vertrauen zu schaffen. Ich frage Sie deshalb, warum Sie als Vorsitzender der FDP in den Tagen vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl, als Ihre Partei in dieser Stadt in unverantwortlicher Art und Weise plakatiert und mit antieuropäischen Ressentiments gespielt hat, wobei die Strategie Gott sei Dank gescheitert ist, so beredt geschwiegen haben, wenn es Ihnen angeblich um Verantwortung geht. Im Gegenteil: Sie haben die Stimmung noch befeuert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Bei aller persönlichen Wertschätzung, Herr Rösler, kann ich Ihnen einen Vorwurf nicht ersparen. Mich hat Ihr Verhalten, kurz vor der Wahl populistische Strömungen Ihrer Partei nicht nur laufen zu lassen, sondern sie sogar noch zu befeuern, an das Verhalten Ihres Vorgängers, der neben Ihnen sitzt, in einer Wahlkampfsituation mit Herrn Möllemann erinnert. Ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht verhindern, dass Ihre Partei – wir werden gleich Herrn Schäffler hören – in unverantwortlicher Art und Weise antieuropäischen Populismus schürt, dann tragen Sie dazu bei, dass sich die Bevölkerung in diesem Land in die falsche Richtung orientiert. Herr Rösler, erklären Sie einmal den Menschen hier, warum Sie heute so reden, vor einigen Wochen aber geschwiegen oder den Populismus sogar noch befeuert haben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Kollege Ernst Gelegenheit zu einer Kurzintervention. Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Rösler, ich habe eigentlich eine sehr einfache Frage. Können Sie in dem Fall, dass die vielen Bürgschaften und Verpflichtungen, die wir heute, wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, in Deutschland eingehen, wirksam werden, ausschließen, dass nicht die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland durch sinkende Renten, durch sinkende Löhne und durch sinkende Sozialleistungen zur Kasse für das gebeten werden, was wir hier beschließen? (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Antwort. Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrter Herr Abgeordneter Heil, Sie haben von antieuropäischen Tendenzen gesprochen. Ich habe die Wortmeldung des Abgeordneten eben sehr wohl als antieuropäisch verstanden. Das ist aber ausdrücklich nicht unsere Linie. Ich habe immer gesagt: proeuropäische Ausrichtung gepaart mit wirtschaftspolitischer Vernunft. Daran werden Sie unsere Worte, aber auch unser Handeln messen müssen. Jetzt frage ich Sie – am Abstimmungsverhalten sollt ihr sie erkennen –: Wo ist denn Ihre proeuropäische Haltung gewesen, als Sie das aufgeweicht haben, was unsere Vorväter bei der Einführung des Euro bedacht haben, nämlich die Maastricht-Kriterien? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wo ist denn Ihre proeuropäische Haltung, wenn es bei Diskussionen um Euro-Bonds genau darum geht, solchen Wortbeiträgen wie gerade entgegenzutreten? Wir wollen nicht, dass Schulden vergemeinschaftet werden. Die Menschen dürfen auch nicht das Gefühl haben, es würde in Deutschland so kommen. Wo waren Sie denn gestern, als die Sozialdemokraten und die Grünen im Europäischen Parlament bei den wichtigen Abstimmungen zu den weiteren Stabilitätsmaßnahmen und Stabilitätsmechanismen auf europäischer Ebene ihre Zustimmung verweigert haben? Am Abstimmungsverhalten sollt ihr sie erkennen. Sie haben klar entgegen dem europäischen Geist und auch klar gegen wirtschaftspolitische Vernunft gehandelt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Herr Rösler, was ist mit meiner Frage?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte es auch noch selbst gesagt: Ich spreche heute leider nicht für meine Fraktion und bin dem Bundestagspräsidenten dankbar dafür, dass ich meine Gedanken gleichwohl hier vortragen kann. Ich kämpfe zeit meines politischen Lebens dafür, dass wir in dieser Konstellation christlich-liberal miteinander arbeiten. Der Wirtschaftsminister hat die Erfolge gerade aufgezählt, die sich sehen lassen können: 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum im letzten Jahr, und die Arbeitslosigkeit liegt unter 2,8 Millionen. Das ist eine stolze Leistung. Wir haben hier gut vorgelegt. Da ich jetzt in einer Sachfrage nicht folgen kann, möchte ich erläutern, was ich an diesem Weg für falsch halte. Erster Punkt: Im letzten Mai haben wir begonnen, uns mit dem Griechenland-Paket auf eine schiefe Ebene zu begeben. Danach gab es bekanntlich kein Halten mehr: einmalig, befristet, konditioniert – aber es wurde immer mehr. Das Konzept, zu versuchen, mit immer mehr Schulden übermäßige Schulden zu bekämpfen, geht nicht auf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es funktioniert nicht, Disziplin in Haushaltsfragen zu erreichen, indem man Zinsen heruntersubventioniert. Das einzige Mittel gegen eine übermäßige Verschuldung sind hohe Zinsen. Ich befürchte, dass dieser Weg viel Geld kosten wird, das wir nicht haben. Das Geld, das sich in Bürgschaften ausdrückt und sich jetzt auf 211 Milliarden Euro summiert, wenn heute hier entsprechend abgestimmt wird – alleine für die EFSF; Griechenland kommt noch hinzu –, haben wir nicht. Ich glaube, das Risiko, das wir den kommenden Generationen damit aufladen, ist zu groß. Wir leihen dieses Geld, das wir ins Schaufenster stellen, von unseren Kindern und Enkeln; wir haben es nicht. (Beifall der Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU] und Frank Schäffler [FDP]) Auch deshalb kann ich das nicht mittragen. – Das ist der zweite Punkt. Der dritte Punkt: Wir haben, als wir den Euro eingeführt haben, viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die D-Mark, die als weltweites Markenzeichen und als Anerkennung des Wiederaufstiegs, des wirtschaftlichen Erfolgs nach dem Krieg galt, hatte für uns Deutsche einen hohen Symbolwert. Als wir die D-Mark aufgegeben haben, haben wir den Menschen versprochen: Der Euro wird genauso sicher und genauso stabil, wie die D-Mark es war. Zudem wird er nachhaltig von der Europäischen Zentralbank geschützt, die der Geldwertstabilität verpflichtet ist. – Der Euro ist stark. Er ist mit 88 US-Cent gestartet und liegt jetzt je nach Tagesform zwischen 130 und 145 US-Cent. Der Euro ist in dieser Zeit stabil gewesen. Aber ich befürchte, diese Stabilität werden wir nicht aufrechterhalten können, wenn wir diesen Weg weiter gehen. Wir haben den Menschen ein weiteres Versprechen gegeben. Wir haben gesagt: Niemand wird für die Schulden eines anderen Staates in diesem Währungsraum aufkommen müssen. Jeder muss seinen Haushalt selbst ausgleichen. Genau das brechen wir mit dieser Schirm-Politik. (Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP]) Ich halte dies ökonomisch für den absolut falschen Weg, der meinen Grundüberzeugungen widerspricht. Natürlich gibt es Alternativen. Wir haben nach der Finanzkrise Instrumente geschaffen, um Banken stützen und rekapitalisieren zu können. Es wäre aber ein sehr viel treffsicherer Weg, wenn wir sagen würden: Lasst die Gläubiger ihren Teil tragen! Erst wenn es Probleme gibt, sollten wir unterstützend helfen, damit systemrelevante Bereiche unserer Volkswirtschaft nicht infiziert werden. Zum Thema Gläubigerbeteiligung. Wir müssen uns einmal einen Moment zurückbesinnen und uns fragen, über was wir da eigentlich reden. Es gibt ein Vertragsverhältnis zwischen dem Gläubiger, also demjenigen, der Geld gibt, und dem Schuldner, also demjenigen, der den Kredit in Anspruch nimmt. Wenn der Kredit ausfällt, dann ist das Sache des Gläubigers. Dass wir jetzt darüber reden, ob nur ein Teil des Kreditausfalls von den Gläubigern getragen werden muss und ob nicht vielmehr der Staat für dieses private Geschäft automatisch im Obligo ist, zeigt, dass wir hier die Dinge auf den Kopf gestellt haben. Wir sollten uns daher bemühen, die Diskussion wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich appelliere im Interesse der nachfolgenden Generationen an Sie alle, dass wir diesen Weg möglichst schnell beenden, anstatt ihn mit immer höheren Volumen zu verlängern. Ich glaube, dass wir ansonsten dem Euro und Europa schaden würden. Es wird in den Hauptstädten nicht mehr gegen die jeweiligen Regierungen demonstriert, sondern gegen Europa und einzelne Länder wie Deutschland. Wir können nicht jedem unsere Art zu leben aufdrängen. Wir können aber auf der Einhaltung selbstakzeptierter Regeln bestehen. Genau das sollten wir tun. Ich bedanke mich ausdrücklich, dass es mir möglich war, hier vorzutragen. Mit Blick auf meine eigene Fraktion sage ich: Danke, dass ihr das ertragen habt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reden aus den Reihen der Koalition zeigen bislang ganz deutlich, dass Sie ein echtes Problem haben. Ihnen fehlt schlichtweg die Orientierung in dieser Krise. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach was!) Das hängt damit zusammen, dass der Regierung ein Kompass fehlt und damit jegliche Überzeugungskraft, wie man diese Krise in Europa, in der Europäischen Union, in der Euro-Zone überwinden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das findet Ausdruck in Ihrer Salamipolitik. Seit anderthalb Jahren markieren Sie rote Linien, die Sie regelmäßig übertreten haben. Zunächst hieß es: kein Cent für Griechenland; dann gab es das Rettungspaket für Griechenland. Die nächste rote Linie war: kein Rettungsschirm; dann gab es umgehend diesen Rettungsschirm. Dann hieß es: kein dauerhafter Rettungsschirm; jetzt wird es den ESM geben. Dann wurde gesagt: keine Ankäufe auf dem Sekundärmarkt, und heute werden wir sie beschließen. Euro-Bonds haben Sie heute wieder ausgeschlossen. Über die Frage der Hebelung der jetzt erweiterten EFSF wird in der Regierung schon wieder trefflich gestritten. Zumindest hat der Finanzminister dies vorhin nicht ausgeschlossen. Es wäre aber notwendig, dass Sie vor Abstimmungen der Bevölkerung und nicht nur den Parlamentariern die Wahrheit sagen, damit Sie Vertrauen in diesen Kurs herstellen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dieses Verfahren kostet nicht nur Zeit und Geld, sondern es kostet vor allen Dingen Vertrauen in der Bevölkerung. Herr Bundesminister Rösler, ich fand es schon vergnüglich, dass Sie hier vom fehlenden Vertrauen in das Handeln der Regierung und in ihre Fähigkeit, die Euro-Krise zu überwinden, sprechen. Sie tragen doch höchstpersönlich dazu bei, dass dieses Vertrauen fehlt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie fabulierten über die Insolvenz Griechenlands. Dabei haben wir noch keinen Mechanismus für eine geordnete Insolvenz. Die FDP war gegen Aktionen auf dem Sekundärmarkt. Das führte dazu, dass die EZB tätig werden musste, was Sie hinterher umgehend wieder kritisiert haben. Sie sind gegen Finanzmarktregulierung und sprechen sich noch heute gegen eine Finanztransaktionsteuer aus. Wie soll da Vertrauen in Regierungshandeln entstehen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch wir Grünen führen Diskussionen. Auch wir Grünen haben viele Fragen bezüglich der Euro-Rettung und fragen, ob der eingeschlagene Weg richtig ist. Wissen Sie aber, was den Unterschied ausmacht? Wir haben ein Ziel vor Augen: ein geeintes, starkes, soziales Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Wir wollen den Erhalt der Euro-Zone, und wir wollen weitere Schritte der politischen Integration. Danach können wir die ergriffenen Maßnahmen bewerten. Wir sagen Ihnen seit über einem Jahr: Ihre Trippelschritte reichen nicht aus. Wir sagen das nicht, weil wir immer alles besser wissen, sondern weil wir einen Maßstab haben, an dem wir diese Maßnahmen messen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sind für umfangreiche Lösungen, und Sie folgen uns ja auch immer – allerdings leider nur mit Verzögerung. Wir brauchen die Entkopplung von Schulden- und Bankenkrise. Wir brauchen die schnellere Einführung des dauerhaften Rettungsschirms. Wir brauchen eine strengere haushalts- und finanzpolitische Koordinierung, und wir brauchen mindestens die Finanztransaktionsteuer als wichtigen Teil der Finanzmarktregulierung. Außerdem brauchen wir künftig gute Euro-Bonds unter bestimmten Konditionen. Wenn es weitere Änderungen der europäischen Verträge für eine bessere europäische Integration braucht, dann müssen wir dafür kämpfen. Dafür brauchen wir aber eine proeuropäische Regierung und keine zaudernde Regierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Oje, oje!) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine letzte Bemerkung. – Meine Damen und Herren, das Gesetz ist nicht hinreichend, aber notwendig, und wir stimmen ihm zu – nicht wegen, sondern trotz der Regierung. Europa hat nämlich Besseres verdient als die Tatsache, dass eine Regierung auf zufällige schwarz-gelbe Mehrheiten im Parlament angewiesen ist. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gerda Hasselfeldt für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der heutigen Debatte verdient meines Erachtens eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Fakten, den konkreten Entscheidungsalternativen und deren Konsequenzen. In einer solch ernsthaften Debatte haben Spekulationen, Unterstellungen oder gar Fehlinterpretationen keinen Platz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deshalb will ich für die CSU klarstellen: Für uns – auch für mich persönlich – ist Europa das größte Friedensprojekt unserer Geschichte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dazu gehört die gemeinsame europäische Währung, der Euro. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir in Deutschland davon auch ökonomisch profitiert haben und profitieren. Deshalb haben wir eine ganz besondere Verantwortung für die Stabilität dieser Währung und für den Zusammenhalt in Europa. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir sind für den Europäischen Stabilitätsmechanismus in dieser Form, weil damit Solidarität verankert wird, und zwar nicht wegen irgendeines einzelnen Landes, sondern wegen des gemeinsamen Euro-Raumes, wegen unserer gemeinsamen Währung und wegen unserer nationalen Betroffenheit und Verantwortung. Es geht also einerseits um Solidarität und andererseits um die Eigenverantwortung der einzelnen Nationalstaaten. Beides gehört zusammen und ist im Projekt des Europäischen Stabilitätsmechanismus sowie im Projekt der Ertüchtigung der EFSF enthalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der Debatte darüber, was sonst noch notwendig ist, will ich hinzufügen: Dieses Europa, wie wir es verstehen, ist ein Europa souveräner Nationalstaaten. Wenn Kompetenzen abgegeben werden, muss ganz genau untersucht werden, ob das notwendig ist, ob das der Stabilität Europas und der Stabilität der gemeinsamen Währung dient, ja nicht nur, ob das der Stabilität dient, sondern auch, ob das unabdingbar notwendig ist. Das muss geprüft werden, weil wir an der nationalen Verantwortung festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Zur Klarstellung gehört aber auch, dass das Problem durch die Nichteinhaltung von Regeln entstanden ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die rot-grüne Koalition hat damals nicht nur ein bisschen dazu beigetragen, sondern sie hat die Weichen dafür gestellt, dass diese Regeln nicht eingehalten werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Das sind doch Unterstellungen!) Das gehört auch zur Wahrheit. Die Konsequenzen daraus waren nämlich das Aufweichen der Stabilitätskriterien, der Weg in die Verschuldung einiger Euro-Staaten und die fehlende Wettbewerbsfähigkeit einer Reihe von Euro-Staaten, die zum Teil schon gegeben war, aber dann noch verstärkt wurde. All das wirkt sich auf den gesamten Euro-Raum und somit auch auf uns aus. Deshalb stehen wir mit in der Verantwortung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks? Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Ja. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Frau Kollegin Hasselfeldt, wir mögen uns persönlich sehr. Außerdem glaube ich, dass wir in der Finanzpolitik ähnliche Herangehensweisen haben. Deshalb will ich Ihnen auch nicht zum Vorwurf machen, was ich jetzt sage. Vielmehr möchte ich ein für alle Mal für das ganze Haus klarstellen – das habe ich schon häufiger versucht –: Als die Stabilitätskriterien in Europa geändert wurden, in der Tat auf Betreiben der französischen und der deutschen Regierung (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) – das ist gar nicht zu bestreiten –, wurden die Maastricht-Kriterien neu gefasst. (Zuruf von der CDU/CSU: Aufgeweicht!) Das ist offenbar Teufelszeug für die andere Seite des Hauses. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Schuldenbremse, die in unserer Verfassung steht und die wir nach ganz Europa exportieren wollen, genau diesen Maastricht-Kriterien nachgebildet worden ist. Das ist offenbar aber kein Teufelszeug. (Beifall bei der SPD) Wir sollten einfach einmal fachlich und redlich miteinander umgehen. Außerdem sollte die andere Seite dieses Hauses diese falsche Behauptung einfach nicht mehr aufstellen. (Beifall bei der SPD) Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Frau Kollegin Hendricks, ich lege großen Wert darauf, dass meine Behauptung nicht falsch war. Im Gegenteil, Sie haben sie sogar noch bekräftigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben zugegeben, dass auf deutsches und französisches Betreiben hin die Stabilitätskriterien auf europäischer Ebene geändert und damit in ihrer Wirkung aufgeweicht wurden. Das ist unbestritten. Die Schuldenbremse im nationalen Bereich hingegen ist auf eine nationale Entscheidung zurückzuführen, die mit der europäischen nichts zu tun hatte. Diese finanzpolitische Bindung der Haushalte des Bundes und der Länder hat nichts mit der europäischen Regelung zu tun. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Doch!) Diese hat im Übrigen eine ganz andere Qualität, weil wir keine gemeinsame Finanzpolitik auf europäischer Ebene haben. Auf nationaler Ebene haben wir aber sehr wohl eine gemeinsame Finanzpolitik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Jetzt bin ich bei der Situation in Europa. Gestern hat das Europäische Parlament die Verschärfung des Stabilitätspakts beschlossen; das wurde schon angesprochen. Ich muss schon sagen: Sie haben keine Konsequenzen aus Ihren Fehlern gezogen; denn hier haben Sie den gleichen Fehler gemacht. Die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linken haben bei der Abstimmung über die Verschärfung des Stabilitätspakts wieder den Versuch unternommen, die Kriterien aufzuweichen und zwischen guten Schulden und schlechten Schulden zu unterscheiden. Sie wollten differenzieren und haben, weil das nicht gelungen ist, nicht zugestimmt. Den gleichen Fehler, den Sie damals gemacht haben, begehen Sie jetzt wieder. Das ist wirklich unverantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Sie haben wohl nichts aus dem gelernt, was wir in den letzten Monaten erlebt haben. Aufgrund unserer Erfahrungen aus der Aufweichung der Kriterien und der Verschuldungssituation einiger Länder haben wir einen europäischen Rettungsschirm aufgespannt mit den entsprechenden Garantien und Kreditmöglichkeiten, aber auch in Verbindung mit strengen Auflagen. Dass das Konzept grundsätzlich richtig ist, zeigen die Entwicklungen in Irland und in Portugal. Da funktioniert dieser Rettungsschirm mit genau diesem Mechanismus. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir mit unserem Grundansatz richtig liegen. Was wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzes anstreben, ist eine Ertüchtigung dieses Rettungsschirms, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens kann sich die EZB wieder auf ihre geldpolitische Verantwortung konzentrieren. Zum Zweiten kann die EZB Vorsorgemaßnahmen treffen. Zum Dritten – das ist das Wichtigste – stehen bei definitiver Zahlungsunfähigkeit eines Landes Instrumente zur Verfügung, um das Überschwappen der Krise eines Landes auf die anderen Länder im Euro-Raum zu verhindern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist der Kern dessen, was wir heute beschließen. Wenn wir diese Instrumente nicht bekommen sollten, dann riskieren wir eine Krise mit verheerenden und unkalkulierbaren Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Spareinlagen, Versicherungen und unsere Wirtschaft – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, vielleicht sogar darüber hinaus. Das ist nicht zu verantworten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Klar ist aber auch – das haben wir schon bei der Einrichtung des Rettungsschirms entschieden –, dass das Ganze nur als Ultima Ratio in Betracht kommt, dass Einstimmigkeit herrschen muss und dass es vor allem verbunden sein muss mit strengen Auflagen und der Überprüfung dieser Auflagen. Mindestens so wichtig wie die Auflagen selbst sind die Überprüfung der Auflagen und die konsequente Einhaltung der Sanktionen, also die Nichtkreditgewährung, wenn die Auflagen nicht eingehalten werden. Das ist etwas ganz anderes als das, was Rot-Grün immer wieder vorschlägt und wovon Sie sich jetzt zu distanzieren versuchen: die Euro-Bonds. Damit wären nämlich keine Auflagen für die einzelnen nationalen Staaten verbunden. Damit wären auch nicht der Druck zur Durchsetzung von Reformen sowie der Druck hin zu Veränderungen der Strukturen verbunden. Ebenso wenig wäre damit die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Nationen verbunden. Das wäre der Weg in eine unbegrenzte Schuldenunion – zulasten der deutschen Steuerzahler noch dazu. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diesen Weg kann niemand verantworten. Diesen Weg werden wir mit Sicherheit nicht durchgehen lassen. Sie haben schon einmal eine falsche Weichenstellung vorgenommen. Noch einmal werden wir Sie diesen Fehler nicht machen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf haben wir durch die intensive Diskussion über die Fraktionsgrenzen hinweg eine umfassende, fast einmalige Parlamentsbeteiligung erreicht. Diese Parlamentsbeteiligung geht weit über das hinaus, was wir bisher bei vergleichbaren Entscheidungen erlebt haben. Bei jeder einzelnen Maßnahme, über die auf europäischer Ebene im Zusammenhang mit dem Rettungsschirm entschieden wird, muss nämlich vorher die Zustimmung des Parlaments, mindestens eines Parlamentsgremiums, eingeholt werden. Dieses Votum des Parlaments ist dann bindend. Das heißt, der deutsche Vertreter ist quasi an der Leine des Parlaments. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!) Man muss sich das einmal vor Augen halten. Ich finde, das, was die Kolleginnen und Kollegen hier fraktionsübergreifend in den Verhandlungen erreicht haben, ist ein großartiger Erfolg, der bei der Gesamtabstimmung deutlich macht: Der Herr des Verfahrens ist das nationale Parlament. Das, meine Damen und Herren, ist nicht etwa gegen die Regierung durchgesetzt worden, sondern im Einvernehmen mit der Regierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Nun wissen wir alle, dass sich keiner und keine von uns heute die Entscheidung leicht macht. Wir haben viel diskutiert, nicht nur in vielen Gremien des Parlaments, sondern darüber hinaus mit vielen Fachleuten, die uns im Übrigen ganz unterschiedliche Ratschläge gegeben haben. Die einzige Bemerkung, die bei all diesen Ratschlägen einhellig fiel, lautete: Aber die Verantwortung habt ihr. Für mich ist klar, dass der vorgesehene Weg besser verantwortbar ist als jeder andere Weg, der bisher diskutiert wurde. Er gibt uns Instrumente, um einen möglichen Flächenbrand einzugrenzen. Er stärkt der Regierung bei den schwierigen Verhandlungen auf EU-Ebene den Rücken. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies in der schwierigen Situation, die wir zu bewältigen haben, der richtige Weg ist. Deshalb empfehle ich Ihnen die Zustimmung zu diesem Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun der Abgeordnete Frank Schäffler. Frank Schäffler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 11. Februar 2010 haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zum kollektiven Rechtsbruch verabredet. Griechenland sollte auf jeden Fall finanziell geholfen werden. Damit haben die Staats- und Regierungschefs nichts anderes verkündet als den Bruch der Nichtbeistandsklausel in den europäischen Verträgen. Uns wurde im Deutschen Bundestag versprochen, dass die Griechenland-Hilfe eine einmalige Hilfe ist, die absolute Ausnahme, und sonst nichts. Die Tinte war noch nicht trocken, schon wurde einen Tag später in Brüssel der jetzige Schuldenschirm, die Einrichtung der EFSF, vereinbart. Als der Deutsche Bundestag das sogenannte Euro-Rettungspaket verabschiedete, wurde hier erklärt, dass ohnehin niemand unter diesen Schirm flüchten wird. Bereits wenige Monate später drängten sich erst Irland, dann Portugal und bald auch Griechenland unter den Schirm. Am 27. Oktober 2010 erklärten Sie, Frau Bundeskanzlerin, hier im Hohen Hause: Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so gewollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung kann und wird es mit Deutschland nicht geben, weil der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instrument taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten falsche Signale sendet und weil er eine gefährliche Erwartungshaltung fördert. Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, keine vier Wochen später galt all dies nichts mehr. Am 11. März 2011 wurde dann in Brüssel sogar ein Weg zur Änderung der europäischen Verträge eingeschlagen, der erstens ein Weg zur Ausweitung des bestehenden Euro-Schuldenschirms ist, die der Bundestag nie wollte, der zweitens ein Weg zur unbefristeten Verlängerung der Laufzeit des Euro-Schuldenschirms ist, die der Bundestag nie wollte, und drittens ein Weg zur qualitativen Veränderung der europäischen Wirtschaftsverfassung ist, die der Bundestag nie wollte. Allen Bekundungen zum Trotz hat bereits die erste Griechenlandhilfe die Situation für Griechenland nicht entschärft, sondern verschärft. Griechenland nimmt weniger Steuern ein als 2010 und gibt – absolut und prozentual, auch ohne Zinsen – mehr Geld aus. Allen Bekundungen zum Trotz hat der Schuldenschirm die Überschuldungskrise von Staaten und Banken nicht entschärft, sondern verschärft. Es wird nur teure Zeit gekauft. Doch Griechenland kann aus seiner Überschuldung nicht herauswachsen, erst recht nicht mit noch mehr Schulden. Die angeforderten Hilfen und die Aufstockung des Schuldenschirms werden die Lage noch weiter verschärfen. Am 17. März und am 10. Juni dieses Jahres haben wir hier in diesem Hohen Hause beschlossen: Der Deutsche Bundestag erwartet aus verfassungsrechtlichen, europarechtlichen und ökonomischen Gründen, dass gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme ausgeschlossen werden. Genau diese Schuldenaufkaufprogramme sind Gegenstand des heutigen Gesetzes. Not bricht nicht jedes Gebot. Der Verfassungsbruch ist nicht alternativlos! Papst Benedikt XVI. zitierte in seiner großen Rede vor dem Deutschen Bundestag den Heiligen Augustinus mit den Worten: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Räuberbandenkoalition!) Nun wird beim Internationalen Währungsfonds, bei der Zentralbank und bei der Kommission in Brüssel bereits über die Vervierfachung des Schuldenschirms gesprochen. Sie wollen ihn hebeln. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist die Zukunft der FDP! Das ist die Zukunft der Regierung!) Die Wirkung wird dann jedoch sein, dass der Schuldenschirm dieselben Risiken ermöglicht wie ein Hedgefonds. Er wird auf Kredit spekulieren. Die europäischen Steuerzahler aber haften für diese Spekulationen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist die FDP! Das ist Teil Ihrer Regierung! Eine Schande!) Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Aber mit Angst wird seit September 2007 eine Politik gemacht, die Recht und Freiheit schleift. Sie fördert die Angst vor dem Zusammenbruch unseres Finanzsystems. Das vereinte Europa ist von seinen Gründervätern als ein Ort der Freiheit gegen alle Formen der Diktatur, Unfreiheit und Planwirtschaft erträumt worden. Das heutige Europa ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft und in den politischen Zentralismus. Wir sind auf dem Weg in die Knechtschaft, weil wir uns aus Angst vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems erpressen lassen. Die Gründerväter Europas wollten ein Europa des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regierungen des Euro-Raums, die EU-Kommission und die Zentralbank verabreden sich hingegen wiederholt zum kollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen zum Schutz des Rechts verpflichtet sind. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Frank Schäffler (FDP): Sie nutzen die Angst vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems, um Europa in eine neue Stufe des Zentralismus zu leiten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Klären Sie den Kollegen mal auf! Das ist ja ein Trauerspiel, was hier vorgeführt wird!) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir im Mai letzten Jahres die EFSF eingeführt haben, habe ich damals schon der Einführung nicht zugestimmt, weil ich folgende Sorge hatte – ich will das aus meiner persönlichen Erklärung von damals zitieren –: Die institutionellen Veränderungen bedeuten einen irreversiblen Schritt hin zur Transferunion, bei der die Steuerzahler der stabilitätsorientierten Länder automatisch für die Disziplinlosigkeit und Verschwendungssucht der anderen Staaten haften. Das galt es zu verhindern. Wir haben aber jetzt eine andere Erfahrung gemacht. Deswegen komme ich jetzt zu einer anderen Schlussfolgerung als die Kollegen Willsch und Schäffler. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass der Prozess zurück zur Stabilitätsunion zwar nicht schlagartig, aber doch langsam und mühsam begonnen worden ist und Früchte gezeigt hat. Man muss sich doch nur einmal die Ergebnisse und die Fakten anschauen: Irland war eines der am schwersten belasteten Länder. Irland wird heute schon zu niedrigeren Zinsen auf den Märkten bewertet als noch vor wenigen Wochen. Das zeigt: Die Märkte haben den Aufschwung und die Entwicklung akzeptiert. Portugal und Griechenland unternehmen riesige Anstrengungen. Portugal hat ebenfalls eine sehr positive Perspektive. Griechenland ist ein extremer anderer Fall. Spanien hat die Schuldenbremse in seiner Verfassung bereits eingeführt. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass das so schnell ginge? Italien und Frankreich haben im Übrigen zugesagt, sie ebenfalls einführen zu wollen, und haben Sparprogramme auf den Weg gebracht. Das heißt, die Philosophie „Zurück zum Stabilitätspakt“ hat gezündet. Was wir mit dieser Ertüchtigung des EFSF jetzt machen, ist nichts anderes, als diesen Weg noch fachlicher zu begleiten, mit noch klareren Konditionen zu verbinden und die Instrumente nachzureichen, die wir im Moment nicht haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Dinge ganz besonders herausheben: Erstens. Endlich wird die Möglichkeit vorgesehen, im Falle einer Krise eine Bankenrekapitalisierung zu finanzieren. Das wird die Union in die Lage versetzen, sich aus der Situation einer ständigen Erpressung durch die Finanzmärkte zu befreien. Dann kann dieser Infektionsprozess – von Bank zu Bank, von Land zu Land – nicht mehr stattfinden. Wenn das Geld bereitsteht, ist es möglich, die gefährdeten Banken zu sichern, so wie das 2008 bei der Commerzbank gemacht worden ist. Sie haben gesehen, dass die Commerzbank den größten Teil des Darlehens bereits mit Zinsanteil zurückgezahlt hat. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Das war für den Staat und den Steuerzahler die viel preiswertere Variante. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Zweite ist: All diese finanzwirksamen Entscheidungen stehen unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch den Deutschen Bundestag. (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Das ist eine fundamentale Veränderung im Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung. Das wird den Mitgliedern der Bundesregierung nicht immer ganz angenehm sein. (Otto Fricke [FDP]: Ist aber gut so!) Es hilft ihnen aber auch. Es stärkt ihre Position in den Verhandlungen mit den anderen Staaten. Herr Gysi hat sich wegen dieses kleinen Gremiums aufgeregt. Das ist doch klar: Wenn am Wochenende eine Krise wegen einer oder zwei Banken entsteht, dann muss schnell gehandelt werden. Dann können wir nicht den Deutschen Bundestag einberufen, sondern dann muss ein kleines Gremium handeln, und zwar vertraulich, weil diese Banken sonst sofort in eine Krise geraten würden. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Der Bundestag kann aber die Zuständigkeit für diese Genehmigung immer an sich ziehen, sodass die Verdächtigungen, die in diese Richtung zielen, wirklich unberechtigt sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen. Wir haben uns bei der Einführung der Schuldenbremse für Deutschland gemeinsam mehrere Jahre Zeit genommen, nämlich von 2011 bis 2016. Wir können von unseren Partnerländern nicht verlangen, dass sie das alles viel schneller hinbekommen, obwohl sie eine schlechtere Ausgangsposition haben. Auch diese Länder brauchen natürlich einige Jahre der Anpassung. Diese Jahre der Anpassung müssen begleitet werden, auch durch diese gemeinschaftlichen Finanzinstrumente. Es müssen aber immer strikte Bedingungen und Auflagen bestehen, damit der Weg zur Stabilitätsunion gesichert ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident, ich komme zum Schluss. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kommt noch einmal jemand von der FDP?) Deswegen bin ich überzeugt davon, dass die heutige Entscheidung eine richtige ist, die man gerade auch als kritisch denkender Ökonom mit voller Überzeugung treffen kann. Wir werden zustimmen. Danke. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sprechen Sie jetzt für die Fraktion? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sprechen jetzt nicht für die FDP, oder?) Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst zwei Vorbemerkungen machen: Erstens. Das, was die Kollegen Schneider und Schick hier versucht haben, nämlich die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung zu untergraben, halte ich für einen wirklich unanständigen Vorgang. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wie kann man von der Bundesregierung Aussagen zu einem Vorgang erwarten, der noch gar nicht abgeschlossen ist? Sich abschließend zu den Guidelines zu äußern, die erst verhandelt werden, ist schlechterdings unmöglich. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie können uns doch sagen, wie Sie das haben möchten!) Nebenbei bemerkt: Wenn wir dieses Gesetz heute beschließen und der Bundespräsident unterschrieben hat, dann muss über diese Guidelines zuerst im Haushaltsausschuss entschieden werden, bevor der Bundesfinanzminister auf europäischer Ebene zustimmen kann. Das weiß der Kollege Schneider ganz genau. Deshalb halte ich sein Vorgehen für schäbig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Zweite Vorbemerkung. Es ist sicherlich ein bemerkenswerter Vorgang, dass zwei der bekannten Neinsager in dieser regulären Debatte reden konnten. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Fraktionslose! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weil Sie ihnen keine Redezeit abgegeben haben!) Ich denke, das ist einerseits bemerkenswert, aber andererseits auch Ausweis einer besonderen demokratischen Kultur; denn in der Öffentlichkeit wurde ständig der Eindruck erweckt, die sogenannten Abweichler würden unterdrückt oder gar gemobbt. Heute haben wir das Gegenteil dessen erlebt. Darauf kann dieses Parlament auch stolz sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten die auf Ihre eigene Fraktionszeit reden! Das ist doch unglaublich!) Jetzt zur Sache. Ich glaube, abschließend kann man drei Aspekte nochmals in den Vordergrund rücken: Erstens. Verantwortung für Stabilität muss gelebte Kultur aller Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion sein. Das ergibt sich, meine Damen und Herren, schon aus der Architektur dieses Rettungsschirms; denn der Rettungsschirm dient der zielgerichteten, befristeten Krisenhilfe, die immer an strikte Auflagen für Reformen und für Haushaltskonsolidierung geknüpft ist. Es wird also aus diesem Fonds keine dauerhafte Unterstützung überschuldeter Staaten, keine Transferunion geben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aus diesem Rettungsfonds resultiert auch kein Einfallstor für die sogenannten Euro-Bonds; denn wir agieren generell nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir geben also betroffenen Ländern mehr Zeit, um sich selbst helfen zu können. An dieser Stelle sage ich eindeutig und klar: Ich bin froh, dass Rot-Grün dieses Land derzeit nicht regiert; dann hätten wir nämlich die Euro-Bonds schon. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb ist es gut für unser Land, dass wir eine christlich-liberale Regierung haben. Es ist gut für unser Land, dass wir regieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber das hört auch bald auf!) Nebenbei bemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Erfreulicherweise lernt die SPD bei dieser Frage inzwischen dazu und distanziert sich vorsichtig von der Idee der Euro-Bonds. Was ist Ursache all dieser krisenhaften Entwicklungen? Das, meine Damen und Herren, sind unsolide Staatsfinanzen. Deshalb sind unsolide Staatsfinanzen auch der Ansatzpunkt für die Lösung der Probleme. Deshalb brauchen wir einen Wandel der Stabilitätskultur. Aus diesem Grunde ist dieses Projekt in den betroffenen Ländern nicht nur ein ökonomisches Projekt. Es ist – erlauben Sie mir, dies zu sagen – auch ein soziokulturelles Projekt. Wir sollten alles dafür tun, dass bei den sogenannten Wackelkandidaten genau dieser Gesinnungswandel unterstützt wird. Das betrifft auch das Europäische Parlament. Das betrifft selbstverständlich auch europäische Institutionen, die entsprechend gestärkt werden müssen. Da halte ich die gestrigen Entscheidungen zum sogenannten Sixpack für einen ersten wichtigen und guten Schritt. Für alle, meine Damen und Herren, die an der Wirksamkeit dessen zweifeln, kann ich nur sagen: Von Schlittschuhläufern wissen wir, dass das richtige Maß an Druck auch das härteste Eis zum Schmelzen bringt, und dann flutscht es. Genau in dem Sinne gehen wir weiter voran. Was wir derzeit an Veränderungen in Griechenland erleben, sollten wir mit großem Respekt zur Kenntnis nehmen; denn es geht letztlich um die simple Einsicht: Ohne Verantwortung für Stabilität kann die Währungsunion nicht funktionieren. Genau deshalb ist auch unsere Schuldenbremse mittlerweile für ganz Europa ein Exportschlager geworden. Wir setzen darauf, dass Stabilität Grundlage ist für Vertrauen in der Wirtschaft und für Vertrauen in den Märkten. Darin unterscheiden wir uns übrigens auch von einigen anderen Staaten. Wir halten eben nichts davon, die Notenpresse anzuwerfen und letztlich über Inflation Haushalte zu sanieren, sondern wir setzen auf Stabilität. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein zweiter Aspekt. Dieser größere Rettungsfonds reduziert die Gefahr, dass kleine Länder die Stabilität der gesamten Euro-Zone gefährden. Gerade deshalb ist die Ausweitung, die Ertüchtigung dieses Rettungsschirms von so großer Bedeutung. Um es auf den Punkt zu bringen – auch im Hinblick auf die Reden unserer beiden Neinsager –: Derjenige, der ein gefährdetes Euro-Land retten will, muss der Ausweitung der EFSF zustimmen. Aber auch derjenige, der die Insolvenz eines Landes in Kauf nehmen will, muss diesem Rettungsschirm zustimmen, damit wir die Folgen besser beherrschen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) An dieser Stelle haben diejenigen, die diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, einen echten Bruch in der Logik ihrer Argumentation. Diesen Vorwurf kann ich ihnen nicht ersparen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich auf den dritten wichtigen Aspekt, der schon von mehreren Vorrednern benannt wurde, noch einmal zusammenfassend eingehen. Mit diesen neuen Regeln zur Parlamentsbeteiligung wird die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen massiv gestärkt. Wir erleben eine Weichenstellung, die mit Sicherheit Strahlkraft auch auf zukünftige europäische Projekte ausüben wird, denn es geht um eine bessere demokratische Legitimation fundamentaler Entscheidungen auf europäischer Ebene, die aber die nationale Politik im Kern betreffen. Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, die Arbeit dieses Rettungsschirms in Zukunft konstruktiv und auch kritisch zu begleiten und dabei immer das Haushaltsrecht des deutschen Parlaments zu wahren. Darum geht es im Kern. Deshalb bin ich überzeugt: Mit der Regelung, die wir getroffen haben, mit dem abgestuften Verfahren der Parlamentsbeteiligung, haben wir eine Lösung gefunden, die Entscheidungen der Bundesregierung künftig auf eine ganz neue Form der demokratischen Legitimation stellt. Das ist ein Quantensprung in dieser Richtung. Ich danke an dieser Stelle Herrn Regling, dass er – dies hat er in der Anhörung gesagt – darin keine Nachteile für die Wirksamkeit der EFSF sieht. Das ist eine bedeutsame Aussage. Ich komme zum Schluss und darf zusammenfassend sagen: Die Erweiterung des europäischen Rettungsfonds ist ein wichtiger Schritt hin zu einer stabileren und zukunftsfähigeren Währungsunion. Der italienische Finanzminister Tremonti hat kürzlich gesagt: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen. Norbert Barthle (CDU/CSU): Ich bin am Schluss. – „Jetzt hängt alles an Europa und Europa hängt von Deutschland ab“. In diesem Sinne bitte ich alle, der Verantwortung, die wir haben, gerecht zu werden und diesem Gesetzentwurf mit großer Einigkeit zuzustimmen. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/7067 und 17/7130, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6916 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7179? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen gegen die Stimmen der Linken abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlich ab. Dazu liegen eine ganze Reihe schriftlicher Erklärungen vor.1 Ebenso haben elf Abgeordnete der Fraktion der Linken beantragt, mündliche Erklärungen zur Abstimmung abzugeben. Diese Erklärungen werden nach den Abstimmungen zu diesem Thema abgegeben, damit wir jetzt eine reibungslose Abstimmung haben. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Vorne rechts fehlen noch Schriftführer. – Ich glaube, jetzt kann die Abstimmung beginnen. Ich eröffne die Abstimmung. Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2 Wir kommen zu den Abstimmungen über die Entschließungsanträge. (Unruhe) – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich, Platz zu nehmen, damit wir diese Abstimmungen ordnungsgemäß, also übersichtlich, durchführen können. Vor allem vor der Regierungsbank ist eine gewisse Unübersichtlichkeit eingetreten. (Johannes Kahrs [SPD]: Die Regierung ist unübersichtlich!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie Platz nehmen? Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7175. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stimmen der SPD und der Grünen abgelehnt. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7180. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke von allen anderen Fraktionen abgelehnt worden. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7194. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7195: Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD und der Grünen abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Haushaltsausschusses auf den Drucksachen 17/7067 und 17/7130 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6945 mit dem Titel „Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäischer Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, Grünen und der Linken bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, kommen wir nun zu den mündlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung. Aus der Fraktion der Linken haben elf Kolleginnen und Kollegen verlangt, solche mündlichen Erklärungen abzugeben. Das geschieht nun nacheinander und könnte eine Stunde dauern; mal sehen, wie lange es dauert. Es beginnt Sahra Wagenknecht. (Beifall bei der LINKEN) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon sagen: Ich habe selten eine Parlamentsdebatte im Deutschen Bundestag erlebt, in der so viel und so schamlos geheuchelt und gelogen wurde wie in der heutigen Debatte. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist doch Ihr Metier! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Oh!) Ich habe gegen die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms gestimmt; (Max Straubinger [CDU/CSU]: Jo mei!) denn durch diesen Euro-Rettungsschirm wird die europäische Währung nicht gerettet, und schon gar nicht werden die Lebensverhältnisse der Menschen in Europa abgesichert und gerettet. Das Einzige, was durch diesen Rettungsschirm wirklich gerettet wird, sind die Gewinne der Banken, der Hedgefonds und der Spekulanten, und das ist perfide. (Beifall bei der LINKEN) Dass Sie das hier dann auch noch mit schönen Worten und schönen Ideen verklären, ist unglaublich, zumal Sie den Leuten noch nicht einmal reinen Wein darüber einschenken, wie hoch die Haftung wirklich ist, die hier eingegangen wird – gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Pläne zur weiteren Hebelung. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Nebelkerze!) Das ist kein Programm für weniger Schulden, sondern das ist ein Programm für mehr Schulden und mehr Verschuldung, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ohne Hand und Fuß!) und zwar einerseits in der Bundesrepublik Deutschland, wenn nämlich all diese Bürgschaften irgendwann tatsächlich bedient werden müssen, und andererseits ist es ein Programm für mehr Schulden und mehr Verschuldung in den betroffenen Ländern, denen damit angeblich geholfen werden soll. In Wirklichkeit müssen diese Länder ihre Wirtschaft aber mit martialischen Sparprogrammen in die Knie zwingen. Es sollte Ihnen schon irgendwie zu denken geben, dass Griechenland eineinhalb Jahre nach Beginn der angeblichen Rettung 20 Milliarden Euro mehr Schulden als vorher hat. Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss erstens auch Vermögen reduzieren, aber bitte schön nicht die Vermögen der einfachen Leute, die mit diesem ganzen Desaster nichts zu tun haben, sondern bitte schön die Vermögen derer, die profitiert haben von der steigenden Staatsverschuldung, (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: So wie es die Kommunisten immer getan haben!) profitiert haben von Steuerdumping, profitiert haben von der Bankenrettung, profitiert haben von der ganzen Spekulation. Es ist doch kein Zufall, dass die Vermögen der Millionäre und Multimillionäre in Europa in den letzten Jahren ähnlich explodiert sind wie die Schulden der Staaten. Das hängt doch zusammen. Das sind zwei Seiten einer Medaille. (Max Straubinger [CDU/CSU]: So wie SED und PDS es in der Vergangenheit getan haben!) Darüber reden Sie nicht, weil Sie darüber nicht reden wollen. (Beifall bei der LINKEN) Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss zweitens dieses aberwitzige System beenden, das dafür sorgt, dass die Finanzierungsspielräume der Staaten am Ende davon abhängen, ob Banker oder Ratingagenturen den Daumen heben oder senken. Das ist ein völlig absurdes System. Wer nichts dafür tut, die Staaten aus der Geiselhaft dieser Finanzhaie zu befreien, der hat die Demokratie abgeschrieben. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Warum war denn die Staatsbank in der DDR pleite?) Sie haben die Demokratie abgeschrieben, und Sie haben auch abgeschrieben, einen wirklichen Ausweg aus dieser Krise zu finden, und zwar nicht, weil es keine Auswege gibt, sondern weil Sie alle – die Regierung und auch die angebliche Opposition aus SPD und Grünen, die heute wieder einmal belegt hat, dass sie mit der Regierung in solchen Fragen absolut einer Meinung ist – schlicht und ergreifend zu feige und zu devot sind, eine Politik zu machen, die sich mit den Bankern anlegt und die gegen die Banker gerichtet ist. Das tun Sie alle nicht. (Beifall bei der LINKEN) Der Weg, den Sie gehen, ist unverantwortlich; denn es ist das hart erarbeitete Steuergeld von Millionen Menschen, das hier verpulvert wird, um die Ackermänner zufriedenzustellen. Der Weg, den Sie gehen, ist ökonomischer Aberwitz; denn er wird am Ende sehr wahrscheinlich die Währungsunion sprengen. Und der Weg, den Sie gehen, ist antieuropäisch; denn er trägt dazu bei, das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt restlos zu untergraben. Das ist das eigentliche Problem. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen meine ich: Jeder, dem die europäische Idee oder die ökonomische Vernunft irgendwie am Herzen liegt, musste bei dieser Abstimmung gegen die Erweiterung des sogenannten Rettungsschirms stimmen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Andrej Hunko das Wort. Andrej Hunko (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe eine persönliche Erklärung zur Abstimmung zur EFSF als jemand ab, der aus der Europastadt Aachen kommt, der dort im Dreiländereck Belgien-Niederlande-Deutschland aufgewachsen ist und der in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates aktiv an der europäischen Integration beteiligt ist. Ich gebe sie auch als Mitglied von Attac ab, einer europaweiten Organisation, die schon sehr frühzeitig etwa die Finanztransaktionsteuer gefordert hat. Diese Debatte heute hat allerdings nichts mit proeuropäisch oder antieuropäisch zu tun, sondern sie hat etwas damit zu tun, wer für die Kosten der Krise zahlen soll. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe die EFSF erstens abgelehnt, weil sie in erster Linie ein Airbag für die Finanzindustrie sowie für die Spekulanten und Finanzhaie ist, die aus Steuermitteln gerettet werden sollen. Anstatt die Gläubiger an den Kosten der Krise zu beteiligen, wird ein Mechanismus zur Risikoabsicherung der Spekulationsgewinne, eine dauerhafte Pipeline aus Steuergeldern in den Finanzsektor, geschaffen. Der zweite Grund, warum ich das ablehne, ist, dass die mit dieser EFSF verknüpften Austeritätsprogramme die Krise gerade in Griechenland weiter verschärfen werden. Anstatt etwa in Griechenland Sozialleistungen zu kürzen und öffentliches Eigentum dem Ausverkauf preiszugeben, wäre in Griechenland ein sozial-ökologisches Aufbauprogramm, finanziert durch Gläubigerbeteiligung, kräftige Vermögensabgaben und Reduzierung der überhöhten Militärausgaben, notwendig. (Beifall bei der LINKEN) Drittens lehne ich die EFSF ab, weil sie innerhalb der Europäischen Union eine Entdemokratisierung – gerade auch gegenüber dem griechischen Parlament; Griechenland ist ja die Wiege der Demokratie in Europa – bedeutet. Gerade jetzt in der Krise wäre es notwendig, zu einem Mehr an Demokratie zu kommen – etwa auch zu einer Beteiligung der Bevölkerung durch Referenden wie zum Beispiel in Island, wo darüber abgestimmt wurde, wer die Kosten der Krise im Fall der Icesave-Bank zahlen soll. Wir brauchen mehr Demokratie und keine Entdemokratisierung in der Krise. (Beifall bei der LINKEN) Die Euro-Krise steht im Zusammenhang mit den exorbitant gestiegenen privaten Vermögen, die in etwa den gesamten Staatsschulden auf EU-Ebene entsprechen, sowie mit den extremen Leistungsbilanzunterschieden innerhalb des Euro-Raums. Um die Krise zu lösen, müssen die Staatsschulden durch eine kräftige Vermögensabgabe reduziert, die deutschen Exportüberschüsse durch nachhaltige Lohnerhöhungen ausgeglichen und die Finanzmärkte endlich reguliert werden. All das ist in der EFSF nicht vorgesehen. Besonders peinlich bin ich von dem Brief des griechischen Parlamentspräsidenten berührt, der uns allen vorgestern zugestellt wurde. Er bittet uns um Würdigung all der Kürzungen im Sozialbereich, die er detailliert auflistet: Rentenkürzungen, Kürzungen im öffentlichen Dienst usw. Sie kennen die Liste. Ich kann diese Politik nicht würdigen. Ich kann ihr auch nicht entsprechen. Im Gegenteil: Dieses Programm findet nicht in meinem Namen und nicht im Namen der Fraktion Die Linke statt. Ich würdige hingegen den Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die soziale Barbarei, die dort stattfindet, und gegen die wirtschaftliche Unvernunft. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte auch würdigen, dass jetzt von der spanischen Bewegung „¡Democracia real YA!“ versucht wird, in Zusammenarbeit mit Attac europaweit endlich eine Bewegung von unten zu schaffen: für ein anderes Europa, ein soziales Europa. Ich möchte dazu aufrufen, beim europaweiten Aktionstag am 15. Oktober vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt mitzumachen. Das ist der Weg der direkten Bürgerbeteiligung. Wir brauchen ein anderes Europa, ein Europa, das sozial ist, sonst wird uns diese EU um die Ohren fliegen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Meine Damen und Herren, zwischendurch darf ich, damit die Ungeduld nicht zu groß wird, das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsmechanismus, Drucksachen 17/6916, 17/7067 und 17/7130, mitteilen: abgegebene Stimmen 611. Mit Ja haben gestimmt 523, mit Nein haben gestimmt 85, Enthaltungen 3. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 611; davon ja: 523 nein: 85 enthalten: 3 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Elisabeth Winkelmeier-Becker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoðuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen-Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Till Seiler Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Wolfgang Bosbach Thomas Dörflinger Herbert Frankenhauser Alexander Funk Dr. Peter Gauweiler Josef Göppel Manfred Kolbe Dr. Carsten Linnemann Thomas Silberhorn Klaus-Peter Willsch SPD Wolfgang Gunkel FDP Jens Ackermann Frank Schäffler Torsten Staffeldt DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Daðdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Neškovi? Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele Enthalten CDU/CSU Veronika Bellmann SPD Ottmar Schreiner FDP Sylvia Canel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) Wir setzen jetzt die Serie der mündlichen Erklärungen fort. Ich erteile das Wort Kollegin Sevim Daðdelen. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute gegen die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms gestimmt, weil ich es einfach verantwortungslos finde, dass jetzt schon wieder Milliarden an Steuergeld versenkt werden, um Bankprofite und Spekulationsgewinne zu sichern. (Beifall bei der LINKEN) Die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms wird weder den Euro retten, noch Europa retten, noch wird es den Menschen in Griechenland, Portugal, Irland oder irgendwo anders helfen. Das Gegenteil ist der Fall: Die wirtschaftlich unsinnigen und sozial ungerechten Kürzungsprogramme in den Krisenländern sind Rettungsringe aus Blei, die zu noch mehr Schulden führen werden und diese Länder weiter in die Rezession treiben werden. Das können wir ja aktuell in Griechenland beobachten. Sie sagen, Sie wollen die Demokratie retten. Dabei haben Sie heute wieder eine Politik gegen die Mehrheit der Menschen im Land gemacht. Sie setzen heute das Diktat der Finanzmafia um, statt den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, die gegen die Erweiterung dieses Rettungsschirms ist. Zu Recht ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen diesen Rettungsschirm; denn für die mindestens 253 Milliarden Euro Bürgschaft Deutschlands muss letztlich der Steuerzahler geradestehen. Ich werde mich nicht daran beteiligen, weder heute noch morgen, dass weiterhin die kleinen Leute für die Party der Zockerbuden und der Superreichen zahlen sollen. Deshalb habe ich heute die Erweiterung dieses sogenannten Euro-Rettungsschirms abgelehnt. Sie sagen, Sie wollen die Schulden reduzieren und abbauen. Wer die Schulden aber wirklich abbauen will, der muss auch die Vermögen reduzieren. Die Schuldenkrise und auch der wachsende private Reichtum der Vermögenden sind nämlich zwei Seiten einer Medaille. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe heute diesen sogenannten Rettungsschirm abgelehnt, weil ich eine Politik ablehne, die sich den Profitwünschen der Banken und Konzerne bedingungslos unterordnet. Ich sagte heute Nein zu einer Politik, die nicht den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, sondern vor allem denen der Banken, Spekulanten und oberen Zehntausend dient. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was für ein Unsinn!) Ihre Solidarität gilt nur diesen Zockerbanden, der Finanzmafia. Unsere Solidarität gilt stattdessen den Menschen in den Ländern, die diese Krise aufgrund der von Ihnen betriebenen deutschen Wirtschaftspolitik, die in den letzten Jahre zu Lohndumping führte, durchleben müssen. Unsere Solidarität gilt den Menschen, die sich in Griechenland gegen die Kürzungsprogramme und die Rettungsringe aus Blei, die Sie ihnen vorwerfen, erheben. Wir sind solidarisch mit den Menschen in Portugal und Irland, die Nein sagen zu einem Europa, das unsozial und ungerecht ist. Deshalb habe ich heute mit Nein gestimmt. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die nächste mündliche Erklärung gibt Diether Dehm ab. (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na endlich! Singen Sie sie am besten!) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute gegen die Aufstockung der EFSF gestimmt, (Jörg van Essen [FDP]: So eine Überraschung!) weil mit dem Gesetzentwurf erneut gegen die großartige Idee eines friedlichen und sozialen Europa verstoßen wird. Mit der EFSF-Aufstockung werden nicht die Griechen gerettet, sondern die Besitzer griechischer Schuldverschreibungen. Die mit der EFSF verordnete Austeritätspolitik für Griechenland hat antieuropäische Konsequenzen, übrigens so wie das deutsche Lohndumping, das den Export verbilligt und zu den Überschüssen führt. Wenn man, wie in Deutschland, innerhalb von zehn Jahren die Reallöhne um 4,5 Prozent senkt, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben mehr Arbeitsplätze in Deutschland!) dann werden zwar der Export verbilligt und die Exportüberschüsse gesteigert, dann führt das aber auch dazu, dass die Binnennachfrage nicht steigt, und das in dem Land mit der höchsten Bevölkerungszahl in Europa. Ich weiß nicht, ob Herr Brüderle noch anwesend ist. Er verbreitet sich ja gelegentlich in Interviews darüber, dass der Druck auf die Griechen weiter verschärft werden muss. Aber richten Sie bitte den Blick auf die Konsequenzen: Die Streichung von 174 000 Stellen im öffentlichen Dienst bis Ende dieses Jahres, wie es die griechische Regierung vorhat, und zwar 84 000 letztes Jahr und 90 000 dieses Jahr, entspräche in Deutschland dem Statistischen Bundesamt zufolge der Streichung von 917 000 Stellen im öffentlichen Dienst. Die Kürzung der Sozialausgaben in Griechenland, die Sie verordnen, entspricht 1,5 Prozent des griechischen BIP. Auf Deutschland übertragen entspräche das 131,8 Milliarden Euro, also fast einem Viertel der im Einzelplan für Arbeit und Soziales veranschlagten Ausgaben. Unter den europäischen Völkern zählen die Deutschen gewiss eher zu den duldsamen. Aber mit diesen Kürzungen würden Sie auch in diesem Land ein Pulverfass anrühren. Das alles geschieht, ohne die Ackermänner und Großprofiteure der Krise in Deutschland und die Jachtbesitzer in Griechenland zur Steuerkasse zu bitten. (Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Ich denke, auch der soziale Frieden ist ein Wirtschaftsfaktor. Jedenfalls wurde das an diesem Rednerpult in der Vergangenheit oft gesagt. Wo der Staat seine in Art. 20 unseres Grundgesetzes verbriefte Sozialstaatlichkeit aufgibt, verspielt er das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und nährt die Rechtspopulisten, die sich europaweit in einem einzigen Siegeszug wähnen. Die deutsche und griechische Politik verwalten den Mangel. Überall wird gekürzt. Aber die europäischen Banken haben allein in diesem Jahr bereits Dividenden in Höhe von 40 Milliarden Euro ausgeschüttet. Die Großzocker werden weder gezähmt noch reguliert noch gerecht zur Kasse gebeten. Eine echte Gläubigerbeteiligung findet nicht statt. Bei der Deutschen Bank ist bei einem gesamten Bilanzvolumen von 2 000 Milliarden Euro nur ein hartes Eigenkapital von 30 Milliarden Euro vorhanden. Das entspricht nicht dem, was wir uns von der Aufstockung des Eigenkapitals erwartet haben. Dieser unsozialen und ungerechten Politik, die nicht zugunsten der Opfer, sondern zugunsten der Ackermänner und anderer Täter auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger ausgetragen wird, kann ich nach bestem Wissen und Gewissen meine Stimme nicht geben. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die nächste mündliche Erklärung gibt Inge Höger ab. (Beifall bei der LINKEN) Inge Höger (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lehne die Ausweitung und Stärkung des sogenannten EU-Rettungsschirmes ab. Das Gesetz ist eine schlechte Nachricht für die Menschen in Europa. Es ist eine schlechte Nachricht für die Beschäftigten in Griechenland. Sie sollen dank der EU-Auflagen künftig noch weniger Geld in der Tasche haben, dafür aber länger arbeiten – wie irrwitzig! Es ist eine schlechte Nachricht für Griechenlands Rentnerinnen und Rentner. Auch sie sollen für eine Krise zahlen, die sie nicht verursacht haben. Den Beschäftigen des öffentlichen Dienstes droht nun Arbeitslosigkeit. Und die Menschen in Griechenland, die auf öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen sind, sind die Leidtragenden dieses ungerechten Krisenmanagements. Ich denke zum Beispiel an kranke Menschen, die es sich nicht leisten können, die hohen Kosten in privatisierten Krankenhäusern zu tragen. Der Rettungsschirm sieht nämlich weitere Privatisierungen vor. Das ist auch eine schlechte Nachricht für die Studierenden, die sich keine Studiengebühren leisten können. Zweiklassenbildung, Zweiklassenmedizin, Zweiklasseneuropa! Das alles gilt letztendlich nicht nur für Griechenland, sondern übt auch Druck auf andere EU-Länder aus. Ich frage die Abgeordneten, die dafür gestimmt haben: Wissen Sie eigentlich, was Sie da anrichten? Ich befürchte, einige von Ihnen wissen es. Der EU-Rettungsschirm ist eine gute Nachricht für die europäischen Eliten, eine gute Nachricht für die Konzerne und Banken, die an Griechenland Kredite vergeben haben, denn sie können weiter ungehindert Geschäfte machen – ich denke da besonders an die deutsche Rüstungsindustrie –, eine gute Nachricht für Europas Spekulanten, denn sie können weiter zocken in dem Vertrauen, dass es eine EU gibt, die für ihren Schaden aufkommt. Zahlen müssen wieder die kleinen Leute. Ich kann nur hoffen, dass die Proteste und Streiks in Griechenland und anderswo so viel wie möglich von dem verhindern, was Sie heute beschlossen haben. (Beifall bei der LINKEN) Ihre Euro-Rettung ist auch eine gute Nachricht für diejenigen, die die Menschen in Europa gegeneinander aufbringen wollen; denn das Problem sind nicht in erster Linie die griechischen Staatsfinanzen. Schließlich sind andere Staaten auch hoch verschuldet. Das Problem ist vielmehr die Finanzmarktliberalisierung, die Rot-Grün 2004 eingeführt hat. Sie lenken von dieser gescheiterten Politik im Interesse der Ackermänner ab. Sie machen die Griechinnen und Griechen zu Sündenböcken und geben damit Anlass für rassistische Hetzkampagnen. Sie spielen damit Faschisten und Nazis in die Hände. Was das mit Völkerverständigung, Solidarität oder europäischer Integration zu tun haben soll, soll mir mal einer erklären. Ich kann nur wiederholen, was in den Reihen der europäischen Linkspartei in diesen Tagen des Öfteren gesagt wird: Die EU wird entweder demokratisch, sozial und solidarisch werden, oder sie wird nicht bestehen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nächste persönliche Erklärung, Heidrun Dittrich. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Dittrich (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich stimmte gegen das Gesetz, weil ich gegen Ihre Politik des Lohndumpings stimme. Diese Politik hat erst recht in die Krise geführt. Sie wird fortgesetzt, sie wird aber keine Lösung bieten; denn das ist keine Europarettung. Das ist ein Angriff auf die arbeitenden Menschen in ganz Europa. Diesem Angriff widersetzen wir uns hier als Linke. (Beifall bei der LINKEN) Den Griechen wurde mit den Finanzhilfen der EU ein Kürzungsprogramm aufgezwungen. Das ist unsozial. Die Menschen in Griechenland mussten Rentenkürzungen, Erhöhungen des Renteneintrittsalters und Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent hinnehmen. Die Mindestlöhne wurden gesenkt und der Kündigungsschutz gelockert. Es ist noch nicht einmal sicher – so hat es der griechische Finanzminister im Fernsehen gesagt –, ob die Löhne und Renten überhaupt noch ausgezahlt werden können. Wenn das auch der deutschen Bevölkerung droht, dann werden alle aufwachen. Ich verstehe nicht: Aus welchem Grund müssen die Schüler, die Rentner und die Beschäftigten die Krise allein bezahlen? Ich stimmte dagegen, weil ich meine, dass die Verursacher und die Profiteure der Krise zur Kasse gebeten werden müssen. (Beifall bei der LINKEN) Das sind die Banken, die Investmentfonds und die Versicherungen. Es ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages, zum Wohle des Volkes zu handeln und nicht zum Wohle der Finanzmärkte. Allein das Gesamtvermögen der Millionäre in Europa – das wurde heute schon gesagt – beläuft sich auf 7,5 Billionen Euro. Dem stehen Staatsschulden in Höhe von 10 Billionen Euro gegenüber. Da muss man nicht groß rechnen, sondern es wird klar: Besteuert die Superreichen, und es ist Geld da, um die Schuldenkrise zu überwinden. (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sollten Sie noch mal nachlesen!) Europa besteht nicht nur aus Vorstandsmitgliedern und Bankiers. Es besteht vor allem aus vielen Völkern. Mein Respekt gilt den streikenden Menschen in Griechenland, in Spanien und in Großbritannien, wo die Gewerkschaften für den 2. Oktober zur Verteidigung des Sozialstaats aufgerufen haben. Ich stimmte dagegen, weil die Linke für ein soziales Europa eintritt. Ich hätte dafür gestimmt, wenn wir soziale Mindeststandards eingeführt, höhere Mindestlöhne festgelegt und das Renteneintrittsalter gesenkt hätten. Europa kann nur funktionieren, wenn der Lebensstandard verbessert wird. Ebenso wie meine Kollegin vorhin möchte ich François Mitterand zitieren, der bereits 1973 festgestellt hat: Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es folgt Michael Schlecht. (Beifall bei der LINKEN) Michael Schlecht (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe mit Nein gestimmt, weil alle sogenannten Hilfskredite mit scharfen Lohn- und Sozialkürzungen verbunden sind, die das Leben der Menschen in Griechenland und in anderen Ländern wie zum Beispiel in Portugal nur noch weiter verschlechtern. Dies ist nicht nur unsozial, sondern die betroffenen Länder werden noch weiter in die Krise gestürzt. Deshalb habe ich mit Nein gestimmt. Ich habe auch mit Nein gestimmt, weil diese Euro-Rettung in Wirklichkeit ein Rettungsring aus Blei ist, der alles nur noch schlimmer macht. (Beifall bei der LINKEN) Wohin dies führt, kann man am brutalsten am Beispiel von Griechenland sehen: 2009, als in Deutschland die Wirtschaft um 5 Prozent einbrach, ging es Griechenland noch einigermaßen gut. Aber als dann Griechenland im Jahr 2010, maßgeblich durch Intervention der deutschen Regierung, die ersten Schritte hin zu einer Austeritätspolitik und die ersten Lohn- und Sozialkürzungen aufgezwungen worden sind, brach das Wirtschaftswachstum in Griechenland um 4,5 Prozent ein. Es steht zu befürchten, dass es im Jahr 2011 noch schlimmer wird. Die Experten schätzen, dass das Wachstum in Griechenland um mindestens weitere 5 Prozent einbricht. Das führt dazu, dass sich die Wirtschaft Griechenlands schlechter entwickelt; denn die Leute haben kein Geld mehr, um Einkäufe zu tätigen, und die Unternehmer haben weniger zu tun. Es ist vollkommen klar, dass in einer solchen Situation die Steuereinnahmen noch stärker zurückgehen. Dadurch ist man von dem Ziel der Haushaltskonsolidierung und einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung nunmehr himmelweit entfernt. Ich plädiere dafür, dass man die Lohn- und Sozialkürzungen in Griechenland und den anderen Ländern stoppt und die Massenentlassungen, die jetzt diesen Ländern aufgebürdet werden, verhindert. Ich habe auch deswegen gegen das Gesetz gestimmt, weil nicht erkennbar ist, dass man dadurch dringend notwendige Maßnahmen auf den Weg bringt. Ich nenne als Beispiel Aufbauhilfen für Griechenland und andere Länder. Das wäre wirklich notwendig; denn auch Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen. Es ist ein Skandal, dass das nicht im Fokus der Debatte steht. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe auch deshalb dagegen gestimmt, weil weder das Gesetz noch die Debatten, die wir erlebt haben, davon zeugen, dass auch nur annähernd ein Verständnis dafür herrscht, wo die eigentlichen Ursachen der Krise liegen. Hier wird nur von der Verschuldung der Krisenländer wie Griechenland und Portugal geredet und so getan, als ob das deren eigene Schuld sei. Es gibt überhaupt keinen Anhaltspunkt, dass verstanden würde, dass die eigentlichen Ursachen dieser sogenannten Euro-Krise in Deutschland liegen. Von den anderen vier Fraktionen in diesem Haus ist in den letzten zehn Jahren insbesondere mit der Agenda 2010 über Befristungen, Leiharbeit, die Einführung von Minijobs und Hartz IV ein Repressionssystem am Arbeitsmarkt eingeführt worden, das dazu geführt hat, dass die Tariferosion deutlich zugenommen hat und die Löhne in Deutschland gesunken sind. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist Arbeitslosigkeit besser als Arbeit? – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das ist doch keine Erklärung mehr!) Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil nicht erkennbar ist, dass auf dieser Grundlage irgendwelche Verbesserungen erreicht werden. Denn die Ursachen des Problems bestehen darin, dass die deutschen Exporte durch das Lohndumping immer stärker und der Binnenmarkt immer schwächer geworden sind. Dadurch konnten die anderen Länder immer weniger importieren. Der Außenhandelsüberschuss ist dramatisch auseinandergegangen, und die deutschen Unternehmer haben andere Märkte erobert. Das hat dazu geführt, dass die Verschuldung in den anderen Ländern dramatisch angestiegen ist. Das deutsche Lohndumping ist also die Ursache für die Verschuldung dieser Länder. Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil er überhaupt keine Elemente enthält, mit denen diesem Problem begegnet und das Ganze wieder rückgängig gemacht werden kann. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war wirklich schlecht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun Kathrin Vogler. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gegen die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms gestimmt. Dies habe ich als überzeugte Europäerin getan. (Lachen des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU]) Ich sage ganz klar Ja zu Europa; denn ich komme aus der deutsch-niederländischen Grenzregion und weiß, was Europa für uns, die wir dort leben, bedeutet. Ich sehe, wie wir uns unseren niederländischen Nachbarinnen und Nachbarn annähern, wie wir den Austausch verbessert haben und welche Erleichterung es für uns ist, den Euro als gemeinsame Währung zu haben. Auch bin ich Mitglied der Deutsch-Niederländischen Parlamentariergruppe, weil es mir wichtig ist, die Beziehungen zu vertiefen und zu pflegen. Dieser sogenannte Rettungsschirm ist aber nicht proeuropäisch. Er ist unsozial, ökonomisch unsinnig und ein weiterer Schritt zur Spaltung Europas. (Beifall bei der LINKEN) Die Auflagen, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem griechischen Volk heute verordnen wollen, sind absolut kontraproduktiv. Statt die griechische Wirtschaft anzukurbeln, werden Löhne und Gehälter gekürzt. Das Ergebnis dieser falschen Politik ist absehbar: Es wird einen weiteren Rückgang der Wirtschaftsleistung mit der Folge eines massiven Anstiegs der Arbeitslosigkeit geben. Gewerkschaften rechnen schon mit 26 Prozent Arbeitslosigkeit in Griechenland. In Spanien steht eine Generation gut ausgebildeter junger Leute bereit, denen der Einstieg in den Arbeitsmarkt vollständig verschlossen ist. Das ist eine soziale Katastrophe. Daran kann ich mich nicht beteiligen. (Beifall bei der LINKEN) Hinzu kommt: Die Wählerinnen und Wähler in meinem Wahlkreis und auch in den benachbarten Niederlanden verstehen überhaupt nicht, dass die Europäische Zentralbank Geld für 1,5 Prozent an Privatbanken verleiht, die dieses Geld dann für Wucherzinsen zum Beispiel an Griechenland weitergeben. Dabei haben die Privatbanken überhaupt kein Risiko; denn wenn Griechenland nicht zahlen kann, müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Europa, also die Verkäuferin bei Lidl und der niederländische Tulpenzüchter, dieses Risiko tragen. Deshalb ist dieser Euro-Rettungsschirm aus meiner Sicht ein Rettungsschirm für die Banken und nicht für die Menschen. (Beifall bei der LINKEN) Ich hätte zugestimmt, wenn wir die Banken mit einem entsprechenden Programm unter öffentliche Kontrolle bekommen hätten, wenn das Finanzsystem reguliert worden wäre, damit Ratingagenturen und Hedgefonds künftig nicht genauso weitermachen können wie bisher, und wenn die Sozialleistungen und Löhne in Europa erhöht worden wären. Dann könnte nämlich nicht nur der Euro gerettet werden, sondern dann könnte das Projekt Europa als soziales Friedensprojekt wieder von mehr Menschen akzeptiert werden. Deshalb ist es mir gerade als Europäerin wichtig, dass dieses erfolgreiche Friedensprojekt – und das ist die Europäische Union – nicht einer falschen Wirtschaftspolitik und den Profiten der Banken sowie ihrer Aktionäre geopfert wird. Dafür kann ich meine Stimme nicht abgeben. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun Annette Groth. (Beifall bei der LINKEN) Annette Groth (DIE LINKE): Auch ich habe heute gegen den sogenannten Rettungsschirm gestimmt, weil ich absolut davon überzeugt bin, dass dieser Bleischirm weitere soziale Verwerfungen nach sich ziehen und die Krise weiter verschärfen wird. (Beifall bei der LINKEN) Als überzeugte Europäerin, aber auch als Internationalistin kämpfe ich seit langem für ein soziales, ökologisches und gerechtes Europa. Die Einhaltung der Menschenrechte und die Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit sind dabei von zentraler Bedeutung. Diesen Weg hat die EU seit dem Maastrichter Vertrag aufgegeben. Mit der Aufnahme der durch den damaligen Bundesfinanzminister Waigel durchgesetzten Stabilitätskriterien wurde der Weg in die Krise der EU vertraglich festgeschrieben. Mit dem Rettungsschirm werden die Parlamente auf weitere Haushaltskürzungen verpflichtet. Mit dem angeblichen Ziel der Schuldenreduzierung werden Sozialleistungen, Renten und Löhne gekürzt. Massensteuern wie die Mehrwertsteuer dagegen werden erhöht. Das heißt, Arme und Bezieher mittlerer Einkommen werden immer stärker belastet. Reiche bleiben außen vor. Das, was ich hier so kritisiere, ist das neoliberale Grundkonzept. (Beifall bei der LINKEN) Wir alle, glaube ich, wissen, dass mit diesen Maßnahmen eine Schuldenreduzierung nicht möglich ist. Sie versuchen aber, es uns glaubhaft zu machen. Eine effektive Schuldenreduzierung geht nur mit effektiven Umschichtungen des beispiellosen Privatvermögens von 10 Billionen Dollar. Profiteure der Krise sind Kapitalbesitzer, Großbanken und Hedgefondsmanager. Sie müssen an der Finanzierung beteiligt werden, sonst wird das nichts. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe bis heute nicht verstanden, warum die damaligen Versprechungen von Frau Merkel und anderen, Hedgefonds und andere toxische Papiere zu verbieten, nicht eingehalten worden sind. Hätten Sie das gemacht, wäre die Krise heute wesentlich kleiner. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe auch die Befürchtung, dass diese Politik der Regierungsparteien die europafeindlichen und rechtspopulistischen Grundströmungen in einem Teil unserer Gesellschaft noch weiter befördern wird. Damit werden nationalistische und sozialdarwinistische Positionen gestärkt. Das will ich nicht verantworten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich will ein soziales und gerechtes Europa. Darum bin ich solidarisch und stelle mich hinter die vielen Millionen Menschen, die seit Monaten in anderen europäischen Ländern auf die Straße gehen und ihren Protest gegen Lohnkürzungen und Sozialkürzungen vehement zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der LINKEN) Weil ich ab und zu selbst auf der Straße protestiere, gehe ich natürlich am 15. Oktober nach Brüssel. Ich möchte, dass dieser europäische Aktionstag ein Riesenerfolg wird. Wir müssen zeigen, dass ein anderes Europa möglich und sehr, sehr nötig ist. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun Heike Hänsel. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Habt ihr sie bald alle durch?) Heike Hänsel (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe heute gegen die Erweiterung des Rettungsschirms gestimmt, weil ich nicht länger zusehen will, wie die Finanzmärkte die Politik weiter vor sich hertreiben. Ich frage mich wirklich: Wo sind wir eigentlich angekommen, wenn Angela Merkel frühmorgens erst einmal die Kommentare der Ratingagenturen und die Börsenkurse anschauen muss, bevor sie ins Kabinett geht und ihre Politik weiterentwickelt? Das ist ein Versagen jeglicher Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Ich kann das in dieser Form nicht verantworten. Die ganze Politik, alles, was hier heute beschlossen wurde, wird die Umverteilung von unten nach oben vorantreiben. Die Umverteilung ist eine Ursache dieser Krise. Deswegen hilft diese Politik nicht aus der Krise heraus; vielmehr verschärft diese Politik die Krise. (Beifall bei der LINKEN) Es wurde schon mehrfach angesprochen: Diese Politik gefährdet ernsthaft jeglichen Ansatz einer europäischen Integration. Wir erleben in vielen Ländern, wie rechtspopulistische Parteien und Bewegungen die Wut und das Gefühl der Ohnmacht der Menschen zu instrumentalisieren versuchen. Eine Politik, die diese Entwicklung ignoriert, ist verantwortungslos. Wir müssen eine soziale Politik für die Menschen dagegenstellen. Nur so können wir auch rechten Bewegungen eine klare Absage erteilen. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe auch deswegen gegen den sogenannten Rettungsschirm gestimmt, weil darin viel Geld gebunden wird, das wir für gute, zukunftsweisende Ideen in Europa bräuchten. Wir könnten ganz Europa auf regenerative Energien umstellen. Wir könnten völlig neue Entwicklungen befördern. Das dafür benötigte Geld wird gebunden, und das steht der Zukunft Europas entgegen. Diese Politik ist negativ und zerstörerisch, und deswegen habe ich heute gegen diesen Gesetzentwurf gestimmt. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte, dass wir ein Europa der Menschen entwickeln und nicht ein Europa der Banken. Dieses Signal muss von diesem Parlament ausgehen. Die Krise können wir nur überwinden, wenn das Finanzkasino – anders kann man es gar nicht mehr nennen – endlich geschlossen wird und die Staaten sich unabhängig von Kapitalmärkten finanzieren können. Deshalb ist die Schaffung einer Bank für öffentliche Anleihen so wichtig. Ich sage Ihnen: Früher oder später wird es eine solche Bank geben. Wir haben letztes Jahr vor so vielen Dingen gewarnt, und vieles ist mittlerweile eingetreten. Ich betone: Diese Entwicklung wird so stattfinden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wie bereits angesprochen wurde, werden nicht die Verursacher und die Profiteure der Krise zur Verantwortung gezogen – auch das ist ein Grund, gegen diesen Rettungsschirm zu stimmen –, sondern das Ganze wird auf dem Rücken der Mehrheit der Bevölkerung ausgetragen. Ich war schockiert, als ich vor einigen Wochen in Griechenland war und dort mit vielen Menschen gesprochen habe. Die Lebenssituation vieler dort ist sehr schwierig. Viele fühlen sich von dieser Politik, die auch die Bundesregierung vorantreibt, gedemütigt. Es ist eigentlich beschämend, zu sehen, dass bei der Vergangenheit Griechenlands, die Deutschland zu verantworten hat, heute ausgerechnet die Bundesregierung und Angela Merkel den Menschen in Griechenland die Politik diktieren wollen. Ich wiederhole: Das ist beschämend. Deswegen habe ich heute gegen den Rettungsschirm gestimmt. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte mich mit den Menschen solidarisieren, die sich gegen diese Politik wehren. Ich unterstütze die Forderung der Griechen und Griechinnen, zum Ausdruck gebracht auf dem Syntagma-Platz in Athen. Diese Menschen sagen: Wir brauchen einen umfassenden Schuldenschnitt für Griechenland; anders wird es keine Zukunft für unser Land geben. – Außerdem solidarisiere ich mich mit den Menschen, die dahin gehend mobilisieren, dass am 15. Oktober ein großer Marsch der Empörten nach Brüssel stattfindet, weil sie meinen: So kann es nicht weitergehen. – Es erschüttert die ganze Demokratie in Europa, wenn wir den aktuellen Entwicklungen nicht endlich eine Politik der Menschen entgegenstellen. Diese Menschen machen sich auf den Weg, und das unterstütze ich. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Letzte Rednerin derer, die eine mündliche Erklärung abgeben, ist nun Kollegin Sabine Leidig. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Leidig (DIE LINKE): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe aus verschiedenen Gründen mit Nein gestimmt: Erstens. Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass die Investmentbank Goldman Sachs derzeit empfiehlt, gegen den Euro und gegen Europa zu wetten, und dass dieselbe Investmentbank zum Beraterstab der europäischen Regierungen gehört. (Zuruf von der Linken: Unglaublich!) Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass der Chef dieser Bank, Alexander Dibelius, die Bundesregierung berät – ein Mann, der explizit erklärt, dass er bei den Banken keinerlei Verantwortung für das Allgemeinwohl sieht. Ich habe mit Nein gestimmt, weil mit dieser Art der Euro-Rettung die Allgemeinheit in Haft genommen wird, um die Kapitalanleger zu bedienen. Die Macht der Investmentbanken hingegen wird nicht angetastet. Es ist nicht vorgesehen, dass große Geldvermögen abgeschöpft werden. Keines der grundlegenden Probleme der Europäischen Union und auch keines der Krisenprobleme der Weltwirtschaft wird auf diese Art und Weise auch nur angepackt. (Beifall bei der LINKEN) Im Gegenteil: Die verordneten Sparmaßnahmen werden vor allem die kleinen Leute treffen. Wir werden in eine Situation hineinmanövriert, die der großen Schuldenkrise der 80er-Jahre ähnlich ist, von der die lateinamerikanischen Länder betroffen waren. Damals hat der IWF die Spardiktate, die Schuldknechtschaft ausgesprochen. Dabei war völlig klar, dass damit die Masse der Bevölkerung in unerträgliche Zustände gebracht wurde. Dieselbe Linie verfolgen Sie mit den Spardiktaten, die jetzt beschlossen worden sind; und mit dem Sixpack, das gestern im Europäischen Parlament verabschiedet worden ist, werden die Zustände noch massiv verschärft. Maastricht hoch zwei wird die Situation für die Menschen in Europa dramatisch verschlimmern, und zwar auch in der Bundesrepublik. (Beifall bei der LINKEN) An dieser Stelle möchte ich etwas sagen, was mich wirklich sehr bewegt. Ich kann nachvollziehen, dass die Gewerkschaften in einer bestimmten Situation hoffen und glauben, dass es, wenn es den deutschen Unternehmen besser geht, wenn die Unternehmen besser durch die Krise kommen, auch den Beschäftigten besser geht. Ich selbst bin seit 32 Jahren Gewerkschaftsmitglied und war zehn Jahre lang hauptamtlich tätig. In dieser Zeit haben wir über den Pakt für Wettbewerb, Ausbildung und Arbeit diskutiert, der zur Folge hatte, dass sich die Situation der Beschäftigten durch die Stärkung der Wettbewerbssituation der deutschen Unternehmen insgesamt verschlechtert hat. Die Gewinne der DAX-Konzerne platzen aus allen Nähten; sie haben in der Nachkrisenzeit um 134 Prozent zugelegt. Was ist davon bei den Beschäftigten angekommen? Ich schaue meinen Kollegen an, der weiß, wovon ich spreche. Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich keinen Gefallen tun, wenn sie auf dieselbe Weise versuchen, die eigenen Beschäftigten zu stützen, aber nicht erkennen, dass Europa nicht nur ein Europa des Friedens, sondern auch ein Europa der Kultur ist. Das ist ganz wichtig. Europa ist ein großer Schatz. Man darf aber nicht vergessen, dass es in Europa auch oben und unten gibt. Die Beschäftigten in Griechenland stehen den Beschäftigten hier deutlich näher, wenn es um die Durchsetzung gemeinsamer Interessen geht. (Beifall bei der LINKEN) Schließlich möchte ich sagen, dass nicht nur die Linke diesen Stabilitätspakt ablehnt. Das europäische Attac-Netzwerk – es wurde schon angesprochen –, dem ich angehöre, appelliert an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier: Es ist an der Zeit, Nein zu sagen, Nein zum Angriff auf soziale und demokratische Rechte in Europa. Diesem Appell folge ich aus voller Überzeugung. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Damit sind wir am Ende der Liste der mündlichen Erklärungen von der Fraktion der Linken. Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befristung – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Befristung von Arbeitsverhältnissen eindämmen – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Sachgrund, keine Befristung – Befristete Arbeitsverträge begrenzen – Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922, 17/4180 – Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem für mich persönlich manchmal sehr ermüdenden Reigen persönlicher Erklärungen bin ich froh, dass wir jetzt wieder in die eigentliche Debatte einsteigen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Jetzt einmal eine schwungvolle Rede, Kollege Zimmer!) Wir diskutieren die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen. Wenn Parlamentarier eine Rede vorbereiten, schauen sie in der Regel in der Bibliothek nach, was es zu den betreffenden Themenstellungen an Literatur gibt. Dabei bin ich auf folgende interessante Aussage gestoßen, die ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren will: … die Möglichkeit, bis zur Dauer von zwei Jahren befristete Arbeitsverträge abzuschließen, die nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein müssen … ist vor allem eine beschäftigungspolitisch sinnvolle Alternative zur Überstundenarbeit. Zugleich bekommen Arbeitsuchende, insbesondere auch solche, die längere Zeit arbeitslos waren, die Gelegenheit, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen, ihre Eignung und Leistungsfähigkeit zu beweisen und damit ihre Chancen auf eine unbefristete Weiterbeschäftigung zu verbessern. Das Zitat stammt aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Februar 2005, also unter Rot-Grün. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Zur historischen Einordnung: Im Zuge des Arbeitsmarktreformgesetzes wurde zum 1. Januar 2004 die Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung in den ersten vier Jahren nach Unternehmensgründung für die Dauer von bis zu vier Jahren eingeführt. Auch haben Sie – Rot-Grün – die Altersschwelle für die erleichterte Befristung Älterer drastisch gesenkt, (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es!) im Jahr 2001 auf 58 Jahre und noch einmal im Jahr 2003 auf 52 Jahre. Das heißt, der Anteil der befristeten Beschäftigung ist vor allem durch die Weichenstellung der Regierung Schröder kontinuierlich gestiegen. SPD und Grüne beklagen mit ihren Anträgen die Ergebnisse ihrer eigenen Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder Sie waren sich über die Folgen Ihrer Politik nicht ganz im Klaren; dann waren Sie zum Regieren nicht fähig. Oder Sie wussten es, und Sie verabschieden sich jetzt von dem, was Sie einmal als richtige Politik gepriesen haben. Sie reden also in der Regierung anders als in der Opposition. Ich weiß ja, dass nach Karl Marx das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, aber was sollen Ihnen die Menschen denn überhaupt noch glauben? Nun zu den Anträgen selbst. Sie behaupten, dass die Möglichkeit sachgrundloser Befristung keine positive arbeitsmarktpolitische Wirkung habe. Das IAB hingegen hat die sachgrundlose Befristung nicht negativ evaluiert. Es stellt zwar eine Ambivalenz zwischen Brücken- und Flexibilisierungsfunktion befristeter Beschäftigung fest, kommt jedoch auch zu dem Ergebnis, dass befristet Beschäftigte nicht unbedingt schlechte Chancen auf eine Entfristung ihres Arbeitsverhältnisses haben. (Lachen des Abg. Klaus Barthel [SPD]) Wäre ausschließlich die arbeitsmarktpolitische Wirkung der Maßstab, dürfte die sachgrundlose Befristung nicht infrage gestellt werden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) Im Übrigen ist – auch dies entnehme ich der Studie des IAB – das subjektive Teilhabeempfinden der Menschen in befristeter Beschäftigung höher als das bei Arbeitslosigkeit und auch höher als bei denjenigen, die in Zeitarbeit stehen. Das würde ich nicht geringschätzen. Bestimmte Formen der Arbeit können krankmachen; längere Arbeitslosigkeit aber macht beinahe sicher krank, weil sie das Bewusstsein der Ausgrenzung und der mangelnden Teilhabe forciert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer einmal Paul Lazarsfelds Studie über die Arbeitslosen von Marienthal gelesen hat, weiß, welche verheerenden individuellen und auch kommunitären Wirkungen aus der Arbeitslosigkeit erwachsen. Wer vor diesem Hintergrund das Instrument befristeter Beschäftigung leichtfertig über Bord werfen will, handelt grob fahrlässig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers war es, einerseits den Arbeitgebern zu ermöglichen, flexibel auf schwankende Auftragslagen zu reagieren, und andererseits Arbeitnehmern eine Alternative zur Arbeitslosigkeit zu bieten und eine Brücke zur Dauerbeschäftigung zu öffnen. Problematisch wird es dann, wenn es zu Befristungsketten kommt. Noch ist das Normalarbeitsverhältnis die Regel. Allerdings nimmt die Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse zu. (Klaus Barthel [SPD]: Eben!) Die Folgen sind unter anderem bei der Lebensplanung der Menschen zu beobachten. Die Befristung begünstigt das Aufschieben von Lebensentscheidungen. Daher will ich an dieser Stelle ganz klar sagen: Befristungen dürfen nur aus gutem Grund eingesetzt werden, (Klaus Barthel [SPD]: Also nur mit Sachgrund!) nicht als verlängerte Probezeit, nicht als Instrument, Belegschaften einfacher abzubauen. Befristungen müssen dosiert eingesetzt werden, damit das Normalarbeitsverhältnis nach wie vor die Regel bleibt. Ich hoffe sehr, dass auch in der Wirtschaft ein Umdenken vonstatten geht. In Zeiten eines Mangels an qualifizierten Arbeitskräften kann man keine Loyalität zu einer Firma erwarten, die nur befristete Arbeitsverträge anbietet. Die modernen Arbeitsnomaden mit befristeten Verträgen werden nicht sesshaft, und sie haben nur eine begrenzte Bindung zum Arbeitgeber. Sosehr ich den Wunsch nach Flexibilität verstehen kann, tut sich hier doch eine Rationalitätenfalle auf: Je mehr Flexibilität ich in einem Unternehmen anstrebe, desto bindungsloser sind meine Mitarbeiter. Darunter leidet nicht nur das Arbeitsklima, sondern auch die Arbeitseffizienz und die Bereitschaft, für die und in der Firma Verantwortung zu übernehmen. Dies wiederum kann betriebswirtschaftlich massiv zu Buche schlagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir haben das Thema der heutigen Debatte vor knapp einem Jahr im Ausschuss besprochen. Damals standen wir noch unter dem Eindruck der gerade beendeten Wirtschaftskrise. Heute sprechen wir von einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Innerhalb weniger Monate hat sich also der Referenzrahmen unserer Debatte vollkommen geändert. Nicht geändert hat sich jedoch meine politische Fantasie in dieser Frage. Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der die Firmen von sich aus Wert darauf legen, qualifizierte Mitarbeiter zu halten, weil dies den langfristigen Firmenzielen entspricht. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt es schon!) Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der Befristungen nur aus gutem Grund eingesetzt werden, nicht aber, um Probezeiten zu verlängern oder Belegschaften einfacher abbauen zu können. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das machen die meisten Unternehmen heute schon!) Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der gerade junge Menschen eine sichere Arbeitsperspektive haben, die es ihnen erlaubt, Wurzeln zu schlagen und Familien zu gründen. Ich stelle mir vor, dass die SPD einmal zu dem steht, was sie gemacht hat; (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der letzte Punkt wird schwierig! Bei den anderen sieht es schon gut aus!) aber zumindest das ist nur sehr schwer vorstellbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Klaus Barthel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Klaus Barthel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal sage ich an die Adresse der Linken: Ich weiß nicht, ob Sie uns einen Gefallen damit getan haben, hier eine Stunde lang Erklärungen zur Abstimmung abzugeben; denn damit haben Sie dafür gesorgt, dass das Thema der Befristung von Arbeitsverhältnissen, das viele Menschen bei uns quält, aus der Kernzeit herausgeschoben wurde, ohne dass die letzte Stunde mit Ihren Erklärungen einen großen Erkenntnisgewinn gebracht hätte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sebastian Blumenthal [FDP] – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Stimmt doch überhaupt nicht! Es ist doch erst Mittagszeit!) Eigentlich steht in den Anträgen, die vorliegen, genug zu den befristeten Arbeitsverhältnissen. Es gibt genügend Gründe, die Befristung gesetzlich zurückzudrängen und vor allen Dingen die sachgrundlose Befristung abzuschaffen. Denn wir haben jetzt ein Vierteljahrhundert Erfahrungen mit befristeten Arbeitsverhältnissen gesammelt und wissen: Sie schaffen keinen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz. Sie sind ein Mittel, die Menschen unter Druck zu setzen und die Würde und den Wert der Arbeit zu mindern. Vor allen Dingen sind sie keine Brücke in den Arbeitsmarkt, in eine feste Beschäftigung. Vielmehr zeigt die Ausweitung der sachgrundlosen Befristung über alle Krisen und Aufschwünge hinweg, dass sie neben der Leiharbeit, den Minijobs, den Praktika und der Niedriglohnbeschäftigung eine der vielen Formen der Flexibilisierung von Arbeit darstellt, (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wer hat das alles denn eingeführt?) die dazu führen, dass sichere Arbeitsverhältnisse – also gute Arbeit – in prekäre Arbeitsverhältnisse – also in unsichere, schlechter bezahlte Arbeit – umgewandelt werden. Das ist alles, was die sachgrundlose Befristung in den letzten 25 Jahren bewirkt hat, und daraus müssen wir alle hier Lehren ziehen. Eines will ich ganz deutlich sagen – ich kenne die Debatten der letzten Monate; Herr Zimmer hat diesen Punkt ebenfalls angesprochen –: Auch wir Sozialdemokraten ziehen solche Lehren. Ich sage das auch, um die Antwort auf entsprechende Redebeiträge, die noch kommen werden, vorwegzunehmen. Zur Geschichte der befristeten Arbeitsverhältnisse seit 1985 ist in unserem Antrag – man kann das nachlesen – genug gesagt, auch zu unserer Verantwortung. Die Frage ist heute doch nicht mehr, wer wann was warum gemacht hat; darüber haben wir uns längst ausgetauscht und tun das immer wieder. Heute ist die Frage interessant: Was lernen wir daraus? Was tun wir? (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Keines der Versprechen der Neoliberalen, der Arbeitgeberverbände und der Gutgläubigen hat sich erfüllt. Das sieht man zum Beispiel bei den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die nach geltendem Recht besonders einfach in den Genuss sachgrundloser Befristung der Beschäftigung kommen sollen; ausgerechnet bei den Älteren gibt es die Möglichkeit der erweiterten Befristung, kombiniert mit Zuschüssen, Subventionen und Erleichterungen, die sogenannte Einstellungshemmnisse beseitigen sollen. Das Ergebnis ist: Selbst während des Aufschwungs in den Jahren 2010 und 2011, während des „Beschäftigungswunders“, haben die Unternehmen davon kaum Gebrauch gemacht. Trotz allen Fachkräftemangels und aller Kampagnen für über 55-Jährige ist nicht nur der Anteil der Älteren an den Arbeitslosen und den Langzeitarbeitslosen gestiegen, sondern auch die absolute Zahl der älteren Arbeitslosen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, wenn man über befristete Beschäftigung als Brücke in den Arbeitsmarkt redet. Es gibt also keinerlei positive Sachgründe für die sachgrundlose Befristung, weder bei den Jungen noch bei den Älteren. Es gibt nicht nur arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gründe, nicht nur Gründe, die etwas mit Würde und Anstand zu tun haben, sondern es gibt auch handfeste wirtschaftliche Gründe, die gegen die massenhafte Befristung sprechen. Die haben natürlich etwas mit dem Thema zu tun, mit dem wir uns eben beschäftigt haben: der Situation zum Beispiel in der europäischen Wirtschaft. Befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Niedriglöhne, die ganze Verwilderung der Sitten auf dem Arbeitsmarkt haben die Krise selbstverständlich mit verursacht. Wer ständig Angst um seine Weiterbeschäftigung haben muss, wer daran gehindert wird, Betriebsrat zu werden oder Betriebsräte zu wählen, wer nicht weiß, wie er in den nächsten Monaten seine Existenz finanzieren soll, der befindet sich nicht nur in einem würdelosen Zustand, sondern er muss auch alle Zumutungen akzeptieren. Derzeit sind fast die Hälfte aller neu abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse befristet. Das drückt das Selbstbewusstsein, die Löhne und wirkt sich negativ auf die Arbeitsbedingungen aus. Das hat – die Zahlen zeigen es – ökonomische Folgen: Nur noch die Hälfte der Beschäftigten steht unter dem Schutz von Tarifverträgen, in immer mehr Betrieben gibt es keinen Betriebsrat mehr, und der Niedriglohnsektor weitet sich aus. Befristete Verhältnisse spielen dabei eine entscheidende Rolle. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das alles führt dazu, dass die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer seit 20 Jahren real stagnieren, zeitweise sogar zurückgehen. Die Lohnquote sinkt, das Geld fehlt – weil die Sozialbeiträge ja auch zurückgehen – im Sozialstaat, was zu Kürzungen von sozialen Leistungen führt. Alles zusammen bewirkt einen Rückgang der Massenkaufkraft. Das Geld fließt auf die internationalen Finanzmärkte, mit der Folge, dass die Reichen immer reicher werden und die Mitte der Gesellschaft schwindet. Was passiert dann? Dann entsteht der Stoff, aus dem die Spekulation und die Krisen sind. Deutschland war bei der Umverteilung leider besonders erfolgreich. Nirgendwo in den Industrieländern, außer vielleicht in den USA, war die Umverteilung so massiv, sind die Löhne und Lohnstückkosten so sehr zurückgeblieben und die Millionäre so viel reicher geworden wie in Deutschland. Die Unternehmen haben im Durchschnitt der letzten zehn Jahre 130 Milliarden Euro pro Jahr mehr erlöst, als im Inland verbraucht worden sind. Jeder Cent von diesen 130 Milliarden Euro – in den letzten elf Jahren mehr als 1,5 Billionen Euro – wäre in den Händen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien, der Niedriglöhner, der Rentner und in den öffentlichen Haushalten besser aufgehoben gewesen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) All das hat erhebliche Auswirkungen auf die Tarifabschlüsse und auf die Kampfkraft der Gewerkschaften. Erst wenn wieder Recht, Ordnung, Anstand und Würde durchgesetzt sind, erst wenn endlich die sachgrundlose Befristung abgeschafft, Leiharbeit neu geregelt und der Mindestlohn gesetzlich durchgesetzt ist, kann es mit den Löhnen wieder bergauf gehen. Erst wenn es mit den Löhnen wieder bergauf geht, wird auch die Binnennachfrage wieder steigen. Dann werden die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise bekämpft, und erst dann können wir die Schuldenberge abbauen. So herum wird ein Schuh draus. (Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Erst produziert ihr was, dann muss es wieder abgeschafft werden!) Allen, die heute das Lied von Flexibilisierung und Wettbewerbsfähigkeit singen – auch Sie haben das ja getan –, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das haben wir von euch gelernt!) möchte ich Folgendes sagen: Sie verwehren den Menschen nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern Sie erweisen auch der Wirtschaft einen Bärendienst. Die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt zu, und die Arbeitswelt wird, so sagt die IG Metall jetzt, immer mehr zu einer „Gefahrenzone“ für die Beschäftigten. Herr Zimmer, Sie haben es doch eben selber am Schluss zugegeben. Das sind genau die Sonntagsreden, in denen beklagt wird, dass die jungen Leute nicht mehr verwurzelt sind, keine Familie mehr gründen und nicht mehr ehrenamtlich tätig sind. Dann müssen Sie aber auch endlich die Konsequenzen daraus ziehen und auf dem Arbeitsmarkt wieder Recht und Ordnung schaffen. Sie würden einen guten Anfang machen, wenn Sie Ihren Koalitionsvertrag, zumindest in diesem Punkt, in die Tonne schmeißen und die sachgrundlose Befristung endlich wieder abschaffen würden, anstatt zuzuschauen, wie das Bundesarbeitsgericht die Möglichkeiten dafür immer mehr erweitert. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Heinrich Kolb. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Barthel hat ein tiefschwarzes – man könnte auch sagen: ein dunkeldunkelrotes – Bild des deutschen Arbeitsmarktes gezeichnet. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Es gibt keinen Übergang von dunkelrot zu tiefschwarz!) Gott sei Dank sieht die Realität anders aus. Die Bundesagentur hat heute die Zahlen für den Monat September bekannt gegeben. Das ist wirklich eine einzigartige Erfolgsstory, die auch in diesem Monat fortgeschrieben worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Und das alles wegen der Befristungen, oder?) Wir haben jetzt weniger als 2,8 Millionen Arbeitslose. Das sind 141 000 weniger als im Vormonat und 231 000 weniger als noch vor einem Jahr. Das heißt, 231 000 Menschen weniger sind arbeitslos. Das sind 231 000 Menschen mehr, die einen Arbeitsplatz haben, denen die Teilhabe am Erwerbsleben ermöglicht wird, und zwar dank der Politik dieser schwarz-gelben Bundesregierung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Durch befristete Arbeitsverhältnisse!) Wir haben 41,3 Millionen Erwerbstätige. Das sind 515 000 mehr als im August des Vorjahres. Wir haben 28,36 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Das sind 672 000 mehr als noch vor einem Jahr. Das ist ein unglaublicher Anstieg, den wir zu verzeichnen haben. Das führt übrigens nicht nur dazu, dass sich die Steuerkassen füllen, sondern auch dazu, dass sich die Lage der Sozialversicherungen stabilisiert, Herr Kollege Barthel. Das gilt zum Beispiel für die Kasse der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Deswegen vergießen Sie sicherlich keine Krokodilstränen, was im Übrigen das Leitmotiv Ihrer Rede war. (Klaus Barthel [SPD]: Und dann braucht sie 12 Mil-liarden Subventionen für Aufstocker!) Warum sind diese Erfolge möglich? Weil wir nicht wie Sie unsere Meinung geändert haben. Als Sie regiert haben, haben Sie das noch anders gesehen. Man muss das ja hier einmal laut sagen: Das Teilzeit- und Befristungsgesetz ist in der heutigen Fassung von Rot-Grün verabschiedet worden. Damals haben Sie das Hohelied der Flexibilität gesungen, und heute wollen Sie mit alldem nichts mehr zu tun haben. So geht das nicht. Wir stehen weiter für Flexibilität. (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU]) Wir halten das für richtig, und der Erfolg gibt uns recht. Die Hälfte der entstandenen Stellen sind unbefristete Vollzeitstellen; die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse sind befristet. Ein Viertel, also die Hälfte der Hälfte, ist sachgrundlos befristet. Die SPD sagt: Wir wollen auf die sachgrundlose Befristung verzichten. Die Linken sagen: Wir wollen überhaupt keine Befristung mehr. Und die Grünen schließen sich, wenn ich das richtig gelesen habe, der Meinung der Linken an. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir wollen die sachgrundlose Befristung abschaffen!) Sie wären bereit, auf ein Viertel bzw. die Hälfte der heute neu entstehenden Arbeitsverhältnisse zu verzichten. (Klaus Barthel [SPD]: So ein Quatsch!) Das ist die Wahrheit. Wir wollen, dass auch künftig Menschen eine Beschäftigungschance haben, mit Befristung, sachgrundlos und auch mit Sachgrund. (Klaus Barthel [SPD]: Sie hätten so auch einen Arbeitsplatz, weil sie gebraucht werden!) – Herr Kollege Barthel, Sie machen manchmal Milchmädchenrechnungen auf. Ich will Ihnen ein Beispiel aus unserem Themenfeld nennen, den Mindestlohn. Nach einer Prognos-Studie wären alle Probleme gelöst, wenn wir in Deutschland einen Mindestlohn von 8,50 Euro einführen würden. Dann würden die Einnahmen der Sozialversicherungen sprudeln. Dann wäre alles toll. Schlaraffenland! Diese Studie basiert auf einer Annahme: Man geht davon aus, dass die Beschäftigungseffekte der Einführung eines Mindestlohns gleich null wären. Das ist in der Praxis aber nicht zu erwarten. Sie gehen von Folgendem aus: Auch wenn wir heute die Befristungsmöglichkeiten streichen, würde in gleichem Umfang eingestellt werden. Aber das wird nicht funktionieren. Ich habe Ihnen das schon vor einem Jahr gesagt, als wir uns in der Frühphase des Aufschwungs befanden. Wenn Unternehmen die Zukunft nicht abschätzen können, stellen sie vernünftigerweise – das würden Sie, wenn Sie Unternehmer wären, auch nicht anders handhaben – befristet ein. Auch heute, ein Jahr später – wir sind über die Spitze des Aufschwungs möglicherweise schon hinweg; jedenfalls sind die Zeiten unsicherer geworden –, finde ich es noch gut, dass Unternehmen die Möglichkeit haben, befristet einzustellen. Das ist besser, als wenn sie überhaupt nicht einstellen, sondern versuchen, die Aufträge mit der bestehenden Belegschaft und mithilfe von Überstunden abzuarbeiten. Uns geht es darum, möglichst viele Menschen in Beschäftigung zu bringen. Dabei sind wir erfolgreich. Wir lassen uns auch von Ihnen nicht beirren. Wir werden weiter versuchen, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen. Dabei werden wir die volle Breite, den gesamten Mix an Beschäftigungsformen, die uns zur Verfügung stehen, nutzen: Vollzeit wie Teilzeit, befristet wie unbefristet, Zeitarbeit, Mini- und Midijobs. Sie wollen Rosinenpickerei betreiben. Aber damit sind die Erfolge am Arbeitsmarkt, die wir derzeit erfreulicherweise in Deutschland haben, nicht zu erreichen. Das unterscheidet uns von Ihnen. Im Interesse der Menschen, die arbeitslos sind und einen Eintritt in den Arbeitsmarkt suchen, werden wir weiter die erfolgreiche Politik dieser Bundesregierung fortsetzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kolb. – Jetzt für die Fraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Ernst. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben gerade wieder eine Rede gehört, Herr Dr. Kolb, die das Ziel der FDP klar definiert. Sie wollen eine Deregulierung der Arbeitsmärkte, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Wort „Deregulierung“ habe ich nicht in den Mund genommen!) um die Löhne zu senken; denn Sie wissen, Herr Dr. Kolb – das unterstelle ich Ihnen jetzt einfach einmal –, dass bei befristet Beschäftigten die Angst, nach der Befristung nicht übernommen zu werden, dazu führt, dass die Betroffenen bereit sind, für weniger Lohn zu arbeiten, auch einmal eine Überstunde ohne Bezahlung zu machen oder längere Arbeitszeiten zu akzeptieren. Sie sind bereit, auch Demütigungen am Arbeitsplatz hinzunehmen. Wenn Sie hier der Befristung das Wort reden, zeigt das: Sie sind mit diesen Verhältnissen einverstanden. Das ist der Grund dafür, dass die FDP bei den Umfragen so schlecht dasteht, Herr Kolb, und das mit Recht, um das einmal in aller Klarheit zu sagen. (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist die Realität!) Nahezu jeder Zweite – fast 50 Prozent – derjenigen, die zurzeit neu eingestellt werden, wird nur noch befristet eingestellt. Ich habe auch einmal etwas Anständiges gelernt, nämlich Elektromechaniker. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wären Sie es besser geblieben!) Das ist schon eine Zeit her. Es war damals völlig selbstverständlich, dass man nach der Ausbildung in dem Beruf, den man erlernt hat, übernommen wurde. Da ist über die Frage einer Befristung nicht einmal diskutiert worden. War das damals eigentlich eine schlechtere Situation für die Menschen, oder war das eine bessere Situation? Wenn Sie so tun, Herr Kolb, als sei die Situation jetzt besser, dann verkennen Sie, dass von den 2,7 Millionen, die gegenwärtig einen befristeten Arbeitsvertrag haben, nur 2,5 Prozent sagen: Ja, wir sind damit einverstanden, dass das befristet ist. – Die überwältigende Mehrheit der Betroffenen möchte eine ganz normale, unbefristete Beschäftigung. Diejenigen, die nicht über eine unbefristete Beschäftigung verfügen, finden eine ganz andere Situation in ihrem Leben vor. Haben Sie schon einmal versucht, zum Beispiel mit einem 21-, 22-Jährigen zu reden, der nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat und einen Kredit haben möchte, weil er möglicherweise eine Familie gründen will? Was glauben Sie, was die Bank zu dem sagt? Oder stellen Sie sich vor, er sucht eine Wohnung. Der Vermieter fragt: Wo schaffst Du denn? – In der und der Firma. – Bist du da unbefristet beschäftigt? – Sagt der: Für ein halbes Jahr oder für ein Jahr. – Glauben Sie, dass der dann die Wohnung kriegt, wenn ein anderer kommt, der einer unbefristeten Arbeit nachgeht? Was glauben Sie eigentlich, wie es darum bestellt ist, eine Familie zu gründen, wenn die Menschen überhaupt keine Perspektive, keine Zukunftssicherheit haben, wenn sie nicht wissen, wie es mit ihnen nach einem Jahr, nach eineinhalb oder nach zwei Jahren weitergeht, weil sie nur noch befristete Jobs haben? Mit der Position, die Sie hier vertreten, Herr Dr. Kolb, gefährden Sie die Zukunftsperspektive insbesondere der jungen Leute, und das ist ein Skandal. Ich sage in aller Klarheit: Das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und dann über den Geburtenrückgang schwadronieren!) Ich sage Ihnen auch: Insbesondere die Jungen kommen in ganz hohem Maße nur noch in befristete Arbeitsverhältnisse. Die IG Metall hat 2009 festgestellt, dass 40 Prozent der bis 24-Jährigen nur befristete Arbeitsverträge haben. Das ist ein ungeheuerlicher Zustand. Meine Damen und Herren, Herr Dr. Kolb, ich möchte versuchen, Ihnen das an einem sehr einfachen und eigentlich sehr nachvollziehbaren Punkt deutlich zu machen. Arbeit hat auch etwas mit Würde zu tun. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist richtig! Arbeitslosigkeit ist aber eine schlechte Alternative!) Würde ist dann gegeben, wenn man in einigermaßen abgesicherten Verhältnissen lebt und nicht Freiwild für den Arbeitgeber ist, der ohne Kündigungsschutz einen befristet Eingestellten nach Ablauf der Befristung wieder aus dem Betrieb entfernen kann. Es hat etwas mit Würde zu tun, dass man sozial abgesichert ist. (Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Ich glaube, ich lasse es einmal zu. Vizepräsident Eduard Oswald: Dann ist die Zwischenfrage schon erlaubt. – Bitte schön, Herr Kollege Kolb. – Ich stoppe auch die Zeit, damit nichts angerechnet wird. – Bitte schön. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ihre Redezeit drohte zu Ende zu gehen. Deswegen, glaube ich, kommt Ihnen die Frage ganz recht, Kollege Ernst. Klaus Ernst (DIE LINKE): Ich weiß, dass Sie mich mögen, Herr Dr. Kolb. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir fragen uns ja durchaus gerne einmal zu wechselnden Zeitpunkten. Meine Frage ist folgende. Sie sagen, dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!) Würden Sie mir recht geben, dass es würdevoller ist, wenn ein Mensch in Arbeit ist statt arbeitslos? (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Und dann? – Klaus Barthel [SPD]: Ist das die Alternative? – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine Frage der Qualität der Arbeit!) Wissen Sie, dass das IAB – das ist nicht das Zentralorgan der FDP, sondern ein anerkanntes Institut – uns gesagt hat, dass jede zweite befristete Stelle in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mündet? (Klaus Barthel [SPD]: Warum nicht gleich?) Würden Sie mir vor diesem Hintergrund recht geben, dass es für die Würde der Betroffenen – da reden wir wirklich über jeden einzelnen Fall – besser ist, sich aus der Arbeitslosigkeit zunächst mit einem befristeten Arbeitsverhältnis, von denen 50 Prozent in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übergehen, zu befreien? Ich bin der Meinung: Wenn die Alternative Arbeitslosigkeit ist, ist das eindeutig der bessere und würdevollere Weg. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja nicht die Alternative!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Diese Alternative, die Sie darstellen, gibt es nur deshalb, weil der Gesetzgeber bis jetzt nicht geregelt hat, dass solche Befristungen ohne Grund nicht möglich sind. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) Wäre die Befristung ohne Grund nicht möglich, müsste sich der Arbeitgeber, der jemanden einstellt, überlegen: Will ich, dass die Tätigkeit verrichtet wird, oder nicht? Wenn er will, dass sie verrichtet wird, muss er jemanden einstellen. Wenn die gesetzlichen Regelungen stimmen, muss er unbefristet einstellen. Deshalb sagen wir: Wir wollen, dass die sachgrundlose Befristung verboten wird. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein Weiteres. Herr Dr. Kolb, es ist geradezu schön, dass Sie diesen Punkt ansprechen. Wenn Sie sagen, dass es würdevoller ist, eine Arbeit zu haben, frage ich: Ist es vielleicht auch würdevoll, eine bestimmte Arbeit unter bestimmten Bedingungen nicht machen zu müssen? Wenn Sie die Auffassung vertreten, dass jede Arbeit, egal welche – das ist der Punkt –, immer würdevoller ist als nicht zu arbeiten (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das hat er nicht gesagt!) – tut mir leid, das haben Sie gerade gesagt, Herr Dr. Kolb –, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es wird in Deutschland niemand in Handschellen in ein Unternehmen geführt! Die Menschen gehen alle freiwillig zur Arbeit!) dann sage ich Ihnen: Wenn es tatsächlich so ist, dass jede Arbeit sinnvoller und würdevoller ist als nicht zu arbeiten, dann sagen Sie damit, dass die Sklaven im alten Rom würdevolle Arbeit geleistet haben. Das haben sie aber nicht. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben nicht einmal Lohn bekommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Die Leute gehen freiwillig und erhobenen Hauptes zur Arbeit!) – Herr Dr. Kolb, jetzt bin ich dran; Sie können mir gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Ich würde sie auch beantworten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre zu viel des Guten!) Mit Ihrer Position sagen Sie Folgendes: Es ist in Ordnung, weil auch die Sklaven im alten Rom gearbeitet haben. Sie haben zwar überhaupt kein Geld bekommen, aber es war gut, dass sie Arbeit hatten. Denn das ist besser, als keine Arbeit zu haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nein!) – Ich bin noch nicht ganz fertig. – Herr Dr. Kolb, ich sage Ihnen: Es ist sinnvoll, dass wir Arbeit so organisieren, dass sie würdevoll ist. Sie zeigen dauernd eine Alternative auf, die es in der Realität so nicht gibt. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sozial ist, was Würde schafft, sozial ist nicht, was Arbeit schafft!) Herr Dr. Kolb, wir wollen, dass dies nicht weiter so stattfindet. Ich zitiere jetzt den Vorsitzenden des DGB, Michael Sommer. Es sagte – es müsste uns allen hier zu denken geben, dass der Vorsitzende des DGB das sagt –: Inzwischen haben wir in Deutschland den Zustand, dass Arbeit so billig ist wie Dreck. Dazu sage ich Ihnen: Das hat damit zu tun, dass wir Arbeit nicht vernünftig reguliert haben. Zur Regulierung der Arbeit gehört, dass wir die Regeln wieder so gestalten, dass die Menschen tatsächlich würdevolle Arbeit erhalten. Dazu brauchen sie eine unbefristete Beschäftigung. Wenn sie dann tatsächlich nicht beschäftigt werden können, Herr Dr. Kolb, dann müssen sie eben das Recht in Anspruch nehmen können, zum Beispiel eine Kündigungsschutzklage zu führen. Sie wollen den Menschen, die dann nicht mehr gebraucht werden, das Recht nehmen, eine Kündigung vom Arbeitsgericht überprüfen zu lassen. Letztendlich heißt Befristung: Ausschluss der Möglichkeit, eine Kündigung vom Arbeitsgericht überprüfen zu lassen. Das wollen Sie. Diese liberale Position ist auch ein Grund, warum Sie zurzeit in den Umfragen nicht besonders gut dastehen. Zum Schluss möchte ich darstellen, zu was Ihre Politik führt: Bei VW Salzgitter sind von 7 000 Beschäftigten 1 100 nur noch in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, bei Siemens in Bad Neustadt sind von 2 500 Beschäftigten 450 nur noch in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, bei der IB GmbH sind von 2 000 Beschäftigten annähernd die Hälfte nur noch in befristeten Arbeitsverhältnissen. Sie machen den Ausnahmetatbestand, dass man jemanden für einen kurzen Zeitraum einstellen kann, weil es dafür einen sachlichen Grund gibt, zur Regel. Wir wollen – da sind wir uns in der Opposition, glaube ich, alle einig – wieder Regulierung auf dem Arbeitsmarkt und kein Wildwest à la FDP. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Ernst. – Bitte schön, Frau Kollegin Ernstberger. Petra Ernstberger (SPD): Herr Präsident, im Namen meiner Fraktion möchte ich die Herbeizitierung der Ministerin beantragen, da es sich um ein existenzielles und wichtiges Thema für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handelt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Vorfeld des G-20-Treffens halte ich es für angemessen, dass die Ministerin hier im Plenarsaal erscheint. Vizepräsident Eduard Oswald: Zur Geschäftsordnung der Herr Kollege Kaster. Bernhard Kaster (CDU/CSU): Wir hatten eine angeregte und inhaltsreiche Debatte. Die Regierungsbank war bzw. ist durch Staatssekretäre vertreten. (Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, „war“! Sie war vertreten!) Ich denke, wenn es Ihnen mit diesem Thema ernst ist, dann sollten wir mit der gebotenen Sachlichkeit debattieren. Sie sollten hier aber keine Geschäftsordnungskaspereien machen. (Petra Ernstberger [SPD]: Na, na!) Wir werden einen solchen Antrag unsererseits ablehnen. (Petra Ernstberger [SPD]: Dann stimmen wir ab! – Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann müssen wir abstimmen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Ich will nur noch geklärt haben, ob die Ministerin überhaupt erreichbar ist (Widerspruch bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Das stellen wir nachher fest!) oder ob sie entschuldigt ist. (Petra Ernstberger [SPD]: Nein! Sie war doch da! – Weiterer Zuruf von der SPD: Entschuldigt ist sie nicht! – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ach, was soll denn das? Der Staatssekretär ist doch da!) – Sie ist also nicht entschuldigt. Herr Kollege Kolb zur Geschäftsordnung. (Petra Ernstberger [SPD]: Wir wollen abstimmen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Na, Herr Kolb, habt ihr jetzt rumtelefoniert?) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass der bisherige Verlauf der Debatte gezeigt hat, dass wir unsere Argumente ausgetauscht haben. (Petra Ernstberger [SPD]: Das ist Zeitschinderei! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, Herr Kolb, was wollen Sie sagen?) – Frau Kollegin Pothmer, hören Sie mir doch erst einmal zu. (Petra Ernstberger [SPD]: Wir wollen abstimmen!) Ich stelle fest, dass das Ministerium in der Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel, eines ebenso beliebten wie kompetenten Kollegen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Oh! Oh! Oh! – Klaus Barthel [SPD]: Wer ist denn das?) hier vertreten ist. Ich stelle auch fest, dass im bisherigen Verlauf der Debatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und auch die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, (Zuruf von der SPD: Das ist doch Zeitschinderei!) Frau Dr. Ursula von der Leyen, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Zeitschinderei!) mit keinem einzigen Wort erwähnt worden sind. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) – Ja, da darf man gerne auch einmal applaudieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Insofern nimmt es wunder – das muss ich ganz deutlich sagen –, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Zeitschinderei! – Klaus Barthel [SPD]: Reden Sie zur Geschäftsordnung, nicht nur irgendetwas!) dass plötzlich von der SPD beantragt wird, dass die Ministerin höchstpersönlich für die Bundesregierung erscheinen soll. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau! – Zuruf von der SPD: Dürfen wir das verlangen, oder dürfen wir das nicht?) Ich will deutlich sagen: Wir haben genug Material und Stoff. (Ottmar Schreiner [SPD]: Aha!) Die vorliegenden Anträge der Fraktion der Linken, der Fraktion der SPD und der Fraktion der Grünen sind Thema und Gegenstand der heutigen Debatte. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Ottmar Schreiner [SPD]: Sag doch auch mal was zum FDP-Antrag!) Es gibt zahlreiche Kollegen, die in dieser Debatte bereits das Wort ergriffen haben oder es noch ergreifen werden. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Filibustern!) Vor diesem Hintergrund, glaube ich, wir sind gut beraten – das ist auch vollkommen ausreichend –, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ist das zur Geschäftsordnung?) wenn wir diesen Tagesordnungspunkt unter uns beraten, wenn wir uns gegenseitig zuhören – das sollte übrigens ohnehin gute parlamentarische Übung sein – und wenn wir alle nach dem Ende der Beratungen – das wünsche ich mir sehr – in uns gehen und überlegen, was wir gemeinsam tun können, um bei Abstimmungen Mehrheiten zu erzielen. Ich glaube, gerade signalisiert die SPD, dass sie ihren Geschäftsordnungsantrag zurückziehen will. Interpretiere ich das richtig? (Petra Ernstberger [SPD]: Nein! Wir wollen abstimmen! – Klaus Barthel [SPD]: Nein! Wir wollen die Ministerin!) – Ach so, Sie wollen, dass wir abstimmen. Dann habe ich das falsch verstanden. Ich dachte, Sie würden den Antrag zurückziehen. Das hätte mir die weitere Argumentation an dieser Stelle ersparen können. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Abstimmen! Abstimmen! Abstimmen!) So wie die Situation jetzt ist, müssen wir über den Geschäftsordnungsantrag abstimmen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja! Na endlich! – Klaus Barthel [SPD]: Na also! Es geht doch!) Dann werden wir sehen, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Die Geschäftsordnung ist ziemlich eindeutig: Die Möglichkeit einer Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer ist gegeben. Jetzt lasse ich über den Antrag abstimmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jede Fraktion hat sich geäußert; so sieht es die Geschäftsordnung vor. Wer für den Antrag der Fraktion der SPD ist, den bitte ich um das Handzeichen. – (Petra Ernstberger [SPD]: Eindeutig!) Gegenprobe! – (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist die Mehrheit! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die Minderheit!) Im Präsidium besteht Uneinigkeit. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! – Petra Ernstberger [SPD]: Unglaublich!) Deshalb kommen wir nun zu dem bewährten Verfahren des Hammelsprungs. – Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen. Ich unterbreche die Sitzung, bis dieses Verfahren eröffnet wird. (Unterbrechung von 13.25 bis 13.35 Uhr) Vizepräsident Eduard Oswald: Es haben alle den Saal verlassen. Ich bitte, die Türen zu schließen. Die Abstimmung ist eröffnet. Ich frage die Schriftführer, ob sich noch jemand in der Lobby befindet. – Ich höre und sehe, dass das nicht der Fall ist. Dann können wir die Türen schließen. Ich bitte die Schriftführer, mir das Ergebnis bekannt zu geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Platz nehmen wollen, dann haben Sie dazu die Möglichkeit. Sie können das Ergebnis aber auch stehend zur Kenntnis nehmen. Ich gebe das Ergebnis des Hammelsprungs bekannt: Mit Ja haben gestimmt 176 Kolleginnen und Kollegen. Mit Nein haben gestimmt 260 Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Schämt euch!) Enthalten hat sich niemand. Damit ist der Antrag der Fraktion der Sozialdemokraten auf Herbeizitierung der Frau Bundesministerin abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben selbstverständlich die Gelegenheit, bei der laufenden Debatte anwesend zu sein und sie zu verfolgen. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Wenn Ruhe eingekehrt ist, gebe ich das Wort der nächsten Rednerin in unserer Debatte. Ich erteile nun das Wort unserer Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Zwischen 1996 und 2010 hat sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse auf über 2,5 Mil-lionen nahezu verdoppelt. Entscheidend ist aber: Mittlerweile hat jede zweite neue Stelle ein Verfallsdatum, ist also befristet. Wir Grüne sehen diese Entwicklung mit Sorge (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist der Erfolg eurer Politik!) und kritisieren die Tendenz hin zu immer mehr atypischer und prekärer Beschäftigung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch Rot-Grün trägt hierfür Verantwortung; das wissen wir. Das haben wir schon häufig gesagt. Wir hatten damals die Hoffnung, dass die sachgrundlose Befristung eine Brücke in Dauerbeschäftigung insbesondere für Ältere ist und zu mehr Arbeitsplätzen insgesamt führt. Aber es funktioniert nicht. Herr Kollege Kolb, Politik muss hin und wieder lernen und sollte nicht krampfhaft an Positionen festhalten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zahlen sprechen eine klare Sprache!) Das schafft übrigens auch Vertrauen. Das kann gerade die FDP momentan gut gebrauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Zu viele Arbeitgeber nutzen nur den vorhandenen gesetzlichen Rahmen und stellen ohne Not befristet ein, statt reguläre, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, behaupten immer noch, dass sachgrundlose Befristung arbeitsmarktpolitisch Sinn macht. Unkritisch setzen Sie auf Flexibilität für die Arbeitgeber und ignorieren, dass der Preis für die Beschäftigten zu hoch ist. Befristete Jobs werden deutlich schlechter vergütet. Befristet Beschäftigte haben ein größeres Armutsrisiko, sie werden schneller arbeitslos. Eine Familien- und Lebensplanung gestaltet sich schwierig. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wussten Sie doch alles, als Sie das Gesetz damals geändert haben!) Wer befristet angestellt ist, macht sich auch mehr Sorgen über Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut im Alter. Die Flexibilität der Arbeitgeber geht voll und ganz zulasten der Beschäftigten. Diese Fehlentwicklung ist für uns nicht mehr akzeptabel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Eine Entwicklung beschäftigt mich ganz besonders. Die Befristungsmöglichkeit, aber auch die Personalpolitik der Arbeitgeber treiben eine ganze Generation – ich meine die Jungen – in unsichere Jobs. Die Arbeitgeber begnügen sich nicht mehr mit einer Probezeit von sechs Monaten. Mit befristeten Arbeitsverträgen werden junge Menschen zwei Jahre hingehalten. Nur noch 25 Prozent haben Glück und werden übernommen, die anderen 75 Prozent müssen wieder von vorne beginnen. Wir haben nicht nur eine Generation Praktikum, sondern wir haben mittlerweile auch die Generation Probezeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Für junge Menschen wird der Schwebezustand damit zum Dauerzustand, und das Fehlen von Zukunftsplänen wird zur Normalität. Lebensplanung ist ein Begriff, über den viele jüngere Beschäftigte nur noch müde lächeln können. Befristung bedeutet beim Berufseinstieg aber auch weniger Lohn. Es dauert sehr lange, bis diese Verdienstlücke zwischen befristet und unbefristet Beschäftigten wieder geschlossen ist. Laut einer Studie brauchen Männer dafür zwölf Jahre. Bei Frauen geht es schneller. Sie brauchen nur sechs Jahre, aber sie verdienen auch weniger als die Männer. Viel zu viele junge Menschen haben also einen langen und unsicheren Berufseinstieg. Das ist nicht nur ungerecht, sondern vor allem auch unverantwortlich. (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Es muss also damit Schluss sein, dass Arbeitgeber das unternehmerische Risiko auf die Beschäftigten übertragen, auf billigere Löhne spekulieren und mithilfe von Befristungen den Kündigungsschutz umgehen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag auch die Streichung im Teilzeit- und Befristungsgesetz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn der Blick auf die Beschäftigten und auf die unsichere Lebenssituation die Regierungsfraktionen nicht überzeugen kann, dann hätte ich abschließend noch ein weiteres Argument für unseren Antrag: Zu viele befristete Jobs schwächen auch die Gewerkschaften; denn befristet Beschäftigte sind weniger organisiert. (Klaus Barthel [SPD]: Das wollen die da drüben ja!) Wenn die Fluktuation im Betrieb groß ist, dann haben die Gewerkschaften und Betriebsräte weniger Möglichkeiten, neue Mitglieder zu werben. Mit unserem Antrag wollen wir also auch die Gewerkschaften stärken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dieses Argument müsste eigentlich auch die Regierungsfraktionen überzeugen, die stets die Tarifautonomie hochhalten und damit gesetzgeberische Maßnahmen ablehnen. Ich komme zum Schluss. Mit unserem Antrag wollen wir den Arbeitgebern nicht jegliche Flexibilität nehmen. Sie haben weiterhin die Möglichkeit, befristet einzustellen, sofern ein Grund vorliegt. Unser Ziel ist aber, eine neue, eine gerechte Balance herzustellen, die den Interessen der Arbeitgeber und der Beschäftigten gleichermaßen gerecht wird. Wir wollen keine Spaltung zwischen regulär und prekär Beschäftigten; denn die Menschen brauchen soziale Sicherheit. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ulrich Lange. Bitte schön, Kollege Ulrich Lange. (Beifall bei der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male in diesem Haus beschäftigen wir uns heute mit dem Thema der sachgrundlosen Befristung. Es ist ein wiederholter Versuch, ein bewährtes, inzwischen fest eingeführtes Instrumentarium im Kanon des deutschen Arbeitsrechtes – ich sage es so deutlich – zu schleifen. Dabei waren Sie es zu mutigen rot-grünen Zeiten – dies ist heute schon mehrfach angesprochen worden –, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber deswegen brauchen Sie es nicht noch einmal anzusprechen! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben dazu schon öfter etwas gesagt! Einfach zuhören!) die das TzBfG eingeführt haben. Wir hatten vorher keine echte Regelung für Befristungen. Wir haben uns bis zum 1. Januar 2001 immer wieder durch viel Rechtsprechung gearbeitet. Trotz aller Kritik am Anfang gilt das TzBfG aus dem Jahre 2001 in der Fachwelt heute, auch wenn Sie es nicht hören mögen, durchaus als gelungen. (Klaus Barthel [SPD]: Bei den Professoren, die alle eine lebenslange Beschäftigung haben!) Gleiches hat die Anhörung am 4. Oktober letzten Jahres deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Beitrag von Professor Thüsing erinnern, der ganz klar gesagt hat, dass die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung ein Schritt zur Verkomplizierung des deutschen Befristungsrechtes sei. Auch hat er das Thema der Zuvor-Arbeitsverhältnisse, die in keinem sachlichen Zusammenhang stehen, angesprochen. Gerade in diesem Punkt hat das Bundesarbeitsgericht im April dieses Jahres ein durchaus bemerkenswertes Urteil gefällt, indem es auf die Klage einer studentischen Hilfskraft, die dann als Lehrerin eingestellt wurde, festgestellt hat, dass es sich nach mehr als drei Jahren Unterbrechung um kein Zuvor-Arbeitsverhältnis handelt. Das BAG hat also ganz klar den Dauerausschluss, von dem wir arbeitsrechtlich bisher ausgegangen sind, abgelehnt. (Klaus Barthel [SPD]: Aufgeweicht!) Diese Entscheidung entspricht nicht nur den Bedürfnissen der Praxis, sondern sie hat in der Fachwelt durchaus große Zustimmung erfahren. (Klaus Barthel [SPD]: Was ist denn das für eine Fachwelt?) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, insbesondere der Gewerkschaften – Herr Kollege Barthel, Sie sind ja bei Verdi –, ich habe mir das Protokoll über die Anhörung angeschaut und dabei erfreut festgestellt, dass die Kollegin des DGB festgehalten hat – anders als in der Rede auf dem Verdi-Bezirkstag –, dass bei der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung die Gefahr bestehe, dass andere atypische Beschäftigungsverhältnisse zunähmen. Das heißt im Ergebnis – so ist es im Wortprotokoll festgehalten –, dass dann mit einer Zunahme von Leiharbeit und sonstigen Dienstverhältnissen gerechnet werden müsse. (Klaus Barthel [SPD]: Deswegen müssen wir die auch neu regeln!) Genau deshalb sollten Sie sich sehr gut überlegen, wo Sie die Axt anlegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Das geht nachher alles in einem Aufwasch!) – Nein, die Kollegin des DGB denkt nicht theoretisch wie Sie, sondern sie steht mit beiden Beinen in der Arbeitswelt und weiß, wie es in den Betrieben zugeht. Sie vertritt damit die Interessen der Menschen, die arbeiten und arbeiten wollen und die Hoffnung auf den Klebeeffekt und auf eine Brücke hin zu unserem deutschen Arbeitsmarkt haben. (Klaus Barthel [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht! Der DGB ist gegen die sachgrundlose Befristung!) – Lesen Sie selbst! Sie waren wahrscheinlich bei der Anhörung nicht dabei. (Stefan Rebmann [SPD]: Ich bin Vorsitzender des DGB-Bezirks Nordbaden!) – Dann lesen Sie nach, was Ihre Sachverständige gesagt hat. Schicken Sie doch das nächste Mal eine andere Sachverständige, wenn Ihnen das, was bei einer Anhörung herauskommt, nicht passt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir erwarten von Sachverständigen in einer Anhörung, dass sie offen und ehrlich antworten. Sonst könnten wir uns das sparen. Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, nämlich dass befristete Arbeitsverhältnisse ein Weniger an Rechten darstellen. Das ist definitiv nicht der Fall. (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Auch für befristet Beschäftigte gelten Tarifverträge und Urlaubsansprüche. Auch die Wahl in den Betriebsrat ist selbstverständlich möglich. (Stefan Rebmann [SPD]: Theoretisch, ja!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube nicht, dass hier die Befristung mit Sachgrund eine Lösung ist. Ich will jetzt nicht auf das Thema Probezeit eingehen; denn – ohne hier jetzt ins Detail zu gehen – die Probezeit in § 622 BGB meint eine andere Erprobung als § 14 TzBfG. Eines ist klar geworden: Was heute gesagt worden ist, nämlich dass die Generation Praktikum keine Anschluss-chance im gleichen Betrieb hat, wurde durch die neue Rechtsprechung des BAG im April dieses Jahres korrigiert. Diejenigen, die in einem Unternehmen studentische Hilfskräfte waren, können nach dieser im Urteil genannten Dreijahresfrist in ebendiesem Betrieb Arbeit finden. Wir sollten uns auf den Weg machen, die Detailfragen im Lichte dieser Entscheidung zu klären. Ich halte fest: Die sachgrundlose Befristung hat eine Brückenfunktion. (Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) Sie bietet Flexibilisierungsmöglichkeiten, die wir benötigen. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, dass wir nicht der Theorie folgen, die der Kollege Ernst präsentiert hat. Was er mit Blick auf das alte Rom gesagt hat, halte ich für unwürdig; denn unsere Arbeitsverhältnisse sind keine Sklavenarbeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind ein moderner Rechtsstaat, in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr wohl Rechte haben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie lassen Stundenlöhne von 3,50 Euro zu!) Ich glaube auch nicht, dass wir mit einer billigen Neidkampagne weiterkommen. Wir sollten froh sein, dass wir statt 5 Millionen Arbeitslose weniger als 3 Millionen Arbeitslose haben. Aufgrund der sachgrundlosen Befristung ist ein Weg in die Unternehmen möglich. Natürlich wünschen wir uns unternehmerischen Erfolg sowie gute und fleißige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen. Dann ist es möglich, Dauerarbeitsverhältnisse zu schaffen. Sie sind die Idealarbeitsverhältnisse. Die Politik sollte die Menschen aber nicht glauben machen, dass es eine arbeitsrechtliche Vollkaskogesellschaft geben kann, indem die befristeten Arbeitsverhältnisse abgeschafft werden. (Klaus Barthel [SPD]: Sie sind für Tagelöhnerei!) Denn auch in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis ist die Kündigung unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen jederzeit möglich. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Lassen Sie uns also den Gedanken des DGB aufnehmen, die sachgrundlose Befristung beizubehalten, um nicht mehr atypische Arbeitsverhältnisse zu bekommen. Arbeiten wir an den genauen Leitplanken, die uns das Bundesarbeitsgericht vorgegeben hat. Wir sind dann, was das Befristungsrecht angeht, auf einem guten und erfolgreichen Weg für die Beschäftigung in unserem Land. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Lange. – Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Ottmar Schreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar Schreiner. (Beifall bei der SPD) Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist zurzeit etwas schwierig, die Position der Koalition herauszuarbeiten, weil hier sehr unterschiedliche Reden gehalten worden sind. Am einfachsten hat es der Kollege Kolb von der FDP, der sagt: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der weiß, was er will!) Alles, was ist, ist gut. Sozial ist, was Arbeit schafft. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) Ich will gar nicht auf die Sklavenarbeit zurückkommen, die Herr Ernst angesprochen hat. Aber Sie wissen, dass es 400Euro-Jobs gibt, in denen überwiegend Frauen auf der Basis von Vollzeitarbeit 32, 34 und auch 36 Stunden zu Stundenlöhnen arbeiten, die irgendwo zwischen 2 und 3 Euro liegen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber das ist nicht die Masse der Menschen!) Wenn Sie sagen, das sei sozial hinnehmbar, dann kann ich nur fragen, ob Sie noch alle Tassen im Schrank haben. Es geht einfach nicht, dass die Menschen mit diesen Hungerlöhnen nach Hause geschickt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das hat Dr. Kolb nicht gesagt!) Herr Zimmer, ich habe sehr viel Verständnis für Ihre Position. Aber nach dieser Logik müssten Sie den vorliegenden Anträgen zustimmen. Ich will Sie einmal zitieren. Sie haben soeben gesagt, Sie wünschten sich eine Arbeitswelt, in der Befristungen nur noch aus guten Gründen erfolgen. Die Befristung ohne Sachgrund abzuschaffen, ist exakt der Sinn der Anträge. (Heiterkeit bei der SPD) Sie haben gesagt, Sie wünschten sich eine Arbeitswelt, in der vor allen Dingen junge Menschen sichere Arbeitsbedingungen vorfinden. Sie wissen genau, dass mehr als die Hälfte der jungen Leute unter 30 Jahren in prekären Beschäftigungsverhältnissen mit überwiegend zeitlicher Befristung sind. Sie wissen genauso gut wie wir, dass arbeitsrechtlich nichts familienfeindlicher ist als die prekären, instabilen, unsicheren Beschäftigungsverhältnisse. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Doch! Arbeitslosigkeit!) Schließlich trauen sich manche betroffene junge Leute nicht mehr, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie nicht wissen, ob sie ihre Kinder nach Ablauf der zeitlichen Befristung noch angemessen ernähren und kleiden können. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Herr Schreiner, was haben Sie denn beschlossen?) Sie haben soeben gesagt, die Befristung begünstige die Aufschiebung von Lebensentscheidungen. Es kann doch nicht ernsthaft der Wille des Gesetzgebers sein, Regelungen zu dulden, durch die notwendige Lebensentscheidungen von Menschen aufgeschoben werden. Folgt man der Logik Ihres Vortrages, Herr Zimmer, müssten Sie eigentlich – herzlichen Glückwunsch! – für zumindest einen der vorliegenden drei Anträge sein. Wenn das die Position der Unionsfraktion ist, dann sage ich ebenfalls: Herzlichen Glückwunsch! Das Ganze ist so ähnlich wie beim Mindestlohn. Ich habe gelesen, dass die Frau Ministerin inzwischen für allgemeine Mindestlöhne ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich noch nicht gelesen! Da haben Sie sie falsch verstanden!) Sie sind auf einem guten Weg. Jetzt müssen Sie nur noch sehen, dass Sie mit dem Bremsklotz FDP zurande kommen. Das ist das eigentliche Problem in der Koalition. Der Kollege Lange hat hier zahlreiche Sachverständige bemüht. Das Argument „Wenn ihr die sachgrundlose Befristung streicht, dann gibt es mehr Leiharbeit“ zu bemühen, ist ungefähr so, als wenn man sagt: Wenn ihr nicht ins Fegefeuer wollt, dann kommt ihr gleich in die Hölle. Das ist eine Argumentation, die wirklich unter Ihrem Niveau ist, Herr Kollege Lange. Da bin ich Besseres gewohnt. Ich weiß nicht, von wem Sie diese Argumentation – – (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das war nicht Herr Lange!) – Sie sollten jetzt einmal eine Weile schweigen. Das wäre einmal hilfreich, Frau Kollegin Connemann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie wären wirklich die letzte Kandidatin für ein Kloster mit Schweigegelübde. Das könnte nicht funktionieren; denn bereits nach fünf Minuten wären Sie als Nonne entlassen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das wünschen Sie sich!) Das ist eine Vorstellung, die ich jetzt nicht weiter ausführen will. Die SPD-Fraktion hat den Antrag gestellt, die Ministerin herbeizuzitieren. Von Herrn Kollege Kolb ist darauf hingewiesen worden, dass wir einen beleibten und sachkundigen Staatssekretär haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist er auch!) – Ja, das ist er: „Beleibt und sachkundig“ haben Sie gesagt. (Zurufe von der CDU/CSU: Beliebt!) – „Beliebt“ und sachkundig, okay. Sie haben gesagt, dass Sie einen beliebten und sachkundigen Staatssekretär hätten. Das ist ebenfalls in Ordnung. Er ist hier. Herzlichen Glückwunsch! Ich will jetzt aus einem Agenturbericht von vorgestern zitieren. Daraus kann man vielleicht ableiten, warum es angemessen wäre, wenn die Ministerin an diesen Debatten teilnähme. Vorgestern ist in einer thüringischen Zeitung nach einer Meldung der AFP ein Artikel erschienen, in dem es heißt: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) forderte zu Beginn des zweitägigen Treffens – der europäischen Arbeits- und Sozialminister – „bessere Arbeitsplätze“ – es sei Besorgnis erregend, dass die Einkommensungleichheit ständig zunehme, dass es immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse gebe und dass die Reallöhne in vielen Ländern stagnierten oder sogar zurückgingen … Alle drei Vorhaltungen treffen auf die Bundesrepublik Deutschland uneingeschränkt zu: massive Zunahme von zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen, eine seit Jahren rückläufige Reallohnentwicklung, eine sinkende Lohnquote, eine steigende Gewinnquote und eine ständig zunehmende Einkommensungleichheit. Das ist die Vorhaltung der OECD, gemacht auf dem Treffen – nochmals – der europäischen Arbeits- und Sozialminister. In diesem Text heißt es weiter: Die G-20-Minister sollten nicht nur darüber nachdenken, wie mehr Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, forderte die Organisation, sondern sie sollten auch Maßnahmen ergreifen, „die zu fairen und hochwertigen Beschäftigungsverhältnissen führen“. Jetzt bitte ich um die Stellungnahme der Bundesregierung. Das, was ich zitiert habe, ist eine Aussage der OECD. Sie ist keine Vorfeldorganisation irgendeiner Oppositionsfraktion hier. Sie ist eine international anerkannte Organisation. Wenn sie sagt, sie sei besorgt darüber, dass es in Deutschland immer mehr befristete, prekäre Beschäftigung, immer geringere Löhne und zu wenig faire und hochwertige Beschäftigung gebe, dann müsste doch die Bundesregierung in Gestalt des beliebten Staatssekretärs dazu etwas sagen können, und es dürfte kein Schweigen im Walde herrschen. Was ist die Position der Koalition zu ebendiesen Vorhaltungen? Jetzt sehe ich, dass ich mit meinem Manuskript überhaupt noch nicht begonnen habe, meine Redezeit aber fast zu Ende ist. (Heiterkeit – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lange geredet, nichts gesagt!) Das ist ein bedauerlicher Vorgang. Herr Kollege Lange, Sie haben ständig Sachverständige zitiert. Ich will Ihnen sagen: Es gibt Sachverständigenbefragungen, die eindeutig sind. Es ist nicht gut, nur Professoren zu befragen. Professoren haben nämlich einen lebenslang gesicherten Job, in der Regel mit sehr guten Arbeitsbedingungen und sehr guten Einkommensverhältnissen. Ihre Tätigkeit unterliegt keinen zeitlichen Befristungen usw. Fragen Sie einmal die einfachen Leute auf der Straße danach, wie sie sich gute Arbeit vorstellen. Dann bekommen Sie fast zu 100 Prozent die gleiche Antwort: Unter guter Arbeit stelle ich mir ein auf Dauer angelegtes, stabiles Arbeitsverhältnis mit auskömmlichem Lohn, von dem ich meine Familie und mich ernähren kann, und mit einer angemessenen sozialen Sicherung vor. – Das ist die Antwort von nahezu 100 Prozent der befragten Leute auf der Straße, die die für uns wichtigen Sachverständigen sind. Deshalb können mir die Aussagen einiger von Ihnen erwähnten Professoren ziemlich egal sein. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Ziel! Die Frage ist aber, wie kommen wir dahin!) Das sogenannte normale Arbeitsverhältnis ist in der Tat modernisierungsbedürftig. Dazu kann ich aufgrund der mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit aber nichts mehr sagen. Die eigentliche Aufgabe besteht nicht darin, darüber nachzudenken, wie die prekäre Beschäftigung ausgeweitet werden kann, wie es die Koalition androht. Die eigentliche Frage lautet vielmehr, wie wir das sogenannte normale Arbeitsverhältnis an modernen Entwicklungen orientieren können wie zum Beispiel an der gleichberechtigten Arbeit von Mann und Frau. Das Normalarbeitsverhältnis orientiert sich eher am althergebrachten Bild des Mannes als Ernährer der Familie. Diese Zeiten sind aber unwiderruflich vorbei. Also müsste in das Normalarbeitsverhältnis die Möglichkeit eingebaut werden, Auszeiten und Phasen verringerter Arbeitszeiten in Anspruch zu nehmen, und zwar aus Pflegegründen, aus Erziehungsgründen oder aus Weiterbildungsgründen. Außerdem müssten Regelungen geschaffen werden, damit diejenigen Männer und Frauen, die von dieser Option Gebrauch machen, wieder in reguläre Beschäftigung zurückkehren können. Das wäre ganz überschlägig gesehen die Modernisierung des normalen Arbeitsverhältnisses. Ich will dazu noch einen letzten Satz sagen. Vizepräsident Eduard Oswald: Ich bitte darum. Ottmar Schreiner (SPD): Der letzte Satz, Herr Präsident. – Das normale Arbeitsverhältnis ist deshalb ein historisches Ereignis, weil zum ersten Mal in der Geschichte von Arbeit auch für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die keine großen Vermögen haben und die nur von ihrer Arbeit leben, eine soziale Sicherung geschaffen worden ist, sodass in Zeiten der Nichtarbeit – Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter – stabile und sichere Verhältnisse gegeben sind. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Deshalb besteht die Hauptaufgabe im Zurückdrängen von prekärer Beschäftigung und in einem Ausbau des modernisierten Normalarbeitsverhältnisses. Wenn Sie sich dazu bereitfinden könnten, wäre schon viel erreicht. Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kollege Kolb, aber es gibt Anzeichen dafür, dass man die Kollegen von der Union dafür gewinnen könnte. Dann wären wir in diesem Hohen Haus einen Riesenschritt weiter, nicht in unserem Interesse, sondern im Interesse der abhängig Beschäftigten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Schreiner, bei nächster Gelegenheit unterhalten wir beide uns über die Länge eines Satzes. Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schreiner, ich finde es wirklich gut, dass Sie auf die Untersuchungen der OECD verweisen. Diese Untersuchungen beschäftigen sich aber nicht nur mit Deutschland, sondern mit sämtlichen OECD-Ländern. Sie haben recht: Es ist natürlich berechtigt, nach der Qualität von Arbeit zu fragen. Diese Frage sollten wir uns alle stellen. Mir gefällt aber nicht, dass Sie scheinbar völlig aus dem Auge verloren haben, dass Quantität vor Qualität steht. Bevor man sich nach der Qualität eines Arbeitsverhältnisses fragen kann – Kollege Kolb hat übrigens nicht gesagt, dass sozial ist, was Arbeit schafft –, muss zunächst einmal ein Arbeitsverhältnis gegeben sein. Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal auf die Lage in Deutschland hinzuweisen. Wir haben weniger als 2,8 Millionen Arbeitslose. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, da Sie immer auf die Statistik verweisen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass auch die Unterbeschäftigung um eine halbe Million niedriger ist als noch vor einem Jahr. Das ist eine gute Nachricht. Zur Jugendarbeitslosigkeit muss ich nichts sagen. Wir stehen im europäischen Vergleich exzellent da. Ich kann nachvollziehen, dass Sie sich immer aufregen, wenn Ihnen vorgehalten wird, was Sie damals unter Rot-Grün gemacht haben. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Fehler, den korrigieren wir!) Wenn es ein Fehler wäre, wäre es richtig, diesen zu korrigieren. Die Wahrheit ist aber, dass es kein Fehler war. Vielmehr war es richtig, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, weil dies nicht die einzige, aber eine wesentliche Ursache für das deutsche Jobwunder ist. Deshalb ist es richtig, bei der Befristung zu bleiben und Ihren Anträgen nicht zuzustimmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt sagen Sie, das gelte nicht mehr; denn durch die Befristung sei alles schlimm. Ich habe mir einmal Ihre Argumente aufgeschrieben. Kollege Barthel hat vorhin gesagt, die befristete Beschäftigung sei erstens keine Brücke in unbefristete Beschäftigung. Zweitens würden immer mehr unbefristete Beschäftigungen umgewandelt, es gebe immer mehr „schlechte“ Arbeit und immer mehr Befristungen. Ein kluger Sozialdemokrat, Kurt Schumacher, hat einmal gesagt: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit.“ (Ottmar Schreiner [SPD]: Das war nicht Kurt Schumacher!) Ich halte das für sehr richtig und wahr. Schauen wir uns doch einmal die Lage im Bereich der Befristung an. Richtig ist: Mitte der 90er-Jahre gab es 5 Prozent befristet Beschäftigte, heute sind es 9 Prozent. Zur Betrachtung der Wirklichkeit gehört aber auch die Analyse, dass die Statistik verändert wurde. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht! Jede zweite Stelle ist befristet!) Das wissen Sie alles so gut wie wir. Weil die Statistik verändert wurde, ist der Prozentsatz gestiegen; denn jetzt werden Saisonarbeiter – Arbeitskräfte im Weihnachtsgeschäft, Erntehelfer – mit in die Statistik einbezogen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jede zweite Beschäftigung ist befristet!) Es ist eben nicht so, dass der Anteil der befristet Beschäftigten weiter explodieren würde. Das ist schlicht nicht wahr. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jede zweite Beschäftigung ist befristet!) – Das ist richtig, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Kommen wir zu den Neueinstellungen. Davon sind insbesondere junge Leute betroffen, übrigens gerade Hochqualifizierte. Es gibt viele Bereiche, in denen der Anteil der Befristungen in der Tat hoch ist: in der Wissenschaft, im öffentlichen Dienst, auch beim DGB, Herr Kollege Schreiner. Der DGB stellt seit 2004 grundsätzlich nur noch befristet ein. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Unglaublich!) Wir können mit den jeweiligen Akteuren einmal das Gespräch suchen, wie man das verändern kann. (Klaus Barthel [SPD]: Wollen Sie das jetzt beklagen?) – Nein, ich beklage das nicht. Nur, Herr Kollege Barthel: Es wird behauptet, dass immer mehr umgewandelt wird und befristete Beschäftigung nicht in unbefristete führt. Das ist schlicht nicht wahr. Über die Hälfte derjenigen, die einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen, erhalten anschließend einen unbefristeten Arbeitsvertrag beim selben Arbeitgeber. Das heißt: Der Einstieg funktioniert. Man bleibt nicht in der befristeten Beschäftigung hängen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei jungen Menschen 23 Prozent!) Überhaupt: Frau Kollegin, nur 15 Prozent derjenigen, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 23 Prozent!) die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, haben fünf Jahre später – – (Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Der Kollege Ernst will eine Zwischenfrage stellen. Vizepräsident Eduard Oswald: Ja, er will eine Zwischenfrage stellen. Sie gestatten das auch, Herr Kollege? Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Aber gerne, mit Blick auf die Redezeit umso mehr. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön, Herr Kollege Ernst. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist doch Verlass auf den Kollegen Ernst!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Vogel, Sie haben eben angesprochen, dass die Hälfte derer, die einen befristeten Arbeitsplatz hatten, danach eine unbefristete Stelle bekommen hätten. Ist das nicht Beweis dafür, dass es sich offensichtlich um eine unbefristete Stelle gehandelt hat, die allerdings nur befristet besetzt wurde? (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein!) Ist dieser Zustand für den Menschen, der diese Stelle innehat, nicht ein Zustand der wirklich großen Unsicherheit? Er kann sich nämlich nicht darauf verlassen, dass er hinterher beschäftigt wird, sondern er muss sich so lange wohl verhalten, bis seine befristete Stelle in eine unbefristete umgewandelt wird. Bis dahin wird er schlechtere Bedingungen akzeptieren als andere. Können Sie sich vorstellen, Herr Vogel, dass die Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden, sich natürlich botmäßiger verhalten und damit das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen eines ganzen Betriebes nach unten drücken? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das entspricht nicht der Realität!) Wollen Sie solche Arbeitsbedingungen? Wenn Sie sie nicht wollen, warum sind Sie dann nicht mit uns der Auffassung, dass – wenn es schon um unbefristete Jobs geht, von denen Sie reden – diese Jobs nicht von Anfang an, mit einer bestimmten Probezeit versehen, unbefristet besetzt werden müssen? (Beifall bei der LINKEN) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Ernst, erstens danke ich Ihnen für die Frage drei Sekunden vor Ende meiner Redezeit. Zweitens zeigt meiner Meinung nach diese Statistik im Hinblick auf den deutschen Arbeitsmarkt vor allem – aus vielen Gründen, unter anderem wegen unseres Kündigungsschutzrechts, das wir alle so wollen –, dass die Unternehmer sich die Menschen erst einmal anschauen wollen. (Klaus Barthel [SPD]: Also doch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Probezeit!) Ich bin der Meinung, dass sie eben nicht von vornherein ein unbefristetes Arbeitsverhältnis schaffen wollen. Drittens, Herr Ernst, zeigt die Statistik, dass das Ganze funktioniert, weil es eben nicht so ist, dass die Menschen in der Unsicherheit verbleiben, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das war doch nicht meine Frage!) weil die Hälfte der Beschäftigten in den jeweiligen Betrieb übernommen wird. Überhaupt, Herr Ernst – das will ich noch sagen: – Nur 15 Prozent derjenigen, die mit einem befristeten Vertrag beginnen, sind fünf Jahre später noch befristet angestellt. Die übergroße Mehrheit ist dann unbefristet beschäftigt. Der Einstieg über die Flexibilität funktioniert. Sie wollen das kaputtmachen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Weniger als die Hälfte! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Dynamik müssen Sie sehen! Sie denken zu statisch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage war eine ganz andere! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er kann doch antworten, was er will!) Herr Ernst, ich habe es Ihnen gerade erklärt. Wenn Sie es nicht verstehen wollen, kann ich Ihnen nicht helfen. Ich kann mich in die Lage der Betroffenen sehr gut hineinversetzen, weil ich im engsten Freundes- und Familienkreis Menschen kenne, die über eine befristete Stelle die unbefristete Stelle beim selben Arbeitgeber bekommen haben, die die Chance, sich mit ihrer guten Arbeit zu beweisen und sich beim Arbeitgeber bekannt zu machen, genutzt haben. (Beifall bei der FDP) Herr Ernst: Es kann doch – gerade mit Blick auf den internationalen Vergleich – nicht gut sein, die Chancen, die uns die Flexibilität am Arbeitsmarkt bringt, kaputtzumachen. Diese Menschen haben überhaupt erst eine Perspektive, weil sie einen Arbeitsplatz haben. Wir sollten uns gemeinsam fragen: Wie sorgen wir für die notwendige Qualität der Arbeit? Was können wir in der Politik gemeinsam tun, damit es bei mehr Menschen weitergeht, also Einstieg auch Aufstieg bedeutet, und sie sich im Unternehmen weiterentwickeln können? Das Beste, was wir politisch dafür tun können – das wissen wir alle, die wir Statistiken des IAB lesen –, ist, in die Qualifizierung der Mitarbeiter zu investieren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Warum sollte man jemanden qualifizieren, den man befristet einstellt?) Dazu nenne ich nur ein Beispiel: Die Koalition hat hier am letzten Freitag ein Gesetz verabschiedet, das dafür sorgt, dass die Weiterbildung von Mitarbeitern in allen kleinen und mittleren Unternehmen – von Beschäftigten, Herr Ernst, die den Einstieg geschafft haben – durch die Bundesagentur für Arbeit kofinanziert werden kann. Das ist ein echter Baustein des Arbeitsmarkts der Zukunft, der für eine bessere Perspektive der Menschen sorgt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]) Sie haben dagegen gestimmt. Dies passt leider ins Bild. Wir haben den Eindruck, dass Sie die guten Errungenschaften einer gesteigerten Flexibilität, die Sie selber zu Recht eingeführt haben, kaputtmachen wollen und sich nicht wirklich mit uns Gedanken machen wollen, wie wir die Perspektive aller Betroffenen verbessern können. Ich finde das schade. Ihre Anträge werden wir ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Vogel. – Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Jutta Krellmann. Bitte schön, Frau Kollegin Krellmann. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorletzte Woche wurde in der Zeitung Die Welt ein Artikel mit dem Titel „Die befristete Generation“ veröffentlicht. Über der Überschrift stand nicht die Kategorie „befristete Arbeitsverhältnisse“, sondern das Wort „Zeitarbeit“, nicht „Leiharbeit“. Befristete Arbeit ist demnach Zeitarbeit. In dem Artikel sind junge Menschen zu Wort gekommen und hatten die Möglichkeit, ihre prekäre Situation zu schildern. Das waren aber keine unqualifizierten Menschen, sondern hochqualifizierte junge Menschen, unter anderem eine Physiotherapeutin, die es, obwohl die Vorgesetzten ihr während der ganzen Zeit Hoffnungen gemacht haben, in drei Jahren nicht hinbekommen hat, einen festen Arbeitsplatz zu finden. Das andere Beispiel betraf eine junge Frau, die technische Übersetzerin in einem Unternehmen in Deutschland geworden ist, nachdem sie in Schweden einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatte. In Schweden gab es das nicht; da hatte sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Wenn sie dort keinen unbefristeten Arbeitsplatz gehabt hätte – jetzt in Deutschland ist das Arbeitsverhältnis befristet –, hätte sie kein Kind in die Welt gesetzt; das sagt sie ganz offen. Das sind Beispiele für das, was von unterschiedlichen Personen schon angesprochen wurde: die Auswirkungen von Befristungen und prekärer Beschäftigung. Diese und die vorherige Bundesregierung zeichnen sich dadurch aus, dass sie in den letzten Jahren nichts gemacht haben, was im Interesse der Beschäftigten gewesen wäre. Die Überschrift heißt – das hat mein Kollege Klaus Ernst schon gesagt – „Deregulierung“, und das jetzt schon über Jahre hinweg. Es gibt keine Verbote. Lohndumping auf breiter Front ist überall erlaubt, über die Möglichkeiten der Befristung, der Leiharbeit, der Werkverträge, der Flexibilisierung, bis zum Erbrechen. Junge Fachkräfte bekommen keine Chance auf eine gesicherte Perspektive. Am Samstag, dem 1. Oktober, also in zwei Tagen, protestieren die Jugendlichen der IG Metall in Köln gegen genau diese Lebensperspektive der prekären Beschäftigung, (Beifall bei der LINKEN) unter dem Motto: „Laut und stark“ – Zukunft und Perspektive für die junge Generation 15 000 Jugendliche werden erwartet, davon allein 1 500 aus Niedersachsen. Arbeitgeber, besonders im Metallbereich, klagen über Fachkräftemangel; (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) aber gleichzeitig müssen betroffene junge Beschäftigte für die Übernahme nach der Ausbildung kämpfen. Nach Aussage der IG Metall hangeln sich viele Jugendliche von Praktika zu einem befristeten Arbeitsverhältnis oder werden in die Leiharbeit gedrängt. Über 15 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 25 sind erwerbslos. Allein das ist schon ein unglaublicher Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 25 Prozent der zwischen 20- und 25-Jährigen arbeiten in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Ergebnis einer Umfrage der IG Metall, bei der circa 5 000 Betriebsräte befragt wurden, war, dass 42 Prozent der Neueinstellungen einen befristeten Arbeitsvertrag erhalten und 43 Prozent in der Leiharbeit landen. In der Summe sind das 85 Prozent. Das bedeutet: Nur 15 Prozent haben die Chance, in ein gesichertes Arbeitsverhältnis zu kommen. Herr Lange, ein Wort zu dem, was Sie über die Gewerkschaft Verdi erzählt haben. Ich als Metaller sage: Ich fürchte, Verdi hat recht. Das Beispiel belegt das doch. Was ist denn die Konsequenz? Die Konsequenz kann doch nicht sein, dass man nichts gegen befristete Beschäftigungsverhältnisse unternimmt! Die Konsequenz muss sein, dass wir auch die Leiharbeit neu regeln. Wir müssen dafür sorgen, dass der Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ gilt. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Wenn es nach uns ginge, käme noch ein Zuschlag in Höhe von 10 Prozent dazu. Dann hätten wir das Thema Leiharbeit gleich mit geregelt. (Klaus Barthel [SPD]: Das haben wir alles schon beantragt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Antrag bringt ihr in der nächsten Woche ein!) Stichwort „Fachkräftemangel“. Ich persönlich halte es für unerträglich, wenn in solchen Diskussionen gleichzeitig permanent über den Fachkräftemangel gesprochen wird. Wir reden über Fachkräftemangel in allen wirtschaftlichen Bereichen: in Dienstleistungsbereichen, in Industriebereichen und in der Pflegebranche. Überall gibt es Befristungen. Sie nehmen nirgendwo ab, sondern immer nur zu. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!) Im Grunde lässt die Bundesregierung, und damit wir alle, die junge Generation ohne Schutzschirm im Regen stehen. (Beifall bei der LINKEN) Meine Aufforderung an alle ist, jetzt endlich im Interesse der jungen Menschen und der jungen Gewerkschafter, die am Wochenende in Köln auf die Straße gehen werden, zu handeln. Wir sind in der Lage, innerhalb kürzester Zeit – das haben wir heute erlebt – Milliarden auszugeben, aber für die Lösung von sozialen Problemen, die es an den unterschiedlichsten Stellen gibt, brauchen wir Jahre bzw. kommen überhaupt nicht voran. Wir als Linke sagen: Als ersten Schritt brauchen wir die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. Es geht nicht um die Abschaffung der Befristung an sich. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie den Antrag gelesen? Da stand etwas anderes!) Wegen Schwangerschaft und Krankheit wird es weiterhin Befristungen geben. Wir bitten darum, unserem Antrag zuzustimmen. Wir werden den Anträgen von SPD und Grünen zustimmen. Es geht uns um die Sache. An dieser Stelle muss endlich etwas passieren. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Brigitte Pothmer. Bitte schön, Frau Kollegin Pothmer. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es in Deutschland inzwischen mit einem doppelt gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun. Wir haben nicht nur eine Spaltung zwischen den Arbeitslosen und den Beschäftigten, sondern wir haben auch eine Spaltung zwischen der Randbelegschaft und der Stammbelegschaft. Wir müssen feststellen, dass sich die letztgenannte Spaltung auf dem Vormarsch befindet. Wir haben eben keine durchlässigen Übergänge zwischen den Teilarbeitsmärkten. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Doch!) Die Teilarbeitsmärkte sind weitgehend starr voneinander abgeschottet. Lieber Herr Kolb, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt es!) Ihr Jobwunder, das Sie immer gebetsmühlenartig vortragen, hat viele Verlierer. Ich nenne die Leiharbeiter, die Minijobber, den Niedriglohnsektor insgesamt und auch die befristet Beschäftigten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat doch alles Rot-Grün auf den Weg gebracht!) Vor allen Dingen für Berufsanfänger ist eine befristete Beschäftigung – das wurde bereits ausgeführt – nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Ich will nicht so tun, als sei befristete Beschäftigung schlechter als Arbeitslosigkeit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) Das Gegenteil ist der Fall. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin!) Aber als Brücke in ein normales Arbeitsverhältnis eignet sich das befristete Beschäftigungsverhältnis in nur sehr geringem Maße. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das IAB sagt da etwas anderes!) Insbesondere für gering Qualifizierte ist die befristete Beschäftigung kein Sprungbrett in eine gute berufliche Zukunft, (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Zu 50 Prozent, Frau Kollegin!) sondern sie ist eine Sackgasse. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Für die Hälfte: ja!) Sie führt in einen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Leiharbeit und Befristungsketten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Deswegen gibt es dringenden Handlungsbedarf. Wir wollen nicht so tun, als würde dieser Handlungsbedarf nur von der Opposition gesehen. Er wird doch längst auch in der Union gesehen. Wer Herrn Zimmer aufmerksam zugehört hat, der hat das zwischen den Zeilen herauslesen können. Herr Zimmer, Ihre Rede war gespalten. Da hat eine gespaltene Persönlichkeit geredet. (Lachen bei der CDU/CSU) Sie haben hier geredet als jemand, der die CDU repräsentiert, aber gleichzeitig als jemand, der CDA-Vorsitzender in Hessen ist. (Klaus Barthel [SPD]: So gespalten wie der Arbeitsmarkt!) Was steht denn in dem CDA-Antrag, der auf dem Bundesparteitag der CDU eingebracht werden soll? Da wird nicht nur für einen Mindestlohn gekämpft. Da wird nicht nur eingetreten für gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Nein – jetzt hören Sie einmal zu –, da wird auch für die Einschränkung befristeter Beschäftigung geworben. In diesem Antrag werden die Auswirkungen der befristeten Beschäftigung für die Betroffenen hinlänglich formuliert. Ich will aus dem Antrag zitieren: (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sehr gut!) Die Folgen sind unter anderem bei der Lebensplanung zu beobachten. Befristung verunsichert und begünstigt das Aufschieben von Lebensentscheidungen. Empirisch erwiesen ist, dass befristete Beschäftigung die Bereitschaft zur Familiengründung hemmt. (Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Anton Schaaf [SPD] – Klaus Barthel [SPD]: Da sagt der Herr Kolb nichts mehr!) Ich empfehle dieser Regierung, dass sie ihre unterschiedlichen politischen Ziele miteinander in Einklang bringt. Auf der einen Seite wird das Elterngeld eingeführt, um junge Familien anzuregen, die Familiengründung voranzutreiben. Auf der anderen Seite wird in der Arbeitsmarktpolitik einer Flexibilität das Wort geredet, die genau dies konterkariert. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war Rot-Grün, um das mal wieder in Erinnerung zu rufen!) So kommen wir nicht weiter. Wir wollen, wie im CDA-Antrag beschrieben, die Einschränkung der befristeten Beschäftigung. Wir wollen die befristete Beschäftigung nicht abschaffen, aber wir wollen sehr wohl die Flexibilitätsanforderungen in den Betrieben mit den Sicherheitsbedürfnissen der Beschäftigten in Einklang bringen. Wenn wir die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung streichen, gibt es immer noch acht Tatbestände, aus denen heraus Verträge befristet werden können. Das ist eine Menge Flexibilität, die wir den Betrieben weiterhin zugestehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und den öffentlichen Verwaltungen!) Was wir nicht wollen, ist, dass die Probezeit auf zwei Jahre ausgedehnt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum habt ihr das denn damals gemacht?) Das betrifft inzwischen die Hälfte aller befristeten Verträge. Die CDA hat erkannt, dass es Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gibt – das wird in ihrem Antrag deutlich –, und sie will diesen Verwerfungen entgegentreten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Rot-Grün gemacht! Das ist so! Das kann man nicht bestreiten!) – Jetzt wende ich mich einmal an Sie. Sie sollten besser zuhören, wenn Ihr Parteivorsitzender und Minister Interviews gibt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Können wir einmal den Namen des Vorsitzenden nennen?) Er hat in einem Interview im Deutschlandfunk darauf hingewiesen, wie schwierig es für junge Menschen ist, unbefristete Arbeitsverträge zu bekommen. Das hat er beklagt. Die CDA sieht das so, Ihr Parteivorsitzender sieht die Probleme, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur ich nicht!) nur Sie haben ein Brett vor dem Kopf, Herr Kolb. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Vor diesem Hintergrund können Sie unseren Antrag nicht einfach ablehnen. Unterbreiten Sie wenigstens selber einen Vorschlag, wie das korrigiert werden kann. Ablehnen können Sie den Antrag nicht, jedenfalls nicht, wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Sebastian Blumenthal [FDP]: Sehr charmant, Frau Kollegin!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Johann Wadephul. Bitte schön, Herr Dr. Wadephul. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir in einer Zeit über derartige Anträge diskutieren, in der wir die Arbeitslosenzahl in Deutschland unter die Marke von 2,8 Millionen gesenkt haben, (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau!) in der wir eine Beschäftigungsquote haben, von der wir vor einigen Jahren noch geträumt haben, in der wir offene Stellen haben, in der Arbeitgeber die besten Köpfe suchen, in einigen Fällen aber überhaupt keine Fachkräfte mehr finden. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und trotzdem befristet! Das ist doch paradox!) In dieser Situation malen Sie hier, im Deutschen Bundestag, ein Bild, als wären Prekariat, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Beschäftigungslosigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt der Regelfall. Diese Schwarzmalerei hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Sie stellt die Erfolgsgeschichte der deutschen Wirtschaftspolitik schlicht und ergreifend in Abrede. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Niemand in diesem Hause bestreitet, dass ein befristetes Arbeitsverhältnis weniger gut ist als ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Ich kenne niemanden, der ein befristetes Arbeitsverhältnis für wünschenswert hält. Wenn Sie jetzt in Ihren Anträgen darauf hinweisen, welche Folgen das für die Familiengründung hat – da haben wir Sie endlich an unserer Seite – oder dass man deswegen krank zur Arbeit geht oder sich nicht als Betriebsrat zur Verfügung stellt, dann muss ich Ihnen sagen: Wenn das denn alles so schlimm ist, dann war es erst recht schlimm und bedrückend für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Jahre 2001, als Sie von Rot-Grün diese Regelungen hier in Kraft gesetzt haben. Insofern fällt diese Argumentation auf Sie selbst zurück. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch beim BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle können Sie nicht sagen, dass Sie das in dieser Debatte schon fünf- oder sechsmal eingeräumt und „mea culpa“ in den Raum gerufen haben. 2001 wurde nicht erstmalig Befristungsrecht in Deutschland kodifiziert, sondern – das steht in den Anträgen und wurde heute, glaube ich, auch schon gesagt – wir haben seit 1985, und zwar durch das Beschäftigungsförderungsgesetz von Norbert Blüm, eine derartige Gesetzgebung in Deutschland. Deswegen war das nach 15 Jahren nichts Neues. Sie haben – wenn es denn so schlimm war – den Menschen zu Beginn der Jahrtausendwende mit Ihrer Agenda 2010 noch viel mehr zugemutet, als man ihnen heute zumuten würde. Wenn es denn verantwortungslos war, dann war es 2001 erst recht verantwortungslos, so etwas zu machen. Das fällt voll auf Sie zurück. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Was folgt denn jetzt daraus? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Waren Sie jetzt dafür oder dagegen? Was ist denn Ihre Position?) – Ich komme gleich dazu. Ich habe noch ein bisschen Redezeit, und Sie können auch gleich eine Frage dazu stellen, Herr Kollege Ernst. Jetzt müssen wir uns im Einzelnen mit der Beurteilung der befristeten Arbeitsverhältnisse auseinandersetzen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr lobenswert!) Ich möchte erstens festhalten, dass es in der Tat wünschenswert ist, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu haben. Zweitens möchte ich sagen, dass aber die Gleichstellung, die hier der eine oder andere Redner vorgenommen hat – auch Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke –, nämlich von vornherein zu sagen, ein befristetes Arbeitsverhältnis sei automatisch ein prekäres Arbeitsverhältnis, falsch ist. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Das müssen wir ganz eindeutig festhalten. Die Alternative zu einem befristeten Arbeitsverhältnis ist in aller Regel die Arbeitslosigkeit. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) Deshalb bleiben wir im Grundsatz bei unserer Aussage: Sozial ist, was Arbeit schafft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Jeder Arbeitsplatz, auch wenn es nur ein befristeter ist, ist ein guter Arbeitsplatz. Herr Kollege Ernst, Sie sind etwas verfangen in den Marx’schen Ideen und sehen deshalb den Sklavenstaat als eine Vorstufe der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hat etwas mit Logik zu tun, nicht mit Marx!) Wir sind im 21. Jahrhundert, lieber Herr Kollege Ernst. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben! Und Sie machen das Mittelalter daraus! Das ist das Problem!) Das haben Sie und Ihre Partei noch nicht bemerkt. Wir haben halt ein paar andere Probleme als zu Zeiten von Karl Marx. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vielleicht holen Sie noch auf. Sie haben noch einen weiten Weg vor sich. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Karl Marx hatte keinen Porsche!) Ich halte fest: Ein befristetes Arbeitsverhältnis ist zunächst ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis, das ein Haushaltseinkommen von etwa 91 Prozent des Einkommens von unbefristet Beschäftigten ermöglicht. Das ist an dieser Stelle immerhin ein guter und erfolgreicher Zwischenschritt, den wir für richtig halten. (Klaus Barthel [SPD]: Vorhin haben wir doch gehört, die kriegen den vollen Lohn!) Nun sagen Sie – das ist vollkommen richtig, das unterstützen wir; das hat auch Kollege Zimmer gesagt und ist von unserer Seite nie bestritten worden –, dass das befristete Arbeitsverhältnis natürlich nicht das Regelarbeitsverhältnis in Deutschland, insbesondere für Berufseinsteiger, werden soll. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber so läuft es! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ist es schon!) Das stellen wir uns nicht vor. So ist es in aller Regel auch nicht. (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Doch!) Man muss sich ganz genau anschauen, warum Arbeitsverhältnisse befristet werden und in welcher Art und Weise Ihre Vorschläge geeignet sind, um die Probleme zu minimieren. Ich sage Ihnen: In kleinen, mittleren und größeren Betrieben hätte die Umsetzung Ihrer Vorschläge ganz unterschiedliche Wirkungen. Ein großes Unternehmen mit vielen Hundert Beschäftigten wird, wenn Sie die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung streichen, gar kein Problem haben, einen Befristungsgrund zu finden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau der Punkt! Die Rechtsabteilungen machen das schon!) In letzter Zeit wurden in den Medien einige solcher Fälle öffentlich erörtert. Beim Internetversandhandel beispielsweise soll es der Regelfall sein, dass befristet beschäftigt wird. Ich halte das für skandalös, um das ganz klar zu sagen. Ich bin der Meinung: Wir müssen überlegen, was wir hier tun können. (Klaus Barthel [SPD]: Und was machen wir da? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was denn? Wo ist Ihr Vorschlag?) Nur, diese Unternehmen werden in aller Regel einen Befristungsgrund finden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, immer! Die haben eine Rechtsabteilung usw.!) Nicht finden wird ihn ein Handwerksmeister mit 15 Beschäftigten, der – zu Recht – den Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes unterworfen ist. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die stellen auch nicht befristet ein!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde es etwas traurig, dass in dieser Debatte zwar richtigerweise von den Problemen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Rede ist, dass aber noch kein Redner darauf hingewiesen hat, dass auch die Arbeitgeber eine Rolle spielen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Ich habe das gesagt!) In Deutschland gibt es glücklicherweise zum Beispiel Handwerksmeister, die kleine Betriebe führen und 15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen. Diesen Arbeitgebern nehmen Sie an dieser Stelle jede Möglichkeit, auf die aktuelle Auftragslage zu reagieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Beschäftigungswunder, das es in Deutschland gab, hat nur zu einem gewissen Teil in den großen Unternehmen stattgefunden. (Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Zur Stärke Deutschlands – Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): – wenn ich diesen Satz vollenden darf – tragen insbesondere die kleinen und mittelständischen Betriebe und das Handwerk bei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Und warum befristen die einen mehr als die anderen?) Dem Handwerk verunmöglichen Sie aber, auf die aktuelle Auftragslage flexibel zu reagieren. – Herr Präsident, Sie wollten mich unterbrechen? Vizepräsident Eduard Oswald: Ich will das nicht. Aber die Frau Kollegin Krellmann hat eine Zwischenfrage, die Sie, wenn ich es richtig verfolgt habe, auch herbeigesehnt haben. (Heiterkeit des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Nein. So weit gehen meine Sehnsüchte noch nicht. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Dann korrigiere ich mich. – Bitte schön, eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Krellmann. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Herr Wadephul, ist Ihnen bekannt, dass ausgerechnet kleine Betriebe, zum Beispiel Handwerksbetriebe, am seltensten befristete Arbeitsverträge abschließen? (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! So ist das!) Diese Betriebe machen von dieser Möglichkeit am wenigsten Gebrauch. Das, was Sie gesagt haben, stimmt nicht. Ist Ihnen das bekannt? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Kollegin Krellmann, vor Ihnen steht jemand, der seit 15 Jahren mitten in Schleswig-Holstein in der arbeitsrechtlichen Praxis als selbstständiger Anwalt tätig ist, wenn auch in letzter Zeit aufgrund der parlamentarischen Tätigkeit etwas eingeschränkt. Die Masse der Mandanten, die zu mir kommen – das gilt sowohl für die Arbeitnehmer- als auch für die Arbeitgeberseite –, kommt aus dem mittelständischen Bereich. Das sind in der Tat Handwerksbetriebe und mittelständische Betriebe; wir haben in Schleswig-Holstein nämlich fast keine Großbetriebe. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann ist ja klar, warum keiner kommt, wenn sie keine haben!) – Ich will Ihnen das ganz nüchtern sagen. – Denen darf man keinen bösen Willen unterstellen. Sie dürfen aber nicht jedem Arbeitgeber und Betriebsinhaber – da sind Sie in Ihrer Gedankenwelt etwas verfangen, um es vornehm zu formulieren –, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn es keine Großbetriebe gibt, kann keiner zu Ihnen kommen!) der einen größeren Auftrag bekommt, absieht, dass er in den nächsten ein, zwei Jahren etwas mehr zu tun haben wird, sich fragt: „Wie kann ich mich für die Zeit danach absichern? Ich möchte ja nicht den Betrieb insgesamt und andere Arbeitsplätze in Gefahr bringen“, und sich entscheidet, zur Absicherung des Betriebes insgesamt zur Befristung zu greifen, unterstellen, dass er Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausnutzen möchte und etwas Böses im Schilde führt. Das ist schlichtweg die Voraussetzung dafür, dass unser Mittelstand funktioniert. Wir müssen einem Arbeitgeber im Falle eines größeren Auftragsschubes die Möglichkeit zum Atmen und in der Zeit danach die Möglichkeit zur Schrumpfung geben. (Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Sonst wird man nicht dauerhaft Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Das ist schlicht und ergreifend die Realität, mit der Sie sich insgesamt auseinandersetzen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das führt mich insgesamt dazu – – (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Frage nicht beantwortet!) Vizepräsident Eduard Oswald: Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Ernst. Gestatten Sie sie? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ja. Unter Geschlechtergesichtspunkten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?) muss ich bei der Linksfraktion eine Gleichbehandlung ermöglichen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach so, okay! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Klaus Ernst (DIE LINKE): Das ist ja ein ganz neuer Aspekt. – Ich habe den Eindruck, Sie haben gerade unterstellt, dass ein Arbeitgeber, der Arbeit zu vergeben hat, niemanden einstellt, der diese Arbeit erledigen soll, wenn es nicht die Möglichkeit der Befristung gibt. Würde das nach dieser Logik nicht bedeuten, dass die Arbeit dann einfach nicht gemacht wird, dass also der Arbeitgeber, obwohl er einen Auftrag hat, die Arbeit nicht erledigen lässt, weil er niemanden unbefristet einstellen will? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überstunden!) Das ist doch vollkommen an den Haaren herbeigezogen! Können Sie sich vorstellen, dass inzwischen gerade in größeren Betrieben Arbeitgeber mit Betriebsräten über eine bestimmte Quote bei Befristungen verhandeln wollen – bei Siemens zum Beispiel ist sie mit 5 oder 10 Prozent relativ hoch –, weil sie das Risiko der Beschäftigung ganz bewusst auf die einzelnen Mitarbeiter verlagern und es nicht mehr selbst als Arbeitgeber tragen wollen? Können Sie sich vorstellen, dass das ein Motiv der Arbeitgeber sein könnte und dass es sinnvoll wäre, dem als Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben? (Beifall bei der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: So sieht das der Laumann auch!) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Ernst, ich will den Versuch machen, Ihnen noch einmal das Beispiel – da haben Sie eingehakt – zu erklären, das für viele gilt. Ich habe insbesondere auf kleine und mittelständische Unternehmen abgehoben. Diese bewerben sich auf eine Ausschreibung hin um einen bestimmten Auftrag, den sie bekommen können. Diese Bewerbungen müssen in einer Wettbewerbssituation naturgemäß knapp kalkuliert sein. Die Unternehmen sagen sich: Bewerbe ich mich um diesen Auftrag, gehe ich in diese Auseinandersetzung hinein, dann brauche ich, wenn ich den Zuschlag erhalte, mehr Beschäftigte. Ich kann nicht sicher sagen, dass ich dem Beschäftigten hinterher Lohn und Brot geben kann, dass das also eine dauerhafte Anstellung sein wird. – Sie fragen sich, mich oder auch andere, die sie beraten: Wie kann ich so eine Situation handhaben? Ich möchte den Auftrag annehmen, wodurch der Wirtschaft insgesamt geholfen wird, weil eine Wertschöpfung stattfindet, gleichzeitig soll aber gewährleistet sein, dass ich mich hinterher von den Arbeitnehmern trennen kann – leider. Das macht keinem einzigen Arbeitgeber Freude, sondern sie haben lieber mehr Beschäftigte, weil sie dann mehr Aufträge und Umsätze haben und größer werden. Nur wenige wollen kleiner werden. Aber sie brauchen auch die Möglichkeit, sich hinterher von diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wieder zu trennen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Gibt es doch: die Kündigung! Gab es früher doch auch! Betriebsbedingte Kündigung ist nichts Neues!) – Herr Ernst, dass es den deutschen Kündigungsschutz gibt, ist richtig und vollkommen in Ordnung, aber das ist nicht ganz einfach. Die Erfahrung eines Arbeitgebers in so einer Situation ist nämlich regelmäßig die, dass eine betriebsbedingte Kündigung nicht ganz einfach, sondern schwierig ist (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es soll ja nicht einfach sein! Das ist gut!) und dass Abfindungszahlungen geleistet werden müssen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, zum Beispiel!) – Ja, das alles finden Sie gut. Nur, all das, was Sie ständig ausgeben wollen, muss von irgendjemandem – und das wollen Sie nicht wahrhaben – erwirtschaftet werden. Das verkennen Sie die ganze Zeit. Das muss der Mittelstand erst einmal verdienen, bevor es ausgegeben werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Zerrbild, davon auszugehen, dass die befristete Beschäftigung sozusagen der Regelfall auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist. Das ist sie nicht. In einigen Unternehmen bestimmter Branchen – das ist von unserer Seite auch eingeräumt worden – gibt es offensichtlich die Unsitte, dass das regelhaft gemacht wird. Darum muss man sich kümmern. Ihre Vorschläge dazu sind bisher aber unzureichend. (Klaus Barthel [SPD]: Was passiert denn jetzt?) Daher glaube ich, dass wir in der Tat eine weitere angeregte Fachdiskussion im Ausschuss brauchen. Sie können sich sicher sein, dass die Koalition fachgerechte Vorschläge dazu machen wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Fragen Sie mal den Laumann! Der hat gute Vorschläge!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Stefan Rebmann. Bitte schön, Kollege Stefan Rebmann. (Beifall bei der SPD) Stefan Rebmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum gewonnenen Hammelsprung vorhin. Ein wenig Bewegung tut uns allen gut. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, genau!) Meinen herzlichen Glückwunsch auch zum Ergebnis der namentlichen Abstimmung heute Morgen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, sehr gut!) Das ist gut für Europa. Eigentlich ist es auch für die Regierungsbank noch einmal gut gegangen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut sogar!) weil die Falken in Ihren Reihen nicht die Oberhand gewonnen haben und Sie weiterwurschteln dürfen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle so abgestimmt hätten wie wir, dann wäre es gut gewesen!) Gut für Deutschland und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist Ihr Weiterregieren aber leider nicht. (Sebastian Blumenthal [FDP]: Das sehen wir an den Arbeitslosenzahlen!) Das sehen wir an dem jetzigen Tagesordnungspunkt. (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Und an den Arbeitslosenzahlen!) Sie behaupten zum Beispiel, die in der Anhörung zu unserem Antrag anwesenden Experten hätten sich – ich zitiere wörtlich – „unisono“ ablehnend geäußert. Das stimmt so aber nicht, und das wissen Sie ganz genau. Sie ignorieren Herrn Dr. Holst von der Uni Jena, der gesagt hat, die jetzige Praxis führe dazu, dass Unternehmen ihre Risiken auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abwälzen (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) und dass vor allem junge, gering qualifizierte Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund mit befristeten Arbeitsverträgen abgespeist werden. Daneben warnt er auch vor der Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft durch genau diese Praxis. Sie ignorieren bzw. verstehen die Experten des IAB, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Hugo-Sinzheimer-Instituts nicht, die sich klar positioniert haben, für die die Zunahme der Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse gesellschaftlich problematisch ist und die eindeutig für eine Begrenzung in diesem Bereich eintreten. (Beifall bei der SPD) Ich frage Sie: Warum ignorieren Sie eigentlich diese Expertinnen und Experten so konsequent? Sagen sie irgendetwas, was nicht in Ihr Weltbild passt? Können Sie ihnen nicht folgen? Oder reden sie Ihnen nicht nach dem Mund? Was sind denn eigentlich Ihre Argumente für oder gegen unseren Antrag? Sie sagen im Grunde: Befristungen flexibilisieren den Arbeitsmarkt. Sie reden von der großen Brücke hin zu Dauerbeschäftigungen. Sie sagen: Befristungen verhindern Arbeitslosigkeit und geben den Arbeitgebern Spielräume. Deshalb darf sich nichts ändern. Sie tun gerade so, als wollten wir die Arbeitgeber dazu zwingen, nur noch unbefristet einzustellen. Das stimmt so nicht. Wir wollen, dass ein Arbeitgeber einen überprüfbaren Grund angibt, warum er einen Arbeitnehmer befristet einstellen will. (Beifall bei der SPD) Das Teilzeit- und Befristungsgesetz – Kollegin Pothmer hat das vorhin schon gesagt – sieht dafür acht verschiedene Gründe vor. Ich finde, es ist nicht zu viel verlangt, dass man sich erklären muss, wenn man Arbeitnehmer befristet beschäftigen will. (Klaus Barthel [SPD]: So ist es!) Aber vielleicht wollen Sie das gar nicht. Laut einer Umfrage des WSI aus 2006 geben zwei Drittel der befragten Unternehmen an, die Möglichkeit der Befristung ohne Sachgrund zu nutzen, um auf Auftragsschwankungen reagieren zu können. Eine Studie des IAB aus 2010 kommt genau zu dem gleichen Ergebnis. Die Arbeitskraft, das Wissen und die Fähigkeit der befristet Beschäftigten werden gerne angenommen und gewinnbringend genutzt, am liebsten sogar als billige Arbeitskraft. Wenn die Menschen wegen ihrer befristeten Arbeitsverträge dazu noch gefügig sind und auf Rechte verzichten, zum Beispiel auf die Bezahlung von Überstunden, dann ist das für manche umso besser. Faktisch heißt dies: Das viel zitierte Unternehmerrisiko wird komplett auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlagert und wird zum Arbeitnehmerrisiko. Eine solche Praxis darf der Gesetzgeber meines Erachtens nicht zulassen. (Beifall bei der SPD) Wenn ein Arbeitgeber auf Konjunkturschwankungen reagieren will, dann sagen wir: nicht über den Weg der sachgrundlosen Befristung. Dann soll er eben Kurzarbeit beantragen oder den Weg einer ordentlichen Kündigung gehen – mit allen Konsequenzen. Dann kann sich der Arbeitnehmer entsprechend wehren. Wir wollen keinen Freifahrtschein für kurzfristige Einsparungen auf Kosten der Arbeitnehmer, und wir wollen schon gar keine Hire-and-fire-Kultur. (Zurufe von der CDU/CSU: Oje!) Jetzt werden Sie sagen – das haben Sie schon getan –: Es ist doch besser, jemanden ohne Begründung befristet einzustellen als überhaupt nicht. Damit sind Sie bei Norbert Blüm bzw. in den 80er-Jahren stehen geblieben. Sie haben sich nicht weiterentwickelt. Ich sage Ihnen: Sie haben ein Problem. Bei Gelegenheit müssten Sie einmal nachweisen, dass befristete Beschäftigungen überhaupt Arbeitslosigkeit verhindern. Das können Sie nicht. Sie verweisen auf steigende Beschäftigungszahlen aus Zeiten der Hochkonjunktur. Mit dieser Methode kann man natürlich alles erklären. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass diejenigen, die sich damit wissenschaftlich beschäftigt haben, zu einem anderen Schluss als Sie kommen. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung und das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik haben 2006 eindeutig festgestellt: Es gab keine positiven Beschäftigungseffekte durch befristete Arbeitsverträge. 96 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass diese Regelung bei ihnen zu keinerlei Veränderungen geführt hat. Das wurde durch ihre Einstellungspraxis belegt. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: 2006! Das ist doch fünf Jahr her! Neue Zahlen!) Es gibt also keine belegbaren positiven Auswirkungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: IAB! Aktuell!) Ich sage Ihnen eines: Im Gegensatz zu Ihren Kreißsaal-Hörsaal-und-Plenarsaal-Politikern weiß ich, wovon ich rede. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!) Ich war einmal arbeitslos, und ich habe in drei Schichten gearbeitet. Ich war auch einmal befristet beschäftigt. Ich habe nur deshalb einen unbefristeten Arbeitsplatz bekommen, weil wir einen guten Betriebsrat hatten, der gegen diese Dauerbefristungen angegangen ist. So sieht es aus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Befristet beschäftigt zu sein, heißt: oft deutlich schlechter bezahlt als Unbefristete, meist ausgeschlossen von Weiterbildungsmaßnahmen, kaum Planungssicherheit, nicht kreditwürdig. Ich sage Ihnen: Als junger Mensch unter diesen Rahmenbedingungen Zukunftspläne zu schmieden, zu heiraten, Kinder in die Welt zu setzen, ein Auto zu kaufen, sich vielleicht um Eigentum zu kümmern, ist schlichtweg nicht möglich. Die Menschen in Unsicherheit lassen, prekär beschäftigen und schlecht bezahlen, gleichzeitig aber erwarten, dass sich diese Menschen in Staat und Gesellschaft voll einbringen, das funktioniert nicht. Ich sage Ihnen: Sie können nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und von der anderen Hälfte das Eierlegen erwarten. Das funktioniert nicht. (Beifall bei der SPD) Wir wissen sehr wohl, dass gute Arbeitsmarktpolitik auch Gesellschaftspolitik ist. Mehr Flexibilität für die Arbeitgeber gibt es nur mit mehr Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wenn man denken kann! Das ist die Voraussetzung!) Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach bewiesen, dass Sie dazu in der Lage sind und auch für gute Argumente zugänglich sind. Geben Sie Ihren Gedanken die Freiheit, die Richtung zu ändern! Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nun für die Fraktion der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte schön, Kollege Blumenthal. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sebastian Blumenthal (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Rebmann, Sie haben uns gerade in einer Art angesprochen, auf die ich eine Replik nicht schuldig bleiben möchte. Bei Ihnen hörte es sich so an, als verlaufe der Karriereweg der Politiker der Koalition folgendermaßen: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal. (Stefan Rebmann [SPD]: Der eine oder andere!) Da kann ich Ihnen Folgendes empfehlen: Schauen Sie sich im Abgeordnetenhandbuch einmal die Berufswege von uns Kollegen an. Sie werden feststellen: Der Anteil derjenigen, die mit Berufserfahrung in den Bundestag eingezogen sind, ist bei uns prozentual höher als in Ihrer eigenen Fraktion. Bitte seien Sie mit solchen Vorwürfen vorsichtig. Sie können davon ausgehen: Auch ich habe schon ein Arbeitsamt von innen gesehen. Ich habe eine Berufsausbildung gemacht, studiert und acht Jahre in der Wirtschaft gearbeitet. Es ist nicht so, dass sich hier nur Leute ans Pult stellen, die nicht wissen, worüber sie reden, auch wenn Sie uns diesen Vorwurf immer machen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zurück zum Thema. Wir haben heute eine ganze Reihe von Zahlen und viel Zahlenmaterial zu Gehör bekommen. Dabei ging es meistens um das IAB und dessen Zahlen, wonach jede zweite Neueinstellung befristet erfolgt. Um das Zahlenmaterial in der Ganzheit zu bewerten, kann ich empfehlen, eine Langzeitbetrachtung vorzunehmen. Zum Beispiel lag nach einer Erhebung der IG Metall der Anteil der Neueinstellungen mit Befristung im Jahre 1986 bei knapp 50 Prozent; im Jahre 2000 waren es nach Angaben der IG Metall zwei Drittel der Neueinstellungen, während wir aktuell wieder eine Quote von 50 Prozent erreichen. Dies ist also deutlich niedriger als im Jahr 2000. (Klaus Barthel [SPD]: Immer noch zu viel!) Jetzt hieraus kurzfristig eine schlechte Tendenz abzuleiten, kann mit Sicherheit nicht zielführend sein. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Ebenso wie das IAB hat sich zum Beispiel auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer Reihe von Studien mit dem Thema befristete Beschäftigungsverhältnisse befasst. Diese Stiftung gehört nicht zu denen, die uns etwas ins Programm schreiben, sondern ist in den Reihen von Rot-Rot-Grün bekannter. In einer Studie kommt man zu folgenden Erkenntnissen: Es wurde festgestellt, dass die Ausweitung der befristeten Beschäftigung, vor allem in den neuen Bundesländern, durch den hohen Anteil öffentlich geförderter Beschäftigung geprägt ist. Damit kommen die Experten der Böckler-Stiftung zu der Schlussfolgerung – ich zitiere –: Zusammenfassend lässt sich keine dramatische Ausbreitung der befristeten Arbeitsverträge zur Substitution von unbefristeten Verträgen erkennen, wenn man den Einfluss arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen berücksichtigt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) Das ist der O-Ton Ihrer eigenen Experten. Die Ausweitung der befristeten Beschäftigung geht also zu einem großen Anteil auf das Lieblingsinstrument der Linken zurück, und zwar auf die öffentlich geförderte Beschäftigung. An dieser Stelle schließt sich dann der Kreis. Die Linke scheint hier die Auffassung zu vertreten, dass eine befristete Beschäftigung immer noch besser ist als Arbeitslosigkeit; das haben die eigenen Experten hier vorgestellt. Früher und eben galt das in der Debatte noch als neoliberal. Jetzt ist das linke Arbeitsmarktpolitik. So schnell ändern sich die Zeiten. Daneben gibt es noch weitere Gründe, warum wir die hier vorliegenden Anträge ablehnen. In zahlreichen Beispielen können wir erleben, dass die Tarifparteien sehr umsichtig und verantwortungsbewusst mit dem Instrument der sachgrundlosen Befristung umgehen. Während der Finanz- und anschließenden Wirtschaftskrise zum Beispiel haben viele Gewerkschaften zusammen mit Arbeitgebern solche Regelungen getroffen. Neben dem Instrument der Kurzarbeit war auch das Instrument der befristeten Beschäftigung eine Möglichkeit, die Menschen in Arbeit zu halten und Arbeitsplätze zu sichern. Das sollten Sie nicht außer Acht lassen. (Beifall bei der FDP) Ein weiteres Beispiel aus meinem Bundesland Schleswig-Holstein will ich exemplarisch erwähnen. Der Kollege Wadephul wird zustimmen: Schleswig-Holstein ist für vieles exemplarisch. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!) In diesem konkreten Fall hat Verdi Nord im Februar 2011 bei den Tarifverhandlungen mit einem Logistikdienstleister im Lübecker Hafen vereinbart, sachgrundlose Befristungen per Tarifvertrag auf zwölf Monate zu begrenzen. Bitte vertrauen Sie ein bisschen mehr auf die Tarifautonomie und das kluge Handeln der Tarifpartner. Das sage ich bewusst in Richtung Rot-Rot-Grün. Sie unterstellen uns auf Koalitionsseite immer, wir wollten diese aushöhlen. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich gerade ausgeführt habe. Insofern werden wir auch die vorliegenden Anträge ablehnen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Blumenthal. – Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Gitta Connemann. Bitte schön, Frau Kollegin Connemann. Gitta Connemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin tatsächlich ein glücklicher Mensch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut! Endlich mal jemand, der es zugibt!) Daran können weder einige der Reden am heutigen Tage noch die Kaspereien während der Debatte etwas ändern, die Ihnen vermeintlich wichtig war, aber nicht wichtig genug, um sie nicht durch einen Hammelsprung unterbrechen zu lassen. Ich bin ein glücklicher Mensch. Das beweist übrigens auch der Glücksatlas der Deutschen Post. Darin wird festgestellt, dass die Menschen aus dem Norden Niedersachsens in Sachen Glück auf dem zweiten Platz liegen. Wir sind wesentlich zufriedener als der Bundesdurchschnitt. Unsere Glücksbringer sind Gesundheit, Partnerschaft und Freunde, aber übrigens nicht – das ist eine ganz interessante Feststellung – die Höhe des Gehalts. Die Untersuchung zeigt aber auch, was unglücklich macht, nämlich Arbeitslosigkeit. Die Lebenszufriedenheit von Arbeitslosen liegt weit unter der von Erwerbstätigen; denn Arbeit hat für die Menschen einen unglaublich hohen Stellenwert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Vor allem befristet!) Arbeit ist – diese Erkenntnis hat sich auf der einen Seite des Plenums noch nicht durchgesetzt – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) mehr als eine Erwerbsquelle. Sie gibt Sinn, Würde und Anerkennung. Das wissen diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, aus bitterer Erfahrung. Deshalb müssten wir als Politiker und Gesetzgeber eigentlich alles dafür tun, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die Anträge der Opposition hätten aber den gegenteiligen Effekt, nämlich den Anstieg der Arbeitslosigkeit; denn Sie wollen die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Das sieht die CDA aber anders!) Um nicht missverstanden zu werden: Sicherlich wünscht sich jeder von uns ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als Abgeordneter wäre das geradezu traumhaft!) Das gilt übrigens auch für die Mitarbeiter von Abgeordneten, Herr Rebmann. Sämtliche Mitarbeiter von Abgeordneten haben auf eine Legislaturperiode befristete Arbeitsverträge. Sie heiraten Gott sei Dank trotzdem, kaufen Autos und beziehen Wohnungen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sachgrundlos, Frau Kollegin! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und zeugen Kinder!) Das ist auch gut so. Jeder wünscht sich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, obzwar auch dieses durch Kündigungen beendet werden kann; aber es gibt das Gefühl größerer Sicherheit. Arbeitgeber sind allerdings zögerlich, sich von vornherein unbefristet zu binden. Gerade die letzte Finanzkrise hat gezeigt, wie schnell es notwendig werden kann, auf Schwankungen zu reagieren. Dafür brauchen die Betriebe flexible Instrumente wie die Befristung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es übrigens in einem solchen Fall, zwischen dem berechtigten Wunsch nach Sicherheit auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Flexibilität auf der anderen Seite abzuwägen. Der Gesetzgeber hat beiden Interessen Rechnung getragen; das war übrigens der rot-grüne Gesetzgeber. Wir erkennen an, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, dass Sie die Regelung in der jetzigen Form geschaffen haben. Ihr erklärtes Ziel war damals, Beschäftigung zu fördern und Arbeitslosigkeit abzubauen. Dass Sie dieses Ziel erreicht haben, konstatieren wir Ihnen heute auch. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Jetzt wollen sie das nicht mehr!) Gerade die Erleichterungen bei der Befristung waren und sind ein Beschäftigungsmotor am deutschen Arbeitsmarkt. Meine Damen und Herren von der Opposition, leider wollen Sie heute nichts mehr davon wissen. Weil die Zahl der befristeten Arbeitsverträge angeblich drastisch steigt, möchten Sie diese künftig nur noch erlauben, wenn es einen speziellen Grund für eine Befristung gibt. Das Dumme daran ist, dass diese Begründung nicht stimmt. Der Anteil der befristet Beschäftigten hat in den letzten Jahren allenfalls geringfügig zugenommen; der Kollege Blumenthal hat die Zahlen eben eindrucksvoll dargestellt. Es wäre schön, wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis nehmen und Ihr Heil nicht in grundlosen Behauptungen suchen würden. Dann würden Sie nämlich erkennen, dass das sogenannte Normalarbeitsverhältnis keineswegs einer aussterbenden Gattung angehört und dass es keinen Beleg dafür gibt, dass die befristete Beschäftigung das normale Arbeitsverhältnis abgelöst hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der unbefristeten Vollzeitjobs seit mehr als zehn Jahren bei rund 20 Millionen eingependelt. In demselben Zeitraum ist aber die Zahl der Erwerbstätigen um 2,7 Millionen angestiegen. Das heißt, es wurde nicht von normalen zu atypischen Jobs umgeschichtet, sondern es wurden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, auch dank befristeter Stellen. Befristete Stellen sind kein allgemeines Phänomen. Sie sind die Ausnahme, nicht die Regel. Neun von zehn Arbeitnehmern in Deutschland sind ohne Wenn und Aber beschäftigt. Wenn befristet wird, dann insbesondere in zwei Gruppen. Das eine sind die Berufseinsteiger. Vor allem junge Leute, die noch keine Berufserfahrung haben, bekommen häufig einen befristeten Vertrag. Hier steht natürlich die Bewährung im Mittelpunkt, genauso wie das Erwerben von Vertrauen. Aber diese Chance wird von den meisten genutzt. Nach einer aktuellen Erhebung des IW Köln werden 52 Prozent aller befristeten Arbeitsverträge in unbefristete umgewandelt, also jedes zweite Arbeitsverhältnis. Gerade jüngeren Arbeitnehmern hilft das enorm. Das belegt der europäische Vergleich. Deutschland hat die drittniedrigste Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Angesichts der heute veröffentlichten Arbeitsmarktdaten bitte ich Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Wir haben einen unglaublichen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt erzielt und die 2,8-Millionen-Grenze geknackt. Aktuell sind 2,76 Millionen Menschen ohne Arbeit. Das sind sicherlich 2,76 Millionen Menschen zu viel. Aber seit Amtsantritt dieser Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel, als die Zahl der Arbeitslosen bei rund 5 Millionen lag, haben rund 2,3 Millionen Menschen Arbeit und damit eine Perspektive gefunden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Zorn der Opposition richtet sich im Wesentlichen gegen die sogenannte sachgrundlose Befristung. Dabei war das Ergebnis der Anhörung, die wir zu dieser Frage im letzten Jahr durchgeführt haben: Gerade Beschäftigte mit Verträgen, die ohne Sachgrund befristet sind, werden nach Abschluss häufiger übernommen als Mitarbeiter, die wegen eines Sachgrundes auf Zeit eingestellt werden. Das hat übrigens, lieber Herr Kollege Rebmann, Christian Hohendanner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bestätigt. Aber die wenigsten von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, waren bei dieser Anhörung, einer Anhörung, die übrigens auf Ihren Antrag hin stattfand, genauso wie viele andere Anhörungen. Wir hatten Ihrem Wunsch entsprochen; denn jede Anhörung dient der Erkenntnis. Aber was bringt diese Erkenntnismöglichkeit, wenn man sie nicht nutzt? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Von der SPD fanden genau drei Kollegen in den Anhörungssaal, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Unglaublich!) von den Linken zwei, von den Grünen sogar nur eine Kollegin. Ich frage Sie sehr deutlich: Wozu beantragen Sie Anhörungen, wenn Sie dann nicht hingehen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dann wäre es jedenfalls schön, wenn Sie das Protokoll lesen würden. Der Kollege Rebmann hat es getan. Das goutiere ich, obwohl er Herrn Hohendanner nicht richtig zitiert hat. Aber alle anderen haben das Protokoll offensichtlich nicht gelesen. Die Anhörung spielte jedenfalls bei den Reden der Opposition überhaupt keine Rolle. Hätte sie eine Rolle gespielt, dann hätten Sie konsequenterweise Ihre Anträge zurückziehen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Denn fast alle Experten sprachen sich in der Anhörung für die Beibehaltung der sachgrundlosen Befristung aus. Sie wiesen auf die Chancen, die sich aus unbefristeten Verträgen ergeben, und die hohe Übernahmerate hin. Fast alle Experten warnten vor Einschränkungen; denn diese würden am Ende Stellen kosten. Die Alternative zum befristeten Arbeitsvertrag sei nämlich nicht der unbefristete, sondern Mehrarbeit des Stammpersonals, also Überstunden, oder Zeitarbeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Pothmer zulassen? Gitta Connemann (CDU/CSU): Aber immer gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Connemann, ist Ihnen bekannt, dass im Antrag der CDA für Ihren Bundesparteitag die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung gefordert wird? Halten Sie die Kolleginnen und Kollegen, die das fordern, für Deppen oder für unkundige Thebaner? Wie stehen Sie eigentlich zu diesen Kolleginnen und Kollegen? Gitta Connemann (CDU/CSU): Nein, das ist mir nicht bekannt; denn die CDA fordert in ihrem Antrag gerade nicht die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Sie fordert die Einschränkung. Das zeigt Ihr Dilemma. (Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz) – Frau Pothmer, ich bin noch nicht fertig. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Antwort reicht mir!) – Nein, nein, diese Chance müssen Sie mir schon geben. Das zeigt mir aber leider: Das, was Sie nicht hören wollen, wollen Sie nicht hören. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre Ihnen zu!) Ich würde Ihnen empfehlen: Wenn Sie Anträge lesen oder daraus zitieren, dann lesen Sie sie genau durch. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ihn gelesen!) – Im Fall der CDA haben Sie es nicht getan; das gilt auch für das Anhörungsprotokoll. Auch bei der Anhörung waren Sie nicht dabei. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich war dabei! Natürlich war ich dabei!) – Laut Protokoll war die Kollegin Müller-Gemmeke für die Grünen dabei. – Sehen Sie sich das Protokoll an. Es ist ein Dilemma, dass Sie über Dinge reden, bei deren Diskussion Sie nicht waren und über die Sie sich hinterher noch nicht einmal informieren. Das finde ich bedauerlich. Auch die Vertreterin des DGB hat bestätigt – der Kollege Lange hat darauf hingewiesen –, dass Unternehmen vermutlich in andere flexible Beschäftigungsmöglichkeiten ausweichen würden, wenn die sachgrundlose Befristung abgeschafft werden würde. Das bleibt Fakt. Die Mehrzahl der Experten hat die Aussage in der Koalitionsvereinbarung unterstützt, das Ersteinstellungsgebot abzuschaffen. Hierzu gibt es eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, die wir auswerten müssen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Connemann! Gitta Connemann (CDU/CSU): Es gibt sicherlich auch Handlungsbedarf bei § 14 Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Wir müssen über das Kriterium des Alters sprechen, aber nicht in Ihrem Sinne, meine Damen und Herren von der Opposition. Die Anhörung hat ergeben: Die befristete Beschäftigung wird von Ihnen vollkommen zu Unrecht verteufelt. Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/4180. Unter Buchstabe a empfiehlt dieser Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1769 mit dem Titel „Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befristung“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU und FDP. Dagegen haben SPD und Linke gestimmt, Bünd-nis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1968 mit dem Titel „Befristung von Arbeitsverhältnissen eindämmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Linke hat dagegen gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2922 mit dem Titel „Kein Sachgrund, keine Befristung – Befristete Arbeitsverträge begrenzen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, die SPD hat sich enthalten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis e sowie Zusatzpunkt 2 a und b auf: 34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung über die elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union – Drucksache 17/7144 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Andorra über den Informationsaustausch in Steuersachen – Drucksache 17/7145 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über den Informationsaustausch in Steuersachen – Drucksache 17/7146 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tankred Schipanski, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken – Drucksache 17/7183 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen – Drucksache 17/7191 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Naturlandschaft Senne schützen – Militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes nach Abzug der Briten beenden – Drucksache 17/4555 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen – Drucksache 17/7190 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hierbei geht es um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie einverstanden? – Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis n auf. Hier geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 35 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über die Erneuerung und die Erhaltung der Grenzbrücke über die Mosel zwischen Wellen und Grevenmacher – Drucksache 17/6615 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) – Drucksache 17/7092 – Berichterstattung: Abgeordneter Thomas Lutze Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7092, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6615 anzunehmen. Wer stimmt dem Gesetzentwurf zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes – Drucksache 17/6642 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) – Drucksache 17/7192 – Berichterstattung: Abgeordnete Josef Rief Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Friedrich Ostendorff Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7192, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6642 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen möchten, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmt, der möge sich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in der dritten Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seesicherheits-Untersuchungs-Gesetzes – Drucksache 17/6334 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) – Drucksache 17/7193 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Valerie Wilms Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7193, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6334 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf so zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvL 4/10 – Drucksache 17/7035 – Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren der konkreten Normenkontrolle eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das ist einstimmig so beschlossen. Tagesordnungspunkt 35 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung – Drucksachen 17/6641, 17/7066 – Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7066, der Verordnung auf Drucksache 17/6641 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen und die SPD; Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zu den Tagesordnungspunkten 35 f bis n. Tagesordnungspunkt 35 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 309 zu Petitionen – Drucksache 17/7036 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 310 zu Petitionen – Drucksache 17/7037 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der SPD. Dagegen hat die Linke gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Tagesordnungspunkt 35 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 311 zu Petitionen – Drucksache 17/7038 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Sammelübersicht einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 312 zu Petitionen – Drucksache 17/7039 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, alle anderen dafür. Tagesordnungspunkt 35 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 313 zu Petitionen – Drucksache 17/7040 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Gegenstimmen kamen von der Fraktion Die Linke, alle anderen Fraktionen haben dafür gestimmt. Tagesordnungspunkt 35 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 314 zu Petitionen – Drucksache 17/7041 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Sammelübersicht angenommen. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, alle übrigen dafür. Tagesordnungspunkt 35 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 315 zu Petitionen – Drucksache 17/7042 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dagegen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und die SPD, alle übrigen waren dafür. Tagesordnungspunkt 35 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 316 zu Petitionen – Drucksache 17/7043 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – SPD und Linke haben dagegen gestimmt, alle anderen waren dafür. Somit ist die Sammelübersicht angenommen. Tagesordnungspunkt 35 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 317 zu Petitionen – Drucksache 17/7044 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen durch Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Steuerabkommen mit der Schweiz und damit zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit Das Wort hat Joachim Poß für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Joachim Poß (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Finanzminister! Das Steuerabkommen mit der Schweiz ist ein sehr fragwürdiger und auch ein sehr bedenklicher Vorgang, und zwar aus mehreren Gründen. Der erste Grund ist – da können Sie, Herr Schäuble, und auch andere noch so viel reden –: Steuerkriminelle, die über Jahre und Jahrzehnte bis heute mithilfe Schweizer Banken deutsche Steuern hinterzogen haben, bleiben straffrei und anonym und werden so von Ihnen gezielt privilegiert. Das ist der Tatbestand. (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie schicken die Kavallerie!) Gerade diejenigen, die im großen Ausmaß Steuern hinterziehen, profitieren von der vereinbarten pauschalierten Einmalzahlung. Die großen Steuerhinterzieher kommen mit einem Billigtarif davon. (Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Skandal!) Wir wissen ja – man konnte das auch in den Schweizer Medien verfolgen –: Schon zum Zeitpunkt der Paraphierung haben offenkundig viele die Champagnerkorken knallen lassen. Gewinner sind nämlich die Schweizer Banken und die Steuerhinterzieher, aber nicht die ehrlichen Steuerzahler in Deutschland und auch nicht der deutsche Staat. Das ist das Ergebnis Ihres Abkommens, Herr Schäuble. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) Mit Steuergerechtigkeit hat das nichts zu tun. Kriminelle Energie, die sich nach wie vor auslebt, darf nicht belohnt, sondern muss bestraft werden. Aller Voraussicht nach – die Gespräche und Verhandlungen mit den USA sind ja noch nicht abgeschlossen; wir wissen, dass es auch Diskussionen darüber in der Schweiz gibt – werden deutsche Steuerkriminelle günstiger gestellt als amerikanische. Das gilt auch für einige andere Gruppen, weil die Amerikaner nicht nur über das Problem der Steuerflüchtlinge, sondern auch über andere Dinge verhandeln. Darüber hinaus – das ist der zweite Grund – stabilisieren Sie, Herr Schäuble, das fragwürdige Geschäftsmodell und Geschäftsgebaren der Schweizer Finanzwelt, was mit Sicherheit nicht die Aufgabe der deutschen Regierung und des Bundesfinanzministers ist. Ganz im Gegenteil: Hier wurde eine große Chance verspielt, dieses Gebaren zu zivilisieren. Die Schweiz bleibt – leider – ein Zufluchtsort der internationalen Steuerhinterziehung, abgeschottet gegenüber Steuer- und Ermittlungsbehörden. Wenn Sie jetzt behaupten, das Abkommen sei anders gar nicht möglich gewesen, dann sage ich Ihnen: Sie haben in diesem Punkt von vornherein keinen Ehrgeiz entwickelt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Lachen bei der FDP) Wie man annehmen kann, geschah dies aus vielerlei Motiven. Ein Motiv war, Herr Schäuble, dass Sie auf jeden Fall zum Abschluss kommen wollten, um zu zeigen, wie man es machen kann. Sie wollten sich so auch von Ihrem Vorgänger ein wenig abgrenzen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das war nicht schwer!) Wer argumentiert, anders sei es nicht gegangen, der spielt im Endeffekt das Spiel der Steuerhinterzieher und ihrer Helfer. Natürlich wäre es möglich gewesen, auf die Schweiz mehr Druck auszuüben. Natürlich hat die Schweiz Interessen, was ihre Banken, die in Deutschland freier als bisher Geschäfte machen wollen, angeht. Das ist ein gewichtiger Trumpf, der nicht ausgespielt wurde. Dieses Abkommen, Herr Schäuble, ist kein Ruhmesblatt, (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Haben Sie es gelesen?) und Ihre Verhandlungskünste waren es offenkundig auch nicht. Im Übrigen unterläuft das Abkommen die EU-Politik zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung, den angestrebten automatischen Informationsaustausch, den wir und insbesondere die nationalen Finanzbehörden brauchen, um grenzüberschreitende Steuerhinterziehung wirksam eindämmen zu können, wovon letztlich alle Staaten profitieren. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen so einen Unsinn aufgeschrieben?) Als Krönung des Ganzen sagen Sie auch noch – dass Sie dafür sind, Herr Michelbach, daran habe ich gar keinen Zweifel –, Sie wollten in Zukunft auf den Ankauf von Steuersünder-CDs verzichten. Was treibt Sie eigentlich zu diesem Zugeständnis? Das alles können wir beim besten Willen nicht mittragen. Deswegen werden wir uns entsprechend verhalten und deutlich machen, dass Sie ein Abkommen ausgehandelt haben, das man sowohl vonseiten des Bundestages als auch vonseiten des Bundesrates ablehnen sollte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Poß, ich will der Versuchung widerstehen, jetzt in der Tonart zu antworten, in der Sie geredet haben. Wir sprechen über einen Nachbarn, die Schweizer Eidgenossenschaft. Das ist ein zivilisiertes Land. Dort gelten gesetzliche Regeln zum Bankgeheimnis. (Joachim Poß [SPD]: Ich habe über das Geschäftsgebaren der Banken gesprochen!) – Lassen Sie mich doch ein paar Sätze sagen, Herrschaften noch mal! Schon nach dem ersten Satz unterbrechen Sie mich. Eine so schamlos demagogische Rede zu halten – gegen jede Vernunft – und dann den Redner nach dem ersten Satz zu unterbrechen, das ist doch ein Skandal. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Mit diesem Abkommen schaffen wir einen Meilenstein in der Zusammenarbeit mit der Schweiz. Das war ein schwieriges Thema über viele Jahrzehnte, weil das Bankgeheimnis in der Schweiz einen ganz hohen Stellenwert hat. Für die Zukunft werden mit dem Inkrafttreten dieses Abkommens Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn sie bei Schweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lückenlos der Besteuerung unterworfen, wie wenn sie bei deutschen Instituten angelegt wären. Das ist der entscheidende Punkt. Das ist ein Meilenstein in der Zusammenarbeit mit der Schweiz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr.  h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ein großer Erfolg!) Wir werden sogar einen Informationsaustausch haben, der über den OECD-Standard hinausgeht. Ich will jetzt die Verhandlungen zwischen der Schweiz und den USA gar nicht weiter belasten. Die Schweizer Kollegin hat bei der Unterzeichnung des Abkommens vor einer Woche hier in Berlin gesagt, dass die Schweiz den USA keinesfalls weiter gehende Rechte gewähren könne. Deswegen nehmen Sie hier doch keine mit der Wirklichkeit derartig in Widerspruch stehende Verzerrung und Verleumdung vor. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Popanz!) Wir haben für die Zukunft die absolut richtige Lösung gefunden. Wir haben in einer früheren Legislaturperiode dafür gesorgt, dass die Einkünfte aus Kapitalvermögen einer Abgeltungsteuer unterliegen – damit ist die Besteuerung definitiv – und dass die Finanzbehörden nur bei bestimmten Anhaltspunkten Nachfragen stellen dürfen; das gilt in Zukunft auch für Kapitalanlagen in der Schweiz. Zukünftig gilt die identische steuerliche Erfassung, egal ob ein Kapitalvermögen deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz oder in Deutschland angelegt ist. Das ist ein wirklicher Durchbruch, ein großer Fortschritt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sollten die Schweiz nicht aus der Gemeinschaft zivilisierter Länder ausschließen. So können wir in Europa nicht auftreten. Jetzt komme ich auf die in der Vergangenheit geltende Regelung zu sprechen, und zwar ganz freundlich; denn ich werbe um Ihre Zustimmung. Der Kollege Walter-Borjans hat mir liebenswürdigerweise gesagt, dass er hier sprechen wird. Er hat in der FAZ von heute ein Interview gegeben. Herr Kollege Walter-Borjans, was die Vergangenheit angeht, muss man zunächst einmal davon ausgehen: Das Bankgeheimnis ist in der Schweiz rechtlich geschützt. Auch wir hätten von unserem Rechtsstaatsverständnis her große Probleme, wenn wir Gesetze, die Bürger schützen, rückwirkend aufheben würden. Wir müssen davon ausgehen, dass die Schweiz ihre Gesetze nicht rückwirkend außer Kraft setzen wird; schließlich ist sie ein Rechtsstaat. Wir stimmen in der Frage des Bankgeheimnisses nicht überein; aber wir müssen die Haltung der Schweiz respektieren. Deswegen hat eine frühere Regierung im Jahr 2003 ein Amnestiegesetz erlassen mit Sätzen, die niedriger waren als – – (Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht anonym!) – Ich bitte Sie! Wir haben hier gar kein Amnestiegesetz. Wir haben doch jetzt eine Anonymisierung der Einkünfte aus Kapitalvermögen, weil wir die definitive Abgeltungsteuer haben, die Sie eingeführt haben. Werfen Sie doch nicht die Dinge durcheinander! Es ist doch wirklich nicht angemessen, derart verleumderische Behauptungen gegenüber unserem Nachbarn aufzustellen. Für die Vergangenheit werden die Schweizer Banken ihren Kunden drei Optionen anbieten. Die erste Option ist, ihre Einkünfte einer regulären Besteuerung durch die zuständigen deutschen Steuerbehörden zuzuführen und dies gegenüber der Schweizer Bank zu bescheinigen. Die zweite Option besteht darin, dass sie einen Pauschalsatz anwenden, der innerhalb der Verjährungsfristen je nachdem, wie lange die Bestände bestehen, zwischen 19 und 34 Prozent schwankt. Dieser ist höher als die Sätze, die bei der Amnestiegesetzgebung im Jahr 2003 angeboten worden sind. Damals waren es im ersten Jahr 25 Prozent und im zweiten Jahr 35 Prozent. Zudem war damals ein pauschaler Abschlag vom Kapital von 40 Prozent vorgesehen, während wir keinen Abschlag vorsehen. Zudem bezieht sich dieser Prozentsatz nicht auf die Einkünfte, sondern auf das Kapitalvermögen insgesamt. Deswegen gibt es viele Steuerberater, die sagen – die dritte Option –: Im Einzelfall wird es für Steuerpflichtige besser sein, eine tatsächliche Besteuerung durchzuführen, anstatt von der pauschalierenden Regelung Gebrauch zu machen. Es mag Fälle geben, bei denen das anders ist. Das ist aber bei jeder pauschalierenden Regelung so. Wenn man aber respektiert, dass in der Schweiz das Bankgeheimnis gilt, ist das doch die einzig denkbare Regelung, wie wir überhaupt deutsche Steueransprüche gegenüber Steuerpflichtigen durchsetzen können, die aus welchen Gründen auch immer ihr Vermögen in die Schweiz gebracht haben. In meiner Amtszeit als Bundesfinanzminister sind übrigens mehr Datensammlungen angekauft worden als in jeder früheren Legislaturperiode. Sie werden aber doch wohl nicht im Ernst sagen wollen, dass wir auf Dauer – – (Joachim Poß [SPD]: Weil mehr angeboten wurde!) – Das ist doch gar kein Problem. Jedenfalls habe ich gegen viel Kritik diese Entscheidungen zusammen mit den obersten Finanzbehörden der Länder getroffen. Unser Rechtsstaat kann sich aber nicht auf Dauer darauf beschränken, zu sagen: Wahrscheinlich werden wir die Steueransprüche nie durchsetzen können; es sei denn, wir finden Menschen, die gegen Gesetze verstoßen und im Zweifel viel Geld dafür kassieren, uns Informationen zu geben. Im Übrigen verfügt die Schweiz natürlich über Mittel, um gegen den Bruch ihrer Gesetze durch den Diebstahl von Datensammlungen vorzugehen. Das verstößt übrigens auch in Deutschland gegen entsprechende Datenschutzgesetze. Wir sollten also einmal klar aussprechen, wovon wir reden. Wir können doch nicht die Durchsetzung unserer Steueransprüche bis in die Ewigkeit ausschließlich darauf stützen. Deswegen ist dieses Argument wiederum falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Walter-Borjans, Sie haben offenbar in Ihrem Interview etwas verwechselt. Wir hebeln die Zinsbesteuerungsrichtlinie der EU nicht aus, ganz im Gegenteil. Bei der seit 2003 geltenden Zinsbesteuerungsrichtlinie, die übrigens nur Zinsen und keine anderen Einkünfte aus Kapitalvermögen erfasst, haben wir erstens für Österreich und Luxemburg eine Ausnahme gemacht, weil diese Länder das im Hinblick auf eine andere Regelung mit der Schweiz nicht akzeptiert haben. Deshalb wird dabei nichts unterlaufen. Zweitens gehört die Schweiz, soweit ich weiß, nicht zur Europäischen Union, sondern sie ist der Europäischen Union assoziiert. Sie gehört der Europäischen Union aber nicht an. Drittens ist es so, dass die Finanzämter der Länder – ich werfe ihnen das gar nicht vor, aber man könnte das einmal öffentlich diskutieren – mit der Fülle der Informationen – das konnte man immer in den Zeitungen lesen –, die sie im Rahmen des automatischen Informationsaustauschs nach der Zinssteuerrichtlinie bekommen, derzeit überhaupt nicht umgehen können, weil sie sie gar nicht verwerten können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Abkommen vorurteilsfrei prüfen und wenn Sie respektieren, dass die Schweiz eigene Gesetze hat, dass die Schweiz ein so hoch entwickelter Rechtsstaat ist wie Deutschland, dann werden Sie feststellen, dass wir auf der Basis der Gleichberechtigung auch bei unterschiedlichen Auffassungen miteinander umgehen sollten. Sie werden bei bestem Willen nicht zu dem Ergebnis kommen, dass eine bessere Regelung für die Vergangenheit erreichbar war. Für die Zukunft haben wir eine völlige Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen geschaffen, und zwar unabhängig davon, ob sie ihr Vermögen in der Schweiz oder in Deutschland angelegt haben. Deswegen können wir ein schwieriges Kapitel aus der Vergangenheit auf eine gute Art und Weise schließen. Deswegen mein Appell an alle Verantwortlichen in Bundestag und Bundesrat: Lassen Sie uns das Abkommen unvoreingenommen prüfen! Hören Sie endlich auf mit einer Polemik, die allenfalls unsere Beziehungen zur Schweiz und damit weit darüber hinaus unser Ansehen in Europa beschädigen kann! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Barbara Höll hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn zunächst feststellen, dass wir als Abgeordnete wieder einmal vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Erst am Tag der Unterzeichnung wurde uns der Vertrag als Unterlage zugestellt. Es war nicht möglich, Fragen zu stellen, Kritik zu äußern oder eine Diskussion darüber zu führen. (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Jetzt!) Ich kann nur feststellen: Genau das scheuen Sie wie der Teufel das Weihwasser. Aus Ihrer Position ist das vielleicht verständlich; aber aus unserer Sicht und nach meinem Verständnis von Steuergerechtigkeit ist das einfach ein Skandal. Das belegen die Inhalte des Abkommens. (Beifall bei der LINKEN) Steinmeiers Kavallerie hat sich mit Ihrer Hilfe in einen roten Teppich für Steuersünder verwandelt. (Lachen des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU]) Sie scheuen die Auseinandersetzung zu diesem Thema, weil sich offenkundig das, was im Koalitionsvertrag steht, Kampf gegen Steuerhinterziehung, in Luft aufgelöst hat. Mit dem Vertrag wollen Sie zwei Dinge regeln: erstens die pauschale Nachversteuerung von bisher unversteuertem Altvermögen in der Schweiz – Schätzungen gehen von bis zu 300 Milliarden Euro aus – und zweitens die künftige Besteuerung von Kapitalerträgen deutscher Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz. Mit der pauschalen Nachversteuerung, die zwischen 19 und 34 Prozent liegen soll, profitieren Steuerflüchtlinge gleich doppelt. Zum einen ist diese pauschale Besteuerung für die meisten Betroffenen deutlich niedriger als ihr persönlicher Einkommensteuersatz, zu dem sie ihr Geld eigentlich hätten versteuern müssen. Zum anderen – das ist wirklich skandalös – beinhaltet der Vertrag, dass diese Menschen – es handelt sich immerhin um Steuerflüchtlinge und Steuerbetrüger – straffrei bleiben sollen und anonym bleiben können. Da frage ich Sie: Was ist das für ein Rechtsverständnis? Es geht um hinterzogene Gelder, um Steuermindereinnahmen in Milliardenhöhe, die der Allgemeinheit entzogen werden. Wenn jemand beispielsweise in der Kaufhalle eine Gurke klaut oder in der Straßenbahn einen Fahrschein nicht löst, dann wird das strafrechtlich verfolgt. Wenn es aber darum geht, dass bis zu 300 Milliarden Euro unversteuert bleiben, dann soll das mit einer Amnestie belohnt werden. Das ist mit uns nicht zu machen! (Beifall bei der LINKEN) Für zukünftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zinsen und Dividenden eine Quellensteuer von 26,375 Prozent – inklusive Soli – zu erheben. Ob das allerdings so funktionieren wird, bleibt eine zweite Frage, da für die Durchführung dieses Plans nur die Schweizer Banken verantwortlich sind. Die Ablehnung in der Bevölkerung ist groß. Bereits 55 000 Menschen haben den Appell des Kampagnenbündnisses „Kein Freibrief für Steuerbetrüger“ unterzeichnet. Ihr Abkommen stößt auf breiten Widerstand. Das Netzwerk Steuergerechtigkeit – Tax Justice Network – sagt dazu – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin –: Das Einzige, was an diesem Abkommen wirklich funktionieren wird, sind die Amnestie und die Einstellung der laufenden Strafverfahren. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist keine Amnestie! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist eine Nachjustierung!) Daher verstehe ich nicht, warum Sie noch so stolz sind. Das Abkommen wird und kann überhaupt nicht umfassend greifen, denn es sind Umgehungsmöglichkeiten darin enthalten. Eine Zahlungsverpflichtung kann nicht durchgesetzt werden, wenn das Geld nicht direkt bei einer Schweizer Bank liegt, sondern ausgelagert auf den Konten der ausländischen Niederlassung einer Schweizer Bank. Sie haben keine Zugriffsmöglichkeiten auf Liechtensteiner Ermessenstiftungen und auf Trusts; denn das sind keine natürlichen Personen. Das Ganze können wir jetzt nicht detailliert erläutern. Sie haben in diesen Bereichen jedenfalls keine Möglichkeit, die Zahlungsverpflichtung durchzusetzen. Interessanterweise ist nicht alles, was irgendwo bei Schweizer Banken liegt, zu versteuerndes Kapital. Sie haben ausdrücklich gesagt: Zu den Vermögenswerten im Sinne des Abkommens zählen nicht die Inhalte von Schrankfächern. Die Nachfrage nach Schrankfächern in der Schweiz ist in den letzten Wochen massiv angestiegen. Da fragt man sich ja wohl, warum. Insgesamt bedeutet das Abkommen keine konsequente Bekämpfung von Steuerbetrug. Zudem schaffen Sie einen Konflikt mit der EU. Herr Bundesminister Schäuble, was Sie vorhin auf Herrn Poß erwidert haben, stimmt nicht. Es geht darum, den automatischen Informationsaustausch durchzusetzen. Dieses bilaterale Abkommen behindert das. Wir haben bereits am Mittwoch im Ausschuss mit der Diskussion darüber begonnen. Verschließen Sie doch nicht die Augen vor den Realitäten! Man muss sich auch einmal fragen, warum Sie die Anzahl der Ersuche nach Auskünften einfach so begrenzen. In den ersten zwei Jahren soll die Gesamtanzahl der zugelassenen Anfragen maximal 999 betragen. Nur zum Vergleich: Es gab 26 000 Selbstanzeigen; wir haben rund 600 Finanzämter. Jedes Finanzamt darf also in den ersten zwei Jahren durchschnittlich rund 1,5 Anfragen stellen. Das ist doch kein konsequenter Kampf gegen Steuerbetrug. Ich muss auch sagen: Wenn Sie ein solch schwaches Verhandlungsergebnis zulassen, was sollen dann Staaten wie Griechenland machen, die weiß Gott eine wesentlich schlechtere Verhandlungsposition gegenüber Schweizer Banken haben und jetzt damit zu kämpfen haben, dass die griechischen Millionäre und Milliardäre massiv in die Steueroase Schweiz flüchten, weil es dort genug Schlupflöcher gibt! (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie viel Geld haben Sie denn in der Schweiz?) Für diese Steuerflucht sind Sie letztendlich mitverantwortlich. Es geht darum, Steuergerechtigkeit herzustellen. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Deswegen wollen Sie kein Steuerabkommen!) Das machen Sie mit diesem Abkommen nicht. Nein, Sie behindern es, auch in den internationalen Auseinandersetzungen. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Frau Kollegin Höll: Dieses Abkommen enthält keine Amnestie. Insofern ging Ihre Rede völlig an der Sache vorbei und war kein Beitrag, der in diese Aktuelle Stunde gepasst hätte. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zur SPD. Lieber Herr Kollege Poß, ich habe mich gefragt, warum ausgerechnet Sie, die Sozialdemokraten, diese Aktuelle Stunde beantragt haben; aber als ich bemerkt habe, dass Sie sie zur Märchenstunde machen wollen, wurde mir einiges klar. Sie haben jedenfalls über nichts geredet, das in diesem Abkommen vereinbart ist, und zeichnen hier ein Bild, das nicht mit der Realität in Einklang zu bringen ist. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dann lesen wir es jetzt mal durch!) Warum haben die Sozialdemokraten das beantragt? Man muss sich diese Frage stellen, weil Sie, als Sie die Verantwortung für das Finanzressort hatten, nichts außer öffentlichen Pöbeleien Ihres Finanzministers zustande gebracht haben. Ein Verhandlungsergebnis haben Sie jedenfalls nicht zustande gebracht. (Beifall bei der FDP und CDU/CSU) Am Ende seiner Amtszeit stand Peer Steinbrück in der Frage der Besteuerung der Vermögen in der Schweiz völlig erfolglos und ergebnislos da. Ausgerechnet er stellt sich jetzt in der Öffentlichkeit hin und sagt, man hätte die Pferde satteln müssen. Das passt zu dem, was Frau Kollegin Kressl vorhin dazwischengerufen hat: Man hätte eben mehr Druck machen müssen. Wenn Sie sagen, man hätte mehr Druck machen müssen – Sie stellen es öffentlich immer so dar –, dann muss man sich doch die Frage stellen: Warum haben Sie denn mit dem Druck, den Sie ausgeübt haben, und mit Ihren Pöbeleien gegenüber der Schweiz in all diesen Fragen null Komma nichts erreicht? Diese Frage sollten Sie sich einmal stellen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich will zu Peer Steinbrück, der da hinten jetzt zuhört, sagen: Ich finde es bitter, dass es in Deutschland immer noch Politiker gibt, die meinen, mit außenpolitischer Aggression spielen zu müssen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halten dann manche auch noch für besonders geistreich. Sie, die Sozialdemokraten, sagen uns auch noch allen Ernstes, wir hätten uns ähnlich wie Peer Steinbrück verhalten sollen, der Deutschland im Ausland, gegenüber unseren Schweizer Freunden, der Peinlichkeit preisgegeben hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie doch mal was zum Abkommen! Wie wäre es mit ein paar Fakten?) Wenn der gleiche Peer Steinbrück dann auch noch im Spiegel die Geschichte des Westens von Heinrich August Winkler über die Zeit von 1914 bis 1945 kommentiert, dann kommt man auf den Gedanken, dass sich dieser Mann vielleicht auch im Zusammenhang mit seinen Äußerungen gegenüber der Schweiz an die deutsche Geschichte erinnern sollte. Wie kann eigentlich jemand angesichts der deutschen Geschichte unbekümmert mit einem Nachbarland so umgehen und herumschwadronieren, von der Kavallerie sprechen und auch noch sagen, man hätte die Pferde satteln müssen? Meine Damen und Herren, das ist eine Form der verbalen Kanonenbootpolitik, die sich eigentlich jedem Mitglied dieses Hohen Hauses verbieten sollte. (Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie doch einmal was zu diesem Abkommen!) Jetzt zum Abkommen. Ich bin dem Bundesfinanzminister für dieses Verhandlungsergebnis sehr dankbar. (Nicolette Kressl [SPD]: Das kann ich mir denken!) Jeder, der die Verhandlungen verfolgt hat, weiß, dass sich Wolfgang Schäuble mit großem Engagement und großem persönlichem Interesse daran, diese seit Jahren unerledigte Frage endgültig zu beantworten, in die Verhandlungen begeben hat. Am Anfang schien manches unmöglich. Wir sind mit dem Finanzausschuss in die Schweiz gereist und haben Gespräche geführt. Wir hatten den Eindruck, dass es kaum möglich sein wird, einen Durchbruch in dem Sinne zu erreichen, dass die Kapitelerträge in der Schweiz exakt so besteuert werden wie in Deutschland. Das war bei Gesprächen, die wir dort geführt haben, nicht einmal in Sichtweite. Dass es am Ende gelungen ist, all die Vorhaben durchzusetzen, ein Besteuerungsabkommen hinzubekommen, das für die Zukunft in der Schweiz wie in Deutschland eins zu eins die gleiche Besteuerung sicherstellt, und zwar ausnahmslos, das reden Sie mit Ihren Märchen klein. Das ist nichts als peinlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein, das stimmt nicht!) Lassen Sie uns über die Bilanz reden, die die Sozialdemokraten vorzuweisen haben, und über die Bilanz, die die christlich-liberale Bundesregierung vorzuweisen hat. SPD-Bilanz: nichts erreicht, jährlich Steuern in Milliardenhöhe verjährt, Straftaten verjährt. In den Verhandlungen mit der Schweiz haben Sie für den Bundeshaushalt keinen Cent herausgeholt, null Komma nichts. Nun glauben Sie auch noch, Sie könnten in dieser Aktuellen Stunde selbstbewusst Ihr Versagen verteidigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben in dieser Frage nichts, aber auch gar nichts erreicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nur in dieser Frage! – Nicolette Kressl [SPD]: Ich denke, Sie wollten noch etwas zum Abkommen sagen!) Vergleichen wir Ihre Bilanz mit dem Abkommen, das der Bundesfinanzminister ausgehandelt hat: volle Kapitalertragsteuer wie in Deutschland, kein Cent bleibt unversteuert, volle Versteuerung der Altfälle, kein Altfall bleibt unversteuert, Milliarden können in den Bundeshaushalt fließen. Ich finde, es ist ein wichtiger Beitrag zur Steuergerechtigkeit, dass nicht nur die Ehrlichen in Deutschland ihre Steuern bezahlen, sondern dass jetzt auch die Altfälle abgearbeitet werden und künftig sichergestellt ist, dass niemand mehr in der Schweiz Kapitalerträge unversteuert behalten kann. (Nicolette Kressl [SPD]: Abgearbeitet? – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer garantiert Ihnen das? Wer organisiert das? Wer ist dafür verantwortlich?) Das wollen Sie kleinreden. Ich finde, Sie machen sich mit dieser Aktuellen Stunde selbst klein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende. Dr. Volker Wissing (FDP): Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ab 2013 wird es frühestens gelten!) Die SPD steht da wie eine Heulsusentruppe. (Lachen bei der SPD) Die Wahrheit ist: In den Jahren Ihrer Verantwortung für das Finanzressort haben Sie überhaupt nichts erreicht. Die einzige Frage, die man Ihnen noch stellen kann: Liebe SPD, geht es noch? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau: Geht es noch? – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn man nichts erreicht hat, kann man nur daherpöbeln! – Nicolette Kressl [SPD]: Das war eine sehr fachliche Bewertung! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war ein sehr fachlicher Vortrag zu den Fakten!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über das Steuerabkommen mit der Schweiz und über damit zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit sprechen, dann sollten wir zwei Begriffe in den Mittelpunkt stellen, nämlich Transparenz und fairen Wettbewerb. Transparenz und fairer Wettbewerb beherrschen unsere Debatte über die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa. Warum? Weil Transparenz zu Ehrlichkeit führt und weil fairer Wettbewerb notwendig ist, weil sich die Wirtschaft nur im fairen Wettbewerb wirklich entwickeln kann. Wer heute diese Verhandlungen führt, muss nicht nur diese Ziele im Blick haben, sondern er muss diese Ziele auch erreichen. Das vermisse ich beim Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In Europa ist mehr als zehn Jahre über die Zinsbesteuerungsrichtlinie verhandelt worden. Das Ergebnis ist: 35 Prozent Quellensteuer auf Zinserträge (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Nein, auf Kapital!) – ich rede von der Zinsrichtlinie – und ein automatischer Informationsaustausch. (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Nein, das ist Quatsch! Er hat es nicht verstanden!) Sie müssen die Signalwirkung der Unterschiede bedenken. Die Unterschiede sind die, dass wir in Deutschland 35 Prozent Quellensteuer haben, in der Schweiz sind es 25 Prozent plus Soli. (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Außerdem soll in den ersten zwei Jahren die Zahl der Auskunftsfälle auf 999 begrenzt werden. Bei dieser Gegenüberstellung wird doch klar, dass wir weder Transparenz noch fairen Wettbewerb haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie haben die Latte gerissen und nichts erreicht. Zum Thema Ablass auf Schwarzgeld. Einmalig soll auf Schwarzgeld ein Steuersatz in Höhe von 19 bis 34 Prozent erhoben werden. Eine Garantiesumme in Höhe von 2 Milliarden Euro soll uns locken. Aber der wahre Preis ist doch die totale Intransparenz. Die deutschen Steuerbehörden geben ihre Verantwortung an der Schweizer Kasse ab. Es gibt keine Strafverfolgung. Meine Damen und Herren von der Koalition, glauben Sie wirklich, dass Sie mit solch einem Ergebnis vor die steuerehrlichen Bürgerinnen und Bürger treten können, die mit ihren Steuern zur Finanzierung unseres Staatshaushalts beitragen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau dasselbe System wie bei der Abgeltungsteuer in Deutschland!) In verschiedenen Reden wurde von der Kavallerie gesprochen. Ich stimme Ihnen zu; diese militärischen Ausdrücke würde auch ich nicht verwenden. Ich bin aber ein Freund einer klaren Zielsetzung und einer harten Verhandlungsführung, und das vermisse ich in diesem Fall. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Bundesminister, Sie fordern Respekt vor der Rechtsordnung der Schweiz. Den habe ich. Respekt heißt aber nicht Unterwerfung. Angesichts der Tatsache, dass das Bankgeheimnis in der Schweiz so gehandhabt wird, wie es der Fall ist, sage ich: Nein, wir brauchen Transparenz. Das gilt gerade in der heutigen Zeit, in der Transparenz und Steuerehrlichkeit unsere Probleme sind. Wer hätte denn gedacht, dass die Schweiz einmal Tausende Kundendaten von US-Bürgern weitergibt? (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wer hat denn jetzt die große Auskunftsklausel verhandelt? Wer hat das denn gemacht?) Wer hat denn das erreicht? Die USA haben das erreicht, weil sie ein klares Verhandlungsziel hatten und sich entsprechend eingesetzt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das haben Sie nicht getan. Das können wir trotz einer Garantiesumme von 2 Milliarden Euro nicht einfach so unter den Tisch kehren. In Süddeutschland, wo ich zu Hause bin, höre ich von den Banken ein Argument besonders häufig. Was sagen die mir? Die Menschen in Süddeutschland, aber nicht nur dort, erwarten, dass die Schweizer Banken in Süddeutschland eine Filiale eröffnen. Das haben die Schweizer Banken schon angekündigt. Herr Wissing, es stimmt nicht, dass die Besteuerung exakt dieselbe ist. Der Unterschied ist die Kirchensteuer. Das mag zwar wenig sein, trotzdem werden die Menschen, die keine großen, sondern kleine Erträge erwirtschaften, Lieschen Müller zum Beispiel, ihr Geld in die Schweiz bringen, und zwar mit dem psychologischen Argument, dass das Geld in der Schweiz sicher sei, und dem realen Argument, dass es mit Sicherheit vor weiteren Nachforschungen sicher ist; denn das haben wir vereinbart. (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Falsch! Wieder falsch!) Das befürchten die lokalen Banken. (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Das ist falsch! Lesen Sie es doch erst einmal!) Das wird eine weitere Kapitalflucht aus Deutschland in die Schweiz bewirken. Das ist nicht hinnehmbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: So ein Unsinn!) – Nein, das ist kein Unsinn. Das ist genau das, was passiert, Herr Volk. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das haben Sie falsch verstanden!) – Nein, das habe ich nicht falsch verstanden. Das ist genau das, was mir entgegengebracht wird. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie haben das falsch verstanden, weil Sie es nicht gelesen haben!) – Nein, ich habe das sehr intensiv gelesen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Den Eindruck hat man leider nicht!) Sie sehen nur die kurzfristige Haushaltswirkung. Das ist Ihr Problem. Damit akzeptieren Sie ein Ergebnis, das keineswegs passabel ist. Dieses Ergebnis ist miserabel. Deshalb lehnen wir es ab. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was passiert denn, wenn Sie blockieren? Sagen Sie das doch einmal!) Das ist im Interesse von Deutschland und im Interesse von Europa. Ich hoffe, dass die Länder im Bundesrat entsprechend agieren. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Überhaupt keine Regelung! Das ist eine tolle Alternative!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Olav Gutting hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Olav Gutting (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst meinen Glückwunsch, Respekt und Dank an das Verhandlungsteam um Wolfgang Schäuble! Nach Monaten zäher Verhandlungen hat diese Regierung etwas geschafft, was ein SPD-geführtes Finanzministerium in zehn Jahren nicht zustande gebracht hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nicht derjenige, der die Backen aufgeblasen hat und rabaukenhaft die Kavallerie ausrücken lassen wollte, ist zum Ziel gekommen. Nein, für deutsche Steuerflüchtlinge wird es jetzt in der Schweiz teuer, weil Wolfgang Schäuble besonnen und mit dem notwendigen Respekt vor einem benachbarten Rechtsstaat, aber hart in der Sache dieses vorliegende Abkommen ausgehandelt hat. (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) Dieses Abkommen sieht neben einer Abgeltungsteuer auf künftige Erträge auch eine Pauschalbesteuerung für bislang nicht versteuerte Kapitalanlagen vor. Mit diesem Abkommen erhält der deutsche Fiskus erstmals einen Zugriff auf Vermögen und erzielte Erträge von Deutschen in der Schweiz. Wir haben nach jahrzehntelangem Hickhack in dieser Frage und nach leider manchen verbalen Entgleisungen ein Ergebnis erzielt, das bedeutet – das steht bereits jetzt fest –, dass 2013 mindestens 2 Milliarden Schweizer Franken zusätzlich an Bund, Länder und Kommunen fließen werden. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Sie haben vorhin die Anzahl der Anfragen moniert. Mit diesem Abkommen ist es erstmals gelungen, das Schweizer Bankgeheimnis zumindest einen Spaltbreit zu öffnen und das für Steuerhinterzieher bestehende Risiko der Entdeckung zu vervielfachen. Umso erstaunlicher ist es, dass nun gerade Sie in der SPD – eigentlich die ganze Opposition – dieses Ergebnis zwanghaft schlechtreden wollen. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die haben nichts hingekriegt!) Erst zehn Jahre nichts zustande bringen und jetzt besserwisserisch daherschwätzen, wer soll Ihnen eigentlich diese Empörung heute noch abnehmen? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will hier noch einmal darauf hinweisen, dass Sie 2003, als Sie noch in der Regierung waren, im Zusammenhang mit Ihrem Steueramnestiegesetz einen Strafzinssatz beschlossen haben. Dieser Strafzinssatz lag bei 25 Prozent, aber – wir haben es vorhin schon richtigerweise gehört – bei der Bemessungsgrundlage haben Sie 40 Prozent abgezogen. Im Ergebnis waren es daher 15 Prozent Strafzinssatz. Ich will zitieren, wie Sie damals in Ihrer Gesetzesbegründung den Abwägungsprozess beschrieben haben: entweder völliger Verzicht auf die Besteuerung über viele Jahre nicht versteuerten umfangreichen Kapitals oder aber Steuermehreinnahmen über die Besteuerung mit einem Steuersatz von 25 Prozent. (Nicolette Kressl [SPD]: Nicht anonym und nicht nur für eine Gruppe!) Real waren es sogar nur 15 Prozent. Wir haben jetzt bis zu 34 Prozent; das ist mehr als doppelt so viel. Aus allem, was wir wissen, ist dies das Maximale, das in diesen Verhandlungen zu erzielen war. Zudem haben wir jetzt erstmals die Möglichkeit, Kontoverbindungen einzelner Steuerpflichtiger in der Schweiz abzufragen. Mit diesem Abkommen ist die Steuerflucht in die Schweiz faktisch beendet. Sie in der SPD können sich – dafür habe ich sogar Verständnis – durchaus ärgern, dass Ihr größter Finanzminister aller Zeiten das alles nicht zustande bekommen hat. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Seine Backen aufbläst!) Aber wenn Sie dieses Abkommen mit der Schweiz hier im Bundestag und auch im Bundesrat tatsächlich blockieren wollen, dann sind Sie in der Opposition dafür verantwortlich, dass dem Bund, den Ländern und den Kommunen Milliarden Steuereinnahmen durch die Lappen gehen (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Milliarden!) und dass die Steuerflucht in die Schweiz nicht beendet wird. Deshalb überlegen Sie es sich gut, ob Sie wirklich auf Blockade setzen wollen. Ich glaube, zum Wohle unseres Landes, (Nicolette Kressl [SPD]: Ach nee!) zum Wohle der ehrlichen Steuerzahler ist es angezeigt, ehrlich zu sein und zu sagen: Wir können diesem Abkommen zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für den Bundesrat hat der Landesminister Norbert Walter-Borjans jetzt das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Absicht mag gut gewesen sein; dies bestreite ich nicht. Wir brauchen ein Abkommen zwischen guten Nachbarn, das sicherstellt, dass sich keiner dieser Nachbarn zur Fluchtburg für die Zechpreller beim anderen macht. Aber das Verfahren, lieber Herr Schäuble, sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, wie dieses Abkommen zustande gekommen ist, und die Ergebnisse, die wir nach Monaten der Geheimniskrämerei seit einer Woche auf dem Tisch haben, sind kein Ruhmesblatt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich war ein bisschen überrascht, als ich eben von Herrn Wissing hörte, wie er beschrieb, dass sich jeder, der die Verhandlungen geführt und begleitet hat, gewundert hat. Nach dem, was Sie anschließend gesagt haben, war mir jedenfalls klar, dass auch Sie sie nicht begleitet haben; denn es ist uns genauso ergangen. Wir haben schlicht und ergreifend keinen Einblick haben können. Das finde ich deshalb so wichtig, weil Länder und Gemeinden nicht nur zur Hälfte die Leidtragenden der Steuerflucht sind. Denken wir bitte auch einmal daran, wie viele Guthaben seit vielen Jahren auf diesen Konten liegen, bei denen auch Erbschaftsteuer angefallen wäre. Das betrifft definitiv die Länder und die Gemeinden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Der Finanzausschuss des Bundestages hat sich damit beschäftigt! Ich dachte, der Bundesrat hätte sich auch dafür interessiert!) Der Argwohn, den die Abschottung der Verhandlungen bei uns geweckt hat, ist durch das Ergebnis mehr als bestätigt worden. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sagt er auch mal etwas zur Sache?) Dazu muss man sich nicht erst – aber das ist vielleicht auch ganz hilfreich – die erhellenden Ratschläge, die im Moment auf den Internetseiten der Schweizerischen Bankiervereinigung gegeben werden, vor Augen führen. Für die Anleger klingen sie ganz beruhigend. Dort heißt es, die Anleger müssten sich keine Sorgen machen, sie könnten ihr Geld ja noch in Sicherheit bringen, (Nicolette Kressl [SPD]: Ja!) die steuerliche Belastung werde nicht zu hoch etc. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ach! Das ist doch Unfug!) Man muss also zu dem Ergebnis kommen: Hier ist nicht nur der Bund über den Tisch gezogen worden, sondern auch die Länder und Gemeinden und vor allem die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie viel nehmen denn die Länder und Gemeinden bisher ein?) – Zu dem Spatz in der Hand komme ich noch. Es geht nicht um einen Konflikt – das möchte ich an dieser Stelle sehr deutlich machen – zwischen Deutschen und Schweizern; (Nicolette Kressl [SPD]: Ja!) diese Beschreibung wird gerne bemüht, um dem Ganzen eine gewisse Dramatik zu verleihen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Richtig!) Es geht um deutsche Steuerbetrüger und Schweizer Helfershelfer auf der einen Seite, und es geht um ehrliche Menschen in der Schweiz und in Deutschland auf der anderen Seite, die für Infrastruktur, Bildung und Sicherheit Steuern zahlen. Durch ein solches Abkommen müssen sich diese Menschen verhohnepiepelt fühlen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Ehrlichen in diesem ganzen Spiel werden ja doppelt getroffen: Sie müssen zum einen die eigene Zeche zahlen, und sie müssen zum anderen mit für die Kredite aufkommen, die wir aufnehmen müssen, weil wir nicht genug Steuern einnehmen, um auf Kredite verzichten zu können. Dadurch entgeht uns übrigens auch ein Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wir nehmen doch jetzt Steuern ein! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was haben Sie denn bisher eingenommen?) – Wir erzielen nicht die Steuereinnahmen, die wir erzielen müssten. Ich komme noch darauf zu sprechen, was das in Heller und Cent ausmacht. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie ist denn die Entwicklung von vorher zu jetzt?) – Augenblick! (Zuruf von der LINKEN: Man muss nicht immer den kleinsten Spatz nehmen!) Wir stellen momentan fest, dass zunehmend mehr Menschen, und zwar Angehörige aller Einkommensklassen, Bereitschaft erkennen lassen, eine entsprechende Steuerlast zu tragen, (Nicolette Kressl [SPD]: Ja!) weil sie wissen, dass Leistungen, auch Leistungen des Staates, ihren Preis haben. Für diese Menschen ist das Abkommen ein Schlag ins Gesicht. Das Wichtigste zum Steuerabkommen ist schnell gesagt: Die Kontrolle von morgen obliegt den Tätern und Mittätern von gestern; (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das ist der erste Punkt. Jedenfalls – das soll kein Misstrauen in die Schweiz zum Ausdruck bringen – ist mein Vertrauen in einige Schweizer Banken und einige Verantwortliche bei der Schweizer Bankenaufsicht, (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) die jetzt die Kontrolle übernehmen und sie sicherstellen – ich formuliere es einmal so – begrenzt. Hier wird ein Stück weit der Bock zum Gärtner gemacht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Joachim Poß [SPD]: So ist es! Nichts anderes haben wir gesagt! – Zuruf von der FDP: Mein Gott!) Sie haben eben gesagt, dass alles nachgeprüft werden kann. Die Zahl möglicher Nachprüfungen ist auf 999 innerhalb von zwei Jahren begrenzt, nachdem eine paritätisch besetzte deutsch-schweizerische Kommission die Zulässigkeit der Nachprüfungen überprüft hat. (Joachim Poß [SPD]: Ein tolles Ergebnis! Mein lieber Mann!) Ich sage Ihnen: Allein durch den von uns getätigten Ankauf von CDs kam es zu über 6 000 Selbstanzeigen. (Nicolette Kressl [SPD]: Ja!) Ich frage mich, wie durch höchstens 999 Nachprüfungen in zwei Jahren, die man erst noch durchboxen muss, gewährleistet werden soll, dass man einem Verdacht, ob alles seine Richtigkeit hat, nachgehen kann. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Hinzu kommt: Wer beim Hinterziehen geholfen hat, bleibt künftig genauso straffrei wie der, der hinterzogen hat. Die Schweizer Bankangestellten aber, die beim Aufdecken der Steuerhinterziehung geholfen haben, werden weiter verfolgt. (Nicolette Kressl [SPD]: Ja! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nein! Eben nicht!) Gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstößt aus meiner Sicht, dass man, was die Wiedergutmachung in krassesten Fällen betrifft, weit hinter dem zurückbleibt, was ein ehrlicher Steuerzahler hätte zahlen müssen. (Nicolette Kressl [SPD]: Genau!) Sie haben eben darauf hingewiesen: Es gibt mehrere Optionen, sich zu verhalten. Wenn ich mit einer Selbstanzeige besser wegkomme, dann zeige ich mich selbst an. Wenn ich mich aber der Hinterziehung der Erbschaftsteuer in erheblichem Umfang schuldig gemacht habe, indem ich beispielsweise Zinsen nicht versteuert habe, ist die Situation eine andere. Das heißt, je mehr man nicht angemeldet hat bzw. je weniger man versteuert hat, desto besser kommt man anschließend mit der pauschalen Bestrafung davon. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie kommt man denn ohne das Abkommen davon?) Es ist so: Je „schwärzer“ das angelegte Geld, desto lohnender ist der Betrug. Der nächste Punkt: Zwischen dem Wirksamwerden des Abkommens und dem Zugriff gibt es die Gelegenheit zur Kapitalflucht. Der Grund dafür ist die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Gefahr des Entdecktwerdens, etwa infolge eines Ankaufs von CDs, soll eingeschränkt oder unterbunden werden. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eine Einladung zur Steuerflucht!) Darüber hinaus finde ich die Behauptung, die anonyme Mitteilung der Schweizer Banken komme dem von der EU geforderten automatischen Informationsaustausch nahe, ziemlich grotesk. Das ist nicht der Fall. Noch einmal dazu, dass jeder Cent versteuert wird: Ja, wenn die anonyme Meldung tatsächlich umfassend erfolgt, dann werden die Zinsen demnächst so versteuert wie bei uns. Wenn es sich aber um ein Guthaben handelt, für das vorher keine Erbschaft- oder andere Steuer gezahlt wurde und das in die Schweiz gebracht worden ist, dann wird davon überhaupt nichts mehr bekannt. (Nicolette Kressl [SPD]: Lesen lohnt!) Nur die Zinsen darauf müssen so versteuert werden wie bei uns. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen sagen wir Nein zu dem bisher praktizierten Verfahren und zu dem Ergebnis. Wir – zumindest für die sozialdemokratisch regierten Länder im Bundesrat gilt das sicher – sagen aber eindeutig Ja dazu, dass die Durchsetzung von Recht und Gesetz durch ein Abkommen auf eine geordnete Grundlage gestellt werden muss. Das ist richtig. Ich finde es auch gut, dass die Schweiz zumindest anfängt, sich in diesem Punkt zu bewegen. Es wurde ja darüber gesprochen, wer hier Druck auf wen ausübt. Aus all den rechtfertigenden Äußerungen geht allerdings deutlich hervor, dass es hier auch einen erheblichen Druck der Schweiz auf die deutschen Verhandlungspartner gegeben hat, indem deutlich gemacht wurde, bei welchem Punkt das Ende der Fahnenstange erreicht ist und man den Raum verlässt. Wir sagen auch Ja dazu, dass man ein praktikables Verfahren finden muss. Das bedeutet auch, dass man an irgendeiner Stelle einen Schlussstrich ziehen muss. Allerdings darf er nicht so gezogen werden, dass sich der Betrug gelohnt hat. Es sollte immer noch gelten, dass man, wenn man etwas hinterzogen hat, am Ende ein Stück mehr bezahlen muss als derjenige, der sich von vornherein gesetzeskonform verhalten hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) Die Kontrolle darf nicht vereitelt werden – auch nicht durch eine Zahl oder eine Kommission. Die USA haben da in der Tat, zumindest bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, einen anderen Standard angelegt. Dass die Schweiz sagt, darauf werde sie nicht eingehen, das würde ich dem anderen Verhandlungspartner gegenüber auch sagen. Wollen wir aber einmal sehen, wie es ausgeht. Wir sind schließlich hiermit auch dabei, Präzedenzfälle für Österreich, Luxemburg und Liechtenstein zu schaffen. (Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Nicolette Kressl [SPD]: Kann man nachlesen!) Somit ist mit einem solchen Abkommen auch die Verantwortung verbunden, nicht die Preise für etwas zu verderben, was anschließend erreicht werden muss. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ein echtes Interesse der Schweizer Banken an der Verhinderung eines Transfers unversteuerter Gelder in Drittstaaten kann man im Zweifel nur dann erzeugen, wenn die Vorableistungen, die die Banken erbringen müssen, deutlich höher ausfallen. Ich höre – ich weiß nicht, ob es zutreffend ist –, dass in den Verhandlungen auch einmal von 10 Milliarden Euro und nicht nur von 2 Milliarden Euro die Rede war. Es wird dann sicherlich auch einmal die Situation geben, dass man sagen kann, der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach. Dass wir das nicht unpragmatisch sehen, ist doch völlig klar. Das, was jetzt da ist, ist aber kein Spatz, sondern man hat eine Feder in der Hand. Aus diesem Grunde haben wir die dringende Bitte, Gespräche miteinander zu führen, anschließend aber natürlich auch von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, mit der Schweiz nachzuverhandeln, weil wir glauben, dass ein Nachverhandeln nötig ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Minister. Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen): Nachverhandeln ist auch möglich. Herr Kollege Schäuble, ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass Sie der eidgenössischen Regierung signalisieren, dass dieses Abkommen ohne eine deutliche Nachbesserung in Deutschland keine Mehrheit hat und dass ein Weiter-so, das die Schweiz dann vielleicht als Alternative androhen würde, mit uns nicht zu machen ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Birgit Reinemund hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Birgit Reinemund (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Borjans, als Vorsitzende des Finanzausschusses darf ich Ihnen bestätigen, dass der Finanzausschuss die Verhandlungen kontinuierlich begleitet hat (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: Was? – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon reden Sie? – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Frau Vorsitzende!) und dass er mit einer Delegation in der Schweiz vor Ort war. Wenn es so sein sollte, dass sich der Bundesrat nicht eingebracht hat, finde ich das sehr peinlich. Es war schon überraschend, das hier so deutlich zu hören. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In dieser Aktuellen Stunde deutet sich ganz leicht an, dass die SPD-geführten Bundesländer das Abkommen mit der Schweiz im Bundesrat tatsächlich blockieren wollen. Ich bin schon gespannt, wie Sie das den Menschen erklären wollen. Überzeugend war das bis jetzt nicht; denn ich habe noch immer nicht verstanden, ob kein Abkommen besser oder schlechter als dieses Abkommen ist, über das wir heute sprechen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Geht ja auch gar nicht; denn wir diskutieren heute das erste Mal darüber!) 2003 hat Ihr Finanzminister Hans Eichel, meine Damen und Herren von der SPD, verzweifelt versucht, mit einer wie ein Ablasshandel ausgestalteten Steueramnestie Geld deutscher Steuerflüchtlinge zurückzuholen. Er hatte vollmundig von 5 Milliarden Euro gesprochen. Am Schluss sind schlappe 1,2 Milliarden Euro herausgekommen. Noch weniger Erfolg hatte die plumpe Drohung seines Nachfolgers Steinbrück mit der Kavallerie. Außer Irritationen beim Nachbarn ist dabei Nullkommanichts herausgekommen. Es sollte immer – das galt auch für die Vergangenheit – weitgehend Rechtsfrieden erreicht werden. Genau das ist auch unser Ziel mit dem aktuellen Abkommen. Dieser Bundesregierung und diesem Finanzminister ist gelungen, was die SPD-Finanzminister während der letzten zehn Jahre nicht zustande gebracht haben. (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das alles hören wir gerade zum ersten Mal! Sauber!) – Ihren Frust, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, kann ich gut verstehen. Ist das der Grund, dass Sie heute auf Blockade umsteigen wollen? Zum Beispiel sagte der nordrhein-westfälische Finanzminister Borjans in der Presse voller Empörung, dass schwerreiche Straftäter viel zu billig davonkommen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So ist es! – Nicolette Kressl [SPD]: Zu Recht!) – Na ja, ist denn zu billig deutlich mehr als null? Oder ist es das, was Sie bisher erreicht haben? Ohne das Abkommen bleibt alles kostenfrei. Richtig ist: Steuersünder können künftig nachversteuern (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Machen sie aber nicht!) oder sich über eine Selbstanzeige steuerehrlich machen. Geld aus Straftaten – das geht über das Steuerrecht hinaus – wie zum Beispiel Drogengeld, Geld aus Geldwäsche usw. ist vom Schutz der Anonymität explizit ausgenommen. Kollegin Kressl und Herr Poß, beide SPD, fordern, das Abkommen zurückzuziehen. Ja, wunderbar, dann passiert in den nächsten Jahren in dieser Angelegenheit überhaupt nichts mehr. (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht wahr!) Dann bleiben wir beim Status quo; denn dies ist eine digitale Entscheidung: Ja oder Nein, Zustimmung oder Ablehnung. Nachverhandeln geht einfach nicht. Mit internationalen Verträgen kann auch der Vermittlungsausschuss nicht befasst werden. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Ihr Problem!) Das wissen Sie ganz genau. Trotzdem gaukeln Sie den Menschen vor, dass es hier noch Verhandlungsmasse gebe, um den Preis hochzutreiben oder die Wahrung des Bankgeheimnisses, das in der Schweiz sehr wichtig ist, auszuhebeln. Ich nenne das: Die Leute hinters Licht führen. (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU) Das jetzt unterschriebene Abkommen ist das Ergebnis langer bilateraler Verhandlungen, ein Kompromiss zwischen den Interessen zweier souveräner Staaten. Mehr geht an diesem Punkt nicht. Auch die Schweiz ist nicht nur glücklich damit. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das? Waren Sie dabei?) Ohne dieses Abkommen wird über Jahre hinweg gar nichts mehr passieren. Das heißt, dass die bestehenden Steuerforderungen kontinuierlich verjähren würden. Wie passt das mit dem von Ihnen viel beschworenen Gerechtigkeitsempfinden zusammen? Mit diesem Abkommen haben wir enorm viel erreicht. Steuerflucht in die Schweiz wird deutlich erschwert. Durch einen Informationsaustausch wird es nicht mehr nötig sein, zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug illegal beschaffte Daten auf CDs zu kaufen. Diese rechtliche Grauzone entfällt. Für Inhaber von anonymen Konten in der Schweiz gibt es nur noch drei Möglichkeiten: anonym nachversteuern, Selbstanzeige machen oder das Konto schließen. Wenn nach Unterzeichnung des Abkommens Geld aus der Schweiz abgezogen wird, meldet die Schweiz, wohin. (Nicolette Kressl [SPD]: Pauschal für alle abgezogenen Gelder!) – Sie sind gleich dran, Frau Kressl. (Nicolette Kressl [SPD]: Falsche Sachen kann man doch nicht erzählen!) Deutschland erhält Steuernachzahlungen auf Altvermögen. Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar mit einer Abgeltungsteuer in Höhe von 26,3 Prozent belegt. Das entspricht dem in Deutschland geltenden Abgeltungsteuersatz inklusive Solidaritätszuschlag. Das ist also eine Eins-zu-eins-Besteuerung. Wir rechnen einmalig mit einem Betrag in Höhe von circa 10 Milliarden Euro und in der Folge mit rund 1,6 Milliarden Euro jährlich. Davon profitieren Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen. Wie wollen Sie den klammen Kommunen erklären, dass Sie über Jahre hinweg großzügig darauf verzichten wollen? Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wird mit diesem Abkommen ein weiterer Riegel vorgeschoben. Herr Steinbrück hat heute Morgen in diesem Haus gesagt: Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ist ein Beitrag zur Stabilität des Haushalts und ein Beitrag zur Stabilität Europas. Mehr braucht man dazu eigentlich nicht zu sagen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Martin Gerster (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin, ehrlich gesagt, noch immer fassungslos über die Redebeiträge vonseiten der FDP-Fraktion. Frau Dr. Reinemund, dass wir im Finanzausschuss die Chance gehabt haben sollen, die Verhandlungen mit der Schweiz kontinuierlich und intensiv zu begleiten, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) dazu muss ich sagen: Das ist überhaupt nicht wahr! Wir hatten doch überhaupt keine Chance, diese Verhandlungen zu begleiten. Sie haben das im stillen Kämmerlein mit sich selbst ausgemacht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der FDP) Ich kann noch sagen, Frau Dr. Reinemund: Bei Ihnen drücke ich ein Auge zu; (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist lieb!) denn Sie sind schließlich neu im Bundestag, das ist Ihre erste Wahlperiode. Aber, Herr Wissing, das hier ist Ihre dritte Wahlperiode. Darüber, dass Sie sich mit Ihrer Erfahrung hier hinstellen und erklären, dass unter den SPD-Finanzministern in diesem Punkt überhaupt nichts passiert ist, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist richtig!) bin ich fassungslos. Wo waren Sie denn all die Jahre hier im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages? Es waren SPD-Finanzminister, die sich dieses Themas angenommen haben: Hans Eichel hat das Thema Zinsrichtlinie engagiert vorangebracht. (Beifall bei der SPD) Es war der Finanzminister Peer Steinbrück, der auf die OECD-Standards hingewiesen hat und zusammen mit den Franzosen das Londoner Kommuniqué durchgedrückt hat. (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP) Auch hat er erreicht, dass die Schweiz auf die Schwarze Liste kam. Das war doch der Ausgangspunkt des Ganzen. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Heiße Luft!) Was Sie hier letztendlich bringen, ist gar nichts. Man muss Ihnen zugutehalten: Ihre Position beim Thema Steuerhinterziehung ist konsequent. Die Frage ist nur: Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Das ist ja der Punkt. (Beifall bei der SPD) Herr Wissing, kein einziges Mal haben Sie das Wort „Steuerhinterziehung“ überhaupt in den Mund genommen. Um dieses Thema geht es hier aber. (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Herr Wissing kennt keine Steuerflüchtlinge!) Schauen wir einmal, was Sie gemacht haben und wofür Sie die Verantwortung tragen. Welche Landesregierung hat sich denn geweigert, eine CD mit Daten von Steuerhinterziehern zu kaufen? Das war die schwarz-gelbe Landesregierung von Baden-Württemberg. Abgewählt worden sind Sie dafür. (Beifall bei der SPD) Wer hat denn dafür gesorgt, dass die strafbefreiende Selbstanzeige weiterhin gilt? Das waren Sie! Wir wollten sie abschaffen. Aber Sie waren dagegen. Ich muss sagen: Dieses Steuerabkommen mit der Schweiz ist wirklich der Gipfel. Die Schweiz ist zwar ein Alpenland, das ist klar. Aber das, was jetzt auf dem Tisch liegt, ist wirklich der Gipfel. Man muss ganz klar sagen, dass sich die Schweizer darüber freuen. Ein Blick in die Schweizer Medien bestätigt diese Vermutung. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb schon am 16. August dieses Jahres – ich darf zitieren –: Das ist wohl das grösste Plus: Der Schweizer Seite ist es gelungen, die Interessen der Kunden in unerwartet hohem Mass zu schützen. Darüber freuen sich die Schweizer. Aber die Frage ist doch: Was sind denn die Interessen der Kunden? Wer sind denn diese Kunden überhaupt? Das sind Steuerhinterzieher. Das sind Steuerbetrüger. Das sind Steuerkriminelle. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deswegen muss man sich fragen: Was ist denn das für ein Lob, welches die Neue Zürcher Zeitung der Schweizer Regierung ausstellt? Das ist ein Armutszeugnis für Ihr Verhandlungsergebnis in Bezug auf dieses Abkommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Letztendlich muss man sagen: In Zukunft wird sich ein Steuerbetrüger entscheiden können: Eine Möglichkeit ist die strafbefreiende Selbstanzeige. Wir wollten sie abschaffen – ich habe es erwähnt –; Sie waren dagegen. Jetzt gibt es eine neue Variante: Es besteht die Möglichkeit, die Abgeltungsregelung zu wählen und weiterhin anonym zu bleiben. Es ist aus meiner Sicht ein Skandal, dass wir diesen kriminellen Menschen, die uns Gelder vorenthalten, die uns gehören und die für Investitionen in Bildung und Verkehr wichtig wären, zusichern, gegen Zahlung anonym zu bleiben. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Was schlagen Sie denn vor?) Das ist schwarz-gelbe Steuerpolitik. Das ist Ablasshandel pur, was hier gemacht wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen muss ich sagen: Was mich an dieser ganzen Debatte stört, ist, dass man von einer „Steuersünde“ spricht. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber selber von Ablasshandel reden!) Hier wird doch keine Sünde begangen, sondern hier handelt es sich um ein ganz gezieltes Kalkül, am deutschen Finanzamt und damit auch an uns allen vorbei Geld in die Schweiz zu transferieren. Das ist ein Betrug an unserer Gesellschaft insgesamt. Der von Ihnen vorgelegte Entwurf für ein Steuerabkommen mit der Schweiz ist und bleibt ein Schlag ins Gesicht aller ehrlichen Steuerzahler. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was passiert, wenn Sie es ablehnen?) In der FAZ vom 27. September war zu lesen, zu welchem Ergebnis Experten gekommen sind, die die Folgen Ihres Abkommens noch einmal genau durchgerechnet haben. Das Ergebnis war: Je dreister und konsequenter die Steuerhinterziehung in Richtung Schweiz, desto mehr profitieren die Betrüger von Ihrem Abkommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab. Wir werden im Bundestag und zusammen mit den SPD-geführten Bundesländern dafür sorgen, dass es nicht in der vorgesehenen Form durchkommt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Aumer (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD, ein konstruktiver Beitrag waren Ihre Debattenbeiträge in dieser Aktuellen Stunde sicherlich nicht. (Joachim Poß [SPD]: Wir haben Ihnen wehgetan! – Nicolette Kressl [SPD]: Vielleicht haben Sie ja angefangen, nachzudenken! – Weitere Zurufe von der SPD) Sie haben gefragt, auf welcher Seite wir stehen, Herr Gerster. Wir stehen auf der Seite der Steuergerechtigkeit. Das war das Ziel des Bundesfinanzministers in den Verhandlungen. (Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch vorhin bei einigen Beiträgen auch so nachdenklich ausgeschaut!) Verhandlungen heißt: Es gibt zwei Seiten, zum einen die Schweiz und zum anderen die Bundesrepublik Deutschland, und man muss eine Einigung finden, um das zu richten, was in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen ist. Das ist weder Ihrem noch unserem Finanzminister bisher gelungen. (Nicolette Kressl [SPD]: Blödsinn!) Man sollte in dieser Debatte zur Kenntnis nehmen, dass wir einen Vorschlag vorgelegt haben, zu dem die Schweiz ihr Einverständnis gibt, und zu dem der Bundestag und hoffentlich auch die Bundesländer ihr Einverständnis geben, damit man endlich für Steuergerechtigkeit sorgen kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, es ist das Ziel all derjenigen in diesem Haus, dass wir die grundsätzlichen Besteuerungsmerkmale einhalten. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist das Ziel, das, glaube ich, uns alle in diesem Hohen Hause verbindet. Der Streit mit der Schweiz hat, wie gesagt, jahrzehntelang angehalten. Wir haben jetzt ein Ergebnis erzielt, das so nicht absehbar war. Aber jetzt tönen Sie, meine Damen und Herren der SPD bzw. Ihr ehemaliger Bundesfinanzminister, laut in den Medien: Lieber kein neues Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz als diesen Entwurf. (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist gar kein Doppelbesteuerungsabkommen! – Joachim Poß [SPD]: Es ist ein Abkommen, aber kein Doppelbesteuerungsabkommen!) – Das war ein Zitat, Herr Poß. Dann hat das Ihr ehemaliger Bundesfinanzminister in der Zeit falsch dargestellt. – Das kann nicht sein. Das Abkommen ist ein guter Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit. Was Gegenwart und Zukunft angeht, ist die Besteuerung in unserem Land gleichgestellt. Für die Vergangenheit haben wir aus meiner Sicht einen tragfähigen Kompromiss gefunden. Ich habe in der letzten Woche im Handelsblatt ein schönes Zitat von Torsten Riecke zur Bewertung des vereinbarten Abkommens gelesen: „Ein Kassenwart, der da nicht zugreift, wäre ein Dummkopf.“ Ich gebe ihm recht. Man muss Verhandlungsergebnisse akzeptieren. Herr Borjans, ich verstehe nicht, dass sich die Länder dieses Ergebnis nicht zu eigen machen. Ich glaube, es ist ein guter Weg in die Zukunft, dass wir diese möglichen Steuereinnahmen auch realisieren. (Nicolette Kressl [SPD]: Darum geht‘s! Es geht um Rauskaufen!) – Es geht nicht um „Rauskaufen“. Wir diskutieren um einen Punkt, nämlich Steuergerechtigkeit. Die große Frage ist ja: Was würde passieren, wenn dieses Steuerabkommen nicht zustande kommt? Können Sie uns garantieren, dass wir ein besseres Abkommen bekommen als das bisherige, Frau Kressl? Dann könnte man sicherlich noch einmal in die Verhandlungen einsteigen. Ich glaube aber, dass kein besserer Kompromiss als der, den wir jetzt gefunden haben, möglich ist. Darum bitte ich Sie und auch die Bundesländer, diesem Kompromiss zuzustimmen, mit dem man nach Jahren und Jahrzehnten ungelöster steuerlicher Streitigkeiten endlich einen Kompromiss zur Sicherstellung einer effektiven Besteuerung für die Zukunft gefunden hat. Ich glaube, der Bundesfinanzminister hat die Einzelheiten des Abkommens ausführlich dargelegt. Deswegen möchte ich nicht mehr darauf eingehen. (Zuruf von der SPD: Wir machen es!) – Meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD, Sie machen das nicht wirklich. Man sollte die Tatsachen immer klar und korrekt darstellen. Wenn man die ganzen Debatten auf Ihrer Seite verfolgt, dann zeigt sich ein gewisses Verdrehen der Tatsachen und Wirklichkeiten. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Linken haben das Abkommen nicht ganz verstanden. (Lachen bei der LINKEN) Die Brücke zur Ehrlichkeit ist auch ein Beitrag zu der tragfähigen Lösung für die Besteuerung, die wir für die Zukunft gefunden haben, und zu mehr Steuergerechtigkeit. Das ist ja Ihr Ziel, meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD. Deswegen haben Sie die heutige Aktuelle Stunde ja beantragt. Unser Ziel als christlich-liberale Koalition ist, dass jeder seinen Beitrag leistet, unser Staatswesen zu finanzieren. Deswegen bitte ich Sie und auch die von Ihnen geführten Bundesländer, dieses Abkommen mit zu unterstützen und diesen Weg gemeinsam mit uns zu gehen. Damit ist ein tragfähiger Kompromiss gefunden worden, der in eine gute Zukunft führt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Gerade war von Verdrehung der Tatsachen die Rede. Frau Reinemund hat gesagt, der Finanzausschuss habe diesen Prozess kontinuierlich begleitet. Wenn das wahr ist, dann handelt es sich auch um ein gutes Abkommen. Unter dieser Bedingung müsste man das tatsächlich so beurteilen. In Wahrheit haben die Beamten gut verhandelt. Aber die, die es politisch zu verantworten haben, haben eine riesige Chance vertan; denn mithilfe des Parlaments wäre die Verhandlungsmacht um Potenzen stärker gewesen. Man hätte durch eine parlamentarische Begleitung viel mehr erreichen können. Aber auf eine solche Begleitung hat man aus lauter Geheimniskrämerei verzichtet. Das war ein ganz schwerwiegender Fehler. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will ein Wort zur Vergangenheit sagen. Es wurde oft auf die letzten zehn Jahre verwiesen. Vor drei, vier Jahren hatten wir eine Krise. Es musste gehandelt werden. Was passierte? Konjunkturprogramm I und Konjunkturprogramm II wurden aufgelegt, es gab eine großzügige Regelung zur Kurzarbeit. Und in den letzten zwei Jahren hatten wir einen ganz guten Aufschwung zu verzeichnen. Das Wachstum war recht ordentlich. Die Arbeitslosigkeit sank. Was passiert nun? Ganz langsam beginnt die Politik der schwarz-gelben Regierung in den letzten zwei Jahren zu wirken. Die Wachstumserwartungen trüben sich ein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Arbeitslosenzahlen sinken! Ganz genau!) Die Dynamik der Wirtschaft lässt nach. Genau hier besteht der Konnex zur Vergangenheit: Ein anderes Verhandlungsergebnis wäre auf einer anderen Grundlage möglich gewesen. Ich erinnere Sie nur an das Engagement von Frankreich, den USA, der OECD und Deutschlands zur Zeit der Großen Koalition. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück hat, aufbauend auf der Zinsrichtlinie sowie einer schwarzen und einer grauen Liste, überhaupt erst die Basis für Überlegungen gelegt, die Sie jetzt für sich reklamieren. (Beifall bei der SPD) Aber mit dieser Basis sind Sie so schlecht umgegangen, dass einem angst und bange werden muss. Es war nämlich die FDP, die die betreffenden Länder permanent durch Leisetreterei hofiert hat und allergrößtes Verständnis für das Bankgeheimnis (Nicolette Kressl [SPD]: Genau!) und alles andere, das Steuerhinterziehern das Leben international erleichtert, aufgebracht hat. (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Genau, Spezialisten!) Wir erkennen, dass sich die Führungsschwäche in den Verhandlungen auf europäischer Ebene – das zeichnet sich an ganz vielen Fronten ab – in dem nun vorliegenden Abkommen widerspiegelt. Das zwischenstaatliche Abkommen zu bisher unversteuerten Kapitalerträgen zeitigt nicht das Ergebnis, das Sie hier vortragen. Frau Reinemund hat gesagt, die Schweiz zeige doch an, was passiert. Ich frage Sie: Zeigt die Schweiz uns an, wer welchen Betrag anlegt? (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Und die Schuhgröße!) – Sie sagen „die Schuhgröße“. Daran sehe ich genau, dass Sie überhaupt nicht kapieren, warum wir nicht erfahren, was dort passiert. – Das Problem ist, dass anonym bleibt, wer was zu welcher Zeit in welcher Höhe nachzuversteuern hat. Das wäre genauso, als wenn ein Arbeitnehmer morgens zum Finanzamt geht und sagt: Ich versichere Ihnen, dass ich diesen Monat nur 97 Euro zu versteuern habe. Jetzt glauben Sie es mir doch endlich! – Nein, wir machen den Bock zum Gärtner. Das ist ein riesengroßes Problem. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der Schweiz gibt es Geschäftsmodelle, die ausweislich der entsprechenden Prospekte auf Vertrauen, Vertraulichkeit, Seriosität und Schutz der Privatsphäre beruhen. Genau das bleibt erhalten. Der Kollege, der vorhin aus der NZZ zitiert hat, hat es auf den Punkt gebracht: Die Schweizer jubilieren, weil Vertraulichkeit gegenüber allen weiterhin erhalten werden kann. Niemand fühlt sich erwischt. Steuerhinterziehung bleibt weiterhin möglich und ist nur eine Ordnungswidrigkeit. Hier gibt es einen großen Unterschied in der Rechtsauffassung zwischen der Schweiz und Deutschland. Es soll durch eine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge aus Vermögen jede weitere Zahlungspflicht abgegolten werden. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Was bitte? Wo?) Damit wird Steuerhinterziehung verschleiert und als Delikt endgültig beendet. Das ist das eigentliche Problem. (Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) Das politische Desaster besteht aber in etwas ganz anderem. Die Österreicher sagen jetzt zu Recht: Das ist ein wunderbarer Präzedenzfall; so etwas wollen wir auch haben. Die Luxemburger sagen: Toll, so ein schönes Abkommen wie das mit der Schweiz schließen wir auch ab. – Sie merken, was nun passiert: Wir haben eine moralische Abwärtsspirale in Europa, und Sie haben den ersten Schritt zur Errichtung dieser Spirale getan. Wenn wir diesen Vertrag nicht stoppen, wird das zu einem ganz großen Problem führen; denn die öffentlichen Aufgaben müssen steuerfinanziert sein. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn Sie ihn stoppen, kriegen Sie gar nichts!) Die fairen Steuerzahler – deshalb ist die Aktuelle Stunde so wichtig – bekommen das Signal, dass es sich auch künftig lohnt, fair und korrekt Steuern zu bezahlen. Wir zumindest reden der Steuerhinterziehung nicht das Wort, auch nicht in internationalen Verträgen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist alles falsch, Herr Binding!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bettina Kudla (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich ein Wort an die Adresse des Finanzministers von Nordrhein-Westfalen richten, der uns gründlich belehrt hat. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Zu Recht! Das war nötig!) Herr Minister, wer Milliarden von Steuereinnahmen als „Feder“ bezeichnet, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er einen nicht verfassungskonformen Landeshaushalt hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: So billig!) Das Abkommen mit der Schweiz ist sehr gut, und es ist im Interesse der Bürger. (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist ja unglaublich!) Warum? Es sichert Einnahmen für den Staat, und das auf Jahre hin und kontinuierlich. Es schafft mehr Steuergerechtigkeit. Warum sollen die Bürger, die ihr Geld in der Schweiz anlegen, keine Steuern zahlen? Das ist ein Problem seit Jahrzehnten. Bei diesem Problem schafft das Abkommen nun Abhilfe. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na! Wenn es denn so wäre!) Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Opposition dieses Gesetz blockieren will. Ich darf Sie bitten, sehr kritisch zu hinterfragen, ob man überhaupt verantworten kann, dass diese Einnahmen dem Staat entgehen. Ich verspreche mir aber noch einiges andere von diesem Abkommen. Ich verspreche mir auch etwas mehr Analyse, warum die Bürger Steuern hinterziehen und warum sie ihr Geld nicht in Deutschland anlegen, sondern es ins Ausland schaffen. (Manfred Zöllmer [SPD]: Sagen Sie doch mal!) Ich denke, unser Ziel muss es sein, gute Rahmenbedingungen für unsere Bürger zu schaffen, damit sie ihr Geld im Inland anlegen. (Manfred Zöllmer [SPD]: Die Steuerhinterzieher?) Das gilt sowohl für Deutschland als auch für alle anderen europäischen Staaten. Ursache der Staatsschuldenkrise ist auch der hohe Kapitalexport. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was?) Gerade für Deutschland ist es ein Problem, dass die Anleger nicht in Deutschland investieren, sondern ihr Geld aus Renditegründen im Ausland anlegen. Ich denke, es sollte Ziel der Politik sein, dafür zu werben, dass die Bürger ihren eigenen jeweiligen Nationalstaat unterstützen, zu Einnahmen ihres eigenen Staates beitragen, der ihnen die demokratischen Freiheitsrechte sichert und ihnen eine attraktive Infrastruktur bietet. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wollen Sie die Steuerflucht jetzt rechtfertigen, oder wie?) – Nein, ich möchte sie nicht rechtfertigen, sondern (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Verständnis dafür erwecken!) ich möchte von einem plumpen Schwarz-Weiß-Denken, wie es die Opposition pflegt, wegkommen. Die Einnahmen sind im Hinblick auf die schwierigen öffentlichen Finanzen in Deutschland von ganz besonderer Bedeutung. Oberstes Ziel muss sein, die öffentlichen Haushalte weiter zu konsolidieren. Die SPD hatte zum Beispiel überhaupt keine Probleme damit, ständig neue Vorschläge vorzulegen, die den Bürger mehr belasten, obwohl sie genau weiß, dass mit einer Einnahmeerhöhung allein keine Konsolidierung der öffentlichen Finanzen möglich ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist aber wichtig, die bestehenden Gesetze umzusetzen. Dazu gehören mehr Steuergerechtigkeit und eine adäquate Besteuerung der Kapitaleinkünfte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Ja, warum machen Sie das dann nicht?) Ich denke, ein Grund dafür, dass Sie diese Aktuelle Stunde heute ziemlich aufgeregt beantragt haben, (Joachim Poß [SPD]: Das machen wir jetzt jede Woche mit Ihnen! Bis Sie was gelernt haben! – Gegenruf des Abg. Peter Aumer [CDU/ CSU]: Herr Poß, von Ihnen kann man doch nichts lernen!) lag auch darin, dass Sie von dem guten Ergebnis, das Finanzminister Schäuble erzielt hat, ein bisschen überrascht waren. (Joachim Poß [SPD]: Die Frage ist nur, was davon stimmt!) Ich meine, das Ergebnis ist vor dem Hintergrund der schwierigen Finanzprobleme, die momentan in Europa zu lösen sind, umso anerkennenswerter. Wir haben heute Vormittag den Rettungsschirm EFSF beschlossen. Ich finde es gut, dass die Bundesregierung sich nicht allein auf Euro-Themen konzentriert, sondern auch andere wichtige Finanzthemen in Deutschland angeht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nicolette Kressl hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Nicolette Kressl (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es besteht Anlass, zuerst noch etwas zu der „kontinuierlichen Begleitung“ im Finanzausschuss zu sagen, Frau Reinemund. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie waren doch bei jeder Sitzung dabei! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Alles, was vorlag, haben Sie bekommen!) Erster Punkt: Wir haben unter TOP 0 kontinuierlich beantragt, Informationen zu diesem Thema zu bekommen. Aber es gab immer nur den gleichen Satz: Wir haben Geheimhaltung vereinbart. Wir können Ihnen dazu nichts sagen, nicht einmal zum Zeitplan. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau so war das unter der Leitung des Ausschussvorsitzenden Wissing!) So sieht eine kontinuierliche parlamentarische Begleitung eigentlich nicht aus. Das kann man im Übrigen nachlesen. Zweiter Punkt: Der Herr Minister hat gerade gesagt, wir sollten einmal unvoreingenommen prüfen. Lassen wir doch einmal die Kanzlei Flick Gocke Schaumburg zu Wort kommen, die das unvoreingenommen geprüft hat, weil sie es im Grunde genommen nicht so schlecht findet. Ich zitiere: Einen echten steuerlichen Vorteil wird dagegen derjenige erzielen, der in den letzten zehn Jahren nicht nur versteuerte Einnahmen in Form von Kapitaleinkünften erzielt hat, sondern darüber hinaus in erheblichem Maße sein Konto mit weiteren Schwarzeinkünften wie nicht deklarierten Erbschaften oder Schenkungen, verschwiegenen Einkünften aus Gewerbebetrieb, Provisionen und Tantiemen gespeist hat. Er liegt dann maximal bei einer Belastung von unter 34 Prozent, während er bei einer Normalbesteuerung weit über 50 Prozent liegen würde. Wenn man so will, – so die Kanzlei – liegt hier eine Übervorteilung von Fällen schwerer Steuerhinterziehung vor, die nicht sachgerecht ist. Dies wirft gravierende verfassungsrechtliche Bedenken auf und wird die politische Durchsetzbarkeit erschweren. Wohl wahr, sagen wir! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte noch einmal etwas zu der „kontinuierlichen Begleitung“ sagen: Die herablassende Art, die schon vor einem Jahr vom Bundesfinanzminister in Interviews nachlesbar war nach dem Motto „Die Länder werden schon zustimmen. Sie werden überhaupt keine Probleme damit haben. Deswegen mache ich mir wegen der Durchsetzbarkeit keine Sorgen“, trägt wahrhaftig nicht zu einem fairen Umgang miteinander bei. (Beifall bei der SPD) Bei einer Entscheidung wie dieser, die weitreichende Konsequenzen hat, hätte ich erwartet, dass man konstruktiv miteinander redet, statt in Interviews verlauten zu lassen, dass die Bundesregierung die Länder schon irgendwie kriegen werde. Das entspricht nicht dem, wie man hier miteinander umgehen sollte. (Beifall bei der SPD) Nächster Punkt: Herr Minister Schäuble, Sie haben in Ihrer heutigen Rede kein einziges Wort zu den Vorwürfen und Analysen in den letzten Tagen gesagt, was die Frage angeht, inwieweit dieses Abkommen umgangen werden kann. Ich möchte Ihnen einmal den Text ein Stück weit zitieren: Schweizerische Zahlstellen werden künstliche Strukturen, bei denen sie wissen, – nicht vermuten – dass einziger oder hauptsächlicher Zweck – nicht ein nebengeordneter Zweck, sondern der einzige oder hauptsächliche Zweck – die Umgehung der Besteuerung … ist, weder selber verwalten noch deren Verwendung unterstützen. Ich brauche das nur durchzulesen und könnte fünf Umgehungsmöglichkeiten daraus ableiten. Das Bündnis gegen Steuerhinterziehung hat Ihnen deutlich gemacht, welche Umgehungsmöglichkeiten darin stecken. Wenn Sie schon von uns einfordern, dass wir uns sachlich damit auseinandersetzen – was wir hiermit tun –, dann hätte ich erwartet, dass irgendeiner der Redner der Regierungsfraktionen bzw. die Regierung heute ein Wort zu diesen fachlich schwerwiegenden Bedenken sagt. Nichts haben Sie gesagt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie setzen sich nicht mit der fachlichen Seite auseinander. Das Einzige, was Sie in Ihrer Verzweiflung tun, ist, ein bisschen auf uns herumzuklopfen. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das war eine heftige Kritik an Herrn Poß!) Das ist absolut lächerlich. Mit Blick auf Europa halte ich folgenden Punkt für problematisch: Es ist nachzulesen, dass sich inzwischen Österreich und Luxemburg den Verhandlungen über eine Vertiefung der europäischen Zinsrichtlinie verweigern. Im Bericht des Bundesfinanzministeriums an den Finanzausschuss wird dieses Verhalten begründet: Diese beiden Länder wollen so behandelt werden wie die Schweiz, also Abgeltung und kein Informationsaustausch. Da sie aber ein entsprechendes Gefälle erwarten, verhandeln sie nicht über eine Erweiterung beim automatischen Informationsaustausch. Zu den national begründeten Einwänden kommt hinzu, dass Sie auf europäischer Ebene in diesem Bereich zum Bremser werden. Deutschland war unter Finanzminister Hans Eichel immer ein Initiator für Weiterentwicklungen auf diesem Feld. Er hat lange um die Zinsrichtlinie gekämpft. (Holger Krestel [FDP]: Er hat uns auch Griechenland geschenkt! Danke noch einmal!) Schließlich war er erfolgreich. Jetzt gehen wir aber mit diesem Abkommen einen großen Schritt zurück. Das sind Punkte, die Sie nicht klären können. Aufgrund unserer fachlichen Bedenken können wir dem Abkommen nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was haben wir dann?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende der Debatte macht es wahrscheinlich Sinn, noch einmal zu sagen, um was es überhaupt geht. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie es denn verstanden, Herr Brinkhaus?) Seit Jahrzehnten ist es so, dass Menschen aus Deutschland legal oder illegal erworbenes Geld in die Schweiz bringen und dieses Geld dort teilweise – auf diese Feststellung lege ich Wert; vorhin wurden viele ehrliche Bürger von Rednern der SPD diskreditiert – nicht der Steuer unterwerfen. Wir haben es, egal ob wir einen schwarzen oder einen roten Finanzminister hatten, nicht geschafft, dagegen etwas zu unternehmen. Was wäre das Beste gewesen? Das Beste wäre gewesen, wenn die Schweizer uns einfach alle Daten offengelegt hätten. Dann hätten wir ein ordentliches Besteuerungsverfahren einleiten können – nun denn. Die Schweizer haben gesagt, dass sie das nicht machen. Jetzt könnte man darauf in der Weise reagieren, dass man sich beleidigt zurückzieht und gar nichts macht. Man kann aber auch verhandeln. Genau das hat die Bundesregierung gemacht. Sie hat verhandelt, und sie hat ein Ergebnis erzielt. Über dieses Ergebnis kann man streiten. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) Um dieses Ergebnis zu bewerten und darüber zu streiten, sind wir im Übrigen hier. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch darauf hinweisen, dass das Vereinigte Königreich ein ähnliches Ergebnis erzielt hat. So schlecht, wie Sie behauptet haben, kann die Verhandlungsführung also nicht gewesen sein. Denn die Briten sind nicht unbedingt für ihre Großzügigkeit im Umgang mit Steuersündern bekannt. Am Ende dieser Debatte möchte ich noch drei Gedanken zu diesem Prozess ausführen. Erstens. Herr Poß, ich schätze Sie sonst eigentlich sehr. Aber was Sie heute gesagt haben – das gilt auch für andere Beiträge der Opposition –, war nicht sonderlich nett; denn in Ihrer Rede haben Sie den politischen Gegner diskreditiert. Es ist in Ordnung, dass man in einer Debatte das Ergebnis kritisiert. Aber es ist absolut nicht in Ordnung, zu behaupten, dem Verhandlungsprozess hätten unlautere Motive zugrunde gelegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir anfangen, so zu handeln, wie Sie, Herr Poß, und wie Herr Gerster und Frau Kressl es gemacht haben, dann fällt das auf uns alle zurück. Im Interesse der politischen Kultur in diesem Hause sollte man, auch wenn man das Ergebnis nicht teilt, anerkennen, dass das Verhandlungsteam vom Bundesfinanzministerium nach bestem Wissen und Gewissen versucht hat, ein gutes Ergebnis für die Bundesrepublik Deutschland zu erzielen. Das lasse ich mir nicht kaputtmachen. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Da bleibt allen das Klatschen im Halse stecken!) Zweitens. Wie gehen wir mit anderen Ländern um? Die Schweiz hat nicht unbedingt dazu beigetragen, die Steuerehrlichkeit in Deutschland zu erhöhen. Das muss man negativ bewerten; das ist überhaupt keine Frage. Aber man muss auch Folgendes bewerten: a) dass die Schweiz ein souveränes Land ist, b) dass die Schweiz in allen Fragen, die Deutschland betroffen haben, an unserer Seite gestanden hat und – um den historischen Bogen zu spannen – c) dass uns die Schweiz in Zeiten, in denen wir es eigentlich nicht verdient hatten, als Erste wieder die Hand gereicht hat. Dementsprechend halte ich es für unerträglich, wie man mit diesem Land umgeht und wie man es diskreditiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In der Politik in Deutschland hat eine bestimmte Einstellung Einzug gehalten: Wir, die wir momentan in einer Position der Stärke sind, meinen, dass wir es uns leisten können, anderen Ländern gute Ratschläge zu erteilen. Ich bin da sehr vorsichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es wird momentan sehr genau beobachtet, wie Deutschland mit seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Situation umgeht und wie Deutschland international auftritt. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Die Debatte hier hat nicht dazu beigetragen, das Vertrauen anderer Länder in die deutsche Politik zu stärken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dritter Punkt: die Frage nach der Gerechtigkeit. Wegen dieser Frage meinten Sie heute eine Aktuelle Stunde verlangen zu müssen, was mich, ehrlich gesagt, verwundert hat, und zwar deswegen, weil wir natürlich ein ganz normales Gesetzgebungsverfahren zu diesem Doppelbesteuerungsabkommen wie zu allen anderen Doppelbesteuerungsabkommen auch durchführen. Aber es schien im Sinne der Sozialdemokraten zu sein, eine gewisse Skandalisierung herbeizuführen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist ja ein Skandal!) Ich habe am Anfang meiner Rede ausgeführt, warum das nicht gut ist. Zur Frage der Gerechtigkeit: Ja, das Ganze ist eine Frage der Gerechtigkeit, ob diejenigen Menschen, die gegen Gesetze verstoßen haben, bestraft werden. Es ist aber auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob wir die Steuergelder einnehmen, die uns zustehen. Es ist im Übrigen eine Frage der Gerechtigkeit, ob es staatliches Handeln ist, Rechtsdurchsetzung mithilfe krimineller Elemente, Stichwort „Steuer-CD“, zur Regel zu machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) In der Abwägung der verschiedenen Gerechtigkeiten hat die Bundesregierung eine Entscheidung getroffen und einen Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag lautete ganz einfach: Uns ist es an dieser Stelle lieber, dass wir das Geld bekommen. Darüber kann man streiten. Aber wir sollten uns bitte nicht gegenseitig vorwerfen, wer von uns der Gerechtere unter der Sonne ist. Ich glaube nämlich nachhaltig, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben und dass wir ein gutes Ergebnis erzielt haben. Häme ist hier fehl am Platz. Angebracht ist im Grunde genommen Anerkennung für das, was wir geleistet haben. Ich freue mich auf eine sachliche Beratung dieses Gesetzesvorhabens im Finanzausschuss. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – Drucksache 17/6290 – – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – Drucksache 17/5895 – – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Daðdelen, Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts – Drucksache 17/5896 – – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – Drucksache 17/4694 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) – Drucksache 17/7069 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Gabriele Fograscher Dr. Stefan Ruppert Halina Wawzyniak Wolfgang Wieland – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 17/7070 – Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Herrmann Carsten Schneider (Erfurt) Florian Toncar Roland Claus Priska Hinz (Herborn) Es ist verabredet, hierzu eineinviertel Stunden zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen. Wir stimmen am Ende der Debatte namentlich ab. Als Erstem gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In zweiter und dritter Lesung beraten und beschließen wir heute die Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Das ist eine von einer ganzen Reihe von Debatten, in denen wir uns intensiv mit verschiedenen Lösungsansätzen auseinandergesetzt haben. Ich glaube, dabei ist für alle, die die Debatten verfolgt haben, deutlich geworden: Die Aufgabe, die uns das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nämlich die Beseitigung des negativen Stimmgewichts, ist kompliziert und anspruchsvoll gewesen. Durch den Gesetzentwurf der Koalition wird diese Aufgabe, das negative Stimmgewicht in realistischen, lebensnahen Wahlszenarien zu beseitigen, gelöst. Exakt das ist die Aufgabe gewesen, die uns das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung gestellt hat. Wir stellen damit sicher, dass es künftig nicht mehr vorkommen kann, dass eine Stimme, die man einer Partei gibt, sie im Ergebnis ein Mandat kostet. Es sollte in der Politik ohnehin die Regel sein, dass man erst einmal auf das Problem schaut und dann die Lösung möglichst problemadäquat ansetzt. Daher frage ich: Wie entsteht negatives Stimmgewicht? Es entsteht durch die Verbindung – das ist die erste Hauptursache – von Landeslisten über ein Wahlsystem bei gleichzeitiger – das ist die zweite Hauptursache – Existenz von Überhangmandaten. Eine dieser beiden Ursachen – keineswegs beide – muss nach der Aufgabenstellung des Verfassungsgerichts beseitigt werden. Unserer Auffassung nach sollten wir möglichst behutsam eingreifen. Wir sollten unser bewährtes Wahlsystem nicht sozusagen komplett wegkippen, sondern möglichst minimalinvasiv vorgehen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie aber nicht!) Das Bundesverfassungsgericht hat – das haben viele offenbar übersehen – ganz konkrete Vorschläge gemacht, wie man dieses Problem lösen kann. Einer dieser konkreten Vorschläge war beispielsweise, ein Grabenwahlrecht einzuführen. Danach gäbe es keine Anrechnungen mehr zwischen den Direktmandaten, den Erststimmen, und den Zweitstimmen, den Listenmandaten. Dadurch würde man das Phänomen der Überhangmandate komplett beseitigen, wie es wohl einige in diesem Hause unbedingt wollen. Dann gäbe es auch keine negativen Stimmgewichte mehr. Natürlich ist klar, dass gerade die Union bei ihrem guten Abschneiden in Wahlkreisen wegen ihrer bürgernahen Politik (Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) davon massiv profitieren würde. – Man muss sich nur einmal eine Landkarte anschauen, aus der hervorgeht, wer in welchen Wahlkreisen gewonnen hat. Das muss ja irgendeinen Grund haben. – Trotzdem haben wir als Union gerade das diesem Haus nicht vorgeschlagen, weil wir diese Regelung nicht für fair im Sinne aller Parteien halten, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ihr Vorschlag ist auch nicht fair!) weil wir eine Reform wollen, mit der alle Parteien – kleine und große Parteien, Parteien, die wenige Direktwahlkreise gewinnen, und solche, die viele Direktwahlkreise gewinnen – gut leben können und weil wir eine Regelung schaffen wollen, mit der wir uns nicht dem Verdacht aussetzen, manipulativ wirken zu wollen. Wir haben deswegen einen anderen, ebenfalls ausdrücklichen Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen, nämlich den Vorschlag des Zweiten Senats, aus der Listenverbindung eine Listentrennung zu machen. Das ist ein minimalinvasiver, kleiner Eingriff ins Wahlrecht, der im Kern darin besteht, einen einzigen Satz aus dem Bundeswahlgesetz zu streichen. Es ist in Ordnung, dass die Opposition in dieser Debatte immer wieder das Thema der Überhangmandate anspricht. Es ist aber nicht in Ordnung, ein politisch verfolgtes Ziel, nämlich die Bekämpfung der Überhangmandate, zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht hochzustilisieren. Das entspricht nicht der Entscheidung des Verfassungsgerichts. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten!) Das ist ein Missbrauch dieser Entscheidung. Man geht an dieser Stelle nicht fair mit dem Bundesverfassungsgericht um. Zumindest am Tag nach dem 60. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts sollten Sie mehr Respekt vor diesem Gericht haben. (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Uns haben Sie diesen Respekt wegen einer Fristüberschreitung abgesprochen. Wir haben diese Kritik angenommen. Sie sollten von uns die Kritik annehmen, dass Sie ein politisches Ziel verfolgen und es mit einer angeblich verfassungsgerichtlichen Aussage verbrämen. Das ist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen sich Mehrheiten verschaffen, die Sie beim Wähler nicht haben!) Das Verfassungsgericht hat zugleich gesagt, dass mit dem Lösungsansatz einer Listentrennung ein Folgeproblem verbunden ist. Das Gericht hat das Folgeproblem ausdrücklich benannt, nämlich die unberücksichtigt bleibenden Reststimmen. Das können Sie nachlesen auf Seite 315 im 121. Band der amtlichen Entscheidungssammlung. Vielleicht schauen Sie sich das zumindest nach der Debatte endlich einmal an. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Krings! Frist nicht eingehalten, aber arrogant kommen!) Das Gericht hat auf dieses Problem hingewiesen. Wir haben das Problem der Reststimmen gelöst, indem wir gesagt haben: Die unberücksichtigt bleibenden Reststimmen in den einzelnen Bundesländern werden bundesweit eingesammelt und können zu Zusatzmandaten addiert werden. Ich gebe zu, dass unser sehr einfaches Modell der Trennung dadurch an dieser Stelle ein Stück weit komplizierter wird, wenn auch nicht so kompliziert wie bei Ihren Vorschlägen. Dadurch wird die Regelung aber auf jeden Fall fairer und gerechter. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es kann natürlich sein, dass eine Partei in 16 Bundesländern knapp vor dem nächsten Mandat stehen bleibt. Das wären dann wirklich proportionale Verschiebungen. Wir haben dabei insbesondere die Sicht des Wählers in kleinen Bundesländern eingenommen. Wenn dieser beispielsweise eine kleine Partei wählen will, könnte er sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen: Deine Stimme ist doch ohnehin verschenkt. Faktisch gibt es eine Sperrwirkung von 10 bis 15 Prozent wegen der geringen Zahl der Mandate. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das lösen Sie doch nicht auf!) Aus diesem Grunde solltest du deine Stimme nicht verschenken und eine andere Partei wählen. Um auch dem Wähler in einem kleinen Bundesland alle Optionen offenzuhalten, war die Reststimmenverwertung notwendig und sinnvoll. Sie mögen deswegen polemisieren. Wir wissen jedoch, dass wir hierdurch exakt einen Hinweis des Verfassungsgerichts aufgreifen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Durch die Reststimmenverwertung stellen wir sicher, dass es zu keinem neuen negativen Stimmgewicht kommt, indem wir ausschließen, dass Zusatzmandate bei einer Partei mit Überhangmandaten zusammentreffen können. Gibt es Zusatzmandate für eine Partei, die Überhangmandate hat, so werden diese Überhangmandate mit Reststimmen unterlegt. Das heißt, im Ergebnis kommt es bei unserem Vorschlag zu einer maßvollen Reduktion von Überhangmandaten. Machen wir die Probe aufs Exempel: Nehmen wir einmal unser Wahlrecht und wenden es auf die letzte Bundestagswahl an. Dann lösen sich die Vorwürfe der Unfairness sofort in nichts auf. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Jetzt bin ich gespannt!) Unser Wahlrecht angenommen, hätte die Koalition im Ergebnis in der Tat zwei Sitze mehr gehabt, die Opposition allerdings hätte vier Sitze mehr gehabt. Da soll noch einer sagen, wir hätten ein Wahlrecht gemacht, das der Koalition nutzt und der Opposition schadet! Das ist eine abenteuerliche Behauptung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Kanzlermehrheit hätte es trotzdem gegeben!) Wir haben – und das unterscheidet uns von den drei Oppositionsfraktionen – seit drei Jahren intensiv über Lösungsansätze und Alternativen nachgedacht. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wir haben auch darüber nachgedacht!) Wir sind nicht mit Tunnelblick auf eine einzige Lösung zugesteuert, sondern haben uns verschiedene Optionen angesehen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!) Wir haben uns auch sehr intensiv die Vorschläge der Opposition angeschaut. Ich komme zunächst kurz zu den Grünen und den Linken. Sie schlagen ein Kompensationsmodell vor. Danach würden Überhangmandate in einem Bundesland durch Listenmandatsabzug in anderen Bundesländern ausgeglichen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Falsch verstanden!) Das führt zu erheblichen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Kollateralschäden. Es führt zu einer erheblichen föderalen Ungleichheit, und es führt zu einer doppelten Benachteiligung von Bundesländern. Das gilt auch für mein eigenes Bundesland, Nordrhein-Westfalen, das in der Geschichte der Republik nie Überhangmandate gehabt hat – weil es dort relativ ausgewogen verschiedene Hochburgen und verschiedene Schwerpunkte in der politischen Zusammensetzung gibt –, das hier aber doppelt bestraft würde, weil es zusätzlich als Steinbruch für andere Bundesländer herhalten würde. Ich rede hier nicht nur als Vertreter der Union, sondern auch als Abgeordneter meines Bundeslandes Nordrhein-Westfalen; und aus dieser Sicht kann ich das nicht hinnehmen, was hier vorgeschlagen wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann lesen Sie den linken Entwurf noch mal! Das war falsch!) Diese Kannibalisierung von Landeslisten – und darum handelt es sich – würde zu einer wirklichen Einschränkung der Erfolgswertgleichheit zwischen den einzelnen Landeslisten führen. Das kann man anhand der letzten Bundestagswahl ganz praktisch nachrechnen. Nehmen wir das Wahlrecht, so wie Linke und Grüne es hier vorschlagen, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da gibt es einen Unterschied!) und wenden es im Kern auf die Wahl 2009 an: Das hätte geheißen, dass 327 000 CDU-Wähler in Brandenburg von einem einzigen Abgeordneten in diesem Hause vertreten worden wären. Es hätte geheißen, dass 81 000 CDU-Wähler von keinem einzigen CDU-Abgeordneten aus Bremen im Deutschen Bundestag repräsentiert würden. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es in Bremen CDU-Wähler?) Es hätte aber auch geheißen – man höre und staune –: 77 000 Grünen-Wähler in Brandenburg hätten ausgereicht, um ein Mandat zu bekommen. Dass Sie von den Grünen das gut finden, kann ich mir gut vorstellen. Das Wahlrecht ist aber kein Selbstbedienungsladen, auch nicht für die grüne Partei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir Ihnen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das sagen Sie!) Die Latte der Absurdität kann gar nicht hoch genug liegen. Die Grünen legen noch einen drauf. Sie sagen: Wenn diese Listenmandate zum Abzug nicht ausreichen – das wäre auch bei der letzten Bundestagswahl der Fall gewesen –, dann müssen auch gewählte Wahlkreisbewerber, die mit Mehrheit in einem Wahlkreis gewählt worden sind, auf ihr Mandat verzichten und können ihr Mandat nicht antreten. Ich kann nur sagen: Das ist abenteuerlich! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das heißt: Es bleiben ganze Wahlkreise ohne Vertretung in diesem Hause. Das hat es in der Geschichte der Republik noch nicht gegeben. Andererseits könnte es dazu führen, dass der Sieger zwar nicht in den Bundestag einzieht, aber einer der Verlierer aufgrund eines Listenplatzes in den Bundestag kommt. Der Verlierer ist im Bundestag, der Sieger bleibt draußen. Das ist eine Perversion von Demokratie, was Sie hier vorschlagen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bemerkenswert ist auch, dass die SPD – obwohl sie selbst einen ganz anderen Vorschlag hat – dem zur Diskussion stehenden Vorschlag im Innenausschuss auch noch zustimmt und somit zwei vollkommen gegenteilige Voten in ein und derselben Ausschusssitzung abgibt. Ich bin gespannt, ob das heute wiederum der Fall sein wird. Der Vorschlag des Kompensationsmodells – das ist richtig – mag vielleicht im Hinblick auf die Operation „Beseitigung negatives Stimmgewicht“ geglückt sein; aber der Patient Demokratie verstirbt dabei; (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!) denn die Akzeptanz von Wahlen ist angesichts der geschilderten Forderungen nicht mehr gegeben. Das wäre in der Tat der vielbemühte Sargnagel für unsere Demokratie. Zu den Linken speziell brauche ich nicht mehr viel zu sagen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist der beste Entwurf!) Angesichts sinkender Umfragewerte und schlechter Landtagswahlergebnisse haben Sie nach fast 60 Jahren schließlich doch noch einen Ratschlag Bertolt Brechts beherzigt: Sie wollen sich – weil Sie mit dem bestehenden Wahlvolk offenbar nicht mehr zurechtkommen – ein neues Wahlvolk schaffen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was?) Sie wollen ein umfassendes Ausländerwahlrecht, obwohl das gegen Art. 20 und Art. 38 des Grundgesetzes verstößt. Sie wollen das Wahlalter senken. Die meiste Tinte in Ihrem Entwurf haben Sie darauf verwandt, sicherzustellen, dass möglichst alle Schwerverbrecher künftig Wahlrecht haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Folgeänderung! Schon mal was von Folgeänderung gehört?) Jede Partei sucht ihre Zielgruppe selber. Sie haben Ihre Zielgruppe klar benannt; das nehmen wir zur Kenntnis. Die SPD hat auch noch einige kurze Bemerkungen verdient. Ich habe bereits ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten dargestellt: Einerseits hat man einen eigenen Vorschlag, andererseits stimmt man dem komplett gegenteiligen Vorschlag zu. Der Gesetzentwurf der SPD ist übrigens der einzige, der keinen Hinweis aus Karlsruhe aufnimmt, der keine der dort aufgezeigten Optionen in Anspruch nimmt, sondern sich ein ganz eigenes Modell zurechtzimmert, dabei aber nicht wirklich vertieft nachdenkt. Ihre gesamte Gesetzesbegründung für dieses ganz neue Modell umfasst exakt anderthalb Seiten und erschöpft sich im Wesentlichen darin, auf das Gutachten eines Wissenschaftlers zu verweisen. Eigene Gedanken wären nicht schlecht gewesen; selber denken ist bei dem Thema allemal gut. Sie greifen in der Tat keines der Modelle auf, die in der Entscheidung aus Karlsruhe genannt wurden. Ihr Modell löst nämlich das Problem des negativen Stimmgewichtes nicht; es kommt zu keiner merklichen Reduktion des negativen Stimmgewichts. Nach Ihrem Modell bleibt es dabei: Eine Stimme weniger für eine Partei kann ein Mandat mehr für diese Partei bedeuten. Genau das wollte Karlsruhe unterbinden. Die Aufgabe, die uns und auch Ihnen gestellt wurde, ist nicht, das negative Stimmgewicht auszugleichen, sondern es abzuschaffen, es zu beseitigen; diese Aufgabe gehen Sie gar nicht an. Zusätzlich würde Ihr Vorschlag zu einem Aufblähen des Bundestages führen. Wir würden nach Ihrem Vorschlag im zweiten Schritt die Zahl der Wahlkreise reduzieren; weniger Bürgernähe wäre die Folge. Meine Damen und Herren, letzter Gedanke: Ich hätte in der Tat gern eine konsensorientierte Lösung gehabt. Die Opposition hat sich den Konsensangeboten verweigert. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!) Wir haben Angebote gemacht, beispielsweise hinsichtlich einer maßvollen Reduktion der Zahl der Überhangmandate. Die entsprechenden Gespräche wurden nicht ergebnisorientiert geführt. Ich habe gerade bei den Kollegen von der SPD den Eindruck, dass das massive Eintreten gegen Überhangmandate etwas Resignatives hat. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Sie haben davon profitiert: Es gab einen Kanzler Schröder, der 2001 nach einer Vertrauensfrage nur deshalb weiterregieren konnte, weil es Überhangmandate gab. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Offenbar haben Sie sich daran nicht mehr erinnert. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2002 hatte Edmund Stoiber gewonnen! Wir erinnern uns noch! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Minuten lang!) Ich komme gerne zum Schluss. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie sind schon am Schluss gewesen. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen Ihnen einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vor, der das negative Stimmgewicht beseitigt. Ich bitte um Zustimmung, damit wir ein klares und verfassungskonformes Wahlrecht für Deutschland erhalten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Thomas Oppermann hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Thomas Oppermann (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit drei Jahren wissen wir, dass unser Wahlrecht verfassungswidrig ist. Mehr als drei Monate nach Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht großzügig bemessenen Frist legen Sie uns jetzt einen Gesetzentwurf vor, über den wir heute abstimmen sollen. Sie haben sich viel Zeit genommen. Sie haben es sogar so weit getrieben, dass sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes öffentlich zu Wort gemeldet und kundgetan hat: Wenn es die Koalition in Berlin nicht schaffe, ein verfassungskonformes Wahlrecht zu verabschieden, dann werde das Bundesverfassungsgericht dies notfalls selber machen. – Das ist die Antwort auf eine beispiellose Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, die Sie sich haben zuschulden kommen lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn Sie jetzt wenigstens einen Entwurf vorgelegt hätten, der die Probleme löst, dann hätten wir sagen können: „Okay, das war eine Respektlosigkeit“; wir hätten uns auf eine Rüge und auf den Hinweis beschränken können, dass Sie mit der Frist sehr leichtfertig umgegangen sind. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Die Chance ist noch da!) Sie haben aber nichts gelöst. Sie haben einen Entwurf vorgelegt, der nicht nur zu spät kommt, sondern auch handwerklich schlecht ist, das negative Stimmgewicht nicht beseitigt und die gleichheitswidrigen Überhangmandate nicht neutralisiert. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Reden Sie jetzt von Ihrem eigenen Entwurf?) Das ist ein Entwurf, der kein einziges Problem löst und mit dem wir uns ganz sicher in Karlsruhe wiedersehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Dann sehen wir uns in Karlsruhe!) Sie füllen den rechtsfreien Raum, den Sie durch ein monatelang nicht anwendbares Wahlrecht haben entstehen lassen, jetzt mit neuen verfassungswidrigen Regeln aus. Das werden wir im Einzelnen aufzeigen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er spricht über seinen eigenen Vorschlag!) Zum negativen Stimmgewicht. Das negative Stimmgewicht ist hinreichend beschrieben worden. Es muss abgeschafft werden, damit die Wähler bei Abgabe einer Stimme für ihre Partei damit rechnen können, dass die Stimmabgabe ihrer Partei nützt und nicht schadet. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das erreichen wir mit der Neuregelung!) Jetzt, Herr Krings, will ich Ihnen an zwei Beispielen aufzeigen, wie sich das Wahlrecht, das Sie uns heute zur Abstimmung vorlegen, bei der letzten Bundestagswahl ausgewirkt hätte. Wir nehmen einmal das Beispiel Hamburg. Sie wollen jetzt die Zahl der Mandate anhand der landesweiten Wahlbeteiligung berechnen. Wenn bei der letzten Bundestagswahl 10 000 zusätzliche Wählerinnen und Wähler in Hamburg die CDU gewählt hätten, dann hätte Hamburg insgesamt ein Mandat mehr bekommen. Dieses Mandat wäre in Nordrhein-Westfalen verloren gegangen, weil die Wahlbeteiligung in Hamburg entsprechend höher gewesen wäre. In Nordrhein-Westfalen hätte die CDU das Mandat verloren, und in Hamburg hätte es die SPD zulasten der CDU gewonnen. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist nichts Neues!) Die 10 000 zusätzlichen Wählerinnen und Wähler der CDU sorgen also dafür, dass die SPD ein Mandat gewinnt und die CDU ein Mandat verliert. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben es immer noch nicht verstanden! Das negative Stimmgewicht ist was ganz anderes!) Sie führen das negative Stimmgewicht in einem Umfang ein, wie wir das bisher nicht kannten. Ein zweites Beispiel. Die Piratenpartei in Berlin bekam bei der letzten Bundestagswahl 58 000 Stimmen. Diese 58 000 Stimmen hätten nach Ihrem Wahlrecht dazu beigetragen, dass Berlin ein Mandat mehr bekommen hätte. Dieses Mandat wäre natürlich nicht den Piraten zugutegekommen – sie sind an der 5-Prozent-Klausel gescheitert; man muss sagen: damals noch –, sondern den Grünen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Was würden Sie den Wählerinnen und Wählern der Piratenpartei sagen, wenn Sie ihnen erklären müssten, dass ihre Stimmabgabe für diese Partei ein Mandat für die Grünen zur Folge hätte? Das kann kein Mensch erklären, Herr Krings. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In Ihrem Entwurf übersehen Sie den entscheidenden Punkt, auf den es beim Wahlrecht ankommt: Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich bei ihrer Stimmenabgabe darauf verlassen können, dass sie der Partei nützt, der sie ihre Stimme geben. Genau das ist in Ihrem Entwurf nicht der Fall. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: In Ihrem ist das nicht der Fall!) Wahlrecht ist nicht irgendein Recht. Wahlrecht ist Demokratierecht. In unserer Verfassung geht die Staatsgewalt vom Volke aus. Das Wahlrecht ist das Verfahren und das Recht der Bürgerinnen und Bürger, mit dem sie ihre Staatsgewalt auf das repräsentative Parlament übertragen. Deshalb muss dieses Verfahren fehlerfrei sein, und es darf nicht manipulierbar sein. Deshalb sagen wir: Ihr Wahlrecht ist nicht geeignet, zuverlässig die Mehrheiten im Parlament so abzubilden, dass es der Entscheidung der Wähler entspricht. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Überhangmandate. Es wird immer wieder behauptet, das Bundesverfassungsgericht habe die Überhangmandate verfassungsrechtlich nicht infrage gestellt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau! Jetzt hat er es! Endlich hat er es kapiert!) Das ist nicht richtig. Bei der Vier-zu-vier-Entscheidung waren vier Richter der Meinung, dass Überhangmandate verfassungswidrig sind. Die anderen vier Richter waren anderer Meinung. Wir sind der Meinung, dass die Frage der Überhangmandate jetzt ein für allemal geklärt werden muss. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Überhangmandate sind nach meiner Auffassung verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ihnen geht es nicht um negatives Stimmgewicht, Ihnen geht es um Überhangmandate! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hängt zusammen!) Das weiß auch die CDU; jedenfalls hat sie das einmal gewusst. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Dann gehen Sie doch nach Karlsruhe!) In einem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht hat Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender – damals war er, glaube ich, Parlamentarischer Geschäftsführer – Volker Kauder ausgeführt: Überhangmandate sind rechtlich bedenklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschenswert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Hört! Hört!) Lieber Herr Kauder – er ist gerade nicht da –, was damals richtig war, ist heute nicht falsch. Im Gegenteil: Es ist noch richtiger geworden; denn wir müssen damit rechnen, dass es noch sehr viel mehr Überhangmandate geben wird. In einem Parteiensystem mit fünf bis sieben Parteien müssen wir mit noch mehr Überhangmandaten rechnen. Bei der letzten Bundestagswahl hatten wir 24 Überhangmandate; das ist ein Rekord. Das sind schon 4 Prozent der gesetzlichen Mitglieder des Deutschen Bundestages. Das führt dazu, dass die verfassungsrechtlichen Probleme unseres Wahlrechtes noch größer werden. Also: Das, was Herr Kauder 2005 gesagt hat, ist heute aktueller denn je. Damals waren Sie gegen Überhangmandate, heute sind Sie dafür. Warum dieser Meinungswandel? Das liegt auf der Hand: Die Umfrageergebnisse sind katastrophal. Sie wollen sich mithilfe von Überhangmandaten an die Macht klammern. Angesichts der schrumpfenden Umfrageergebnisse hoffen Sie auf Überhangman-date als letzten Strohhalm, mit dem Sie sich über Wasser halten. Das ist doch der einzige Punkt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Sie haben doch jetzt mehr Überhangmandate als wir! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist so billig!) Sie missbrauchen das Wahlrecht als Machtrecht. Es ist klar, welches Motiv die CDU hat. Unklar ist mir nach wie vor, warum die FDP da mitmacht. (Christine Lambrecht [SPD]: 1,8-Prozent-Partei!) Die FDP hat noch nie ein Überhangmandat bekommen; denn kleine Parteien haben keine Chance auf Überhangmandate. Also haben Sie sich über die sogenannte Reststimmenverwertung einkaufen lassen. Ich muss sagen: Wer sich mit so etwas abspeisen lässt, hat im Grunde genommen schon kapituliert. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei 1,8 Prozent!) Die Reststimmenverwertung ist die schrägste Innovation, von der ich jemals im Rahmen eines Gesetzgebungsprozesses gehört habe. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Kollege Volker Beck hat beim letzten Mal aus dem Gesetzentwurf vorgelesen. Ich will das nicht wiederholen, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es ist ein so schöner Text!) aber doch Folgendes sagen: Wer den Text liest, muss sich die Frage stellen, ob derjenige, der das verfasst hat, noch ganz bei Verstand ist. Dadurch würde Bürokratie vom Feinsten entstehen. Ziel dabei war, durch die Reform des Wahlrechts auch der FDP einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Sie haben an dem Wahlrecht so lange herumgefummelt, bis ein Interessenausgleich zwischen den beiden Koalitionsfraktionen zustande gekommen ist. Das ist für die Verfassung leider zu wenig. Ich will noch einmal ganz kurz darlegen, warum wir Überhangmandate für verfassungswidrig halten, wenn ich das darf, Frau Präsidentin. Ich nehme zusätzliche Redezeit in Anspruch. Vizepräsidentin Petra Pau: Das kommt darauf an, wie lange das dauert. Thomas Oppermann (SPD): Ich habe mich mit meiner Kollegin verständigt. Vizepräsidentin Petra Pau: Alles klar. Das klären Sie in Ihrer Fraktion. Thomas Oppermann (SPD): Überhangmandate sind verfassungswidrig, weil sie den Wählern ein doppeltes Stimmgewicht geben, die durch Stimmensplitting dafür sorgen, dass nicht nur der direkt gewählte, sondern auch ein weiterer Kandidat in den Bundestag kommt. Das ist mit dem großen Versprechen der Demokratie aber nicht vereinbar. Dieses große Versprechen der Demokratie ist: gleiches Wahlrecht für alle und gleiches Stimmgewicht. Damit ist ein doppeltes Stimmgewicht nicht vereinbar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt ist: Überhangmandate führen zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Die CDU hat in Baden-Württemberg bei der letzten Bundestagswahl zehn Überhangmandate gewonnen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie stimmen den Grünen zu?) Allein durch die Überhangmandate hat Baden-Württemberg ein zusätzliches politisches Gewicht im Deutschen Bundestag erhalten, das dem ganzen politischen Gewicht der Hansestadt Hamburg entspricht, die über 13 Mandate verfügt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist genau das, was verstärkt wird durch den Grünen-Vorschlag, dem Sie zugestimmt haben! Das ist doch eine abenteuerliche Argumentation!) Drittens. Überhangmandate verletzen die Chancengleichheit der politischen Parteien. Die SPD braucht für ein Mandat 68 500 Stimmen, die CSU 62 000 Stimmen und die CDU 61 000 Stimmen. Ein Wahlrecht, das so unterschiedliche Voraussetzungen für die Gewinnung eines Mandates vorsieht, ist kein faires Wahlrecht. Viertens und letztens. Überhangmandate können die Mehrheit im Deutschen Bundestag umdrehen. Maßgebend für die Zusammensetzung des Parlaments sind die Zweitstimmen; das hat auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont. Bei einer großen Zahl von Überhangmandaten kann es jetzt dazu kommen, dass die Parteien, die eine Mehrheit der Stimmen erhalten haben, nicht die Mehrheit der Mandate haben. Das wäre unerträglich. Das würde uns in eine Verfassungs- und Staatskrise führen. Deshalb sage ich: Sie ignorieren das Bundesverfassungsgericht. Sie benutzen das Wahlrecht zum eigenen Machterhalt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist ein Selbstgespräch! Sie meinen sich selber!) Die Stimme eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin muss gleich viel wert sein. Damit das durchgesetzt wird, werden wir vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. Wir hoffen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ein gleiches Wahlrecht durchsetzt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Manuel Höferlin [FDP]: Substanz kehrt zurück!) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht geht es auch ein wenig sachlicher und ein wenig stärker orientiert an den Aufgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat. (Christine Lambrecht [SPD]: Unerhört!) Lassen Sie mich eine allgemeine Vorbemerkung machen: Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland hat sich bewährt. Es hat in diesem Land für politische Stabilität gesorgt. Es hat die Extreme durch Verfahren zur Mitte hin integriert. Es hat dafür gesorgt, dass personale Elemente genauso eine Rolle spielen wie der Ausgleich, der in Koalitionen notwendig ist. Diese politische Stabilität, die über 60 Jahre gewährt hat, ist ein hohes Gut. Auch bei einer Wahlrechtsreform sollte sie bewahrt werden. Auch das war und ist das Ziel unseres Gesetzentwurfs. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das darf man nicht so leichtfertig über Bord werfen. Insofern will ich mich am Bundesverfassungsgericht orientieren. Es war schon bemerkenswert, dass Kollege Oppermann zu seinem eigenen Gesetzesvorschlag kein einziges Wort gesagt hat. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Daraus spricht das schlechte Gewissen!) Das hat auch einen Grund. Sowohl die Mathematiker, die Sie beauftragt haben, als auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages als auch das Bundesinnenministerium kommen zu dem Ergebnis, dass heute leider nur die Grünen, die Linken, CDU/CSU und FDP überhaupt einen Vorschlag gemacht haben, der politisch satisfaktionsfähig und verfassungsrechtlich in Bezug auf das negative Stimmgewicht in Ordnung ist. (Thomas Oppermann [SPD]: Warum wollten Sie dann ausgerechnet mit uns den Kompromiss machen?) Wer, bevor er selbst eine politische Idee, einen Gesetzesentwurf in den Raum stellt, schon sagt, dass er nach Karlsruhe gehen wird, hat meiner Meinung nach von seinem eigenen politischen Selbstverständnis viel an das Bundesverfassungsgericht delegiert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er geht nicht gegen den eigenen Entwurf nach Karlsruhe, sondern er geht gegen Ihren Entwurf! Sie haben da etwas falsch verstanden!) Leider ist damit eine Fraktion aus der politischen Debatte vollkommen ausgeschieden. Jetzt kommen wir zu Linken und Grünen. Sie haben in der Tat jeweils einen Vorschlag gemacht, der dieses Problem vollständig löst. Sie haben das negative Stimmgewicht beseitigt, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Sie sorgen aber in der Folge Ihrer Lösung dafür, dass der Erfolgswert der Stimmen massiv ungleich wird. Kollege Krings hat das schon ausgeführt; ich möchte das nicht wiederholen. Sie brauchen in Zukunft in Brandenburg sechsmal so viele Stimmen für ein Mandat wie in Baden-Württemberg. Sie verwüsten ganze Landesverbände. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das wieder!) Das ist ein Kollateralschaden Ihres Modells, der nicht zu rechtfertigen ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass Sie nicht rot werden, wenn Sie in einer Zeit, in der wir sowieso die Schwierigkeit haben, Politik zu vermitteln, direkt gewählten Abgeordneten einfach ihr Mandat aberkennen wollen, das wundert mich. (Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bekommen es erst gar nicht! Sie verstehen es einfach nicht!) Jetzt komme ich zu unserem Gesetzentwurf, damit ich nicht in die Falle des Kollegen Oppermann tappe und nur über die Kollegen rede, anstatt die eigenen Vorschläge zu würdigen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele von der FDP sind denn davon betroffen? Wie viele FDPler sind direkt gewählt?) Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Kern drei Möglichkeiten gelassen, das Problem zu lösen. Es hat gesagt – ich zitiere Randnummer 142 des Urteils –, dass eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Überhangmandate – das war Ihre Vorstellung; allerdings haben Sie es nicht verfassungskonform gemacht – oder bei der Verrechnung von Direktmandaten … – das sind die Modelle der Linken und der Grünen – oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzt. Genau diesen Weg sind wir gegangen. Wir haben – ich will nicht sagen sklavisch – in Eins-zu-eins-Subsumtion aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen der vorgeschlagenen Wege gewählt. Das Problem besteht bei verbundenen Listen, also trennen wir sie. So sind wir vorgegangen und lösen damit das Problem des negativen Stimmgewichts. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie dafür drei Jahre gebraucht, wenn es doch nur eine Eins-zu-eins-Umsetzung war?) Unsere Nähe zum Verfassungsgericht geht sogar noch einen Schritt weiter. Denn das, was Herr Oppermann den größten Murks in der Geschichte der Gesetzgebung genannt hat, (Beifall des Abg. Thomas Oppermann [SPD]) ist ein Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts. Ich finde, Sie sind da etwas argwöhnisch gegenüber unserem höchsten Gericht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich zitiere: Ein Verzicht auf Listenverbindungen nach § 7 BWG würde … dazu führen, dass Parteien, die in mehreren Ländern antreten, – also alle bis auf die CSU – die in den Ländern anfallenden Reststimmen nicht nutzen könnten. Hier wird folgendes Problem aufgeworfen: Bei 16 getrennten Wahlgebieten ergeben sich 16-mal Reststimmen für alle Parteien, groß oder klein, und durch Rundungen entsteht ein Verlust von abgegebenen Stimmen, sodass es möglich ist, dass eine Partei, die deutlich über 10 Prozent der Stimmen in einem Bundesland bekommen hat, trotzdem gesagt bekommen kann: Die Wahl dieser Partei, Linke, Grüne, FDP – wir werden hoffentlich bei über 10 Prozent liegen –, (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) war zwecklos, weil sie zwar über 5 Prozent, sogar über 10 Prozent der Stimmen erhalten hat, diese aber schlicht verfallen. Also: Auch auf der zweiten Stufe sind wir den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt gefolgt. Wir haben gesagt: Wir müssen auch noch das hier aufgeworfene Problem des Reststimmenverlusts lösen. (Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sie aber doch selber erzeugt! Das gab es vorher gar nicht!) Das, was Sie als größten Murks bezeichnen, war eine Vorgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Dieser Vorgabe haben wir entsprochen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gerade erzählt, dass wir 60 Jahre ein Wahlrecht hatten, das sich bewährt hat! Aber das war ohne Reststimmenverwertung!) Am Ende bleibt festzuhalten, dass viele im Raum stehende Modelle abgewogen worden sind. Ein Modell ist offensichtlich ausgeschieden. Schließlich blieben drei Modelle – eines von den Linken, den Grünen und der Koalition – übrig. Wir sehen die Vorteile Ihrer Modelle. Aber wir beurteilen die Nachteile als wesentlich gravierender als den Erfolg, der mit Ihren Modellen erzielt wird. Insofern: Wir haben eine sorgfältige Abwägung aller Pro- und Kontraargumente vorgenommen. Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht sage ich: Ich freue mich, wenn Sie klagen. Wir können uns dort nämlich mit unserer politischen Entscheidung, die auf unserer Abwägung von Pro und Kontra basiert, sehr gut sehen lassen. Am Ende wird das Wahlgesetz schließlich in diesem Raum beschlossen und nicht in Karlsruhe. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na! Abwarten!) Dafür sollten wir nach unserem Selbstverständnis auch sorgen. Sollten Sie weitere Fragen haben, (Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wenden Sie sich an das Geburtstagskind des heutigen Tages, an Herrn van Essen, dem ich von dieser Stelle aus herzlich gratuliere. Er wird Sie in weiteren vier Minuten Redezeit Ihrer Restzweifel berauben. (Thomas Oppermann [SPD]: Na ja! Das bezweifle ich! – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das wäre ja das erste Mal!) Dann können Sie alle zustimmen. Ich freue mich darauf. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Wawzyniak hat für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir versuchen heute, einen verfassungswidrigen Zustand zu beenden. Ich prophezeie Ihnen: Wenn der Gesetzentwurf der Koalition angenommen wird, wird dieser Versuch misslingen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Alle Parteien haben versucht, das Problem des negativen Stimmgewichts zu lösen, und haben dazu Vorschläge unterbreitet. Es gibt aber nur eine Partei, die eine grundlegende Reform vorgeschlagen hat. Das ist die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben hier den Vorwurf der Überfrachtung gehört. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn wir schon über das Wahlrecht reden, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann auch für Schwerverbrecher!) dann sollten wir auch weitere Aspekte, die beim Wahlrecht zur Reformierung anstehen, aufgreifen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja! Dann auch für Kriminelle!) In der Anhörung im Innenausschuss ist uns gesagt worden, unser Vorschlag sei ein Systemänderungsentwurf. Ja, wir sind stolz darauf. Wenn mehr Demokratie Systemveränderung ist, dann schlagen wir Systemveränderung vor. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Weg mit dem System, genau! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Nach dem Motto: Meine Partei hat immer recht! Das war schon immer so!) Eines ärgert mich allerdings sehr. Alle Parteien haben zur Kenntnis genommen, dass es folgendes Problem gibt: Eine Partei, die für den Bundestag kandidieren will, vom Bundeswahlausschuss aber nicht zugelassen wird, hat keine Klagemöglichkeit. Wir haben vorgeschlagen, in § 28 des Bundeswahlgesetzes – wir nennen ihn den Sonneborn-Paragrafen – eine entsprechende Regelung zu treffen. Martin Sonneborn ist Vorsitzender der Partei Die Partei. Diese Partei ist zur letzten Bundestagswahl nicht zugelassen worden und hatte keine Chance, die Zulassung einzuklagen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jetzt hat er die FDP geschlagen! In Kreuzberg!) Ich finde, das ist ein Skandal. Dieses Problem müssen wir lösen. (Beifall bei der LINKEN) Sie alle haben gesagt, dass dies ein Problem ist, das es zu lösen gilt. Warum greifen Sie dann nicht unseren Sonneborn-Paragrafen auf? Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen – im Innenausschuss haben wir ja eine Anhörung durchgeführt –: Ein Problem im Zusammenhang mit dem Wahlrecht greift keine Partei und keine Fraktion auf – das finde ich persönlich außerordentlich bedauerlich –, nämlich das sogenannte Zweistimmenwahlrecht. Das Zweistimmenwahlrecht führt zu Überhangmandaten, zu doppelten Erfolgswerten und doppelten Stimmgewichten. Ich würde mir wünschen, dass wir über das Zweistimmenwahlrecht noch einmal in Ruhe reden. Was beschließen wir heute? Die Koalition möchte die Verbindung der Landeslisten der Parteien auflösen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Richtig!) Die Sitzkontingente der einzelnen Bundesländer richten sich dann nach der Anzahl der Wähler, die Verteilung der Sitze innerhalb des Bundeslandes richtet sich nach den Zweitstimmen, und die errungenen Direktmandate werden mit Listenmandaten allein auf der Landesebene verrechnet. In unserer Anhörung hat Herr Professor Strohmeier zu Recht darauf hingewiesen, dass wir 16 abgetrennte Wahlgebiete bzw. 16 Mehrpersonenwahlkreise schaffen. Was ist die Folge? Eine separate Sitzzuteilung für die einzelnen Bundesländer, keine Verrechnung mit Mandaten aus anderen Bundesländern und damit Aufhebung des unitaristischen Charakters der Wahl. Das ist der zentrale Vorwurf. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ach! So ein Unsinn! Das war das Wahlrecht bei der ersten Bundestagswahl!) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Anhörung eingehen. Herr Professor Meyer hat das Problem aufgeworfen, dass die Ungültig-Wähler, also diejenigen, die nur die Erststimme abgeben, und diejenigen, deren Partei unter 5 Prozent bleibt – auf www.wahlrecht.de heißt es im Übrigen, diese Gruppe mache einen Anteil von 23 Prozent aus –, bei der Berechnung der Mandate, die einem Land zufallen, berücksichtigt werden. Diese Mandate fallen aber Parteien zu, die diese Wähler nie im Leben wählen wollten. Ich finde, ehrlich gesagt, dass das ein Skandal ist. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme jetzt zu einem weiteren Vorwurf aus der Anhörung. Frau Professor Sacksofsky hat gesagt, dem Gesetzentwurf fehle es an Folgerichtigkeit. Sie hat recht. Sie teilen in 16 Wahlgebiete ein und stellen dann auf einmal fest: Es gibt ein Problem. – Bei der Berechnung der Fünfprozenthürde, die wir übrigens abschaffen wollen, (Thomas Oppermann [SPD]: Sie nähern sich den 5 Prozent ja auch wieder in bedrohlicher Weise an!) und bei der Reststimmenverwertung betrachten Sie nämlich auf einmal wieder ein Bundeswahlgebiet. Das ist doch in sich unlogisch und versteht keiner. Im Übrigen schaffen Sie mit diesem Gesetzentwurf – Herr Ruppert hat schon darauf hingewiesen – ungleiche Wahlkreise, weil die Wahlkreise unterschiedlich groß sind, und die faktische Sperrklausel von 5 Prozent wird deutlich erhöht. Ich mache Ihnen das an einem Beispiel klar: Nach dem Vorschlag der Koalition benötigt man nach dem letzten Bundestagswahlergebnis in Bremen für einen Sitz 14 Prozent. Ähnlich trifft dies auch auf das Saarland zu. Bislang hat man, warum auch immer, FDP gewählt, auch wenn es in Bremen nicht für die FDP gereicht hat, (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Doch, doch, netter Kollege! – Gisela Piltz [FDP]: Bitte einmal ordentlich recherchieren!) aber die Zweitstimmen waren ja für die Bundesebene wichtig. Die Frage, ob man die FDP wählen soll, stellt sich eh, aber warum soll man jetzt in Bremen die FDP wählen? Man muss nämlich feststellen, dass das Stimmergebnis der FDP in Bremen verdoppelt werden müsste, um ein zweites Mandat zu erhalten. Das trifft analog auch auf Parteien wie die Grünen und die Linke zu. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn es nur Abgeordnete von CDU und SPD aus Bremen und dem Saarland gibt, hilft das weder Bremen noch dem Saarland noch der Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Die FDP hat gesagt: Wir haben eine Lösung dafür. – Wenn ich die Sitzung des Innenausschusses richtig in Erinnerung und es richtig verstanden habe, dann ist die Änderung auf einen Vorschlag des Kollegen Ruppert zurückzuführen. Es ist ein Vorschlag zum Reststimmenausgleich. Der ist aber auch in sich unlogisch. Ich mache Ihnen das wieder an einem Beispiel deutlich: Angenommen, in Berlin benötigt man für einen Sitz 20 000 Stimmen. Die Linke erreicht 89 000 Stimmen. Das ergibt vier Mandate, und sie hat darüber hinaus 9 000 Stimmen über den Durst. Diese positive Abweichung gibt es auch noch in anderen Bundesländern. Die Zahlen werden addiert. Man kommt zum Beispiel auf 45 000 Stimmen. Dies wird dann durch die Zahl dividiert, die man auf Bundesebene braucht, um einen Sitz zu bekommen – sagen wir mal: 21 000 Stimmen. Das ergibt eine Quote von 2,14, also zwei Sitze mehr. Falls ich das falsch verstanden habe, dann kann Herr van Essen mich ja aufklären. Ich habe Ihren Entwurf so verstanden, dass diese zwei Sitze gerade nicht auf die Länder aufgeteilt werden, die den höchsten Differenzwert haben, sondern zunächst auf die Länder, in denen es Überhangmandate gibt. Das ist aus meiner Sicht absurd. (Jörg van Essen [FDP]: Sie haben es leider falsch verstanden!) Am Ende muss man in Richtung Koalition feststellen: Sie beseitigen das negative Stimmgewicht nicht vollständig. Herr Krings, Sie haben im Innenausschuss eine Berechnung des Bundesministeriums des Innern vorgelegt. Ich muss Ihnen sagen: Das war ein bisschen unseriös, weil eine Stellungnahme zu unserem Gesetzentwurf, zum Gesetzentwurf der Linken, fehlte. Wir haben das nachgeholt, indem wir angerufen und die Antwort bekommen haben: Was soll man da berechnen, bei Ihnen gibt es doch gar kein negatives Stimmgewicht. – Das hätten Sie schon hinzufügen können. Was erwarte ich aber auch von jemandem, der den Begriff „Folgeänderung“ in Bezug auf Gesetze wohl noch nie gehört hat! Im Übrigen verweise ich an dieser Stelle auch noch einmal auf die Seite wahlrecht.de. Dort wurde das unter Berücksichtigung von Nichtwählerinnen und Nichtwählern und von Personen, die ungültig gewählt haben, nachgerechnet, und man kommt bei Ihrem Gesetzentwurf auf ein negatives Stimmgewicht von 8,3. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, die rechnen richtig!) Was bleibt am Ende? Der Koalitionsentwurf hat wegen der Reststimmenverwertung, wegen der Festlegung der Sitzkontingente der Länder nach der Wahlbeteiligung und wegen des Heraufsetzens der faktischen Sperre für die Erreichung eines Mandates in einzelnen Ländern erhebliche verfassungsrechtliche Probleme. Ich kann nur sagen: Karlsruhe bekommt Arbeit. Im Ergebnis ist festzustellen: Im Hinblick auf ein transparentes Wahlgesetz ist Ihr Gesetzentwurf ein Schuss in den Ofen. Mathematikerinnen und Mathematiker wissen vielleicht noch, was mit ihrer Stimme passiert, die Wählerinnen und Wähler nicht mehr. Damit tun Sie der Demokratie keinen Gefallen. (Beifall bei der LINKEN) Ich will zum Schluss noch kurz auf den Gesetzentwurf der Linken eingehen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nein!) Man muss zunächst zur Kenntnis nehmen, dass alle Sachverständigen den Vorschlag der Linken für diskussionswürdig hielten. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil sie höflich waren!) Nun kann ich verstehen, dass die Koalition mit unseren weiter gehenden Vorschlägen Probleme hat. Davon rede ich jetzt gar nicht. Aber dass Grüne und SPD den Gesetzentwurf der Linken wegen Überfrachtung ablehnen, ist mir unverständlich. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil er nicht auf der Tagesordnung steht!) – Herr Wieland, da können Sie sagen, was Sie wollen. Ich halte einfach fest: Sie haben ein Problem mit der Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, und Sie haben ein Problem mit der Übertragung des Wahlrechts auf Menschen, die hier länger leben. Das ist für mich unverständlich. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben nur mit Ihnen ein Problem, glauben Sie es mir! Ausschließlich mit Ihnen!) Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund, dem Gesetzentwurf der Linken nicht zuzustimmen, es sei denn, man hat ideologische Probleme mit der Demokratie. (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP) In der Anhörung haben die Experten die Beteiligten gebeten, aus vier Gesetzentwürfen einen zu machen. Ich finde es ausgesprochen schade, dass dieser Aufforderung der Sachverständigen nicht nachgekommen wurde. Mir bleibt am Ende festzustellen: Hier zeigt sich die Arroganz der Macht der Koalition. Und das führt unweigerlich nach Karlsruhe. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck das Wort. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Wahlrecht soll den Willen der Wähler grundsätzlich eins zu eins in Mehrheitsverhältnissen im Parlament abbilden – und nichts anderes. Es darf ihn nicht durch Tricks verfälschen und in sein Gegenteil verkehren. Diesem Anspruch wird der Koalitionsgesetzentwurf ausdrücklich nicht gerecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie waren zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zu Gesprächen über die Fraktionsgrenzen hinweg bereit, um zu einer verfassungsgemäßen Beantwortung der vom Bundesverfassungsgericht gestellten Fragen zu kommen. Das hat einen Grund. Sie wollen sich mit diesem Gesetz die Chance eröffnen, sich ohne Mehrheit beim Volk eine Mehrheit im Parlament zu ergaunern. Um nichts anderes geht es bei Ihrem Gesetzesvorschlag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist ein Anschlag auf die parlamentarische Demokratie. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt hören Sie doch auf!) Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Dagegen wird unsere Partei eine Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben. Gemeinsam mit den Abgeordneten der SPD werden wir eine Normenkontrollklage in Karlsruhe einreichen. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Haben Sie eigentlich noch einen Überblick über die vielen Klagen, die Sie eingereicht haben?) Dann wird sich zeigen, dass Sie die vier Aufgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nicht erfüllt haben. Ihr Gesetzentwurf kommt zu spät. Er ist verfassungswidrig. Und er ist ein politisches Bubenstück. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, dass bis zum 13. Juni 2011 ein Gesetzentwurf im Bundesgesetzblatt stehen soll. Das haben Sie nicht geschafft. Sie sind vor der Sommerpause mit etwas völlig Ungeeignetem angedackelt gekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, das negative Stimmgewicht zu beseitigen, soweit hierdurch ermöglicht wird, „dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.“ Wenn man so rechnet wie Sie, dass sich im Wahlverhalten überhaupt nur eines ändern kann – dass man statt der Partei A die Partei B wählt –, dann sieht Ihr Gesetzentwurf in Bezug auf das negative Stimmgewicht zwar nicht perfekt, aber nicht so schlecht aus. Es bleibt etwas übrig. Wenn man es aber – anders als nach den manipulativen Berechnungen des Bundesinnenministeriums – für möglich hält, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unerhört!) dass ein Wähler die Partei A oder stattdessen gar nicht oder ungültig wählt, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) dann sieht Ihr Gesetzentwurf in Bezug auf das negative Stimmgewicht schlechter aus als der der Sozialdemokraten, die im Verlauf ein Problem mit dem negativen Stimmgewicht haben. Das gilt allerdings nur bei der Verteilung der Sitze zwischen den Landeslisten, aber nicht beim Endergebnis. Dieser Gesetzentwurf erfüllt wie der unsrige die Forderung, dass nachher nur der Wählerwille im Parlament repräsentiert wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Unser Gesetzentwurf aber hat den Vorteil, dass es null Komma null negatives Stimmgewicht gibt. Diesen Vorteil hat Ihr Entwurf auf jeden Fall nicht. Sie können das bei wahlrecht.de nachlesen: Wir haben mit allen Methoden und Möglichkeiten gerechnet – und nicht nur mit dem, was ins Bild passt, wie es im Rahmen der Auftragsarbeit des Bundesinnenministeriums der Fall ist. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das juristische Wissen von Herrn Beck kommt aus dem Internet!) Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber für die Umsetzung Zeit gegeben, weil es gewollt hat, dass „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage gestellt wird“. An dieser Aufgabe sind Sie gründlich gescheitert. Ich will den Text nicht vorlesen, weil mir die Zeit fehlt, obwohl es dabei immer ein großes Hallo gibt. Gut zusammengefasst hat das Professor Meyer in seiner Stellungnahme für die Anhörung des Innenausschusses: Der Entwurf wird dem Auftrag, ein dem Wähler verständliches Wahlrecht zu formulieren, nicht nur nicht gerecht, sondern er hat geradezu den Ehrgeiz, dieses vom Verfassungsgericht gesetzte Ziel … zu vermeiden. Wie wahr! Wie wahr! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Das war eine bestellte Äußerung!) Ich komme zum Schluss. Hinsichtlich der Überhangmandatsproblematik behaupten Sie immer, das sei kein Auftrag des Gerichts. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!) Am 25. Februar 2009 hatte das Gericht erklärt, dass es davon ausgeht, „dass sich die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage der Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten nach einer Neuregelung nicht mehr in der gleichen Weise stellen wird“. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Lesen Sie doch den Satz zu Ende!) Wir haben den Auftrag, daran etwas zu ändern. Schauen Sie sich einmal die Vorgeschichte zu der letzten Entscheidung zu Überhangmandaten an, die nur mit vier zu vier Stimmen getroffen wurde und deshalb keine Entscheidung in der Sache war. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch vier zu vier ist eine Entscheidung in der Sache! Keine Ahnung!) In den ersten zwölf Wahlperioden dieser Republik zusammen gab es nicht so viele Überhangmandate wie in dieser Wahlperiode. Das zeigt, dass eine qualitative Veränderung stattgefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit immer gesagt: Solange die Überhangmandate keine Rolle spielen und nur eine Randerscheinung sind, mag das angehen. (Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD]) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Beck, Sie zerstören mit dem Nichteinhalten Ihrer Ankündigung, dass Sie zum Schluss kommen, meine Hoffnung, dass Sie mich hier ernst nehmen. Bitte nehmen Sie jetzt nicht dem Kollegen Wieland die Zeit weg. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich dachte, weil ich im Dissens zur Koalition bin, gilt für mich die Lammert-Regelung, die wir heute Morgen eingeführt haben. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Im Moment sitzt hier Vizepräsidentin Pau und entscheidet. Also, bitte nehmen Sie dem Kollegen Wieland keine Redezeit weg. (Beifall bei der LINKEN) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Überhangmandatsregelung muss deshalb weg, weil die Gefahr besteht, dass sie das Wahlergebnis ins Gegenteil verkehrt. Das ist ein Anschlag auf die Demokratie. Den haben Sie vor. Wir werden ihn durch den Gang nach Karlsruhe vereiteln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktionen spricht nun der Kollege Altmaier. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Peter Altmaier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Oppermann und der Kollege Beck haben uns hier eine Hitparade der Scheinheiligkeiten vorgeführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Das ist unter einem parteipolitischen Standpunkt verständlich. Nach draußen ergibt das aber kein gutes Bild. Der erste Punkt der Scheinheiligkeit ist, dass Sie auf dem ach so eindrucksvollen Argument der Zeitüberschreitung herumreiten. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso ist das scheinheilig?) Ja, es ist wahr und es stimmt, dass wir die Frist, die uns das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, um einige Monate überschritten haben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist peinlich!) Das ist bedauerlich. Ich sage: Es wäre besser und eleganter gewesen, wir hätten dieses Gesetz drei Monate früher verabschiedet. Aber warum haben wir denn diese Frist überschritten? (Thomas Oppermann [SPD]: Weil Sie sich nicht einigen konnten!) Wir haben sie auch deshalb überschritten, weil wir uns monatelang, vor und nach der Sommerpause, bemüht haben, eine parteiübergreifende Regelung zustande zu bringen, die mit Ihnen nicht zu machen war, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!) weil Sie nur einen einzigen Punkt im Auge hatten, der aber mit dem negativen Stimmgewicht nichts zu tun hatte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben mit uns überhaupt nicht geredet! Sie waren doch vor allem mit der FDP beschäftigt!) – Lieber Kollege Beck, hören Sie doch einfach einmal zu. Der zweite Punkt der Scheinheiligkeit betrifft das Argument, hier würde ein Gesetz von der Mehrheit verabschiedet und das Wahlrecht, um das es gehe, sei doch einer überparteilichen Konsensbildung besonders zugänglich. Aus diesem Grund haben wir uns um die überparteiliche Mehrheit bemüht. Aber es ist Ihnen leider Gottes entfallen, dass es im Jahre 2002 und im Jahre 2004 in der Amtszeit der rot-grünen Koalition schon einmal Änderungen am Wahlrecht gegeben hat. Auch damals sind diese Änderungen nicht im Konsens beschlossen worden, sondern allein von der rot-grünen Mehrheit. Sie haben das damals im Bundestag mit dem Hinweis darauf beschlossen, dass das Wahlrecht ein einfaches Gesetz ist und mit einfachen Mehrheiten geändert werden kann. Was damals richtig war, kann heute nicht falsch sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich will Ihnen sagen, warum wir glauben, dass wir das Gesetz auch mit der Mehrheit der Koalition verabschieden können und warum das geboten und gerechtfertigt ist: zum einen, weil wir in der Tat nicht mehr Zeit verlieren dürfen, und zum anderen, weil wir uns auf eine Lösung geeinigt haben, die das geltende Wahlrecht so wenig wie möglich tangiert. Kollege Ruppert hat bereits darauf hingewiesen, dass wir in den letzten 60 Jahren gute Erfahrungen mit dem geltenden Wahlrecht gemacht haben, das im Übrigen deshalb so komplex ist, weil wir ein föderales Land sind. Wenn wir kein föderales Land wären und nicht versuchen würden, das Wahlrecht den Menschen durch Landeslisten statt Bundeslisten und mit Rücksichtnahme auf die Gegebenheiten in den einzelnen Bundesländern näherzubringen, dann hätten wir es zugegebenermaßen auch mit dem negativen Stimmgewicht viel leichter. Wir hätten zum Beispiel eine Bundesliste machen können. Solange wir aber das System mit den Wahlkreisen und Listen beibehalten, würde das dazu führen, dass ganze Landstriche in Deutschland nicht mehr mit Mandaten im Deutschen Bundestag vertreten wären. An dieser Stelle sagen wir: Wir haben mit dem Wahlrecht versucht, die bisherige gute Tradition von 60 Jahren fortzuschreiben, nicht mehr und nicht weniger. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Versuchen allein genügt nicht!) Deshalb ist es gerechtfertigt, dass wir dieses Gesetz mit der Koalitionsmehrheit verabschieden. Der dritte Punkt der Scheinheiligkeit betrifft die Frage, was geändert werden muss und geändert werden soll. Wir haben gesagt: Wir müssen das negative Stimmgewicht beseitigen oder zumindest so weit reduzieren, dass die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens erheblich gemindert wird. Das ist angesichts der Komplexität des Wahlrechts nicht einfach. Die Kollegen der Grünen haben einen Vorschlag vorgelegt, der diesem Ziel zugegebenermaßen sehr nahe kommt, aber um den Preis einer regionalen Verzerrung in Deutschland, weil dann die Gebiete der Diaspora, in der eine Partei weniger Stimmen hat, mit dem Verlust von Mandaten dafür bezahlen, dass in anderen Gegenden, wo Überhangmandate möglich sind, solche errungen werden. Wir halten das mit dem Grundsatz unseres Wahlrechts einer gleichmäßigen Repräsentation für nicht vereinbar. Deshalb ist eine solche Lösung mit uns nicht zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der Vorschlag der SPD hat sich gar nicht an der Frage des Abbaus der negativen Stimmgewichte orientiert. (Zuruf von der FDP: Das ist peinlich!) Sie hatten, Herr Kollege Oppermann, von der ersten Minute an nur das Thema Überhangmandate im Blick und wollten leichte Beute machen. Sie haben deutlich gemacht: Sie sind für viele Lösungen zu haben, aber immer nur dann, wenn die Überhangmandate abgeschafft werden. Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie haben den Kollegen Paula zitiert. Warum haben Sie nicht den Kollegen Struck und andere Kollegen aus Ihrer Fraktion zitiert? Es gab nämlich eine Zeit, und zwar in den Jahren 1998 und 2002, in der Sie selber Überhangmandate hatten. Sie haben damals davon profitiert. Der Kollege Kauder hatte bestimmte Zweifel, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hat er für die Fraktion vorgetragen!) und die Redner Ihrer Fraktion haben mit sehr beredten Argumenten nachgewiesen, dass nichts gegen Überhangmandate einzuwenden sei und dass man sie geradezu erfinden müsste, wenn es sie noch nicht gäbe. (Thomas Oppermann [SPD]: Aber jetzt sind wir bei Ihnen!) Der Kollege Krings hat einen schönen Spruch gesagt: „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ Sie können zwar diese Position vertreten, aber bitte seien Sie nicht so scheinheilig und tun Sie nicht so, als wären Sie selber schon immer gegen die Überhangmandate gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es gibt einen weiteren Punkt, Herr Kollege Oppermann. Sie haben gesagt: Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung, in der es die Überhangmandate nicht als verfassungswidrig erklärt hat, mit vier zu vier Stimmen getroffen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, wie knapp es ist!) Dazu sage ich: Vorsicht! Das Bundesverfassungsgericht trifft häufiger Entscheidungen mit vier zu vier Stimmen. Das liegt in der Natur der Sache. Ich habe noch nie erlebt, dass Sie eine Entscheidung, die mit vier zu vier getroffen worden ist, als nicht legitimiert angesehen hätten, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt doch niemand!) wenn sie zu Ihren Gunsten ausgegangen ist. Deshalb bitte ich, mit diesem Argument vorsichtig zu sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Letzter Punkt, Frau Präsidentin. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben die Verantwortung, das Wahlrecht jetzt zügig und mit einer klaren und einfachen Lösung zu ändern und das Gesetz zu verabschieden. Der Kollege Beck hat angekündigt, dass die Fraktion der Grünen die Rechtmäßigkeit des Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen wird. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Ich freue mich auf die Debatte und die Auseinandersetzung über die strittigen Fragen. Wir sind überzeugt, dass wir von allen Lösungen, die zur Verfügung standen, diejenige gewählt haben, die unserem bewährten Wahlrecht am ehesten entspricht, dass wir die Gefahr des Auftretens des negativen Stimmgewichts deutlich reduziert haben (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mehr auch nicht!) und dass dieses Ergebnis jeder juristischen Prüfung standhalten wird. Wir werden uns dann in Karlsruhe wiedersehen. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Fograscher (SPD): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat zu seinem 60-jährigen Jubiläum zu Recht viel Lob erhalten. Es hat politische Entscheidungen bestätigt und auch den Gesetzgeber zu Korrekturen verpflichtet, aber selten mit einer Frist von drei Jahren. Die Regierungskoalition hatte drei Jahre Zeit, das Wahlrecht verfassungskonform zu machen. Doch Sie legen erst zwei Tage vor Ablauf der Frist einen Gesetzentwurf vor. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Voßkuhle, hat am Montag gesagt: Dass diese Frist von der Politik nicht genutzt worden ist, enttäuscht uns. – Recht hat er. Die Oppositionsfraktionen kann er damit nicht gemeint haben; denn alle drei Fraktionen haben Gesetzentwürfe vorgelegt, die innerhalb der Frist hätten verabschiedet werden können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sogar 2009!) Sie haben abgewartet, welche Lösungen die Oppositionsfraktionen vorschlagen, um dann zu entscheiden, dass Sie das so nicht wollen. Sie wollen ein Überhangmandatssicherungsgesetz. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten Ihnen mehrfach Gespräche angeboten. Sie waren zu keinen konstruktiven Gesprächen bereit. Aber damit nicht genug: Sie brüskieren nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die Sachverständigen in der Anhörung. Fünf Minuten vor Beginn der Anhörung legen Sie Berechnungen des BMI bzw. des BSI vor, die keiner während der Anhörung ernsthaft prüfen und bewerten kann. Herr Pukelsheim erklärte dazu: „Ich finde es auch sehr spontan, nach drei Jahren Vorbereitungszeit das jetzt hier als Tischvorlage zu bringen.“ Inzwischen liegt uns eine Stellungnahme von Professor Pukelsheim zu dieser Tischvorlage vor. Darin heißt es: Zudem lehrt das Beispiel, dass der Koalitionsentwurf negative Stimmgewichte nun auch bei Nicht-Überhangsparteien ermöglicht, was die Problematik um eine neue Dimension erweitert. … Diese Fälle negativer Stimmgewichte werden nicht dadurch zum Verschwinden gebracht, dass das BMI sie angesichts der im Amt präferierten Definition zu den Akten legt. So viel zu Ihrer Behauptung, Sie würden das negative Stimmgewicht abschaffen. Sie versuchen aber nicht nur, die Sachverständigen zu überrumpeln. Nein, Sie legen spontan in der abschließenden Ausschussberatung einen Änderungsantrag zu Ihrem eigenen Gesetzentwurf vor. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie hätten aus der Anhörung lernen können!) Sie wollen nun die Überhangmandate mit diesen rätselhaften Reststimmenmandaten hinterlegen. Damit widerlegen Sie Ihre eigene Aussage, dass Überhangmandate kein Problem darstellen. Vielleicht haben Sie inzwischen doch Zweifel daran. Tatsächlich sind Überhangmandate ein Problem. Sie verzerren den Wählerwillen. Sie werden nicht nachbesetzt und können bei engen Mehrheitsverhältnissen zu wechselnden Mehrheiten innerhalb einer Legislaturperiode führen. Für besonders problematisch und unsystematisch halten wir neben dem Festhalten an den Überhangmandaten die Reststimmenverwertung. Die Reststimmenproblematik entsteht wegen Ihres Vorschlags, die Länderlisten zu trennen. Die Sachverständige Frau Sacksofsky erklärte in der Anhörung dazu: Man erfindet fiktive Quoten, die gar keine Rolle für die Zuteilung gespielt haben, und will die dann verwenden. Das ist nach meinem Verständnis grob unsachlich und damit an der Willkürgrenze. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, das Wahlrecht ist die Legitimation jedes einzelnen Abgeordneten hier im Haus. Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen mithilfe des Wahlrechts ihre Volksvertretung. Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein nachvollziehbares, ein transparentes Wahlrecht. Sie wollen, dass ihre Stimme der Partei zugutekommt, die sie unterstützen wollen. Sie wollen, dass die Mehrheit der Stimmen auch die Mehrheit der Mandate bedeutet, und nicht, dass eine Regierung gebildet wird, die ihre Mehrheit auf Überhangmandate stützt, aber nicht auf eine Mehrheit an Zweitstimmen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gerade das stellen wir sicher!) Die Trennung der Landeslisten, die Verteilung der Sitze nach Wahlbeteiligung fördert geradezu das taktische Wählen und das Stimmensplitting. Das heißt, Erststimme für Partei A und Zweitstimme für Partei B führt zu einem doppelten Erfolgswert und widerspricht damit dem Gleichheitsgrundsatz. Derzeit sind fast 4 Prozent der Abgeordneten in diesem Haus aufgrund eines Überhangmandats im Parlament. Wenn Ihr Gesetzentwurf Gesetzeskraft erlangt, werden bald mehr als 5 Prozent der Abgeordneten ein Überhangmandat haben. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!) Das ist Fraktionsstärke, und das kann wirklich keiner wollen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Damit wird der Wählerwille verzerrt. Ich bin mir sicher, dass das Bundesverfassungsgericht dieser Praxis einen Riegel vorschieben wird. Wir wären bereit, auf die Überhangmandate zu verzichten. Es stimmt, dass Überhangmandate einmal Ihnen und einmal uns zugutekommen. Wir sind deshalb für diesen Ausgleich. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie von der FDP sich so gegen unseren Vorschlag stellen. (Zuruf von der FDP: Weil er das Problem nicht löst!) Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Sie jemals Überhangmandate bekommen. Sie werden von der Änderung, die Sie heute beschließen, nicht profitieren, Ihr Koalitionspartner aber schon. Auch diese merkwürdig konstruierte Reststimmenverwertung wird Ihnen nicht zum Vorteil gereichen. Ausgleichsmandate sind im Übrigen keine Erfindung der SPD. Es gibt sie in fast allen Landeswahlgesetzen. (Thomas Oppermann [SPD]: So ist es!) Die Grünen haben einen anderen Lösungsweg vorgeschlagen, der nicht dem SPD-Vorschlag entspricht, der aber immer noch besser ist als der Koalitionsentwurf. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nehmen wir als Kompliment!) Deshalb werden wir dem Vorschlag zustimmen. Der Entwurf der Linken ist ein Sammelsurium von Vorschlägen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Guten Vorschlägen!) Ihr Versuch, mithilfe getrennter Abstimmungen die Spreu vom Weizen zu trennen, ist gut gemeint, findet aber nicht unsere Zustimmung. Sie werden heute mit Ihrer Mehrheit Ihren Entwurf durchsetzen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dagegen Klage einreichen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich möchte es nicht versäumen, dem Kollegen van Essen von dieser Stelle zum Geburtstag zu gratulieren. (Beifall) Sie haben das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Jörg van Essen (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich muss gestehen, dass eine Rede im Bundestag nicht auf der Wunschliste für meinen Geburtstag stand. Aber es ergibt sich nun einmal so. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat man Sie genötigt?) Ich rede deshalb ganz gern, weil ich finde, dass das Wahlrecht eines der wichtigsten Themen in einem Parlament ist. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Das ist eine sehr sensible Materie, und deshalb sind alle, die sich damit beschäftigen, aufgerufen, damit sensibel umzugehen. Das gilt für uns als Gesetzgeber, aber – ich erlaube mir die Bemerkung – diese Sensibilität erwarte ich auch vom Bundesverfassungsgericht. Das Problem, das zu lösen uns aufgetragen wurde, nämlich das negative Stimmgewicht, ist ein Thema, das die Öffentlichkeit intensiv beschäftigt hat, und zwar aufgrund eines Vorgangs in Dresden, das aber ansonsten ein Nebenproblem ist. Wir haben bei der Diskussion feststellen müssen, dass wir an vielen Schrauben drehen konnten. Wir haben aber gemerkt: An welcher Schraube auch immer wir gedreht haben, es hatte auf die Chancen der Parteien – je nach ihrer Größe – erhebliche Auswirkungen. Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum es so lange gedauert hat; denn alles, was man sich überlegt hat, musste nachgerechnet werden. Man musste schauen, welche Auswirkungen die Veränderungen haben. Herr Kollege Oppermann, Sie haben Krokodilstränen vergossen und gesagt, das hätte seit vier Jahren geregelt werden können. (Thomas Oppermann [SPD]: Seit drei!) – Fast vier Jahre. – Dabei zeigen doch einige Finger auf Sie selbst. Sie waren doch die Hälfte der Zeit selber in der Regierung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Ein Dreivierteljahr!) Sie hätten in der Zeit Vorschläge machen können. Niemand hätte Sie daran gehindert. Sie hätten versuchen können, das Problem zu lösen. Daher nehme ich Ihren Vorwurf nicht ernst. Ich bitte aber um Verständnis, weil das der Grund dafür ist, warum es diese leichte Verspätung gibt, die auch wir selbstverständlich nicht gut finden. Ich finde den Ansatz, den wir gewählt haben, nämlich, wie man in der Medizin sagt, minimalinvasiv einzugreifen, richtig; denn es hat sich gezeigt, dass es nach dem bisherigen Wahlrecht faire Chancen für große Parteien, aber auch für kleinere Parteien gibt. Aufgrund des Wahlrechts gibt es sogar für neue Parteien die Chance, in die Parlamente zu kommen, wie wir es gerade in Berlin erlebt haben. Das sorgt für eine lebendige Demokratie in unserem Land. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir haben die Verpflichtung, für ein Wahlrecht zu sorgen, das genau diese Lebendigkeit auch in Zukunft sicherstellt. Frau Kollegin, Sie haben in Bezug auf Hamburg für Die Linke ein Beispiel gebildet und gesagt, dass Sie nicht verstanden hätten, dass das für Sie von Vorteil wäre. Es wäre für Sie von Vorteil. Sie würden ein solches Zusatzmandat für Reststimmen bekommen. Ihr Vortrag hat mir gezeigt, dass Sie das neue Wahlrecht ganz offensichtlich nicht verstanden haben. Deshalb sehe ich Ihrer Ankündigung, dass Sie deswegen nach Karlsruhe gehen werden, mit großer Gelassenheit entgegen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege van Essen, gestatten Sie eine Frage? Jörg van Essen (FDP): Nein, danke. Frau Kollegin, ich habe eine so kurze Redezeit, dass ich das gerne im Zusammenhang vortragen würde. Ein Gesichtspunkt ist leider nicht angesprochen worden, der auch mir persönlich wichtig ist. Ich habe gesagt, Wahlrecht müsse auch Chancengleichheit sicherstellen. Dazu gehört, einen entsprechenden Rechtsschutz gegen die Nichtzulassung zur Wahl zu haben. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ich bedauere ganz außerordentlich, dass das bisher keine Rolle gespielt hat. Auch das verbessern wir. Das Thema Zweitstimmen bzw. Überhangmandate hat eine Rolle gespielt. Ich will nicht verhehlen: Wir haben bisher keine Überhangmandate gehabt. Die SPD hat dieses Thema erst entdeckt, als sie keine mehr bekam. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiterträumen!) Sie wären sehr viel glaubwürdiger, wenn Sie sich schon früher mit diesem Thema befasst hätten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für uns ist die Lage klar und eindeutig. Das Verfassungsgericht hat eine Aussage getroffen, die wir unterstreichen: Überhangmandate sind nicht erwünscht. Deshalb gehört zu dem Vorschlag, dass, wenn es Rest-stimmenmandate gibt, diese mit Überhangmandaten verrechnet werden. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um Überhangmandate zu reduzieren. Es gibt jedoch die klare Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass Überhangmandate in einem bestimmten Umfang respektiert werden können. Wir respektieren die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts und sehen damit der Entscheidung in Karlsruhe sehr gelassen entgegen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin, zunächst vielen Dank, dass Sie sich so beherzt für meine vier Minuten eingesetzt haben. Meine Damen und Herren! Herr Kollege Altmaier, Sie haben uns gleich fünfmal Scheinheiligkeit vorgeworfen. (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU]) Deshalb erinnere ich daran, dass Seine Heiligkeit vor einer Woche fast genau zu dieser Stunde hier eine rechtstheoretische Vorlesung gehalten hat. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Geschmackloser Vergleich!) Er hat dabei gesagt – dies nur zur Erinnerung –, dass in bestimmten Grundfragen des Rechtes das Mehrheitsprinzip nicht ausreiche. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!) Gleichzeitig hat er ausgeführt – das halte ich Ihnen zugute, Herr Kollege Krings –, dass das wahrhaft Rechte nicht immer einfach zutage trete. Ich füge hinzu: Das wahrhaft Unrechte erkennt man oft sehr schnell. Das ist nämlich der Entwurf, den Sie jetzt endlich vorgelegt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben nicht auf das Römische Recht, sondern auf römische Machtsicherungstechniken – divide et impera! – in moderner Fassung zurückgegriffen: (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Wieland!) Wir zerteilen das Wahlgebiet in 16 Stücke und sacken überall die Überhangmandate ein. Dann gibt es auf Intervention des Fraktionsvorstands der FDP – der Kollege Ruppert ist ja schuldlos; er ist gar nicht darauf gekommen – noch die Stimmen von Rudis Resterampe oder, wenn man es genauer sagen will, von Guidos Reste-rampe. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD) Lieber Herr van Essen, da Sie heute Geburtstag haben: Was würden Sie denn sagen, wenn die CDU mit einer Geburtstagstorte kommt und sagt „Wir teilen die Torte in 16 Stücke. Dann stimmen wir bei jedem Stück ab, wer es essen darf. Das sind aber immer wir, und Sie bekommen nur die Restkrümel“? (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD) Happy Birthday, lieber Herr van Essen! Ich hätte Ihnen heute etwas anderes gewünscht. Der Kollege Altmaier war ehrlich. Er hat gesagt: Die Reststimmenproblematik haben wir zurückgedrängt bzw. etwas reduziert. – Meine Güte! Was hat denn das Bundesverfassungsgericht zu dem negativen Stimmgewicht gesagt? Es hat gesagt: Es führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen. Aber Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir sind nur noch ein bisschen schwanger, wir sind nur noch ein bisschen willkürlich und ein bisschen widersinnig. – Sie denken, dass das überzeugt. Es überzeugt aber nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Als nächster Redner spricht der Kollege Uhl. Ich weiß schon, was er sagen wird. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Die Wahrheit!) – Ja, Sie sind absolut berechenbar. Das ist positiv. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das liebt der Wähler!) – Ja. – In der letzten Legislaturperiode haben wir einen Entwurf vorgelegt, von dem es hieß, dass wir damit das Problem der CSU nicht gelöst hätten. Daraufhin habe ich gesagt: Was die CDU in 60 Jahren nicht geschafft hat, haben wir in sechs Monaten nicht geschafft. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wie wäre es mit Inhalten statt mit Klamauk? Das Thema ist zu wichtig!) Nun sind wir weiter. Jetzt haben wir das Problem der CSU gelöst. Nun sagen Sie aber: Wie unschön, wie unfein. Wir haben immer zugegeben, dass unser Entwurf an dieser Stelle nicht filigran ist. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das stimmt!) Er ist der CSU angepasst, also krachledern, radikal, aber das Problem ohne Wenn und Aber lösend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem sagen Sie – gestern bei Stoibers Geburtstag noch in der Lederhose, heute im Plenarsaal als Mimose –: Wie kann man so böse sein? – Das reimt sich zwar, macht es aber nicht besser und ändert nichts an Ihrer beleidigten Haltung. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD) Unser Vorschlag ist verfassungsfest. Weil die Bräuche so sind, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof schon einmal genauso entschieden. Deswegen, lieber Herr Kollege Uhl: Akzeptieren Sie es! Abschließend will ich sagen. Wir haben heute Morgen viel über unser Königsrecht als Parlamentarier geredet. Hier geht es um das Königsrecht der Bürgerinnen und Bürger, nämlich um das Wahlrecht. Da können wir nicht akzeptieren, dass sich drei Parteien nach ihrem Gusto den Kuchen zurechtschneiden. Deshalb sage ich: Nicht bei Philippi, aber in Karlsruhe sehen wir uns wieder. Wir freuen uns darauf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat das Wort für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Meine Damen und Herren! Auch wir freuen uns darauf, uns in Karlsruhe wiederzusehen. Lassen Sie mich trotz Ihrer polternden Polemik, Herr Wieland, wie Herr van Essen etwas sensibler mit dem Thema umgehen. (Thomas Oppermann [SPD]: Das ist so Ihre Art!) Wir hätten es natürlich gerne gesehen, dass nicht nur unser Gesetz in Karlsruhe, sondern auch Ihr Gesetzentwurf, Herr Wieland, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie zustimmen!) und auch der Gesetzentwurf der SPD oder gar der Linken geprüft würden. Leider ist das nicht möglich. Der Gesetzentwurf der SPD ist typisch SPD. Sie sagen: Da wir, was die Überhangmandate angeht, in jüngster Zeit vom Wähler schlecht bedient wurden, muss etwas geschehen. Aber Überhangmandate abzuschaffen, wie es die Grünen vorschlagen, wollen Sie nicht. Aber Ihnen würde es gefallen, wenn die Überhangmandate ausgeglichen würden, indem Sie die gleiche Anzahl wie die Union erhalten. Sagen Sie doch einmal, worauf es Ihnen wirklich ankommt, Herr Oppermann. Ihre Partei hat in 50 Jahren bis 2005 alles in allem 38 Überhangmandate kassiert. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sind sie reuige Sünder! Freuen Sie sich doch darüber!) Sie haben sie dankend entgegengenommen und sich nie beim Wähler beschwert. Mit diesen 38 Überhangmandaten konnten Sie gut regieren. Die Union dagegen hat im gleichen Zeitraum nur 34 Überhangmandate bekommen. Auch wir haben uns darüber nicht beschwert und haben das Votum des Wählers hingenommen. Seit der letzten Wahl, als Sie gemerkt haben, dass Sie durch die Abspaltung Ihrer linken Freunde von Ihrer Partei strukturell kaum mehr Chancen haben, Überhangmandate zu bekommen, ist für Sie das Instrument der Überhangmandate Teufelszeug. Für Sie muss es nicht, wie die Grünen es fordern, abgeschafft, sondern ausgeglichen werden. Ausgleich bedeutet aber, dass im Plenarsaal 100 weitere Sitze aufgestellt werden müssen. (Thomas Oppermann [SPD]: Ah!) Wer von Ihnen will denn so etwas? Der Wähler und Steuerzahler will so etwas nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Sie wollen es! Sie haben 24 Stühle aufgestellt!) Ich will auf den Vorschlag der Grünen nicht zu sprechen kommen. Ihm ist die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben, Herr Wieland. Unter uns Juristen: Das nennt man Evidenztheorie. Es ist schade, dass die Verfassungsrichter dazu nicht urteilen können. Über den Gesetzentwurf der Linken ist schon gesprochen worden. Er ist in vielen Teilen so abwegig, dass es sich nicht lohnt, darauf vertieft einzugehen. Wir haben uns wirklich Gedanken gemacht: Was ist der Auftrag des Verfassungsgerichtes? Dieser Auftrag lautet, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Die Kausalität, die dahin führt, liegt nicht im Überhangmandat; sie liegt vor allem in der Listenverbindung. Deswegen haben wir die Listenverbindung gekappt, und damit ist das Problem strukturell gelöst. Das ist der Punkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Mit der in unserem Gesetzentwurf verankerten Lösung – das Innenministerium hat es entsprechend errechnet; diese Berechnungen werden wir in Karlsruhe vorlegen – liegt die Chance, dass es wieder zu einem negativen Stimmgewicht kommt, bei 0,02 Fällen von 1 000 Fällen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Das steht da gar nicht drin!) Das heißt, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Damit können wir uns in Karlsruhe sehen lassen. Zum Überhangmandat ist genug gesagt worden. Das Verfassungsgericht hat niemals gesagt, dass ein Überhangmandat verfassungswidrig ist. Zur Verfassungswidrigkeit könnte es nur bei Überhangmandaten in einer bestimmten Größenordnung kommen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben schon 24! Früher waren es 0 bis 3!) Ich als frei gewählter Abgeordneter aus München bin von der Bevölkerung viermal gewählt worden. Darauf bin ich, mit Verlaub, stolz. Sehr viele von Ihnen sind in ihrem Wahlkreis direkt gewählt worden und sind darauf ebenfalls stolz – mit Recht. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie waren doch wohl der Erststimmenkönig!) Wenn wir nun nach 50 Jahren erfolgreicher Wahlen ein Bekenntnis zu dem personalisierten Verhältniswahlrecht – Verhältniswahl einerseits, personalisierte Wahl andererseits; eine Stimme für die Person, eine Stimme für die Partei – ablegen wollen, dann sollten wir Respekt vor dem Wahlergebnis – sie haben ihre Erststimme für eine Person abgegeben – der Wähler haben. Zu sagen: „Wer die Mehrheit hat, kommt ins Parlament nicht hinein“, Herr Wieland, bedeutet, dass man den Wählerwillen mit Füßen tritt. Nicht mit uns! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt komme ich noch auf einen für mich ganz wichtigen Punkt zu sprechen: Redlichkeit, Ehrlichkeit im Umgang mit dem Wahlrecht. Es wäre mit uns nie möglich gewesen, ein Wahlrecht zu schaffen, durch das wir rechnerisch, also was das Wahlergebnis bzw. die Verteilung der Mandate angeht, einen Vorteil haben. So etwas ist in hohem Maße undemokratisch und hätte in Karlsruhe niemals Bestand. Deswegen haben wir ausgerechnet: Wenn man den Gesetzentwurf, den wir jetzt nach zweiter und dritter Lesung verabschieden, auf die letzte Wahl anwendet, dann – jetzt passen Sie auf, Herr Oppermann – hätte die SPD ein Mandat mehr bekommen. (Thomas Oppermann [SPD]: Geschenkt!) Der Anteil der Grünen an der Torte an Wählerstimmen – Sie haben ihn nicht verdient, nicht nur, weil Sie, anders als Herr van Essen, keinen Geburtstag haben, sondern weil Sie Grüner sind – wäre danach um zwei Tortenstücke größer. Nach unserem Gesetzentwurf hätten die Grünen zwei Sitze mehr in diesem Bundestag. Dennoch erwecken sie an diesem Rednerpult den Eindruck, als wollten wir uns bedienen. (Thomas Oppermann [SPD]: Es geht doch gar nicht um Tortenstücke!) Nach unserem Gesetzentwurf hätten wir, Herr Wieland, Herr Oppermann, keinen einzigen Sitz mehr, aber auch keinen weniger. Für uns wäre es dasselbe Ergebnis. So viel zu der Behauptung, dass wir uns hier bereichern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Herr Beck, Sie sind ja ein Mensch, mit dem man reden kann. Sie haben an diesem Rednerpult vor wenigen Minuten gesagt, mit der Verabschiedung unseres Entwurfs eines Gesetzes zur Reformierung des Wahlrechts hätten wir einen Anschlag auf die Demokratie vor; hätte dieses Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahl gegolten, hätte sich die Union eine größere Mehrheit ergaunert. In Wahrheit hätte sie keinen Sitz mehr, und Sie behaupten an diesem Rednerpult etwas anderes. (Zuruf von der FDP: Pfui!) Obwohl die Grünen danach zwei Sitze mehr bekommen hätten, sind sie sich nicht zu schade, an diesem Rednerpult solche Unwahrheiten, solch eine Polemik zu äußern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist unanständig, so mit dem Gesetzentwurf umzugehen. Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns in Karlsruhe wieder, und das ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Da backen Sie kleinere Brötchen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/6290 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ich kann nur vermuten, dass die Koalition dem zustimmen wollte. Wenn das nicht auf Bedenken trifft, dann erkläre ich jetzt, dass der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen ist. Andernfalls müssten Sie alle Platz nehmen, und dann wiederholen wir den Vorgang. (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir konkludent gemacht!) – Keine Bedenken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze an den Urnen einzunehmen. – Sind die Plätze besetzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte eingeworfen? – Das ist der Fall, dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.3 Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, wieder Platz zu nehmen, weil noch weitere Abstimmungen anstehen. Hierfür benötige ich einen gewissen Überblick. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5895 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der SPD und der Grünen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts. Hier wird eine persönliche Erklärung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu Protokoll genommen. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5896 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke hat getrennte Abstimmung verlangt. Ich rufe zunächst auf Art. 2 Nr. 1, Art. 2 Nrn. 3 bis 7, Art. 2 Nr. 13, Art. 2 Nrn. 16 bis 18 sowie Art. 10. Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese Artikel sind abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe sodann auf Art. 2 Nr. 2 sowie Art. 2 Nr. 8. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese beiden Artikel sind mit gleichem Stimmverhältnis abgelehnt. Ich rufe auf Art. 2 Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Art. 2 Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3 sind abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grünen. Schließlich rufe ich auf Art. 1, Art. 2 Nr. 9, Art. 2 Nrn. 14 und 15 sowie Art. 4 bis 9. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Was ist mit den Grünen? – Gegenstimmen. – Diese Artikel sind mit den Stimmen aller Fraktionen abgelehnt bei Zustimmung der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung insgesamt abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt die weitere Beratung. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4694 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und der Grünen. Damit entfällt auch hier die weitere Beratung. Interfraktionell ist vereinbart, jetzt den Tagesordnungspunkt 9 – dabei geht es um den Einsatz der Bundeswehr in Südsudan – zu beraten; der Tagesordnungspunkt 6 wird nach Tagesordnungspunkt 9 aufgerufen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so vereinbart. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: – Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 – Drucksachen 17/6987, 17/7213 – Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Heidemarie Wieczorek-Zeul Marina Schuster Jan van Aken Kerstin Müller (Köln) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 17/7216 – Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über die Mission UNMISS, die als Fortführung der alten Mission UNMIS gilt, aber nach der Unabhängigkeitserklärung des Südsudan am 9. Juli dieses Jahres, am Ende eines langen Separationsprozesses, einen anderen Charakter hat. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass wir die Militärbeobachtungsmission, an der wir uns im Rahmen des letzten Mandats noch beteiligt haben und die vor allem dem Grenzregime galt, nicht fortführen. Deshalb wird die Obergrenze auf 50 Soldaten reduziert. Es ist dringend notwendig, dass die Mission im neu entstandenen Staat Südsudan, so wie es die Weltgemeinschaft vorsieht, einen zivilen Charakter hat. Wer einmal dort gewesen ist, weiß, wie groß die Handlungserfordernisse bei den Themen des Infrastrukturausbaus, des Aufbaus von Regierungs- und Verwaltungsstrukturen und der Einführung von so etwas wie Rule of Law sind, alles von einer überaus rudimentären Basis ausgehend. Es ist offensichtlich, dass es dabei Probleme geben wird – seien wir nicht naiv! –; denn auch wenn der Umbau der SPLA zu einer Parteiorganisation erfolgt ist, so ist sie im Moment doch die allein regierende Partei, mit all den Risiken, die einem solchen System innewohnen. Deshalb ist klar, dass wir bei der weiteren Umsetzung der Mission ein besonderes Augenmerk auf die Dinge richten müssen, deren Beachtung wir in der westlichen Wertegemeinschaft erwarten, nämlich auf den Minderheitenschutz und die Garantie der Menschenrechte. Es ist nicht so leicht, aus den vielen Kämpfern, die während der Zeit des Bürgerkrieges im Süden gekämpft haben, Bauern zu machen. Das heißt, die Demilitarisierung, die Entwaffnung weiter Teile der Kämpfer wird ein erhebliches Maß an Anstrengungen – auch, aber nicht nur finanzieller Art – erfordern. Der internationalen Gemeinschaft ist also dringend zu raten, hier mit erheblichen Mitteln einzusteigen. Einige Teile des Comprehensive Peace Agreement, das die Grundlage für die Unabhängigkeit des Südens bildete, sind natürlich noch nicht umgesetzt. Da geht es um die Aufteilung der Ressourcen, vor allem des Öls, die endgültige Grenzziehung und viele andere Themen. Auch diese Punkte werden auf der Tagesordnung bleiben; auch hier tut die internationale Gemeinschaft gut daran, das Augenmerk weiterhin darauf zu richten. Im Übrigen sollte klar sein, dass wir beide Seiten des Konflikts in Sudan wahrnehmen müssen, wenngleich der verbleibende Teil des Sudan ein religiös sehr einseitig geprägtes Land sein wird, das mit Recht als Teil der Entwicklung im arabischen Raum gesehen werden muss. Natürlich steht die Beantwortung einiger Fragen auf dem Plan, vor allem, was den Norden des Sudan betrifft. Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie wollen wir uns dem Thema Entwicklungszusammenarbeit nähern? Ich will deutlich sagen: Die Vorstellungen, die wir haben, gehen so weit, wie man informell – also unterhalb der Regierungsebene, unterhalb einer offiziellen Ebene – gehen kann, aber eben auch nicht weiter; denn nach wie vor hat der Sudan einen Präsidenten, der international gesucht wird. Nach wie vor ist aufgrund der Haltung der regierenden National Congress Party, was das Thema Teilhabe an Wohlstand und an politischer Macht – gerade der Peripherie, ich nenne die Stichworte Darfur, Kurdufan, Blue Nile – betrifft, noch nicht absehbar, ob irgendeine Art von Bewegung in Richtung Ausgleich erfolgt. Wie gesagt: Alles, was man unterhalb dieser Ebene tun kann, muss getan werden. Das sind wir den Menschen, auch im Norden des Sudan, schuldig. Die Schwelle des regierungsamtlich Offiziellen sollte nicht überschritten werden. Im Gegenteil: Wir müssen prüfen, ob in den nächsten Jahren bei den Themen Schuldenerlass und wirtschaftliche Entwicklung nicht doch Verhandlungsmöglichkeiten gegeben sind, um auch im Norden des Sudan auf eine ausgleichende Lösung hinzuwirken. Im Übrigen gilt auch hier – um noch einmal auf den Süden einzugehen –: Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes muss im Vordergrund stehen. Es geht vor allem um die Stärkung der landwirtschaftlichen Ressourcen, die das Land hat. Ich bin davon überzeugt, dass das neue UN-Mandat an dieser Stelle einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Die Kritik, dass die militärische Komponente vor allem von afrikanischen Staaten gestellt wird, kann ich nicht teilen. Die internationale Gemeinschaft hat sich eine Regel der Afrikanischen Union zu eigen gemacht hat, die besagt: „African Solutions for African People“. Dadurch kommt – jedenfalls aus afrikanischer Sicht – zum Ausdruck, dass die militärische Komponente schwerpunktmäßig durch afrikanische Truppen abgedeckt wird und dass wir uns auf das Thema Aufbau ziviler Strukturen im administrativen und im wirtschaftlichen Bereich konzentrieren. Für die militärische Komponente, an der sich Deutschland beteiligt – die Entsendung von 50 Soldaten –, werben wir um Zustimmung. Wir werben insgesamt um die Zustimmung zu dieser Mission. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Christoph Strässer. (Beifall bei der SPD) Christoph Strässer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es bemerkenswert, dass das Thema Sudan innerhalb von drei Monaten viermal auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht. Das Land hat es verdient, dass wir uns mit ihm beschäftigen, aber ich glaube, es wäre uns allen lieber, wenn die Situation eine andere wäre. Aber die Situation ist, wie sie ist. Die Tatsache, dass wir heute über das neue UNMISS-Mandat abstimmen werden – ich füge hinzu: die SPD-Fraktion wird zustimmen –, ist ein Beleg dafür, dass wir die Entwicklung in diesem Land und in dieser Region ernst nehmen. Wir wollen nicht, dass sich der Sudan und sein ohnehin fragiles Umfeld in einer Weise entwickeln, dass die Menschen von der Entwicklung genauso wenig profitieren wie die Menschen in den Regionen am Horn von Afrika, in Somalia, Äthiopien und Eritrea. Ich sage das deshalb – vielleicht ist Ihnen das nicht bekannt –, weil das World Food Programme heute eine sogenannte Warnung herausgegeben hat. Es hat davor gewarnt, dass in mindestens zehn Regionen des Südsudan im Jahr 2012 eine Hungersnot ausbrechen könnte, und das in einem Land, das fruchtbar ist, das seine Bevölkerung selbst ernähren könnte und in dem viele Voraussetzungen, von denen andere afrikanische Länder nur träumen können, gegeben sind. Was bedeutet das für unsere heutige Diskussion? Wir stimmen hier im Deutschen Bundestag über den Einsatz der Bundeswehr ab. Dieser Einsatz der Bundeswehr ist – das sollten wir wahrnehmen; diese Chance sollten wir ergreifen – Teil des Engagements nicht nur Europas, sondern auch der gesamten internationalen Staatengemeinschaft zur Sicherung der Staatlichkeit, der Menschenrechte und der Zukunft der Menschen in Sudan insgesamt. Deshalb finde ich, dass man diesem Mandat heute zustimmen muss, um die Sache voranzubringen. Ich tue das mit Überzeugung und nicht mit Bauchschmerzen wie an anderen Stellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich aus einem Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juli 2011 zitieren. Lassen Sie mich Folgendes zur Erläuterung sagen: Ich beziehe mich in diesem Zusammenhang gerne auf die Friedrich-Ebert-Stiftung, weil sie seit vielen Jahren in beiden Teilen des Sudan aktiv ist. Die Kollegin Anja Dargatz, die dieses Papier verfasst hat, arbeitet seit 2008 mit einem Büro und vielen Ortskräften in Khartoum und einem Büro in Juba zusammen. Sie versuchen, die Menschen, die verfeindet sind, die gegeneinander gekämpft haben, zusammenzuführen. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger und richtiger Ansatz, den es außerhalb dieser Institution nur ganz selten gibt. In diesem Papier wird Folgendes ausgeführt – ich zitiere jetzt –: Die Internationale Gemeinschaft wird auch in absehbarer Zeit nicht aus dem Südsudan wegzudenken sein, sei es als privatwirtschaftlicher Investitionsgeber, als humanitärer Helfer und bei der Entwicklungszusammenarbeit, als Weltbankkreditgeber oder als UNMIS-Truppensteller. Vergleicht man die humanitäre Situation im Südsudan mit anderen Ländern in der Region, die trotz Entwicklungsvorsprungs ebenfalls noch beträchtliche Unterstützung erfahren, so ist die Unterstützung mehr als gerechtfertigt. Ich glaube, besser kann man die Situation und das, was zu tun ist, nicht auf den Punkt bringen. Deshalb möchte ich auf die Frage eingehen, was UNMISS angesichts der desolaten ökonomischen und sozialen Situation in Südsudan tun kann. Ich habe mir die Reden angeschaut, die im Rahmen der ersten Lesung hier gehalten worden sind, insbesondere von denjenigen, die gegen eine Fortsetzung des Mandats plädiert haben. Ich möchte zwei Dinge herausgreifen. Der für mich wichtigste Aspekt sind die Sicherheitsstrukturen. Es geht um die Möglichkeiten der Entwaffnung. Dazu ist gesagt worden, dass eines der wesentlichen Probleme ist, dass Gruppen, Milizen, auch Milizen, die der SPLA nahestehen und mit ihr zusammenarbeiten, bewaffnet sind, dass diese Waffen nicht abgegeben worden sind. Es ist gesagt worden, dass dies die größte Gefahr für die Zivilbevölkerung ist. Ich füge hinzu: Die Kollegin von den Grünen hat das Problem der Kleinwaffen angesprochen. Ich möchte eine Zahl nennen, um die Dimension dessen, worüber wir reden, deutlich zu machen. Nach Schätzungen einer international anerkannten Organisation, die sich mit Rüstungsexport bzw. Kleinwaffenexport befasst, gibt es in Sudan 720 000 Kleinwaffen in zivilen Händen. Das bedeutet im Klartext, umgerechnet auf die Bevölkerung: Von 100 Menschen in Sudan haben 8 eine Kleinwaffe. Zum Verhältnis: Die Zahl der offiziellen Polizeiwaffen liegt bei 200 000. Man muss sich vor Augen halten, was das bedeutet. Deshalb stellt sich für mich die Frage: Wenn man es mit diesem Programm der Entmilitarisierung, der Demobilisierung, der Entwaffnung und der Reintegration ernst meint, was ich für richtig halte, dann muss man dafür auch Instrumente bereithalten. Wenn wir beklagen, dass dort bewaffnete Milizen aktiv sind, dann frage ich mich: Welche Institution, welcher Akteur sammelt diese Waffen ein und führt sie ihrem letzten Zweck zu, nämlich sie auf den Müllhaufen zu werfen? Ich sage: Das macht keine lokale Polizei. Das macht keine lokale Nichtregierungsorganisation. Dafür braucht man eine entsprechende Ausbildung. Dafür braucht man geschulte Leute. Daher ist das UNMISS-Mandat in der jetzigen Phase für mich wirklich unverzichtbar. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wenn man sich diese Frage wirklich ernsthaft stellt, dann muss man sich auch einmal überlegen, wie die internationale Staatengemeinschaft aufgestellt ist. Das CPA, das umfassende Friedensabkommen, ist erwähnt worden. Es ist nicht in allen Punkten umgesetzt worden, in ganz wesentlichen nicht. Der Ehrlichkeit und der Wahrheit halber muss man aber auch feststellen – viele von uns haben den Entstehungsprozess bis zum Jahr 2005 begleitet; wir waren mit dem Menschenrechtsausschuss in Arusha, als es nicht geklappt hat –: Dieses umfassende Friedensabkommen, das CPA, wäre nicht zustande gekommen und auch die darauffolgende Ent-wicklung – die nicht gut verläuft – wäre überhaupt nicht in Gang gekommen, wenn das UNMIS-Mandat damals nicht im CPA verankert worden wäre. UNMIS ist nicht deshalb verankert worden, weil die Vereinten Nationen das wollten, sondern weil beide Parteien, der Norden wie der Süden, gesagt haben: Jawohl, wir wollen eine solche Komponente, wir brauchen die internationale Staatengemeinschaft in diesem Umfang. Deshalb war das, glaube ich, damals eine richtige Entscheidung. Jetzt müssen wir uns angesichts der neuen Aufgaben für UNMISS im Süden überlegen, was zu tun ist. Ich sage noch einmal: Die erste wichtige Aufgabe ist die Entwaffnung, dieses DDRR-Programm. DDRR heißt: Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration. Das hat also nichts mit deutschen historischen Reminiszenzen zu tun. Dafür brauchen wir die UNMISS-Soldaten. Wir brauchen sie zweitens, aber auch – da möchte ich ein Beispiel nennen, das mir selber passiert ist – für die Sicherung von Transportkapazitäten. Die Mitarbeiter des World Food Programme sagen: Die Transportmöglichkeiten in den Südsudan sind deshalb so schwierig und kompliziert, weil beispielsweise private Organisationen, die in diesem Bereich aktiv sind, ihre Autos nicht mehr zur Verfügung stellen, weil sie abgefangen werden, weil sie Milizen anheimfallen. Daher sind sie nicht mehr in der Lage, die Lebensmittel in das Land zu transportieren. Dafür braucht man Schutz. Ich frage auch an dieser Stelle: Wer gewährleistet diesen Schutz? Das ist für mich der wesentliche Grund, zu sagen: Wenn es an dieser Stelle vorangehen soll, dann brauchen wir noch für eine sehr lange Zeit die Absicherung durch eine Institution wie UNMISS. Ich sage deshalb zum Schluss: Wir können bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten entsenden. Tatsächlich sind 12 vor Ort. Weil sich diese 12 vielleicht ein wenig einsam vorkommen, haben sie es, finde ich, wirklich verdient, dass wir die Arbeit, die sie dort unter schwierigsten Umständen leisten – sie sind keine Kampftruppe –, respektieren und dass wir ihnen wie auch allen anderen zivilen Helferinnen und Helfern, die beim Aufbau des Sudan aktiv sind, alles Gute wünschen. Dafür werbe ich, und deshalb werbe ich auch für die Unterstützung dieses Mandats. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank für Ihren Beitrag, Herr Strässer. Ich glaube, er knüpft gut an das an, was wir am 25. März 2010 hier verabschiedet haben. Mit unserem interfraktionellen Antrag haben wir ausgedrückt, dass uns nicht gleichgültig ist, was sich in Sudan tut, und dass wir diesem Thema hier im Deutschen Bundestag eine große Bedeutung zumessen. Die Arbeit der Bundeswehr für UNMISS ist wichtig, damit die Menschen in Sudan ein Minimum an Stabilität erhalten. Unser Beitrag, den wir mit zwölf Soldaten leisten, ist zwar klein, aber wichtig. Die große Geschlossenheit, mit der wir diesen Einsatz auf den Weg bringen, ist ein wichtiges Zeichen. Der Sudan steht – ich möchte zum politischen Teil kommen – vor großen Herausforderungen. Selbst in der Friedenspolitik in Afrika ist es eine der größten Herausforderungen überhaupt. Gerade der neue Staat Südsudan steht vor immensen Gefahren. Deshalb müssen wir versuchen, ihn außenpolitisch wie auch innenpolitisch zu stabilisieren und zu unterstützen. Erstens: zu den außenpolitischen Herausforderungen. Das Comprehensive Peace Agreement zwischen Nord- und Südsudan ist noch nicht vollständig umgesetzt. Mit dem Nordsudan besteht Uneinigkeit über Teile des Grenzverlaufs sowie über die Zugehörigkeit der Region Abyei. Die wichtige Frage der Aufteilung der Erlöse vor allem aus der Erdölförderung zwischen dem Nordsudan und dem Südsudan ist nach wie vor unbeantwortet und bietet daher sehr viel Konfliktstoff. Es gibt drei große Konfliktherde. In den vergangenen Wochen kam es innerhalb des Sudan, in Abyei wie auch in den Bundesstaaten Süd-Kurdufan, also in den Nuba-Bergen, über die wir hier schon einmal diskutiert haben, und Blauer Nil zu bewaffneten Auseinandersetzungen erheblichen Umfangs zwischen den Sudan Armed Forces, der SAF, und lokalen Milizen, über deren Ausrichtung uns Herr Strässer das eine oder andere mitgeteilt hat. In Abyei konnte die Friedenstruppe die Lage beruhigen. Die überwiegend äthiopischen Soldaten zeigen dort, was innerafrikanische Verantwortung und Solidarität bedeuten. Das ist ein wichtiger Beitrag. Wir sind mit nur 12 Soldaten im Einsatz; wir können diese Zahl im Fall des Falles auf 50 anheben. Insgesamt ist es so, dass vor allem afrikanische Verbündete in der Region tätig sind. Das bleibt ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung insgesamt und damit zur Stabilisierung des Kontinents. In den ressourcenreichen Konfliktregionen, in Süd-Kurdufan und Blauer Nil, geht der Konflikt, der im Juni ausgebrochen ist, weiter. Wir sehen, dass in den umstrittenen Gebieten mit Gewalt Fakten geschaffen werden oder zumindest versucht wird, Fakten zu schaffen. Seit Juli sind nach Expertenangaben 200 000 Menschen aus Süd-Kurdufan vertrieben worden. Diese Faktoren werden zwar von der Weltöffentlichkeit wenig beachtet, aber es wird deutlich: Wir stehen vor einem ganz großen Konflikt, in dem wir unserer Verantwortung gerecht werden müssen. In der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft liegt es deshalb, den Druck zu erhöhen, auch den politischen Druck. Wir dürfen in unseren Anstrengungen, den Prozess zu begleiten, nicht nachlassen. Wir können nicht zulassen, dass irgendwann im Hinblick auf den Sudan von einem vergessenen Konflikt und dann, wenn wir uns wieder daran erinnern, von einem erneuten Völkermord oder „failed state“ die Rede sein wird, sondern wir müssen jetzt, da wir etwas tun können, handeln. Deutschland steht als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in einer besonderen Verantwortung. Dieser Verantwortung wird unser Außenminister durch sein Engagement und durch die wichtige Reise, die er unternommen hat, gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens: zu den innenpolitischen Herausforderungen. Die Bildung eines Staates aus 60 verschiedenen Ethnien ist relativ schwierig, wie sich jeder vorstellen kann. Die Entwaffnung und Reintegration ehemaliger oder immer noch aktiver Guerillakämpfer ist eine große Herausforderung. Auch der Versuch, für sie eine Erwerbsbasis zu schaffen – als Handwerker, Angestellte oder Arbeiter –, ist sicherlich eine Herausforderung, der wir noch mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Der Aufbau der Infrastruktur für Bildung und Wirtschaft ist wahrscheinlich wesentlich ausschlaggebender als der militärische Beitrag, den wir leisten können. Deshalb gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem der politischen Verhandlungslösung und den Möglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit. Als Rahmen dafür brauchen wir Stabilität und Sicherheit, einerseits politisch, andererseits militärisch. Ich finde es richtig und gut, dass dieser Einsatz, anders als andere Einsätze, in diesem Haus über eine ganz breite Basis verfügt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen bedanken. Es ist an dieser Stelle auch bemerkenswert, dass sogar Herr Ströbele seinem Herzen einen Ruck gegeben hat und diesem Einsatz zustimmen wird. Ihnen danke ich ganz besonders. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Vor diesem Hintergrund, dass selbst Sie zustimmen können, finde ich es beschämend, dass die Linksfraktion diesem Einsatz nicht zustimmt. Noch beschämender finde ich, dass wir im Plenum des Deutschen Bundestages regelmäßig mit irgendwelchen Verschwörungstheorien konfrontiert worden sind. Ihnen, Kollegen von der Linksfraktion, ist das Schicksal der Menschen in Südsudan offensichtlich vollkommen egal. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) Ich bitte Sie im Namen meiner Fraktion um Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Jan van Aken. (Beifall bei der LINKEN) Jan van Aken (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ausnahme der letzten Sätze von Herrn Mißfelder kann ich vieles von dem, was Sie bis jetzt gesagt haben, voll und ganz unterstützen. (Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Na also! Es geht doch!) – Ja. Der junge Staat Südsudan braucht unsere Unterstützung, um die unglaublichen Probleme, vor denen er jetzt steht, zu lösen. Es fehlt an fast allem: Es fehlt an wirtschaftlicher Entwicklung, an Schulen, an Krankenhäusern, an Straßen und vor allem natürlich an einem funktionierenden demokratischen Staatsapparat. Das Einzige, das im Moment im Überfluss vorhanden ist, sind Waffen und Gewalt. Das Problem ist nur: Wir stimmen heute gar nicht darüber ab, wie diese Probleme gelöst werden können. Einzig und allein zur Abstimmung steht heute die Frage, ob deutsche Soldaten in den Südsudan geschickt werden sollen. Dies lehne ich allerdings ab. (Beifall bei der LINKEN) Herr Mißfelder, in der heutigen Abstimmung geht es auch nicht um all die Konflikte, die Sie geschildert haben, ob in Abyei, Süd-Kurdufan oder Blue Nile. Sie sollten sich noch einmal genau anschauen, was heute das Thema ist. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, das weiß er doch!) Die entscheidende Frage ist doch: Was braucht der Südsudan im Moment wirklich? Wie kann er von deutscher Seite unterstützt werden? Wir haben im Juli eine lange Liste von Vorschlägen gemacht; Sie können sie nachlesen. Ich will nur drei dieser Vorschläge vortragen. Erstens. Die zivile Konfliktbearbeitung muss ausgebaut werden. Wir waren im November letzten Jahres vor Ort. Wir haben dort viele hervorragende Projekte im Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung besucht. Das funktioniert. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Nein! Das ist totaler Quatsch!) Die zivilen Konfliktbearbeiter können den Ausbruch von Gewalt wirklich verhindern, indem sie die Konflikte schon vorher lösen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja, ja! Das können sie aber nur, weil sie militärisch unterstützt werden!) Solche Projekte haben Sie, Herr Westerwelle, eingestellt, anstatt sie auszubauen und zu unterstützen. Sie können doch in Südsudan die Fachkräfte, die es dort jetzt gibt, unterstützen, und Sie können neue Fachkräfte ausbilden. Anstatt nur 5 zivile Konfliktbearbeiter aus Deutschland dorthin zu schicken, wie im letzten Jahr, können Sie 50 oder 500 zivile Konfliktbearbeiter dorthin schicken – und keine Soldaten. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Natürlich ist die Entmilitarisierung des Südsudan eine der wichtigsten Aufgaben. 300 000 Männer und Frauen des Sicherheitsapparats sind dort unter Waffen, und auch fast alle Menschen in der Zivilbevölkerung verfügen über eine Waffe. Auch hier können wir einen Beitrag zu einer Lösung leisten, indem wir zum Beispiel den Dialog und die Versöhnung in der Gesellschaft unterstützen, und wir können mehr dafür tun, dass die ehemaligen Soldaten und Kämpfer eine echte zivile Alternative bekommen. Das ist Demilitarisierung und Reintegration. (Beifall bei der LINKEN) Dafür brauchen wir drittens im ganzen Land eine wirtschaftliche Entwicklung. Das Land ist unglaublich fruchtbar; Herr Strässer hat das gesagt. Trotzdem kann es bis heute seine Bevölkerung nicht selbst ernähren. Diese Entwicklung, der Aufbau der Landwirtschaft in der Fläche und der Aufbau von anderen Verdienstmöglichkeiten in der Fläche, ist das Gebot der Stunde. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben noch sehr viele weitere Vorschläge. Das alles können Sie in unserem Antrag nachlesen. Für jede gute Idee zur zivilen Unterstützung des Südsudans können Sie immer mit unserer Zustimmung rechnen, für einen Militäreinsatz in Südsudan aber nicht. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte Ihnen auch sagen, warum nicht: Die UNO-Truppen in Südsudan – das ist Ihr Mandat – sollen die Zivilbevölkerung schützen, und das an der Seite der südsudanesischen Armee. Genau da liegt das Problem. Sie alle, die Sie sich damit befasst haben, wissen ganz genau, dass die südsudanesische Armee ein großer Teil des Problems und eben nicht ein Teil der Lösung ist. Die Soldaten der südsudanesischen Armee verletzen die Gesetze willkürlich, sie rauben, sie plündern, sie morden, und sie haben in den letzten Wochen sehr viele zivile Tote zu verantworten. An die Seite einer solchen Armee wollen Sie deutsche Soldaten schicken? Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein! (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) Das ist doch so, als ob Sie einem deutschen Polizisten jemanden an die Seite stellen und sagen: Pass auf, der ist gewalttätig, der raubt und der mordet, aber jetzt geh mal mit ihm auf Streife und sorge für Sicherheit in der Stadt. – Das ist doch völlig absurd. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich, was Sie da sagen!) Aber nicht nur die südsudanesische Armee ist ein Teil des Problems. Sie wissen genauso – das haben Sie eben auch gesagt –, dass auch die südsudanesische Regierung ein Teil des Problems ist. Sie wird immer undemokratischer und korrupter. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wegen solcher Ansichten sterben Menschen!) An die Seite einer solchen Regierung wollen Sie deutsche Soldaten schicken? (Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Ich bin der Meinung, hier machen Sie einen ganz großen Fehler. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Jan van Aken (DIE LINKE): Herr Ströbele hat sich gemeldet. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ja, aber die Redezeit ist abgelaufen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja, die Redezeit ist vorbei!) Jan van Aken (DIE LINKE): Gut. – Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte, nirgendwohin, und ich finde, wir sollten bei dieser Gelegenheit einmal überlegen, wie wir all die vielen Millionen Waffen in Sudan und überall sonst auf der Welt wieder einsammeln können. Das wäre doch einmal ein echter Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung – und das nicht nur in Südsudan. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie nehmen mit dieser Politik Tote in Kauf und lachen sich dabei noch tot!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Omid Nouripour. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ich habe den nächsten Redner aufgerufen. Bitte. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Herr Ströbele hatte sich zu einer Zwischenfrage gemeldet!) – Der Herr Ströbele hatte sich gemeldet, als die Redezeit schon abgelaufen war. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie zum ersten Mal geguckt!) Jetzt hat der Kollege Nouripour das Wort. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein bisschen bedauerlich, weil ich glaube, es wäre bereichernd gewesen, zu hören, was der Kollege Ströbele an dieser Stelle gesagt hätte. Vielleicht finden wir ja im Laufe der Debatte noch die eine oder andere Möglichkeit dazu. Herr van Aken, ich frage mich, was ich Ihnen eigentlich getan habe, dass ich hier nach Ihrer Rede zu Wort komme und darauf reagieren muss. Sie sagen, wir müssen schauen, was der Südsudan braucht. Dann fragen Sie die Betroffenen doch einmal, verdammt noch mal! Sie selber fordern diese Mission. Der Südsudan genauso wie der Norden, beide zusammen haben doch dazu aufgefordert und darum gebeten, dass es diese Mission gibt. Sie stellen sich hier hin, als würden Sie besser wissen, was die Sudanesen brauchen. Hören Sie doch hin, was sie selbst wollen, verdammt noch mal! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, es geht um eine Mission der Vereinten Nationen. Diese UNO-Mission leitet die ehemalige Vizedirektorin von UNICEF. Jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, dass dabei mehr Waffen ins Land kommen. Es tut mir leid: Das ist schlicht infam. Sie verkennen, dass es hier um Demobilisierung, Entwaffnung und Ausbildung geht, damit im Süden Sudans tatsächlich die Sicherheitskräfte sind, die auch den Ansprüchen der Menschen dort genügen. Es tut mir sehr leid, ich werde hier den festen Eindruck nicht los: Erst kommt bei Ihnen die Position, und dann werden irgendwie die Argumente nachgeschoben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Genau so ist es!) Ich möchte aber noch etwas zur Bundesregierung sagen. Vor drei Monaten haben wir als Deutscher Bundestag in einem sehr schnellen Verfahren diesem Mandat zugestimmt. Wir haben als Deutscher Bundestag gezeigt, dass wir Verantwortung übernehmen und für die Verlässlichkeit der deutschen Außenpolitik stehen. Der Deutsche Bundestag kann das. Deshalb möchte ich die Vertreter der Bundesregierung bitten, dass sie aufhören, permanent mit dem Argument der Schnelligkeit, zum Beispiel bei der Vertiefung der Sicherheitszusammenarbeit in der Europäischen Union, am Parlamentsvorbehalt des Bundestags zu rütteln. Unser Parlamentsvorbehalt besteht im Kern darin, dass wir eine Parlamentsarmee haben. Jeder Versuch dieser Bundesregierung, daran zu rütteln, wird auf unseren festen und harten Widerstand stoßen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Wir werden aber auch, beispielsweise bei dieser Mission, mehr Durchblick brauchen. Von der Region Kurdufan haben wir jetzt mehrfach gehört. Die Bundesregierung hat auf die grausamen Ereignisse und das Bombardement, das es auch vonseiten der Luftwaffe des Nordens gab, mit nur einem Satz reagiert: Sie hat die SPLM aufgefordert, das Wahlergebnis in dieser Region anzuerkennen. Herr Westerwelle, das ist zu wenig, wenn man weiß, welche Unregelmäßigkeiten es gegeben hat. Es ist zu wenig, wenn man weiß, welche Gewalt es dort auch seitens des Staates gegeben hat. Da reicht es nicht, einfach nur zu sagen, dass die Wahl akzeptiert werden muss. Es muss auch ein Gewaltverzicht her. Dafür muss man ebenfalls plädieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Verantwortung bedeutet aber auch, dass man, wenn man ein Mandat über 75 Soldatinnen und Soldaten beschließt und nur 12 hinschickt, auch einmal darüber nachdenkt, wie man dieses Mandat tatsächlich erfüllen kann. Das gilt gerade im Hinblick auf die Größe der Aufgabe und weil wir wissen, wie schwer sie für die 12 Soldatinnen und Soldaten, die derzeit vor Ort sind, zu bewältigen ist. Sie tun dies nicht, sondern Sie reduzieren auf 50 Soldatinnen und Soldaten. Herr Kollege Spatz, Sie haben gesagt, das liege in erster Linie daran, dass die Militärbeobachter an der Grenze eingesetzt werden. Es geht aber nicht nur um das Grenzregime. Die Militärbeobachter brauchen wir im ganzen Land genau aus dem Grunde, den der Kollege Strässer genannt hat. In diesem Land gibt es unglaublich viele Handwaffen. Es gibt so viele Milizen, dass man dort Militärbeobachter nicht nur an den Grenzen braucht. Dazu muss ich feststellen, dass sich die Bundesregierung im Gegensatz zum Deutschen Bundestag ein Stück weit aus der Verantwortung stiehlt. Die Mission bleibt wichtig. Auch wenn es zu wenig ist, ist es dennoch richtig, dort einzugreifen. Deshalb werden wir diesem Mandat natürlich zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Ströbele. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass ich doch noch zu Wort kommen kann. – Kollege van Aken, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Sie haben zutreffend darauf hingewiesen, dass in Südsudan schreckliche Zustände herrschen, weil viel zu viele Waffen unterwegs sind, weil die südsudanesische Armee wenig diszipliniert ist und weil sie sich von Plünderungen, Angriffen gegen die Bevölkerung usw. ernährt. Nun gibt es dort – mit UNO-Mandat – eine internationale Truppe, die im Wesentlichen aus Angehörigen afrikanischer Staaten besteht. Die haben nicht die Aufgabe, die südsudanesische Armee beim Plündern, beim Rauben und bei irgendwelchen anderen schrecklichen Taten zu unterstützen, sondern sie haben die Aufgabe, zunächst zu beobachten, festzustellen und einzugreifen. Es handelt sich dabei unter anderem um äthiopische Soldaten. Man kann ein großes Fragezeichen dahintersetzen, ob die dafür besonders gut geeignet sind; aber es sind afrikanische Soldaten. Sie sollen Plünderungen verhindern. Wie können Sie dann dagegen sein, dass sich Deutsche beteiligen – nicht in besonderem Umfang, sondern mit zwölf Personen –, die beim Meldeaufkommen und bei Ähnlichem unterstützend tätig sind und dabei helfen, solche schlimmen Taten, die auch Sie beklagen, abzuwenden? Wer sollte denn Ihrer Meinung nach die Bevölkerung vor den Überfällen der südsudanesischen Armee, also der Armee aus dem eigenen Land, schützen, wenn nicht eine von der UNO mandatierte, anerkannte, internationale Truppe der afrikanischen Länder, unterstützt durch deutsche und andere europäische Soldaten? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwiderung. Bitte. Jan van Aken (DIE LINKE): Das Problem ist, dass es so leider genau nicht ist. – Ich war im Mai in New York und habe in der UNO mit den Sudan-Expertinnen und -Experten geredet. Ihnen war zu diesem Zeitpunkt noch unklar, wie das Mandat aussieht, weil sie vor genau diesem Problem standen. Sie haben gesagt: Wir wissen, dass die südsudanesische Regierung ein Problem ist. Wir wissen, dass die südsudanesische Armee ein viel größeres Problem ist. Aber wir bekommen ohne eine Einladung der südsudanesischen Regierung kein Mandat. Ich habe gesagt: Wenn ihr auf Einladung der Regierung im Land seid, dann könnt ihr nicht gegen die südsudanesische Armee agieren, weil ihr an deren Seite kämpfen müsst. Die Antwort war: Genau das ist unser Problem. Deswegen wurde monatelang um eine Lösung gerungen. Herr Ströbele, schauen Sie sich das UN-Mandat und das deutsche Mandat einmal an. Darin ist festgelegt, dass die Soldaten an der Seite der südsudanesischen Armee kämpfen und eben nicht gegen sie. Sie können also keine Zivilisten vor der südsudanesischen Armee schützen. Das gibt dieses Mandat nicht her. Darin liegt das große Problem. Sie können doch nicht mit Menschenrechtsverletzern auf Patrouille gehen und hinterher sagen: Wir konnten nichts tun, weil diejenigen, an deren Seite wir gestanden haben, selbst gemordet haben. Deswegen ist dieses ganze Konstrukt von vorne bis hinten falsch. Das funktioniert so nicht. (Beifall bei der LINKEN) Schauen Sie sich das noch einmal an und geben Sie Ihrem Herzen einen zweiten Ruck. Ich glaube, an diesem Punkt können Sie wirklich guten Gewissens dagegen stimmen, Herr Ströbele. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wer soll die Plünderungen verhindern?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt ist dieser Austausch beendet. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ströbele, Ihr Versuch, die Linken mit Sach-argumenten von der Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes zu überzeugen, ist aller Ehren wert. Aber das Problem ist: Sie sind den Sachargumenten gar nicht zugänglich, weil sie nicht dafür stimmen wollen. Sie sind grundsätzlich gegen Einsätze der Bundeswehr. (Beifall bei der LINKEN) Daher suchen sie immer wieder neue Argumente, die sie vorschieben, um diesem Einsatz, über den in diesem Haus ein wirklich breiter Konsens besteht, nicht zustimmen zu müssen. Meine lieben Kollegen von den Linken, sehr geehrter Herr van Aken, es wäre aus meiner Sicht ehrlicher, zu sagen: Sie stimmen aus ideologischen oder aus welchen Gründen auch immer grundsätzlich nicht zu, anstatt immer neue Argumente zu suchen und diese vorzuschieben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jan van Aken [DIE LINKE]: Würden Sie bitte auf die Argumente eingehen?) Als wir das letzte Mal über UNMISS abgestimmt haben, am 8. Juli dieses Jahres, blickte die ganze Welt auf den Südsudan. Wir verfolgten gespannt die Unabhängigkeitserklärung und die Feierlichkeiten, die Gott sei Dank friedlich abgelaufen sind. Heute, knapp drei Monate später, ist die Feier vorbei, und es stehen wieder die Probleme dieses geschundenen Landes im Vordergrund. Die Welt hat große, vielleicht zu große Erwartungen an die Regierung in Südsudan. Sie soll die vielen offenen Konflikte mit dem Norden lösen. Sie soll Verwaltungsstrukturen aufbauen. Sie soll das Land mit Infrastruktur erschließen. Sie soll das Land erschließen. Sie soll die soziale und wirtschaftliche Situation der Menschen dort verbessern. Voraussetzung dafür ist aber, dass es ihr erst einmal gelingt, die Situation in ihrem eigenen Land, in Südsudan selbst, zu stabilisieren und zu befrieden. Das macht sie, indem sie versucht, möglichst viele der ethnischen Gruppen und Stammesgruppierungen einzubinden. Aber genau das, die Bedienung der Interessen der unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen und dieser Klientel, verhindert auf der anderen Seite den Aufbau effizienter staatlicher Strukturen. Das ist ein nur schwer aufzulösendes Dilemma. Deutschland engagiert sich seit Jahren im Rahmen der Europäischen Union und im Rahmen der Vereinten Nationen für den Frieden und den Staatsaufbau in der Region. Über einen Teil dieses Engagements, die Entsendung von deutschen Soldaten im Rahmen von UNMISS, stimmen wir heute ab. Es geht um maximal 50 Soldaten, von denen sich zwölf im Einsatz befinden. Es gibt zweifelsfrei größere Einsätze der Bundeswehr. Aber dass wir im Parlament jeden Einsatz gleichwertig behandeln, ist auch das Signal an die Soldaten und an die Öffentlichkeit, dass wir jeden Einsatz des Militärs gleich ernst nehmen. Die zwölf Soldaten, die sich im Einsatz befinden, leisten ihren Dienst unter sehr fordernden Bedingungen und auf Basis einer Infrastruktur, die deutlich weniger ausgebaut ist als in vielen anderen Einsatzgebieten. Trotzdem sind sie hochmotiviert und erbringen höchste Leistungen. Dafür möchten wir ihnen von dieser Stelle aus ganz herzlich danken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die deutschen Soldaten sind aber nur ein Teil des deutschen Engagements dort. Ebenfalls im Rahmen von UNMISS sind derzeit sechs Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks und sieben Polizisten in Südsudan. Auch ihnen danken wir für ihren Einsatz. Hinzu kommen Mittel der Entwicklungshilfe aus dem BMZ und dem Europäischen Entwicklungsfonds sowie vielfältige Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen Trägern. Das internationale Engagement zeigt durchaus Erfolge. Ich denke vor allem an das weitgehend friedliche Referendum im Januar und an die Staatengründung im Juli. Die Bundesregierung hat dies auch in ihrem Bericht über das alte UNMIS-Mandat aufgezeigt. Die Erfolge sind aber relativ. Seit Januar sind im Norden und im Süden des Sudan an den verschiedenen Konfliktherden über 2 000 Menschen getötet worden. Die Probleme des Landes können nicht von außen gelöst werden. Die Geberländer müssen ihre Hilfen so einsetzen, dass sie nicht zu mehr Klientelwirtschaft führen, sondern die Regierung dabei unterstützen, konkrete Projekte zu verwirklichen, die der breiten Bevölkerung eine Perspektive auf ein besseres Leben in Frieden geben. Wir dürfen dabei die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen. Der Staatsaufbau in Südsudan wird, wenn er erfolgreich verläuft, Jahre und Jahrzehnte dauern. Aber auch wenn die Erfolge in Südsudan aus unserer Sicht relativ klein sind: Aus Sicht der Menschen dort sind auch kleine Erfolge relativ große Fortschritte. Die kleinen Erfolge aus unserer Sicht bedeuten große Erfolge und Verbesserungen ihrer Lebenssituation. Wir sollten deswegen unsere Unterstützung fortsetzen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Kerstin Müller das Wort. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich weiß, dass Sie jetzt unbedingt abstimmen wollen. Es tut mir leid; aber ich glaube, es ist auch im Interesse der Koalition, nämlich all derer, die zustimmen wollen, richtigzustellen, was Herr van Aken hier fälschlicherweise behauptet hat. Er hat behauptet, dass UNMISS nicht autorisiert wäre, die Zivilisten vor Übergriffen der südsudanesischen Armee zu schützen. Das ist falsch. Herr van Aken, wir haben uns schon in der letzten Debatte darüber auseinandergesetzt. Ich zitiere zunächst einmal aus dem Mandat. Darin steht eindeutig: Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ist UNMISS autorisiert, zum Eigenschutz, zur Gewährleistung der Sicherheit … sowie … zum Schutze von Zivilisten, im Rahmen der eigenen Fähigkeiten die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Ich verweise diesbezüglich noch einmal auf meine Kurzintervention in der letzten Debatte. Im Beschluss des UN-Sicherheitsrates gibt es zwei Paragrafen, in denen sehr deutlich dargestellt wird, dass UNMISS autorisiert wird, auch bei Übergriffen der südsudanesischen Armee Zivilisten zu schützen. Ob UNMISS hinsichtlich ihrer Kapazität dazu in der Lage ist, ist eine andere Frage. Aber sie ist ganz klar dazu befugt. Das ist für uns ein wichtiger Punkt, um der Fortsetzung des Mandats zuzustimmen. Ich fordere Sie auf, nicht zum wiederholten Male falsche Behauptungen zu äußern, die die Glaubwürdigkeit des Mandats untergraben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwiderung Herr van Aken. Jan van Aken (DIE LINKE): Frau Müller, es tut mir leid, aber auch dadurch, dass Sie es jetzt zum zweiten Mal sagen, wird das, was Sie behaupten, nicht richtig. Ich stelle fest, dass Sie von den Grünen als Einzige sogar eine Aufstockung des Mandats – noch mehr Soldaten für den Südsudan – gefordert haben. Ich stelle fest: Sie haben recht. In § 13 des Mandats wird ausdrücklich gesagt – genau das ist für mich ein Signal, wie gefährlich die Situation ist –, dass es Probleme bei der SPLA, der südsudanesischen Armee, gibt. Aber in § 13 werden die UNMISS-Soldaten nicht autorisiert – da liegen Sie falsch –, gegen die SPLA vorzugehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch, was Sie sagen!) Dort wird nur gesagt, dass sie ein Auge darauf haben müssen, ob die südsudanesische Regierung oder Armee Menschenrechtsverletzungen begehen. Aber die Soldaten haben keine entsprechende operative Aufgabe. Ich war mehrere Tage in New York und habe das dort durchdiskutiert. Wir haben dort gemeinsam festgestellt, dass das nicht sein kann. Lesen Sie es genauer! Lassen Sie sich von den Leuten bei der UNO beraten! Dann wissen Sie, dass Sie hier falsche Behauptungen aufstellen und dass Sie als Grüne aus falschen Gründen immer mehr Soldaten in den Sudan schicken wollen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung kommen, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes bekannt, Drucksachen 17/6290 und 17/7069: abgegebene Stimmen 535. Mit Ja haben gestimmt 294, mit Nein haben gestimmt 241. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 535; davon ja: 294 nein: 241 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Hans-Werner Kammer Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Paul K. Friedhoff Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen-Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Nein SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Willi Brase Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Petra Crone Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoðuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Sevim Daðdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Katja Kipping Harald Koch Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Neškovi? Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Dr. Gerhard Schick Till Seiler Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7213, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/6987 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Stimmkarten einzuwerfen. Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarten eingeworfen? – Das ist der Fall. Ich beende die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Stimmen auszuzählen.4 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Programme zur Bekämpfung von politischem Extremismus weiterentwickeln und stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstärken – Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus ausbauen und verstetigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme des Bundes danach ausrichten – Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045, 17/4664, 17/2482, 17/5435 – Berichterstattung: Abgeordnete Eckhard Pols Sönke Rix Florian Bernschneider Diana Golze Monika Lazar Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann Kues das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren nicht zum ersten Mal über die Extremismusprogramme. Ich will eingangs festhalten, dass jegliche Art von Extremismus, ganz gleich, ob von links oder von rechts oder islamistisch motiviert, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder aus der Mitte!) im eklatanten Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deswegen hat es sich diese Bundesregierung zur Aufgabe gemacht, von Anfang an sämtliche demokratiefeindlichen Strömungen gleichermaßen entschieden und nachhaltig zu bekämpfen. Sie tut das mit Erfolg. Die Projekte, die in den Bundesprogrammen im Bereich Extremismusprävention zur Stärkung von Toleranz und Demokratie verankert sind, leisten Hervorragendes. Sie kennen die Präventionsprogramme gegen Rechtsextremismus „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. Für Demokratie“ sowie das 2011 gestartete Folgeprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“. Unsere Bemühungen im Bereich der Prävention von Linksextremismus und von islamistischem Extremismus im Bundesprogramm „Initiative Demokratie stärken“ sind erfolgreich. Ich freue mich darüber. Ich glaube, dass das ein sehr positives Signal ist. Wir schulden Dank und Anerkennung all denjenigen, die sich in diesen Initiativen gegen Rechts- und Linksextremismus engagieren. Diese Menschen haben unsere Unterstützung verdient. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir werden die bisherigen Ansätze im Bereich Rechtsextremismus fortsetzen. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen und gehen weiter voran; denn niemand bezweifelt, dass Rechtsextremismus existiert und er ein ernsthaftes Problem ist. Es gibt aber auch – das muss man ebenfalls feststellen – Linksextremismus in Deutschland. Die Notwendigkeit, sich damit zu beschäftigen, wird von dem einen oder anderen immer wieder in Abrede gestellt. Das halten wir für falsch und einseitig, zumal linksextremistische Straftaten in Deutschland nachweislich zugenommen haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die linksextremistisch motivierten Gewalttaten sind von 701 Fällen im Jahr 2008 auf 944 im Jahr 2010 gestiegen. Das sind über 34 Prozent. Dass wir dieser Entwicklung aktiv gegensteuern wollen, ist absolut sinnvoll. Dazu sollten auch Sie sich bekennen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Bundesprogramm gegen Linksextremismus und islamistischen Extremismus setzt wie die Programme gegen Rechtsextremismus im pädagogischen, im integrativen und im bildungsorientierten Bereich an. Die teilweise lautstark geäußerte Kritik an diesem Programm kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, und zwar erstens, weil die Bekämpfung des Rechtsextremismus mit gleicher Konsequenz fortgesetzt wird und die Haushaltsmittel aufgestockt wurden, und zweitens, weil es in dem Programm gegen Linksextremismus nicht darum geht, gegen legitime linke Gesellschaftskritik vorzugehen. Wir wollen – das ist der Kern –, dass Kinder und Jugendliche für eine pluralistische, demokratische Gesellschaft begeistert und für die Gefahren des Extremismus sensibilisiert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir halten Extremismus, egal ob von links oder von rechts, für gefährlich und machen hier keine Unterschiede. Ich sage aber auch, dass bedauerlicherweise nicht alle diese Auffassung teilen. Der Kampf gegen die Programme gegen Linksextremismus zeigt teilweise tragische Ausmaße. So sah sich zum Beispiel ein Institut in Hamburg vehementer Kritik ausgesetzt, nur weil es ein von uns gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema „Autonome Jugendliche“ durchgeführt hat. Das Institut wurde zeitweilig von etwa 70 Studierenden der Hochschule besetzt, und es kam auch zu Sachbeschädigungen. Auch andere Träger sind massiv angegangen worden, nur weil sie Modellprojekte zur Prävention von Linksextremismus durchgeführt haben. Ich sage ausdrücklich: Es gibt Kräfte, die auf einem Auge blind sind. Aber das möchten wir nicht akzeptieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir wollen beide Programmhälften fortführen und uns mit beiden Seiten auseinandersetzen. Deswegen glaube ich, dass der Antrag, der von den Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist, unsere Unterstützung verdient. Zu den Anträgen der SPD, der Grünen und auch der Linken sage ich: Sie sehen Extremismusprävention nur im engen Korsett der Prävention gegen Rechtsextremismus. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verstehen es noch immer nicht!) Sie treffen in Ihren Anträgen keinerlei inhaltliche Aussage zur Demokratieförderung. Ihnen geht es ausschließlich um die finanzielle Förderung, ohne Struktur und Vision. Weil es Ihnen an Inhalten fehlt, machen Sie Stimmung gegen die Demokratieerklärung. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit!) Ich weiß nicht, wo das eigentliche Problem liegt. Es geht doch lediglich darum, dass jeder, der Geld vom Staat bekommt, unterschreiben muss, dass er es für Zwecke der Demokratieförderung einsetzt. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sollen es doch bitte alle unterschreiben!) Es geht nicht um einen Generalverdacht gegenüber den Trägern. Es ist bemerkenswert, dass der Großteil der Träger überhaupt keine Probleme mit dieser Demokratieerklärung hat. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl? Weil sie kein Geld mehr bekommen!) Ich glaube, dass wir gute Gründe haben, genau hinzuschauen, wer von diesen Maßnahmen profitiert. Ich habe schon beim letzten Mal auf einige sehr praktische Beispiele hingewiesen. Es kann nicht sein, dass Extreme von den Programmen gegen Extreme profitieren. Das ist mit unserem Verständnis nicht vereinbar. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Kues, ich muss Ihren Redefluss unterbrechen; denn der Kollege Kindler würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Das hat er doch schon beim letzten Mal gemacht. Ist er überhaupt hier? (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es ist schon spät am Abend! Wir wissen das!) Bitte sehr. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Kindler. Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, dass der Wissenschaftliche Dienst dieses Hohen Hauses ein Gutachten zur sogenannten Demokratieklausel – wir sagen: Extremismusklausel – verfasst hat und in diesem Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Demokratieklausel verfassungsrechtlich höchst bedenklich bzw. sogar verfassungswidrig ist, weil sie einen Bekenntniszwang der Träger verlangt, was in keinem Verhältnis zu dem steht, was an staatlichen Geldern gegeben wird? Teilen Sie weiterhin meine Einschätzung, dass eine Zivilgesellschaft Vertrauen sowie Unterstützung und nicht Misstrauen braucht und dass dies das große Problem ist, weswegen so viele Träger und zivilgesellschaftliche Initiativen dagegen vorgehen und protestieren? Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Das Letzte, was Sie gesagt haben, dass viele zivilgesellschaftliche Träger und Initiativen dagegen vorgehen, stimmt schlichtweg nicht. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt sehr wohl!) Sogar zahlreiche Kommunen haben unterschrieben, obwohl sie überhaupt nicht dazu verpflichtet sind. Erinnern Sie sich einmal an die Diskussion im Bundesrat. Dort gab es eine Initiative vom Land Berlin gegen die Demokratieerklärung. – Ich sage gleich noch etwas zu der Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes. – Am letzten Freitag ist dem Antrag des Landes Berlin auf Änderung der Demokratieerklärung vom Bundesrat mit seiner momentanen Mehrheit eine klare Absage erteilt worden, weil man offenkundig die rechtliche Basis dafür nicht als tragfähig angesehen hat. Zu der Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages gibt es ganz klare Gutachten von Wissenschaftlern und Fachleuten. Wir haben auch Stellungnahmen der Verfassungsressorts, in denen steht, dass das eine ausgesprochen dünne Expertise gewesen ist. Wir verlassen uns auf die Stellungnahme der Verfassungsressorts. Wieso werden Klagen zurückgezogen, wenn es angeblich rechtswidrig ist? Weil man auf dieser Basis nicht erfolgreich sein wird. Sie können es vor Gericht gerne noch einmal versuchen. Langer Rede kurzer Sinn: Wir werden daran festhalten, den Extremismus von beiden Seiten zu bekämpfen. Ich wäre sehr dankbar, wenn diejenigen, die uns immer vorwerfen, wir seien auf dem einen Auge blind, bei Aktivitäten gegen Linksextremismus und Islamismus an der Seite der Regierung stünden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind nicht an der Regierung! Wie kämen wir dazu?) Entscheidend ist, dass Demokraten in dieser Sache zusammenhalten. Deswegen sollten Sie da mitmachen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD hat jetzt der Kollege Sönke Rix das Wort. (Beifall bei der SPD) Sönke Rix (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf den Koalitionsantrag eingehen. Wenn man ihn liest, dann stößt man auf die Schlagwörter, die sehr häufig darin zu finden sind: weiterentwickeln, prüfen. Sie wollen eine verbesserte Koordination und Zusammenarbeit der Ministerien. Es ist richtig und gut, Programme für Demokratie und Toleranz weiterzuentwickeln. Aber was wollen Sie konkret für die Initiativen vor Ort tun, die an diesen Programmen beteiligt sind? Die Antwort auf diese Frage fehlt in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP. Das Ziel muss sein, eine Gesamtstrategie zu entwickeln. Auch das haben Sie richtig formuliert. Doch mit welchen Mitteln und mit welchen konkreten Schritten Sie dieses Ziel erreichen wollen, steht nicht in Ihrem Antrag. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn Sie mit den Initiativen vor Ort sprechen – Sie tun das sicherlich genauso häufig wie wir –, dann werden Sie auf die Probleme stoßen, die man mit diesen Programmen hat. Mir geht es um die konkrete Ausführung der Programme. Daher will ich jetzt keine Debatte über den Extremismus von links und rechts führen, sondern einen genauen Blick auf diese Programme werfen. Wenn man die Strategien für Demokratie und Vielfalt ernst nimmt, dann braucht man Mittel, die langfristig und nicht nur kurzfristig zur Verfügung stehen. (Beifall bei der SPD) Diese Mittel brauchen wir für die Schaffung von Strukturen. Geld ist auch bitter nötig für Opferberatung, für Beraterteams und für die zahlreichen Initiativen vor Ort. Die Strategien für Demokratie und Vielfalt brauchen nicht nur jede Menge finanzielle Mittel, sondern auch Flexibilität, was die Abrufung dieser Mittel angeht. Ich nenne ein kleines Beispiel. Sie alle kennen den Verein „Gesicht Zeigen!“. Gerhard Schröder ist der Schirmherr und Uwe-Karsten Heye ist der Vorsitzende. Auch Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen sind Mitglied in diesem Verein. Dieser Verein hat elf Projekte kofinanziert, die aktiv vor Ort im Rahmen unserer Programme tätig waren. Bei dieser Kofinanzierung ergibt sich allerdings das Problem, dass sie nicht dauerhaft geleistet werden kann. Weil unsere Programme nicht flexibel gestaltet sind, mussten diese elf Projekte wieder eingestellt werden. Deshalb muss die Struktur der Programme flexibler werden. Ich hätte mir gewünscht, wenn Sie diese Programme einmal daraufhin evaluiert hätten und zu mehr Flexibilität gekommen wären. Das ist aber leider nicht passiert. (Beifall bei der SPD) Ein weiteres Thema – ich habe es schon angesprochen – ist die Kofinanzierung insgesamt. Wir haben uns in der Großen Koalition bereit erklärt – ich habe selber dazugelernt; Kollegin Griese hat zusammen mit mir die entsprechenden Verhandlungen geführt –, einer Kofinanzierung in Höhe von 50 Prozent zuzustimmen. Sie haben uns vorhin aufgefordert, etwas zum Programm gegen islamistischen Extremismus zu sagen. In diesem Bereich ist beispielsweise nur eine Kofinanzierung von 15 Prozent nötig, während es bei den Programmen gegen Rechtsextremismus 50 Prozent sind. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr seltsam!) Das ist – in der Tat – absolut seltsam. Für die Projekte ist es schwer, eine Kofinanzierung von 50 Prozent sicherzustellen. Da brauchen wir eine Änderung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich will ein ganz konkretes Beispiel nennen: Die Amadeu-Antonio-Stiftung führt ein sehr sinnvolles Projekt durch: no-nazi.net. Wir alle wissen: Junge Menschen und leider auch die Rattenfänger der Rechtsextremisten sind viel im Netz unterwegs. Dieses Projekt kostet 150 000 Euro. 75 000 Euro kommen vom Bund. Weitere Mittel für dieses Projekt stammen aus privaten Spenden, aus Spenden von Firmen. Aber es fehlen immer noch 20 000 Euro für die Kofinanzierung. Hier stellt sich wieder die Frage: Warum sind 50 Prozent Kofinanzierung festgeschrieben? Warum gibt es hier nicht mehr Flexibilität? Solche Projekte sind wichtig. Ich glaube, dass keiner in diesem Hohen Hause etwas gegen diese Projekte hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich habe mit Absicht nicht davon gesprochen, wie schlimm es ist, im Bereich des Extremismus links und rechts voneinander zu trennen. Ich bitte darum, dass wir uns die Projekte anschauen und die aktive Zivilgesellschaft vor Ort dazu einladen, gemeinsam mit uns diese Programme zu durchforsten, um herauszufinden: Wo sind sie zu bürokratisch? Wo sind sie zu starr? Wir müssen die Demokratiearbeiter vor Ort – so nenne ich sie einmal – unterstützen und dürfen ihnen nicht noch mehr Bürokratie aufbürden. Wir müssen versuchen, zu gewährleisten, dass ihre Arbeit dauerhaft finanziert wird. Daran sollten wir alle in diesem Hause gemeinsam arbeiten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan bekannt: abgegebene Stimmen 521. Mit Ja haben gestimmt 462, mit Nein haben gestimmt 58, eine Enthaltung. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 521; davon ja: 462 nein: 58 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Hans-Werner Kammer Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Willi Brase Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Petra Crone Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann (Volkach) Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoðuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Paul K. Friedhoff Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen-Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Dr. Gerhard Schick Till Seiler Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Jan van Aken Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Sevim Daðdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Katja Kipping Harald Koch Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Neškovi? Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Enthalten SPD Petra Hinz (Essen) Jetzt hat der Kollege Florian Bernschneider für die FDP das Wort. (Beifall bei der FDP) Florian Bernschneider (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Rix, vielen Dank für die sachliche Rede. Ich hätte mir gewünscht, der SPD-Antrag und die bisherigen Debatten hätten ebenso sachlich ausgesehen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den müssen Sie noch mal lesen!) Das konnte ich aber leider nicht feststellen. Lassen Sie mich in dieser Diskussion eingangs eines sagen: An unserem Antrag kann man feststellen, dass diese christlich-liberale Koalition die Gefahren, die vom Rechtsextremismus auf unsere Demokratie und unsere Gesellschaft ausgehen, ernst nimmt. Deswegen bitte ich Sie – ich habe die Pressemitteilungen der Kollegen gelesen –: Hören Sie mit Ihrem ständigen Kürzungsmärchen auf! Es wird nicht richtiger, wenn man Falsches wiederholt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist mir, ehrlich gesagt, wurscht, ob Sie es verstehen, dass man an Verwaltungskosten sparen kann, ohne dass Projekte darunter leiden. Fakt ist: Diese schwarz-gelbe Koalition investiert mehr in die Arbeit gegen Rechtsextremismus und für Demokratie und Vielfalt als jede andere Koalition zuvor. Wir geben mehr als doppelt so viel für diesen Bereich aus wie Rot-Grün und auch mehr als Schwarz-Rot. Aber klar ist auch: Wenn es um die Verteilung der Präventionsmittel geht, dann darf man sie in einer wehrhaften Demokratie nicht allein an der Zahl der Straftaten ausrichten. Denn wenn es zu einer Straftat kommt, dann ist es für Prävention zu spät. Wir müssen uns ein sensibles Frühwarnsystem zulegen, um rechtzeitig auf die Gefahren für unsere Demokratie präventiv zu reagieren. Im Sinne eines solchen Frühwarnsystems möchte ich Ihnen einmal den Text eines Liedes vortragen, das Sie sich auf YouTube anhören können. Im Song „Hass“ von Holger Burner heißt es – ich zitiere direkt aus einem Bericht des Brandenburger Verfassungsschutzes –: Wir haben Hass auf die Polizei / Hass auf den Staat / Hass auf eure Fressen, Hass / Auf die Waffen, die ihr tragt/Hass auf die Art, wie ihr Massen verarscht / Du würdest niemals glauben / Wie viel Hass ich noch hab … Wir ham euch etwas mitgebracht / Hass, Hass, Hass. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen, wenn Sie so etwas hören. Mein persönliches Frühwarnsystem für unsere Demokratie schlägt da Alarm. Ich weiß als jugendpolitischer Sprecher meiner Fraktion sehr wohl, dass man Raptexte nicht immer auf die Goldwaage legen sollte. Aber eines muss man von demokratischen Kräften schon erwarten können, nämlich dass sie sich von solchen Texten deutlich distanzieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion distanzieren sich aber nicht von diesem Text. Ganz im Gegenteil: Sie stellen den Verfasser dieses Textes sogar als Kandidaten zur Bürgerschaftswahl in Hamburg auf. Ich erspare es Ihnen und uns an dieser Stelle, die hochpeinlichen Erklärungsversuche der Genossen aus Hamburg wiederzugeben. Sie disqualifizieren sich damit in solchen Diskussionen automatisch. Deswegen kann man Sie an dieser Stelle nicht ernst nehmen. (Beifall bei der FDP) Dass Sie dabei hier im Plenum immer wieder Unterstützung von Rot-Grün bekommen, ist schockierend. Erklären Sie doch einmal den Leuten auf der Straße – eine einfache Frage –, warum wir so viel Engagement zeigen sollen, rechtsextreme Schulhof-CDs zu verhindern, aber vor genau solchen Texten, die im Internet kursieren, die Augen verschließen. Das versteht niemand. (Beifall bei der FDP – Sönke Rix [SPD]: Wer will denn da die Augen verschließen?) Deswegen ist es richtig, dass wir mit unserem Antrag zum Beispiel die Prävention im Internet vorantreiben wollen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben sich mit Ihrem Antrag verrannt, verrannt in eine Ideologie, bei der es nur um Mittel gegen Rechtsextremismus geht. Damit verschließen Sie aber die Augen leider nicht nur vor dem Linksextremismus, sondern auch vor anderen Gefahren. Sie kommen damit automatisch in eine absurde Situation; denn während Ihre eigenen Kollegen im Hessischen Landtag hartnäckig ein Präventionskonzept gegen islamistischen Extremismus einfordern, während Grüne in Frankfurt zu Recht gegen Hassprediger wie Pierre Vogel demonstrieren, fordern Sie in Ihrem Antrag – ich zitiere Ihre Forderung 7 –, „diese Förderprogramme spezifisch auf den Kampf gegen Rechtsextremismus auszurichten und keine Verteilung der verfügbaren Mittel auf andere Extremismusformen vorzunehmen“. (Sönke Rix [SPD]: Zusätzliche Mittel!) Meine Damen und Herren, das ist einfach absurd. Das versteht niemand. Der Wahlkampf – das will ich an dieser Stelle einmal sagen, auch weil dieser vielleicht die Debatten in letzter Zeit aufgeheizt hat – ist vorbei. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, dass Sie sich einem breiten Präventionskonzept öffnen, bei dem wir einen deutlichen Fokus auf die Arbeit gegen Rechtsextremismus legen, aber eben die Augen nicht vor anderen Gefahren verschließen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Warum haben Sie nicht dazu geredet?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Petra Pau das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Petra Pau (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenige Zahlen vorweg: Im statistischen Schnitt werden bundesweit stündlich zweieinhalb Straftaten registriert, die rechtsextremistisch motiviert sind. Tag für Tag werden nach derselben Statistik zweieinhalb rechtsextreme Gewalttaten erfasst. Wir wissen, diese Zahlen stapeln tief. Nach langjährigen Erfahrungen liegen die realen Zahlen rechtsextremer Ausfälle um circa 50 Prozent höher. Entsprechend groß ist die Zahl der Opfer. Unabhängige Beobachter weisen aus und auch nach, dass im vereinten Deutschland seit 1990  137 Menschen durch rechtsextreme Gewalt zu Tode kamen. Das heißt, Rechtsextremismus ist hierzulande wieder eine Gefahr für Leib und Leben. Das ist ein anhaltender Befund. Folglich war es naheliegend, zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen, die dem vorbeugen und sich zur Wehr setzen. Das geschieht seit über zehn Jahren, allerdings oftmals halbherzig und zunehmend widerwillig. Seitdem die Union und die FDP die Bundesregierung bilden, erleben wir eine regelrechte Diffamierung von zivilgesellschaftlichem Engagement gegen grassierenden Rechtsextremismus. Herr Staatssekretär, mit der sogenannten Extremismusklausel sollen natürlich diese Initiativen für Demokratie und Toleranz Verfassungstreue schwören. Sie haben gerade gefragt: Was ist dabei? Man könnte ja sagen: Was ist dabei? Sie werden aber zudem verpflichtet, ihre gesellschaftlichen Partner zu observieren. Ich finde, das ist eine Unkultur des Misstrauens, und das lehnen wir ab. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch andere Entwicklungen in diesem Bereich legen den Schluss nahe, der zivilgesellschaftliche Kampf gegen Rechtsextremismus soll verstaatlicht, entpolitisiert und ausgetrocknet werden. Das sich abzeichnende Programm des leider zuständigen Bundesfamilienministeriums zeigt das. An die Stelle engagierter Bürgerinnen und Bürger tritt dann der Inlandsgeheimdienst – wir haben Anfragen zu diesem Thema gestellt –, wenn der Verfassungsschutz jetzt in den Schulen diese Arbeit übernimmt. Anstelle politischer Aufklärung werden im Freistaat Sachsen beispielsweise Schwimmevents veranstaltet, bei denen auch die NPD gegen Extremismus mitspielen darf. Anstatt sie moralisch und finanziell zu unterstützen, sollen die Fördermittel des Bundes für zivilgesellschaftliche Initiativen nun gekürzt werden. Die Bundesregierung stellt sich damit meiner Meinung nach tatsächlich selbst ein Armutszeugnis aus, übrigens ein für die Gesellschaft gefährliches. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum Schluss ein vierter Gedanke. Rechtsextremismus ist mehr als die NPD. Er ist ein gesellschaftliches Phänomen und kann folglich auch nur durch die Gesellschaft gebannt werden. Ein weitsichtiger Staat unterstützt das; die aktuelle Bundesregierung tut das Gegenteil. Als Beleg möchte ich Ihnen die aktuellen Wahlergebnisse der NPD ins Gedächtnis rufen: Sie konnte bei mehreren Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse verbuchen, und zwar bei jungen Menschen, bei Arbeitslosen, bei prekär Beschäftigten, bei Männern und in ländlichen Milieus. Da offenbaren sich rechtsextreme Einstellungen, die im Übrigen durch ein Verbot der NPD nicht verschwinden werden. Es wäre also gesellschaftliche und politische Weisheit gefragt. Deshalb bedauert die Linke, dass die CDU/CSU und die FDP derzeit dazu weder willens noch fähig sind. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Monika Lazar das Wort. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Wochen zog in Mecklenburg-Vorpommern die NPD zum zweiten Mal infolge in einen Landtag ein. Gleiches gelang der NPD 2009 in Sachsen, wo sie auch in allen Kreistagen vertreten ist. Bundesweit gibt es auf kommunaler Ebene zahlreiche Mandate für Rechtsextreme. Als demokratische Politikerinnen und Politiker sollten wir uns alle fragen: Wie kommt es, dass eine rassistische und menschenfeindliche Partei wie die NPD in unserem Land so viel Zuspruch erhält? Was vermissen die Menschen, und wo müssen wir bessere demokratische Angebote machen? An welcher Stelle gibt die demokratische Politik ein schlechtes Vorbild ab? Wo lassen wir Lücken, die die Menschenfeinde für sich nutzen? Bei diesen Überlegungen helfen uns die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Rassismus engagieren. Sie tragen zu einer Kultur der Toleranz und Menschenrechtsorientierung bei, die wir ausbauen müssen. Das Familienministerium allerdings glaubt, Demokratie ließe sich per Verwaltungsakt regeln. Zu diesem Zweck wurde die sogenannte Extremismusklausel eingeführt. In den letzten Monaten haben wir bereits zahlreiche Debatten geführt: in den Ausschüssen, im Plenum und auch anderswo. Nicht nur betroffene Initiativen, sondern auch zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Gewerkschaften, Kirchen, der Zentralrat der Muslime, der Zentralrat der Juden und viele andere Stellen beteiligten sich daran. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat sogar eine Chronik erstellt und darin die unterschiedlichen Proteste dokumentiert. Kritik äußerten auch einige Bundesländer. Das Land Berlin brachte einen Antrag in den Bundesrat ein. Der federführende Ausschuss für Frauen und Jugend votierte für Zustimmung. Es kam allerdings keine Beschlussfassung zustande, weil der Ausschuss für Innere Angelegenheiten nicht zustimmte. Zwei juristische Gutachten kamen zu dem Ergebnis, dass die Extremismusklausel nicht verfassungskonform ist. Alle Oppositionsfraktionen dieses Hauses stellten sich mit parlamentarischen Anträgen gegen diese Klausel. Ich finde es demokratiepolitisch wirklich fragwürdig, dass die Bundesregierung all diese Appelle und Reaktionen schlicht ignoriert, sich auf ihre Machtposition zurückzieht und das Problem aussitzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es gebe ja kein Problem, die überwiegende Anzahl der Initiativen würde ja unterzeichnen, was Herr Kues vorhin wieder bestätigt hat. Natürlich tun das die meisten, da sonst ihre Projekte gestoppt würden oder sogar ihre Existenz auf dem Spiel stünde. Es gibt allerdings Träger, die wegen der Klausel gar keine Anträge mehr stellen und somit in der Statistik natürlich nicht auftauchen. Dazu gehören in meiner Heimatstadt Leipzig die beiden soziokulturellen Zentren „VILLA“ und „Conne Island“. Das Netzwerk für Demokratie und Courage etwa beklagt einen Verlust von circa 10 Prozent der Ehrenamtlichen, die als Teamerinnen und Teamer in Schulen Projekttage angeboten haben. Dieser Rückzug geschieht nicht etwa deswegen, weil sie nicht hinter den demokratischen Werten dieser Gesellschaft stehen, sondern weil sie sich, durch diese Klausel verunsichert, enttäuscht zurückgezogen haben. Wer sich gegen Rechtsextremismus engagiert, stärkt unsere Demokratie; wir brauchen mehr und nicht weniger davon. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Pau [DIE LINKE]) Vor einer Woche führte selbst der Papst in seiner Rede im Bundestag aus, dass die offizielle Staatsmeinung, die sich gegen bestimmte Gruppen richtet, falsch sein kann. Als Beispiel nannte er die Widerstandskämpfer, die gegen das Naziregime handelten „und so dem Recht und der Menschheit als Ganzem einen Dienst erwiesen“ haben. Mit einem Zitat von Origines propagierte der Papst eine Haltung, die in Bezug auf zivilgesellschaftliche Bündnisse noch immer Aktualität besitzt: Es sei mitunter sehr vernünftig, „auch entgegen der … bestehenden Ordnung Vereinigungen“ zu bilden. Nun frage ich die Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Steht der Papst damit noch auf dem Boden des Grundgesetzes, oder müsste er als Partner der Zivilgesellschaft ausfallen? Die Anträge der Oppositionsfraktionen fordern eine Umsteuerung bei der Bundesförderung von Projekten gegen Rechtsextremismus. Die Bundesregierung muss endlich anerkennen, dass eine starke Zivilgesellschaft eine verlässliche Förderung braucht. Die Kürzung von 2 Millionen Euro sind Fakt. Wir haben nichts dagegen, wenn in der Verwaltung etwas eingespart wird; aber dann kann man die 2 Millionen Euro an die Projekte geben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Was ist denn mit der Schuldenbremse?) zum Beispiel an die Opferberatung, die immer noch sehr stark unterfinanziert ist. Es geht aber auch um eine klare inhaltliche Ausrichtung; ich habe das mehrfach wiederholt. Der „Extremismus-Einheitsbrei“ taugt nicht für eine zielgerichtete Förderpraxis. Wir fordern daher ein Programm, das sich gegen Rechtsextremismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Antisemitismus, aber auch Sexismus und Homophobie richtet. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Und Linksextremismus!) Dabei gehört auch die sogenannte Mitte der Gesellschaft in den Fokus. Auch wenn Sie unsere Anträge heute wieder ablehnen werden: Wir werden an dieser Thematik dranbleiben. Vielleicht setzt bei Ihnen endlich einmal ein Erkenntnisgewinn ein. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Petra Pau [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Lazar, ich stelle fest, dass sich der Besuch von Papst Benedikt schon deshalb gelohnt hat, weil sich die Grünen jetzt in ihren Reden dauernd auf den Papst beziehen. Es ist sehr gut, dass auch in die anderen Fraktionen etwas Weisheit übergeschwappt ist. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hoffe, zu Ihnen auch! – Sönke Rix [SPD]: Auf die Regierung kann man sich ja bei diesen Reden nicht beziehen!) Ich möchte gleich mit einem der Vorwürfe anfangen, mit denen Sie uns gerade konfrontiert haben. Ihr Vorwurf betraf die Kürzung um 2 Millionen Euro. Ich bin dankbar, dass Sie einsehen, dass sich die Kürzung allein auf Verwaltungskosten bezieht. Wir alle haben doch die Schuldenbremse gewollt, zumindest der Teil des Hauses, der sagt, dass wir nicht auf Kosten zukünftiger Generationen leben wollen. Da müssen wir, auch wenn es bitter ist, in jedem Bereich Einsparungen erbringen. Das geht hier nicht zulasten der Projekte; es handelt sich nur um Einsparungen bei den Verwaltungskosten. Jeder von uns sollte froh sein, wenn wir die Entbürokratisierung auch an dieser Stelle vorantreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP] – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können wir bei der Bundeswehr Milliarden einsparen!) – Heute geht es aber um die Bekämpfung von Extremismus jeglicher Art. Eigentlich muss man annehmen, dass Toleranz gegenüber Andersdenkenden, ein respektvolles und gewaltfreies Miteinander in der Demokratie selbstverständlich sind. Wenn wir uns aber die aktuellen Zahlen und den bundesweiten Verfassungsschutzbericht anschauen, müssen wir erkennen, dass das leider Gottes nicht überall so ist. Das fängt schon mit Kleinigkeiten an: mit der Bagatellisierung rassistischer Sprüche, diffusen Ressentiments gegenüber Fremden, Neid und Missgunst gegenüber anderen. Das geht weiter mit Gewalt, nicht nur gegen Sachen, sondern insbesondere auch gegen Menschen. Deswegen brauchen wir – das ist völlig richtig – bei der Bekämpfung dieser Phänomene ein ganz entschiedenes Auftreten. Aber das macht die christlich-liberale Koalition: Wir haben im Koalitionsvertrag bekräftigt, dass wir Kinder und Jugendliche und alle anderen Akteure vor Ort mit einem umfassenden Programm bei ihrem Engagement, das in unserem Land sehr vielfältig ist, für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und gegen jegliche Form des Extremismus unterstützen. Es unterscheidet uns leider von den anderen, dass nur wir sagen: Wir wollen jede Form des Extremismus bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]) Die ganzen Reden von der linken Seite des Hauses sind mir einfach ein bisschen zu einseitig. Wir haben unsere Programme darauf ausgerichtet; denn es ist wichtig, zu sagen, dass man nicht zwischen gutem und schlechtem Extremismus unterscheiden kann. Es ist nicht so, dass Rechtsextremismus ganz furchtbar und Linksextremismus ein Kavaliersdelikt ist. (Sönke Rix [SPD]: Da gibt es einen Unterschied!) Das ist er nicht. Linksextremismus muss ebenso bekämpft werden. Kinder und Jugendliche müssen frühzeitig erfahren, dass demokratische Grundwerte unverzichtbar sind. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Extremismus in der Mitte unserer Gesellschaft?) Wir wollen mit unserem Programm vorbeugen. Wir wollen, dass sich extremistische Einstellungen bei jungen Menschen gar nicht erst auswirken können. (Sönke Rix [SPD]: Wir haben hier über Rassismus gesprochen!) Deswegen wollen wir, dass Jugendliche, Eltern, Erzieher und Erzieherinnen dafür sensibilisiert werden. Wir wollen, dass die Gefahren frühzeitig erkannt werden. Deswegen ist neben dem Schutz und der Prävention bei Kindern ein gesamtgesellschaftliches Engagement unersetz-lich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen die demokratische Grundordnung, die von beiden Seiten, von links und von rechts, bekämpft wird, ändern. Das sind die typischen Beißreflexe von Ihnen. (Sönke Rix [SPD]: Was wollen Sie konkret verbessern?) Die Neuausrichtung ist, anders als von der Opposition behauptet, keine Relativierung des Rechtsextremismus und auch keine undifferenzierte Gleichsetzung von Links- und von Rechtsextremismus. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Initiativen sagen das aber ganz klar!) Heute war in der Zeitung zu lesen, was die TU Dresden plant. Der Studentenrat bietet Seminare an, in denen man lernt, wie man Polizisten bei Demonstrationen gezielt angreifen kann, und das alles unter dem Deckmantel: Wir wollen damit die Nazis bekämpfen. (Sönke Rix [SPD]: Dagegen helfen jetzt Ihre Programme?) Es wird toleriert und für in Ordnung befunden, wenn sich Studenten zusammenschließen. (Sönke Rix [SPD]: Also, wir finden das nicht in Ordnung! Sie etwa?) Man muss überlegen: Wie geht man damit um, wenn in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung Studenten beigebracht bekommen, so mit Polizisten umzugehen? Man muss Zivilcourage aufbringen, und zwar nicht nur bei Tendenzen zu rechtsextremistischen Straftaten. Allein für Juli 2011 stellt das Bundeskriminalamt bundesweit fast doppelt so viele Gewalttaten von linksextremistischer wie von rechtsextremistischer Seite fest. Die Zahl der durch Linksextremisten verletzten Opfer ist sogar um das Dreifache höher. Deswegen wollen wir diese andere Form des Extremismus bekämpfen. Ich verstehe nicht – ich muss auf die Aussagen des Staatssekretärs zurückkommen, der meines Erachtens in hervorragender Weise versucht hat, es denjenigen zu erklären, die es immer noch nicht begreifen wollen –, warum Sie nicht wollen, dass sich Kooperationspartner, deren Maßnahmen finanziell unterstützt werden, zum Grundgesetz unserer Bundesrepublik bekennen müssen. Ich verstehe die Problematik nicht. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um das Misstrauen und das Ausspitzeln!) – Es ist eine ganz perfide Art und Weise, zu behaupten, da wird jemand ausgespitzelt, wir brauchen mehr Vertrauen. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen Vertrauen und kein Misstrauen!) Dass jemand Fördergelder der Bundesrepublik Deutschland bekommt – das sind Ihre Steuergelder –, obwohl er nicht auf unserer demokratischen Grundordnung steht, ist mit uns nicht zu machen. Deswegen: Unterstützen Sie es! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sönke Rix [SPD]: Was ist mit dem Bund der Vertriebenen? Muss der Bund der Vertriebenen das unterschreiben? Hauptsache, wir können schwarz-weiß denken!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Menschen auf den Tribünen! Auch der Bund der Vertriebenen bekommt Steuergelder von Ihnen, muss allerdings eine solche Erklärung nicht unterzeichnen. Ich will mich in meinem Redebeitrag auf etwas anderes konzentrieren, und zwar auf den Beitrag, den die politische Bildung für den Erhalt und die Stärkung unserer Demokratie leisten kann. Das ist ein Konsensthema; denn alle Fraktionen im Deutschen Bundestag finden politische Bildung wichtig, auch die FDP. Der Kreisvorsitzende der Frankfurter FPD, Dirk Pfeil heißt der Mann, hat eine etwas krude Ansicht zum Thema politische Bildung. Er hat nach der Berlinwahl Folgendes zu Protokoll gegeben: Es ist schlimm, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine politische Bildung genossen hat. Die Masse ist meinungslos, sprachlos. Es fährt fort mit: Ich verzweifle am mangelnden Willen der Wähler, sich ein bisschen schlauer zu machen. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass die beklagenswerten Ergebnisse der FDP auf einen Mangel an politischer Bildung zurückzuführen sind, (Caren Marks [SPD]: Sie sind schlauer geworden! 1,8 Prozent für die FDP!) eher im Gegenteil. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Kolbe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth? Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Unbedingt. Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Sie haben ein Zeitungsinterview erwähnt. Sind Sie bereit, sich über das historisch politische Wissen in diesem Haus auszutauschen? Denn Ihre Fraktion hat sich heute erlaubt, eine mit Steuergeldern finanzierte Anzeigenkampagne zu schalten, (Caren Marks [SPD]: Mit Steuergeldern?) in der das Walter-Ulbricht-Zitat – das schändliche Mauerzitat: „Niemand hat die Absicht …“ – mit der Kanzlerin Frau Merkel in Zusammenhang gebracht wird. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass das eine schändliche Anzeige der SPD-Fraktion ist, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist eine super Anzeige! Die sagen die Wahrheit!) die auf Kosten der Steuerzahler erstellt wurde und in der ein Zusammenhang zwischen dem Ulbricht-Zitat, Mauer, Toten und Stacheldraht und der Bundeskanzlerin, die eine ostdeutsche Biografie hat, hergestellt wird? (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist skandalös! Die SPD hat keinen Anstand! – Sönke Rix [SPD]: Die hat ja offensichtlich schon Wirkung gezeigt!) – Die Bemerkungen der Kollegen von der SPD-Fraktion zeigen, dass das Thema Aufarbeitung hier im Deutschen Bundestag noch eine ganz große Rolle spielen muss. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Unter der Gürtellinie!) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Herr Kollege, man kann sich über das Layout und den Inhalt durchaus streiten. Ich glaube aber, dass die SPD-Fraktion damit einen Beitrag zur politischen Bildung der Bevölkerung geleistet hat. (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU – Patrick Döring [FDP]: Das ist unfassbar!) Durch diese Anzeige wurde in Erinnerung gerufen, wie die Menschen in diesem Land gerade regiert werden. (Sönke Rix [SPD]: Ins Schwarze getroffen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ins Gelbe offensichtlich auch!) Ich finde, mit den Stichworten, die dort genannt werden, wird die Regierungswirklichkeit gut beschrieben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kolbe, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage der Frau Bär? Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Ja. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Bär. Dorothee Bär (CDU/CSU): Habe ich Sie jetzt richtig verstanden? Haben Sie gesagt, dass die SPD einen Beitrag zur politischen Bildung leistet, indem sie die Bundeskanzlerin in einen Kontext mit Stacheldraht und Erschießungen setzt? (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das machen Sie doch gerade!) – Weil Sie keine Ahnung von der Geschichte haben. Lesen Sie sich das doch einmal durch! Geschichtsvergessen! (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie sind doch diejenige, die die Leute auf die falsche Fährte bringt!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Entschuldigung, Herr Lange, Frau Kolbe hat das Recht, zu antworten, nicht Sie. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Sicherlich wollte die SPD-Bundestagsfraktion die Bundeskanzlerin nicht in den Zusammenhang stellen, den Sie hier gerade angedeutet haben. Wir wollten noch einmal darauf hinweisen, mit welcher „Gradlinigkeit“ – ich sage das in Anführungsstrichen – wir derzeit von Schwarz-Gelb regiert werden. Ich glaube, das ist ganz gut und eindrücklich gelungen. (Beifall bei der SPD – Dorothee Bär [CDU/ CSU]: Dann hoffe ich, Sie schämen sich wenigstens! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Setzen! Durchgefallen!) Ich fahre fort. Auch wenn Dirk Pfeil nicht jedermanns Ton trifft – meinen jedenfalls nicht –, freue ich mich darüber, dass eigentlich das ganze Haus den Wert der politischen Bildung anerkennt; denn die politische Bildung ist in der Tat – jetzt kommen wir zu einem ernsteren Thema – so etwas wie ein Schutzfilm für die durchaus dünne Lackschicht unserer Demokratie. Wie dünn diese ist, können wir nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern sehen, wo die NPD ein zweites Mal in den Landtag eingezogen ist. Das können wir nicht nur bei rechtsextremistischen Straftaten sehen – in Leipzig ist im Herbst des vergangenen Jahres ein junger irakischer Mann einem rassistisch motivierten Mord zum Opfer gefallen –, sondern auch an einem ganz anderen Punkt, der mir persönlich ebenso wie vielen anderen große Sorgen bereitet: Es geht darum, wie weit Elemente eines extrem rechten Denkens schon in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sind. Ich führe ein paar Zahlen aus den „Mitte“-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung an, die ich sehr empfehlen kann. (Patrick Döring [FDP]: Neutrales Institut!) – Das ist sicher ein neutrales Institut, und die Umfragen genügen sicherlich jederzeit wissenschaftlichen Ansprüchen. – Laut diesen Studien stimmt jeder elfte Befragte antisemitistischen Äußerungen zu, jeder fünfte Befragte national-chauvinistischen Äußerungen und sogar jeder vierte Befragte ausländerfeindlichen Aussagen. Laut diesen Studien sind wir damit konfrontiert, dass mehr als 10 Prozent der Bevölkerung in den neuen Ländern ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Das ist eine Sache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Ehrlich gesagt, im Grunde sind wir uns einig, was zu tun ist: Wir brauchen mehr politische Bildung. Wir müssen die Schülerinnen und Schüler ansprechen, die Lehrerinnen und Lehrer, und wir müssen an die Vereine herantreten. Diese rhetorische Einigkeit finde ich sehr gut. Lassen Sie uns aber einmal schauen, wie es mit dem Handeln aussieht. Was braucht man für gute, nachhaltige politische Bildung, die einen wirklichen Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie leistet? Ich komme beruflich aus dem Bereich der politischen Bildung. Ich weiß, dass es mindestens drei Dinge braucht. Man braucht eine langfristige Finanzierung, Vertrauen, und man braucht Qualitätssicherung und einen strukturellen Überbau. Wenn ich mir vor diesem Hintergrund Ihre Bilanz anschaue, muss ich sagen: Das sieht eher mau aus. Zum Punkt Langfristigkeit: Sie weigern sich, das Problem der kurzfristigen Finanzierung in Ihren Programmen anzugehen. Es herrscht eine Krankheit beim Kampf für mehr Demokratie, die ich als Projektionitis beschreiben würde. Die Träger müssen sich von Antrag zu Antrag hangeln und haben eigentlich nie wirklich Zeit und langfristige Sicherheit, um sich mit ihrem Thema zu befassen. Es gäbe kreative und grundgesetzkonforme Lösungen, aber diese lehnen Sie ab. Punkt Vertrauen. Wer Lust auf Demokratie wecken soll, zum Beispiel in Schulen bei Lehrern, muss das Gefühl haben, dass die Arbeit gewollt ist, dass sie anerkannt wird und dass der Geldgeber Vertrauen in die jeweilige Institution hat. Was machen Sie? Sie machen eine Extremismusklausel speziell für Demokratieinitiativen und setzen sie damit – das spüren diese Initiativen – einem allgemeinen Verdacht aus. Sie richten hier massiv Schaden an; Frau Lazar hat einige konkrete Beispiele genannt. Stichwort „Qualitätssicherung und organisatorischer Überbau“. Es gibt in Deutschland eine Institution, die einen Blick von außen, einen Überblick ganz wunderbar hinbekommt und wirklich Qualitätssicherung betreibt. Das ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Das wissen Sie selber. Das machen Sie auch in Ihrem Handeln deutlich; denn Sie haben das große Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ der Bundeszentrale übergeben. (Patrick Döring [FDP]: Mir kommen die fünf Minuten Redezeit sehr lang vor!) Gleichzeitig finden unglaubliche Kürzungen der Mittel für die Bundeszentrale statt: dieses Jahr mehr als 1 Million Euro und nächstes Jahr 3,5 Millionen Euro. Das ist der Stand von vor der Wiedervereinigung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kolbe. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Diese Kürzungen sind peinlich, und damit schädigen Sie die Demokratiearbeit in Deutschland nachhaltig. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Petra Pau [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss zunächst zu der vorangegangenen Diskussion sagen, dass es mich persönlich sehr gefreut hat, wie viele Kollegen der Sozialdemokratie, aber auch von Grünen und Linken heute Ihre Anzeige in der Welt als geschmacklos empfunden haben und in persönlichen Gesprächen dokumentiert haben, dass das nicht der Stil ist, wie wir uns hier auseinandersetzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir waren sehr zufrieden mit der Anzeige!) – Sie gehören anscheinend zu den Befürwortern, aber ich kann Ihnen versichern: Viele Ihrer Kollegen fanden das geschmacklos und in dieser Form nicht akzeptabel. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Getroffene Hunde bellen!) – Sie können mir gerne Fragen stellen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, ich habe keine Frage dazu! Ich stelle fest!) Ich komme zum zweiten Punkt, den ich Ihnen sagen möchte. Wir haben in diesen Debatten nach wie vor eine Unschärfe beim Extremismusbegriff. Natürlich ist es absurd, zu glauben, dass politischer Extremismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen gleich behandelt werden kann. Genauso – da würde ich Ihnen recht geben – geht es darum, spezifische Extremismusbegriffe für Linksextremismus, für religiös motivierten Extremismus, aber auch für Rechtsextremismus zu entwickeln. Natürlich geht es auch darum, spezifische Programme für diese jeweils unterschiedlichen Phänomene – sie sind alle vorhanden – zu entwickeln. (Sönke Rix [SPD]: Das hört sich immer besser an!) Wir sollten nicht in den Vergleich zwischen links und rechts verfallen. Es gibt Linksextremismus, es gibt religiös motivierten Extremismus, es gibt Rechtsextremismus. Es kann nicht darum gehen, das eine gegen das andere aufzurechnen. Vielmehr sollten wir genau hin-schauen, welches Phänomen wie beseitigt bzw. wie ihm begegnet werden kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen sollten Sie mit Ihrer Aufrechnerei aufhören und sich an ernsthaft und wissenschaftlich geführten Debatten (Lachen der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) über den spezifischen Extremismusbegriff beteiligen. (Sönke Rix [SPD]: Wenn Sie damit aufhören, alles miteinander zu vermischen!) – Wir vermischen die Dinge nicht miteinander. (Sönke Rix [SPD]: Aber Ihre Vorredner!) Wir trennen sehr wohl zwischen den unterschiedlichen Formen. Schließlich – es ist mir besonders wichtig, dies zu sagen –: Alle Programme sind gut und schön. Wenn wir es aber nicht schaffen, in dieser Legislaturperiode und in den Jahren, die kommen, der Mitte unserer Gesellschaft in einer Zeit, in der viele Menschen Angst haben, in der viele Menschen Zukunftsängste und Ungewissheiten verspüren, eine Perspektive zu geben, die weit über die spezifischen Angebote, die solche Präventionsprogramme bieten, hinausgeht, und einen umfassenden Ansatz zu entwickeln, dann werden wir in Zukunft leider ein Erstarken der politischen Ränder erleben. Ein letzter Satz. Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zum Grundgesetz bekennt. Ich glaube, wer das in Zweifel zieht, sollte noch einmal genau darüber nachdenken, was er sagt. (Sönke Rix [SPD]: Aber das bitte für alle!) Richtig ist – das gestehe ich Ihnen zu –, die Frage zu stellen: Wie weit erstreckt sich die Garantieerklärung, die man dort abgeben soll, auf Ehrenamtliche und Mitarbeiter? Auch ich finde, hier sollte man darauf achten, dass man nicht unpraktikable, in der Sache nicht gerechtfertigte und zu weitgehende Regelungen trifft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!) – Ja. Das ist etwas, worüber man durchaus auch einmal reden kann. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen gerade Sie sagen!) Dass man aber prinzipiell dazu in der Lage sein sollte, zu sagen: „Wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“, ist eine Selbstverständlichkeit, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das so selbstverständlich ist, muss man es doch auch nicht extra erwähnen!) die es kaum wert ist, hier so ausführlich debattiert zu werden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Das war eine sehr beachtenswerte Rede! Das muss man schon sagen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhard Pols von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Eckhard Pols (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Sönke Rix [SPD]: Hoffentlich bleibt das Niveau jetzt!) – Ja, passen Sie auf! Es geht gleich los. Es steigt heute Abend noch. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich bin der letzte Redner. Da steigt das Niveau immer. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war aber nicht nett gegenüber dem Kollegen Ruppert!) „Linken-Propaganda schon im Kindergarten“, „Rechtsextreme NPD zieht erneut in den Schweriner Landtag ein“ und „Polizei verhindert einen islamistischen Anschlag in Berlin“, das alles sind Schlagzeilen, die uns vor Augen führen, dass der Extremismus in unserer toleranten, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft kein Randphänomen ist. Das sind Schlagzeilen, die belegen, dass Extremismus eine ernst zu nehmende Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Als christlich-liberale Koalition lehnen wir jeden politischen Extremismus ab, egal ob von links, von rechts oder religiös motiviert; denn jede Form von Extremismus stellt eine Gefahr für unsere Demokratie dar. Unsere Aufgabe ist es, junge Menschen vor extremistischem Gedankengut zu schützen und gegen totalitäre Ideologien aus allen Richtungen immun zu machen. Der beste Impfstoff dafür ist, dass Kinder und Jugendliche frühzeitig für Demokratie begeistert werden, und das mit Erfolg. Unsere Bundesfamilienministerin hat mit der Ausweitung der Extremismusprogramme auf die Bereiche Linksextremismus und Islamismus den richtigen Weg eingeschlagen. Liebe Opposition, Herr Rix, Sie müssen endlich erkennen, dass es in Deutschland mehr als nur Rechtsextremismus gibt. Wir verfolgen hier einen ganzheitlichen Ansatz zur Prävention und Behandlung. Für das laufende Jahr, für 2011, haben wir den Haushaltsansatz zur Bekämpfung des Extremismus und zur Stärkung der Demokratie um 5 Millionen Euro auf insgesamt 29 Millionen Euro erhöht. (Caren Marks [SPD]: Das ist ja wieder so ein langweiliger Ministeriumssprechzettel! – Gegenruf des Abg. Markus Grübel [CDU/CSU]: Nein! Ein handwerklich solider!) Sie werden mir zustimmen, dass dies der höchste Ansatz ist, den wir seit zehn Jahren in diesem Bereich hatten. Die Opposition hat zu Jahresbeginn kritisiert, wir würden durch die Bündelung der Programme die freien Initiativen vor Ort beschneiden, weil wir den Kommunen das Antragsrecht eingeräumt haben. Sie haben die Bedingung, dass die Initiativen eine Erklärung zur Verfassungstreue abgeben müssen, massiv kritisiert. Was haben Sie hier nicht alles prophezeit, wie die Arbeit der Initiativen vor Ort durch die Neustrukturierung der Programme zunichtegemacht wird! Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: (Caren Marks [SPD]: Na, na! Sie sollten aber auch mal prüfen, was das Ministerium Ihnen so aufschreibt!) 84 Kommunen, die schon aus dem vorherigen Programm „Vielfalt tut gut“ Fördermittel erhalten haben, werden mit dem neuen Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ weiter gefördert; die übrigen sechs haben keine Anträge eingereicht. Zusätzlich zu den bisherigen 90 Lokalen Aktionsplänen sollen 90 weitere gefördert werden. Auch hier gibt es eine positive Resonanz: Von den ausgewählten 90 Lokalen Aktionsplänen im Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ haben im Mai 2011 alle bis auf drei Lokale Aktionspläne ihre Arbeit aufgenommen. Von den ausgewählten 52 Modellprojekten haben bislang 30 Modellprojekte einen Zuwendungsbescheid erhalten. Hier scheint die Angst vor der Abgabe einer Demokratieerklärung also nicht so groß zu sein wie bei einigen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause. Im Übrigen ist es verantwortungslos von der Opposition, mit dem obligatorischen Bekenntnis zur Verfassungstreue eine derartige Panik bei den Trägern zu schüren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren von der Opposition, sieht anders aus. (Sönke Rix [SPD]: Wann haben Sie denn das letzte Mal mit einer solchen Initiative gesprochen?) Völlig deplatziert ist auch die Diskussion im Zuge der Beratungen des Haushalts für 2012. Die Oppositionsfraktionen interpretieren die Kürzung des Haushaltsansatzes um 2 Millionen Euro auf 27 Millionen Euro und die Umbenennung des Titels in „Maßnahmen zur Extremismusprävention“ im Haushaltsentwurf als Richtungswechsel unserer Familienministerin. Sie suggerieren der Öffentlichkeit nicht nur eine Kürzung bei den Programmen, sondern auch eine mangelnde Wertschätzung durch die christlich-liberale Koalition. Ich sage Ihnen: Die Einsparungen führen nicht zu finanziellen Einschnitten, weder bei den Lokalen Aktionsplänen noch bei den Beratungsnetzwerken noch bei den Modellprojekten. (Sönke Rix [SPD]: Aber auch nicht zu einer Aufwertung! Eine Stärkung wäre auch mal angebracht! – Caren Marks [SPD]: Oh nein! Natürlich nicht! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!) Künftig wird das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben als Regiestelle mit der administrativ-technischen Abwicklung des Programms „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ beauftragt. Das heißt, wir sparen bei der Verwaltung der Programme durch Bürokratieabbau und effektive Öffentlichkeitsarbeit, jedoch nicht – das betone ich besonders – bei der Umsetzung vor Ort. Dies ist ganz bestimmt im Sinne der Steuerzahler, die hier auch zahlreich auf der Tribüne sitzen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/5435. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seine Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4432 mit dem Titel „Programme zur Bekämpfung von politischem Extremismus weiterentwickeln und stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3867 mit dem Titel „Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit – Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3045 mit dem Titel „Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstärken – Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus ausbauen und verstetigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4664 mit dem Titel „Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2482 mit dem Titel „Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme des Bundes danach ausrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben – Drucksache 17/6167 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Nachdem die erforderlichen Umgruppierungen im Saale nun vorgenommen worden sind, eröffne ich hiermit die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele von Ihnen werden die Situation kennen: Sie sind ein Vater oder eine Mutter, und Ihr Kind ist krank. Sie wissen nicht, was es hat, aber es scheint ihm sehr schlecht zu gehen. Ein furchtbares Gefühl! Der erste und richtige Impuls ist natürlich, das Kind sofort in die nächste Arztpraxis oder ins Krankenhaus zu bringen. Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland sehen von Arzt- und Krankenhausbesuchen ab, bis es nicht mehr anders geht. Verschleppung von Krankheiten und schwerwiegende Schäden können die Folge sein. Und die Bundesregierung macht bis heute keinerlei Anstalten, an diesen empörenden Zuständen etwas zu ändern. Menschen ohne Aufenthaltsstatus müssen in Deutschland in ständiger Angst leben. Bei jedem Kontakt mit öffentlichen Stellen gehen sie ein hohes Risiko ein, als sogenannte Illegale identifiziert zu werden. Diese Menschen sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben in unser Land gekommen. Werden sie entdeckt, schiebt man sie ab. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass ihnen auch noch der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten erschwert oder unmöglich gemacht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Besonders Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus können nichts für ihre Situation und sind besonders schutzbedürftig. Ihnen dürfen grundlegende Menschenrechte nicht verwehrt werden. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Aber Herr Kilic, das wissen Sie doch besser! Sie helfen doch den Leuten überhaupt nicht mit solchen Reden!) Die Aufhebung der Übermittlungspflichten für die Träger von Schulen und Tageseinrichtungen war ein Schritt in die richtige Richtung, liebe Kollegin Vogelsang. Da für den Kindergartenbesuch aber Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz erforderlich sind, muss die Bundesregierung statuslosen Kindern endlich auch Zugang zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe verschaffen. Sonst bleibt dies Augenwischerei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat er recht, das habt ihr vergessen!) Auch die Umsetzung der EU-Sanktionsrichtlinie liegt haarscharf daneben. Würden diese Menschen vor Gericht gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen klagen oder ausstehenden Lohn einfordern, wenn Abschiebung die sichere Folge ist? (Michael Frieser [CDU/CSU]: Falsch! Sie wissen, dass das falsch ist!) Auch Arbeitsgerichte sind in Deutschland immer noch verpflichtet, ihre Daten an die Ausländerbehörde zu übermitteln, Herr Kollege. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das soll auch so bleiben!) Die Umsetzung der Richtlinie ist hier zur Farce geraten. Es ist doch geradezu töricht, nicht zu erkennen, dass die Streichung der Übermittlungspflicht auch eine sehr wirksame, nämlich eine wirtschaftliche Waffe gegen Schwarzarbeit wäre. Eines Rechtsstaats unwürdig und schlichtweg ein Skandal ist auch die Tatsache, dass humanitär motivierte Hilfe für diese Menschen hierzulande immer noch strafbar ist. Vor genau einer Woche stand Papst Benedikt XVI. hier an dieser Stelle. Auch in Erinnerung an dieses wichtige Ereignis möchte ich die Bundesregierung ermahnen, sich das Gebot der christlichen Nächstenliebe ins Bewusstsein zu rufen. (Michael Frieser [CDU/CSU]: Aber Herr Kollege, jetzt geht es zu weit!) Es kann nicht sein, dass sich Menschen in Deutschland strafbar machen, wenn sie dieses Gebot ernst nehmen und ihren Nächsten aus humanitären Gründen im Rahmen ihres Berufs oder aus privatem Engagement heraus mit Rat und Tat zur Seite stehen, auch wenn ihre Nächsten keinen Aufenthaltsstatus haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) An allen diesen Punkten setzt unser Gesetzentwurf an. Er ist geeignet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland die Angst vor der Wahrnehmung ihrer Grundrechte zu nehmen, indem er die Übermittlungspflichten für die öffentlichen Stellen, die der Gefahrenabwehr oder der Strafpflege dienen, so belässt, im Übrigen aber abschafft. Der Entwurf steht nicht im Widerspruch zu der Pflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Durch ihn wird auch der Rechtsstaat nicht gefährdet. Ganz im Gegenteil: Er verschafft Menschen ohne Aufenthaltsstatus Zugang zu ihren Grund- und Menschenrechten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Mensch ist illegal, und kein Mensch darf sich in Deutschland nach dem Gesetz in einer Lage befinden, in der er Angst davor haben muss, zum Arzt zu gehen, seine Kinder in die Schule zu schicken oder vor Gericht gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu klagen. Stimmen Sie bitte für unseren Gesetzentwurf, und tun Sie etwas Gutes. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Michael Frieser hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Michael Frieser (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Kilic, Sie wissen es eigentlich besser. Ich befürchte fast, dass das Redemanuskript vor der entscheidenden Beschlussfassung fertig war oder Sie diesen Antrag irgendwo in der Schublade gefunden haben. Anscheinend ist die Beschlussfassung zu diesem Thema und die Umsetzung der Beschlüsse wirklich an Ihnen vorbeigegangen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig ist, dass wir uns damit schon lange befassen!) Ich will es noch einmal deutlich machen: Wir haben wirklich das in unserer Macht Stehende getan, all das aufzunehmen und umzusetzen, was wir rechtsstaatlich gerade noch für verantwortbar halten. Um es noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Es geht im Normalfall um sich hier illegal aufhaltende Menschen. Sie erwecken den Eindruck, dass genau das nicht das eigentliche Thema wäre. Ich meine, dass sich der Rechtsstaat, auf den diese Menschen so erpicht sind, in diesen Fragen und an dieser Stelle mit einem Instrumentarium versorgen muss, mit dem er in die Lage versetzt wird, darauf ordnungsgemäß zu reagieren. (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch Sprechblasen!) Heute geht es um die Frage der Umsetzung; und die Grünen versuchen, mit etwas angereicherter Ideologie noch einmal nachzufassen. Wir kommen leider Gottes zu dem Ergebnis, dass sich hinter Ihren Forderungen eine Open-Door-Politik versteckt, die lediglich die Botschaft vermittelt: Kommt alle her, egal aus welchen Gründen. Wir werden dann schon sehen, wie es weitergeht. (Rüdiger Veit [SPD]: Völliger Unsinn! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll denn dieser Unsinn?) Rechtsstaatlich gesehen liegt genau in dieser Form der Gleichmacherei eigentlich eine Ungerechtigkeit denen gegenüber, die mit Recht hier sind und mit Recht einen Aufenthaltsstatus genießen. Darauf sollte man zumindest Rücksicht nehmen. Lassen Sie mich angesichts der Änderungen an der Vorlage der Regierungskoalition, die wir in der Sommerpause bereits durchgebracht haben, auf die von Ihnen angesprochenen Einzelpunkte, soweit ich das tun kann, eingehen. Ihre Forderungen sind nämlich entweder wirklich überflüssig, weil die jetzige Gesetzeslage bereits eine Regelung enthält, oder rechtsstaatlich tatsächlich nicht durchzusetzen. Erstens. Was soll bitte an der länderübergreifenden Verteilung von Menschen, die sich hier illegal aufhalten, unzumutbar sein, und zwar abgesehen von der Tatsache, dass in § 15 a Abs. 5 Aufenthaltsgesetz für die Verwaltung bereits die Möglichkeit einer Ausnahme bei der Verteilung vorgesehen ist? Über diese Möglichkeit hinauszugehen, halten wir wirklich für überzogen. Zweitens. Sie glauben weiterhin, einen Zeugenschutz einführen zu müssen. Bezüglich Ihrer Forderung, aussagebereiten Zeugen eine Aufenthaltserlaubnis zu geben, weise ich darauf hin, dass wir in Übereinstimmung mit der Opferschutzrichtlinie schon entsprechende Regelungen eingeführt haben. Ich glaube, dass die von Ihnen vorgeschlagene Regelung entbehrlich ist, weil wir ihrer an dieser Stelle wirklich nicht bedürfen. Drittens geht es um die Bedenkzeit, also darum, dass man im Rahmen des Rechtsschutzes auch die Opferbedenkzeit verlängern sollte. Ich kann nur versuchen, hier gegliedert vorzugehen. Ich glaube, dass wir mit einer nahezu gleichlautenden Regelung in unserem Richtlinien-umsetzungsgesetz bereits die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben. Das müssten Sie in Ihrer Vorlage zumindest einmal aktualisieren. Viertens geht es um die Frage des Vergütungsanspruchs. Hierzu findet sich in dem neuen § 25 Abs. 4 b Aufenthaltsgesetz bereits eine fast inhaltsgleiche Formulierung. Ich weiß nicht, warum dieses Thema, das wir in zig Debatten, sowohl im Ausschuss als auch hier im Bundestag, bereits behandelt haben, noch einmal im Antrag thematisiert werden musste. Auch da sollte Ihre Vorlage aktualisiert werden. Fünftens. Hier kommen wir zu einem SPD-Lieblingsthema, dem der Prozessstandschaft, das ins Arbeitsgerichtsgesetz eingeführt werden soll. In der Art und Weise kennt das unser Rechtssystem nicht. Dass man in der Prozessstandschaft für andere deren Rechte durchsetzt, ist uns grundsätzlich fremd. Letztendlich gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, warum wir das an dieser Stelle einräumen sollten oder einräumen müssten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie mit den Betroffenen nie sprechen!) Sechstens. Es geht um die Frage der Beihilfe. Herr Kollege, wenn Sie der Auffassung sind, dass die Frage, wer aus humanitären Gründen Illegalen Beihilfe gibt, ein abgrenzungsfähiger Tatbestand wäre, dann muss ich Ihnen sagen: Das lässt sich in keiner Weise abgrenzen, weder rechtlich noch staatsrechtlich noch in irgendeiner anderen Weise, und schon gar nicht bei der Frage der Ermittlung. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstverständlich!) So etwas einzuführen, halte ich für schwierig. Wir kommen im Grunde am Ende zu der Bewertung, dass es um ein Paradoxon geht. Es handelt sich um Menschen, die in dieses Land kommen, weil sie sich von diesem Rechtsstaat Hilfe erbitten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kommen aber aus anderen Gründen in dieses Land! Was ist das für ein Quatsch? Es geht zum Beispiel auch um die Kinder! Die Kinder sind hier geboren!) Aber wenn die Frage des Status berührt ist, über den wir zur Normierung und Entscheidung berufen sind, sollen wir diesen Rechtsstaat wieder aushebeln. Diesen Widerspruch können wir auf keinen Fall zulassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich nehme an, dass wir noch etwas über Änderungen des Status von Kindern hören werden. Es geht natürlich um den Status von Kindern. Das zu Herzen gehende Beispiel sei Ihnen unbenommen, Herr Kollege Kilic. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Realität!) Aber man muss trotzdem sagen dürfen, dass wir den Kindergarten- und Schulbesuch von Kindern gerade deshalb geregelt haben, damit es keine Angst mehr vor Übermittlungsbotschaften und den normalerweise zu übermittelnden Daten geben muss. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kostenübernahme ist nicht geregelt!) Deshalb geht auch dieser Appell meiner Ansicht nach ins Leere. Der Staat hat ein Interesse daran, die Frage zu klären, wie er mit Vergütungsansprüchen umgehen soll. Wir können nicht ungehindert eine Zahl von Migranten zulassen. Denn der Anreiz der Beschäftigung ist immer noch der wichtigste Anreiz; die meisten kommen aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland. Lassen Sie mich das Beispiel Spanien anführen. Die Spanier dachten, sie könnten mit einer Reihe von Amnestien Illegalen den Aufenthalt gewähren und ihnen einen rechtlich unbegrenzten Status zubilligen. Das hatte für Spanien zur Folge, dass 700 000 Menschen legalisiert wurden und weitere ins Land kamen. Es wurden also vor allem Erwartungen nach oben geschraubt, und das brachte es mit sich, dass auch diese Menschen letztendlich ihren Status anerkannt haben wollten. Damit komme ich zum Ende. Es ist meines Erachtens menschenunwürdig, Menschen eine Perspektive vorzugaukeln, die sie nicht haben. Unsere Intention muss sein, den Menschen schneller zu vermitteln, wer in diesem Land bleiben kann, und diesen Menschen unsere Zuwendung zukommen zu lassen. Aber derjenige, der ohne Aufenthaltsstatus illegal in diesem Land lebt, muss schneller die Botschaft bekommen: Hier kannst du nicht bleiben. – Das ist aus unserer Sicht menschenwürdiges Verhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entspricht aber nicht Art. 1 Grundgesetz!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Rüdiger Veit (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn nicht Frau Staatsministerin Böhmer selbst mir Herrn Frieser als neuen integrationspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion vorgestellt hätte, dann würde ich ernsthaft daran zweifeln, dass er diese Funktion bekleidet. Vielleicht hat sich das auch geändert; ich weiß es nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Gesetzentwurf, um den es heute geht und der vom Kollegen Kilic begründet worden ist, ist schon deswegen sehr gut, weil er in weiten Teilen wortwörtlich das aufgenommen bzw. abgeschrieben hat, was wir in unserem Gesetzentwurf vom November 2009 niedergelegt haben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeschrieben haben wir nicht!) Das beklage ich aber nicht, indem ich sage: „Das ist ein unzulässiges Plagiat“, sondern ich betrachte das als Kompliment. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bestreiten wir jetzt erst einmal beides!) Ich gebe jetzt ein Kompliment zurück. Denn der Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen ist insofern aktueller, weil er auch die Frage der Umsetzung der Sanktionsrichtlinie umfassend mit aufgenommen hat. Ich denke, es wäre richtig, wenn wir im Laufe der weiteren Beratungen daraus einen gemeinsamen Gesetzentwurf formulieren würden. Dann kann man bei der Gelegenheit noch das eine oder andere herausnehmen, was aus meiner Sicht nicht ganz so glücklich ist. Die Verteilung von Illegalen ist – damit haben Sie nicht ganz unrecht, Herr Kollege Frieser – in dem Gesetzentwurf fehl am Platze. Denn Illegale existieren nicht für die Behörden. Sie können nicht verteilt werden. Weil sie den Ausländerbehörden nicht bekannt sind – das ist schließlich das Wesen des illegalen Aufenthalts –, kann man ihnen schlecht vorschreiben, wohin sie ziehen sollen. Das schließt sich in sich ein bisschen aus. (Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär: Nicht nur ein bisschen!) Um was geht es? Wir – das sage ich unter Einschluss meiner Person – arbeiten im Forum „Leben in der Illegalität“ seit mindestens 13 Jahren an dieser Frage. Die CDU/CSU, die diesem kirchlich initiierten (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Katholischen!) und geleiteten Arbeitskreis nahestehen sollte, hat zum Teil auch konstruktiv mitgearbeitet. Wir waren im Jahr 2005 in den Koalitionsvereinbarungen schon einmal so weit, dass wir eine Änderung der Übermittlungspflichten als dringend notwendig ansahen. Dass es so etwas gibt, ist ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Gesetzgebung. Alle anderen Länder haben begriffen, dass es bei der Frage, wie wir mit Menschen umgehen, um eine menschenrechtliche Verpflichtung geht, die nicht bei der Nationalität und dem Aufenthaltstitel haltmacht. Wenn man mit staatlicher Hilfe durch die Übermittlungspflichten einen Grund dafür schafft, dass Menschen keine ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen, weil sie Angst haben müssen, wenn sie Leistungen beim Sozialamt bzw. je nach Verwaltungsorganisation auch beim Ausländeramt beantragen – nur die Notfallrettung ist ausgenommen worden; das haben wir in den Verwaltungsvorschriften erreicht –, dann ist das, glaube ich, nicht human. Wenn man außerdem dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche, die – Herr Kollege Kilic hat damit doch recht – noch viel weniger etwas dafür können, was ihre Eltern im Hinblick auf das Ausländerrecht hier in Deutschland gemacht oder nicht gemacht haben, nicht in den Kindergarten oder zur Schule gehen, weil sie Angst davor haben müssen, dass der illegale Status ihrer Eltern bzw. der ganzen Familie aufgedeckt wird, (Michael Frieser [CDU/CSU]: Genau das haben wir doch geregelt, Herr Kollege Veit!) dann stellt das in der Tat ein großes Problem dar. Das kann nicht im Sinne der Integration sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Obwohl Sie sich der Lösung dieses Problems ein wenig genähert haben – das will ich gar nicht verhehlen –, ist es mit der Entwicklung des Bewusstseins für dieses Problem bei den Kollegen von FDP und CDU/CSU nicht so weit her. Sie müssten ansonsten nämlich konsequent weitergehen und sagen: Jeder, der in Deutschland ohne Aufenthaltsstatus lebt – das hat mit dem Pull-Effekt gar nichts zu tun; es geht um Menschen, die schon da sind, die also entweder nach Ablauf ihres Visums nicht ausgereist sind oder nach Ablehnung ihres Asylantrags ohne Aufenthaltserlaubnis hier geblieben sind –, muss ohne Angst vor Entdeckung zumindest ärztliche Versorgung beanspruchen können, seine Kinder in die Schule schicken können und seinen Arbeitslohn einklagen können. Wollen Sie allen Ernstes diejenigen Arbeitgeber, die den illegalen Status ausnutzen und Menschen ausbeuten, begünstigen, indem Sie dafür sorgen, dass die betreffenden Menschen noch nicht einmal die Arbeitsgerichte anrufen können? Das kann ich mir offen gestanden nicht vorstellen. Das ist jedenfalls mit einer humanen Gesinnung – entschuldigen Sie bitte meine Bewertung – nicht vereinbar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch unchristlich!) – Das ist zutiefst unchristlich, wie ich finde. Da ich aber keiner Kirche angehöre, bin ich mit Vorwürfen an die andere Seite ein bisschen zurückhaltender. Noch in einem anderen Punkt ist der Gesetzentwurf richtig und stimmt mit unseren Vorstellungen überein. Wir haben zu Zeiten der Großen Koalition, die gelegentlich ihr Gutes hatte und Gutes gemacht hat, den Fall der qualifizierten Strafbarkeit der Beihilfe zum illegalen Aufenthalt ausdrücklich aufgehoben, weil wir das für nicht richtig hielten. Wir haben aber schlicht übersehen, dass der einfache Fall der Beihilfe nach den allgemeinen Vorschriften des Strafrechtes noch immer strafbar ist. Das muss im Gesetz deswegen ausdrücklich klargestellt werden. Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Perspektiven vorzugaukeln. Es geht darum, den betroffenen Menschen ein Mindestmaß an sozialen Rechten einzuräumen und dafür zu sorgen, dass der Staat keine unbotmäßigen Hürden aufbaut bzw., wie dargestellt, dazu Beihilfe leistet. Ich hoffe, dass Sie sich endlich überwinden können, nicht nur punktuell etwas zu ändern, sondern, wie auch sonst in Europa üblich, Übermittlungspflichten nur für diejenigen Stellen einzuführen, die für die Strafverfolgung oder die Einhaltung der öffentlichen Sicherheit zuständig sind. Geistliche und Sozialarbeiter sollten von diesen Pflichten aber auf jeden Fall ausgenommen werden. Das Gesetz gehört diesbezüglich umfassend bereinigt. Dazu fordere ich Sie erneut auf. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Kirchen und solchen Leuten wie Pater Alt und Schwester Bührle, die sich hier erheblich eingesetzt haben. Es wäre schön, wenn Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß geben könnten und sich christlich verhalten würden. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Hartfrid Wolff hat für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf ist etwas bizarr. Wir haben hier im Hause erst am 7. Juli dieses Jahres einen Gesetzentwurf dazu verabschiedet. Die Richtlinienumsetzung ist eigentlich bereits erfolgt. Warum die Grünen nicht schon damals den jetzigen Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist mir etwas rätselhaft. (Rüdiger Veit [SPD]: Warum habt ihr unseren Änderungsantrag abgelehnt?) Bereits im April dieses Jahres haben wir über Vorschläge zur Umsetzung der Rückführungs- und der Sanktionsrichtlinie diskutiert, Kollege Veit. Die Grünen haben schlicht den Termin verschlafen und wollen sich jetzt mit einem verspäteten Aufguss alter Ideen als wach im Bereich sozialer Rechte für Illegale präsentieren. (Rüdiger Veit [SPD]: Nein, ihr habt den Änderungsantrag abgelehnt!) Das ist wenig überzeugend. Wir haben bei den abschließenden Beratungen des Richtlinienumsetzungsgesetzes zu Recht festgestellt: Es ist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen ändern, um den Schul- und Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten. Bildung ist die Basis für die gesellschaftliche Integration und den persönlichen Erfolg. Rot-Grün war dagegen. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!) Die Koalitionsfraktionen haben sich auch entschieden, die Stabilisierungszeit für Menschenhandelsopfer auf drei Monate auszudehnen. Wir folgen damit dem dringenden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Polizei. Rot-Grün war dagegen. Wir haben dafür gesorgt, dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin von Nichtregierungsorganisationen besucht werden dürfen. Grün war dagegen. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil der Gesetzentwurf mangelhaft war!) Ausgerechnet diejenigen, die sich immer als Hüter des Flüchtlingsrechts gerieren, haben diesen wichtigen, wegweisenden Verbesserungen nicht zugestimmt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr originell! Das war doch ein Riesenpaket! Das konnte man nur gemeinsam abstimmen!) Interessant daran ist, dass die SPD bei der Verabschiedung der Richtlinien noch mitgewirkt hat. Das hatte sie aber offensichtlich bis dahin vergessen. Da kann ich nur sagen: Man sieht, dass nur aus taktischen Erwägungen gehandelt wird. Wenn es darum geht, wirkliche Verbesserungen für die Betroffenen zu schaffen, dann duckt sich Rot-Grün weg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Thema ist zu ernst für diese Polemik!) Rot-grüne Politik heißt, lieber gegen die Koalition zu stimmen, als Verbesserungen zu schaffen. Das ist wirklich nicht an der Sache orientiert. Der sehr verspätet vorliegende Gesetzentwurf der Grünen ist Aktionismus und täuscht Handeln nur vor. Die Koalition handelt und hat gehandelt. (Rüdiger Veit [SPD]: Das ist manchmal das Schlimme! – Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht 2006!) Wir haben in der Koalition die für die Thematik wichtigen Weichenstellungen längst vorgenommen. (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Wo denn? – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Weichenstellung, die in die Sackgasse führt!) Diese Koalition kann stolz darauf sein, dass sie substanzielle Verbesserungen gerade im humanitären Ausländerrecht erreicht hat. Ich nenne als Stichworte nur „Opferschutz“ und „Rückkehrrecht“. Deutschland verändert sich. Die Bundesregierung gestaltet diese Veränderungen, und zwar ohne ideologischen Ballast (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den vermutet bei Ihnen auch keiner!) und vorurteilsfrei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin Sevim Daðdelen. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie mein Kollege Kilic bereits gesagt hat: Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders an ihrem Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft. Dazu gehören viele Migrantinnen und Migranten und auch Flüchtlinge. Erst letzte Woche hat das Statistische Bundesamt Ergebnisse des Mikrozensus 2010 vorgelegt, die die dauerhafte soziale Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland belegen. Zu den Schwächsten dieser Gesellschaft gehören vor allen Dingen die Menschen, die ohne einen offiziellen Aufenthaltsstatus hier leben. Sie werden absurderweise oft – auch in den Debatten im Deutschen Bundestag – als Illegale bezeichnet. Ich muss für meine Fraktion hier klarstellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es gibt nur Menschen, die illegalisiert und damit kriminalisiert werden. Für uns gilt immer noch: Kein Mensch ist illegal. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Fraktion Die Linke begrüßt und teilt das Anliegen des Gesetzentwurfs der Grünen, auch wenn er erhebliche Mängel aufweist, lieber Kollege Kilic. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie gnädig mit mir!) Diese Mängel waren auch schon im Gesetzentwurf des Jahres 2006 vorhanden. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Zu Recht!) Ich finde, dass Menschen nicht nur nicht illegal sind, sondern auch kein ordnungspolitisches Freiwild. In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs ist die Rede von – das wird von der FDP, die sich Liberale nennen, und auch von den Konservativen immer wieder betont – „der Pflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen“. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie gehört, Herr Wolff?) Ich frage mich: Wo soll denn diese Pflicht eigentlich normiert sein? Eine solche Pflicht findet sich zum Beispiel im Grundgesetz in keiner Weise. Allerdings enthält das Grundgesetz die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu bekennen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das tun wir!) – das sollten Sie einmal nachlesen – sowie die sozialen Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip durchsetzbar zu machen. Für die Linke ist es daher längst überfällig, dass auch Menschen ohne Aufenthaltsstatus die ihnen zustehenden sozialen Menschenrechte in Deutschland in Anspruch nehmen können. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Illegalisierte müssen das Recht auf Schulbildung, das Recht auf Privatleben, das Recht auf medizinische Versorgung, das Recht auf eine gerechte Entlohnung für ihre Arbeit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit haben. Sie dürfen keine Angst vor einer Abschiebung haben, wenn sie das eigentlich Normalste der Welt tun, nämlich ihre Menschenrechte in Deutschland wahrnehmen. Insofern teilen wir die Kritik der Grünen in ihrem Gesetzentwurf am Umgang mit den Illegalisierten. Richtig und dringend erforderlich ist, die Beihilfe zum humanitären Aufenthalt zu entkriminalisieren. Menschen strafrechtlich zu verfolgen, weil sie sich mit der Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht abfinden, ist einfach skandalös. Auch teilt die Linke die Forderung nach einer Abschaffung der europaweit einmaligen Denunziationspflicht; das fordern wir schon seit langem. (Beifall bei der LINKEN) Die Forderung, dass die Grünen den Opfern von Menschenhandel einen Aufenthalt nur dann gewähren wollen – und auch nur vorübergehend –, wenn deren Zeugenaussage für ein Strafverfahren benötigt wird, ist nicht zustimmungsfähig. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das wollen wir nicht!) – Das steht in Ihrem Gesetzentwurf, und das haben Sie auch 2006 schon gefordert. – Das ist kein Opferschutz, sondern eher eine Instrumentalisierung der Opfer; denn man macht das Schicksal der Menschen einfach von einer Beweislage abhängig. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist besser als die jetzige Lage!) Das ist für uns nicht akzeptabel, lieber Kollege. Deshalb sage ich: Sie sollten lieber die Anträge der Linken für eine humanitäre Flüchtlingspolitik unterstützen. Damit hätten wir auch die Mängel beseitigt, die Ihr Gesetzentwurf enthält. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Peter Tauber von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Worum geht es? Wir sprechen über Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat es etwas euphemistisch formuliert und das Gesetz folgendermaßen genannt: „Gesetz zur Verbesserung der sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben“. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist da der Euphemismus?) Bevor wir über gefühlte Wahrheiten und die Betrachtung der Wirklichkeit sprechen, möchte ich eines klarstellen: Natürlich ist der Satz „Kein Mensch ist illegal“ absolut richtig; denn wir haben die Grundrechte im Grundgesetz, wir haben das Asylrecht, wir sind ein Sozial- und ein Rechtsstaat. Trotzdem ist auch der Satz, dass sich ein Mensch illegal in einem Land aufhalten kann, richtig. Mich erfüllt etwas mit Sorge, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf unser Land auf eine Art und Weise beschreiben, die aus meiner Sicht weit an der Wirklichkeit vorbeigeht. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie schreiben unter anderem – dies klingt wie ein Horrorszenario –: In Deutschland besteht ein menschenrechtliches Problem im staatlichen Umgang mit Menschen, die in unserem Land ohne ein Aufenthaltsrecht leben. Das haben Sie schon 2006 formuliert. Ganz ehrlich: Durch Wiederholungen wird es nicht besser. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Zitat von der katholischen Kirche!) Man darf Sie in diesem Zusammenhang fragen, warum Sie das, wenn das alles so ist, in sieben Regierungsjahren nicht geändert haben; denn Sie hatten mehrfach Gelegenheit dazu. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denken Sie mal an den Bundesrat! – Rüdiger Veit [SPD]: Ist Ihnen die Zusammensetzung des Bundesrates bekannt?) Aber geschehen ist an dieser Stelle nichts. Ich kann für unsere Fraktion sehr deutlich sagen: Wir sind der Auffassung, dass es die Aufgabe der Gesellschaft und des Rechtsstaats ist, den ungesteuerten Zuzug und den Aufenthalt von Ausländern, die keinen Aufenthaltstitel und keine Duldung besitzen und weder im Ausländerzentralregister noch sonst wie behördlich registriert sind, nicht zu akzeptieren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg hat sich in seinem Arbeitspapier „Illegalität von Migranten in Deutschland“ mit den zentralen Problemen und Herausforderungen befasst, denen sich Migranten ausgesetzt sehen. Auf einen Punkt möchte ich ein bisschen näher eingehen, weil er in der Debatte eine Rolle gespielt hat und weil Sie auch hier ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit zeichnen. Es geht um diejenigen, die für ihre Situation selbst wahrlich nichts können, nämlich um die Kinder und Jugendlichen, die sich illegal in diesem Land aufhalten. Ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir über die Verbesserung der Lebenssituation dieser Kinder reden, ist natürlich der Zugang zu Bildung. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen von den bisher uneingeschränkt bestehenden aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten gegenüber den Ausländerbehörden ausgenommen worden sind. Das heißt, die Kinder können zur Schule gehen und die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie es bezahlen können!) Das entspricht der UN-Kinderrechtskonvention. Das haben wir klar geregelt. Aber Sie verneinen es, was nicht in Ordnung ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In der Tat ist es richtig: Die Kinder können nichts für den Aufenthaltsrechtsverstoß ihrer Eltern. Auch da müssen Sie sich fragen lassen, warum Sie keine entsprechende Änderung in Ihrer Regierungszeit durchgeführt haben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil der Bundesrat dagegen war!) Es bedurfte erst der schwarz-gelben Koalition und der von ihr getragenen Bundesregierung, um diesen Sachverhalt geradezurücken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Tauber, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit zu? Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Haben Sie Angst?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie wollen es nicht; gut. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Nein, ich habe keine Angst. Ich will mich trotzdem an den Kollegen wenden, weil er vorhin mit tiefer Inbrunst an christliche Werte appelliert hat. Ich muss schon sagen: Was Sie da machen, ist ganz schön scheinheilig. Die CDU/CSU braucht von Menschen, die Kirchen nur in ihrer Funktion als Kulturdenkmäler besuchen, die aber ansonsten, wenn es um Christenverfolgung geht, nicht hörbar sind, keine Exegese der christlichen Lehre. Das sage ich Ihnen ganz deutlich an dieser Stelle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aydan Özoðuz [SPD]: Aber die Leute für 2 Euro arbeiten lassen! Das ist wohl christlich!) – Von denjenigen, die das Christentum noch nicht einmal aus dem Lehrbuch kennen, geschweige denn es leben, brauchen wir keine Exegese der christlichen Lehre. Sie können gerne an Humanität und andere Dinge appellieren; darüber können wir trefflich streiten. (René Röspel [SPD]: Lesen Sie mal Matthäus 7 Vers 12!) Aber diesen billigen Reflex lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Da haben Sie noch eine Menge zu lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Lesen Sie mal, was die Bischofskonferenz zu dem Thema sagt!) Kommen wir zum Problem zurück. Worum geht es im Kern des von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfes? Der Vorschlag der Grünen ist letztendlich ein weiterer Versuch, im Sozial- und Arbeitsrecht einen unerlaubten Aufenthalt materiell abzusichern und damit zu verfestigen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!) An dieser Stelle besteht ein großes Problem. Wenn Sie die Forschung bemühen – wir reden da nicht über eine kleinere Gruppe, sondern über bis zu 1 Million Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten –, dann können Sie erkennen, dass es für diese illegale Zuwanderung verschiedene Gründe gibt. Vor allem gibt es – das kann man menschlich vielleicht nachvollziehen – eine ökonomische Motivation, also den Wunsch, am Wohlstand teilzuhaben, und den Wunsch, frei zu leben. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch humanitär!) Ob illegale Migration tatsächlich stattfindet, hängt laut Forschung von zwei Faktoren ab. Der erste Faktor ist der Zugang zu einem Land, und der zweite Faktor – er ist noch wichtiger – ist die sogenannte Anschlussmöglichkeit. Darunter versteht man das Bestreben, in dem Land, in das man illegal eingewandert ist, sozialstaatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen und zu partizipieren, obwohl man keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel hat. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Sozialstaat redet aber keiner bei Illegalen!) Da sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt. Die Sozialleistungen, die Sie gerne gewähren möchten, müssen erarbeitet werden. (Aydan Özoðuz [SPD]: Von den Kindern?) – Von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Illegalen arbeiten ja! Aber die können ihr Gehalt nicht einklagen!) Es gibt 41 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl war unter Rot-Grün deutlich geringer. Damals gab es noch 5 Millionen Arbeitslose; deshalb hatten sie es sehr viel schwerer. Diese Leistungen müssen, wie gesagt, erarbeitet werden. Sie wollen Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, an den Segnungen des Sozialstaates teilhaben lassen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Segnungen?) Dann muss man auch sagen, dass dazu eben Pflichten gehören. Eine Pflicht ist, sich ordnungsgemäß zu melden und sich zu beteiligen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völlig irrational! Sie wollen sie doch ausweisen!) Wer die Segnungen des Sozialstaates in Anspruch nimmt, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Segnungen?) der muss sich auch den Anforderungen des Rechtsstaates stellen. So einfach ist das. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Tauber, kommen Sie bitte zum Schluss. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): So wie Sie sich das vorstellen, geht es leider nicht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Rüdiger Veit. Rüdiger Veit (SPD): Herr Kollege Tauber, obwohl ich kein Lehrer bin, haben Sie meinen pädagogischen Ehrgeiz geweckt. Ich wollte Ihnen nämlich sagen, dass – Föderalismusreform hin oder her – in Deutschland Gesetze bekanntermaßen eben nicht nur im Bundestag verabschiedet werden. Gerade Gesetze aus dem Rechtsgebiet, über das wir hier sprechen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Wenn man dort eine Mehrheit erreichen will, ist das bekanntlich nicht immer einfach. Es war zum Beispiel für die rot-grüne Bundesregierung besonders schwierig, weil sie zu der Zeit keine rot-grüne Mehrheit im Bundesrat hatte. Umgekehrt ist dies bei Ihnen im Augenblick der Fall, was für Sie ein Problem darstellt. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!) Ich will noch einmal sagen: Wir waren 2005 schon weiter, auch mit Ihren Parteifreunden von der CDU und der CSU; das müssen Sie wissen. Es gab aber Probleme – das muss man objektiverweise noch einmal sagen, auch zur Entlastung Ihrer Parteifreunde – bei den zuständigen Länderinnenministern der B-Länder, mit der Konsequenz, dass es keinen Sinn gemacht hätte, noch mehr auf dem Weg des Gesetzgebungsverfahrens zu versuchen; denn das wäre im Bundesrat gescheitert. Im Übrigen: Obwohl ich in Religionsfragen nicht allzu sachverständig bin, bin ich über Ihr christliches Weltbild schon ein bisschen erschüttert, weil Sie hinsichtlich der Wahrnehmung elementarer Grundrechte – Bildung für Kinder, Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere und Behandlung von Krankheiten – durch Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, der Meinung sind, dass ihnen die entsprechenden Sozialleistungen nicht zustehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Segnungen, die ihnen nicht zustehen“, hat er gesagt!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwiderung Kollege Tauber. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen zuhören. Ich hatte leider nicht sechs Minuten Zeit, um über das christliche Menschenbild in der CDU/CSU zu sprechen. (Rüdiger Veit [SPD]: Uns hat es auch so gereicht!) Es wäre vielleicht ganz hilfreich für Sie, wenn Sie sich damit ein bisschen intensiver beschäftigten. (Rüdiger Veit [SPD]: Wenn das dabei herauskommt, können wir darauf verzichten!) Zu den von Ihnen gemachten Anmerkungen möchte ich ausführen: Die Regierungen der Bundesländer vertreten natürlich ihre Länderinteressen und nicht parteipolitische Interessen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klingt realistisch!) Es ist der christlich-liberalen Regierung offensichtlich gelungen, die Vorbehaltsregelung zurückzunehmen. Vielleicht lag das daran, dass die Argumente, die wir damals gegenüber den Landesregierungen vorgetragen haben, ein bisschen besser waren als die, die Sie damals, zur rot-grünen Regierungszeit in Berlin, hatten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie jetzt oft genug gesagt!) Vielleicht steigen wir in die Debatte darüber, was christliche Werte sind, an dieser Stelle ein. Ein ganz entscheidender christlicher Wert ist der Wert der Demut. Demut bedeutet, zu erkennen, dass man durchaus einmal Fehler machen und falsch liegen kann. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich Dinge falsch mache, dass ich Dinge manchmal nicht weiß. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Eindruck hatten wir allerdings auch!) Deswegen nehme ich den einen oder anderen erklärenden Hinweis durchaus dankbar an. Aber den Eindruck, das ebenfalls zu tun, vermitteln Sie – das ist das Entscheidende – hier eben permanent nicht. Sie haben immer recht, (Aydan Özoðuz [SPD]: Wenn Sie doch einmal was Konkretes sagen würden!) Sie wissen immer alles besser, und Sie hätten es auch eigentlich richtig gemacht, wenn Sie gekonnt hätten. Das ist, glaube ich, nicht glaubwürdig. Ich empfehle Ihnen eine Lektion in Demut. Wenn Sie diese Lektion hatten, dann treffen wir uns wieder, und dann diskutieren wir den nächsten christlichen Wert. Danke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Serkan Tören von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Serkan Tören (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist interessant, zu sehen, wie die Grünen in der Opposition ihr Tarnmäntelchen wieder ablegen. (Aydan Özoðuz [SPD]: Welches Tarnmäntelchen?) Jetzt rufen sie schillernd und lautstark nach Reformen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Vielleicht hätten Sie einmal während Ihrer Regierungszeit aus der Deckung kommen sollen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir ja gemacht! Zuwanderungsgesetz zum Beispiel!) Sie hatten ganze sieben Jahre lang Zeit, all die Maßnahmen, die in Ihrem Gesetzentwurf enthalten sind, umzusetzen. Das haben Sie nicht getan. Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege: Das Problem der irregulären Migration existiert nicht erst, seit die christlich-liberale Koalition regiert. Das Gleiche gilt für andere Fragen: Kettenduldungen, Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht. Auf all diesen Problemfeldern haben Sie, als Sie Verantwortung hatten, nichts getan. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts kann ja nicht sein! Der Bundesrat hat das verhindert!) Sie haben an dieser Stelle eine ganz miese Bilanz Ihrer Regierungszeit vorzuweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen. Deshalb verschonen Sie uns bitte mit Ihrer Selbstgerechtigkeit. Sie steht Ihnen genauso wenig wie das Tarnmäntelchen von damals. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Ich will bei einem so wichtigen Thema nicht weiter nach hinten schauen, sondern nach vorn. Der Kollege Wolff hatte bereits angesprochen, was die christlich-liberale Koalition hier schon erreicht hat. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Für uns Liberale ist klar: Deutschland darf sich seiner humanitären Verantwortung nicht entziehen. Diese Verantwortung gilt für die Sicherstellung der körperlichen Unversehrtheit aller in Deutschland lebenden Menschen. (Aydan Özoðuz [SPD]: Das ist ja schon mal was! – Rüdiger Veit [SPD]: Sie sind auf dem richtigen Weg der Erkenntnis!) Im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung müssen wir weiter nach verantwortungsvollen und pragmatischen Lösungen für den Umgang mit Menschen ohne Papiere suchen. Nachdem wir den angstfreien Schulbesuch ermöglicht haben, steht nun die Gesundheitsversorgung im Vordergrund. Die bewusste Auslagerung des Problems in den ehrenamtlichen Sektor kann keine dauerhafte Lösung sein. Das gilt auch für die zunehmende Einbindung von Gesundheitsämtern. Diese Einbindung fordern die Grünen ja in ihrem Gesetzentwurf. So sinnvoll diese flankierenden Maßnahmen auch sein mögen: Letztendlich sind das Doppelstrukturen, die zusätzliche Kosten für Kommunen bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein, insbesondere mit Blick auf einen vernünftigen Ausgleich der Interessen und der Akzeptanz der Bevölkerung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie ins Gesetz schauen, werden Sie sehen: Im Grunde genommen sind die Voraussetzungen für eine erweiterte Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere bereits normiert. Wir reden hier nicht nur über die Notfallversorgung, sondern auch über Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen. Das halte ich auch für richtig und wichtig, insbesondere mit Blick auf Schwangere und Kinder. Wenn wir es aber schon im Gesetz stehen haben, müssen wir auch eines effektiv sicherstellen, nämlich die Möglichkeit für die Betroffenen, die entsprechenden Angebote auch wahrzunehmen, und zwar ohne Angst vor Aufdeckung. Diese Intention ist 2009 mit der Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz im Bereich der Notfallversorgung bereits umgesetzt worden. Jetzt gilt es, hieran anzuknüpfen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6167 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zu den Tagesordnungspunkten, die jetzt folgen, sollen alle Reden zu Protokoll genommen werden. Ich werde darauf verzichten, die Namen der potenziellen Redner zu verlesen. (Beifall) Trotzdem müssen wir die Formalitäten abwickeln. Ich bitte, so viel Geduld zu haben und mich dabei zu begleiten; denn ich brauche jeweils Ihr Votum. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:5 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen – Drucksache 17/6260 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – Drucksache 17/7218 – Berichterstattung: Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg) Swen Schulz (Spandau) Heiner Kamp Agnes Alpers Krista Sager b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausländische Bildungsleistungen anerkennen – Fachkräftepotentiale ausschöpfen – zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Durch Vorrang für Anerkennung Integration stärken – Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine zügige und umfassende Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Brain Waste stoppen – Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher Qualifikationen umfassend optimieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Sevim Daðdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse wirksam regeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anerkennung ausländischer Abschlüsse tatsächlich voranbringen – Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117, 17/123, 17/6271, 17/6919, 17/7218 – Berichterstattung: Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg) Swen Schulz (Spandau) Heiner Kamp Agnes Alpers Krista Sager Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7218, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6260 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und den Linken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/7218. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3048 mit dem Titel „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen – Fachkräftepotentiale ausschöpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen und bei Enthaltung der SPD. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/108 mit dem Titel „Durch Vorrang für Anerkennung Integration stärken – Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstimmen der SPD und der Grünen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/117 mit dem Titel „Für eine zügige und umfassende Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/123 mit dem Titel „Brain Waste stoppen – Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher Qualifikationen umfassend optimieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken. Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6271 mit dem Titel „Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse wirksam regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 7 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6919 mit dem Titel „Anerkennung ausländischer Abschlüsse tatsächlich voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Anette Kramme, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen – Drucksache 17/7176 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7176 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 4 auf:7 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung – Drucksachen 17/3788, 17/6029 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Dr. Matthias Miersch Michael Kauch Ralph Lenkert Dorothea Steiner ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen – Drucksache 17/7182 – Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und zu den Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6029, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/3788 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Zusatzpunkt 4: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7182 mit dem Titel „VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen – Drucksache 17/7177 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7177 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – Drucksache 17/3802 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/7217 – Berichterstattung: Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Edgar Franke Christian Ahrendt Jens Petermann Ingrid Hönlinger Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7217, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3802 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7217 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen – EURATOM auflösen – Drucksache 17/6151 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6151 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 15 a bis c:11 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen – Drucksachen 17/7141, 17/7171 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten der Kommunen im Grundgesetz verankern – Drucksache 17/6491 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien – Drucksache 17/7189 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7141,  17/7171,  17/6491 und 17/7189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16:12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern – Drucksachen 17/6467, 17/7174 – Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Wolfgang Gunkel Serkan Tören Annette Groth Tom Koenigs (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7174, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 17: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Unterrichtung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (inkl. 18257/10 ADD 1 und 18257/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) KOM(2010) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10 – Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Ute Vogt Dr. Lutz Knopek Ralph Lenkert Dorothea Steiner Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Am 21. Dezember 2010 hat die EU-Kommission den Vorschlag für die Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, durch die die bestehende Seveso-II-Richtlinie ersetzt werden soll. Ziel der alten wie der neuen Richtlinie ist es, schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhüten und Unfallfolgen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu begrenzen. Die verheerenden Chemieunfälle in der Vergangenheit – ich erinnere an die Unfälle von Seveso, Bhopal, Schweizerhalle – Sandoz –, Enschede, Toulouse und Buncefield, bei denen viele Menschen ihr Leben verloren, die Umwelt geschädigt wurde und Kosten in Milliardenhöhe verursacht wurden – haben gezeigt, dass ein besonderes Augenmerk auf die Sicherheit solcher Anlagen gerichtet werden muss, in denen mit giftigen und hochgiftigen Stoffen umgegangen wird. Die sogenannten Seveso-Richtlinien sind die Antwort der EU auf diese Gefahren. Von der bestehenden Richtlinie 96/82/EG zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, der sogenannten Seveso-II-Richtlinie, werden in der Europäischen Union rund 10 000 Betriebe erfasst, davon circa 2 000 in Deutschland. Die Wahrscheinlichkeit von schweren Industrieunfällen und deren Folgen konnte maßgeblich verringert werden. Anlass für den Änderungsbedarf bei der bestehenden Seveso-II-Richtlinie ist die Anpassung des Anwendungsbereichs an die veränderten EU-Regelungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen und Gemischen – CLP-Verordnung. Dieses neue europäische Einstufungs- und Kennzeichnungssystem ist nicht deckungsgleich mit dem bisherigen System. Zurzeit werden die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen im Rat diskutiert. Mit dem Entschließungsantrag der Koalition unterstützen wir die Bundesregierung in ihren Verhandlungen auf EU-Ebene mit dem Ziel, eine alternative Anpassungsvariante für den Anwendungsbereich einzubringen. Diese soll die Abweichungen vom bisherigen Anwendungsbereich so gering wie möglich halten. Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, mögliche Ausweitungen der Richtlinie auf eine größere Anzahl von Betrieben zu verhindern. Es geht vielmehr darum, der auch an einigen Stellen vorgesehenen Absenkung des Schutzniveaus entgegenzutreten. Ausnahmeregelungen zum Anwendungsbereich würden dadurch entbehrlich und damit die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, einzelne Betriebe von bestimmten Pflichten zu befreien. Es soll weiterhin ein einheitliches Schutzniveau in der EU gelten, und es soll nicht zu nationalen Alleingängen und damit zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten kommen. Wir wollen gleiche Bedingungen für alle Unternehmen in der EU. Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass der Vollzug für Betreiber und Behörden im Vergleich zu den bisherigen Verfahrensweisen nicht verkompliziert wird. Ein weiterer Punkt unseres Entschließungsantrags betrifft die sogenannten delegierten Rechtsakte. Es handelt sich dabei um die Befugnis der Kommission, ohne Beteiligung der europäischen Legislative den im Anhang I festgelegten Anwendungsbereich der Richtlinie zu ändern, damit also materielle Regelungen der Richtlinie zu ändern. Wie der Bundesrat so hält auch die Koalition nichts davon, dass die EU-Kommission den den Anwendungsbereich bestimmenden Anhang I mittels delegierter Rechtsakte ändern kann. Eine solche Stärkung der Rechte der Exekutive steht nicht im Einklang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Die Mitgliedstaaten müssen aber ausreichend beteiligt werden. Des Weiteren haben wir in unserem Entschließungsantrag Punkte aufgenommen wie die Inspizierungsfristen, die Informationspflichten und den Informationsaustausch. Die vorgesehene Neuformulierung des Artikels über Inspektionen würde zu einer deutlichen Mehrbelastung der Betriebe und der Behörden führen. Da sich das bestehende System in Deutschland bewährt hat, soll sich die Bundesregierung für eine Beibehaltung der Flexibilität hinsichtlich der festgelegten Inspektionsfristen einsetzen und so eine Mehrbelastung von Behörden und Betrieben vermeiden. Die Einbeziehung bestimmter sicherheitsrelevanter Informationen in die Unterrichtung der Öffentlichkeit sehen wir kritisch. Es gibt bereits ausreichende Informationspflichten aufgrund der bestehenden Rechtslage. Die Veröffentlichung darüber hinausgehender sensibler Informationen ist aus Sicherheitsgesichtspunkten abzulehnen. Die im Richtlinienvorschlag getroffenen Regelungen zur Information und Beteiligung der Öffentlichkeit werden bereits durch die Richtlinie über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen gefordert und in Deutschland umgesetzt. Doppelregelungen brauchen wir nicht. Die von der Fraktion der SPD im Umweltausschuss in ihrem Entschließungsantrag vorgelegten Punkte sind für die Verhandlungen auf EU-Ebene nicht von zentraler Bedeutung. Die Änderung des Titels des Art. 12 in „Raumordnung und Flächennutzung“ ist unnötig. Da der englische Ausdruck der Richtlinie, nämlich „Land Use Planning“, unverändert ist, ist die deutsche Fassung der Überschrift ausreichend. Bei Punkt 2 des SPD-Entschließungsantrags geht es nur scheinbar um eine redaktionelle Änderung, indem eine Klammer mit Inhalt verschoben wird. Damit ist aber auch inhaltlich eine Änderung verbunden, weil sich die Formulierung nunmehr auf die Hauptverkehrswege beschränken soll. Diese Regelung ist mit Blick auf das deutsche Recht überflüssig. In § 50 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist geregelt, dass sämtliche schutzwürdigen Nutzungen der Gebiete bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen so aufeinander abgestimmt sein müssen, dass diese Eingriffe so weit wie möglich vermieden werden. Im deutschen Recht existiert daher eine Regelung, die über das hinausgeht, was die SPD fordert. Im Interesse eines anspruchsvollen Umweltschutzes, aber auch im Interesse eines für alle Beteiligten unkomplizierten Vollzugs bitte ich Sie um Zustimmung zum Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen. Ute Vogt (SPD): Die Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, auch „Seveso-Richtlinie“ genannt, gibt es aus einem guten Grund. Seveso ist uns eine ständige Mahnung. Im italienischen Seveso kam es zu einem folgenschweren Dioxinunfall, zu einem der folgenschwersten Chemieunfälle überhaupt, eine dramatische Katastrophe für die dort lebenden Menschen. Um schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhüten und die Unfallfolgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen, wurde 1982 die erste Seveso-Richtlinie erlassen mit dem Ziel, in der ganzen EU ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten. Mit der Seveso-II-Richtlinie von 1996 wurde die Richtlinie überarbeitet und wurden wichtige Änderungen und neue Konzepte eingeführt. Der Umweltschutz bekam stärkeres Gewicht, und der Anwendungsbereich wurde auf Stoffe ausgedehnt, die als gefährlich für die Umwelt und insbesondere das Wasser gelten. Aufgenommen wurden neue Anforderungen in Bezug auf Sicherheitsmanagementsysteme, Notfallpläne und Raumplanung. Verschärft wurden die Bestimmungen für Inspektionen, und die Unterrichtung der Öffentlichkeit wurde aufgenommen. Wir begrüßen den Richtlinienvorschlag für die Seveso-III-Richtlinie. Es ist notwendig, die Seveso-II-Richtlinie an das geänderte Chemikalienrecht anzupassen. Das Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt muss für uns dabei mindestens gleich bleiben oder sich, besser noch, steigern. Ziel der Überarbeitung ist die Anpassung an das neue Einstufungs- und Kennzeichnungssystem der EU für gefährliche Stoffe in der sogenannten CLP-Verordnung. Wegen der Unterschiede im bisherigen und neuen Einstufungssystem ist eine Änderung des bestehenden Anwendungsbereichs erforderlich. Mit der Überarbeitung sollen strengere Inspektionsnormen eingeführt und der Umfang an Informationen, die der Öffentlichkeit bei einem Unfall zur Verfügung stehen, vergrößert werden. So weit, so gut. Die Unterrichtung zum Richtlinienvorschlag lässt bei uns aber große Unzufriedenheit zurück: Es beginnt leider bereits bei der handwerklichen Umsetzung, denn schon die Übersetzung ist stellenweise mangelhaft und führt damit zu inhaltlichen Fehlern. So heißt es in der englischen Version „Land Use Planning“, was in der deutschen Übersetzung dann nicht allein „Flächennutzung“ heißen darf, sondern zumindest „Raumordnung und Flächennutzung“ heißen muss. Dies ist inhaltlich ein wesentlich anderer Wirkungsbereich bzw. Planungsbereich mit anderen Zuständigkeiten. Falsch wäre es aus unserer Sicht auch, das Sicherheitsabstandsgebot zwischen Betrieben und zum Beispiel Wohn- oder auch Erholungsgebieten allein ins planerische Ermessen zu stellen. Ein angemessener Abstand muss verbindlich gewahrt werden. Eine Aufweichung, wie sie in Art. 12 Abs. 2 formuliert ist, nämlich dass der Abstand nur „so weit möglich“ angemessen sein muss, ist für uns allenfalls in Bezug auf Hauptverkehrswege denkbar. Leider ist aus der vorliegenden Unterrichtung auch nicht ersichtlich, welche Betriebe zukünftig erfasst würden. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, uns diesbezüglich konkrete Informationen zugänglich zu machen. Denn nur wenn klar ist, welche Betriebe zukünftig unter die überarbeitete Richtlinie fallen bzw. welche gegebenenfalls aus ihr herausfallen würden, kann ein sachgerechtes Votum erfolgen. Ausgesprochen positiv bewerten wir allerdings das Ziel, die Öffentlichkeit besser zu informieren. Es ist mir unverständlich, meine Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU und FDP, warum Sie eine Ausweitung der bestehenden Informationspflichten ablehnen. Ebenso zu begrüßen ist es natürlich auch, wenn eine engere Koordination der beteiligten Behörden erreicht werden kann. Aber für einen effektiven Schutz der Bürgerinnen und Bürger ist es dann auch nötig, dass alle beteiligten Behörden ebenfalls das Ziel haben, die Öffentlichkeit gut und umfassend zu informieren. Was als Grundsatz auf dem Papier vorhanden ist, wird – das zeigt die Erfahrung – von den ausführenden Behörden nicht immer geschätzt und in die Praxis umgesetzt. Es sind also nach dieser Unterrichtung noch viele Fragen offen. Darüber aber, dass die Überarbeitung der Seveso-II-Richtlinie inzwischen überfällig ist und auch zeitnah erfolgen muss, herrscht hier im Haus sicher Einigkeit. Dr. Lutz Knopek (FDP): Die Namen Bhopal, Seveso, Schweizerhalle, Enschede, Toulouse und Buncefield haben eines gemeinsam: Sie stehen für industrielle Unfälle, die viele Menschen das Leben gekostet haben und die die Umwelt geschädigt sowie Kosten in Milliardenhöhe verursacht haben. Als Reaktion auf den schweren Unfall in Seveso wurde daher 1982 die erste Richtlinie über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten, umgangssprachlich auch „Seveso-Richtlinie“ genannt, erlassen. Rund 10 000 Betriebe in Europa, davon etwa 2 000 in Deutschland, werden derzeit von der 1996 überarbeiteten Richtlinie erfasst. Dadurch wurden die Wahrscheinlichkeit schwerer Industrieunfälle und vor allem deren mögliche Folgen maßgeblich verringert. Innerhalb Europas besteht daher große Einigkeit, dass die Seveso-II-Richtlinie ihren Zweck gut erfüllt. Dem Bundestag liegt nunmehr der Entwurf zur zweiten Revision dieser Richtlinie vor. Sie ist notwendig geworden, weil die EU-Regelungen zur Einstufung und Kennzeichnung von gefährlichen Stoffen aufgrund von Anpassungen an das weltweite GHS-System nicht mehr mit den Regelungen in der Seveso-Richtlinie korrespondieren. Wegen der Unterschiede im bisherigen und im neuen Einstufungssystem ist eine Eins-zu-eins-Anpassung des Anwendungsbereichs jedoch nicht möglich. Daher wird eine Anpassung zwangsläufig zur Folge haben, dass einige Stoffe aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausfallen, während andere neu hinzukommen. Da sich die Regelungen bewährt haben, liegt das Interesse der FDP-Fraktion darin, eine Anpassung vorzunehmen, die die Abweichungen vom bestehenden System möglichst minimiert. Der vorliegende Entwurf wird diesem Anspruch leider nicht gerecht. Nach Schätzungen der chemischen Industrie entstehen dadurch jedoch Mehrkosten von circa 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr, ohne das Schutzniveau zu verbessern. Wir haben daher gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Entschließungsantrag verabschiedet, der die Bundesregierung auffordert, sich für einen alternativen Anpassungsvorschlag einzusetzen. Die Technical Working Group auf europäischer Ebene, die den Richtlinienvorschlag vorbereitet hat, hat in ihrem Bericht aufgezeigt, dass es möglich ist, eine Anpassung vorzunehmen, die das bestehende Schutzniveau weitestgehend unverändert lässt. Es geht uns also nicht darum, einseitig Verschärfungen zu verhindern, sondern auch der in einigen Teilen vorgesehenen Absenkung des Schutzniveaus entgegenzutreten. Der zweite wesentliche Punkt, den wir in unserem Entschließungsantrag aufgegriffen haben, ist der Zugang der Öffentlichkeit zu sicherheitsrelevanten Informationen. Wir sind der Auffassung, dass die bestehenden Informationspflichten ausreichend sind. Der Bundesrat hat zudem zu bedenken gegeben, dass eine Ausweitung des öffentliche Zugangs zu sicherheitsrelevanten Informationen die Gefahr berge, dass diese für gezielte Anschläge auf Chemieanlagen genutzt werden könnten. Da sich die bestehenden Regelungen über viele Jahre bewährt haben, sehen wir keine Notwendigkeit, dieses Risiko einzugehen. Wir haben daher die Anregungen des Bundesrates aufgegriffen und sprechen uns gegen eine solche Ausweitung der Informationspflichten aus. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die bestehende Seveso-II-Richtlinie ihren Zweck außerordentlich gut erfüllt hat und dass die jetzt erforderlich gewordene Anpassung sich daher auf das wirklich zwingend Notwendige beschränken sollte. Die schwarz-gelbe Koalition ist sich in diesem Punkt mit der Bundesregierung vollkommen einig, und wir sind zuversichtlich, dass die derzeit andauernden Verhandlungen auf europäischer Ebene zu einem guten Ergebnis kommen werden. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Seveso-II-Richtlinie hat sich bewährt. Wie der Name Seveso es ausdrückt, soll die Richtlinie vor schweren Unfällen mit Chemikalien schützen. Niemand weiß, wie viele Tote und Verletzte durch Unfälle mit gefährlichen Stoffen konkret mit dieser Richtlinie vermieden werden konnten. Jedoch steht fest, dass Zusammenhänge von Schulungen und Sorgfalt im Umgang mit gefährlichen Stoffen mit der Anzahl der Unfälle bestehen. Der beste Unfallschutz ist Vorsicht und vor allem eine Kenntnis der Gefahren. Deshalb wäre eine weltweite Vereinheitlichung der Gefahrenkennzeichnung von Stoffen eigentlich zu begrüßen. Doch die jetzigen Piktogramme nach der CLP-Richtlinie über die Kennzeichnungen gefährlicher Stoffe erschließen sich oft nur den Eingeweihten. Diese Richtline opfert eine klar erkenn- und bewertbare Kennzeichnung gefährlicher Chemikalien einer teils verharmlosenden Vereinheitlichung. So werden beispielsweise Gefahren für die Gesundheit durch das Brustbild einer Person mit angedeuteter Lunge dargestellt und mit den Worten „Gefahr“ und „Achtung“ ergänzt. Ob die Substanz im Verdacht steht, Krebs zu erzeugen, wie Zigaretten, oder sehr giftig ist, wie Quecksilber, lässt sich nicht unterscheiden. Das Erkennen der Warnung vor der Ätzwirkung von Flüssigkeiten erfordert vom unbedarften Betrachter viel Fantasie, und ob eine Flüssigkeit leichtentzündlich oder nur brennbar ist, erfährt der Betrachter ebenfalls nicht. So ist fehlerhaftes oder leichtsinniges Verhalten vorprogrammiert. Positiv für die Linke sind die in der EU-Vorlage ausgeweiteten Informationsrechte für EU-Bürger. Das Recht der Umweltverbände und unabhängigen Fachleute, die im Rahmen der Richtlinie erhobenen Daten und an die EU übermittelten Informationen einzusehen, bringt mehr Transparenz und erhöht die Sicherheit für uns alle. Aber gerade diese Transparenz wollen CDU und FDP mit ihrer Art der Umsetzung der EU-Richtlinie aushebeln, genauso wie die Koalition optimalen Verbraucherschutz durch höhere nationale Schutzniveaus mit der Begründung „das benachteiligt unseren Standort“ verhindert. Die Koalition will den Schutz der Verbraucher und Beschäftigten über Anpassung nach unten auf ein möglichst niedriges, kostenneutrales Level senken. Die Gewinne aus dieser Absenkung werden die Chemiekonzerne einfahren. Das Leid bleibt bei den unnötig Verletzten und die Kosten für die Behandlung unnötiger Opfer trägt die Gesellschaft. Leider spielen Union und FDP auch in diesem Bereich das Spiel: Gewinne privat, Verluste dem Staat. Die Linke teilt die Befürchtung von Fachleuten, dass die Liste der überwachungspflichtigen Stoffe zu kurz ist und dass die dort festgelegten Mengenschwellen zur Überwachung zu großzügig angesetzt sind. Dass sogar gesundheitsgefährdende Stoffe aus der Überwachung herausfallen, passt ins Bild der die Menschen ignorierenden, aber die Industrie streichelnden Koalitionspolitik. Wir haben Seveso und die anderen Orte schwerer Chemieunfälle nicht vergessen, die Toten, die Kranken und die Menschen, die Hab und Gut verloren. All dies geschah durch die Gier nach mehr Profiten und die Ignoranz oder Aufhebung von strengen Regeln für die Industrie unter dem Deckmantel von Standortsicherung, Wettbewerbsfähigkeit und Entbürokratisierung. Im Interesse der Menschen muss die Linke diesen Vorschlag ablehnen. Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Derzeit wird die sogenannte Seveso-II-Richtlinie aus dem Jahr 1996 überarbeitet. Ziel der Richtlinie ist es, schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhindern und Unfallfolgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen. Industrieanlagen, die der Seveso-Richtlinie unterliegen, also mit gefährlichen Stoffen in erheblichen Mengen umgehen, müssen zusätzliche Sicherheitsauflagen einhalten. Außerdem bestehen verschärfte Informationspflichten, vor allem bei Unfällen mit gefährlichen Chemikalien. Ziel der Überarbeitung der EU-Richtlinie ist es, die Informationsflüsse über die gefährlichen Chemikalien zu verbessern. Außerdem war dringend eine Anpassung der Liste der gefährlichen Stoffe an das UN-System zur Einstufung gefährlicher Stoffe notwendig, um zu weltweit einheitlichen Listen zu kommen. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag zur neuen Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, der viele gute Ansatzpunkte enthält. So werden zum Beispiel Verbesserungen bei der Bürgerinformation und Bürgerbeteiligung beim Umgang mit gefährlichen Stoffen im neuen Richtlinienentwurf vorgenommen. Die Ausweitung der Informations- und Berichtspflichten ist zu begrüßen, um die Menschen im Umfeld solcher Anlagen, die gefährliche Stoffe verwenden, besser zu informieren – vor allem, wenn Unfälle auftreten. Sorge bereitet uns, dass im jetzigen Entwurf die Entscheidung, welche Stoffe in welchen Mengen auf die Listen gefährlicher Stoffe gesetzt werden, zukünftig ohne Gesetzgebungsverfahren abgeändert werden könnte. Wenn dieses dazu führt, dass beliebig Stoffe von der Liste gestrichen werden, wäre dies sehr bedenklich. Eine Ausweitung der Liste gefährlicher Stoffe wäre für uns jedoch denkbar, zum Beispiel hinsichtlich kanzerogener Stoffe, die gentoxisch wirken, oder großer Mengen Kohlendioxid, wie es zukünftig in CCS-Anlagen vorkommen könnte. Der Antrag der Regierungsfraktionen zielt darauf ab, die Verbesserungen hinsichtlich der Informationspflichten beim Umgang mit gefährlichen Stoffen gegenüber der Öffentlichkeit zu verhindern. Die öffentlichen Informationen sollen den Anwohnerinnen und Anwohnern dazu dienen, Art und Ausmaß von Störfällen zu erkennen. Wir sprechen hier schließlich von schlimmen und schlimmsten Unfällen, die im Umgang mit gefährlichen Chemikalien immer wieder passieren, und zwar weltweit. Mit ihrem Antrag fordern die Koalitionsfraktionen von der Bundesregierung, die Interessen der Industrie höher zu werten als die berechtigten Informationsinteressen der betroffenen und besorgten Menschen vor Ort. Dies ist ganz klare Klientelpolitik. Im Umweltausschuss zeigte sich, dass insbesondere den Abgeordneten der FDP die Interessen der Chemieindustrie wichtiger sind als die berechtigten Sorgen der Menschen im Umfeld von Anlagen, die gefährliche Stoffe produzieren oder verarbeiten. Die Redebeiträge übernahmen wortwörtlich die Forderungen der Chemieindustrie, wie wir sie auch der Presse entnehmen können. Die Grünen unterstützen die von der Kommission vorgeschlagenen Verbesserungen bei der Bürgerinformation und Bürgerbeteiligung beim Umgang mit gefährlichen Stoffen im neuen Richtlinienentwurf ausdrücklich. Wir sehen eher die Notwendigkeit, die Liste der gefährlichen Stoffe zu erweitern und über ihren Einsatz größtmögliche Transparenz herzustellen. Wir wollen, dass Deutschland und die Europäische Union auf diesem Weg weitergehen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5891, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften – Drucksache 17/7142 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften halten wir unser Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung und steigern die Wettbewerbsfähigkeit des Bundes gegenüber anderen Dienstherren und der Wirtschaft. Bundesverwaltung und Bundeswehr benötigen für die Erfüllung ihrer vielfältigen und anspruchsvollen Aufgaben gut ausgebildetes und zum Teil hochspezialisiertes Personal. Wir haben im Wettbewerb mit der Privatwirtschaft damit sicher noch nicht ganz Augenhöhe erreicht. Aber auf dieser langen Leiter sind wir bereits durch flexiblere Arbeitszeiten für ältere Beschäftigte im Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz im vergangenen Jahr einige Sprossen vorangekommen. Und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingen uns wieder wesentliche Fortschritte, um die Attraktivität einiger Berufsbilder im öffentlichen Dienst zu steigern. Die Kernregelungen sind unter anderem der Personalgewinnungszuschlag, die Gewährung einer Ausgleichszahlung bei Versetzung in den Bundesdienst, die Verbesserung der Vergütung von IT-Fachkräften oder des ärztlichen Bereitschaftsdienstes der Bundeswehr sowie die Anerkennung von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten. Bis 2025 wird die Zahl der erwerbsfähigen Mitbürgerinnen und Mitbürger um etwa 6,7 Millionen abnehmen. Diese Entwicklung werden auch die Ministerien und Behörden zu spüren bekommen. Schon heute ist ein Großteil der Beschäftigten dort Mitte 50 oder älter. Deshalb agiert die Regierungskoalition und setzt den kontinuierlichen Prozess einer verbesserten Fachkräftegewinnung konsequent fort. Wie sehr der Schuh von allen Seiten drückt, zeigt sich alleine an den vielfältigen Initiativen der Wirtschaft, zum Beispiel der Aktion „MINT- Zukunft schaffen“ von BDI und BDA oder dem Netzwerkprojekt „Fachkräftegewinnung“ der einzelnen Industrie- und Handelskammern. Im Mai 2011 waren auf dem freien Markt mehr als 150 000 Stellen für Hochqualifizierte in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, kurz „MINT“, unbesetzt. 43 Prozent der Unternehmen erwarten Probleme bei der künftigen Fachkräftesuche. BDI-Präsident Professor Dr.-Ing. Hans-Peter Keitel sagte schon im Dezember letzten Jahres, dass durch bloßes Aufmachen der deutschen Grenzen die Fachleute im MINT-Sektor keineswegs Schlange stünden. Auch Staatssekretär Gerd Hoofe vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales teilt die Sorge, da sich nicht die Frage stellt, ob wir die Fachkräfte wollen, sondern ob die Fachkräfte zu uns kommen wollen. Kurz gesagt: Die Arbeitgeber bewerben sich künftig bei den Fachkräften und nicht mehr umgekehrt. Genau hier setzt unser Gesetzentwurf zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung an. Lassen Sie mich auf die eingangs schon erwähnten nächsten Sprossen näher eingehen: Mit dem Instrument des Personalgewinnungszuschlags soll es Bundesbehörden künftig ermöglicht werden, mit finanziellen Anreizen auf Personalengpässe systematisch zu reagieren. Gezielt sollen dazu Fachkräfte, zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte bei der Bundeswehr oder IT-Fachkräfte bei der Polizei, gewonnen werden. Ob und wie dieser Zuschlag seinen Einsatz findet, liegt im Ermessen der Personalstellen. Er ersetzt und erweitert die bisherigen Sonderzuschläge und kann bis zu 20 Prozent des Grundgehaltes betragen; für A 13 sind das zum Beispiel 690 Euro pro Monat. Der Personalgewinnungszuschlag kann für höchstens 48 Monate entweder als Monatsbetrag oder als Einmalzahlung gewährt werden. Eine einmalige Verlängerung wird möglich sein. Den Bundesbehörden wird hier eine flexible und bedarfsgerechte Ausgestaltung des Zuschlags ermöglicht. Die Besoldungsausgaben eines Ressorts für diesen Zweck sollen von 0,1 Prozent auf 0,3 Prozent erhöht werden. Dies entspricht insgesamt 22 Millionen Euro. Ebenso werden wir Besoldungsverluste beim Wechsel in den Bundesdienst ausgleichen. Landes- und Kommunalbeamte erleiden bei ihrem Wechsel oft Einkommenseinbußen, zum Beispiel ein Rechtspfleger aus Baden-Württemberg, der zum Bundesamt für Justiz nach Bonn wechselt. Die Einstiegsbedingungen für IT-Fachkräfte im gehobenen Dienst verbessern wir. Künftig können IT-Fachkräfte auch im Eingangsamt A 10 eingestellt werden. Daneben werden wir die Vergütung der Sanitätsoffiziere in den Bundeswehrkrankenhäusern verbessern und der im zivilen Gesundheitssystem angleichen. Beispielsweise werden die ärztlichen Bereitschaftsdienste deutlicher berücksichtigt. Auch die Polizeizulage in der Bundesfinanzverwaltung wird durch dieses Gesetz neu geordnet. Die Abgrenzungsschwierigkeiten beim Zoll im Bereich der vollzugspolizeilichen Aufgaben werden beseitigt, und das Bundesministerium für Finanzen entscheidet über die zulagenberechtigten Bereiche künftig selbst. Zugleich werden wir eine Verpflichtungsprämie für die polizeiliche Auslandsverwendung einführen. Mit dieser Prämie sollen Vergütungsunterschiede bei 6-Monats-Diensten im Rahmen von bilateralen Projekten und EU-Projekten beseitigt werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen, dass bei Besuchen verantwortlicher Politiker zum Beispiel bei den in Afghanistan eingesetzten Polizisten diese ungerechtfertigte Situation nochmals eindringlich verdeutlicht wurde und wir hierauf jetzt konsequent reagieren und das Problem beseitigen. Ebenso werden wir den alten §147 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes in das neue Dienstrecht überleiten: Damit können nun auch Beamtinnen und Beamte, die vor dem 12. Februar 2009 in ein Beamtenverhältnis auf Probe berufen wurden, bereits nach drei Dienstjahren auf Lebenszeit verbeamtet werden. Und schließlich verbessern wir die Regelungen zu Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten. Das am schnellsten zu mobilisierende Arbeitskraftpotenzial in unserer Gesellschaft liegt bei den Frauen, insbesondere bei Frauen mit Kindern. Der vorliegende Gesetzentwurf wird diesem Umstand in besonderem Maße Rechnung tragen: Zukünftig werden Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten bis zu drei Jahren wie berufliche Erfahrungszeiten voll anerkannt. Die Bundesverwaltung ist bei der Thematik der Gleichstellung der Frauen und familienfreundlicher Arbeitgeber sicher schon heute wettbewerbsfähig. Mit diesem Angebot wollen wir unsere Stärken stärken. Die Steigerung der Attraktivität des Bundes als herausragender Arbeitgeber wird mit diesem Gesetzesschritt wieder ein gutes Stück vorangebracht. Das Ende der Leiter ist aber noch lange nicht erreicht. Nach Ausbildung und Studium ist eine Entscheidung für einen staatlichen Arbeitgeber, im Gegensatz zur Wirtschaft, meist eine Lebensentscheidung. In einem arbeitnehmerfreundlichen Markt mit steigendem Mangel an Fachkräften in allen Branchen und Sektoren wird das Argument der Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienst aber zunehmend schwächer. Hier muss der Bund sich nicht nur mit internationalen Konzernen und ausländischen Universitäten sowie Forschungseinrichtungen, sondern auch mit Ländern und Kommunen messen lassen. Insofern gilt es für uns, weiter am Ball zu bleiben und den Menschen interessante Modelle zum Einstieg in die öffentliche Verwaltung zu bieten. Unser Berufsbilder sind bereits anspruchsvoll und attraktiv; an verbesserten gesetzlichen Rahmenbedingungen werden wir gleichwohl konsequent weiterarbeiten. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich Ihnen schon heute ankündige, dass wir bereits die nächsten Sprossen unserer Leiter konstruieren. Für heute freuen wir uns zunächst einmal über diesen Gesetzentwurf der Regierung und stimmen deshalb mit Überzeugung zu. Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Es geschieht nicht allzu oft, dass die Vorschläge dieser Regierung und dieses Innenministeriums nicht mit scharfer Kritik zu belegen sind. Das gilt leider ganz besonders, wenn es um den Umgang mit den Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten geht. Doch heute ist dies ausnahmsweise einmal anders. Denn offensichtlich wird mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Fachkräftegewinnung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften ein überfälliger Schritt vollzogen. Wir wollen uns daher nicht verweigern, wenn einmal mehr als nur Lippenbekenntnisse zum Berufsbeamtentum von der Koalition zu vernehmen sind. Die Regelungen verweisen auf ein drängendes Problem: In Zeiten des demografischen Umbruchs beginnt die Jagd nach Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt. Oftmals kann der öffentliche Dienst dabei nicht mithalten. Denn die Bezahlstrukturen hier lassen es für junge Menschen oftmals nicht attraktiv erscheinen, Bundesbeamter oder Bundesbeamtin zu werden. Sie denken dabei zu kurz, lassen sich vom schnellen Geld verführen, ohne an die nach wie vor vorhandene Sicherheit im öffentlichen Dienst und die auch ansonsten langfristig bestehenden Vorteile einer Tätigkeit dort zu denken. Allerdings ist es zum Beispiel dem jungen Absolventen eines Informatikstudiengangs nicht zu verdenken, dass er sich sofort nach seinem Examen für die private Wirtschaft entscheidet, wenn ihm dort von Anfang an Traumgehälter winken. Die Nachteile werden für ihn vielleicht erst später erkennbar. Wie dem auch sei: Unser Land benötigt mehr denn je gut ausgebildete Menschen, die ihre Zukunft im öffentlichen Dienst sehen, beispielsweise um unsere Polizei auf der Höhe der Zeit zu halten, wichtige Entwicklungen in der Datensicherheit voranzutreiben oder bei der Bundeswehr dauerhaft zu dienen. Deshalb ist es auch aus unserer Sicht gut und richtig, nunmehr einen ersten Schritt zu gehen, um Anreize zu schaffen, beispielsweise durch Zuschläge bei der Personalgewinnung oder ein verbessertes Eingangsamt für IT-Fachkräfte. Denn so wird das enge Korsett der Bezahlstrukturen des öffentlichen Dienstes wenigstens ein bisschen geweitet. Allerdings nutzt dies alles nichts, wenn wir unseren Berufsbeamtinnen und -beamten nicht mehr echte Wertschätzung entgegenbringen. Allzu oft neigen auch viele Mitglieder dieses Hohen Hauses leider dazu, lieber Stammtischparolen zu bedienen. Es deutet sich ja nunmehr an, dass die Koalition auf unseren Druck hin den Vertrauensbruch beim Weihnachtsgeld endlich rückgängig macht. Ein halbherziger Akt, mit dem die damalige Schandtat nicht getilgt wird. Sie haben darin Ihr wahres beamten- und leistungsfeindliches Gesicht gezeigt. Nur der Protest, nicht die Einsicht lässt sie jetzt umschwenken. Dieses Hü und Hott ist für sich genommen schon unerträglich und wird Ihnen nicht bekommen! Wer A sagt, der muss auch B sagen. Denn jede Attraktivitätssteigerung bleibt auf halber Strecke stehen, wenn die Mitnahmefähigkeit der Versorgungsbezüge nicht in zeitgemäßer Weise erfolgt. Am 12. November 2008 hatten Sie schon gemeinsam mit uns die Bundesregierung aufgefordert, eine gesetzliche Regelung der Mitnahmefähigkeit noch in der 16. Wahlperiode zu ermöglichen. Danach hat Sie der Mut wieder verlassen – oder hatten Sie es nicht ernst gemeint? Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, sich wieder eines Besseren zu besinnen. Es ist keineswegs so, dass es nicht genügend junge Menschen gäbe, die dem deutschen Staat als Beamtinnen und Beamte dienen wollen. Sie erkennen sehr genau, wie großartig ein solcher Dienst sein kann. Doch Borniertheit und Ignoranz schlagen ihnen entgegen und verschrecken sie. Es ist an uns, die Türen für jene Inte-ressierten und Engagierten weit aufzumachen. Seien sie dabei! Dr. Stefan Ruppert (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf legt die Koalition ein nachhaltiges Lösungskonzept für das Problem der Rekrutierung gut ausgebildeten Fachpersonals im öffentlichen Dienst vor. Wie Arbeitgeber aus der Wirtschaft und anderen Bereichen müssen Bundesverwaltung und Bundeswehr konkurrenzfähig bleiben, um qualifizierte Nachwuchskräfte für sich gewinnen zu können. Der Gesetzentwurf setzt sich zum Ziel, mit Instrumenten wie dem vorgesehenen Personalgewinnungszuschlag die Wettbewerbsfähigkeit des Bundes in dieser Hinsicht zu verbessern. Damit setzen wir einen weiteren Punkt aus dem Koalitionsvertrag um, den die FDP federführend mitgestaltet hat. Der Entwurf konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Schwerpunkte. Zum einen werden bei den Ergänzungen im Bundesbesoldungsgesetz Elemente, die sich auf alle Bereiche beziehen, mit solchen kombiniert, die einzelne Berufsgruppen besserstellen. Zum anderen werden Änderungen vorgenommen, die in der Beamtenversorgung aufgrund der Rechtsprechung und aus Praxiserwägungen schon lange notwendig sind. Zu den wichtigsten, für alle Berufsgruppen relevanten Punkten gehört der bereits oben genannte Personalgewinnungszuschlag (§ 43 BBesG). Der Zuschlag gibt den Bundesbehörden ein konkretes Mittel in die Hand, auf Personalengpässe flexibel reagieren zu können. Falls für eine Stelle innerhalb eines angemessenen Zeitraums kein geeigneter Bewerber gefunden werden kann, ermöglicht der Zuschlag der jeweiligen Bundesbehörde, das Anfangsgehalt einer Nachwuchskraft um maximal 20 Prozent pro Monat zu erhöhen. Befristet wird diese Subventionierung auf vier Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um denselben Zeitraum auf höchstens acht Jahre. Der Zuschlag kann entweder als Einmalzahlung oder als monatlicher Betrag geleistet werden. Das Instrument kann in geringerem Umfang auch als Anreiz für schon vorhandene Fachkräfte genutzt werden, zwischen oder innerhalb von Bundesbehörden die Stelle zu wechseln. Da jedes Ressort maximal 0,3 Prozent seiner Personalausgaben für den Zuschlag ausgeben darf, wird dafür gesorgt, dass der Aufwand den Nutzen nicht übersteigt. Darüber hinaus existiert schon lange das Problem, dass der Wechsel von Landesbehörden in die Bundesverwaltung sich finanziell negativ für Beschäftige auswirken kann. Deshalb ist die Bereitschaft zu einer Versetzung aus den Ländern in die Bundesverwaltung oft nicht sehr groß. Um an dieser Stelle einen Anreiz zu schaffen, wird eine Zulage eingeführt, die das Absinken des Besoldungsniveaus ausgleicht, das bei einer Versetzung eventuell anfallen kann (§ 19 b BBesG). Diese Zulage sichert das Gehaltsniveau zum Zeitpunkt des Übertritts zum Bund und wird bei Gehaltserhöhungen dann schrittweise abgebaut. Außerdem werden Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten nach dem Gesetzentwurf in Zukunft als Erfahrungszeiten angerechnet (§ 28 Abs. 2 BBesG). Jungen Eltern soll dadurch der Eintritt in den Bundesdienst erleichtert werden. Diese Maßnahme ist Ausdruck einer familienfreundlichen Politik, der wir als FDP uns besonders verpflichtet fühlen. In Bezug auf Änderungen, die auf die Besserstellung einzelner Berufsgruppen zielen, sind besonders die Sanitätsoffiziere und IT-Fachleute herauszugreifen. So wird die Vergütung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst der im zivilen Gesundheitssystem angenähert (§ 50 b BBesG), und das Besoldungsniveau von IT-Fachkräften im gehobenen Dienst wird von A 9 auf A 10 angehoben (§ 23 BBesG). Sonstige Änderungen, deren Notwendigkeit sich sowohl aus der Rechtsprechung als auch aus der Praxis ergeben, sollen nach dem Gesetzesentwurf unter anderem zu polizeilichen Auslandsverwendungen in besonderen Einzelfällen sowie im Bundesbeamtengesetz vorgenommen werden. So wird mit der Einführung einer Prämie für Soldaten, die sich für sechs Monate verpflichten, versucht, wieder mehr Soldaten zu einer Langzeitverpflichtung zu bewegen, die für wichtige Einsätze dringend nötig ist (§ 57 BBesG). Eine Änderung im Bundesbeamtengesetz wird ermöglichen, ein Beamtenverhältnis auf Probe schon vor Vollendung des 27. Lebensjahres in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit umzuwandeln (§ 147 Abs. 2 BBG). Dies wird der Fall sein, soweit seit der Berufung mindestens drei Jahre vergangen sind. Bisher galt für Beamte, die vor dem 12. Februar 2009 als Beamte auf Probe berufen wurden, ein Mindestalter von 27 Jahren für die Umwandlung in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Das Fachkräftegewinnungsgesetz setzt bei vielen Brennpunkten in der Beamtenbesoldung an. Es bietet dringend nötige Anreize, um den öffentlichen Dienst attraktiver zu gestalten. Es wird jedoch auch deutlich, dass der Gesetzentwurf hauptsächlich punktuelle Lösungen bei der Fachkräftegewinnung und im Dienstrecht bietet, indem er eine Vielzahl an Themengebieten aufgreift. Es lässt sich beispielsweise die Frage stellen, warum neben IT-Fachkräften und Sanitätsoffizieren nicht auch wichtige Berufsgruppen wie die dringend benötigten Ingenieure bessergestellt werden. Mit diesen Maßnahmen allein wird es nicht gelingen, die Verknappung von Fachpersonal in den Griff zu bekommen. Ein Lösungsansatz, der weiterhin Aufmerksamkeit verdient, ist das Aufbrechen des öffentlichen Dienstes als vom übrigen Arbeitsmarkt abgetrennter Bereich. Eine größere Flexibilität zu erreichen, ist hier mehr als wünschenswert. Solange für Bundesbeamte die Mitnahme von Versorgungsanwartschaften nicht möglich ist, wird es eine größere Flexibilität an dieser Stelle nicht geben. Hier gilt es anzusetzen und unter Umständen den öffentlichen Dienst auch deshalb als Arbeitgeber interessanter zu machen. Frank Tempel (DIE LINKE): Die Politik dieser Bundesregierung, aber auch ihrer Vorgänger hat zu massiven Problemen beim Fachkräftebesatz in der Bundesverwaltung geführt. Personalabbau, Überalterung und unzureichende Ausbildungszahlen bzw. Neueinstellungen kennzeichnen die Situation. Daraus resultiert eine immer geringere Personaldecke. Die einzelnen Beschäftigten sind deshalb einem immer höheren Aufgabenzuwachs ausgesetzt. Übergroße Aufgabenverdichtung führt über kurz oder lang zu Frustration, innerer Kündigung und – wie jeder den Statistiken entnehmen kann – zu erhöhter Zahl von Krankschreibungen. Womit wird dieser Missklang musikalisch begleitet? Mit längeren Arbeitszeiten und Einkommenskürzungen für die Beamtinnen und Beamten! So gilt die Weihnachtsgeldkürzung von 2005 – entgegen allen Absprachen mit den Gewerkschaften – bis 2015! Ich sage an die Adresse der Bundesregierung: Die Attraktivität des Arbeitgebers Bundesverwaltung hat stark gelitten. Aber auch Ihnen ist nicht entgangen, dass qualifiziertes Personal selbst in abgespeckten Verwaltungen vonnöten ist. Und auch Ihnen ist klar, dass sich der Bund angesichts der gesunkenen Arbeitslosigkeit mit Länderverwaltungen und der Wirtschaft in einer verschärften Konkurrenz um qualifizierte Fachkräfte befindet. In Ihrem Gesetzentwurf sind verschiedene Maßnahmen vorgesehen, um die Attraktivität des Dienstes in der Bundesverwaltung zu steigern. Diese Maßnahmen sind sinnvoll, gehen aber nicht weit genug. Ihrem Vorhaben, Ausgleichszahlungen für Beamtinnen und Beamte zu ermöglichen, die in die Bundesverwaltung wechseln, stimmen wir zu. Bei der von der Linken geforderten Wiedereinführung eines einheitlichen Besoldungsrechts wären solche Zahlungen allerdings hinfällig. Die Einführung eines Personalgewinnungszuschlages stellt einen besonderen Anreiz für den Dienst in der Bundesverwaltung dar. Der Personalgewinnungszuschlag ist allerdings nicht ruhegehaltfähig. Warum? Mit der Anerkennung von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten soll der Dienst in der Bundesverwaltung insbesondere für Eltern attraktiver gemacht werden. Das ist ein wichtiges Zeichen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch die Erleichterung der Anerkennung außerhalb hauptberuflicher Zeiten erworbener Zusatzqualifikationen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Fraglich ist aber, wieso Sie diese Regelung nicht generalisieren, sondern auf Einzelfälle beschränken. Warum Sie willkürlich nur drei Jahre an Zusatzqualifikationen anerkennen wollen, Regelstudienzeiten und durchschnittliche Promotionszeiten aber nicht, ist ebenso unklar. In der Praxis der Gesetzesanwendung muss ein großes Augenmerk auf die Transparenz bei der Gewährung der Zuschläge gelegt werden. Die Erfahrungen bei den Leistungszuschlägen zeigen, dass unklare und intransparente Verfahren zu Günstlingswirtschaft führen können. Nur mit einer starken Einbindung der Mitarbeiterschaft und der Personalvertretungen werden Transparenz und Akzeptanz hergestellt werden können. Wir stimmen Ihrem Gesetzentwurf zu, wohl wissend, dass die Schritte in die richtige Richtung nicht die notwendigen Verbesserungen bei der Gehaltsstruktur ersetzen, beispielweise die Rücknahme der Weihnachtsgeldkürzung. Weder die aktuellen Personalprobleme noch die viel gravierenderen demografischen Probleme in der Bundesverwaltung werden Sie mit solchen Detailmaßnahmen in den Griff bekommen. Der dbb beamtenbund und tarifunion weist darauf hin, dass in den nächsten zehn Jahren der öffentliche Dienst aufgrund des demografischen Wandels fast 20 Prozent der Beschäftigten verliert. Ohne grundsätzliche Änderungen in der Einstellungspolitik wird das nicht lösbar sein. Die Linke fordert deshalb eine umfassende Ausbildungs- und Einstellungsoffensive. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Fraktion und ich nehmen grundsätzlich positiv zur Kenntnis, dass sich die Bundesregierung Gedanken über die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Dienstes des Bundes macht. Die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eingebrachten Maßnahmen – insbesondere die verbesserte Berücksichtigung von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten, ein flexibleres Personalgewinnungsinstrument oder auch die Förderung der Durchlässigkeit zwischen Landes- und Bundesdienst durch Vermeidung von Besoldungsdiskrepanzen – sind alle begrüßenswert. Bei Licht besehen aber muss es der Einstieg in eine weitaus umfassendere Reform des Dienstrechts mit dem Ziel sein, die Attraktivität des öffentlichen Dienstes insgesamt zu steigern. Studien belegen, dass bei Weitem nicht nur monetäre Faktoren die Attraktivität und die Entscheidung für einen Arbeitsplatz ausmachen. Insofern ist der Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich zuzustimmen, wenn er das Fehlen nichtmonetärer Anreize bemängelt. Nach unserer Vorstellung geht es um weit mehr. Es geht um Fragen des Betriebsklimas im öffentlichen Dienst, das Zulassen flacherer Hierarchien, breiterer Entscheidungskompetenzen auch im gehobenen Dienst, teamorientierte Ansätze und Mitspracherechte, um nur einige Ansatzpunkte zu nennen, mit denen der öffentliche Dienst im Wettbewerb um kluge Köpfe punkten muss. Diese sind maßgebliche Motivationsfaktoren und sollten bei dem Bemühen um einen attraktiveren öffentlichen Dienst eine weitaus bedeutendere Rolle spielen, als dies heute der Fall ist. Dies muss zwingend auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Bund einem immer schmaler zulaufenden finanziellen Korridor entgegensieht und in zunehmenden Maße dem schon längst globalen Fachkräftemarkt der Konkurrenz aus der Wirtschaft ausgesetzt ist. Positiv zu werten sind die Bemühungen um eine verbesserte Personalgewinnung durch den Bund. Der Bund muss auch langfristig konkurrenzfähig bleiben, der Einsatz für öffentliche Belange auf Bundesebene muss attraktiv bleiben bzw. attraktiver werden. Dies gilt für den Bund besonders, da man als Beamtin oder Beamter im Bundesdienst in bestimmten Verwendungsbereichen eine erhöhte persönliche bzw. familiäre Flexibilität aufweisen muss. Inwiefern die neue Vorschrift des § 43 BBesG hier ein Erfolg sein wird, bleibt abzuwarten und ist den Ergebnissen einer hoffentlich aussagekräftigen Evaluierung durch das Bundesinnenministerium vorbehalten. Wie man es bei der Evaluierung von Gesetzen jedenfalls nicht machen sollte, hat das Ministerium – wenn auch in anderem Zusammenhang – bei den sogenannten Anti-Terror-Gesetzen ja eindrücklich und wiederholt gezeigt. Der Schwerpunkt bei der Schaffung von Anreizen für die Gewinnung von IT-Personal ist richtig, wird aber vermutlich angesichts der immensen Herausforderung durch die umfassende Digitalisierung auch bei den Polizeien und Sicherheitsbehörden und den Herausforderungen, die in diesem Bereich vor uns liegen, schon in allernächster Zukunft durch weitere Maßnahmen verstärkt werden müssen. Der jüngste Vorfall um den Hack von Rechnern der Bundespolizei sowie des Zolls gibt insoweit Anlass zur Sorge; denn nach allem, was wir heute hierüber wissen, hat auch eine mangelnde Kompetenz der Verantwortlichen zu den massiven Sicherheitslücken beigetragen. Flexibilität ist das Stichwort für den Bereich der Auslandsverwendung von Polizistinnen und Polizisten. Die Neuregelung des § 57 BBesG ist grundsätzlich willkommen, es muss in diesem Bereich allerdings noch einiges mehr passieren, damit die Attraktivität einer – auch mehrfachen – Auslandsverwendung steigt. Im Kern muss es darum gehen, Polizeibeamtinnen und -beamte grundsätzlich zu motivieren, ihren beruflichen und persönlichen Erfahrungsschatz durch eine Auslandsverwendung zu erweitern. Es reicht nicht aus, lediglich Unterschiede zwischen der Vergütung für Einsätze in bilateralen und solchen im Rahmen von EU- oder VN-Missionen zu beseitigen. Der internationale Einsatz für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit darf für die Vita/Karriere von Polizistinnen und Polizisten insgesamt keinen Nachteil bedeuten. Die nachbessernde Regelung des § 19 b BBesG ist im Lichte einer verbesserten Durchlässigkeit vom Landes- in den Bundesdienst zu begrüßen. Sie wäre allerdings vermeidbar gewesen, wenn man sich nicht vor einigen Jahren in einer anderen Regierungskoalition auf die Übertragung der Besoldungshoheit für Landes- und Kommunalbeamtinnen und -beamte auf die Länder und damit auf die Schaffung eines besoldungsrechtlichen Flickenteppichs verständigt hätte. Meine Fraktion erkennt die Bemühungen der Bundesregierung an, die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Dienstes des Bundes zu verbessern. Das ist ein richtiger Schritt. Zweifellos gehen einzelne Maßnahmen des uns heute vorliegenden Gesetzentwurfs in die richtige Richtung und werden von mir und meiner Fraktion daher ausdrücklich begrüßt. Dennoch reichen die von Ihnen angestoßene Reformschritte bei Weitem nicht aus. Meine Fraktion und ich werden uns im Zuge der anstehenden Verhandlungen in den Fachausschüssen für eine Reform des Dienstrechts einsetzen, die sowohl im Sinne der Bediensteten als auch im Sinne der Steigerung der Attraktivität der Beschäftigung im öffentlichen Dienst insgesamt ist. Der vorliegende Gesetzentwurf bietet hierfür eine erste Diskussionsgrundlage. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7142 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Menschenrechte und Friedensprozess in Sri Lanka fördern – Drucksachen 17/2417, 17/4699 – Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Christoph Strässer Serkan Tören Katrin Werner Volker Beck (Köln) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die Situation in Sri Lanka beschäftigt uns im Deutschen Bundestag bereits zum wiederholten Mal und dies aus gutem Grund: War es zunächst der anhaltende Bürgerkrieg, der seit 1983 zwischen den tamilischen Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) und der singhalesischen Regierung tobte und der im Jahr 2009 mit einem Sieg der Regierung endete, so ging es danach vor allem um die Lage der tamilischen Bevölkerung und ganz besonders um die Binnenvertriebenen, die anfangs in einer Zahl von mehreren hunderttausend Menschen in Lagern interniert waren und deren humanitäre Situation prekär war und für die dort verbliebenen Menschen wohl auch immer noch ist. Diese Unterbringung in Lagern ist eine völkerrechtswidrige Maßnahme, weshalb seit 2010 zunehmend der Druck der internationalen Gesellschaft auf die Freilassung der Menschen gestiegen ist. Ich selbst beschäftige mich intensiv mit der Situation vor Ort und bin mehrfach selbst in Sri Lanka gewesen, zuletzt im März dieses Jahres. Mein Eindruck ist dabei insgesamt zweischneidig: Einerseits ist nicht zu leugnen, dass es auch weiterhin massive Menschenrechtsverletzungen gibt, andererseits ist schon seit längerer Zeit eine positive Entwicklung festzustellen, einen Willen der Regierung, die unerträglichsten Verletzungen der Menschenrechte in Sri Lanka abzustellen. Letztes augenfälliges Indiz dafür ist die Aufhebung der Notstandsgesetze durch die Regierung Ende August dieses Jahres, nachdem diese für fast 30 Jahre in Kraft waren. Dadurch wurde der Polizei zumindest das Recht entzogen, umfassende Maßnahmen gegen die Tamilen in Form von Wohnungsdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen zu vollziehen. Allerdings besteht bei fast allen Beobachtern Einigkeit, dass die Anstrengungen noch erhöht werden müssen und eine wirkliche politische Integration der tamilischen Bevölkerungsminderheit nicht die allerhöchste Priorität genießt. Positive Entwicklungen sind – neben dem Ende der Notstandsgesetze – in verschiedenen Bereichen sichtbar. Besondere Anerkennung verdienen Infrastrukturprojekte im Norden des Landes sowie die bereits weit vorangeschrittene Auflösung der Flüchtlingslager. Von den Binnenvertriebenen sind von den ursprünglich 300 000 Lagerinsassen nur noch maximal 20 000 übrig, in den Sonderlagern, in denen die mutmaßlichen LTTE-Kämpfer gefangen waren, sind inzwischen 6 500 Menschen freigelassen worden, die restlichen 5 500 Personen sollen bis auf 800 Gefangene ebenfalls alle befreit werden. Den Übrigen soll der Prozess vor Gericht gemacht werden. Die Auflösung der Lager kann jedoch nur ein erster Schritt zur Verbesserung der Gesamtsituation sein. Langfristig muss die politische Integration der tamilischen Bevölkerung weiter vorangetrieben werden. Hier muss insbesondere die Regierung grundlegende Änderungen verinnerlichen und vor allem auch durchsetzen. Dabei geht es in erster Linie darum, den Friedensprozess mit der tamilischen Bevölkerungsminderheit voranzubringen. Denn die Beendigung des Bürgerkriegs durch die sri-lankischen Regierungstruppen hatte leider bisher noch nicht die Versöhnung mit den tamilischen Rebellen zur Folge. Vielmehr besteht die Gefahr einer langfristigen Benachteiligung der Tamilen insgesamt. Deshalb muss es nun zur obersten Priorität des Regierungshandelns werden, die beiden Lager wieder miteinander in Einklang zu bringen. Nur so wird es für Sri Lanka möglich sein, endgültig mit der langen Zeit des Bürgerkriegs abzuschließen und einen neuen demokratischen und friedlichen Staat zu errichten. Von großer Hilfe bei der Versöhnung zwischen Tamilen und Singhalesen ist die Kirche, welche im Norden und Süden des Landes vertreten ist. Allerdings muss auch die Regierung aktiv an der Integration der Minderheit arbeiten. Ein erster Schritt wäre die stärkere Anerkennung der tamilischen Sprache und die Verfassung der gemeinsamen Hymne der Tamilen und Singhalesen in eben dieser Sprache zur Förderung der Gleichberechtigung der ethnischen Gruppen. Wir fordern im Rahmen dieser Anregungen auch das Zugeständnis von ausführlichen Minderheitenrechten für die bisher diskriminierten Tamilen. Die sri-lankische Regierung muss sich neben der Integration der tamilischen Bevölkerung auch noch stärker für den tatsächlichen Erhalt grundsätzlicher Menschenrechte einsetzen, um international wieder mehr Anerkennung zu finden. Zurzeit werden in Sri Lanka Menschenrechte noch immer massiv missachtet. Es wird ein organisiertes „Verschwindenlassen“ von Menschen betrieben und die Todesstrafe bleibt weiterhin legal. Ausgesprochen problematisch ist auch die Lage der Witwen der ehemaligen LTTE-Kämpfer im Norden und Osten des Landes. Diese leiden nicht nur unter grundlegenden Problemen wie dem Mangel an einer Unterkunft, sondern auch unter gesellschaftlicher Ausgrenzung. Darüber hinaus ist es ihnen aufgrund ihrer katastrophalen Situation unmöglich, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. In ihrer Verzweiflung sehen viele nur einen Ausweg in der Prostitution; die Selbstmordrate unter ihnen ist offenbar ebenfalls besorgniserregend hoch. Um die Lage dieser Witwen nachhaltig zu verbessern ist daher offensichtlich auch die Unterstützung durch psychologische Hilfe gefragt. Dies wird von der Regierung allerdings bislang nicht akzeptiert. Bisher hat die Regierung auch keinerlei Vorkehrungen bezüglich der finanziellen Unterstützung der Witwen getroffen. Lediglich Nichtregierungsorganisationen und Kirchen helfen. Ein weiteres Thema ist die unzureichende Gesundheitssituation in den tamilischen Gebieten. Das ist sie nicht nur, weil die Versorgung vor Ort insgesamt noch verbesserungswürdig wäre, sondern vor allem auch, weil die zuständigen Ärzte oft nicht die Sprache der Bevölkerung sprechen können. Sie werden von der Regierung in die tamilischen Gebiete geschickt, ohne vorher deren Sprache zu erlernen. Neben diesen Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte gibt es aber auch noch erhebliche Defizite bei Freiheits- und Bürgerrechten: Menschenrechtsverteidiger und Journalisten, welche die Situation kritisch beobachten und bewerten, werden zunehmend bedroht und unter Druck gesetzt. Die Verbrechen der Kriegsparteien bleiben straflos und die Regierung lehnt unabhängige Untersuchungen dieser Verbrechen durch UN-Experten ab. Wir wissen, dass zum Beispiel die Bedingungen in den „Sonderlagern“, in denen die mutmaßlichen LTTE-Kämpfer inhaftiert sind, katastrophal und unmenschlich sind und dringend humanitäre Hilfe vonnöten wäre. Es ist uns aber schlichtweg unmöglich, diese Hilfe zu leisten, da die sri-lankische Regierung internationalen Hilfsorganisationen wie zum Beispiel dem Roten Kreuz den Zutritt noch immer verweigert. Vonseiten der UN und Deutschlands werden diese Menschenrechtsverletzungen scharf verurteilt. Ich fordere deshalb ausdrücklich, dass Menschenrechtsbeobachter und Journalisten endlich Zugang zu den tamilischen Gebieten und den Lagern bekommen, damit die internationale Gemeinschaft sich ein genaues Bild der Lage machen und den Betroffenen in einem zweiten Schritt dann auch endlich humanitäre Hilfe zukommen lassen kann. Wir appellieren daher an die sri-lankische Regierung, in Zukunft eng mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten sowie die Genfer Konvention einzuhalten. Bis zur konkreten Umsetzung dieser Forderungen wird Deutschland die Aufstockung seiner Entwicklungshilfe für Sri Lanka weiterhin nicht vornehmen und Sri Lanka den Status als vollständiges Partnerland nicht zuerkennen. Neben dieser direkten Sanktion von deutscher Seite hat auch die Europäische Union die Handelsvorteile für Sri Lanka suspendiert, um die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern. Ich unterstütze diese Maßnahmen, bilden sie doch einen Hebel, um Verbesserungen herbeizuführen. Vielleicht haben sie sogar Einfluss auf die jetzt erfolgte Aufhebung der Notstandsgesetze gehabt. Trotzdem ist es wichtig, die Arbeit mit Sri Lanka auf anderer Ebene fortzusetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich die intensive Arbeit der deutschen Botschaft in Colombo loben und auf das Engagement der Helmut-Kohl-Stiftung für ein deutsches Krankenhaus verweisen, das wahrscheinlich von der KfW gefördert wird. Uns ist bewusst, dass neben diesen unmittelbaren Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Situation auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage von großer Wichtigkeit ist. Nicht zu unterschätzen ist dabei der Einfluss Chinas und Indiens, zweier Länder, die unter anderem bei der Finanzierung von Behausungen eine große Rolle spielen. China unterstützt darüber hinaus auch die Infrastruktur des Landes. Äußerst relevant ist dabei neben der schnellstmöglichen Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten auch die Bereitstellung von Wohnraum. Die Errichtung von dauerhaften Behausungen ist insbesondere angesichts der anstehenden Monsunzeit von elementarer Bedeutung. Bislang sind dies neben der schlechten Versorgungslage der rückgesiedelten Bevölkerung die größten Probleme. Darüber hinaus bekommen Familien, die keinen Landbesitz nachweisen können, bislang von der Regierung nur wenig Unterstützung. Die Frage des Landbesitzes muss daher umgehend geklärt werden, damit die verbliebenen Menschen aus den Lagern entlassen und sich nach der langen Zeit des Bürgerkriegs endlich wieder eine Existenz aufbauen können. Eine mögliche Maßnahme wäre auch hier die Einführung von Mikrokrediten, da der Regierung und der Bevölkerung das Geld fehlt, die Situation der Menschen nachhaltig zu verbessern. Eine Schlüsselrolle könnte bei der wirtschaftlichen Entwicklung auch der Tourismus einnehmen. Sri Lanka ist eine bekannte Tourismusdestination, die unter anderem auch bei deutschen Urlaubern sehr beliebt ist. Der Tourismus bietet die Möglichkeit, mit relativ geringen Voraussetzungen und überschaubaren Investitionen nachhaltig Arbeitsplätze zu schaffen und im Umfeld des Tourismus Wertschöpfungsketten aufzubauen. Bisher wächst der Tourismus jedoch vor allem im Osten und so gut wie gar nicht im von vorwiegend von Tamilen bewohnten Norden, obwohl es auch hier gute Voraussetzungen für eine touristische Entwicklung gibt. Die Chancen werden auch von Vertretern der Tamilen selbst durchaus gesehen und die Hoffnung in den Tourismus ist auch hier nicht gering. Ein solcher Prozess der touristischen Erschließung muss vor allem auch die sri-lankische Verwaltung unterstützt werden. Das vorhandene Personal muss unter anderem durch Sprachtrainings besser geschult werden und zur besseren Bewältigung der Aufgaben enger mit der Regierung zusammenarbeiten. Aber auch deutsche Reiseunternehmen und Experten könnten Sri Lanka gerade auf dem Gebiet der Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus unterstützen. Dem Antrag der Linken, der die Grundlage der heutigen Debatte bildet, der aber bereits vor mehr als einem Jahr eingebracht wurde, können wir als CDU/CSU-Fraktion nicht zustimmen, da er aus unserer Sicht veraltet ist. Die Bundesregierung hat bereits zu den Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka Stellung genommen und fordert ebenfalls die Untersuchung der menschenrechtlichen und demokratischen Verfehlungen der Regierung durch eine unabhängige Kommission. Allerdings muss vor allem an einem Konzept über die zukünftige Zusammenarbeit mit der Regierung gearbeitet werden, die im Interesse der Menschen vor Ort ist. Dabei ist der richtige Umgang mit der tamilischen Minderheit besonders wichtig. Diese Fragen müssen geklärt werden, damit Sri Lanka nicht weiter in die Arme totalitärer Staaten wie Iran oder Myanmar getrieben wird. Letztendlich gilt es, die Situation in Sri Lanka nachhaltig zu verbessern und die Regierung im Prozess der Demokratisierung und Integration der tamilischen Minderheit zu unterstützen, damit in Zukunft die Menschenrechte besser durchsetzbar und die humanitäre Lage mit internationalen Bestimmungen vereinbar ist. Unser mittelfristiges Ziel ist es deshalb auch, nachdem die Regierung sich aktiv dafür eingesetzt hat, die derzeitigen Menschenrechtsverletzungen vor Ort zu beenden, die deutsche Entwicklungshilfe wieder zu intensivieren und Sri Lanka die Möglichkeit zu geben, als vollwertiges Partnerland erneut anerkannt zu werden. Wie Sie sehen, ist die Situation in Sri Lanka nicht ganz einfach, sondern es gibt zwei Seiten der Medaille: Einerseits muss anerkannt werden, dass durch die Beendigung des lange währenden Bürgerkriegs und die fast abgeschlossene Auflösung der Flüchtlings- und Gefangenenlager deutliche Fortschritte zu verzeichnen sind, andererseits hat das Land in der Tat noch viele Aufgaben zu bewältigen. So müssen vor allem die Menschenrechte und die Integration der tamilischen Bevölkerung einen höheren Rang auf der Prioritätenliste der sri-lankischen Regierung erhalten. Die Aufhebung der Notstandsgesetze begrüßen wir in diesem Zusammenhang ausdrücklich. Jetzt gilt es, diese Aufhebung zum Anlass zu nehmen, an einer tatsächlichen Versöhnung sowie der Integration der tamilischen Minderheit zu arbeiten. Ein weiterer Schritt ist dann die wirtschaftliche Entwicklung und Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem in den tamilischen Gebieten. Diesen Prozess wird Deutschland an der Seite der UNO weiterhin sowohl unterstützend als auch kritisch begleiten. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Es ist gut, dass Jagath Dias, der seit 2009 als stellvertretender Botschafter der sri-lankischen Vertretung für Deutschland, die Schweiz und den Vatikan in Berlin notifiziert war, nun Mitte September abgezogen wurde. Der Verdienst der deutschen Bundesregierung ist dies allerdings nicht: Bereits 2009 bei der Notifizierung des Diplomaten wurde von dem European Center for Constitutional and Human Rights e. V., ECCHR, ein Dossier veröffentlicht, in dem Jagath Dias beschuldigt wurde, als Generalmajor der sri-lankischen Armee in der Schlussoffensive gegen die Liberation Tigers of Tamil Eelam, LTTE/Tamil Tigers, an einem Angriff beteiligt gewesen zu sein, bei welchem nach Berichten der Vereinten Nationen 40 000 Zivilisten umgekommen sind. Über die Gründe des Abzugs durch die sri-lankische Regierung ist allerdings noch nichts bekannt. Da sich nach Medienberichten weder die sri-lankische Botschaft in Berlin noch das Generalkonsulat in Genf dazu äußern wollen, bleibt abzuwarten, was der genaue Anlass ist. Ich hoffe, dass eine ordentliche Strafermittlung der Grund war. Bisher hat mich die sri-lankische Regierung unter Staatspräsident Mahinda Rajapaksa – das muss ich ehrlich sagen – unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten selten positiv überrascht: Nach 25 Jahren Bürgerkrieg, der seit 2009 beendet zu sein scheint, stellen wir immer wieder einen großen Mangel an Menschenrechtsbewusstsein und demokratischer Entwicklung fest. So sind die von Amnesty behandelten Fälle des verschwundenen Pattani Razeek, dem Leiter der sri-lankischen Nichtregierungsorganisation Community Trust Fund, CTF, oder des regimekritischen Journalisten und Karikaturisten Prageeth Eknaligoda zu nennen. Das sind nur die prominenten Gesichter der Opfer, die es in Sri Lanka zu beklagen gilt. Bewaffnete Gruppen, die mit der Regierung verbündet sind, sind weiterhin aktiv und begehen Menschenrechtsverletzungen, zu denen das Verschwindenlassen, Töten, Entführen und Foltern von Kritikern gehören. Die Sicherheitsorgane sind ebenso für willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter und extralegale Hinrichtungen verantwortlich. Menschenrechtsverteidiger und Journalisten werden verfolgt und bedroht, ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die aller anderen Bürger sind durch die immer noch geltenden Notstands- und Antiterrorgesetze stark eingeschränkt. Die Tamilen werden auch weiterhin ausgegrenzt: Von den ursprünglich 300 000 binnenvertriebenen Tamilen befinden sich immer noch circa 20 000 in sogenannten Flüchtlingslagern. Das Verlassen des Lagers durch die Betroffenen oder Besuche von internationalen Hilfsorganisationen sind aber noch immer schwierig und nur unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums möglich. Die Einrichtungen und die Versorgungsmöglichkeiten sind nach Berichten dieser Organisationen, zum Beispiel des internationalen Roten Kreuzes, noch verbesserungsfähig, und die Regierung beeilt sich nicht gerade, die ungeklärten Grundbesitzfragen zu klären oder die Betroffenen in andere Regionen und vernünftige Unterkünfte umzusiedeln. Zudem sind von den ehemals 9 000 festgehaltenen mutmaßlichen LTTE-Kämpfern immer noch 1 300 in den sogenannten Rehabilitationslagern auf Verdacht interniert, ohne dass sie einem ordentlichen Strafverfahren zugeführt werden. Da internationale Organisationen hier keinen Zutritt haben, können wir die schlimmen Zustände nur erahnen. Große Sorgen bereitet mir daher das bisherige Scheitern jeglicher Bemühungen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der deutschen Bundesregierung, welche die sri-lankische Regierung zu einer unabhängigen und systematischen Aufarbeitung der Verbrechen während des Bürgerkrieges bewegen wollen. Dabei wäre dies so dringend geboten, denn die Abwesenheit eines Bürgerkrieges macht noch keinen Frieden. Die Tamil Tigers haben jahrzehntelang Zivilisten angegriffen, Kinder und Jugendliche zwangsweise für den bewaffneten Kampf rekrutiert, Politiker ermordet und in der Endphase des Konfliktes Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt. Aber auch die sri-lankische Regierungsarmee und verbündete bewaffnete Gruppen haben extralegale Hinrichtungen durchgeführt, gefoltert und Menschen verschwinden lassen; am Ende des Konflikts haben sie Wohngebiete von Zivilisten beschossen und deren allgemeine Versorgung in Kampfgebieten fast vollständig zum Erliegen gebracht. Allein in den letzten Monaten der Kämpfe sind Zehntausende Zivilisten von beiden Seiten mit Kalkül benutzt und ermordet worden. Bis heute ist dafür niemand zur Verantwortung gezogen worden – Aufklärung und die Haftbarmachung der Verantwortlichen ist daher dringend geboten. Die aktuelle Angstorganisation durch die Staatsorgane mithilfe extralegaler Gewalt und Repression, kombiniert mit dem fehlenden Willen zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf beiden Seiten, führt bisher zwar noch nicht zu einem erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges, doch mehr als einen faulen Frieden haben wir in Sri Lanka bisher nicht. Ohne ehrliche Aufarbeitung besteht kaum eine Chance darauf, dass es ein nachhaltiger Frieden wird. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Der vorliegende Antrag der Linken thematisiert dies auch und geht prinzipiell in die richtige Richtung, allerdings geht er teilweise von falschen Zahlen aus und ist veraltet. Ich unterstreiche deshalb die dem Bundestag vorliegende Entschließung des Europäischen Parlamentes, P7_TA-PROV(2011)0242. Diese bezieht sich auf den Bericht der von VN-Generalsekretär Ban Ki-moon eingesetzten Expertengruppe zur Klärung der Frage der Verantwortlichkeiten für die Kriegsverbrechen. Mit den darin gemachten Empfehlungen können in Übereinstimmung mit der im Mai 2009 abgegebenen Erklärung des sri-lankischen Präsidenten Rajapaksa und VN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Daher mein dringender Apell an die Bundesregierung: Nehmen Sie ihre Verantwortung in Europa wahr und sprechen Sie über die Notwendigkeit der Aufarbeitung und Demokratisierung mit der sri-lankischen Regierung! Vielleicht tut die sri-lankische Regierung mit dem anfangs zitierten Fall des stellvertretenden Botschafters einen ersten wichtigen Schritt. Also, bitte nutzen Sie auch den Wechsel in der Botschaft – hoffentlich hin zu jemandem, der nicht in diesen blutigen Konflikt involviert war – zur Chance auf einen neuen konstruktiven Austausch! Serkan Tören (FDP): Wie aus der Beschlussempfehlung ersichtlich, lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion den Antrag „Menschenrechte und Friedensprozess in Sri Lanka fördern“ der Fraktion Die Linke ab. In der Tat ist die menschenrechtliche Situation in Sri Lanka nach wie vor höchst unbefriedigend. Wir haben während der Kriegshandlungen das inhumane Vorgehen der Regierung und der Armee Sri Lankas sowie die systematischen Menschenrechtsverletzungen scharf verurteilt. Weiterhin sind Tausende Tamilen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern eingesperrt. Internationale Beobachter haben keinen Zugang. Richtigerweise setzt sich die Bundesregierung weiterhin mit der Europäischen Union als Ganzes für eine Verbesserung der Situation ein. Dies betrifft eine Unterstützung der Situation in den Lagern sowie einen umfassenden Versöhnungsprozess in Sri Lanka insgesamt. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss es von der Regierung in Sri Lanka eine Verbesserung der menschenrechtlichen Situation im Land auf verschiedenen Ebenen geben. So fordern wir von der Regierung in Sri Lanka die Stärkung der Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit. Internationale und nationale Menschenrechtsorganisationen in Sri Lanka sehen sich nach wie vor staatlichem Druck ausgesetzt. Der bisher existierende Ausnahmezustand gibt den Sicherheitskräften weit gehende Rechte. Zwar gibt es Bemühungen der Regierung in Sri Lanka, Infrastrukturprojekte im Bürgerkriegsgebiet im Norden des Landes zu errichten. Auch wird die Entlassung des großen Teils der Binnenvertriebenen aus menschenrechtswidrigen Lagern vorangebracht. Sorge bereiten uns allerdings die schlechte Versorgungslage und mangelnde Erwerbsmöglichkeiten der rückgesiedelten Bevölkerung. Die vielfach ungeklärte Frage des Landeigentums wird aus unserer Sicht dadurch verschärft, dass die Armee noch Gebiete als Hochsicherheitszonen besetzt hält. Eine überzeugende politische Integration der tamilischen Bevölkerungsminderheit muss oberste Priorität der Regierung in Sri Lanka sein. Als FDP unterstützen wir die Arbeit der von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon ernannten dreiköpfigen internationalen Expertengruppe, um die Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen, die während des bewaffneten Konflikts in Sri Lanka begangen worden sind, zu untersuchen. Wir fordern die Regierung von Sri Lanka auf, dabei eng mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten. Auch unterstützen wir die Forderung der Bundesregierung, die Frage der mangelnden Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch die sri-lankische Regierung gemeinsam mit den Partnern der Europäischen Union auf der Tagesordnung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zu halten. Als FDP-Bundestagsfraktion halten wir in der Analyse den Antrag der Linken in vielen Punkten für richtig. Jedoch sind die vorgeschlagenen Konsequenzen des Forderungsteils für die FDP zum Teil nicht tragbar. Darüber hinaus werden die im Antrag geforderte Verbesserung der Menschenrechte und der Friedensprozess in Sri Lanka durch das Handeln der Bundesregierung bereits gefördert. So postuliert die Linke in Forderung 9 die Einrichtung eines dauerhaften und transparenten Monitorings für in Sri Lanka tätige deutsche Unternehmen und ihre Zulieferbetriebe. Dies soll gelten für die Einhaltung der dort geltenden Arbeitsgesetzgebung, die Achtung der Arbeitnehmerrechte sowie die geltenden ILO-Konventionen. Auch sollen Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards entsprechend dem Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, UN-Sozialpakt, durchgesetzt werden. All dies soll gemäß den Linken dann in einen entsprechenden Bericht an den Deutschen Bundestag gesandt werden. Die FDP hält dies für überflüssig, da das geforderte Monitoring bereits durch die jeweiligen Organisationen erfolgt. So wird zum Beispiel die Einhaltung der ILO-Normen durch die ILO überwacht. Die progressive Verwirklichung und Umsetzung der WSK-Rechte des UN-Sozialpaktes werden durch den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, CESCR, kontrolliert. Es ist nicht ersichtlich, warum hier auf nationaler Ebene dauerhaft Doppelstrukturen aufgebaut werden sollen. In Forderung 11 wird ein genereller Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Sri Lanka gefordert. Eine solche Forderung hat die FDP zwar im Jahr 2007 noch mitgetragen, zwischenzeitlich hat sich die Lage jedoch geändert. Der Bürgerkrieg ist, wie der Antrag korrekt ausführt, offiziell beendet worden. Daher ist ein genereller Abschiebestopp nicht mehr angebracht. Vielmehr ist eine Einzelfallprüfung vonnöten, um jeweils zu überprüfen, ob Menschenrechtsverletzungen tatsächlich vorliegen oder zu befürchten sind. Ferner engagiert sich das FDP-geführte BMZ in Sri Lanka im Rahmen einer angepassten Strategie zur Entwicklungszusammenarbeit. Die Vorhaben im Land werden konfliktsensibel gestaltet und auf ausgewiesene Armutsregionen konzentriert. Die Menschenrechtsdimension in Post-Konfliktregionen wird damit gestärkt. So ist einer der Themenschwerpunkte der laufenden deutschen Kooperation die Stärkung von Friedensinitiativen auf verschiedenen Interventionsebenen. Auch fördert das BMZ eine Friedenserziehung, den Wiederaufbau sowie Good Governance und die nachhaltige Wirtschaftsentwicklung in Armutsregionen. Die Förderung der Menschenrechte und des Friedensprozesses wird durch das Regierungshandeln der Bundesregierung folglich bereits vorangetrieben. Aus den oben genannten Gründen wird daher der Antrag der Linken von der FDP-Bundestagfraktion abgelehnt. Katrin Werner (DIE LINKE): Ich möchte mit etwas Erfreulichem beginnen: Jagath Dias, Ex-Generalmajor der sri-lankischen Streitkräfte, dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, wurde als Vizebotschafter für Deutschland, die Schweiz und den Vatikan abberufen. Der Pressemitteilung des ECCHR vom 22. September 2011 zufolge hat die schweizerische Bundesanwaltschaft angekündigt, im Fall seiner Wiedereinreise ein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten. In Deutschland soll laut ECCHR ein Vorermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden sein. Dies sind gute Nachrichten für alle, die sich dafür eingesetzt haben, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher bei uns keinen Unterschlupf findet. Ich möchte daher an dieser Stelle im Namen der Linksfraktion dem ECCHR ausdrücklich Dank sagen, dass er mit seinem umfassenden Dossier einen maßgeblichen Beitrag für diesen Erfolg geleistet hat! Für die Bundesregierung bedeutet die Entwicklung im Fall Dias allerdings eine schallende Ohrfeige. Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion wie auch aus anderen Fraktionen hatten seinerzeit die Bundesregierung gebeten, ihm bis zur Entkräftung der Vorwürfe keine Akkreditierung und damit diplomatische Immunität zu gewähren. Es gab zudem genügend kritische Nachfragen und eindeutige Hinweise aus der tamilischen Diaspora und von Menschenrechtsorganisationen, dass die von Dias befehligte 57. Division in schwerste Menschenrechtsverletzungen verwickelt gewesen war. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden während der Schlussoffensive der sri-lankischen Armee gegen die Rebellen der „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ auch circa 40 000 Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Dennoch hat die Bundesregierung all dies ignoriert und damit zumindest indirekt Beihilfe dazu geleistet, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher sich internationaler Strafverfolgung entziehen konnte. Das ist ein politischer Skandal ersten Ranges! Als Konsequenz muss zukünftig bereits im Visaverfahren für diplomatisches Botschaftspersonal etwaigen Vorwürfen internationaler Kriegsverbrechen nachgegangen werden. Sofern der Entsendestaat oder internationale Strafverfolgungsbehörden noch keine Ermittlungen aufgenommen haben, muss die Bundesanwaltschaft gegebenenfalls auch eigene Vorermittlungen durchführen. Nur so lässt sich ein Wiederholungsfall verhindern. In Sri Lanka selbst herrscht weiterhin ein allgemeines Klima der Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen vor. Die politische Führung unter Präsident Rajapaksa hat zwar im Bürgerkrieg militärisch gesiegt, ein echter Friedens- und Versöhnungsprozess zwischen Singhalesen und Tamilen hat aber bislang nicht stattgefunden. Hierfür müssen die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlagen für die tamilische Bevölkerung in den früheren Kampfgebieten wiederhergestellt und die Ursachen des Konflikts beseitigt werden. Dies betrifft den Wiederaufbau von zerstörten Häusern und Schulen, die Versorgung mit Trinkwasser und Energie, die humanitäre Minenräumung und die Wiedernutzbarmachung der landwirtschaftlichen Anbauflächen für die Reisproduktion. Insbesondere verwitwete und alleinerziehende Frauen, die während des Krieges Männer und Söhne verloren haben, müssen vor Ausgrenzung und Armut geschützt werden. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich in diesem Bereich mit zusätzlichen Entwicklungshilfen, personeller und finanzieller Projektunterstützung und technischem Know-how stärker zu engagieren. Darüber hinaus sollte sie die Regierung Sri Lankas auch bei der politischen und gesellschaftlichen Konfliktlösung unterstützen. Ohne eine öffentliche Aufarbeitung des Kriegsgeschehens und die Bestrafung von begangenen Kriegsverbrechen ist ein Friedensprozess kaum denkbar. Dies gilt für Kriegsverbrechen aller Seiten: der Regierung, der Paramilitärs und der Rebellen. Aus diesem Grund hält Die Linke an ihrer Aufforderung an die Bundesregierung fest, dass der Druck auf Sri Lanka erhöht werden muss, damit unabhängige internationale Untersuchungen stattfinden und die Regierung in Colombo dies nicht ihr genehmen „Experten“ überlässt. Ich will an dieser Stelle in aller Klarheit sagen: Die Linke kritisiert die jahrzehntelange staatliche Unterdrückungspolitik gegen die tamilischen Bevölkerung in Sri Lanka. Gleichzeitig war, ist und bleibt Die Linke die Partei des Völkerrechts und der friedlichen Konfliktlösung. Wie dies schon am Beispiel des Kosovo zu erkennen war, wenden wir uns entschieden gegen einseitige Sezessionen. Diese sind Teil des Problems und nicht der Lösung. Für die Beilegung von Nationalitätenkonflikten bietet das Völkerrecht vielfältige und geeignete Möglichkeiten zum Schutz von Minderheiten, wie beispielsweise kulturelle und politische Autonomierechte. Aus unserer Sicht ist im Fall Sri Lankas daher auch eine Amnestie für einfache Mitglieder und Sympathisanten der Rebellen geboten, um den innergesellschaftlichen Aussöhnungsprozess zu unterstützen. Die früheren Kriegsteilnehmer und Kindersoldaten brauchen zivile berufliche Perspektiven und nachholende Berufsqualifizierungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in die sri-lankische Gesellschaft. Die tamilische Bevölkerung benötigt insgesamt einen gleichberechtigten Zugang zu sozialen Grunddiensten, vor allem bei Bildung und Gesundheit, bei Berufs- und Karrierechancen auch in der staatlichen Verwaltung, und einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung insbesondere beim Gebrauch der eigenen Sprache. Die tamilische Diaspora in Deutschland gehört mit zu den am besten integrierten Migrantengruppen überhaupt. Zahlreiche Tamilinnen und Tamilen sind beruflich sehr erfolgreich und verfügen über ein hohes Bildungsbewusstsein. Gleichzeitig bestehen verständlicherweise noch häufig enge familiäre Bindungen an das Herkunftsland. Ich möchte nicht, dass hier lebende Tamilinnen und Tamilen sich aus Enttäuschung und Verzweiflung über die Zustände in Sri Lanka politisch radikalisieren. Die Bundesregierung kann hierzu einen Beitrag leisten, indem sie auf diplomatischer Ebene den berechtigten Anliegen der tamilischen Bevölkerung Gehör verschafft und eine friedliche Konfliktlösung unterstützt. In diesem Sinne sollten Sie unserem Antrag zustimmen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die rund 37 Jahre währenden bewaffneten Auseinandersetzungen in Sri Lanka zwischen den Liberation Tigers of Tamil Eelam, LTTE, und der Regierung sind im Frühjahr 2009 zu einem Ende gekommen. Durch die Kämpfe starben etwa 100 000 Menschen, darunter laut Amnesty International mindestens 10 000 Zivilisten, die während der letzten Monate des Bürgerkriegs, zumeist durch Artilleriebeschuss der Armee, getötet wurden. Auch Krankenhäuser, UN-Einrichtungen und Rot-Kreuz-Schiffe wurden gezielt beschossen. Normalität herrscht in Sri Lanka nun auch zweieinhalb Jahre nach dem Krieg noch nicht. Die Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit ist stark eingeschränkt. Journalistinnen und Journalisten und NGO-Aktivistinnen und -Aktivisten verschwinden spurlos. Der Ausnahmezustand wird monatlich durch das sri-lankische Parlament verlängert. 3 000 Menschen sind weiterhin aufgrund von Anti-Terror-Gesetzen ohne Anklage inhaftiert. Die Untersuchung von Kriegsverbrechen der sri-lankischen Armee durch eine Regierungskommission ist auf allen Ebenen lückenhaft. Der bereits erschienene Zwischenbericht der Lessons Learnt and Reconciliation Commission, LLRC, zeigt, dass die Täter weder identifiziert noch zur Verantwortung gezogen werden. Fünf der acht LLRC-Mitglieder waren ehemalige Regierungsmitglieder, die die Regierung vor Vorwürfen wie Kriegsverbrechen verteidigten. Eine unabhängige Aufarbeitung der dramatischen Ereignisse im Norden des Landes lässt die Regierung von Präsident Mahinda Rajapaksa aber nicht zu. Die Vereinten Nationen setzen sich weiter für eine internationale Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Schlussoffensive Sri Lankas gegen die Tamil Tigers ein. Generalsekretär Ban Ki-moon überwies vor wenigen Tagen einen im April dieses Jahres veröffentlichten Expertenbericht dem Menschenrechtsrat sowie dem Hochkommissariat für Menschenrechte. Der Bericht macht Colombo für den Tod Tausender Zivilisten verantwortlich. Demnach griffen Regierungstruppen vorsätzlich Zivilisten an und verhinderten den Transport von Lebensmitteln und Medikamenten. Den tamilischen Rebellen wirft der Bericht vor, Zivilisten als Schutzschilde missbraucht und Kinder als Soldaten rekrutiert zu haben. Die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer Außenpolitik ist es an dieser Stelle, ihren politischen und diplomatischen Einfluss zu nutzen. Denn um diesen Bericht nun tatsächlich in offizielle Debatten der Vereinten Nationen einzuführen, wird einige Überzeugungsarbeit notwendig sein. Auch in der 18. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates hatte die Bundesregierung leider nur vornehme Zurückhaltung geübt, als es notwendig gewesen wäre, die Hochkommissarin Navi Pillay in ihrer Kritik an der sri-lankischen Regierung zu stützen. Für ihre kritischen Äußerungen zu der Untersuchung der Kriegsverbrechen und der Menschenrechtslage hatte sie von sri-lankischer Seite hart einstecken müssen. Und leider hatte es die Bundesregierung versäumt, ihr in diesem Moment den Rücken zu stärken. Die gegenwärtige Regierung Sri Lankas scheint nicht zu realisieren, dass ein militärischer Sieg allein nicht zum dauerhaften Frieden führen wird. Eine politische Lösung setzt einen Prozess unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen voraus. Dies setzt ebenfalls voraus, eine Entwicklungsstrategie mit dem Ziel zu erarbeiten, die großen materiellen Differenzen zwischen dem Süden des Landes und dem Norden bzw. Osten des Landes zu überwinden. Ohne eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen, den angemessenen Zugang zu Bildung und Gesundheit sowie verbesserten Leistungen im Wasser- und Energiebereich wird keine dauerhaft friedliche Entwicklung zu erreichen sein. Für die Bundesregierung sowie die Europäische Union ergibt sich daraus die Pflicht, die diplomatischen Beziehungen an Leitlinien zu knüpfen, die verbindliche und überprüfbare Menschenrechtskriterien aufweisen. Die Kernforderung des vorliegenden Antrags der Linksfraktion, den internationalen Druck auf die Regierung Sri Lankas mit dem Ziel zu verstärken, dass die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die von der Regierung, der Armee, den paramilitärischen Gruppen und Rebellen begangen wurden, von einer unabhängigen Kommission untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, ist daher absolut richtig und unterstützenswert. Wir teilen die inhaltliche Analyse des Antrages, die weitgehend mit unserer eigenen früheren Einschätzung übereinstimmt, die wir in unserem Antrag, dem Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechte in Sri Lanka stärken“ auf Drucksachennummer 17/124, zum Ausdruck gebracht haben. Wir werden dem Antrag der Linken deshalb zustimmen. Jagath Dias, Generalmajor der sri-lankischen Streitkräfte während der schrecklichen Schlussoffensive, war anschließend bis September 2011 sri-lankischer Vizebotschafter für Deutschland, die Schweiz und den Vatikan. Im Januar 2011 hatte das European Center for Constitutional and Human Rights, ECCHR, dem Auswärtigen Amt ein umfassendes Dossier vorgelegt, in dem der seit langem bekannte Vorwurf, Jagath Dias habe eine Vielzahl von Kriegsverbrechen zu verantworten, minutiös dargelegt wurde. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hatte kurz darauf in einer Kleinen Anfrage auf Drucksachennummer 17/6005 nach der Haltung der Bundesregierung zu diesen Vorwürfen gefragt. Heraus kam in der Antwort auf Frage 9 zumindest, dass der Bundesregierung die Vorwürfe aus dem ECCHR-Dossier bereits zum Zeitpunkt der Akkreditierung Jagath Dias’ bekannt waren. Wie es dann zu einer Akkreditierung kommen konnte, ist mir schleierhaft. Die Bundesregierung hätte diesen Mann nie als Diplomaten in Deutschland akkreditieren dürfen, ihm aber zumindest rasch nach Bekanntwerden solcher Vorwürfe das Diplomatenvisum entziehen müssen. Dass sie dies nicht getan hat, war ein politisch und menschenrechtlich miserables Signal an die sri-lankische Regierung. Mittlerweile hat die schweizerische Bundesanwaltschaft angekündigt, bei Wiedereinreise von Jagath Dias ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der Begehung von Kriegsverbrechen zu eröffnen. In Deutschland wurde bereits ein Vorermittlungsverfahren zu möglichen Völkerstraftaten während der Endphase des sri-lankischen Bürgerkrieges eröffnet. Bis zu seiner Abberufung als Vizebotschafter genoss Jagath Dias diplomatische Immunität vor einer Strafverfolgung, die er durch Ausstellung eines Diplomatenvisums in Deutschland erhalten hatte. Ich fordere daher von der Bundesregierung, Vorwürfen von internationalen Verbrechen zukünftig bereits im Verfahren der Visaerteilung für diplomatisches Botschaftspersonal ernsthaft nachzugehen und dabei notfalls auch eigene Ermittlungen anzustellen. Der Fall Dias, in dem durch die Ausstellung eines diplomatischen Visums eine Strafverfolgung verhindert wurde, darf sich nicht wiederholen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4699, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2417 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes – Drucksache 17/5515 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) – Drucksache 17/7178 – Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) Daniela Kolbe (Leipzig) Serkan Tören Ulla Jelpke Memet Kilic Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Mit dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes wird heute eine Änderung des Bundesvertriebenenrechts vollzogen, die in ihrer rein quantitativen Wirkung begrenzt ist. Für die Betroffenen ist sie jedoch von außerordentlicher und wichtiger Bedeutung. Schließlich geht es für die Betroffenen um die Möglichkeit, einen neuen Lebensmittelpunkt zu wählen. Die Fälle, in denen schwer kranke Eltern darauf hoffen, dass die damals im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Kinder zur Pflege nach Deutschland kommen, sind uns allen bekannt. Uns haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Petitionen erreicht, die die besonderen Situationen der Betroffenen eindrucksvoll schildern. Die Petitionen belegen die Dringlichkeit und den Bedarf für die beabsichtigte rechtliche Anpassung. Es freut mich, dass diese Einschätzung auch weitestgehend von den anderen Fraktionen dieses Hauses geteilt wird. Mit der Einführung einer neuen Härtefallregelung gibt die christlich-liberale Koalition Ehepartnern und Abkömmlingen von Spätaussiedlern die Möglichkeit, nachträglich bei Vorliegen eines Härtefalls in den Aufnahmebescheid eines anerkannten Spätaussiedlers aufgenommen zu werden. Die Gründe, warum man damals zunächst im Aussiedlungsgebiet geblieben ist, sind sehr verschieden. Dass nun die nachträgliche Einbeziehung rechtlich ermöglicht wird, ist ein äußerst wichtiger Schritt. Auf die im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vorgetragenen Änderungsvorschläge möchte ich nachfolgend noch einmal detailliert eingehen: Die im Änderungsantrag des Bundesrates geforderte Befristung des Aufnahmebescheids auf drei Jahre stellt keine Verbesserung des vorliegenden Gesetzentwurfs dar. Eine untergesetzliche Regelung bezüglich der Befristung des Aufnahmebescheids kann deutlich angemessener, flexibler und praxistauglicher die spezifische Situation abbilden. Eine starre Frist im Gesetz ist dafür ungeeignet. Die Gültigkeit des Bescheids muss grundsätzlich an das Bestehen der Härte gebunden sein. Dies sollte entsprechend im Falle einer andauernden Nichtinanspruchnahme des Aufnahmebescheids geprüft werden. In Abhängigkeit dieser Prüfung bleibt dann die Gültigkeit des Aufnahmebescheids bestehen oder sie erlischt. Ebenfalls vonseiten des Bundesrates wurde der Vorschlag unterbreitet, die neue Regelung auf „besondere Härten“ zu beschränken. Dies würde jedoch zu einer erheblichen Einschränkung des Personenkreises führen, und damit für viele Betroffene keine Verbesserung ihrer Lebenssituation darstellen. Sinn und Zweck der Änderung des Bundesvertriebenengesetzes ist gerade eine breite Lösung, die möglichst viele der unterschiedlichen Lebensschicksale erfasst. Die vorgeschlagene Einschränkung ist daher abzulehnen. Auch der Vorschlag der Bundestagsfraktion Bünd-nis 90/Die Grünen, auch die eingetragenen Lebenspartnerschaften in den Kreis der Begünstigten mit aufzunehmen, ist im Ergebnis nicht zielführend. Schließlich ist die in Deutschland vorhandene Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft in den Aussiedlungsgebieten, insbesondere in Russland und Kasachstan, nicht vorhanden. Die vorgeschlagene Änderung würde somit vollständig ins Leere laufen. Ebenso verfehlt ist die Forderung, auf die Voraussetzung der Grundkenntnisse deutscher Sprache für die anerkannten Härtefälle zu verzichten. Bereits die Tatsache, dass diese Voraussetzung zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung in das Gesetz mit aufgenommen wurde, lässt mich an der Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags zweifeln. Es sollte doch politischer Konsens sein, dass Grundkenntnisse der deutschen Sprache von enormer integrationspolitischer Bedeutung sind. Dieser Änderungsvorschlag ist somit schlicht integrationsschädlich und daher abzulehnen. Insgesamt muss eine Lösung für die bekannt gewordenen Probleme im Bundesvertriebenengesetz auf der Basis der bisherigen Grundlagen erfolgen. Es müssen weiterhin die bestehenden Strukturen des geltenden Rechts beibehalten und fortgeführt werden. Die neue Härtefallregelung ist ein kleiner, aber kunstvoller Eingriff und kein Systemwechsel im Vertriebenenrecht, so wie es beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Änderungsantrag vorgeschlagen haben. Die Bundesregierung hat einen sehr guten und unterstützenswerten Gesetzentwurf vorgelegt, der für aufgetretene Schwierigkeiten im geltenden Recht gute und vertretbare Lösungen anbietet. Die geltende Rechtslage wird durch ihn in angemessener und folgerichtiger Art und Weise fortgeschrieben. Die christlich-liberale Koalition nimmt sich hiermit einem der drängendsten Anliegen der Spätaussiedler an, das meiner festen Überzeugung nach die breite Unterstützung aller politischen Parteien in Deutschland verdient und verlangt. Ich kann daher die Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen nur dringend auffordern, diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form ebenfalls zuzustimmen. Sie würden damit unter Beweis stellen, dass auch Sie an einer schnellen Verbesserung der bewegenden menschliche Schicksale interessiert und sich der gemeinsamen Verantwortung für die Vertriebenen und deren Lebenssituation bewusst sind. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Heute erfolgt die Abschlussberatung über den Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Wir beschließen eine sinnvolle Regelung für Spätaussiedler. Bisher fehlte im Bundesvertriebenenrecht eine konkrete Regelung, die es beispielsweise dem Ehegatten oder Abkömmling eines Spätaussiedlers ermöglicht, auch nachträglich ins Bundesgebiet auszusiedeln, wenn ein Härtefall vorliegt. Heute schaffen wir endlich diese Härtefallregelung, um eben in Zukunft unvertretbare Familientrennungen bei Spätaussiedlern zu vermeiden. Wir schaffen ab heute die Möglichkeit, auch wenn die Anzahl Betroffener vergleichsweise gering ist. Wir schaffen die Möglichkeit, einzelne Härtefälle bei der Aufnahme von Spätaussiedlern zu lösen, die zum Teil dramatische Familientrennungen zur Folge hatten. Die Regierung spricht davon, dass dies nur ein paar wenige Fälle betreffe. Nun, in Deutschland leben mittlerweile rund 2,4 Millionen Spätaussiedler. Und ja, vielleicht betrifft diese Änderung nur eine Handvoll. Vielleicht. Diese Gesetzesänderung, denke ich, wird jedoch für den Einzelnen, den es betrifft, wie beispielsweise den einen oder anderen Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion, eine sehr persönliche und sehr wesentliche Bedeutung haben. Für den einzelnen Betroffenen ist diese Änderung mehr als nur überfällig und kann hoffentlich jahrelange Trennungen und Leid heilen. Meine Kollegen aus dem Petitionsausschuss haben mir in etlichen intensiven Gesprächen berichtet, wie viele Petitionen allein hierzu beim Deutschen Bundestag anhängig sind, welche Schicksale einzelner Familien dahinterstehen. Daher verbinde ich mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf auch die Hoffnung, dass einige von diesen Schicksalen positiv abgeschlossen werden können. Daher begrüßen wir auch als SPD die Bemühung der Bundesregierung, für die Betroffenen Abhilfe zu schaffen. Dennoch, zwei kritische Anmerkungen muss ich machen; denn dies ist wieder so typisch für diese Bundesregierung. Zum Beispiel der Punkt Lebenspartnerschaften. Was ich nicht verstehe, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, ist die Tatsache, dass Sie wieder nur halbe Sachen machen. Warum werden Lebenspartner, so wie es ein Antrag der Grünen vorsieht, und zwar zu Recht vorsieht, nicht mit einbezogen? Warum müssen Sie immer an der heutigen Lebensrealität und an der der Menschen vorbeiregieren? Wir haben seit dem 1. August 2001 ein Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland, das mehrfach von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gestützt wurde, gerade auch in der jüngsten Vergangenheit, in denen vielfach die Lebenspartnerschaft mit der Ehe gleichgesetzt wird. Darum frage ich mich: Warum lehnen Sie eine derartige Regelungen ab? Das ist realitätsfremd. Ich kann Sie nur auffordern, hier aufzuwachen und noch einmal nachzubessern. Ein anderer Punkt, der mir aufgestoßen ist, ist die Frage nach den Spracherfordernissen im Härtefall. Auch hier kann ich Sie nur auffordern, noch einmal nachzudenken; denn auch hier verkennen Sie die Realität der Betroffenen. Ich kann die Grünen nur unterstützen. Gerade ältere Menschen oder Menschen aus bildungsfernen Schichten ist der Spracherwerb im Ausland oftmals nicht möglich oder kostet sie Unsummen, was nicht heißt, sie sollen nicht Deutsch lernen. Im Gegenteil. Aber sie sollen es vernünftig können und qualifiziert. Hierfür ist aber ein Deutschkurs in Deutschland sinnvoller und effektiver als einer im Ausland. Einen letzten Punkt, den ich noch für weiterhin diskussionswürdig erachte, ist der Punkt Integration; denn man kann nicht auf der einen Seite fordern, die Menschen müssen und haben sich zu integrieren, wenn man nicht auf der anderen Seite dafür Sorge trägt, dass die Menschen das auch können. Allein wenn ich an das heute verabschiedete Gesetz zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse denke, fehlt mir der Glaube. Das gut gemeinte Gesetz allein zeigt: Von Ihnen sind nur Babysteps, Babyschritte, zu erwarten. Mit diesem Gesetz schaffen Sie es weder Hunderttausenden von Betroffenen zu helfen und den Fachkräftemangel in Deutschland wirksam zu beseitigen noch ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Ein mutiges und gutes Gesetz wäre aber dringend nötig. Bereits heute können wegen des bestehenden Anerkennungschaos bis zu 500 000 Menschen mit im Ausland erworbenen Qualifikationen nicht in ihren Berufen arbeiten. Das Gleiche gilt für die Diskussion um die Kosten von Integrationskursen. Auch hier fehlt Ihnen jegliches Konzept. Ihr Konzept lautet: Geld sparen bei denen, die sich nicht wehren. Dass aber auch die Lehrkräfte darunter leiden, weil sie zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen, scheint für Sie nur ein leidiger Kollateralschaden zu sein. Ich kann Sie nur vehement auffordern und an Sie appellieren, hier endlich nachzubessern. Bessern Sie hier bei den Honoraren nach, damit auch die Lehrkräfte entsprechend entlohnt werden. Auch die unter diese Novellierung fallenden Spätaussiedler nehmen Integrationskurse in Anspruch. Das bedeutet, im Punkt Haushaltsmittel für Integrationskurse muss schleunigst nachgebessert werden, sehr geehrte Bundesregierung. Ich kann nur schlicht sagen: Ich bin überrascht, dass Sie hier keine weiteren Kosten erwarten. Ich kann mich nur wiederholen: Sie rechnen mit einer Mindestzahl von 5 000 Härtefallanträgen. Das wirkt sich auch auf Integrationskurse aus; die sind schon jetzt unterfinanziert. Darum fordere ich Sie auf: Nehmen Sie mehr Geld für Integrationskurse und Sprachkurse in die Hand. Es lohnt sich für die Zukunft unseres Landes. Alles andere wäre blauäugig und fatal. Die Menschen, die lernen wollen, die sich integrieren wollen, müssen bei uns auch die Möglichkeit dazu erhalten. Machen Sie endlich Integrationspolitik mit Weitsicht und an der Realität orientiert. Serkan Tören (FDP): In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Ziel ist die Einfügung einer Härtefallregelung in das Bundesvertriebenengesetz. Mit dieser Regelung ermöglichen wir die nachträgliche Aufnahme von im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Eheleuten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern in den Aufnahmebescheid. Diese neue Regelung hat ausdrücklich einen Ausnahmecharakter. Erfreulicherweise besteht grundsätzlich Einigkeit über die Notwendigkeit einer solchen Regelung unter allen Fraktionen im Hohen Hause. Mit der nun zu verabschiedenden Regelung soll auf die schwierige Lage mancher Spätaussiedlerfamilien eingegangen und Abhilfe geschaffen werden. Es geht um Familien, die nach einer bewussten Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, nun doch wieder zusammen leben möchten. Eine generelle Möglichkeit, eine einmal getroffene Entscheidung bezüglich der familiären Situation zu ändern, ist allerdings ausgeschlossen. Es geht einzig und allein um eine Lösung für Härtefälle in Spätaussiedlerfamilien. Im Rahmen der Beratungen haben Bündnis 90/Die Grünen zwei Änderungsanträge eingebracht. Im ersten Änderungsantrag geht es um die Streichung von notwendigen Grundkenntnissen der deutschen Sprache vor der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Im gleichen Antrag wird die Berücksichtigung von Familienangehörigen von Spätaussiedlern gefordert, die nicht mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind. Die geforderte Streichung der Grundkenntnisse der deutschen Sprache wird die Integration von Spätaussiedlern sehr erschweren und ist somit abzulehnen. Genauso ist die von Bündnis 90/Die Grünen geforderte Ausweitung der Härtefallregelung auf Familienangehörige abzulehnen, die nicht mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind. Eine solche Ausweitung ist aus meiner Sicht mit dem Charakter einer Härtefallregelung bzw. Ausnahmeregelung nicht vereinbar. Was den zweiten Antrag von Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf Lebenspartnerschaften angeht, möchte ich Folgendes erwidern. Leider ist von Ihrer Seite kein einziger Fall vorgetragen worden, bei dem sich diesbezüglich ein Problem ergeben hat. Dies wäre hilfreich gewesen, um zu sehen, inwieweit hier tatsächlich ein Handlungsbedarf besteht. Meiner Ansicht nach ist dieser zweite Änderungsantrag ein reiner Symbolantrag. Er bringt uns und die Spätaussiedler keinen einzigen Schritt weiter. Er ist daher ebenso wie der erste Änderungsantrag abzulehnen. Lassen Sie uns die wahren Probleme der Spätaussiedler anpacken, und stimmen Sie für den Antrag der Bundesregierung. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Absicht der Bundesregierung, Härtefallregelungen für die Familien von Spätaussiedlern einzuführen, ist im Grundsatz richtig – die Regierung selbst will sie allerdings nur halbherzig umsetzen. Wer als Spätaussiedler in die Bundesrepublik übersiedelte, der musste bislang seine engsten Verwandten in den sogenannten Aussiedlungsgebieten, also in Russland, vor die Wahl stellen: Entweder ihr kommt mit mir, und zwar jetzt sofort, oder die Familie bleibt für immer getrennt. – Denn es war nicht möglich, Familienangehörige, die selbst nicht als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes galten, nachträglich in den Aufnahmebescheid für die Spätaussiedler aufzunehmen. Das hat, wie man vorausahnen konnte, eine Reihe von Härtefällen produziert: Kinder, die nun ihre pflegebedürftigen Eltern oder Schwiegereltern unterstützen wollen, oder Eltern, die selbst auf Pflege ihrer Nachkommen angewiesen sind, genauso wie Geschwister usw., die nun doch zu ihren Verwandten in die Bundesrepublik ziehen wollen, denen eine Familienzusammenführung aber nicht mehr möglich ist. Das produziert im Einzelfall – die Bundesregierung erwartet rund 5 000 Härtefallanträge – humanitäre Probleme. Dem Lösungsansatz der Bundesregierung werden wir aber nicht unsere Stimme geben. Ich will kurz erläutern, warum sich die Linke bei der Abstimmung enthalten wird: Uns lagen während der Beratung im Innenausschuss einige diesbezügliche Petitionen vor. Die Probleme der meisten Petenten können durch die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen gelöst werden. Aber insgesamt ist die Regelung nicht weitgehend genug. Schon in der Gesetzesbegründung ist davon die Rede, dass wohl nur die Hälfte aller Härtefälle so gelöst werden kann. Denn selbst bei der Härtefallregelung hält die Bundesregierung daran fest, dass die potenziellen Nachzügler Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Das steht dem Gedanken einer Härtefallregelung diametral entgegen: Ein Härtefall ist ja von der Definition her ein Fall, in dem die betroffenen Menschen in einer humanitären oder wirtschaftlichen Notlage sind. Da kann man nicht einfach Dienst nach Vorschrift machen und an sämtlichen Ausschlusstatbeständen des Bundesvertriebenengesetzes festhalten. Richtig wäre es, diesen Menschen nach ihrer Ankunft umfassende Angebote zum Spracherwerb zu machen, falsch ist es aber, Deutschkenntnisse zur Vorbedingung ihrer Einreise zu machen. Ganz grundsätzlich gelten unsere Bedenken gegen die fortbestehende aufenthaltsrechtliche Privilegierung der sogenannten Spätaussiedler weiter. Wir können keinen triftigen Grund dafür erkennen, dass Menschen, deren Vorfahren zum Teil vor Jahrhunderten aus Deutschland nach Russland ausgewandert sind, bessergestellt sein sollen als die Nachfolger nichtdeutscher Migranten, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben. Die Linke setzt auf soziale Aspekte, nicht auf völkische. Wir halten daher an unserer schon in früheren Debatten erhobenen Forderung fest, endlich die spezialgesetzlichen Regelungen für die Nachkommen der Deutschen in den Ländern Osteuropas aufzugeben und sie in den Geltungsbereich des normalen Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrechts zu überführen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist mir unverständlich, warum sich die Koalitionsfraktionen dauerhaft verweigern, homosexuellen Paaren jene Rechte einzuräumen, die sie sonst auf dem Umweg über Karlsruhe erhalten. Heute geht es bei der Änderung des Bundesvertriebenengesetzes nur um die Änderung von Art. 1, in den die eingetragene Lebenspartnerschaft aufgenommen werden soll. Mit dem am 1. August 2001 in Kraft getretenen Lebenspartnerschaftsgesetz schufen wir für gleichgeschlechtliche Paare das neue familienrechtliche Institut der Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Allerdings wurden eingetragene Lebenspartnerinnen beziehungsweise Lebenspartner in das Bundesvertriebenengesetz bislang nicht einbezogen. Diese Benachteiligung der eingetragenen Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen wurde bisweilen damit gerechtfertigt, dass es dem Gesetzgeber wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht verwehrt sei, diese gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. In seinem Beschluss vom 7. September 2009 hat das Bundesverfassungsgericht hingegen grundlegend entschieden, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG eine Benachteiligung der eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe nicht rechtfertigen könne. Demnach stellt die Rechtfertigung der Privilegierung der Ehe auf die auch rechtlich verbindliche Verantwortung für den Partner ab. Das Bundesverfassungsgericht stellt damit aber klar, dass sich in diesem Punkt Ehen nicht von eingetragenen Lebenspartnerschaften unterscheiden: Beide sind auf Dauer angelegt und begründen eine gegenseitige Einstandspflicht. Auch in seinem Beschluss vom 21. Juli 2010 zum Erbschaftsteuerrecht bestätigte das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung über die Verfassungswidrigkeit der Ungleichbehandlung von Lebenspartnern gegenüber Ehegatten. Es betonte, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft sowie die Ehe auf Dauer angelegt sei und eine gegenseitige Unterhalts- und Einstandspflicht begründe. Eine Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Bundesvertriebenengesetz entspricht daher nicht mehr den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit dem vorliegenden Änderungsantrag wird diese ungerechte und grundrechtswidrige Behandlung beseitigt. Falls es doch nicht das Ziel der Koalition sein sollte, hier den Rekord der meisten kassierten Gesetze in Karlsruhe aufzustellen, stimmen Sie dem Änderungsantrag zu. Weder Sie noch irgendein Mensch sonst wird davon einen Nachteil haben. Es würde aber eine Minderheit in unserem Land der Mehrheit gleichstellen. Laut der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist auch das Ziel der Neuregelung, Härtefälle zu vermeiden, die durch dauerhafte Familientrennungen entstehen, und dadurch die Integration von Spätaussiedlern in Deutschland weiter zu fördern. Diesem begrüßenswerten Ziel wird die Neuregelung jedoch nicht uneingeschränkt gerecht. Außerdem wollen wir unnötige Härten vermeiden. Unser Änderungsantrag sieht nicht nur die Streichung des Spracherfordernisses im Härtefall nach dem neuen Abs. 3 vor, sondern auch bei der Einbeziehung in den Aufnahmebescheid nach Abs. 1. Damit steht die Änderung im Einklang mit dem Gesetzentwurf zum Ehegattennachzug – Drucksache 17/1626 –, mit dem die Streichung des Spracherfordernisses beim Ehegattennachzug nach dem Aufenthaltsgesetz verfolgt wird. Insbesondere älteren Menschen und Personen aus bildungsfernen Schichten ist der Spracherwerb im Ausland oft nicht möglich. Es steht außer Frage, dass es für das Zusammenleben in Deutschland wichtig ist, dass die Familienangehörigen Deutsch sprechen. Dafür ist aber ein Deutschkurs im Ausland weder notwendig noch geeignet. Den nachgezogenen Familienangehörigen steht in Deutschland ein umfangreiches Angebot an Integrationskursen zur Verfügung. Der Spracherwerb in Deutschland ist viel leichter, schneller, günstiger und weniger belastend für die Betroffenen als im Ausland. Mit dem Änderungsantrag wird der Gesetzentwurf dahin gehend geändert, dass auch Ehegatten und Abkömmlinge, die nicht im Aussiedlungsgebiet verblieben sind, zur Bezugsperson in Deutschland nachziehen können; denn in einem Härtefall soll es nicht erheblich sein, an welchem Ort das Familienmitglied sich befindet. Damit werden auch diejenigen Familienmitglieder von der nachträglichen Einbeziehung erfasst, die ohne einen Einbeziehungsbescheid das Herkunftsland verlassen haben oder hier weder vertriebenenrechtlich Aufnahme gefunden noch ausländerrechtlich einen gesicherten Aufenthalt erlangt haben. Die Änderung wird ebenfalls vom Land Hessen im Antrag zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes gefordert. Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung zu unseren beiden Änderungsanträgen. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Seit 20 Jahren ist es Spätaussiedlern im sogenannten vertriebenenrechtlichen Aufnahmeverfahren möglich, unter Wahrung ihrer Familienbindungen gemeinsam mit ihren nächsten Angehörigen nach Deutschland auszusiedeln. Entschlossen sich allerdings Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern, bei deren Aussiedlung im Aussiedlungsgebiet zu verbleiben, so kam es in der Praxis auch zu tragischen Fällen der Trennung von Familien von Spätaussiedlern. Hierher gehört zum Beispiel der Fall, dass sich Kinder des Spätaussiedlers zunächst entschieden haben, im Herkunftsgebiet zu bleiben, um dort noch einen Angehörigen zu betreuen, dann aber – selbst nach schweren Schicksalsschlägen – nicht mehr nachträglich aussiedeln konnten. Weitere Ursachen für derartige tragische Familientrennungen habe ich im Rahmen der ersten Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs bereits dargestellt. Auch der Petitionsausschuss des Bundestages hat sich mit dieser Problematik schon mehrfach beschäftigt. Eine befriedigende Lösung solcher Fälle ermöglicht das geltende Vertriebenenrecht nicht, selbst in Härtefällen erlaubt das Bundesvertriebenengesetz keine nachträgliche Einbeziehung. So ist Abkömmlingen von Spätaussiedlern nicht einmal dann der Nachzug zu ihren Eltern in Deutschland möglich, wenn diese pflegebedürftig werden oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters gravierend unter der Trennung von ihren engsten Familienangehörigen leiden. In solchen und ähnlichen Härtefällen will die Bundesregierung nun durch den vorliegenden Gesetzentwurf den betroffenen Familien helfen. Im Härtefall soll Ehegatten und Abkömmlingen von in Deutschland lebenden Spätaussiedlern der Nachzug ermöglicht werden, auch falls sie damals die Aufnahmevoraussetzungen noch nicht erfüllten, diese aber jetzt erfüllen, zum Beispiel weil sie zwischenzeitlich Grundkenntnisse der deutschen Sprache erworben haben. Die geschilderten Beispiele zeigen: Die Ihnen vorliegende Härtefallregelung ist geboten, wenn wir den historisch-moralischen Verpflichtungen des deutschen Staates gegenüber den Spätaussiedlerfamilien angemessen Rechnung tragen wollen. Umso mehr freue ich mich darüber, dass die meisten von Ihnen dies ebenso sehen und deshalb die Härtefallregelung letzte Woche im Innenausschuss unterstützt haben. Diese Unterstützung verdient sie auch weiterhin. Im Einzelnen habe ich dies ja bereits anlässlich der ersten Befassung mit dem Gesetzentwurf erläutert. Daher beschränke ich mich heute auf eine knappe Darstellung der wesentlichen Argumente für die neue vertriebenenrechtliche Härtefallregelung. Erstens. Mit der Härtefallregelung bekundet Deutschland seine dauerhafte historische Verantwortung gegenüber den Menschen, die als Deutsche in Osteuropa und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges am längsten gelitten haben. Dies entspricht auch unserer Verfassung, deren Art. 116 Abs. 1 die Solidarität mit Vertriebenen, Flüchtlingen und deren Ehegatten und Abkömmlingen verbürgt. Zweitens. Die nachträgliche Einbeziehung von bislang zurückgebliebenen Ehegatten oder Abkömmlingen ermöglicht nicht etwa den Verzicht auf die „üblichen“ Voraussetzungen einer Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz. Nach dem Gesetzentwurf kann eine nachträgliche Einbeziehung vielmehr nur dann erfolgen, wenn alle anderen Voraussetzungen, die im Falle einer Einbeziehung vor Aussiedlung vorliegen müssen, erfüllt sind. Damit sind auch weiterhin deutsche Sprachkenntnisse notwendig. Den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Änderungsanträgen kann ich nicht folgen: So besteht bereits kein Bedarf für die beantragte Schaffung einer gesonderten Norm zur Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten. Denn auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt es keine eingetragenen Lebenspartnerschaften als eigenständige Rechtsform. Es gibt also für diese Norm keinerlei Bezugsgröße. Der beantragte Wegfall der Beschränkung der neuen Härtefallregelung auf die im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Ehegatten und Abkömmlinge wäre vertriebenenrechtlich zweck- und systemwidrig. Sinn und Zweck der Neuregelung ist es, im Einklang mit der Systematik des Vertriebenenrechts den vormals im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Ehegatten und Abkömmlingen eine „zweite Chance“ zur nachholenden Aussiedlung zu eröffnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass als „Aussiedlergebiet“ alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelten, sodass etwa ein Umzug von Kasachstan nach Russland bei Härtefällen der nachträglichen Einbeziehung keine grundsätzlichen Hindernisse schafft. Wenn mit dem Änderungsantrag auch diejenigen im Nachhinein noch eine vertriebenenrechtliche Aufnahme finden sollen, die bereits – womöglich auf ausländerrechtlicher Basis – in Deutschland leben, entspräche das nicht dem Sinn der Regelung. Die zu lösenden Fälle tragischer Familientrennungen – Härtefälle – sind nicht vorstellbar, wenn sämtliche Familienangehörigen bereits in Deutschland leben. Ich begrüße sehr, dass auch die Länder die Schaffung einer neuen Härtefallregelung grundsätzlich gutheißen. Mit der Absicht der Länder, missbräuchliche Handhabungen und zeitlich unkalkulierbare Zuzüge von Familienangehörigen zu unterbinden, stimmt die Bundesregierung überein. Aus den von mir bei der ersten Beratung genannten Gründen wollen wir dem Anliegen der Länder allerdings durch untergesetzliche Regelungen Rechnung tragen, nicht durch eine gesetzliche Befristung der nachträglichen Einbeziehung. So ermöglichen wir zukünftig eine flexible Handhabung, in deren Rahmen wir auch zeitnah Erkenntnisse aus der Praxis berücksichtigen können. Lassen Sie mich schließlich darauf hinweisen, dass die hier vorgestellte Härtefallregelung keine unüberschaubare Welle neuer Spätaussiedlung zur Folge haben wird. Sie ist weder Teil einer Zuwanderungspolitik noch sollte sie als ein Teil davon verstanden werden. Die vorliegende Härtefallregelung ist vielmehr Ausfluss des bis in unsere Tage fortreichenden Bemühens aller bisherigen Bundesregierungen, sich der Verantwortung Deutschlands im Blick auf die Folgen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges für die am stärksten betroffenen deutschen Minderheiten zu stellen. Vor diesem Hintergrund verdient die Härtefallregelung unsere Unterstützung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7178, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5515 anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/7214? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/7215? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Krista Sager, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Förderung von Open Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu den Resultaten öffentlich geförderter Forschung – Drucksache 17/7031 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Ansgar Heveling (CDU/CSU): Frei ist nicht umsonst, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie behaupten in Ihrem Antrag, Open Access fördern zu wollen, aber in Wahrheit geht es Ihnen darum, Urheber und deren Verleger um ihre Rechte zu bringen. Sie diskreditieren damit die Idee des Open Access. Open Access ist grundsätzlich eine gute Idee, die es zu fördern gilt. Schon heute stehen den Wissenschaftlern mit dem grünen und dem goldenen Weg zwei Open-Access-Publikationswege zur Verfügung. Wissenschaftler wollen aber immer im Verlag mit dem höchsten Renommee veröffentlichen, weswegen viele von Open Access keinen Gebrauch machen. Deswegen wollen Sie die Verlage und die Wissenschaftler jetzt dazu zwingen. Das halte ich für einen gefährlichen Weg, der weder nachhaltig noch zu Ende gedacht ist. Mir ist bewusst, dass es einige Wissenschaftsbereiche gibt – vor allem den Bereich Science, Technics und Medicine, STM –, in denen wissenschaftliche Literatur überteuert angeboten wird. Manche Verlage nutzen diese Monopolbildung aus und verlangen daher immer höhere Preise und erreichen dadurch Margen von bis zu 70 Prozent. So müssen teilweise öffentliche Hochschulen oder auch öffentliche Bibliotheken öffentlich geförderte Forschungsarbeit wiederum mit öffentlichen Geldern einkaufen. Der Staat bezahlt folglich einmal für die Veröffentlichung und anschließend noch einmal für die weitere Nutzung. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Zugang zu Wissen ist auch bei dem beschriebenen Problem nach wie vor frei – allerdings kann die Lizenz zur Nutzung gewisser Werke durchaus teuer sein. Ich kann aber auch verstehen, dass nach einer Lösung für dieses Problem gesucht wird, und bin offen für neue Ideen. Ihren Vorschlag, den Urhebern im Urhebervertragsrecht ein verbindliches Zweitverwertungsrecht einzuräumen, halte ich jedoch für den falschen Weg. Die Verlage wären damit vor große Kalkulationsprobleme gestellt, wie die von ihnen verlegten Werke amortisiert werden können. Sie würden daher die Preise entweder noch weiter erhöhen oder sogar viele Werke einfach nicht mehr verlegen. Dies führt letztendlich zu weniger Veröffentlichungen und weniger Qualität. Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wollen, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigen Journalen veröffentlichen wollen, werden sich zwingen lassen. Dies zeigt das große Missverständnis bei Open Access. In dieser Diskussion gerät das eigentliche Prinzip des kontinentalen Urheberrechts oft aus dem Blick: die Einheit der Persönlichkeits- und Verwertungsrechte. Die Open-Access-Bewegung diskutiert immer nur aus dem ökonomischen Blickwinkel und betont die Interessen der Nutzer und der Allgemeinheit. Letztendlich wollen Sie mit Ihrem Antrag nur eine Kostenverlagerung vom Nutzer auf den Kreativen erreichen. Es geht also nicht um freien Zugang, sondern um kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen – ähnlich wie auch bei der Einführung der Schranke zugunsten von Wissenschaft und Forschung. Dabei bleibt der Urheber auf der Strecke. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass stets der Kreative und sein Schaffen im Vordergrund stehen muss, denn ohne ihn gibt es keine Inhalte, die von der Allgemeinheit genutzt werden können. Damit also weiterhin qualitativ wertvolle Inhalte für jeden zugänglich und auch bezahlbar veröffentlicht werden, müssen die richtigen Anreize gesetzt werden: Erstens. Bessere finanzielle Ausstattung der Bibliotheken. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass es eine Explosion an Veröffentlichungen gab – digital wie auch analog. Die öffentlichen Etats für den Erwerb wissenschaftlicher Veröffentlichungen sind jedoch nicht in gleichem Maße gewachsen – sie sind sogar zurückgegangen. Je mehr Menschen von ihren Veröffentlichungen leben wollen, desto mehr Geld muss auch ins System fließen, sonst kann das nicht funktionieren. Zweitens. Auflagen für geförderte Veröffentlichungen. Wenn die öffentliche Hand für staatlich geförderte Veröffentlichungen nicht zweimal bezahlen will, so kann sie bei der Förderung Auflagen erteilen. Im Vereinigten Königreich ist es durchaus üblich, dass Wissenschaftler im universitätseigenen Verlag veröffentlichen müssen. Auch in Deutschland wären solche Auflagen in den Promotionsordnungen oder als Voraussetzungen für eine Förderung möglich. Beide Vorschläge können problemlos umgesetzt werden und fördern Open Access nachhaltig. Hier sind aber die Bildungspolitiker gefordert – nicht die Rechtspolitiker! Warum also gleich nach Verboten rufen, wenn es andere Wege gibt? Der Staat sollte neue Geschäftsmodelle wie Open Access mit Anreizen fördern, aber keinesfalls durch verbindliche Zweitverwertungsrechte erzwingen. Verbote oder Regulierungen sind der falsche Weg. Kreative Wissenschaftler brauchen Unterstützung, aber sie wollen keine Vorgaben. Daher halte ich es im Grundsatz nach wie vor für den richtigen Ansatz, den Wissenschaftlern möglichst viele Rechte einzuräumen und sie selbst entscheiden zu lassen, wie sie ihre Werke veröffentlichen. Ich wünschte mir also, Sie wären mit Ihrem Antrag kreativer und vor allem nachhaltiger gewesen. So ist Ihr Antrag nichts anderes als ein billiger Abklatsch des SPD-Antrags zu einem verbindlichen Zweitverwertungsrecht: dreist abgekupfert! Tankred Schipanski (CDU/CSU): Open Access ist schon heute Realität. In vielen Disziplinen ist das digitale Publizieren zur gängigen Praxis geworden – moderne, zielorientiere und standortübergreifende Forschung ist dort anderweitig nicht mehr vorstellbar. Digitale Publikationen sind vielerorts zu einer unabdingbaren Voraussetzung moderner Forschungsarbeit geworden. Dennoch werden auch noch heute wissenschaftliche Texte überwiegend in Print-Form veröffentlicht. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen ist es das Interesse des wissenschaftlichen Autors, seinen Text in einer möglichst angesehenen Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Das ist verständlich, und die Wahl des Publikationskanals ist nicht allein deshalb zu Recht ein grundrechtlich geschützter Aspekt der Wissenschaftsfreiheit. Es mag hier in vielen Bereichen noch an einer notwendigen Akzeptanz von Open-Access-Zeitschriften mangeln. Tatsächlich lässt sich aber auch nicht verbergen, dass einer größeren Anzahl von Publikationen im Wege von Open Access auch die gegenwärtigen Verlags- und Veröffentlichungsstrukturen entgegenstehen. Zwar bietet das Urheberrecht in seiner jetzigen Form alle notwendigen Schranken, die erforderlich sind, um dem Autor eine Open-Access-Veröffentlichung zu ermöglichen. Rechtstechnisch steht das Urheberrecht also einer digitalen Publikation nicht entgegen. Problematisch ist jedoch, dass der Autor regelmäßig seine Rechte nicht wirklich frei ausüben kann, da er mit dem Veröffentlichungsvertrag in aller Regel sämtliche Verwertungsrechte gegenüber dem Verlag einräumt bzw. einräumen muss. Zur Förderung von Open Access sehen wir uns folglich mit zwei Aufgaben konfrontiert: Erstens. Wie schaffen wir neue Anreize, um den wissenschaftlichen Autor für digitale Veröffentlichungen zu interessieren? Zweitens. Wie können wir auf die gegenwärtigen Strukturen einwirken, damit der Autor seinen Willen, im Wege von Open Access zu veröffentlichen, auch tatsächlich verwirklichen kann? Die erste Frage ist zunächst eine Frage der Akzeptanz von Open-Access-Zeitschriften und Repositorien. Es mag hier mit einiger Berechtigung angeführt werden, dass diese Akzeptanz nur dann zu steigern sein wird, wenn die Zahl der Erst- und Zweitveröffentlichungen in solchen Zeitschriften zunimmt. Als Anreiz wird daher schon seit längerem diskutiert, die Vergabe von Forschungsmitteln daran zu binden, dass die Ergebnisse im Wege von Open Access publiziert werden. Dies gilt nicht zuletzt, als ins Feld geführt wird, dass mit Steuermitteln finanzierte Forschung auch frei zugänglich sein sollte. Auf die Frage, wie dem Autor auch tatsächlich die Möglichkeit zur Open-Access-Veröffentlichung gegeben werden soll, ist zunächst zwischen der Erst- und Folgeveröffentlichungen zu unterscheiden. Bei einer Erstveröffentlichung im Wege von Open Access sieht sich der Autor regelmäßig mit keinen Hindernissen konfrontiert. Problematisch wird es für ihn, wenn er einer Veröffentlichung im Print-Wege eine digitale, frei zugängliche Publikation folgen lassen will. Dies ist ihm aufgrund der umfassenden Rechteeinräumung gegenüber dem Verlag zumeist verwehrt. Dennoch werden viele Wissenschaftler verständlicherweise nicht auf die Veröffentlichung in einem angesehenen Verlag verzichten wollen. Vonseiten der Wissenschaftsorganisationen wird daher ebenfalls seit längerem ein unabdingbares, formatgleiches Zweitverwertungsrecht gefordert. Die Vorteile beider Vorschläge liegen auf der Hand, bedürfen aber einer ausführlichen Abwägung der verschiedenen Interessenlagen. Während ein Zweitverwertungsrecht eine gesetzgeberische Tätigkeit im Urheberrecht erfordert, ist eine Bindung der Forschungsmittel außerhalb des Urhebergesetzes zu verwirklichen. Eine endgültig verpflichtende Bestimmung, nach der Forschungsmittel nur bei folgender Open-Access-Publikation zur Verfügung gestellt werden, kann jedoch Probleme mit der Wissenschaftsfreiheit aufwerfen, wenn dadurch die Wahlfreiheit des öffentlich geförderten Autors, welchen Publikationskanal er für den richtigen hält, genommen würde. Für den Gesetzgeber muss feststehen, dass es bei der Frage des Zweitverwertungsrechts vor allem darum gehen muss, die rechtliche Position des wissenschaftlichen Autors zu stärken. Zweifelsohne wird dies durch ein Zweitverwertungsrecht zunächst erreicht werden, denn der Autor kann seiner Print-Veröffentlichung nach Ablauf der Embargo-Frist eine Zweitveröffentlichung auf einem frei zugänglichen Repositorium folgen lassen. Jedoch ist von Autorenseite darauf hingewiesen worden, dass Rechte, die nicht mehr vollumfänglich Dritten eingeräumt werden können, an Wert verlieren. Auch diese Position gilt es zu beachten. So haben wir auf der einen Seite das Interesse des Autors, das sich zwischen einer Wahrung seiner Rechte und der tatsächlichen Möglichkeit einer freien Rechteausübung bewegt. Daneben steht das Interesse der Wissenschaftsorganisationen, der Förderung von Open Access nachhaltigen Auftrieb zu geben. Schließlich dürfen aber auch die Verlage nicht außer Acht gelassen werden, deren Bedeutung für die Förderung und Kommunikation qualitativer wissenschaftlicher Arbeit gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann. Letztendlich müssen wir die Gemengelage in unserer Wissenschaftslandschaft berücksichtigen. Während für den Bereich der Naturwissenschaften der freie Zugriff auf digitale Veröffentlichungen unentbehrlich ist, hat Open Access für den Bereich der Geisteswissenschaften naturgemäß eine weitaus geringere Bedeutung. Die Einführung eines Zweitverwertungsrechts hätte zweifelsohne weitreichende Folgen für die Publikationskultur und die Verlagslandschaft in unserem Lande. Die bislang von vielen Verlagen angebotenen kostenpflichtigen Datenbanken müssten wohl vom gegenwärtigen Subskriptionsmodell auf sogenannte Publikationsgebühren umstellen. Öffentliche Mittel, durch die derzeit Abonnements solcher kommerzieller Datenbanken finanziert werden, müssten derart umverteilt werden, dass sie dem öffentlich geförderten Autor bei der Finanzierung der Publikationsgebühr zur Verfügung stünden. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich daher in den zurückliegenden Monaten im Rahmen des Dritten Korbes der Urheberrechtsreform umfassend mit den vielfältigen Fragen eines Zweitverwertungsrechts auseinandergesetzt. Es geht dabei um dessen grundsätzliche Notwendigkeit, die Auswirkungen auf die urheberrechtliche Stellung des Autors und auf die wirtschaftliche Situation der Verlage und nicht zuletzt um den Umfang eines solchen Rechts, etwa hinsichtlich der Notwendigkeit der Formatgleichheit. Nicht zuletzt darf ich an dieser Stelle auch auf die Tätigkeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ verweisen. Die zunehmende Bedeutung von Open Access und die daraus resultierende Notwendigkeit, diese Entwicklung nachhaltig zu fördern, steht für die CDU/CSU-Fraktion außer Frage. Die Forderungen nach einem Zweitverwertungsrecht und nach einer Bindung der Forschungsmittel werden dabei intensiv diskutiert. Aus Sicht der Bildungs- und Forschungspolitik ist es für uns ein wesentliches Ziel, einen modernen wissenschaftlichen Diskurs zu fördern. Den hier diskutierten Antrag kann ich daher grundsätzlich nur begrüßen. Zweitverwertungsrecht und Bindung der Forschungsmittel halte auch ich für bedeutende Grundentscheidungen, die uns diesem Ziel näher bringen können. Ob sie sich nach Abwägung aller Interessen und urheberrechtlichen Aspekte letztendlich als gangbarer und zielführender Weg erweisen, kann zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht endgültig festgestellt werden. René Röspel (SPD): Ein wesentliches Merkmal von Forschung ist der freie und stetige Austausch von Wissen und Erkenntnissen innerhalb der forschenden Gemeinschaft. Gemeinhin erfolgt dies neben der normalen Kommunikation und der Präsentation auf Kongressen über den Weg der wissenschaftlichen Veröffentlichung. Die allein ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Austausch und Erkenntnisgewinn innerhalb der Wissenschaft. Mindestens ebenso wichtig für den Erfolg von Wissenschaft ist der (ungehinderte) Zugang zu deren Ergebnissen. Insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung ist eine schnelle und ungehinderte Wissenskommunikation eine unabdingbare Voraussetzung für Innovation und Fortschritt. Die besondere Bedeutung eines möglichst freien Zugangs zu wissenschaftlicher Information wurde auch vonseiten der Europäischen Kommission unterstrichen und mehrfach aufgegriffen: So äußert sich die Kommission in ihrer Empfehlung zum Umgang mit geistigem Eigentum bei Wissenstransfertätigkeiten und für einen Praxiskodex für Hochschulen und andere öffentliche Forschungseinrichtungen vom 10. April 2008 wie folgt: Die Europäische Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, „die weite Verbreitung von Wissen, das mit öffentlichen Mitteln geschaffen wurde, zu fördern, indem Schritte für einen offenen Zugang zu Forschungsergebnissen angeregt werden, wobei gegebenenfalls der Schutz des betreffenden geistigen Eigentums zu ermöglichen ist“. Leider sieht sich dieser wünschenswerte Austausch in der Praxis der Wissenschaft konfrontiert mit zahlreichen Hindernissen: Insbesondere die Beschränkungen durch das Urheberrecht erschweren eine ungehinderte Wissensdiffusion in die Gesellschaft. Der unter dem Stichwort „Open Access“ firmierende Ansatz versucht, mittels eines freien Onlinezugangs zu wissenschaftlichen Erkenntnissen dieses Problem anzugehen. Dabei gilt es, vonseiten des Gesetzgebers einen Ausgleich zwischen dem Urheberrecht einerseits und dem legitimen Interesse von Wissenschaft und Gesellschaft an Teilhabe an wissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits zu schaffen. Wenn aber der Zugang zu Forschungsergebnissen, die das Resultat einer mehrheitlich durch öffentliche Mittel finanzierten Forschung sind, aufgrund urheberrechtlicher Beschränkungen von der Gesellschaft ein weiteres Mal „erkauft“ werden muss, ist das schlichtweg nicht hinnehmbar. Dies wird in weiten Teilen der wissenschaftlichen Community ebenfalls so gesehen. In der sogenannten Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen vom Oktober 2003 haben die großen Wissenschaftsorganisationen sich klar für Open Access ausgesprochen. Die Bundesrepublik Deutschland selbst unterstützt indirekt über ihren Finanzierungsbeitrag zum European Research Council, ERC, bereits eine Verfahrensweise, die auf einen freien Zugang zu Forschungsergebnissen setzt. Der ERC hat in seinen Richtlinien zum Open Access insbesondere festgehalten, dass Forschungsergebnisse, die mit ERC-Mitteln erzielt wurden, innerhalb von spätestens sechs Monaten öffentlich zugänglich gemacht werden müssen. Umso verwunderlicher ist es, dass die deutsche Bundesregierung auf nationaler Ebene in dieser Frage sehr zurückhaltend ist und immer noch keine Lösung präsentieren kann. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Open Access“. Allerdings stellen wir auch hier mit Verwunderung fest, dass das Problem zwar aufgegriffen wird, ein adäquater Lösungsansatz in Form eines konkreten Gesetzentwurfs jedoch nicht vorgelegt wurde. Vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion sind wir in diesem Punkt schon viel weiter: Mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, (Drucksache 17/5053) haben wir schon vor einem halben Jahr eine klare gesetzgeberische Handhabe für ein Zweitverwertungsrecht für Urheber von wissenschaftlichen Beiträgen vorgelegt, die vorwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden. Abgesehen von diesem Umstand und einer Reihe von Übereinstimmungen ergeben sich für uns als SPD-Fraktion auch noch einige Kritikpunkte inhaltlicher Art: Zwar stellt der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingereichte Antrag zu Recht fest, dass eine erfolgreiche Strategie im Bereich des Open Access sich nicht ausschließlich auf das Urheberrecht beschränken sollte, doch schießt das im Antrag vorgestellte Maßnahmenbündel in Teilen über das Ziel hinaus: Da wäre zunächst die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen genannte rechtliche Voraussetzung für ein Zweitverwertungsrecht. Bei grundsätzlicher Zustimmung halten wir diesen Punkt an einer Stelle für fragwürdig. Wir haben in unserem Gesetzentwurf – anders als im vorliegenden Antrag – festgeschrieben, dass ein Zweitverwertungsrecht nur für Forschungsergebnisse gelten solle, die zu mindestens 50 Prozent mit öffentlichen Mitteln gefördert bzw. finanziert wurden. Wenn mehr als die Hälfte der Kosten von öffentlicher Hand bereits getragen wurden, halten wir das für gerechtfertigt. Im Grünen-Antrag fehlt eine solche Grenze. Gilt das schon bei einem Anteil von 10 Prozent? Auch die undifferenzierte Publikationspflicht im Rahmen von Open Access, wie sie der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorsieht, würde insbesondere im Bereich der anwendungsorientierten Auftragsforschung aus der Industrie ein Anreizhemmnis für Kofinanzierung darstellen bzw. in vielen Fällen abschreckende Wirkung entfalten. Dass eine solche undifferenzierte Lösung weder im Interesse der Forschung noch der Gesellschaft als Ganzes ist, liegt auf der Hand. Eine Lösung mit Augenmaß muss demnach diesem Umstand Rechnung tragen. Als noch problematischer sehen wir, dass eine grundsätzliche Verpflichtung zur Publikation im Rahmen von Open Access in unseren Augen leicht mit dem Hinweis auf die in Art. 5 Abs. 3 der Verfassung geschützte Freiheit der Wissenschaft abgelehnt werden kann. So sieht auch das Bundesverfassungsgericht in seinen einschlägigen Entscheidungen zur Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 ein Abwehrrecht, welches nicht nur gegen jegliche staatliche Einwirkung auf den Prozess der Wissensgewinnung selbst schützt, sondern auch explizit die Vermittlung von wissenschaftlicher Erkenntnis mit einbezieht. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 umfasst somit auch die Rechte der Forschung Betreibenden hinsichtlich einer Publikation bzw. einer Unterlassung derselben. Folglich stellt nicht nur die Beschränkung der Möglichkeiten der wissenschaftlichen Publikation selbst, sondern auch die gesetzlich geregelte Verpflichtung zur Publikation nach unserer Auffassung eine Verletzung der verfassungsgemäßen Grundrechte der Wissenschaft dar. Man kann im Normalfall keinen Forscher oder keine Forscherin dazu verpflichten, ein Ergebnis zu veröffentlichen. In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass es vonseiten der Wissenschaft gute Gründe geben kann, von einer Publikation bestimmter Ergebnisse abzusehen. Dies wären zum Beispiel Forschungsergebnisse, welche in den Augen der Forschenden nicht bestimmte Qualitätsstandards erfüllen und folglich weder einen Beitrag zum allgemeinen Erkenntnisgewinn noch zum eigenen Ansehen in der Wissenschaft leisten. Einschränkend sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Ergebnisse klinischer Studien hier auszunehmen sind, da auch ein negatives Ergebnis den Erfolg bzw. Misserfolg einer Therapie oder Medikaments bestätigen kann. Mindestens ebenso bedeutsam sind mögliche ethische Bedenken, die Forschende davon abhalten könnten, ihre Ergebnisse publiziert zu sehen. Dabei gilt es, unter Würdigung des Einzelfalls die etwaigen Vorbehalte der Forschenden zu berücksichtigen. Nicht nur die Publikation von Forschungsergebnissen, sondern auch – wie im vorliegenden Antrag gefordert – die von Primärdaten bedürfen der inhaltlichen und gegebenenfalls ethischen Gewissensprüfung durch den Wissenschaftler selbst. Ein staatlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit in Form einer Publikationspflicht stellt im konkreten Einzelfall die individuelle Gewissensentscheidung der jeweiligen Wissenschaftler in Frage und wäre nach unserem Empfinden eine nicht nur unrechtmäßige, sondern auch ethisch nicht vertretbare Einschränkung der Wissenschaft. Zudem ist es vermessen, anzunehmen, dass eine grundsätzliche Verpflichtung zur Offenlegung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich im Interesse der Gesellschaft ist. Vielmehr kann eine Offenlegung jeglicher Resultate und Erkenntnisse von Forschung und Wissenschaft in einigen ausgewählten Fällen unabsehbare Gefahren für die Gesellschaft mit sich bringen. Vor diesem Hintergrund gilt in Anlehnung an Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“ der Grundsatz: Was einmal publiziert wurde, kann nicht wieder zurückgenommen werden. Nach unserem Ermessen ist eine uneingeschränkte Publikationspflicht im Rahmen von Open Access mindestens nicht immer im Interesse der Wissenschaft oder der Gesellschaft als Ganzes. Eine praktikable Lösung zur Auflösung dieses Verfassungskonfliktes könnte wie folgt aussehen: Die grundsätzliche Entscheidung zur Veröffentlichung sollte stets in der Entscheidung des Forschers oder der Forscherin liegen. Entscheidet sich dieser oder diese jedoch zur Veröffentlichung der Ergebnisse, könnte die angesprochene Verpflichtung zu Open Access wirksam werden. Abgesehen von den im Vorangegangen geäußerten Bedenken hinsichtlich einer uneingeschränkten Open-Access-Publikationspflicht, haben wir noch zu den im Antrag unter Punkt 3 „Benachteiligung von Open Access-Publikationen abbauen“ aufgeführten Punkten einige Anmerkungen zu machen: Da wäre zunächst die – durchaus wünschenswerte – Forderung, dass Open-Access-Publikationen nicht zu Benachteiligungen bei Berufungs- und Besetzungsverfahren führen dürfen. Die Antwort auf die Frage, wie dies sichergestellt werden kann, bleibt der Antrag jedoch schuldig. Gleiches gilt für die an dieser Stelle genannte Forderung, dass bei Antragsverfahren Veröffentlichungen ungeachtet der Publikationsart entsprechend der Qualität zu berücksichtigen sind. Hier sei die Frage angemerkt, wie die geforderte Qualität einer solchen Publikation sichergestellt werden kann. Auch hier sollte der Antrag eine schlüssige Lösung zur Qualitätssicherung von Open-Access-Ergebnissen im Rahmen einer Antragstellung geben. Denn nur wenn Open Access ein Mindestmaß an Qualität garantieren kann, wird es sich als erfolgversprechender Ansatz in der Wissenschaft durchsetzen. Abgesehen von den genannten Kritikpunkten begrüßen wir den Vorstoß der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Open Access“ und freuen uns auf eine weitere fruchtbare gemeinsame Diskussion, um Open Access weiter zu fördern. Manuel Höferlin (FDP): Als ich den Antrag der Grünen „Förderung von Open Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu den Resultaten öffentlich geförderter Forschung“ auf der Tagesordnung gesehen habe, habe ich mich zunächst darüber gefreut, denn Open Access ist in der Wissensgesellschaft eine neue und immer wichtigere Form für die Verbreitung von Informationen. Und: Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt Open-Access-Modelle in der Wissenschaftslandschaft ausdrücklich als Ergänzung zu herkömmlichen Verlagspublikationen. Doch bei genauer Lektüre Ihres Antrags bin ich einmal mehr zu dem Ergebnis gekommen, dass „gut gemeint“ und „gut gemacht“ bei den Grünen – wie so oft – weit auseinander liegen. Mehr noch: Mittlerweile bezweifle ich ernsthaft, ob Sie – liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen – es mit diesem Antrag wirklich gut mit der Wissensgesellschaft und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland meinen. So stellen Sie in Ihrem Antrag zahlreiche Forderungen auf, die aus meiner Sicht weit über das Ziel hinausschießen. Ihre Regelungen greifen in das Recht auf Freiheit von Wissenschaft und Forschung ein, indem Sie den Wissenschaftlern, deren Forschung aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, vorschreiben wollen, wie sie ihre Ergebnisse veröffentlichen sollen. Ein Wissenschaftler sollte das selbst entscheiden dürfen! Darüber hinaus ist Ihr Verhalten an dieser Stelle schädlich für die Forschung. Bereits jetzt wird eine Vielzahl von Forschungsprojekten von der Wirtschaft mitfinanziert. Diese legt oft gesteigerten Wert darauf, dass Zweitveröffentlichungsrechte vertraglich zunächst zurückgestellt werden. Ihre Politik der zwangsweisen Veröffentlichung von Forschungsergebnissen bei staatlicher Beteiligung untergräbt diese bewährte Praxis. Oder glauben Sie, dass Ihre Politik Universitäten bei der Drittmittelakquise hilft? Ich habe an dieser Stelle enorme Bedenken. Auch sind Ihre Vorschläge im Bezug auf das Urheberrecht wenig brauchbar. Das von Ihnen geforderte unabdingbare Zweitveröffentlichungsrecht lehne ich ab. Sie greifen damit zu tief in die Vertragsfreiheit von Autoren und Verlagen ein. Diese sollten selbst entscheiden können, wie sie ihre Zweitveröffentlichungsrechte wahrnehmen wollen. Ein tragfähiges Open-Access-Modell birgt aus unserer Sicht große Potenziale in sich. Und es zeigt sich auch schon jetzt, dass immer mehr Verlage und Wissenschaftler bereit sind, ihr Wissen auf der Basis von Open Access zu verbreiten. Sie selbst beschreiben dies ja in Ihrer Antragsbegründung! Warum nun an genau dieser Stelle reguliert werden soll, ist für mich nicht nachvollziehbar, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie gefährden damit das erfolgreiche Wachstum von Open Access aus eigener Kraft mit einem untauglichen Versuch staatlicher Kontrolle. Sicherlich ist das Zweitveröffentlichungsrecht für den Fundus von Open-Access-Publikationen auch hilfreich. Aber noch einmal: Eine gesetzliche Verpflichtung dazu ist der falsche Weg. Jeder Wissenschaftszweig wird sich beim Bereich Open Access unterschiedlich entwickeln. Und Wissenschaftler sollten selbst festlegen können, ob sie mehr an der Verbreitung ihrer Werke oder an einer vertraglichen Bindung mit einem Verlag interessiert sind. Das Renommee eines Wissenschaftlers kann man nicht gesetzlich verordnen. Es ist bedingt durch Qualität und durch Verbreitung. Diese Balance soll der Wissenschaftler selbst herstellen können! Ich vertraue fest da-rauf, dass sich die Vorteile von Open Access ohne Ihre künstlichen Konstruktionen durchsetzen werden. Und zuletzt: Mit Ihren in der Antragsbegründung genannten Vorstellungen einer Veröffentlichungsgebühr für die Publikationsorgane schädigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die Wissenschaftler, deren Institute und die Zeitschriften. Mehr noch: Sie kehren die Publikation von wissenschaftlichen Texten ins Absurde, indem Sie den Autoren bzw. deren Einrichtungen für ihre Mühen auch noch Gebühren abverlangen. Die derzeit in Deutschland hohe Publikationsfreudigkeit wissenschaftlicher Autoren werden Sie mit diesem Vorschlag wohl kaum fördern. Der Antrag der Grünen ist aus urheberrechtlicher Sicht und aus Gründen der Freiheit von Wissenschaft und Forschung keine Hilfe. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wären gut beraten, diesen Antrag zurückzuziehen, denn der Sache Open Access erweisen Sie damit einen Bärendienst. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Open Access, also das digitale wissenschaftliche Publizieren ohne finanzielle, rechtliche oder technische Schranke für die Nutzerschaft, findet berechtigterweise immer mehr Unterstützung. Gestern veröffentlichte die Historikerin Wenke Richter im offiziellen Blog der Frankfurter Buchmesse einen Artikel mit der Überschrift „Liebe Fachverlage, passt auf Eure Autoren auf!“. Darin schreibt sie über die wachsende Zahl von studentischen Open-Access-Zeitschriften in Deutschland, die mithilfe einer guten Mischung aus Engagement, moderner Technik und traditionellem Peer Review eine erstaunliche Reichweite für qualitativ hochwertige Forschung bei Studierenden erreichen. Diese Zeitschriften laufen auf gängigen Contentsystemen, vermitteln meist, durch Open-Source-Software, Metadaten zu den Publikationen an Bibliothekskataloge und sind so weltweit abrufbar. Hier wächst eine wissenschaftliche Generation heran, die sich offenbar nicht mehr an die hierarchischen Publikationswege alter Zeiten hält und dabei höchst erfolgreich ist. Bereits 2009 initiierte der Diplom-Chemiker und Wissenschaftsjournalist Lars Fischer eine Petition an den Bundestag, die den kostenfreien Zugang für alle zu öffentlich geförderter Forschung forderte. Diese Petition wurde von annähernd 24 000 Mitunterzeichnern unterstützt, darunter waren unzählige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wer, wie beispielsweise der Heidelberger Germanist Roland Reuß, behauptet, Open Access sei eine Entmündigung der Wissenschaft durch „die Politik“ und die großen Forschungsförderungseinrichtungen wie die DFG, übersieht also offensichtlich, wie stark Open Access aus den Reihen der Akademikerinnen und Akademiker selbst gefordert wird! Auch ein zweites Argument der deutschen Open-Access-Gegner zeigt sich als nicht tragfähig. Sie fürchten eine massenweise Flucht heller Köpfe aus Deutschland, wenn hierzulande verstärkt auf Open-Access-Publikationen gesetzt würde. Aber das Land der Eliteuniversitäten, die USA, setzt nicht nur bei der Drittmittelförderung auf Open Access. Die Unis in Harvard und seit vergangener Woche auch Princeton verpflichten ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler per Arbeitsvertrag dazu, die eigenen Publikationen auf den Uni-Servern, ohne Sperrfristen, frei verfügbar zu machen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften verfährt ähnlich. Auch wenn in diesen Fällen Ausnahmen von dieser Regelung möglich sind, das Signal ist klar: Die Zukunft wissenschaftlichen Publizierens liegt bei Open-Access-Modellen. Neben unzähligen Einzelpersonen, Interessengruppen und den Wissenschaftsorganisationen sieht das bekanntermaßen auch der Bundesrat so. Die eben erwähnte Petition ist im Juli dieses Jahres offiziell an das Justizministerium weitergleitet worden, da sie – Zitat aus dem Ausschussprotokoll – geeignet scheint, in die Vorarbeit eines entsprechenden Gesetzentwurfs einbezogen zu werden. Nachdem SPD und Linke bereits dieses Frühjahr Vorstöße in den Bundestag eingebracht haben, die darauf abzielen, die rechtlichen Grundlagen des Zweitverwertungsrechts zum Wohle von Open Access zu erneuern, kann nun die Fraktion von Bündnis 90/Grüne für sich in Anspruch nehmen, einen umfassenden Antrag zur Förderung von Open Access eingebracht zu haben. Einzig die Bundesregierung kommt bei diesem Thema offenbar nicht voran. Die Linke stimmt dem vorliegenden Antrag grundsätzlich zu, dass ein Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Beiträge gebraucht wird. Allerdings reicht es uns – wie in unserem Antrag hierzu vom April zu lesen ist – nicht aus, dieses Recht auf Beiträge aus Sammelwerken und Periodika zu beschränken. Das Zweitveröffentlichungsrecht muss auch für Monografien gelten. Weiter fordern wir, dass eine Sperrfrist für die Zweitveröffentlichung maximal sechs Monate betragen darf. Dies ermöglicht weiter eine exklusive und unfreie Erstveröffentlichung, ohne diese unnötig zu privilegieren. Obwohl der vorliegende Antrag sich auch dafür ausspricht, den goldenen Weg bei Open Access zu fördern, also die freie und nichtexklusive Erstveröffentlichung von Forschungspublikationen, bleiben die vorgeschlagenen Maßnahmen hinter diesem Anspruch zurück. Publikationen, die im Rahmen öffentlich geförderter Projekte oder in den Ressortforschungseinrichtungen des Bundes entstanden sind, sollen nach dem vorliegenden Antrag „spätestens zwölf Monate nach Erstveröffentlichung“ frei verfügbar sein. Wieder fehlt es hier an einem Regelungsvorschlag für Monografien. Weiter bleiben bei den Grünen einige Fragen unzureichend beantwortet: Wieso beschränkt sich der Antrag auf öffentlich geförderte Drittmittelprojekte? Warum sollen selbst die Ergebnisse der Ressortforschung des Bundes zunächst unfrei publiziert werden? Wieso wird nicht für jegliche Art öffentlich geförderter Forschung der freie Zugang zu den Ergebnissen zur Regel? Die Antwort ist vordergründig einfach: Weil in Deutschland Wissenschaftsfreiheit so ausgelegt wird, dass es den Forscherinnen und Forschern überlassen bleibt, wie sie ihre mit Steuermitteln finanzierten Erkenntnisse verbreiten. Sicher, eine Umsetzung der vorliegenden Vorschläge wäre ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Lage, aber wie gesagt: Princeton und Harvard machen vor, dass es auch andersherum geht – in einem Land, in dem die individuelle Freiheit besonders hoch eingeschätzt wird. Die Linke teilt den Ansatz der US-amerikanischen Universitäten: Wissenschaftliche Publikationen sollen in der Regel sofort frei publiziert werden, die Exklusivität bleibt die Ausnahme. Dabei ist zu beachten: Im Moment sind es vor allem Fachverlage, die das entsprechende Know-how haben, Publikationen sofort frei zur Verfügung zu stellen. Neben dieser kommerziellen Variante will die Linke die Eigenpublikation durch Forschungseinrichtungen und Forschungsverbünde stärken. Die Linke stellt sich den Herausforderungen, Open Access nicht nur auf dem grünen Weg voranzubringen, und wird demnächst eine eigene Initiative einbringen, die einen goldenen Weg zu mehr Open Access aufzeigt. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Keine Herrschaft des Volkes ohne gleichberechtigten Zugang zum Wissen. Wissen ist die Grundlage für informierte Entscheidungen freier Bürger, für ein demokratisches Miteinander und für mehr Pluralismus. Geteiltes Wissen ist ohne Weiteres vielfaches Wissen. Daher fordern wir, gemeinsam mit einem inzwischen breiten Bündnis von Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisationen, die Öffnung der Zugangsmöglichkeiten zu Wissen und Information, zu Forschungsvorhaben, daten und ergebnissen. Open Access, also der dauerhafte und für Nutzerinnen und Nutzer kostenfreie Zugang zu öffentlich geförderter Forschung, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Denn wie sollen wir nachkommenden Generationen erklären, warum der Staat und seine Institutionen die Forschung mit Steuergeldern fördern, die Publikationskosten tragen und die Zeitschriften am Ende dennoch für viel Geld zurückkaufen müssen? Die Situation ist inzwischen ganz besonders prekär bei Bibliotheken und anderen öffentlichen Institutionen. Aufgrund der Monopolstellung großer Fachverlage bei der Verbreitung von Forschungsergebnissen fehlt ein Korrektiv bei der Preisentwicklung. In der Konsequenz lässt sich bis heute ein kontinuierlicher Anstieg der Zeitschriftenpreise feststellen. Als Reaktion darauf sehen sich Bibliotheken und auch Hochschulen gezwungen, ihr Zeitschriftenangebot einzuschränken, um die Kosten für die wichtigsten Publikationen zu stemmen. Auf diese Weise ist Vielfalt in der Wissenschaft oftmals schlicht nicht mehr leistbar. Der Kostenanstieg bei den Zeitschriften bleibt nicht nachvollziehbar, weil Gutachterinnen und Gutachter größtenteils ehrenamtlich arbeiten, Autorinnen und Autoren ihre Beiträge in fast druckfähigem Format einreichen und mancherorts sogar Publikationsgebühren von den Autorinnen und Autoren getragen werden müssen. Die Privatisierung von Wissen ist kontraproduktiv. Wissen kann sich nicht entfalten, wenn Art und Umfang der Weiterverbreitung letztlich allein auf kommerziellen Mechanismen beruhen und der Zugang lediglich kleinste Wissenschaftszirkel privilegiert. Daher unterstützen wir die Open-Access-Bewegung aus vollem Herzen und freuen uns darüber, dass unsere Initiativen so großen Widerhall erleben. Umso erstaunlicher ist es, wie lange die Bundesregierung zögert, die entscheidenden Schritte zu gehen. Seit langem angekündigt, bleibt sie bis heute der deutschen Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungswelt die Reform des Urhebergesetzes, den Dritten Korb, der ausdrücklich als sogenannter Wissenschafts- und Bildungskorb angekündigt wurde, schuldig. Dabei sind gerade urheberrechtliche Privilegien für Bildung und Wissenschaft angebracht, fördert doch der Zugang zu Wissen und Information den wissenschaftlichen Diskurs, die Entwicklung von Innovationen sowie die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt. Es wird Zeit, dass auch die Bundesregierung die großen Chancen von Digitalisierung und Internet erkennt und endlich tätig wird. Als Oppositionsfraktion gehen wir – einmal mehr – mit unserem Antrag mit gutem Beispiel voran und zeigen Ihnen, wie eine Reform aussehen könnte. Ein wichtiger Schlüssel – da scheinen sich bezeichnenderweise alle Parteien einig – ist das unabdingbare Recht zur Zweitveröffentlichung für wissenschaftliche Autorinnen und Autoren im Format der Erstveröffentlichung. Es darf nicht sein, dass Autorinnen und Autoren dahin gehend erpressbar sind, dass sie sich auf sämtliche Bedingungen des Verlagsvertrages einlassen müssen, wenn sie ihre Beiträge einem Verlag zur Verfügung stellen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf hohe Sichtbarkeit Wert legen und an einem Diskurs zu ihren Werken bzw. Forschungsergebnissen interessiert sind, müssen in die Lage versetzt werden, diese Werke auch an anderer Stelle zu veröffentlichen. Die Zweitveröffentlichung auf der eigenen Homepage oder in einem Open-Access-Journal dient dabei nicht zuletzt auch dem erstveröffentlichenden Verlag, der ebenfalls von der erhöhten Sichtbarkeit der Beiträge profitiert. Um nicht unnötige Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Frage, wo und in welchem Rahmen eine Zweitveröffentlichung erfolgen soll, hervorzurufen, bietet es sich an, auch eine Veröffentlichung zu kommerziellen Zwecken zu erfassen. Wir haben uns für die kommerzielle Zweitveröffentlichungsmöglichkeit entschieden, weil wir der Überzeugung sind, dass nur auf diese Weise auch neue Geschäftsmodelle gefördert werden können, die es vermögen, auf innovative Art und Weise Weiterverarbeitungen entsprechender Inhalte zu ermöglichen. Damit einhergehen könnten zusätzliche Verbesserungen bei der Zugänglichmachung des öffentlich geförderten Wissens. Der dauerhafte und entgeltfreie Zugang zu Forschungsergebnissen wird aber – das hat die SPD offenbar missverstanden – nicht allein durch ein Zweitverwertungsrecht gewährleistet. Open Access braucht rechtliche Rahmenbedingungen im Urhebergesetz, in den Vergaberichtlinien, für die Übernahme der Publikationskosten und im Aufbau einer Open-Access-Infrastruktur. Ein wesentlicher Schritt zur Förderung von Open Access ist nämlich auch die rechtliche Unterstützung digitaler Erstveröffentlichungen unter Open-Access-Bedingungen. Öffentliche Forschung muss vor Monopolisierungen durch Private geschützt und der dauerhafte Zugang zu Wissen gesichert werden; die Ergebnisse öffentlicher Forschung müssen wieder- und weiterverwendet werden dürfen. Öffentliche Forschungsgelder sollten daher dann vergeben werden, wenn die Open-Access-Veröffentlichung garantiert ist. Open Access sollte also maßgebliche Bedingung für die Vergabe öffentlicher Gelder sein. So kann sichergestellt sein, dass der Staat nicht mehrfach, sowohl bei Entstehung wissenschaftlicher Beiträge als auch bei deren Nutzung, zahlt. Open Access hat das Ziel, für Nutzerinnen und Nutzer gebührenfrei zu sein. Allerdings entstehen auch bei Open Access Kosten. Daher schlagen wir vor, dass Publikationsgebühren durch einen Publikationsfonds übernommen werden sollen. Anteile dieses Fonds können private und öffentliche Institutionen, Drittmittelfinanziers oder auch Forschungseinrichtungen halten. Für die verbesserte globale Sichtbarkeit deutscher Forschung ist außerdem erforderlich, dass wir den Aufbau einer Open-Access-Infrastruktur, wozu Repositorien, Lehr- und Lernplattformen, Datenbanken, vernetzte Open-Access-Journals etc. gehören, nachdrücklich unterstützen. Hier braucht es einheitliche Formate und operable Schnittstellen, um Wissen adäquat zu verbreiten und den Wissenschaftsdiskurs effektiv zu befördern. Schließlich erwarten wir von der Bundesregierung eine Evaluation zu den bislang unternommenen Anstrengungen zur Förderung von Open Access. Die Fragen, die im Rahmen einer solchen unabhängigen Evaluation beleuchtet werden sollten, sind unter anderem folgende: Wie stehen wir international im Vergleich zu Frankreich und dessen nationaler Open-Access-Initiative? Wie stehen wir im Vergleich zu den USA und ihren parlamentarischen Open-Access-Initiativen? Wird Deutschland mit einer Open-Access-Gesamtstrategie der vorgeschlagenen Art Vorbild für europäische Bemühungen um einheitliche Open-Access-Standards sein können? Diese Fragen müssen ehrlich beantwortet werden, da wir uns auf dem Feld der Digitalisierung und des Internets in einem Gebiet großer Dynamik bewegen und die Chancen ergreifen sollten, die sich daraus ergeben. Hier hätte die Bundesregierung einmal die Gelegenheit, sich fortschrittlich zu zeigen. Mit ihrer zögerlichen Art, grundlegende Reformen des Urheberrechts zu ergreifen, lässt sie bewusst diese Chance verstreichen. Open Access sollte ein Schritt hin zum Aufbau einer umfassenden Wissensallmende sein, von der noch unsere Nachkommen zehren können, weil der Staat sich in der Forschungsförderung nachhaltig engagiert hat. Wissen ist heute ein ganz entscheidender Faktor zur Förderung von Demokratie, Pluralismus und gesellschaftlichem Wohlstand. Das muss auch die Bundesregierung langsam erkennen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7031 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen (KfiHG) – Drucksache 17/2163 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Das deutsche Recht und die deutsche Justiz genießen international hohe Achtung. Abstraktionsgrad und systematische Stringenz des deutschen Rechtssystems sowie die Effizienz, die Leistungsfähigkeit und die verhältnismäßig niedrigen Gerichtskosten sind weltweit anerkannt. Deutsches Recht dient daher als Vorbild für Reformen in anderen Staaten, insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern. „Made in Germany“ als Gütesiegel steht weltweit nicht nur für beste Qualität aus Deutschland im Bereich der Automobil- und Maschinenbauindustrie. Auch Recht „Made in Germany“ ist ein Exportschlager. Dennoch steht das deutsche Recht in einem harten internationalen Wettbewerb. Gerade bei Verträgen oder Rechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug wird oftmals nicht die Geltung des deutschen Rechts, nicht Deutschland als Gerichtsstandort vereinbart. Die Gründe sind vielfältig. Sie wurzeln zum Teil im materiellen Recht, zum Teil im Verfahrensrecht. Da Recht aber durchaus auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor ist, haben sich die Bundesnotarkammer, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, der Deutsche Notarverein sowie der Deutsche Richterbund zu der Initiative „Law – Made in Germany“ zusammengeschlossen: Ziel ist es, für den Rechtsstandort Deutschland zu werben und ihn attraktiver auszugestalten. In diesem Zusammenhang ist die heute zur Beratung anstehende, von den Ländern Hamburg und Nordrhein-Westfalen eingebrachte Bundesratsinitiative zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen zu sehen. Worum geht es? Nach dem Bundesrat leidet der Gerichtsstandort Deutschland darunter, dass § 184 Gerichtsverfassungsgesetz allein Deutsch als Gerichtssprache zulässt. Dies soll nach Analyse des Bundesrates ausländische, vor allem englischsprachige Vertragspartner und Prozessparteien davor abschrecken, vor einem deutschen Gericht zu verhandeln: Ein Prozess mit einer fremden, nur im Wege der Übersetzung indirekt verständlichen Sprache sei für ausländische Unternehmen unattraktiv. Im Ergebnis würde das deutsche Recht trotz all seiner Vorzüge kaum gewählt und bedeutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten im englischsprachigen Ausland ausgetragen. Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht nun vor, im Gerichtsverfassungsgesetz die Möglichkeit zu verankern, bei den Landgerichten Kammern für internationale Handelssachen einzurichten, vor denen das Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen – Handelssache mit internationalem Bezug und übereinstimmender Wille der Parteien – in englischer Sprache geführt wird. Im Rahmen des Verfahrens sollen auch das Protokoll und die Entscheidungen des Gerichts in englischer Sprache abgefasst werden. Wie ist dieser Vorstoß nun zu bewerten? Richtig ist zunächst, dass eine fremde Sprache tatsächlich eine Barriere sein kann, die bei der Wahl des Gerichtsstandortes – zumindest psychologisch – eine Rolle spielen kann. Die Möglichkeit der Verfahrensführung in englischer Sprache könnte daher in der Tat zu einer Stärkung des Rechtsstandorts Deutschland führen. Bei internationalen Rechtsstreitigkeiten sind die zugrunde liegenden Verträge und die Kommunikationen zwischen den Parteien zudem in aller Regel ebenfalls in Englisch. Wenn hier eine Kongruenz zwischen der Vertragssprache und der Sprache des gerichtlichen Verfahrens hergestellt wird, kann dies zu einer größeren Rechtssicherheit führen. Auch Kosten für Übersetzungen oder Dolmetscher würden verringert werden. Es gibt also durchaus gute Argumente für diese Bundesratsinitiative. Wahr ist aber auch, dass mit der Prozessführung in englischer Sprache eine gewisse Einschränkung der Gerichtsöffentlichkeit einhergeht. Nun mag es so sein, dass zwar die Verfahrensbeteiligten, die Rechtsanwälte und auch die Richter über gute Englischkenntnisse verfügen. Auch hier müssen wir allerdings genau hinschauen, ob die erforderlichen Sprachkompetenzen wirklich in ausreichendem Maß vorhanden sind oder ob nicht zusätzliche Ausbildung mit den entsprechenden Kosten notwendig ist. Selbst deutsche Juristen mit sehr gutem englischen Fachvokabular werden auf Anhieb nur mit Mühe einen „Kostenfestsetzungsbeschluss“, die „Drittwiderspruchsklage“, die „Haupt- oder Nebenintervention“, die „streitgenössische Nebenintervention“ oder den Begriff „Schriftsatznachlassfrist“ übersetzen können. Aber selbst wenn dies dahingestellt sei, so können wir jedenfalls nicht davon ausgehen, dass jeder Prozesszuschauer einem Prozess mit komplizierten juristischen Fachtermini in Englisch folgen kann. Wenn das aber so ist, ist dies zwar vielleicht nicht verfassungsrechtlich, aber doch rechtspolitisch durchaus fragwürdig. Ich verkenne nicht, dass das Bundesverfassungsgericht betont hat: „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt.“ Dennoch – die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung wurzelt im Demokratieprinzip und ist daher tragender Grundsatz unseres Prozessrechts – gilt: Einschränkungen bedürfen besonderer Rechtfertigung. Zu bedenken ist auch, dass die Rechtssprache integraler Bestandteil unserer in Deutschland gewachsenen Rechtskultur ist. Beides hat sich zusammen entwickelt, ist aufeinander bezogen. Rechtssprache und materielles Recht sind also auf das Engste miteinander verschränkt. Das bedeutet umgekehrt, dass es zu Unsicherheiten bei der Anwendung des materiellen oder auch prozessualen Rechts kommen kann, wenn in einem Prozess in englischer Sprache deutsches, also in deutscher Sprache abgefasstes Recht angewendet wird. Schließlich muss auch gefragt werden, ob für englischsprachige Kammern für internationale Handelssachen ein wirklicher Bedarf besteht. Am OLG Köln gibt es seit dem 1. Januar 2010 das Modellprojekt „Englisch als Gerichtssprache“. Die Überlegungen zu diesem Modellprojekt waren die gleichen, wie sie hier vom Bundesrat angeführt werden. Für das Modellprojekt haben die Landgerichte Köln, Aachen und Bonn je eine Kammer sowie das Oberlandesgericht Köln einen Senat eingerichtet, vor denen Zivilprozessparteien unter bestimmten Voraussetzungen in englischer Sprache verhandeln können. Nach gut eineinhalb Jahren gab es in diesem Modellprojekt sage und schreibe einen einzigen Fall – nämlich am Landgericht Bonn –, in dem die Parteien tatsächlich in Englisch verhandeln wollten. Das Berufungsverfahren am Oberlandesgericht Köln wurde hingegen wieder in deutscher Sprache durchgeführt. Auch diesen Umstand muss man bewerten. Als Fazit möchte ich daher nach allem festhalten: Grundsätzlich sollten wir uns der fakultativen Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen nicht a priori verschließen – es gibt eine Reihe von guten Argumenten, die hierfür sprechen, die dafür sprechen, dass Deutschland als Rechtsstandort gestärkt und sich daraus positive volkswirtschaftliche Effekte ergeben würden. Allerdings gibt es aus meiner Sicht noch einige Fragezeichen: Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung darf nicht eingeschränkt, Rechtsunsicherheiten durch das Auseinanderfallen von Prozesssprache und Sprache des materiellen Rechts müssen vermieden und der tatsächliche Bedarf muss ermittelt werden. Diese Fragen werden wir im parlamentarischen Verfahren ergebnisoffen beraten, prüfen und abwägen. Für ein endgültiges Votum ist es an dieser Stelle daher noch zu früh. Burkhard Lischka (SPD): Das vorgeschlagene Gesetz will erreichen, dass bedeutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten künftig an deutschen Landgerichten ausgetragen werden. Deshalb sollen dort Kammern für internationale Handelssachen eingerichtet werden. Dort sollen die Prozesse in englischer Sprache geführt werden. Das bedeutet: Die mündliche Verhandlung wird auf Englisch geführt und auch Schriftsätze, Protokolle und Gerichtsentscheidungen sollen in englischer Sprache abgefasst sein. Lediglich der Tenor von Entscheidungen soll auch in die deutsche Sprache übersetzt werden. Ich weiß, dass der Deutsche Anwaltverein ein Unterstützer dieser Idee ist. Der Ausschuss für internationalen Rechtsverkehr erhofft sich einen größeren Anteil an internationalen Rechtsstreitigkeiten für deutsche Dienstleister. Ich weiß aber auch, dass die nicht ganz so großen Anwaltskanzleien nicht begeistert sind. Die Rechtsanwaltskammer Stuttgart hat mehr für diese Berufsgruppe gesprochen und den Entwurf als verfehlt bezeichnet. Nun machen wir das Recht ja nicht nur für die Anwälte, auch wenn wir uns freuen, wenn es ihnen gut geht. Das Recht, auch das Prozessrecht, ist für die Bürger und für die Unternehmen da. Und deshalb ist meine erste Frage: Wollen die betroffenen Unternehmen überhaupt ihre internationalen Handelsstreitigkeiten vor deutschen staatlichen Gerichten austragen? Fakt ist doch, dass „die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit die ordentlichen Gerichte im Bereich der grenzüberschreitenden Streitschlichtung weitgehend verdrängt hat“. So heißt es in dem im Gesetzentwurf zitierten Beitrag von Professor Gralf-Peter Calliess und Hermann Hoffmann. Ja, das ist so. Aber warum freuen wir uns nicht darüber? In allen anderen Bereichen fördern wir die außergerichtliche Streitbeilegung. „Schlichten statt Richten“ heißt das Motto bei kleineren Streitwerten und Nachbarschaftsstreitigkeiten. Dort sind wir teilweise sehr weit gegangen und schreiben dem einfachen Bürger den Gang zur Schlichtungsstelle vor, bevor er sich an das staatliche Gericht wenden darf. Wir haben auch die Mediation entdeckt und freuen uns, wenn die Menschen einen guten Interessenausgleich selbst vereinbaren können. Wenn aber große Unternehmen ihre Streitigkeiten privat schlichten, wollen wir den privaten Schiedsgerichten offenbar Konkurrenz machen. Wozu? Gibt es einen Schrei der Wirtschaft nach der staatlichen Gerichtsbarkeit? Gibt es Beschwerden von großen Unternehmen, weil sie zu privaten Schiedsgerichten gezwungen werden? Mir wäre das nicht bekannt. Ich vermute, dass dafür kein echter Bedarf besteht. Denn die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit hat einige Vorteile, die die staatlichen Gerichte so nicht bieten können und auch nicht unbedingt bieten wollen. Ich will sie nur kurz aufzählen: Die Beteiligten können sich das anwendbare materielle Recht aussuchen und sich auch auf private Regelwerke verständigen. Die Beteiligten können sich ihre Schiedsrichter aussuchen. Sie können sich darüber verständigen, ob sie einen oder mehrere Schiedsrichter brauchen. Sie können den Ort des Schiedsverfahrens bestimmen. Das Schiedsverfahren geht schnell. Es gibt nur eine Instanz. Die Verfahren sind nicht öffentlich und damit diskret. Alles das können die staatlichen Gerichte entweder gar nicht oder nicht vollständig oder nur mit erheblichem Aufwand bieten. Warum sollten wir diesen Aufwand betreiben, obwohl die Dienstleistung gar nicht benötigt wird? Aber unterstellt, es wäre für unsere Unternehmen ein Vorteil, wenn sich internationale Vertragspartner in Zukunft vermehrt auf deutsches Recht oder zumindest auf den Gerichtsstandort Deutschland verständigen würden – was wäre der Preis dafür, dass uns das überhaupt gelingen könnte? Ich sage, das wird teuer. Wer eine echte Konkurrenz zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit aufbauen will, der muss dies konsequent, exzellent, langfristig und verlässlich tun. Das ist harte Arbeit. Zur Konsequenz würde zum Beispiel gehören, dass der Instanzenzug durchgängig bis zum Bundesgerichtshof in englischer Sprache durchgezogen werden kann. Der Entwurf möchte für den BGH nur als Kannbestimmung die englische Verhandlungsführung ermöglichen. Das wäre ein merkwürdiger Bruch im Angebot. Mit ein paar guten internationalen Handelskammern an einigen Landgerichten und entsprechenden Senaten bei den Oberlandesgerichten wäre es ebenfalls nicht getan. Diese Spruchkörper müssten personell so gut ausgestattet sein, dass sie wirklich alle Verfahren schnell erledigen können. Es müssten genügend Richterinnen und Richter beschäftigt werden, die sich dieser Aufgabe widmen, und sie müssten nicht nur sprachlich gewandt sein, sondern auch ständig fachlich qualifiziert werden. Es stimmt zwar, dass sich international agierende Vertragspartner heute schon auf irgendein anzuwendendes nationales Recht verständigen können. Das sagt die europäische Rom-I-Verordnung. Das vereinbarte Recht muss dann von den Richtern in den europäischen Mitgliedstaaten angewandt werden – eine enorme fachliche Herausforderung für die nationalen Gerichte. Wie gesagt, das ist heute schon so. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund aber ganz gut, dass die Fallzahlen vor den Kammern für Handelssachen seit Jahren sinken, sodass keine Überforderung stattfindet. Ich halte es aber für insgesamt sehr kühn, wenn die Bundesländer diese Verfahren gezielt und in großen Fallzahlen an unsere Gerichte ziehen wollen. Wäre es nicht wichtiger, dass wir für den ganz normalen Bürger, für unseren Mittelstand und unsere Handwerksbetriebe schnellere Gerichtsverfahren gewährleisten könnten und hierfür die Richterkapazitäten verstärken würden? Die Beschwerden über die langen Verfahrensdauern kennen wir alle. Fazit: Meine Skepsis ist da. Wir werden aber alle Argumente wägen und sicher auch berücksichtigen, dass die Länder ja nur eine Experimentierklausel wollen. Vielleicht sollten wir sie am Experimentieren nicht hindern. Ich freue mich jedenfalls auf weiterführende und interessante Beratungen. Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heute über einen vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen. Lassen Sie mich kurz einführen, warum ich es als wichtig erachte, diesen Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren. In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir dem Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene. Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zu anderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in der internationalen Geschäftswelt ist das angelsächsische Recht auf dem Vormarsch. Das liegt nicht an der Überlegenheit des Common Law. Vielmehr herrscht in der juristischen Fachwelt die Auffassung vor, dass das deutsche Recht im internationalen Vergleich einen sehr hohen Qualitätsstandard für sich beanspruchen kann. Dieser hohe Qualitätsstandard setzt sich in der Rechtspflege fort; deutsche Gerichtsverfahren führen in der Regel schnell und mit vergleichsweise niedrigen Kosten zu einem für die Rechtsuchenden befriedigenden Ergebnis. Somit eignen sich nicht nur unsere Waren als Exportschlager. Auch unser Rechtssystem könnte einer werden. Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum Common Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Unser Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbewerbsnachteils attraktiver werden. Der angelsächsische Rechtskreis spielt bislang den Vorteil der englischen Sprache als internationale Handelssprache voll aus. Unternehmen weichen häufig auf englischsprachige Gerichtsstände aus oder vereinbaren Schiedsklauseln unter Verwendung der Verfahrenssprache Englisch, weil Englisch meist allen Beteiligten geläufig ist. Die Einführung von Kammern für internationale Handelssachen, in denen Englisch als Gerichtssprache zugelassen werden soll, kann dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rechts international erheblich zu verbessern und die Ausweichbewegungen abzumildern. Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchen Ansatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesgerichtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln, Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungsplänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englisch verhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf § 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägers und des Beklagten die Verhandlung in englischer Sprache geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher verzichten und der Prozess einen internationalen Bezug aufweist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft in Köln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vielen internationalen Unternehmen ist, nur so attraktiv bleiben kann. Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nur erreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in englischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dass auch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigt werden können. Damit kann die Sprachbarriere des deutschen Rechts für internationale Unternehmen weiter abgebaut werden. Um dieses Vorhaben zu prüfen und weiterentwickeln zu können, wird der Rechtsausschuss zu diesem Gesetzentwurf im November eine öffentliche Anhörung durchführen. Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritiker eingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschen Sprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum, unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Es geht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für den internationalen Handelsverkehr, die das Einverständnis aller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ich meine, niemand etwas haben. Jens Petermann (DIE LINKE): Das vorliegende Gesetzesvorhaben soll dem Ansehen des Gerichtsstandortes Deutschland dienen und bedeutende wirtschaftsrechtliche Verfahren anziehen. Das will man durch die Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen bei den Landgerichten erreichen, die ihre Verhandlung in englischer Sprache führen sollen. Die nächsthöhere Instanz darf dann in englischer oder deutscher Sprache verhandeln und gegebenenfalls einen Dolmetscher hinzuziehen. Man argumentiert, dass der Gerichtsstandort Deutschland unter der ausschließlichen Verwendung der deutschen Sprache leide – eine Behauptung, die angesichts der schlechten Personallage an deutschen Gerichten an der Realität vorbeigeht. Der Gerichtsstandort Deutschland leidet nämlich nicht unter der Gerichtssprache, welche aus gutem Grund Deutsch ist, sondern unter einer quantitativen und finanziellen Unterausstattung der Gerichte und Justizbehörden – ein Umstand, der aufgrund der gleichzeitig sehr angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt für Juristen und Juristinnen gleich doppelt schmerzlich ist. Die Behauptung, zahlreiche Richterinnen und Richter würden die englische juristische Fachsprache bereits hervorragend beherrschen, halte ich für fraglich. Jedenfalls trifft es nicht zu, dass mittlerweile eine Vielzahl von Richtern über Auslandserfahrung im englischsprachigen Ausland und über einen LL.M-Titel verfügen. Das sind wohl eher die Ausnahmen. Der Gesetzentwurf selbst räumt die Notwendigkeit ergänzender Fortbildungen der Richterinnen und Richter sowie auch des nicht-richterlichen Personals ein, die im Falle einer Umsetzung auch notwendig sein wird. Ein deutlicher Mehraufwand und eine hohe zusätzliche Belastung für das Personal sind hier vorprogrammiert. Im Gegenzug erwartet man gesteigerte Gebühreneinnahmen durch die angestrebte Attraktivitätssteigerung. Meine Richterkollegen in Thüringen haben übrigens vornehmlich Handelssachen mit osteuropäischem Bezug zu verhandeln. Mit der Einführung der englischen Sprache für alle internationalen Handelssachen müssten sich in solchen Verfahren alle Beteiligten in einer Fremdsprache verständigen. Das wäre eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem Status quo, bei dem sich nur eine Partei auf eine Fremdsprache einstellen muss. Höchst fraglich ist aber auch, ob das vorliegende Gesetz überhaupt mit dem im Gerichtsverfassungsgesetz normierten Öffentlichkeitsgrundsatz vereinbar wäre. Um diesem zu genügen, müssen Gerichtsverfahren für jedermann verständlich sein und dementsprechend auf Deutsch vollzogen werden. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dies mit dem Hinweis auf eine Umfrage bestritten, in der 67 Prozent der Befragten angaben, dass sie Englisch „einigermaßen gut“ sprechen und verstehen können. Hier wird zum einen nicht berücksichtigt, dass die juristische Fachsprache deutliche Besonderheiten aufweist und dementsprechend längst nicht jede des Englischen mächtige Person einer auf Englisch gehaltenen Gerichtsverhandlung folgen könnte. Zum anderen wäre es verfassungsrechtlich bedenklich, wenn nur ein sprachlich entsprechend vorgebildeter Teil der Bevölkerung die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit tatsächlich ausüben könnte. Es ist ja gerade der Sinn der Kontrollfunktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes, die gesamte Bevölkerung zu beteiligen und niemanden auszuschließen. In einer Demokratie muss die Justiz als dritte Gewalt für jedermann verständlich bleiben. In dem Gesetzentwurf wird ferner behauptet, dass ausländische Vertragspartner und Prozessparteien den Gerichtsstandort Deutschland trotz international hoher Anerkennung für die deutsche Justiz meiden würden, um nicht in einer für sie unverständlichen Sprache verhandeln zu müssen. Tatsache ist jedoch, dass heutzutage viele Rechtsanwaltskanzleien, insbesondere die ohnehin international tätigen, längst über mehrsprachiges Personal verfügen. Der Zugang zu deutschen Gerichten für internationale Mandanten ist mithin über die sie vertretenden Kanzleien bereits möglich. Die einzigen, die zweifelsfrei einen zählbaren Nutzen durch dieses Gesetz haben dürften, sind eben diese mit englischsprachigen Mandaten betrauten Anwaltskanzleien, die einen großen Teil ihrer lästigen Übersetzungsarbeit auf die Gerichte abwälzen könnten. Die Initiatoren dieses Gesetzes gehen davon aus, dass es durch die angeblich steigende Attraktivität des Gerichtsstandortes Deutschland zu einer Zunahme an Verfahren mit hohen Streitwerten kommen wird. Dabei werden Gebühreneinnahmen erwartet, die die Kosten der Umstellung auf die englische Sprache bei weitem übersteigen. Das freut die Finanzminister der Länder. Aufgrund ihrer verfassungsmäßigen Verankerung im Grundgesetz darf die Justiz als dritte Gewalt des Staates nicht an finanziellen Interessen und Kostendeckung gemessen werden. Auch die Bundesregierung bemerkt in ihrer Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf, dass sich im praktischen Vollzug erst noch erweisen müsse, ob für gerichtliche Verfahren dieser Art überhaupt ein tatsächlicher Bedarf bestehe. Diese Experimentierfreudigkeit ist völlig fehl am Platze. Letztlich bleibt festzuhalten, dass man die ohnehin äußerst begrenzten Mittel, die der Justiz zur Verfügung stehen, nicht durch solch unnötige und verfassungsrechtlich bedenkliche Maßnahmen weiter strapazieren sollte. Viel wichtiger wäre es, endlich die bestehenden Probleme anzupacken und das den Gerichten zur Verfügung stehende Personal deutlich aufzustocken. Nur so kann eine effektive Arbeit an den Gerichten weiterhin gewährleistet werden, und nur dann bleibt auch die in diesem Gesetzentwurf angeführte hohe internationale Anerkennung der deutschen Justiz erhalten. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der Zunahme des globalen Wirtschaftsverkehrs stellen sich auch im Handelsrecht neue Herausforderungen. Viele internationale Handelsverträge werden heute in englischer Sprache verfasst. Diese Vertragssprache ist ein Grund dafür, dass für Verträge häufig das anglo-amerikanische Recht gewählt und der Gerichtsstand im angloamerikanischen Raum begründet wird. So bewegen sich deutsche Unternehmen oft nicht mehr im deutschen Recht bzw. in der deutschen Gerichtsbarkeit, wenn sie ihre Ansprüche durchsetzen wollen. Dies schwächt den Gerichtsstandort Deutschland und die Stellung des deutschen Rechts im Weltmarkt. Der Bundesrat möchte mit seiner Gesetzesinitiative für bestimmte Rechtsstreitigkeiten die englische Sprache als Gerichtssprache in Deutschland einführen. Ermöglicht werden soll die Einrichtung von Kammern für internationale Handelssachen, die Handelssachen mit internationalem Bezug in englischer Sprache verhandeln können. Hierdurch will der Bundesrat die Attraktivität des Rechtsstandortes Deutschland und des deutschen materiellen Rechts steigern. In der Praxis wird es sich vermutlich um eine überschaubare Anzahl von Fällen handeln, die vor den Handelskammern für internationale Handelssachen ausgetragen werden. Diese Fälle können jedoch von hoher Bedeutsamkeit sein und so die Bedeutung deutschen Rechts fördern. Deshalb lohnt es sich, dass wir diese Gesetzesinitiative sorgfältig prüfen. Im deutschen Recht berücksichtigen wir bereits die Besonderheiten von Handelssachen. Die Kammern für Handelssachen sind nicht nur mit Berufsrichtern, sondern mit einem Richter und zwei ehrenamtlichen Richtern aus dem Kaufmannsstand besetzt. Durch die Mischung aus Fach- und Sachkompetenz erreichen wir eine hohe Qualität in der Entscheidungsfindung. Es wäre kein Novum, wenn in Deutschland in fremder Sprache nach deutschem Recht verhandelt würde. Vor Schiedsgerichten können die Parteien bereits die Sprache, in der das Verfahren geführt werden soll, vereinbaren. So werden vor Schiedsgerichten Verfahren in englischer Sprache geführt, die nach deutschem Recht entschieden werden. Die Freiheit der Sprachwahl trägt sicher zu der „Abwanderung“ von den Handelskammern an die Schiedsgerichte bei. Auch die deutsche Rechtswissenschaft hat sich schon lange auf einen internationalen Wettbewerb eingestellt. Es gibt englischsprachige Vorlesungen, Seminare und Studiengänge. Zahlreiche Studentinnen und Studenten verbringen einen Teil ihres Studiums im Ausland. Wir sollten nun auch unser deutsches Rechtssystem und unsere deutsche Rechtsordnung am internationalen Wettbewerb teilhaben lassen und als interessante Alternative zum angloamerikanischen Recht fördern. Uns Grünen ist neben der internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“ deutscher Gerichte aber auch wichtig, dass Deutsch als Gerichtssprache seine Bedeutung beibehält. Englisch soll nicht als generelle weitere Gerichtssprache eingeführt werden. Es soll auch keine Vermischung der Sprachen geben. Die Anwendung englischer Sprache soll auf die Fälle beschränkt werden, die vor den Kammern für internationale Handelssachen verhandelt werden. In den Verfahren muss es sich um eine Handelssache mit internationalem Bezug handeln, und die Parteien müssen zugestimmt haben, das Verfahren in englischer Sprache durchführen zu wollen. Niemandem soll aufgedrängt werden, in einer Fremdsprache zu verhandeln. Sollten alle Parteien des Rechtsstreits ausdrücklich erklären, dass sie eine Verhandlung in englischer Sprache bevorzugen, so soll ihnen dieser Weg nicht versperrt sein. In der Praxis wird sich dann noch erweisen müssen, wie sich in diesen Verfahren der Instanzenzug bis zum Bundesgerichtshof bewährt. Zusammenfassend begrüßen wir Grüne, dass der vorliegende Gesetzentwurf die Stärkung des deutschen Rechtssystems im globalen Wettbewerb zum Thema macht. Das ist auch uns ein wichtiges Anliegen. Der Gesetzentwurf geht daher in die richtige Richtung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2163 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Findet das Ihr Einverständnis? – Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die finanzielle Deckelung von Reha-Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung aufheben – Reha am Bedarf ausrichten – Drucksache 17/6914 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Gesundheit Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentrales Prinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es entspricht dem Grundsatz der Humanität, alles zu tun, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Berufstätigkeit verursachte gesundheitliche Beeinträchtigungen wieder überwinden können. Auch Arbeitgeber, Rentenversicherung und Sozialversicherungsträger, die ganze Gesellschaft, haben an der Verhinderung des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben und der dauerhaften Wiedereingliederung ins Erwerbsleben ein nachvollziehbares Interesse. Studien zeigen, dass die durchschnittlichen Kosten für eine Rehabilitationsmaßnahme von 3 600 Euro sich bereits amortisieren, wenn der Beginn einer Erwerbsminderungsrente um vier Monate hinausgeschoben wird. Das Prognos-Institut hat ermittelt, dass die Gesellschaft für einen in medizinische Rehabilitation investierten Euro 5 Euro zurückerhält. Deutschland gehört zusammen mit vier weiteren OECD-Ländern zu denjenigen, die die höchsten Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aufweisen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichen Rentenversicherung für Leistungen zur Teilhabe, das sind insbesondere medizinische Rehabilitation und berufsfördernde Maßnahmen, zur Verfügung stehen, werden gemäß den gesetzlichen Vorgaben jährlich entsprechend der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer aufgestockt. Deshalb ist die Aussage im Antrag der Linken schlichtweg falsch, dass ein politisch willkürlicher Ausgabendeckel die Reha-leistungen begrenzt. Da auch die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß den Lohnerhöhungen zunehmen, war es eine logische gesetzliche Regelung, die Lohnentwicklung auch als Bezugskriterium für die Erhöhung der Rehaausgaben zu wählen. Andererseits stellt sich aber zu Recht die Frage, ob die bisherige Formel die tatsächliche Entwicklung des Bedarfs auch für die Zukunft korrekt abbildet. Das hat insbesondere drei Gründe: Aufgrund der Altersentwicklung der Bevölkerung nimmt auch das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung zu. Da mit zunehmendem Alter die Ausgaben für Gesundheitsleistungen steigen, wirkt sich dieses auch auf den Rehabilitationsbedarf aus. Die Anhebung des Renteneintrittsalters und der durchschnittlichen Lebensarbeitszeit führen mit aufwachsender Tendenz zu zusätzlichem Rehabilitationsbedarf. Medizinischer Fortschritt mit neuen Behandlungsmöglichkeiten sowie eine veränderte Krankheitsstruktur mit einem stärkeren Anteil chronischer und psychischer Erkrankungen schlagen sich auch in der Kostenstruktur für Rehabilitationsleistungen nieder. Die bisherige Koppelung an die Lohnentwicklung in Verbindung mit diesen absehbaren Entwicklungen führt dazu, dass die bestehende Budgetierung – der sogenannte Rehadeckel – faktisch von Jahr zu Jahr verschärft wird. Die Zahl der von den Versicherten beantragten beruflichen Rehabilitationsleistungen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie lag im Jahr 2000 bei 1 605 724. Im Jahr 2010 gingen 2 082 108 Anträge ein. Das entspricht einer Steigerung von 29,7 Prozent. In derselben Zeit stieg das zur Verfügung stehende Finanzvolumen aber lediglich um 22,1 Prozent, von 4 553,1 Millionen Euro im Jahr 2000 auf 5 559,3 Millionen Euro im Jahr 2010. Um mit dem bereitstehenden Geld auszukommen, hat die Deutsche Rentenversicherung den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ gestärkt, die Aufenthaltsdauer in Rehabilitationsmaßnahmen gekürzt und „Fremdbelegungen“ restriktiver gehandhabt. Zugleich erfolgte eine strengere Antragsprüfung insbesondere bei rentennahen und arbeitsmarktfernen Versicherten. Dieses wird unter anderem auch darin deutlich, dass die Zahl der Bewilligungen von circa 70 Prozent im Jahr 2000 auf circa 64 Prozent der Anträge im Jahr 2010 gesunken ist. Die Deutsche Rentenversicherung stößt bei ihren Bemühungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabilitationsleistungen auszukommen, allmählich an die Grenze des Machbaren. Eine weitere Öffnung der Schere zwischen Rehabilitationsbedarf und zur Verfügung stehenden Mitteln halten viele für nicht verkraftbar. Wesentliche Spielräume durch Effizienzsteigerungen, die nicht zulasten der Versicherten gehen, sind kaum mehr vorhanden. Gerade wenn Arbeiten bis 67 für alle möglich sein soll, ist im Gegenteil sogar mehr berufliche Rehabilitation zum Erhalt und zur Wiederherstellung der Arbeitskraft nötig. Dass nun die Linken unter Verweis auf diese Entwicklung die Anhebung des Rehadeckels fordern, ist wohl ein Indiz dafür, dass trotz aller gegenteiligen Rhetorik die Linken mittlerweile mit der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre versöhnt sind. Das wäre ja immerhin ein beachtlicher politischer Fortschritt. Im Koalitionsvertrag von Union und FDP heißt es treffend: „Qualifizierte medizinische Rehabilitation ist eine wichtige Voraussetzung zur Integration von Kranken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Gesundheitswesen einen immer höheren Stellenwert ein.“ Bei der Ausgestaltung der künftigen Ausgabengrenze und der Anpassungsformel für die Rehabilitation in der Rentenversicherung müssen strukturelle Veränderungen etwa im Bereich der Demografie und veränderte politische Rahmenbedingungen wie die Anhebung des Renteneintrittsalters und damit die Ausweitung der Lebensarbeitszeit – diese sind politisch gewollt und notwendig – berücksichtigt werden. Zusätzliche finanzelle Spielräume sind schwerpunktmäßig für Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu nutzen, die derzeit rund 12 Prozent der Fallzahlen ausmachen. Die derzeit günstigen finanziellen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Rentenversicherung sollten hierzu genutzt werden. Doch nicht nur den finanziellen Spielraum der beruflichen Rehabilitation gilt es zu überprüfen. Damit das System Rehabilitation wirksam und zielgerichtet funktionieren kann, müssen Konzepte und Aktivitäten gebündelt und Leistungsträger und Leistungsempfänger besser vernetzt werden. Die Weiterentwicklung der beruflichen Rehabilitation ist Kern- und Daueraufgabe des deutschen Sozialstaates. Schon 2007 wurde deshalb vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Initiative „RehaFutur“ gestartet, die unter dem Leitmotiv „Entwicklungen gemeinsam gestalten!“ Konzepte und Aktivitäten koordinieren soll. 2010 hat das Entwicklungsprojekt „RehaFutur“ begonnen. Zentrale Themen sind die Förderung und Verbesserung der Beratung zur Rehabilitation, mehr betriebliche Vernetzung und die Intensivierung von Forschungsaktivitäten. Die Bundesregierung greift deshalb nicht allein an der finanziellen Seite der beruflichen Rehabilitation an, sondern auch an der praktischen Umsetzung, um mit effizienten Mitteln ein zukunftsfähiges und innovatives System Rehabilitation zu gestalten. Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effiziente Rehabilitation und berufliche Integration bereits jetzt schon haben, zeigen uns, dass dies der richtige Weg ist. Rehabilitation ermöglicht den Betroffenen einen Weg zurück in Beruf und Arbeitsleben und hilft, die Existenz von Einzelpersonen und ihren Familien zu sichern. Gerade in Zeiten drohenden Fachkräftemangels sollten wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, um durch Rehabilitation und Reintegration qualifizierte Arbeitskräfte, auch nach Krankheit oder Unfall, im Beruf zu halten. Letztendlich führt eine konsequente und funktionierende Rehabilitation mittel- und langfristig sogar zur Entlastung der Rentenkassen, denn Leistungsempfänger werden wieder zu Leistungsträgern. Anton Schaaf (SPD): Die Linke verlangt im vorliegenden Antrag, die Deckelung der Rehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung umgehend aufzuheben und die Leistungen zur Teilhabe allein am Bedarf der Betroffenen auszurichten und nicht durch einen, wie sie es nennt, „politisch willkürlichen“ Ausgabendeckel zu begrenzen. Tatsächlich ist absehbar, dass sich in Zukunft die Schere zwischen Rehabedarf und -leistungen öffnen wird. Das zur Verfügung stehende Budget der Rentenversicherung beträgt rund 5 Milliarden Euro. In den vergangenen Jahren wurde dieses nahezu ausgeschöpft. Für dieses Jahr zeichnet sich eine Überschreitung zulasten des Folgejahres ab. In Zukunft wird das Geld nicht mehr reichen, um den Rechtsanspruch nach dem SGB IX auf Leistungen zur Teilhabe der Versicherten zu erfüllen. Dies machen auch die kontinuierlich steigenden Antragszahlen und Bewilligungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation sichtbar. Was wir vermeiden wollen, ist die Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation nach Kassen-lage. Wir müssen daher einen neuen Anpassungsgemechanismus finden, der Bedarf und Leistung besser in Einklang bringen kann. Eine völlige Aufgabe der Orientierung an den finanziellen Möglichkeiten der Rentenversicherung darf es allerdings nicht geben. Die Linke knüpft mit ihrem Antrag an eine Debatte an, die von den Koalitionsfraktionen, Teilen der Opposition und den Sozialpartnern in den vergangenen Wochen öffentlich geführt wurde. Dabei ging es um das Für und Wider einer möglichen Senkung bzw. einer Beibehaltung der Höhe der Beiträge zur Rentenversicherung. Was in der Debatte zu kurz kam, ist die Tatsache, dass der Beitragssatz nicht beliebig steuerbar ist und weder Wünschen nach finanziellen Entlastungen noch nach Leistungsausweitungen unterliegt. Er gehorcht einem ge-setzlich festgelegten Mechanismus der Beitragssatzanpassung nach § 158 SGB VI. Entscheiden wir uns dafür, Leistungen in der gesetzlichen Rente zu verbessern, kann sich dies nur in der Folge auch auf den Beitragssatz auswirken. Seit 1997 wird das Wachstum der medizinischen Reha streng gedeckelt. Die Größe des Budgets für Leistungen zur Teilhabe – geregelt in § 220 Abs. 1 SGB VI – richtet sich nach der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer. Eine Orientierung am tatsächlichen Bedarf erfolgt bisher nicht. Von Expertenseite – hier möchte ich beispielhaft ein Gutachten der Prognos AG nennen – wird dringender Handlungsbedarf gesehen. Die Ausgabendeckelung wird in Zukunft vor allem wegen der demografischen Entwicklung – die Babyboomer kommen in die „reha-intensiven“ Jahre –, der Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, aber auch angesichts des verlangsamten Anstiegs der Löhne und Gehälter zum Problem. Obwohl in Anbetracht einer alternden Gesellschaft und eines schmelzenden Potenzials an Fachkräften die Erkenntnis wächst, dass alle länger arbeiten müssen, spiegelt sich dies noch nicht hinreichend in der finanziellen Ausstattung der Rentenversicherung wider. Darüber hinaus müssten streng genommen auch die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen in die Betrachtung mit einbezogen werden. Zudem müssen wir berücksichtigen, dass ja nicht nur die Ausgaben für die Rehabilitation selbst einer Deckelung unterliegen, sondern dass das sehr personalintensive Verfahren der Prüfung und Bewilligung der Anträge auf Leistungen der Rehabilitation der gesetzlich nach § 220 Abs. 3 SGB VI vorgeschriebenen Reduzierung der Verwaltungs- und Verfahrenskosten unterworfen war. Mit anderen Worten: Weniger Kolleginnen und Kollegen bei den Trägern müssen steigende Antragszahlen bewältigen. Aktuell gehen rund 2 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in die Leistungen zur Teilhabe. Gemessen an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, die kontinuierlich angestiegen sind, ist ihr Anteil sogar etwas gesunken. Dabei sind die unterschiedlichen Rehaträger der Sozialversicherung seit jüngerer Zeit auch für präventive Maßnahmen verantwortlich. Führen wir uns vor Augen, in welchem Spannungsfeld wir uns bewegen: Wer als Arbeitnehmer schwer krank wird und in der Folge gemäß der Definition des SGB IX von Behinderung bedroht ist, hat die Möglichkeit, Rehaleistungen zu beantragen, um die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu erreichen. Nur wenn die gesundheitliche Einschränkung nicht in absehbarer Zeit zu beseitigen ist, kommt eine Rente wegen Erwerbsminderung infrage. Grundsätzlich müssen aber die versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sein, um einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung überhaupt geltend zu machen. Zurzeit werden circa 64 Prozent der Anträge auf Rehaleistungen bewilligt. In den Jahren zuvor lag die Bewilligungsquote konstant bei 67 Prozent. Eine Überprüfung ist daher, wie im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorgesehen, unbedingt geboten. Zugleich wird rund die Hälfte der Anträge auf Erwerbsminderungsrente abgelehnt, zumeist weil die persönlichen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Dabei werden Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung häufiger gewährt als volle Erwerbsminderungsrenten. Was mit den Menschen geschieht, deren Anträge abgelehnt werden, können wir erahnen. Wer krank ist und aus diesem Grund seinen Arbeitsplatz verliert, wird irgendwann bei entsprechender Bedürftigkeit auf Leistungen des SGB II oder des SGB XII angewiesen sein. Dies kann aber auch für Personen gelten, die eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Damit wird deutlich, dass wir mehrere Probleme stemmen müssen: – Zum einen muss die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mehr Menschen ermöglicht werden. Dies darf nicht an einem zu engen Berechnungskorsett scheitern – zumal der gesamtgesellschaftliche Gewinn den Aufwand deutlich übersteigen wird. – Zum anderen muss es Verbesserungen in der Höhe der Erwerbsminderungsrenten geben. Zugleich müssen wir Menschen, die gesundheitlich eingeschränkt sind, neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Wer wegen Krankheit nach einem langen Arbeitsleben früher in Rente geht, soll keinen mit Abschlägen verbundenen vorzeitigen Rentenbeginn akzeptieren müssen oder soll nicht vor dem Renteneintritt auf Arbeitslosengeld II verwiesen werden. – Darüber hinaus ist aber der enge Zugang zur Erwerbsminderungsrente gerade für ältere Arbeitnehmer einer Prüfung zu unterziehen. Dabei ist zu bedenken, dass zum einen diese Renten grundsätzlich nur befristet geleistet werden und zum anderen auch eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bei Inanspruchnahme von Rehaleistungen im Bereich des Möglichen liegt. Tendenzen zur Verdichtung der Arbeit, insbesondere in Berufen mit belastenden Arbeitsbedingungen, bringen gesundheitliche Risiken mit sich. Längeres gesundes Arbeiten setzt daher einen alters- und alternsgerechten Umbau der Arbeitswelt voraus. Von zentraler Bedeutung zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit ist dabei das betriebliche Gesundheits- und Wiedereingliederungsmanagement, mit dem frühzeitig gegen drohende Leistungsminderung, Erkrankung, Behinderung und Erwerbs-minderung vorgegangen werden kann. Leider geschieht gegenwärtig in den Betrieben und Unternehmen zu wenig. Nur ein Fünftel der Betriebe führt spezifische Maßnahmen zur Gesundheitsförderung durch. Insbesondere kleine, aber auch mittlere Unternehmen müssen aber befähigt werden, ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen und externe Unterstützungsangebote zu nutzen. Sozialversicherungen und staatliche Aufsichtsämter müssen ihre Verantwortung stärker wahrnehmen. Dazu ist aber auch dort der Vorrang der Prävention nach § 3 SGB IX stärker zu verankern. Wollen wir mehr Menschen den Weg zurück ins Arbeitsleben ebnen, setzt dies einen stärkeren, zielgenaueren und flexibleren Einsatz der Instrumente zur beruflichen Rehabilitation durch die Rentenversicherung voraus. Auch Personen, die eine befristete Erwerbsminderungsrente beziehen, haben einen Anspruch auf Rehabilitation und Unterstützung bei der Wiedereingliederung. Dieser Anspruch muss künftig besser umgesetzt werden, um den Betroffenen neue Perspektiven zu eröffnen. Die demografische Entwicklung, die zurzeit gesetzlich geregelte Anhebung des gesetzlichen Renteneintritts-alter, aber auch die Zunahme von psychischen und anderen chronischen Erkrankungen führen zu einem größeren Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen. Die Kommission Alterssicherung des SPD-Parteivorstands greift diese Themen auf und schlägt Lösungen vor, in Bezug auf Rehabilitationsleistungen die Erhöhung des jährlich verfügbaren Budgets für Leistungen zur Teilhabe. Dazu soll vor allem die demografische Entwicklung bei der Dynamisierung des Rehabudgets berücksichtigt werden. Zu diesem Vorschlag und weiteren Vorschlägen der Kommission – deren Arbeitsauftrag ist hauptsächlich darauf gerichtet, Maßnahmen gegen Altersarmut und für eine ausreichende Alterssicherung zu erörtern – wird die SPD-Bundestagsfraktion in nächster Zeit einen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen. Darüber hinaus liegt eine Entschließung des Bundesrats auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommern zum Thema vor. Hier heißt es: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, Vorschläge vorzulegen, wie die Regelung des § 220 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zur Ermittlung der jährlichen maximalen Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe an Hand objektiver Kriterien und entsprechend dem tastsächlichen Bedarf an Teilhabeleistungen geändert werden kann. Auch die Bundestagsabgeordneten Peter Weiß und Karl Schiewerling fordern eine Anhebung des bisherigen Rehabudgets. Dafür will sich die Union ausdrücklich im Rentendialog starkmachen. Der Arbeitnehmerflügel der CDU fordert ebenfalls, einen demografischen Faktor bei der Berechnung des Rehabudgets einzuführen (Süddeutsche Zeitung vom 21. Juli 2011). Es gibt also ausreichend Vorschläge und guten Willen. Leider hat die Union es in der Vergangenheit versäumt, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Sowohl als die Regelungen zur Rente mit 67 in der Großen Koalition beschlossen wurden, als auch bei der Anwendung der Überprüfungsklausel wurde von der Union jeder Handlungsbedarf verneint. Daher muss ich nochmals warnen: Gerade wer die schrittweise Erhöhung des Rentenalters schon im nächsten Jahr will, muss zumindest sicherstellen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft tatsächlich länger arbeiten können. Alles andere wäre fahrlässig. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Rehabilitation ist ein zentrales Ziel unserer Sozialpolitik. Rehabilitation hilft nicht nur den betroffenen Menschen, sondern ist neben Vorsorge auch das richtige Konzept, zukünftige Krankheiten und Behinderungen – und damit auch Kosten für das Sozialsystem – zu vermeiden. Dennoch ist auch in diesem Bereich die ständige Abwägung notwendig zwischen den Interessen der Betroffenen, der Leistungsanbieter und der Beitragszahler. Es wäre falsch, diese Abwägung von der Fraktion der Linken zu erwarten, die auch mit diesem Antrag wieder einmal wohlfeile Forderungen in den Raum stellt, ohne auch nur ansatzweise die Belastung der Rentenversicherung und ihrer Beitragszahler zu berücksichtigen. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist und bleibt die Beitragssatzstabilität ein sehr wichtiges Ziel. Im Interesse der Beitragszahler – man kann auch sagen: der arbeitenden Bevölkerung – und im Interesse einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung darf dieser Aspekt nicht aus dem Blick geraten. Der demografische Wandel, der gern als Argument für mehr Ausgaben im sozialen Bereich herangezogen wird, erfordert, Ausgaben nur dort anzuheben, wo sie sich tatsächlich als zwingend nötig erweisen. So können Spielräume erhalten werden, die kommende Generationen noch dringend benötigen. Gerade die demografische Entwicklung ist also ein wichtiges Argument dafür, Ausgabensteigerungen zu vermeiden. Der Reha-Deckel ist aus gutem Grund als Instrument eingeführt worden. Es ist die Frage, ob eine Ausgabensteigerung zum jetzigen Zeitpunkt notwendig ist. Blicken wir also auf die vorgetragenen Argumente: Die Linke verweist auf die steigende Anzahl älterer Beschäftigter. Das ist interessant! Die Redner der gleichen Fraktion malen in diesem Haus ja bei anderen Gelegenheiten ein dramatisches Bild über die angeblich so schlechte Beschäftigungssituation Älterer. Typischer Fall von „Wie es gerade passt“. Dann folgt der Verweis auf die „Rente erst ab 67“. Das ist verwunderlich, da es die Rente mit 67 erst im Jahre 2029 geben wird und selbst die ersten Schritte dahin noch keinerlei Auswirkung auf die aktuelle Ausgabensituation haben. Weitere Argumente bringt die Linke nicht vor; sie stellt lediglich ein angebliches „Spardiktat“ in den Raum. Eine etwas seriösere Argumentation wäre angemessen. Und für die Bürger und Beitragszahler wäre es angenehm, ein einziges Mal auch bei der Linken ein Bewusstsein dafür zu erahnen, dass Staat und Sozialkassen ihr Geld nicht unbegrenzt ausschütten dürfen. Wenn der Rehadeckel zu tief angesetzt ist, muss er gegebenenfalls angehoben werden. Wir sind bereit, diese Möglichkeit jederzeit zu prüfen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Erhöhung in den nächsten Jahren erforderlich wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das für uns fraglich. Im Übrigen kann ich mich durchaus mit dem Vorschlag meines Kollegen Peter Weiß anfreunden, die Formel für die Anpassung des Rehabudgets zu überarbeiten. Das ist ein kreativer Ansatz, der zielführender ist als die von den Linken geforderte vollständige Aufhebung des Deckels. Außer Frage steht die Bedeutung der Leistungen, um die es hier geht, für medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben und Sicherung des Unterhaltes. Die Ausgaben dafür liegen derzeit bei rund 5 Milliarden Euro jährlich und werden entsprechend der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer fortgeschrieben. Das ist sachgerecht, auch deswegen, weil die Rehabilitationsausgaben zu einem erheblichen Teil Personalkosten sind. In den vergangenen 13 Jahren wurde die Ausgabenobergrenze durch die Träger der DRV nicht überschritten. Im Jahr 2010 lagen die Ausgaben bei 98,9 Prozent des Ansatzes. Ich bestreite nicht, dass das knapp ist. Die Deckelung hat aber den Zweck, einen überproportionalen Kostenanstieg zu verhindern. Erst wenn die Qualität der Reha-Leistungen unter geänderten demografischen Verhältnissen nicht mehr gewährleistet bleibt, müssen wir über Lösungen nachdenken, allerdings ohne die gesetzlich festgelegten Beitragssatzziele der GRV – maximal 20 Prozent im Jahr 2020 und 22 Prozent im Jahr 2030 – infrage zu stellen. Auch die aktuellen Spielräume zur Senkung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung sollten nicht gefährdet werden. Denn die Ausgaben für Rehabilitation werden unmittelbar wirksam. Der Reha-deckel schafft einen dosierten „Druck im Kessel“, um kreative Lösungen zu entwickeln. Der vorliegende Antrag ist oberflächlich und greift zu kurz. Wir lehnen ihn daher ab. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Wir müssen endlich weg von der irrwitzigen, ja an der Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen weit vorbeigehenden Vorstellung, dass mit der Rente erst ab 67 die Menschen automatisch länger in guter Arbeit sein werden. Die meisten schaffen es kaum bis 65. Das würde sich auch dann nicht ändern, wenn jede und jeder genau die Rehaleistungen erhielte, die sie oder er bräuchte, um wieder fit für das Erwerbsleben zu sein. Reha muss sein! Aber eine gute Reha ist keine Garantie für einen Job. Und deshalb will die Linke beides: eine bedarfsgerechte Reha und den sofortigen Abschied von der Rente erst ab 67! Immer mehr Menschen beantragen eine Rehamaßnahme. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Rehaanträge um knapp 30 Prozent oder 476 000 auf über 2 Millionen, 2 082 108, gestiegen. Wir haben es also ganz deutlich mit einem steigenden Bedarf und damit auch mit steigenden Kosten zu tun. Das hat dazu geführt, dass das Rehabudget, also das für Rehamaßnahmen zur Verfügung stehende Geld, nahezu vollständig ausgegeben wird. Denn es ist leider nicht so, dass mit dem steigenden und wohlgemerkt rechtmäßigen Bedarf auch mehr Geld zur Verfügung gestellt würde – mitnichten. Denn die gesetzliche Rentenversicherung darf nur einen politisch willkürlich festgesetzten Betrag für Rehaleistungen ausgeben – § 220 SGB VI. Das ist der sogenannte Rehadeckel: Das verfügbare Rehabudget orientiert sich nicht am Bedarf, sondern an der Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer. Das ist doch absurd! Die Menschen werden doch nicht gesünder, wenn die Löhne sinken! Da ist doch wohl eher das Gegenteil der Fall! Dieser politisch motivierte Deckel dient allein der Leistungskürzung – und das ist nun wirklich falsch! Die Situation spitzt sich nun zunehmend zu: Der finanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Die Rentenversicherungsträger sind daher kaum noch in der Lage, in ausreichendem Umfang Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Sicherung des Unterhaltes zu gewähren. Das Ziel, den vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben zu verhindern oder möglichst dauerhaft eine Wiedereingliederung zu erreichen, kann nicht mehr im erforderlichen Umfang erreicht werden. Herbert Rische, der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, fordert deshalb unmissverständlich, dass das System überdacht werden müsse, „um sicherzustellen, dass die notwendigen Rehabilitationsleistungen auch wirklich erbracht werden können“. Recht hat er! Durch diesen Finanzierungsdeckel werden die Leistungen zur Teilhabe also nicht am tatsächlichen Bedarf der Betroffenen bemessen. Vielmehr unterliegen diese Maßnahmen einem politisch motivierten Spardiktat. Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung hat das Problem zur Kenntnis genommen. Im jüngst veröffentlichten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kündigt die Bundesregierung an, sie wolle „die Notwendigkeit einer Anhebung des Reha-Deckels prüfen“. Doch im selben Atemzug formuliert Schwarz-Gelb unmissverständliche Bedingungen: Dabei hält die Bundesregierung allerdings an ihrer rentenpolitischen Grundentscheidung fest, dass Ausgabensteigerungen im System der Rentenversicherung nicht zulasten der Generationengerechtigkeit gehen oder zu einer Gefährdung der gesetzlichen Obergrenzen für den Beitragssatz führen dürfen. Das heißt im Klartext doch nichts anderes, als dass die Prüfergebnisse schon jetzt vollkommen egal sind. Das ist die gleiche Logik, die auch heute schon dem Rehadeckel zugrunde liegt. Statt am Bedarf wollen CDU und Liberale sich an der Beitragssatzstabilität orientieren. Statt den absurden Rehadeckel abzuschaffen, wollen Union und FDP ihn nur anders begründen. Die Linke will, dass Union und FDP ihre Trickserei endlich sein lassen – und zwar zum Wohle der Betroffenen! Die Linke fordert deshalb die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Deckelung der Rehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung umgehend aufhebt und die Leistungen zur Teilhabe am Bedarf der Betroffenen ausrichtet. Wir wollen, dass Schluss ist mit der politischen Willkür in der Reha! Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reha vor Rente – dieser Grundsatz ist sinnvoll. Gute Rehabilitation ist im Ernstfall die Voraussetzung für die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie ist vor allem wichtig, wenn wir auf die Entwicklungen schauen, die wir am Arbeitsmarkt in Zukunft zu erwarten haben. Die demografische Entwicklung wird zu einer steigenden Zahl älterer Beschäftigter führen. Die Verlängerung des Erwerbslebens, die wir durch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters haben werden, trägt ebenfalls dazu bei. Der Bedarf an Rehabilitation wird sich erhöhen. Im Antrag der Linksfraktion wird das ja genau so formuliert. Die Haushaltsmittel der gesetzlichen Rentenversicherung werden seit 1997 durch den § 220 im SGB VI, den sogenannten Rehadeckel, begrenzt. Die jährlichen Ausgaben werden demnach entsprechend der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer festgesetzt. Das Rehabudget orientiert sich also an der Lohnentwicklung, nicht am Bedarf. Zwei Drittel der Rehabilitationsausgaben der Deutschen Rentenversicherung liegen im Bereich der medizinischen Rehabilitation. Und für diesen Bereich muss man feststellen, dass die Differenz zwischen der kontinuierlich ansteigenden Zahl der Rehabilitationsanträge und der Zahl der Bewilligungen seit 2006 immer größer geworden ist. Es werden im Verhältnis also weniger Anträge bewilligt, auch wenn die Zahl der bewilligten Anträge insgesamt leicht steigt. Ganz offensichtlich steht die Rentenversicherung vor dem Problem, die steigenden Ansprüche an ihre Leistungen im Rahmen ihrer Mittel zu bewältigen. Sie ist also gezwungen, entweder weniger Anträge zu bewilligen oder ihre Ausgaben für die einzelnen Rehabilitationsleistungen zu senken. Es gibt durchaus politisch sinnvolle Maßnahmen, die auch zu Kostensenkungen führen: eine Schwerpunktlegung auf ambulante Leistungen oder indem Leistungen flexibel auf individuelle Fälle abgestimmt werden. Nichtsdestotrotz steigt die Bedeutung der Rehabilitation insgesamt. Rehabilitation wird wichtiger und muss entsprechend gesichert werden. Eine Politik der Ausgliederung, wie sie die Bundesregierung arbeitsmarktpolitisch faktisch betreibt, ist nicht zielführend. Es muss den Menschen auch tatsächlich möglich sein, entsprechend lange zu arbeiten. Die Rahmenbedingungen sind so zu setzen, dass niemand gezwungen ist, in Frührente zu gehen, weil es keine Alternativen gibt. Der politische Wille zur Anhebung des Rehadeckels ist auf fast allen Seiten vorhanden: Nicht nur die Linke fordert, die Rehabilitationsleistungen dem Bedarf entsprechend zu gewähren und mit dieser Zielvorstellung auch die Regelung des § 220 SGB VI zu ändern. Auch die Bundesregierung hat unter anderem in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention angekündigt, die Anhebung des Reha-Deckels zu prüfen. Dass hier etwas geschehen muss, ist wenig kontrovers. Eine Anhebung des Rehadeckels ist sinnvoll, sie reicht aber nicht aus. Es sind Verfahren zur Ermittlung und Klassifizierung des Rehabedarfs zu entwickeln, um die Lücke zwischen Anträgen und erfolgreichen Bewilligungen sinnvoll zu verringern. Die Bundesregierung muss darüber hinaus auch sicherstellen, dass entsprechend der Anforderungen, die sich aus dem demografischen Wandel und den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, Rehabilitationsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6914 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Perspektiven für Jungen und Männer – Drucksachen 17/5494, 17/7088 – Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Stefan Schwartze Miriam Gruß Yvonne Ploetz Till Seiler Dorothee Bär (CDU/CSU): Eine moderne Gleichstellungspolitik muss gezielt die Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen und Männern, von Mädchen und Jungen berücksichtigen. Lange Zeit ist das Ziel der Gleichberechtigung vornehmlich durch frauenpolitische Maßnahmen verfolgt worden. Aktuelle Entwicklungen haben jedoch gezeigt, dass sich die Gleichstellungspolitik zusätzlich – dieses Wort ist wichtig; ich spreche ausdrücklich nicht von „ausschließlich“! – den Jungen und Männern zuwenden muss. In den letzten Jahren sind die Geschlechterrollen in Bewegung geraten, und viele junge Männer sind auf der Suche nach Perspektiven jenseits traditioneller Lebensentwürfe und stereotyper Erwartungen. Eine moderne Gleichstellungspolitik muss diesen Entwicklungen Rechnung tragen – und entsprechend erweitert werden. Ziel unserer Gleichstellungspolitik ist dabei aber nicht, bestimmte Lebensmodelle vorzuschreiben. Es geht vielmehr darum, neue Optionen zu eröffnen und tatsächliche Wahlfreiheiten zu gewährleisten. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang Anstrengungen im Bildungsbereich. Derzeit werden Jungen häufig als Bildungsverlierer wahrgenommen – und nehmen sich teilweise auch selber so wahr. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Nur halb so viele Jungen wie Mädchen sind beispielsweise zum Zeitpunkt der regulären Einschulung schulreif. Jungen wiederholen häufiger eine Klasse als Mädchen und brechen die Schule häufiger ab. Im Lesen erzielen Jungen deutlich geringere Kompetenzen als Mädchen. Das Risiko eines ungünstigen Bildungsverlaufs scheint insbesondere hoch zu sein bei Jungen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Familien. Eine ausschließliche Fokussierung auf die eben vorgetragenen Tatsachen blendet jedoch aus, dass das Leistungsspektrum innerhalb der Gruppe der Jungen sehr breit ist: Sowohl unter den schlechtesten als auch unter den besten Schülern eines Jahrgangs finden sich überdurchschnittlich viele Jungen. Erfolgreiche Jungenpolitik muss daher potenzial- und lösungsorientiert sein. Kindertageseinrichtungen und Schulen kommt als Bildungs- und Erziehungseinrichtungen eine entscheidende Aufgabe zu. Hier könnten Jungen von der Anwesenheit männlicher Pädagogen profitieren. Entsprechend müssen diese Tätigkeitsfelder für junge Männer weiter erschlossen werden. Junge Männer erhalten dadurch auch zusätzliche berufliche Perspektiven. Auch in der Schule muss den besonderen Bedürfnissen von Jungen verstärkt Rechnung getragen werden. Gleiches gilt für die Kinder- und Jugendarbeit, die Jugendsozialarbeit und die Migrationsarbeit. Zusätzlich bedarf es in Gesellschaft und Wirtschaft einer Anerkennung und Wertschätzung neuer männlicher Lebensentwürfe, die sich jenseits traditioneller Vorstellungen und stereotyper Erwartungen bewegen. Damit sind nach meinem Dafürhalten insbesondere die folgenden Maßnahmen zu ergreifen: Die Erweiterung des Berufswahlspektrums von Jungen und Männern, insbesondere mit Blick auf pflegerische Berufe, muss weiter vorangetrieben werden. Wichtig sind daneben flexible Arbeitszeitmodelle und sogenannte Sabbaticals, um auch Vätern zu ermöglichen, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Zielführend sind in diesem Zusammenhang auch Maßnahmen im Rahmen des Aktionsprogramms „Perspektive Wiedereinstieg“. Eines möchte ich abschließend nochmals ausdrücklich betonen: Es ist nicht unsere Intention, die Jungenförderung zulasten der Förderung von Mädchen und Frauen zu betreiben – entgegen den Unterstellungen der Oppositionsparteien. Es geht uns vielmehr darum, beiden Geschlechtern Chancen zu geben und sie entsprechend ihrer jeweils spezifischen Bedürfnisse zu fördern. Michaela Noll (CDU/CSU): „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ – der Titel unseres Antrags hat viele, als sie ihn zum ersten Mal gehört haben, sicher überrascht. Denn während über Förderung von Mädchen und Frauen seit Jahrzehnten – zu Recht – diskutiert wird, wurde die Frage, was wir für Jungen und Männer tun müssen, lange nicht gestellt, in meinen Augen viel zu lange nicht. Dies wollen wir nun mit unserem Antrag ändern. Viele fragen sich jetzt vielleicht: Warum wollen wir das ändern? Warum sollten wir Jungen und Männer fördern, wenn Frauen noch immer weniger verdienen, in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen in der Minderzahl sind und noch immer die Hauptverantwortung für Kindererziehung und Haushalt tragen? Darauf lässt sich ganz einfach antworten: weil Handlungsbedarf besteht. Dies haben meine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2004 und die Kleine Anfrage der FDP aus dem Jahr 2008 hinlänglich bewiesen. Zudem haben Studien belegt, dass die Mädchen die Jungen in vielen Bereichen abgehängt haben. Zuletzt hat die 16. Shell-Jugendstudie „Jugend 2010“ gezeigt, dass Mädchen ihre männlichen Altersgenossen bei der Schulbildung überholt haben. Auch machen sie die besseren Hochschulabschlüsse. Dieser Vorsprung gilt aber nicht nur für die Bildung, sondern auch für andere Bereiche. So sind Jungen zum Beispiel stärker von Verhaltensauffälligkeiten betroffen als Mädchen. An dieser Stelle ist es mir sehr wichtig, nicht falsch verstanden zu werden. Deshalb möchte ich es hier noch einmal ganz ausdrücklich betonen: Ich freue mich darüber, dass die Gleichberechtigung so große Fortschritte gemacht hat. Ich freue mich über jede junge Frau, die nach einem hervorragenden Schulabschluss einen ebenso hervorragenden Hochschulabschluss macht, der ihr alle beruflichen Möglichkeiten eröffnet. Und ich würde mir wünschen, dass diese jungen, gut ausgebildeten und selbstbewussten Frauen die gleichen beruflichen Chancen hätten wie die meisten Männer, dass sie sich nicht mehr den Kopf an der Gläsernen Decke stoßen oder sich mit weniger Geld zufriedengeben müssten. Dass bei den Mädchen und Frauen weiterhin Handlungsbedarf besteht, heißt ja nicht gleichzeitig, dass wir die Jungen und Männer vergessen dürfen. Unser Ziel ist es, beiden Geschlechtern gerecht zu werden. Denn beide haben Förderbedarf, nur eben zu unterschiedlichen Zeiten: Frauen später – beim beruflichen Aufstieg und Wiedereinstieg –, Männer bzw. Jungen eben früher, nämlich in den Kindertageseinrichtungen, Schulen und beim Übergang in den Beruf. Ich denke, dies wird kaum jemand bestreiten wollen. Mir ist es deshalb ein Rätsel, warum unser Antrag – und das Thema generell – vor allem bei der SPD auf Ablehnung stößt. Immer wieder wird mehr oder weniger deutlich unterstellt, dass wir uns mit unserer Jungenpolitik gegen die Mädchen wenden. Diesen Skeptikern halte ich entgegen, dass sie nicht wahrhaben wollen, dass sich die Lebenswelten von Jungen und Männern geändert haben und dass sich Jungen- und Mädchenpolitik ergänzen muss, um sinnvoll zu sein. Wir wollen kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Denn wie sollen junge Menschen Partnerschaften führen und Familien gründen, wenn sie nicht zueinanderfinden und sich nicht auf Augenhöhe begegnen können? Ich befürchte, dies könnte schwierig werden, wenn wir Gleichstellungspolitik weiterhin als Gegeneinander und nicht als Miteinander begreifen. Meine Überzeugung, dass wir uns auch den Jungen und Männern zuwenden müssen, resultiert aber nicht nur aus der Lektüre von Studien. Ich bin in meinem Wahlkreis häufig von Eltern und Lehrern angesprochen worden, die mir von ihren Erfahrungen und Beobachtungen berichtet haben. Erst vor einigen Wochen habe ich mit zwei Lehren gesprochen, die sich zu Jungen-Coaches haben ausbilden lassen, weil sie in ihrer tagtäglichen Arbeit gemerkt haben: Es besteht Bedarf an einer besonderen Arbeit mit Jungen, Bedarf, Jungen bei der Entwicklung eines positiven männlichen Selbstbildes zu begleiten und in ihrem Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich und anderen zu stärken. Ihr Erfolg gibt den beiden Lehrern recht. Sprechen Sie doch auch einmal mit Lehrern und Eltern von Söhnen! Ich bin überzeugt, dass auch Sie von diesen die Antwort bekommen werden: Jungen brauchen eine gesonderte Aufmerksamkeit und eine besondere Ansprache. Zudem habe ich Gespräche mit Verbänden und Vereinen geführt, die seit Jahren in der Jungenförderung aktiv sind und immer wieder auf einen akuten Handlungsbedarf hinweisen. Die Vereine sind übrigens ebenfalls der Meinung: Hier geht es nicht darum, den Mädchen und Frauen etwas streitig zu machen, sondern es geht darum, den Blickwinkel auf die Jungen und Männer zu erweitern. Jetzt habe ich zusätzlich Rückendeckung aus Europa bekommen. Auch die EU hat das Thema „Männer und Gleichstellung“ aufgegriffen und eine entsprechende, von Workshops begleitete Studie, in Auftrag gegeben. Auch auf europäischer Ebene wurde erkannt, dass Chancengleichheit nur erreicht werden kann, wenn wir die Männer mit an Bord holen. Natürlich hängen viele der Befunde, die darauf hinweisen, dass die Mädchen die Jungen überholt haben, nicht nur mit dem „Jungensein“ zusammen. Selbstverständlich spielen die soziale Herkunft und das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Migrationshintergrunds ebenfalls eine große Rolle. Aber das Risiko eines ungünstigen Bildungsverlaufs scheint höher, wenn ein Junge einen Migrationshintergrund hat und aus einer bildungsfernen Familie stammt. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass sich Familienministerin Dr. Kristina Schröder der Förderung von Jungen verschrieben hat. Das Familienministerium entwickelt im Rahmen seiner Gleichstellungspolitik eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik und setzt spezielle Projekte für Jungen und Männer um. Exemplarisch sei hier die Einberufung eines Jungenbeirats genannt. Aber auch schon unter Familienministerin Dr. Ursula von der Leyen wurden in der letzten Legislaturperiode wichtige Projekte auf den Weg gebracht, wie zum Beispiel das Projekt „Neue Wege für Jungs“. Auch mit unserem Antrag verfolgen wir das Ziel, einseitige Geschlechterrollen in Beruf und Familie zu überwinden und den Jungen auf die Sprünge zu helfen. Hierfür haben wir 19 Forderungen formuliert, aus der ich aus aktuellem Anlass eine herausgreifen möchte: Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat vor einigen Tagen die erste repräsentative Studie zum Thema Onlinesucht vorgestellt. Diese belegt, dass die Sucht nach Onlinespielen verstärkt bei Jungen auftritt. Das ist problematisch, da Untersuchungen gezeigt haben, dass erhöhter Computerspielekonsum zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann und zu einem gefährlichen Rückzug der Jungen aus der realen in eine virtuelle Welt. Zudem geht übermäßiger Medienkonsum oft mit schwächeren Lese- und Sprachkompetenzen einher und wirkt sich negativ auf die schulischen Leistungen aus. In unserem Antrag fordern wir deshalb die Weiterentwicklung von medienpädagogischen Projekten für Jungen, um deren Medienkompetenz zu stärken. Und auch die pädagogischen Fachkräfte müssen besser geschult werden, um kompetent auf die Risiken, die von einem erhöhten Konsum von Onlinespielen ausgehen können, reagieren zu können. Männer wollen den Gleichstellungsprozess mitgestalten und eingebunden werden, damit sich auch ihnen neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen. Diese Chance sollten wir ihnen geben. Denn, wie es Kai Gehring von den Grünen bei der ersten Lesung dieses Antrags auf den Punkt gebracht hat: Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur mit Frauen und Männern gemeinsam gestalten. Denn Männer sind Partner für die Gleichstellungspolitik. Stefan Schwartze (SPD): Geschlechterpolitik ist in der Vergangenheit vor allem von Frauen initiiert und getragen worden, und Frauen haben schon eine Reihe von Verbesserungen für sich erstritten. Das ist auch gut so. Zunehmend melden sich heute auch Männer und Väter zu Wort und setzen sich für ihre Interessen ein. Auch das ist gut so. Frauen und Männer haben in der Geschlechterpolitik viele gemeinsame Ziele. Männliches geschlechterpolitisches Engagement muss keineswegs automatisch zu feindlicher Abgrenzung gegenüber Fraueninteressen oder dem Feminismus führen. Es ist nicht zielführend, eine Geschlechterpolitik zu etablieren, die auf den Geschlechterkampf ausgelegt ist, die Männer und Frauen gegeneinander ausspielt. Gleichstellungspolitik muss beide Geschlechter im Blick haben. Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war schon immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingungen eines jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig vom Geschlecht zu verbessern und auf Chancengleichheit hinzuwirken. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion wollen Geschlechterstereotype überwinden und nicht manifestieren. In dem schwarz-gelben Antrag wird von Jungen als Bildungsverlierern gesprochen; sie seien bei der regulären Einschulung häufiger nicht schulreif, sie würden häufiger die Klasse wiederholen und brächen die Schule häufiger ab als Mädchen. Dabei hält es die Bildungsforschung für falsch, männliche Schüler pauschal als Verlierer zu betrachten. Sehr differenziert setzt sich mit dieser Behauptung die Expertise „Schlaue Mädchen – dumme Jungen?“ auseinander, die unter Federführung des Deutschen Jugendinstituts entstand. Kriterien wie die soziale Schicht oder eine Zuwanderungsgeschichte haben danach eine größere Bedeutung als die Geschlechtszugehörigkeit. Die Schlüssel, um die Bildungsbenachteiligung auszugleichen, sind längeres gemeinsames Lernen, Ganztagsschulen und frühe Förderung. Das hilft benachteiligten Jungen und Mädchen gleichermaßen. Das von Rot-Grün auf den Weg gebrachte Ganztagsschulprogramm war daher immens wichtig. Auch der Ausbau der Kitas sowohl quantitativ als auch qualitativ ist dabei ein wichtiger Weg. Unsere Kitas haben als Bildungseinrichtungen eine besondere Bedeutung. Es ist bekannt, dass der Kinderbetreuungsausbau nicht in dem Maße voranschreitet, wie er sollte. Vielen Kommunen fehlt schlichtweg das Geld. Doch widmet sich die Bundesregierung diesem Problem? Beruft sie einen Krippengipfel ein und überlegt, wie sie den Kommunen helfen kann? Nein, davon ist in diesem Antrag nichts zu finden. Im Gegenteil, die CDU/CSU-Fraktion hält immer noch an der unsäglichen Idee des Betreuungsgeldes fest. Was ist das für eine Idee, Geld dafür zu bekommen, dass eine Leistung nicht in Anspruch genommen wird, eine Prämie dafür, dass Kinder von guten Angeboten früher Bildung ferngehalten werden? Für benachteiligte Jungen und Mädchen bedeutet die Einführung des Betreuungsgeldes schlichtweg das Aus für frühkindliche Bildung. Eine frühe Sprachförderung würde für sie nicht mehr stattfinden. Zudem stellt das Betreuungsgeld ein Hindernis für einen raschen Einstieg beziehungsweise Wiedereinstieg in das Erwerbsleben dar. Die Union verfestigt damit alte Rollenverteilungen im Familienalltag. Es ist wesentlich sinnvoller, die für das Betreuungsgeld vorgesehenen 2 Milliarden Euro in den Aus- und Aufbau von Krippen- und Kindergartenplätzen zu investieren. Aber die Bundesregierung geht noch weiter. Sie streicht und kürzt im Kinder- und Jugendplan des Bundes für 2012 Maßnahmen zur Gleichstellung von Jungen und Mädchen, zur Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund und zur sozialen und beruflichen Integration junger Menschen sowie zur Inklusion junger Menschen mit Behinderungen. Diese Politik lässt Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zurück. Und hier macht die SPD-Bundestagsfraktion nicht mit. Einzelne Zielrichtungen des Antrags begrüßen wir. So begrüßen wir zum Beispiel Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, die EU-Zielmarke „20 Prozent Männer als Erzieher“ zu erreichen. Auch die Handlungsempfehlungen des Gleichstellungsberichts fordern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen pädagogischen Fachkräften, einschließlich einer Erhöhung des Anteils männlicher Pädagogen in Kindertagesstätten und in der Grundschule, allerdings klar verbunden mit der Vermittlung von Kompetenzen einer geschlechtsbewussten Pädagogik. Das Projekt „MEHR Männer in Kitas“ lässt jedoch den Aspekt der Vermittlung von Kompetenzen einer geschlechtsbewussten Pädagogik außen vor, es greift daher eigentlich zu kurz. Auch das Ziel, Männer in ihrer Aufgabe als Väter zu stärken, teilen wir. Nur wollen wir eine echte Förderung und nicht nur die Förderung von einzelnen kleinen Väterprojekten, wie im Antrag gefordert. Wir schlagen eine Stärkung der Partnermonate beim Elterngeld vor. Bereits in der Großen Koalition gab es ja die Idee, die Partnermonate von zwei auf vier auszuweiten. Diese Forderung findet sich auch in der Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und FDP wieder. Aber hat die Bundesregierung hier etwas getan? Hat sie Geld in die Hand genommen und wirklich etwas verändert? Nein, Fehlanzeige, gestrichen und ad acta gelegt wegen Geldmangels! Der Einsatz der Bundesministerin dafür ist gleich null. Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den Antrag von CDU/CSU und FDP ab. Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wenn man den vorliegenden Antrag der Koalition liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Deutschland seit Jahrzehnten vom Matriachat geprägt ist. Für die Bundesregierung mag das derzeit vielleicht stimmen, aber sicherlich nicht für die breite Gesellschaft. Es ist ja schön, dass in der Koalition nun die geschlechtsspezifische Arbeit entdeckt wurde. Doch leider ist dort noch nicht angekommen, dass beide Geschlechter eine Rolle spielen. Der Antrag zeigt, dass die Bundesregierung in puncto Geschlechtergerechtigkeit eher Rück- statt Fortschritte macht. Gender Mainstreaming ist seit der UN-Frauenkonferenz in Peking im Jahr 1995 – an der ich teilnehmen konnte – ein internationales Instrument der Gleichstellung. Als solches wurde es in der EU und ihren Mitgliedsländern eingeführt. Laut offizieller Website des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend basiert diese Strategie – ich zitiere – „auf der Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt und Männer und Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen und administrativen Entscheidungen betroffen sein können. Das Leitprinzip Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die politischen Akteure, bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Männern zu analysieren und ihre Entscheidungen so zu gestalten, dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter beitragen.“ Angesichts dieser Aussagen kann ich es nicht verstehen, wie dieser Antrag und das Ansinnen im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP zustande kam, jetzt einseitig Jungen- und Männerarbeit zu fördern. Der Antrag hat sogar eher den Duktus, die Geschlechter zulasten der Frauen auseinanderzudividieren. Doch nun zu einigen Details aus dem Antrag. Wie ernst ist es der Koalition überhaupt mit ihrem Ansinnen? Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel neue Impulse zu setzen. Wie soll das ohne zusätzliche Mittel gehen? Oder hofft man darauf, dass an anderer Stelle, am besten noch bei den Mitteln zur Frauenförderung, gestrichen wird? Mehrfach wird im Antrag gefordert, dass Männer vor allem in die Arbeitsfelder gebracht werden müssen, in denen sie bisher unterrepräsentiert sind. Ich frage: Warum sind sie gerade in den Bereichen der Erziehung unterrepräsentiert? Vielleicht weil hier die Bezahlung besonders unattraktiv ist!? Daher sollten wir einmal darüber diskutieren, warum insbesondere bei Berufen mit einem hohen Frauenanteil nach wie vor die Bezahlung relativ bescheiden ist! Das hat relativ wenig mit Jungen- und Männerpolitik zu tun. Es ist zwar nett zu lesen, dass erzieherische und pflegerische Berufe mit Blick auf Weiterqualifizierung und Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Berufen attraktiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbessert werden müssen. Doch viel notwendiger brauchen wir mehr Qualität und bundesweite Standards in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Darüber hinaus müssen wir darüber reden, wie die Träger von Kitas, die Kommunen, überhaupt in die Lage versetzt werden, mehr Personal für die Kinderbetreuung anzustellen. Nur wenn es überhaupt Erzieherinnen und Erzieher vor Ort gibt, können sie auch geschlechtsspezifisch arbeiten. Wer vorherrschende Rollenmuster durchbrechen will und mehr Geschlechtergerechtigkeit will, muss bereits bei der frühkindlichen und schulischen Bildung ansetzen. Doch hier liegt dank dieser Bundesregierung einiges im Argen. Die soziale Herkunft spielt noch immer eine zu große Rolle für den Bildungserfolg, viel mehr, als es das Geschlecht spielt. Ich finde es daher unerhört, dass im Koalitionsantrag Jungen als Bildungsverlierer benannt werden und man glaubt, durch Ermunterungen die Situation zu verbessern. Die neueste PISA-Studie zeigt, dass ein sozial ungünstiges soziales Umfeld in keinem anderen Land zu so starken Leistungsverlusten bei den Schülerinnen und Schülern führt wie in Deutschland. Das ist bildungspolitisch unverantwortlich und zutiefst ungerecht. Daher brauchte es ein Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen, die Situation zu verbessern, statt die Geschlechter auseinanderzudividieren und vermeintlich geschlechtsspezifische Appelle an die Bundesländer zu richten. Die Liste der sonderbaren Forderungen aus dem Antrag ließe sich leider noch eine ganze Weile fortführen. Doch ich denke, es ist bereits mehr als deutlich geworden, warum dieser Antrag keine Unterstützung verdient. Aus meiner Sicht ist dieser Antrag lediglich ein Gefallen der Koalition für ihre Frauenministerin, die entgegen ihrer eigentlichen Aufgabe mit der Forderung nach mehr Jungen- und Männerarbeit Schlagzeilen machen will. Diesem Ansinnen mit weitreichenden Folgen für unsere junge Generation dürfen wir nicht entgegenkommen. Vielmehr brauchen wir eine echte Verbesserung der geschlechtsspezifischen Arbeit und einen Ausbau der Bildung für junge Menschen. Aus diesem Grund lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den Antrag von CDU/CSU und FDP ab. Miriam Gruß (FDP): Die Welt dreht sich weiter. Waren es früher ausschließlich Mädchen und Frauen, die im Mittelpunkt der Gleichstellungspolitik standen, haben wir jetzt unseren Fokus erweitert: Eine moderne Gleichstellungspolitik berücksichtigt auch die spezifischen Bedürfnisse von Jungen und Männern. Die heutige Gesellschaft fordert von ihnen heute schließlich teilweise größere Anpassungsprozesse als von Frauen. Es ist längst überholt, dass wir ein Geschlecht bevorzugen und einseitige Förderung fordern. Nicht zuletzt deshalb reden wir heute über einen Antrag der FDP und der Union, der sich mit der Gleichstellung von Jungen und jungen Männern in unserer modernen Gesellschaft beschäftigt. Diese Regierung ist die erste, die bei diesem Thema umfassend aktiv geworden ist. Im Koalitionsvertrag haben wir uns zum Ziel gesetzt, eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln und bereits bestehende Projekte in dieser Richtung fortzuführen. „MEHR Männer in Kitas“, der „Boys Day“ und die Unterstützung diverser Väterprojekte sind gute Beispiele dafür, was wir unter einer Gleichstellungspolitik verstehen, die sich nicht von falschen Rollenklischees bremsen lässt, sondern ganz ideologiefrei den jeweils spezifischen Handlungsbedarf bei beiden Geschlechtern erkennt. Es geht in dieser Diskussion letztlich um die Frage, wie wir werden, was wir sind. Warum gibt es beispielsweise nur wenige Ingenieurinnen oder Maschinenbauerinnen? Oder warum gibt es so wenige männliche Erzieher, Grundschullehrer oder Pfleger? Ich bin der Überzeugung, dass wir durch eine intensive Förderung und Bildung von klein auf, jenseits von Rollenklischees, die einzelnen Stärken und Schwächen der Menschen besser entdecken können. Im Übrigen ist es auch unter dem Aspekt des drohenden Fachkräftemangels notwendig, möglichst viele Menschen auf möglichst viele Berufsfelder vorzubereiten. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, wenn junge Männer auf der Strecke bleiben. Bislang galten Jungen häufig als Verlierer in der Bildungspolitik. Laut der PISA-Studie 2009 sind Jungs beim Lesen deutlich schlechter als Mädchen und müssen außerdem öfter Klassen wiederholen. Zudem brechen sie häufiger die Schule ab. Besonders hoch ist das Risiko bei Jungen mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien. Im Durchschnitt machen aber auch 21,6 Prozent weniger Männer das Abitur als Frauen. Wir möchten keinen negativen Diskurs über ein „Sorgenkind Junge“ führen, sondern Stereotype aufbrechen. Teil unseres Antrags ist deshalb zum Beispiel die Forderung, sich bei den Bundesländern für geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz von Jungen einzusetzen. Wir wollen junge Männer auch für sogenannte typisch weibliche Berufe interessieren, beispielsweise als Pfleger oder Erzieher. Gerade in der frühkindlichen Bildung ist es wichtig, dass Kinder beide Geschlechterrollen erleben können. Eine Studie des Statistischen Bundesamts zeigt, dass der Anteil von Männern als Erzieher und Tagesväter mit 3,5 Prozent Anteil zwar sehr gering ist. Allerdings sind im Jahr 2010 schon 15 400 Männer mit pädagogischer Betreuung befasst gewesen und damit fast 40 Prozent mehr als in 2007. Auch in den Schulen muss dieser Bildungsansatz weitergehen, so durch die besondere Förderung der Bedürfnisse der Jungen. Nur so kann sich ein Aufbruch von Stereotypen auch in der Gesellschaft fortsetzen, beispielsweise in der Familie, der Partnerschaft oder dem Beruf. Wir als FDP wollen keinen Geschlechterkampf, sondern einen Geschlechtertanz! Das ist auch Leitlinie dieses Antrags, der die Grundlage für einen weiteren Ausbau der Jungen- und Männerpolitik darstellen wird und für den ich deshalb um breite Zustimmung bitte. Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Man muss eingestehen: Sie haben schon besorgniserregendere Anträge vorgelegt! Im Grundsatz befürwortet Die Linke eine Jungen- und Männerpolitik, denn jedes Kind und jede bzw. jeder Jugendliche – egal, welchen Geschlechtes, welcher Herkunft, welcher Weltauffassung und unabhängig von seiner oder ihrer sexuellen Identität – muss bestmöglich in seiner Entwicklung gefördert und auf seinem Lebensweg unterstützt werden. Will die Regierung neue Gruppen in eine Förderung einbeziehen, so ist das zunächst einmal zu begrüßen. Wer Ihren Antrag jedoch im Detail liest, wird einige Fragezeichen setzen müssen. Wer ihn im Einzelnen studiert, kommt unweigerlich nicht um einige kritische Fragen und Einwände herum. Warum? Jede Politik der Förderung muss emanzipatorisch sein. Sie sollte bestehende Machtverhältnisse kritisieren und hinterfragen. Bei genau diesem Punkt liegt bei Ihrem Antrag die Krux. Denn dies tut Ihr Antrag nach meiner Einschätzung nicht. Ihr Antrag darf einerseits nicht dazu führen, dass eine Jungenförderung auf Kosten der bestehenden Frauen- und Mädchenförderung stattfindet. So selbstverständlich dies sein sollte, so wichtig scheint es mir angesichts einer Reihe öffentlicher Äußerungen der Ministerin in der Vergangenheit zu sein, nochmals nachdrücklich auf diesen Punkt zu verweisen. Sie darf auch nicht dazu führen, dass bestimmte Männlichkeits- und Rollenbilder auf Kosten anderer gefördert werden, dass eben genau jene Jungen nicht gefördert werden, die einer Unterstützung bedürften, zum Beispiel weil sie aufgrund ihrer sexuellen Neigung öffentlich diskriminiert werden. Ich habe hier gewisse Befürchtungen – nicht zu Unrecht, wie ich denke. Aber zunächst einmal ist festzuhalten, dass Sie in Ihrem Antrag eine große Zahl von Forderungen aufstellen, die meine ausdrückliche Unterstützung verdienen. Sie wollen zum Beispiel mehr Männer für Erzieherberufe gewinnen. Dies wird helfen, alte Stereotype in der Arbeitswelt zu durchbrechen. Und das ist wirklich gut so. Sie wollen Männer in ihren Aufgaben als Väter stärken. Zweifelsohne ist dies ein wichtiger Punkt, der angegangen werden sollte. Sie stellen zudem eine Forderung nach neuen und weiteren wissenschaftlichen Studien auf. Es kann nie schaden, zu wissen, was der Patient hat, bevor man ihn behandelt. Des Weiteren wollen Sie bei der Elternarbeit verstärkt die Väter einbinden. Es ist kaum notwendig, zu erwähnen, dass dies überfällig ist. Und schließlich ist es insgesamt für unsere Gesellschaft gewinnbringend, wenn eine Politik für junge Menschen aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zusammengeführt und gebündelt wird. In all diesen Punkten bin ich ganz auf Ihrer Seite. Jedoch ist das nur die eine Seite der Medaille. Die andere, weniger schöne Seite zeigt sich, wenn man genauer hinsieht, zwischen den Zeilen liest und sie in den Kontext Ihrer Wertevorstellung und Weltansicht stellt. Das erschließt sich, wenn man die vielen Äußerungen der Bundesfrauenministerin Kristina Schröder heranzieht, die wir alle kennen und die dazu geeignet sind, den Antrag in den Zusammenhang Ihrer politischen Absichten zu stellen. Frau Schröder, zunächst eine Anmerkung: Man wird das Gefühl nicht los, dass Sie verzweifelt nach einem konservativen und öffentlichkeitswirksamen Markenkern Ihrer Regierungszeit suchen. Sie glauben scheinbar, diesen in der Jungenpolitik gefunden zu haben. Ich hege den Verdacht, dass Sie, die Sie immerhin die Frauenministerin sind, mit einem neuen Thema von Ihrer Blockadehaltung in der Frauenpolitik ablenken wollen. Immer stärker rücken Sie die Belange von Jungen und Männern in den Fokus, Sie schreiben sie im Koalitionsvertrag fest und wenden sich gleichzeitig von der Mädchenpolitik ab. Jungenpolitik muss aber die Mädchenpolitik sinnvoll ergänzen. Sie darf sie nicht – nicht einmal im Ansatz – verdrängen. Die strukturell verankerte Benachteiligung vieler Mädchen ist nicht zu leugnen, und ihre Beseitigung muss unsere zentrale Aufgabe bleiben. Es sollte also darum gehen, eine zusätzliche Förderung zu schaffen, ein Miteinander von Mädchen- und Jungenpolitik auf die Beine zu stellen! Es muss ein Miteinander und kein Gegeneinander geben! Das kann ich bei Ihnen aber nicht erkennen. Zwar deuten Sie die Notwendigkeit eines ergänzenden Miteinanders in dem Feststellungsteil Ihres Antrags an. Die in dem Antrag aufgestellten Forderungen beziehen sich aber nur auf männliche Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Den Andeutungen folgen keine Taten. Gleichzeitig entziehen Sie in der Förderpraxis heimlich, still und leise den Mädchenprojekten im Kinder- und Jugendplan Gelder und weisen sie den Jungenprojekten zu. Die kritische Frauenforschung hat mit Regelmäßigkeit darauf hingewiesen, dass Frauen und ihre Anliegen im politischen Prozess nicht voll repräsentiert werden. Ich bitte Sie, das Klischee der Frau als nicht repräsentiertes Geschlecht, sollte gerade von dem Ministerium, das sich um Gleichstellung bemühen soll, nicht bedient werden. Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsko-alition, muss ich Sie denn tatsächlich daran erinnern, dass eine Frauen- und Mädchenförderung immer noch vordringlich ist, dass sie wirklich weiterhin politisch ganz weit oben auf der Agenda stehen muss? Muss ich Sie an all die tief verankerten Benachteiligungen von Frauen in unserer Gesellschaft erinnern, zum Beispiel im Bildungssystem oder in der Arbeitswelt, dass prestigeträchtige Berufe immer noch vor allem von Männern dominiert werden, dass sogenannten Frauenjobs nach wie vor ein geringer gesellschaftlicher Status zugeschrieben wird, dass Frauen weniger verdienen, nur selten in Aufsichtsräten und auf Chefposten anzutreffen sind, dass Frauen im Durchschnitt trotz gleicher Bildung als unqualifizierter eingestuft werden, weil die Frauendomänen des Arbeitsmarktes im gesellschaftlichen Wertesystem einen geringeren Status haben? Solche Statuszuschreibungen erschweren die Aufstiegschancen vieler Frauen. Diese Rollenmuster können dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Fähigkeiten geringer schätzen. Nach wie vor ist es gang und gäbe, dass die sogenannten „Old Boys Networks“ Frauen spätestens in der Mitte ihrer Karriereleiter stoppen. Ähnliches lässt sich beispielsweise über die Situation von Mädchen in der Ausbildung sagen: Weibliche Auszubildende bekommen eine geringere Ausbildungsvergütung, arbeiten oftmals unter schlechteren Bedingungen, machen regelmäßiger Überstunden, erhalten seltener Überstundenausgleiche. Ihre Wünsche bezüglich des Urlaubszeitpunkts werden wesentlich seltener berücksichtigt. Die Liste an solchen Beispielen könnte ich endlos verlängern. Sie sind in zahlreichen Studien erforscht worden und auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Sie prägen den Alltag von Mädchen und Frauen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Aber dennoch gibt es in der BRD bis dato keine umfassende politische Strategie zur Überwindung dieser Benachteiligungen, sondern nur Flickwerk. Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich besonders irritiert. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die angeblich zu hohe Zahl von Frauen in Erziehungs- und Bildungsberufen problematisch finden, da dadurch – ich zitiere – „positive Vorbilder“ für Jungen fehlen würden, sogenannte „moderne männliche Rollenvorbilder“, wie es Ihr Ministerium bezeichnet. Frau Schröder, müssen nach Ihrer Auffassung Vorbilder für Jungs „echte Kerle“ sein, wie man es in gewissen Kreisen ausdrückt? Gibt es nicht ganz verschiedene männliche Rollenbilder? Und sind sie nicht alle gleich viel Wert? Können Frauen nicht für Jungs eine wertvolle Identifikation ermöglichen? Muss nicht gerade auch Jungen und Männern Geschlechterdemokratie, Gleichbehandlung und die Vielfalt der Lebensweisen vermittelt werden? Sollte es nicht gerade auch darum gehen, die Männlichkeit in traditioneller Form aufzubrechen und alle Lebensformen, gerade auch beispielsweise der Homosexualität, in einem Projekt, das Jungen fördern will, positiv zu berücksichtigen? Ich denke schon! Ihr Vorschlag weist aber all diese Lücken und Blindflecken auf. Frau Schröder hat ihre altmodische Sicht auf Geschlechterrollen in einen „SPIEGEL“-Interview vom 8. November 2010 dargelegt. Dort giftete sie: „Jungs, die bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, bekommen oft, bis sie zwölf Jahre alt sind, weder in der Kita noch in der Grundschule einen Mann zu Gesicht“. Offensichtlich ein Skandal für sie. Das Zitat von ihr ist nicht weniger als ein unerträglicher Angriff auf all die wundervollen Regenbogenfamilien und die vielen alleinerziehenden Frauen in diesem Land, die sich Tag für Tag hingebungsvoll und gegen all die widrigen Umstände in Beruf und Alltag um ihre Kinder kümmern. Ich halte es des Weiteren nicht für hilfreich, Jungs zu den sogenannten Sorgenkindern der Bildung zu erklären. Denn es ist eben nicht so, wie uns die schwarz-gelbe Regierung weismachen will, dass Jungs per se schlechter in der Schule sind und deshalb hilfebedürftig sind – ebenso wenig wie angeblich „die“ Mädchen. Die Verliererinnen und Verlierer des Bildungswesens in der BRD zu identifizieren, erfordert Differenzierungsvermögen. Auf jeden Fall gilt es, ins Auge zu nehmen, was Thema unzähliger Studien der letzten Jahre war, nämlich, dass es vor allem sozial benachteiligte und arme Kinder und Jugendliche sind, die schlechtere Chancen auf Bildung und späteren beruflichen Erfolg haben. Da müssten Sie politisch den Hebel ansetzen! Diesen Punkt im allerletzten Abschnitt ihres Antrags zu verstecken, dort auszuführen, hier „gegebenenfalls nachjustieren“ zu wollen, ist unzureichend und wird dem Problem keinesfalls gerecht, nicht einmal im Ansatz! In diesem Land, in der reichen BRD, ist mittlerweile jeder fünfte Jugendliche von Armut bedroht. Es besteht also ein großer sozial-, jugend- und familienpolitischer Handlungsbedarf. Dabei sollten wir festhalten: Nur eine fröhliche und unbelastete Jugend ist eine wirkliche Jugend! Allen jungen Menschen müssen durch den Gesetzgeber Steine – welcher Art auch immer – aus dem Weg geräumt werden, damit jeder und jede die Möglichkeit hat, seine bzw. ihre eigene Identität, ihre Stellung in der Gesellschaft, ihre ökonomische Eigenständigkeit zu finden, ohne dabei mit Perspektiv- und Chancenlosigkeit konfrontiert zu werden. Bitte berücksichtigen Sie unsere Anmerkungen, reden Sie noch einmal Ihrer Ministerin ins konservative Gewissen, und Sie werden sehen, dass auch die linke Seite dieses Hauses einen Antrag aus Ihrer Feder mittragen wird. Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Grünen verstehen unter moderner Gleichstellungspolitik eine Politik, die gemeinsam von Männern und Frauen gemacht wird – und sich an beide Geschlechter richtet. Wenn die Bundesregierung nun ihr Augenmerk auf die Förderung von Jungen und Männern richtet, ist das zunächst einmal erfreulich, weil das in der Vergangenheit tatsächlich zu wenig getan wurde. Wenn sie dies aber zulasten der Mädchen- und Frauenförderung tut, läuft etwas grundfalsch! Beide Bereiche müssen im Haushalt 2012 ausreichend finanziert werden. Anders als von der Familienministerin behauptet, sind nicht die Frauen schuld, dass sie weniger verdienen als die Männer, weil sie etwa die falschen Fächer studieren oder kein Verhandlungsgeschick besitzen. Von solchen Behauptungen fühlen Frauen sich zu Recht verhöhnt. Denn sie sind es, die noch immer einen Großteil der Familienarbeit schultern – und dafür auf dem Arbeitsmarkt bestraft werden. Der Feminismus ist keinesfalls überholt. Vielmehr müssen endlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die gleiche Entwicklungsmöglichkeiten für beide Geschlechter eröffnen! Und hier kommen die männlichen Feministen ins Spiel, zu denen auch ich mich zähle. Wirkliche Gleichstellung kann nur dann funktionieren, wenn die Geschlechter an einem Strang ziehen. Auch Männer möchten mehr Wahlmöglichkeiten und damit mehr Freiraum für Selbstbestimmung haben. Auch sie möchten Kinder, Karriere, Engagement und Freizeit miteinander vereinbaren. Rund 60 Prozent der Männer mit Kindern unter 18 Jahren wünschen sich eine Arbeitszeitreduzierung. Hier gibt es noch viel zu tun! Und hier folgen wir auch einigen grundsätzlichen Ideen des Antrags der Regierungskoalition. Es ist richtig, dass schon mit Jungen und Mädchen in Kindertageseinrichtungen und Schulen Rollenzuschreibungen thematisiert und kritisch hinterfragt werden müssen. Es müssen Methoden entwickelt werden, mit denen auch Jungen, die in der Tat häufig zu den sogenannten Bildungsverlierern gehören, angemessen gefördert werden können. Wenn die Familienministerin dann aber öffentlich vorschlägt, es sollten mehr Diktate mit Fußballgeschichten geschrieben werden, anstatt sich immer nur mit Schmetterlingen und Ponys zu beschäftigen, dann ist das ein Rückschritt in vorfeministische Zeiten und eine Zementierung von Rollenzuschreibungen. Was wir brauchen, ist eine individuelle, geschlechtersensible Förderung jedes Einzelnen. Und gerade keine Förderung „des Jungen“ oder „des Mädchens“ an sich. Um Kindern und Jugendlichen eine optimale Auseinandersetzung mit Rollenmodellen zu ermöglichen, müssen in Kindertageseinrichtungen und Schulen männliche und weibliche Pädagogen gleichermaßen vertreten sein. Hier können wir Ihrem Antrag folgen. Ohne die Verankerung von Genderaspekten in der Lehrer- und Erzieherausbildung bringt das aber wenig. Lehrer und Erzieher müssen darauf vorbereitet werden, Kinder und Jugendliche geschlechtersensibel zu fördern. Nicht folgen können wir Ihnen, wenn Sie vorschlagen, zu prüfen, wie erzieherische und pflegerische Berufe attraktiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbessert werden können. Wieso denn ein Prüfauftrag? Die Rahmenbedingungen, die notwendig sind, um eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, liegen doch seit Jahren auf der Hand. Packen Sie es an: Engagieren Sie sich für eine gute Bezahlung der erzieherischen und pflegerischen Berufe, damit sie für Männer wie für Frauen attraktiver werden! Sorgen Sie darüber hinaus aber auch für eine flächendeckende, qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung! Setzen Sie Anreize für eine paritätische Aufteilung der Elternzeit! Machen Sie sich für eine Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen stark! Eine moderne Gleichstellungspolitik muss Jungen und Mädchen, muss Frauen und Männer fördern! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7088, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5494 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII garantieren – Drucksache 17/7029 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag von der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7029 liest sich ganz flott, aber schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass die politische Stoßrichtung Ihres Antrages untragbar ist. Sie fordern allen Ernstes eine Regelung im SGB II und SGB XII, nach der Einkommen und Vermögen eines neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermittlung nicht zu berücksichtigen sind. Mit einer solchen Regelung untergraben Sie die Konstruktion von Arbeitslosengeld II und des Sozialgeldes, um so einen weiteren Schritt bei der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zu gehen. Diesen Schritt werden wir nicht mit Ihnen gehen und lehnen Ihren Antrag daher ab. Menschen, die in sogenannten Patchworkfamilien mit Kindern zusammenleben, bilden keine bloße Wohngemeinschaft. Der Entschluss, „zusammenzuziehen“, fällt nicht vom Himmel und ist in der Regel wohl überlegt. Dieses „Zusammenziehen“ begründet kein einfaches „Zusammenwohnen“, sondern ein „Zusammenleben“! Diese Einstandsgemeinschaft bildet die sogenannte Bedarfsgemeinschaft. Sie führen es selber in Ihrem Antrag auf, dass das das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08) die bestehende Regelung als verfassungskonform einschätzt und feststellt, dass der Gesetzgeber typisierend unterstellen darf, dass der neue Partner auch die Verantwortung für die Kinder mit übernehme. Sie thematisieren anschließend zwei Probleme: erstens die Bereitschaft und Fähigkeit des neuen Partners, diese Verantwortung zu übernehmen, und zweitens die Frage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet. Ich frage mich ja schon, in welcher Welt Sie leben und welches Menschenbild Sie vor Augen haben. Wenn der neue Partner – und ich vermisse in Ihrem Antrag die Formulierung der „neuen Partnerin“, aber das nur am Rande – die finanzielle Fähigkeit nicht besitzt, so stellt sich das Problem nicht, da in diesem Fall alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigt sind. Was die Frage der Bereitschaft betrifft, so möchte ich gerne eine Gegenfrage in den Raum stellen: Würden Sie mit einem Menschen zusammenleben wollen, der mit Ihnen zwar Tisch und Bett teilt, Ihnen aber klar zu verstehen gibt, dass er Ihre Kinder nicht „durchfüttern“ wird? Mir käme das nicht in den Sinn. Und die Frage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet, kann nicht Ihr Ernst sein. Gerade im Sinne einer solidarischen und menschlichen Gesellschaft tun wir gut daran, Menschen eine solche Unterlassung nicht zu unterstellen. Die Fälle, in den die neue Partnerin oder der neue Partner den Kindern die Unterstützung in der Familie verwehrt, dürfen nicht als Regelfall dargestellt werden, da dies sicher nicht der Regelfall ist. Wie wollen Sie so etwas feststellen? Generalverdächtigungen bringen uns nicht weiter. Und wir als Parlament sollten nicht in die Familien hineinregieren. Menschen nicht zu bevormunden, schreiben Sie sich doch immer auf die Fahne, wenn es Ihnen gerade passt. Kam nicht aus Ihren Reihen die massive Kritik an den damals diskutierten Bildungsgutscheinen im Zuge der Debatte um das Bildungs- und Teilhabepaket? Die Gutscheinlösung würde die Arbeitslosengeld-II-Empfänger bevormunden. Nach dem Sportwettenurteil des Landgerichts Köln wetterte die Kollegin Lötzsch auf dem Theodor-Heuss-Platz in Bremerhaven: „Wenn Menschen, die Hartz IV beziehen, sich entscheiden, einen Teil ihres Geldes für Sportwetten auszugeben, so ist das ihr gutes Recht. Wer arm ist, darf nicht noch bevormundet werden.“ Viel entschiedener abzulehnen ist die Art und Weise, mit der Ihr Vorschlag die sogenannten Patchworkfamilien privilegieren würde. Eine Nichtberücksichtigung des Einkommens und Vermögens des neuen Partners eines Elternteils in einer Bedarfsgemeinschaft würde die nichteheliche Patchworkfamilie finanziell wesentlich besser stellen als eine Kernfamilie oder eine eheliche Stieffamilie im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an § 20 SGB XII erinnern. Er besagt, dass Personen, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfangs der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden dürfen als Ehegatten. Das bedeutet unter anderem, dass Einkommen und Vermögen des Partners in gleichem Umfang zu berücksichtigen sind wie Einkommen und Vermögen eines Ehegatten. Vor der Änderung im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz wurden verheiratete Partner gegenüber unverheirateten Partnern schlechter gestellt. Mit der Änderung der Großen Koalition wurde daher klargestellt, dass – auch entsprechend der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers – Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft in beiden Fallgestaltungen auf den Bedarf eines nicht leiblichen Kindes anzurechnen sind. Damit würde die Schlechterstellung von Ehen gegenüber nichtehelichen Partnerschaften aufgelöst. Das Bundesverfassungsgericht wird über die vorliegende Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1083/09) in gewohnter Art und Weise entscheiden. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist rückwärtsgewandt und daher abzulehnen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Mit Ihrem Antrag „Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII garantieren“ fordern Sie ein Gesetz, durch das eine Regelung in das SGB II und SGB XII eingeführt werden soll, wonach Einkommen und Vermögen der neuen Partner des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des Kindes nicht zu berücksichtigen sind. Hierbei verkennen Sie jedoch schlichtweg, dass das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 13. November 2008 ausdrücklich die bestehenden gesetzlichen Regelungen bestätigt und keine verfassungsrechtlichen Bedenken sieht. Oder möchten Sie allen Ernstes, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, die Entscheidung des Bundessozialgerichts als oberstes Bundesgericht der Sozialgerichtsgerichtsbarkeit infrage stellen? Das kann doch nun wirklich nicht Ihr Ernst sein! Bei den seit Inkrafttretens des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der Fassung des Fortentwicklungsgesetzes bestehenden gesetzlichen Regelungen des SGB II und SGB XII sind bei Personen, die mit einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, auch Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen. Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass Personen, die miteinander in einem Haushalt leben, ja „aus einem Topf“ wirtschaften und in jeder Lebenslage füreinander einstehen. Daher ist es auch sachgerecht, Vermögen und Einkommen dieser Personen – unabhängig von der rechtlichen Konstruktion der Partner-schaft – zu berücksichtigen. Dies sieht auch das Bundessozialgericht so; denn die Wahl der Lebensform „eheähnliche Gemeinschaft“ darf gegenüber der Lebensform „Ehe“ nicht zum Nachteil der Allgemeinheit gereichen. Auch Ihr Vorwurf, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, der Rechtsanspruch des Kindes auf Gewährung eines Existenzminimums gegen den Staat sei nicht hinreichend gewahrt, geht ins Leere. So ist es zwar richtig, dass sich das Kind nach der gesetzlichen Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II das Einkommen einer Person „entgegenhalten“ lassen muss, gegen die es aber keinen direkten Anspruch auf Unterhalt hat. Allerdings sieht das Bundessozialgericht den Rechtsanspruch des Kindes auf Gewährung des Existenzminimums gegen den Staat, Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, als hinreichend gewahrt, da das Kind einen Unterhaltsanspruch gegen die Mutter bzw. den Vater aus der sogenannten Notgemeinschaft nach § 1603 Abs. 2 BGB hat, der auch ohne Berücksichtigung einer Selbstbehaltsgrenze zu erfüllen ist. Abschließend bleibt somit festzuhalten, dass die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im SGB II und SGB XII, die sowohl für verheiratete als auch nichtverheiratete Paare gilt, absolut sachgerecht ist. Hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, das Urteil des Bundessozialgerichts aufmerksam gelesen, dann hätten auch Sie festgestellt, dass Ihr Antrag dahingehend wenig zielführend ist. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute beraten, wirft schwierige Rechtsfragen auf, und so leicht wie die Antragsteller kann man es sich nicht machen. Es geht um die Verfassungskonformität der Regelungen im SGB II und im SGB XII, die die Einkommens- und Vermögensanrechnung vorsehen, speziell bei Kindern in sogenannten Patchworkfamilien. Wir sprechen hier insbesondere von der Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II durch das zum 1. August 2006 in Kraft getretene Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende, das Fortentwicklungsgesetz. So sieht § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II heute vor, dass bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen sind. Gerade Letzteres stößt bei Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, auf verfassungsrechtliche Bedenken. Richtig ist insoweit, dass das hilfebedürftige Kind in einer Patchworkfamilie keine einklagbaren Unterhaltsansprüche gegenüber der neuen Partnerin oder dem neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen Vaters hat. Sie fordern deshalb mit Ihrem Antrag unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen eine Neuregelung für das SGB II und das SGB XII, nach der Einkommen und Vermögen der neuen Partnerin oder des neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des Kindes nicht zu berücksichtigen sind. Zum Hintergrund verweisen Sie auf die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der oben genannten Entscheidung, wonach – ich zitiere –: „ein Hilfebedürftiger nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden darf, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist“. Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass die generelle Unterstellung einer Unterstützung durch den mit dem Elternteil neu zusammenlebenden Partner einen verfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf freiwillige Leistungen Dritter darstelle. Ich möchte im Folgenden darauf mit drei Anmerkungen näher eingehen: Erstens. Es ist mir und meiner Fraktion durchaus bewusst, dass unter Umständen tatsächlich infolge des angesprochenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts für den speziellen Bereich der Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Kindern in einer sogenannten Patchworkfamilie eine Änderung der Rechtslage eingetreten sein kann. Die bisherige Bedarfsermittlung unter Berücksichtigung des Einkommens und des Vermögens der neuen Partnerin oder des neuen Partners des leiblichen Elternteils könnte sich als nicht verfassungskonform erweisen. Dann wäre der Gesetzgeber verpflichtet, zu handeln. Die bisherigen Regelungen im SGB II und im SGB XII hätten keinen Fortbestand, und wir bräuchten eine gesetzliche Neuregelung. Ausschließen können wir das nicht. Jedoch ist es zurzeit keineswegs sicher, ob die von der Linken monierten Rechtsnormen einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht tatsächlich nicht standhalten. Immerhin – und daran möchte ich in diesem Zusammenhang erinnern – standen seinerzeit nicht die hier angesprochenen Einzelnormen im SGB II und SGB XII auf dem Prüfstand, sondern es ging bei der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Kern um die generelle Herleitung und Ermittlung der Regelsätze. Dazu hat das Gericht umfassend ausgeführt. Es ist auch unstreitig, dass es mit seiner Entscheidung das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums begründet hat. Aber zu den hier maßgeblichen Regelungen hat sich das Gericht explizit nicht geäußert – also auch deren Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt. Ich weiß, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, das anders sehen. Ihre Auffassung ist aber das Ergebnis einer Auslegung des Bundesverfassungsgerichtsurteils, die natürlich in diesem Sinne zulässig, jedoch nicht zwingend ist. Man kann das durchaus auch anders werten – insbesondere, weil sich das Gericht eben nicht mit dem konkreten Sachverhalt der Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Kindern in Patchworkfamilien auseinanderzusetzen hatte. Insofern halte ich das mit Ihrem Antrag verfolgte Anliegen für verfrüht – wobei mir Ihre Intention schon durchaus klar ist: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist Ihnen ja seit eh und je ein Dorn im Auge. Es ist ja kein Geheimnis, dass Sie das SGB II am liebsten in Gänze wieder abschaffen würden. Da das nicht funktioniert, stellen Sie nun einzelne Vorschriften auf den Prüfstand. Das ist legitim. Aber Sie handeln damit im vorliegenden Fall aus meiner Sicht eindeutig vorschnell. Ich möchte Ihnen dazu meine Zweifel näher erläutern. Zweitens. Sie sagen, es sei nicht verfassungskonform, wenn von Gesetzes wegen unterstellt wird, dass jemand, der mit einer SGB-II-leistungsberechtigten Person mit Kindern zusammenzieht, eine Bereitschaft zur Finanzierung des nicht leiblichen Kindes hat. Ich frage Sie: Ist das wirklich so realitätsfern? Ist das Zusammenziehen nicht auch ein Ausdruck dessen, künftig füreinander und die Kinder dieser Bedarfsgemeinschaft einstehen zu wollen – natürlich nicht im unterhaltsrechtlichen Sinne, aber eben doch durch die faktische gemeinsame Lebensführung innerhalb eines Haushaltes? Ist der neue Partner des leiblichen Elternteils aufgrund von Einkommen und Vermögen in der Lage, Lebenshaltungskosten in größerem Umfang zu übernehmen, kommt das im Ergebnis auch dem nicht leiblichen Kind zugute. Das können wir an dieser Stelle nicht ausblenden. Drittens. Aber auch vor dem Hintergrund des Urteils des Bundessozialgerichts, BSG, vom 13. November 2008 habe ich meine Zweifel daran, ob wir es nach dem von Ihnen zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts wirklich mit einer neuen Rechtslage zu tun haben. Das BSG hat doch explizit die von Ihnen angesprochene Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu prüfen gehabt – und zwar in einem Falle einer sogenannten Patchworkfamilie. Viertens. Es kam dabei – worauf Sie ja in Ihrem Antrag auch völlig zutreffend hinweisen – zu einer unmissverständlichen Bewertung der Regelung: Sie wurde als verfassungskonform angesehen! Das BSG hat dargelegt, dass es 2006 der Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II bedurfte, da in der Vergangenheit mit dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft noch nicht feststand, zwischen welchen Personen eine Einkommens- und Vermögensanrechnung stattfindet. Erst die Neufassung hat Klarheit geschaffen, dass eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht lediglich bei dem leiblichen Kind und dem Partner, sondern auch bei dessen Kind, also dem nicht leiblichen, stattfinden soll. Ebendiese Regelung hat das BSG für verfassungsgemäß erachtet. Es hat insbesondere – entgegen Ihrer Ansicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken – darin keine Verletzung des Gebots zur Sicherung des Existenzminimums gesehen. Der Gesetzgeber darf danach im Rahmen eines ihm zuzubilligenden Gestaltungsspielraums – ich zitiere : bei der Gewährung von Sozialleistungen unabhängig von bestehenden bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten die Annahme von Hilfebedürftigkeit davon abhängig machen, ob sich für den Einzelnen typisierend aus dem Zusammenleben mit anderen Personen Vorteile ergeben, die die Gewährung staatlicher Hilfe nicht oder nur noch in eingeschränktem Umfang gerechtfertigt erscheinen lassen. Ich finde diese Argumentation des Gerichts schlüssig und nachvollziehbar. Wenn von einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II auszugehen ist, darf bei Kindern Einkommen und Vermögen des neuen Partners des leiblichen Elternteils angerechnet werden. Wir können vor dem Hintergrund dieses Urteils des Bundessozialgerichts derzeit nicht von einer verfassungswidrigen Gesetzeslage ausgehen. Sollte das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die anhängige Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes allerdings zu einer anderen Beurteilung als das Bundessozialgericht kommen und § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II für verfassungswidrig erklären, dann besteht für den Gesetzgeber tatsächlich Handlungsbedarf. Einstweilen halten wir den nicht für gegeben. Ihr Antrag ist voreilig. Es gilt zunächst den Ausgang des Beschwerdeverfahrens abzuwarten. Dann erst haben wir endgültig Klarheit, ob die Regelung verfassungskonform ist oder nicht. Pascal Kober (FDP): Der Antrag der Linken zur Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII zeigt sehr deutlich, wie die Kolleginnen und Kollegen der Linken arbeiten. Sie stellen Behauptungen auf, die die Bevölkerung bewusst verunsichern, die bewusst skandalisieren und die bewusst die Politik in Verruf bringen sollen. All dies tun sie wider besseres Wissen. Dieses Muster ihres Verständnisses von parlamentarischer Arbeit wiederholt sich immer wieder bei den unterschiedlichsten Themen, im Sozialbereich allerdings mit einem besonderen Schwerpunkt. Ich möchte dies belegen, indem ich erst einmal aus dem Antrag zitiere. Dort heißt es auf Seite 2: Damit wird gegen das Grundrecht des Kindes auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen. Diese verfassungswidrige Gesetzeslage ist schnellstmöglich zu korrigieren. Dem möchte ich folgendes Zitat gegenüberstellen: Die zur Anwendung kommende Regelung ist verfassungsgemäß. … Das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wird durch die zur Anwendung kommende Regelung nicht verletzt. Sie erkennen den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Aussage aus dem Antrag der Linken und dem zweiten Zitat. Letzteres Zitat ist aus einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 13. November 2008, in dem es um die Berücksichtigung des Einkommens des Partners in der Bedarfsgemeinschaft zugunsten der nicht leiblichen Kinder ab dem 1. August 2008 geht. Es geht also genau um den Sachverhalt, von dem der Antrag der Linken handelt. Die Einschätzung des höchsten deutschen Sozialgerichts ist eine vollkommen andere als die der Linken. Daher halte ich ihre Behauptungen für unredlich und schädigend. Ich bin froh, dass in Deutschland Gerichte über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheiden und nicht die Politik der Linken. Die bestehende Regelung, dass das Einkommen von in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Erwachsenen auch für nicht leibliche Kinder angerechnet wird, ist am 1. Juni 2006 im Deutschen Bundestag durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit den Stimmen von SPD und CDU/ CSU beschlossen worden. Die FDP hatte damals gegen das Gesetz gestimmt, was aber nicht an dieser Einzelbestimmung lag, sondern an der grundlegend falschen Ausrichtung des damaligen Gesetzes. Diese spezielle Einzelfalländerung des damaligen Gesetzes halte ich für durchaus nachvollziehbar und sinnvoll. Die Kolleginnen und Kollegen der Linken stellen die Behauptung auf, dass „die derzeitigen sozialrechtlichen Regelungen massive Hürden für neue Partnerschaften und Familiengründungen darstellen.“ Sie müssen aber auch einmal weiterdenken: Eine Regelung, die erst dann das Einkommen des neuen Elternteils zur Anrechnung brächte, wenn die beiden Partner verheiratet wären, würde massive Hürden für die Schließung einer Ehe schaffen. Nun mag in Ihrem Weltbild die Ehe keine besondere Bedeutung haben; ich halte sie aber weiterhin für schützenswert. Es geht doch vielmehr um die Frage, ab wann Menschen sozialrechtlich füreinander einstehen und welche Rolle dabei die Kinder spielen. Wer mit einem Partner und dessen Kindern zusammenzieht, übernimmt Verantwortung für diese. Daher ist es nur folgerichtig, dass dies auch sozialrechtlich so bewertet wird. Maßgeblich ist für uns immer das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft. Ganz unabhängig davon, welcher Teil der Bedarfsgemeinschaft welches Einkommen einbringt, wird dann geprüft, ob die Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigt im Sinne des SGB II ist. Die Konsequenz des Antrags der Linken wäre, dass wir die Bedarfsgemeinschaft wieder auseinandernehmen und die jeweiligen Elternteile mit ihrem jeweiligen Einkommen berücksichtigen müssten. Dies lehnt die FDP ab. Katja Kipping (DIE LINKE): Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Hartz-IV-Regelsätzen festgestellt: „Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“ (BVerfG 1 BvL 1/09 vom 9. Februar 2010, Absatznummer 136). Ein hilfebedürftiges Kind in einer Patchworkfamilie hat keine einklagbaren Rechte gegenüber der neuen Partnerin oder dem neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen Vaters. Insofern stellt die generelle Unterstellung einer Unterstützung durch den Stiefelternteil einen verfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf „freiwillige Leistungen“ Dritter dar. Das nicht leibliche Kind ginge in einem Rechtsstreit leer aus, weil es gar keinen Rechtsanspruch auf Leistungen von dem Stiefelternteil hat. Auch die denkbare Alternative eines Auszugs steht dem unter 25 Jahre alten Nachwuchs aufgrund der rechtlichen Einschränkungen nur bedingt offen. Damit wird gegen das Grundrecht des Kindes auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen. Diese verfassungswidrige Gesetzeslage ist schnellstmöglich zu korrigieren. Hartz IV stigmatisiert, diskriminiert, es verletzt grundlegende Grundrechte bei der Gewährung der Existenz- und Teilhabesicherung. Hartz IV legt Menschen Unterhaltsverpflichtungen auf, die jeder zivilrechtlichen Grundlage entbehren. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Wenn Menschen keine unterhalts-rechtlichen Verpflichtungen eingegangen sind, so darf durch das Sozialrecht nicht das Gegenteil unterstellt und erzwungen werden. Gegen dieses Prinzip verstößt die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, SGB II. Durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz von 2006 wird festgeschrieben, dass Kinder in Patchworkfamilien zur Bedarfsgemeinschaft gehören. Seitdem gilt sowohl für verheiratete als auch für nicht verheiratete Paare: Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen findet grundsätzlich und immer statt. Es bleibt unberücksichtigt, ob und inwieweit eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet. Etwas anders gelagert ist die Situation im SGB XII. Hier wird im Unterschied zum SGB II eine Bedarfsdeckung des soziokulturellen Existenzminimums durch die Partnerin bzw. den Partner des leiblichen Elternteils unter Berücksichtigung von Freibeträgen ebenfalls unterstellt, allerdings widerlegbar. Diese sozialrechtliche Unterstellung ist in der Praxis aber nur schwer zurückzuweisen. Stellen Sie sich vor, ein Kind soll vor Gericht aussagen, dass der verdienende Partner seiner Mutter, zum Beispiel sein Stiefvater, nicht ausreichend Geld für alle gibt, speziell für das nicht leibliche Kind selbst. Fakt ist: Mit den sozialrechtlichen Konstruktionen im SGB II und im SGB XII kann die Existenzsicherung der Kinder in Patchworkfamilien nicht garantiert werden, weder die Existenzsicherung des nicht leiblichen Kindes einer Mutter oder eines Vaters noch die Existenzsicherung der leiblichen Kinder einer Mutter oder eines Vaters, weil die ausgezahlten Transferleistungen in der Bedarfs- bzw. Einsatzgemeinschaft nun für alle Kinder in der Patchworkfamilie reichen müssen. Das Bundessozialgericht, BSG, hat in einer Entscheidung vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08) die Regelung zwar als verfassungskonform eingeschätzt, der Gesetzgeber dürfe typisierend unterstellen, dass der neue Partner auch die Verantwortung für die Kinder mit übernehme. Die Frage, ob aufseiten des neuen Partners eine solche Bereitschaft und Fähigkeit besteht, hat das BSG ebenso wenig als verfassungsrechtlich problematisch angesehen wie die Frage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet. Diese Argumentation ist jedoch nicht überzeugend. Die entscheidende Frage, nämlich, wie die Existenzsicherung des Kindes garantiert werden kann, wird durch das Bundessozialgericht nicht befriedigend beantwortet. Aktuell liegt die Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes beim Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor (1 BvR 1083/09). Der Gesetzgeber sollte sich nicht seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährleistung des Existenzminimums entziehen und auf das Urteil warten. Es liegt in der Hand des Bundesgesetzgebers, die Sicherungslücken zu schließen und verfassungskonforme Regelungen zu schaffen. Dies sollte umgehend geschehen. Auch jenseits der verfassungsrechtlichen Bewertung ist ein dringender Handlungsbedarf gegeben. Denn die derzeitigen sozialrechtlichen Regelungen stellen massive Hürden für neue Partnerschaften und Familiengründungen dar. Neuerliche Partnerschaften und Familiengründungen werden für Leistungsberechtigte mit Kindern faktisch mit Leistungsentzug sanktioniert. Diese unhaltbare Rechtslage ignoriert den sozialen Wandel hin zu vermehrten Patchworkfamilien. Auch im Sinne einer menschlichen und solidarischen Gesellschaft sind die Barrieren und Hürden für die Gründung neuer Partnerschaften und Familien abzubauen. Die Fraktion Die Linke beantragt aus genannten Gründen, das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums von Kindern in Patchworkfamilien gesetzlich zu garantieren. Diese Garantie gilt unabhängig von der Frage, ob das neue Paar verheiratet ist. Zu diesem Zweck soll eine Regelung im SGB II und im SGB XII eingeführt werden, nach der Einkommen und Vermögen der neuen Partnerin oder des neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des nicht leiblichen Kindes nicht zu berücksichtigen sind. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Fraktion Die Linke bringt mit dem vorliegenden Antrag eine Forderung in den Deutschen Bundestag ein, die wir von Bündnis 90/Die Grünen nur unterstützen können. Schon in der vergangenen Wahlperiode haben wir einem inhaltsgleichen Antrag der Fraktion (Drucksache 16/9490) zugestimmt. Es ist völlig inakzeptabel, dass minderjährige bzw. unter 25-jährige unverheiratete Kinder von in einer gemeinsamen Wohnung lebenden Stiefeltern bzw. stiefelternähnlichen Personen finanziell abhängig werden. Eine solche Regelung stigmatisiert die betroffenen Kinder. Wir fordern weiterhin, wie schon in unserem Antrag vom 4. April 2006 „Hartz IV weiterentwickeln – Existenzsichernd, individuell, passgenau“ (Drucksache 16/1124), dass in eheähnlichen Gemeinschaften Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten nicht gezwungen werden dürfen, ihr Einkommen für den Bedarf der Kinder der Partnerinnen und Partner einzusetzen, wenn es nicht die gemeinsamen sind. Auch wenn ein Ehepartner Kinder in die Ehe einbringt, darf dies nicht zu einem sozialrechtlichen Unterhaltsanspruch führen, der über den zivilrechtlichen Anspruch hinausgeht. Die mit den Stimmen der schwarz-roten Regierungskoalition beschlossene und zum 1. August 2006 in Kraft getretene Novellierung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II regelte ausdrücklich, dass auf den Bedarf von mit einem Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden unverheirateten Kindern auch Einkommen und Vermögen des mit dem Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners anzurechnen ist. Eine solche Regelung ist nicht nur unwirtschaftlich und unmenschlich, weil Partner daran gehindert werden, zusammen in eine Wohnung zu ziehen. Eine solche Regelung ist auch verfassungsrechtlich problematisch. Wieder einmal könnte das Bundesverfassungsgericht, BVerfG, eine Regelung für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz erklären. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde ist bereits beim BVerfG anhängig. Darüber hinaus ist die Regelung aus rechtssystematischen Gründen abzulehnen. Eine Gleichstellung von Lebensgemeinschaften mit Ehen im Sozialrecht steht nicht im Einklang mit den Regelungen im Zivilrecht. Wenn die Union in ihrer Begründung zur Ablehnung des Antrags der Linksfraktion ausführt, „das SGB II gehe davon aus, dass die Menschen in einer Bedarfsgemeinschaft füreinander einstünden und zwar unabhängig von der genauen Familienkonstellation“ (Drucksache 16/11232), muss sie auch den ehrlichen Schritt gehen und zu einer wirklichen Gleichbehandlung der Rechte und Pflichten im Zivilrecht beitragen. Auch die FDP äußerte in der vergangenen Wahlperiode verfassungsrechtliche Bedenken an, „da Partner eines Elternteils nunmehr für die Stiefkinder wie für eigene Kinder aufkommen müssten, obwohl sie zivilrechtlich hierzu nicht verpflichtet seien“ (Drucksache 16/11232). Die FDP begründete ihre Enthaltung zum Antrag der Linksfraktion mit dem Umstand, dass bislang keine präzise Vorstellung von dem zu korrigierenden Missstand vorliege. Die Bundesregierung müsse erst einmal Fakten liefern, bevor der Deutsche Bundestag Entscheidungen treffen könne. Die jetzt beginnende parlamentarische Auseinandersetzung im Arbeits- und Sozialausschuss wird zeigen, ob die FDP in ihren nunmehr zwei Regierungsjahren entsprechend geliefert hat. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7029 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention – Drucksache 17/6804 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Peter Aumer (CDU/CSU): Neben den großen positiven Errungenschaften bietet das Internet leider auch Kriminellen mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten immer neue Tatgelegenheiten. Eine Tathandlung ist der Missbrauch von elektronischen Zahlungsmitteln, um hierdurch „Geld zu waschen“. Für das Jahr 2010 liegen aufgrund neuer Erfassungsmöglichkeiten erstmals Zahlen zur Internetkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik vor. Allein in Bayern sind 22 965 Fälle von Internetkriminalität bekannt geworden. In 507 Fällen wurde das Internet als Tatmittel zur Geldwäsche genutzt. Die gesetzlichen Grundlagen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland werden maßgeblich von Standards im internationalen Kontext bestimmt. Neben den Richtlinien des Rates und des Europäischen Parlaments sind dies als Motor der internationalen Geldwäschebekämpfung die Empfehlungen der Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF. Die FATF ist ein zwischenstaatliches Gremium, das mit eigenem Budget und Personal bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, in Paris angesiedelt ist. Deutschland ist als eines der Gründungsmitglieder der FATF aktiv an der Erarbeitung und Weiterentwicklung der internationalen Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich stets zur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen bekannt. Die 36 Mitgliedstaaten der FATF haben sich verpflichtet, diese Standards in nationales Recht umzusetzen und deren Umsetzung in regelmäßigen Abständen von der FATF überprüfen zu lassen. Von der FATF wurden im Deutschlandbericht vom 19. Februar 2010 Defizite im deutschen Rechtssystem bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung identifiziert, die nach ausführlicher Prüfung und Diskussion in der Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf beseitigt werden sollen. Über die Fortschritte, die im Prüfungsbericht konstatierten Mängel abzustellen, muss Deutschland im Februar 2012 an die FATF berichten. Um weitere reputationsschädliche Reaktionen seitens der FATF zu vermeiden, ist es daher erforderlich, dass Deutschland seine gesetzlichen Regelungen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, soweit diese nicht mit dem FATF-Standard vereinbar sind, bis Januar 2012 anpasst; das Gleiche gilt für die Implementierungspraxis. Die wesentlichen Monita der FATF betreffen das Geldwäschegesetz, GwG, und die dort geregelten präventiv wirkenden Sorgfalts- und Organisationspflichten mit aufsichtsrechtlicher Ausrichtung. Mit diesen Pflichten sollen die Geldwäscherisiken der verpflichteten Unternehmen minimiert und dadurch die Integrität, Reputation und Stabilität des Wirtschaftsstandorts Deutschland sichergestellt werden. Zudem werden die geldwäscherechtlichen Vorschriften im Kreditwesengesetz, KWG, Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, in der Abgabenordnung, AO, sowie der Prüfungsberichtsverordnung, PrüfungsberichtsVO, angepasst, wobei es sich überwiegend um redaktionelle Folgeänderungen handelt. Die christlich-liberale Koalition ist seit zwei Jahren darum bemüht, Bürokratie abzubauen. Um sicherzugehen, dass mit diesem Gesetz nicht das Gegenteil passiert, werden wir wegen der genauen Anpassung die öffentliche Anhörung der Sachverständigen am 19. Oktober 2011 abwarten. Nach der Anhörung werden wir im Finanzausschuss die letztliche gesetzliche Regelung beraten und beschließen. Martin Gerster (SPD): Bereits zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode beraten wir heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, in dem das Thema Geldwäscheprävention eine Rolle spielt. Deutschland steht auf diesem Feld international in der Kritik – insbesondere seit der verheerenden Beurteilung durch die bei der OECD angesiedelten Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, vom Februar 2010. Bislang hat Schwarz-Gelb die Problematik eher als unliebsamen Appendix behandelt. So wurden sowohl dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten EGeld-Richtlinie als auch dem sogenannten Schwarzgeldbekämpfungsgesetz mehr oder weniger umfangreiche Regelungen beigefügt, die sich einzelne Teile der FATF-Kritik angenommen haben. Ich meine aber, das Thema ist zu wichtig, um es in Form von Stückwerk abzuhandeln, und habe dies in den zurückliegenden Gesetzesberatungen immer wieder kritisiert. Insofern ist es zunächst einmal erfreulich, dass der vorliegende Gesetzentwurf endlich auch die zentralen Punkte der FATF-Kritik angehen will, die nicht im aufsichts- und strafrechtlichen Bereich liegen. Immer wieder wurden wir in den Ausschussberatungen von Herrn Staatssekretär Koschyk auf einen kommenden „großen Wurf“ vertröstet. Mit Blick auf die zur Beratung anstehende Initiative scheint jedoch die Sorge berechtigt, dass auch der weiteste Wurf am Ziel vorbeigehen kann. Grundsätzlich kann an der Notwendigkeit, auf diesem Gebiet am Ball zu bleiben, kein Zweifel bestehen. Das zeigen die Zahlen, die das BKA und die dort angesiedelte Zentralstelle für Verdachtsanzeigen, FIU, vor knapp zwei Wochen veröffentlich haben. Mit rund 11 000 Verdachtsanzeigen wurde 2010 ein absoluter Höchststand erreicht, seit das Gesetz 1993 in Kraft getreten ist. Das ist ein Anstieg um 22 Prozent innerhalb eines Jahres. Dahinter steht einerseits die sicherlich wünschenswerte Entwicklung zu mehr Sensibilität im Umgang mit der Thematik. Gleichzeitig zeigen die Zahlen auch, dass in vielen Branchen nach wie vor zu wenig darauf geachtet wird, ob ihre Kunden und Geschäftspartner möglicherweise versuchen, illegal erworbenes Vermögen in den legalen Geldkreislauf einzubringen und seine Herkunft zu verschleiern. Deshalb halte ich es für richtig, die im Geldwäschegesetz dargelegten Sorgfaltspflichten in weiteren Wirtschaftszweigen zu verankern, Meldepflichten zu ergänzen und Bußgeldregelungen zu verschärfen, wo gegen die entsprechenden Pflichten verstoßen wird. Speziell im Nichtfinanzsektor und im Bereich der freien Berufe wurde Geldwäschebekämpfung bislang zu wenig ernst genommen. Auch Immobilienmakler, Steuer- und Rechtsberater müssen zur Kenntnis nehmen, dass es keine lässliche Verfehlung ist, in ihrem Arbeitsfeld gegenüber Geldwäsche die Augen zu verschließen. Und gerade im Bereich der Spielbanken ist es sicherlich sinnvoll, strengere Regeln einzuziehen, um zu verhindern, dass Verbrecher den Spieltisch als Waschbrett für die Gelder der organisierten Kriminalität missbrauchen. Wo der Gesetzentwurf maßvolle Verschärfungen vorsieht und mehr Sensibilität für die Gesamtproblematik Geldwäsche einfordert, ist man – so meine ich – auf einem zielführenden Weg. An anderen Punkten schießt der Entwurf jedoch möglicherweise über das Ziel hinaus. Da werden wir sehr genau prüfen müssen, ob die gemachten Vorschläge wirklich einen Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung darstellen oder letztendlich nur dem Bürokratieaufbau dienen. Wie immer, wenn es um Identifizierungspflichten und Datenabgleich geht, sind zudem datenschutzrechtliche Aspekte im Auge zu behalten. Erste Stellungnahmen von Datenschützern lassen vermuten, dass der Gesetzentwurf in seiner derzeitigen Form an einigen Stellen zu großen Problemen führen könnte. So sollen Vertriebsstellen für bestimmte Prepaid-Produkte zukünftig dazu verpflichtet werden, bei jedem Kauf – unabhängig von der Höhe der erworbenen Guthaben – die Identität des Käufers zu verifizieren. Da es in der Praxis um kleine und kleinste Beträge gehen dürfte, die nur schwerlich zur Geldwäsche in großem Stil instrumentalisierbar sein dürften, ist dies eine eher fragwürdige Maßnahme. Denn einmal ganz unabhängig davon, dass dies für bestimmte Geschäftsmodelle im E-Geld-Bereich mit massiven Nachteilen verbunden wäre: Stehen hier Aufwand und Ertrag tatsächlich noch im richtigen Verhältnis? So wichtig es auch im Bereich des E-Geldes ist, Geldwäsche zu verhindern, müssen wir doch prüfen, ob hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Die Bundesregierung selbst hatte sich noch im Gesetz zur Umsetzung der Zweiten EGeld-Richtlinie dazu bekannt, „Marktzutrittsschranken zu beseitigen und die Aufnahme und Ausübung der Ausgabe von E-Geld zu erleichtern“. Diesem Ziel dürften die vorgesehenen Beschränkungen im E-Geld-Zahlungsverkehr diametral entgegenwirken. Ähnlich schwierig erscheint mir die Idee der Bundesregierung, sämtlichen Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern regulär die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten vorzuschreiben. Zwar sollen großzügig ausgelegte Ausnahmeregelungen dafür sorgen, dass letzten Endes lediglich rund 1 000 Unternehmen tatsächlich aktiv werden müssen. Aber der Normenkontrollrat hat hier bereits Zweifel angemeldet, ob die faktischen Auswirkungen der Regelung nicht weit über die Schätzungen des Entwurfs hinausgehen. Schließlich wird auch zu hinterfragen sein, wie praxistauglich die im Gesetzestext vorgesehenen erweiterten Pflichten im Umgang mit sogenannten politisch exponierten Personen – PEP – und zur Identifizierung von „Strohmannkonstruktionen“ zugunsten von „wirtschaftlich Berechtigten“ im Hintergrund sind. So wünschenswert es ist, hier kriminelle Strukturen aufzudecken, so schwierig könnte sich die Anwendung der Vorgaben im Geschäftsalltag der erweiterten Verpflichtetenkreise gestalten. Auch hier ist zu begrüßen, dass der Normenkontrollrat in seiner Stellungnahme eine rasche Evaluation der Gesetzespraxis anregt. Grundsätzlich gilt: Wir müssen in Sachen Geldwäscheprävention klare Kante zeigen, und der vorliegende Gesetzentwurf geht in vielen Punkten in die richtige Richtung. Hinter die Anforderungen, die uns die FATF ins Stammbuch geschrieben hat, dürfen wir nicht zurückfallen. Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass der Entwurf in einzelnen Punkten ohne Not über die erforderlichen Grenzen hinausgeht. Insofern meinen wir, dass das geplante Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention noch optimierungsbedürftig ist. Wir werden uns nach der Anhörung ein genaueres Bild machen, wie die vorhandenen Spielräume für Verbesserungen am besten zu nutzen sind. Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schließt die christlich-liberale Koalition Lücken in der Verfolgung von Geldwäsche. Als normaler rechtschaffener Bürger hat man gar keine Vorstellung, auf was für Ideen die Herrschaften, die Geldwäsche betreiben wollen, alles kommen. Das fängt schon mit der Definition an, was Geldwäsche eigentlich ist. Eine Legaldefinition im Strafgesetzbuch gibt es nicht, aber es sei wohl ein Vorgang, der darauf abziele, Vorhandensein, Herkunft oder Bestimmung von Vermögenswerten zu verschleiern, die aus illegalen Geschäften stammen, um sie dann als rechtmäßige Einkünfte erscheinen zu lassen. Da hat man als Laie grob eine Vorstellung, dass jemand unter dubiosen Umständen an eine Menge Bargeld gekommen ist, dieses zur Bank bringt und dort auf ein Konto einzahlt. Doch so simpel ist es bei Weitem nicht. Da es inzwischen entsprechende Monitoringsysteme gibt, haben diese Kriminellen wirklich kreative Ideen, wie sie die Herkunft ihrer Gelder verschleiern. Und das sind unglaubliche Summen, um die es da geht: Allein in Deutschland werden jährlich circa 30 bis 100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen. Weltweit geht es nach Schätzungen des IWF sogar um jährlich circa 590 bis 1 500 Milliarden Euro. Um dies international einzudämmen, wurde die Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, gegründet. Diese bei der OECD angesiedelte Organisation, deren Gründungsmitglied Deutschland ist, entwickelt Standards, überprüft deren Einhaltung und spricht dazu Empfehlungen aus, zu deren Einhaltung sich die 36 Mitgliedsländer verpflichtet haben. Nun hat die FATF Deutschland Missstände bescheinigt, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beseitigt werden. Es bestehen wohl Defizite in Bezug auf die Beaufsichtigung von Unternehmen wie Immobilienmaklern, Versicherungsvermittlern, Juwelieren, Finanzunternehmern, Spielbanken sowie Personen, die gewerb-lich mit Gütern handeln. Die Bundesregierung hat mit dem Gesetzentwurf einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, um diese Defizite zu bekämpfen. Beim ersten Gedanken bin ich dann beruhigt über Schlupflöcher, die geschlossen werden. Dann kommen mir aber Zweifel, ob alle Maßnahmen wirklich praktikabel und zielführend sind. Wir dürfen nicht ein bürokratisches Monster schaffen, das nur Organisationsaufwand und Kosten produziert und bei weitem nicht im richtigen Verhältnis von Ertrag und Ergebnis steht. Auch bekomme ich als Liberaler Bauchschmerzen, wenn Datenmengen irgendwo angehäuft werden, deren Sinnhaftigkeit zu bezweifeln ist. Das betrifft zum einen neue Pflichten bei Bareinzahlungen und zum anderen auch Prepaid-Kreditkarten, die nicht von Banken ausgegeben werden. Bei Letzterem ist auch fraglich, ob das irgendwie realistisch funktionieren kann, dass zum Beispiel in einer Tankstelle oder in einem Supermarkt künftig die Daten seitens der Kassenmitarbeiter erhoben werden, wie es der Gesetzentwurf derzeit vorsieht. Hier wird man eine Modifizierung vornehmen müssen, wenn man vermeiden möchte, dass diese Produkte aus dem Markt gedrängt werden. Andererseits besteht schon die Pflicht zur Datenerfassung, wenn Banken diese Karten ausgeben. Diese Differenzierung erscheint dann auch nicht ganz sachgerecht, denn: same business, same rules. Das werden wir uns sehr genau anschauen. Eine Prämisse ist dabei: Das anonyme Bezahlen im Internet muss weiterhin möglich sein. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Geldwäschebeauftragte, den jedes Unternehmen, das mit Gütern handelt, ab einer gewissen Größe künftig haben soll, um den Empfehlungen der FATF zu folgen. Doch macht das Sinn? Jedes Unternehmen? Egal, welcher Branche? Hat der Geldwäschebeauftragte dann arbeitsrechtlich besonderen Schutz? An dieser Stelle müssen wir uns auch noch umfassend Gedanken machen, wie wir hier eine Lösung finden. Gedanken mache ich mir außerdem über den Terminus „hindeuten“. Also, im Falle des Vorliegens von Tatsachen, die darauf hindeuten, dass es sich bei Vermögenswerten, die mit einer Transaktion oder Geschäfts-beziehung im Zusammenhang stehen, um den Gegenstand einer Straftat nach § 261 StGB handelt, soll der Verdacht schon gemeldet werden. Hindeuten, wie kann man das genauer bestimmen? Gehen wir da nach dem Bauchgefühl eines Mitarbeiters? Wie schule ich zunächst den Mitarbeiter und erzähle ihm, er solle nach seinem Bauchgefühl gehen? Schaffen wir da wirklich Rechtssicherheit oder Unsicherheiten in der Anwendung? Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns das, neben vielen anderen Punkten, sehr genau anschauen müssen. Das Gesetz wird aber in jedem Fall eine liberale Handschrift bekommen. Richard Pitterle (DIE LINKE): Man sollte meinen, dass Geldwäsche so kompliziert ist, dass sich nur einige wenige, die ihre gesamte kriminelle Energie darauf verschwenden wollen, damit befassen. Leider hat mich die Recherche für diesen Gesetzentwurf eines Besseren belehrt. Ein Handy reicht schon für anonyme Geldtransfers. Der Geldwäscher lädt sich einen beliebig hohen Betrag auf seine Prepaid-SIM-Karte. Dann kann er diese Summe per SMS an einen Kontakt in irgendeinem Land überweisen. Der Empfänger kann sich dann das Geld von einer Bank, einem Laden oder einem Händler mit einem Code auszahlen lassen – im Jemen, in Pakistan oder wo auch immer er ist. Der Geldfluss selbst hinterlässt keine Spuren. Nicht erst seit dem 11. September sprechen wir von den Gefahren der Geldwäsche und Terrorfinanzierung. Deutschland ist seit ihrer Gründung im Jahr 1989 Mitglied der Financial Action Task Force, kurz FATF, dem wichtigsten internationalen Gremium zur Bekämpfung dieser Gefahren. Unter deutscher Präsidentschaft wurden 2003 sogar Standards zur Bekämpfung der Geldwäsche grundlegend überarbeitet. Der Blick unter den eigenen Teppich aber offenbart Interessantes: Im vorliegenden Gesetzentwurf heißt es – ich zitiere –: Die geänderten Informations- und Aufzeichnungspflichten … bestanden bereits nach dem Geldwäschegesetz vom 25. Oktober 1993 bzw. nach dem Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz vom 13. August 2008. Wenn sie schon bestehen, warum brauchen wir dann das vorliegende Gesetz? Im Text heißt es weiter: Die einschlägigen gesetzlichen Regelungen sind bisher von den nach Landesrecht zuständigen Stellen weitgehend nicht umgesetzt worden. – Jetzt wird es klar. Was macht also das vorliegende Gesetz? Es entzieht die Verantwortung für die Umsetzung dem Innenministerium und dem Wirtschaftsministerium und schiebt sie dem Finanzministerium zu. Da fragt man sich: Wer hat diese Untätigkeit der beiden Ministerien zu verantworten? Wir wissen, dass es nicht an den fleißigen Beamtinnen und Beamten in den Ministerien liegt, wenn nichts oder zu wenig passiert ist. Der Fisch stinkt immer vom Kopf. Offensichtlich fehlte es am politischen Willen und Anleitung durch die Spitzen. Es ist schlicht peinlich, das Deutschland als Gründungsmitglied der FATF sich anhören muss, dass es Rechtsstandards nicht umsetzen kann, ja dass es fast auf der schwarzen Liste der OECD gelandet wäre. Auf dieser Liste landen nur jene Länder, die als Risiko für das internationale Finanzsystem eingestuft werden. Deutschland ist also wegen der Unfähigkeit des Innenministeriums und des Wirtschaftsministeriums international als Beinahe-Risiko für das internationale Finanzsystem bekannt. Geldwäscheexperten gehen davon aus, dass in Deutschland zwischen 40 und 60 Milliarden Euro – ich wiederhole: 40 bis 60 Milliarden Euro – kriminelle Gelder gewaschen werden. Selbst vor der EU-Kommission hat sich Deutschland schon zwei Vertragsverletzungsverfahren eingehandelt. Von wegen deutsches Vorzeigemodell! Wenn Deutschland sich einen Rechtsstaat nennen will, dann müssen Gesetze ohne Ausnahme umgesetzt werden. Dass die Verantwortung für Geldwäscheprävention dem Finanzministerium übergeben wird, unterstützen wir. Aber dass die Untätigkeit des Innenministeriums und des Wirtschaftsministeriums folgenlos bleibt, ist absolut inakzeptabel. Anstatt ständig einen Teil der Opposition, die Linke, zu bespitzeln, hätte das Innenministerium sich auf die konsequente Bekämpfung der Geldwäsche konzentrieren sollen. Hoffen wir, dass das Finanzministerium das erreicht, woran Innenministerien und Wirtschaftsministerien gescheitert sind. Wenn im Februar kommenden Jahres die FATF-Prüfer wieder nach Deutschland kommen, werden wir die Ergebnisse ja sehen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der heute in den Bundestag eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention ist ein gutes Stück Fleißarbeit. Viele Kritikpunkte der Financial Action Task Force, FATF, die Deutschland bisher als äußerst günstigen Standort für Geldwäsche charakterisiert, werden darin angegangen – allerdings erst zehn Jahre nach Entwicklung der Prüfkriterien. Die Zahl der Verdachtsmeldungen im Nichtfinanzbereich ist weiterhin eklatant niedrig. Erhebliche Mängel stellte die FATF auch bei der Identifizierung der wirtschaftlich Berechtigten und der laxen Handhabung der Sorgfaltspflichten fest. Die deshalb im Gesetzentwurf vorgenommenen Konkretisierungen sind gut und richtig und werden von uns unterstützt. Dennoch würde ich darauf wetten, dass das Thema trotz dieser Novelle bald erneut auf die Tagesordnung kommt. Beim Wetten ändert sich schon der Blickwinkel auf die Thematik: Wettbüros, Spielkasinos, Spielautomaten gehören genauso wie Immobilien- und Goldhandel zu den sensiblen Bereichen der Wirtschaft, in denen Geldwäsche stattfindet. Während es aus Sicht der Bundesregierung richtig ist, den Forderungskatalog der FATF abzuarbeiten, dürfte der Gesetzentwurf aus Sicht eines Geldwäschers wenig bedrohlich erscheinen. Zwar werden einige Sicherheitslücken geschlossen, ein wirklicher Hebel gegen Geldwäsche wird jedoch nicht eingesetzt – ein gleichmäßiges Niveau der Geldwäscheprävention über die verschiedenen möglichen Wege und Formen der Geldwäsche wird nicht erreicht. Das Verständnis von Geldwäscheprävention, wie es aus dem Gesetzentwurf hervorgeht, bleibt deshalb das einer Aufklärungskampagne für die sensiblen Branchen mit einigen Sanktionsmöglichkeiten, falls die betroffenen Unternehmerinnen und Unternehmer einer Bewusstseinsbildung für verdächtige Geschäftspraktiken ihrer Kundinnen und Kunden nicht nachkommen. Ein solches Bewusstsein ist zwar nötig und wünschenswert, solange es nicht in ein Denunziantentum ausartet, es löst aber fundamentale Probleme nicht. In Deutschland beträgt das Geldwäschevolumen Schätzungen zufolge jährlich einen höheren zweistelligen Milliardenbetrag. Diese illegal erwirtschafteten Gelder sind Teil transnational organisierter Kriminalität; dahinter können Drogen-, Waffen- und Menschenhandel stehen. Sie sind ein Sicherheitsrisiko, festigen kriminelle Strukturen, verweben sich mit dem legalen Wirtschaftskreislauf und führen dort auch noch zu Wettbewerbsverzerrungen. Nehmen wir ein Beispiel, das sicher viele schon beobachtet haben: Eine alteingesessene, gut laufende Kneipe verschwindet auf einmal aus dem Straßenbild, und an ihre Stelle tritt ein neues Lokal ohne Kunden. Bei auslaufendem Pachtvertrag wurde der bisherige Betreiber von einem Konkurrenten verdrängt, der kein originäres Interesse an Gastronomie hat, aber ganz andere Preise zu zahlen imstande ist, weil er durch noch zu waschende Einkünfte rentabler „wirtschaften“ kann als jeder ehrliche Unternehmer. Geldwäsche ist – das wird in einem solchen Beispiel deutlich – nicht ein Randphänomen in zweifelhaften Milieus, sondern kann zum wirtschaftlichen Problem für jedermann werden. Geldwäsche ist ein kreatives Geschäft. Es sind mittlerweile Fälle bekannt, bei denen populäre Onlinespiele als Plattformen für Geldwäsche genutzt wurden. Die Nutzung des Internets bietet zahlreiche neue Möglichkeiten der „Geldkonvertierung“; die legendären Waschsalons Al Capones sind längst Geschichte. Es gilt daher, jetzt und in Zukunft viele Abwägungen zu treffen, um weder eine Überwachungshysterie noch rechtsfreie Räume entstehen zu lassen. Die Antwort auf einen möglichen Missbrauch von Zahlungsströmen und -möglichkeiten darf nicht einfach „mehr Datensammelei“ heißen, was angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre zu befürchten ist. Ein Wust von teils föderalen und meist branchenspezifischen Aufsichtsinstitutionen, die zwar den ehrlichen Unternehmen viele Lasten aufbrummen, aber keinem systematischen und koordinierten Ansatz der Geldwäscheprävention folgen, wird bei Geldwäschern wenig Aufruhr verursachen. So ist eine weitere Erfahrung der letzten Jahre, dass zahlreiche Defizite beim Vollzug in den Bundesländern bestehen. Das gilt zum einen für die Steuerfahndung. Die Ausstattung, vor allem mit Personal, bei der Steuerfahndung ist dürftig, Geldwäsche geht aber oft mit der eben erwähnten Steuerhinterziehung einher. Das gilt aber auch ganz konkret bei der Umsetzung der spezifischen Geldwäschenormen. Hier sei an das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland Anfang des Jahres erinnert. Einige Bundesländer hatten nach drei Jahren nicht einmal die Benennung von Aufsichtsbehörden umgesetzt – vom Unterschied zwischen einer formal benannten und einer real funktionierenden Aufsicht ganz zu schweigen. Wenn die Bundesregierung willens ist, Geldwäsche als Problem ernst zu nehmen, wenn tatsächlich ein höherer Anteil an Geldwäscheaktivitäten enttarnt werden soll, dann braucht es eine Verständigung, wo und wie das nötige Personal für Aufsicht, Ermittlung und Vollzug eingesetzt werden soll. Es braucht eine konsequente Bund-Länder-Strategie. Bei dieser Gelegenheit muss gleichzeitig die Architektur der Aufsicht auf den Prüfstand. Ein aktuelles Beispiel ist das kürzlich beschlossene Glücksspielgesetz in Schleswig Holstein. Es betrifft, wie gesagt, einen für Geldwäsche sensiblen Bereich und verfolgt eine verfehlte Liberalisierungsstrategie. Da Glücksspiel heutzutage verstärkt im Internet stattfindet, da Schleswig-Holstein dadurch zum deutschen Las Vegas werden und Kunden über die eigenen Landesgrenzen hinaus anziehen könnte, hat die Fehlentscheidung eines einzelnen Bundeslandes Auswirkungen für alle Länder. Mit der Gesetzesnovelle sind die Bundesministerien für Finanzen, Wirtschaft, Inneres und Justiz für die Prävention zuständig. Das entspricht durchaus der Materie, macht jedoch deutlich, dass die Koordination auf Bundesebene bereits aufwendig ist. Dies mag auch erklären, warum eine nachvollziehbare Strategie Deutschlands bei der Bekämpfung der Geldwäsche bisher ausbleibt. Das beim BMF geplante Expertengremium zum Thema ist zwar ein Lichtblick in der Gesetzesbegründung, sofern wir erwarten können, dass die zahlreichen Stimmen aus Fachkreisen dort ernst genommen werden. Kürzlich fand eine Geldwäschetagung von Organisationen wie dem Bund Deutscher Kriminalbeamter, der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, dem Bund der Richter und Staatsanwälte und der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft statt. Der Vergleich der dort diskutierten Probleme mit dem jetzigen Gesetzentwurf offenbart, dass die Bundesregierung von einer politischen Agenda gegen Geldwäsche weit entfernt ist. Nicht zuletzt wird deutlich, dass angesichts der Summen und der Strukturen, um die es geht, die Sanktionen manchmal zu gering sind. Im nun anstehenden Gesetzgebungsverfahren werden wir uns deshalb unter anderem dafür starkmachen, den Bußgeldrahmen für besonders schwere Verstöße zu erhöhen. Dies entspricht nicht nur den Monita der FATF, sondern auch den Empfehlungen des Bundesrates. Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Für die Integrität des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist es von großer Bedeutung, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung wirksam zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Bundesregierung den Entwurf für ein Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention vorgelegt. Dabei wollen wir nicht nur die nationalen Maßnahmen wirksamer ausgestalten, sondern zugleich auch die einschlägigen internationalen Standards sowie die Dritte EU-Geldwäscherichtlinie vollständig umsetzen. Dies ist aus zwei Gründen dringend angezeigt: Zum einen hat die Financial Action Task Force on Money Laundering, abgekürzt FATF, nach intensiver Evaluierung in ihrem Prüfbericht vom Februar 2010 Defizite im deutschen Rechtssystem bei der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung festgestellt. Die dort im deutschen Rechtssystem gesehenen Defizite bestehen insbesondere bei der geldwäscherechtlichen Regulierung sogenannter Nichtfinanzunternehmen, das heißt der Gewerbeunternehmen wie zum Beispiel Versicherungsvermittler, Immobilienmakler oder Spielbanken im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer. Deutschland ist als Gründungsmitglied der FATF verpflichtet, die international maßgeblichen FATF-Empfehlungen zur Prävention von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung einzuhalten. Die Bundesregierung möchte die konstatierten Mängel innerhalb der gesetzten Zeitvorgabe beheben. Deutschland muss im Februar 2012 über seine Fortschritte an die FATF berichten. Von diesem Ergebnis wird es abhängen, ob Deutschland mit weiteren Maßnahmen der FATF rechnen muss. Zum anderen hat die Europäische Kommission Mängel im Zusammenhang mit der nationalen Umsetzung der europarechtlich verbindlichen Dritten Geldwäscherichtlinie aufgezeigt. Seien Sie versichert: Die Bundesregierung hat die von der FATF und der Europäischen Kommission gerügten Mängel bei den geldwäscherechtlichen Vorschriften genau analysiert und die Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, sorgfältig geprüft und abgewogen. Viel ist bereits umgesetzt. Soweit die festgestellten Defizite den Bereich der Kredit-, Finanzdienstleistungs- und Zahlungsinstitute, Versicherungsunternehmen sowie die Kompetenzen der für den Nichtfinanzsektor zuständigen Aufsichtsbehörden betreffen, wurden diese bereits durch das Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie vom 1. März 2011 und das sogenannte OGAW-IV-Umsetzungsgesetz vom 22. Juni 2011 beseitigt. Der Entwurf für ein Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention stellt mit einem Paket von Maßnahmen zur Behebung der noch verbliebenen Defizite einen ganz wesentlichen Baustein dar. Mit den Maßnahmen des Gesetzes wird niemand unter Generalverdacht gestellt. Es geht nicht zuletzt um die Einhaltung der Verpflichtungen Deutschlands international und auf europäischer Ebene. Wir sollten uns international in die Reihe der im guten Sinne beispielgebenden Länder einreihen. Dazu gehören wir zurzeit nicht in allen Bereichen. Die Minimierung von Geldwäscherisiken liegt schließlich mit Blick auf potenzielle Reputationsschäden – für den Einzelnen wie für den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt – auch im Eigeninteresse der verpflichteten Unternehmen. Selbstverständlich ist dabei darauf Wert zu legen, unsere mittelständischen Unternehmen in der praktischen Ausgestaltung der Regelungen nicht ungebührlich bürokratisch zu belasten. Gerade diese Frage wird im Rahmen der jetzt beginnenden parlamentarischen Beratungen zu diskutieren sein. Ich bitte um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6804 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hier sind Sie einverstanden. – Dann wird das so gemacht. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes und des Handelsstatistikgesetzes – Drucksache 17/6851 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 17/7200 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf sind drei wesentliche Regelungsschwerpunkte verbunden. Das Beherbergungsstatistikgesetz, das Handelsstatistikgesetz und last but not least die Aufhebung von Vorschriften zum Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises; kurz: ELENA. Ich meine, die Regelungen zum Beherbergungsstatistikgesetz und zum Handelsstatistikgesetz sind weniger kontrovers diskutiert in diesem Haus als das ELENA-Verfahren. Das Beherbergungsstatistikgesetz wird europarechtlich harmonisiert, und darüber hinaus geht es um Entbürokratisierung. Betriebe und statistische Ämter werden entlastet. Ebenso wird das Handelsstatistikgesetz novelliert. Die Wirtschaft wird mit dem Gesetz in den Bereichen Kfz- und Großhandel durch die Einführung sogenannter Mixmodelle von statistischen Berichtspflichten entlastet. Im Kfz-Handel wird mit den vorgeschlagenen Mixmodellen der Erhebungsumfang der Primärerhebung von derzeit 5 700 Unternehmen auf etwa 2 800 gesenkt. Auch im Großhandel wird der Erhebungsumfang um etwa die Hälfte gesenkt – von 11 000 auf etwa 5 500. Bei kleinen und mittleren Unternehmen unterhalb der Abschneidegrenzen haben die Mixmodelle eine vollständige Entlastung zur Folge, da die erforderlichen Angaben aus Verwaltungsdaten gewonnen werden. Die Abschneidegrenzen liegen im Kfz-Handel bei 10 Millionen Euro Jahresumsatz oder 100 Beschäftigten und im Großhandel bei 20 Millionen Euro Jahresumsatz oder 100 Beschäftigten. Wir entlasten damit kleine und mittelständische Betriebe, bei Sicherung der notwendigen Qualität der statistischen Erhebung. Nun komme ich auf ein häufig in unterschiedlichster Weise diskutiertes Thema. Von Verteufelung bis Heilsbringung hat man ELENA schon alles nachgesagt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben sich nach eingehender Überprüfung des ELENA-Verfahrens darauf verständigt, das Verfahren schnellstmöglich einzustellen. Ich zitiere aus der gemeinsamen Pressemitteilung: Grund ist die fehlende Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur. Umfassende Untersuchungen haben jetzt gezeigt, dass sich dieser Sicherheitsstandard, der für das ELENA-Verfahren datenschutzrechtlich zwingend geboten ist, trotz aller Bemühungen in absehbarer Zeit nicht flächendeckend verbreiten wird. Hiervon hängt aber der Erfolg des ELENA-Verfahrens ab. Dies ist zwar nicht die erfreulichste Entwicklung, zeigt aber ein verantwortungsvolles Umgehen mit dem Thema seitens der involvierten Ministerien. Die Opposition mag es kaum glauben, aber verantwortungsvolles Regierungshandeln umfasst auch die Überprüfung vorhandener oder eingeführter Instrumente. Zum weiteren Verfahren ist Folgendes zu sagen: Die Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, dass die bisher gespeicherten Daten unverzüglich gelöscht und die Arbeitgeber von den bestehenden elektronischen Meldepflichten entlastet werden. Es ist der Bundesregierung ein wichtiges Anliegen, Lösungen aufzuzeigen, die die bisher getätigten Investitionen der Wirtschaft aufgreifen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ein Konzept erarbeiten, mit dem die bereits bestehende Infrastruktur des ELENA-Verfahrens und das erworbene Know-how für ein einfacheres und unbürokratisches Meldeverfahren in der Sozialversicherung genutzt werden können. Dies ist auch zwingend nötig, denn die Einstellung von ELENA ist nicht die Aufgabe einer sehr guten und den Unternehmen zugutekommenden Idee, denn die Unternehmen haben erheblich in die Meldetechnik im Rahmen des ELENA-Verfahrens investiert. Die Datenstelle der Träger der Rentenversicherung und die Informationstechnische Servicestelle der gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Bundesagentur für Arbeit haben beim Aufbau und in der Meldephase des ELENA-Verfahrens hervorragende Arbeit geleistet und ein umfangreiches Know-how erworben. Die Bundesregierung will im Rahmen eines neuen Projekts – auch unter dem Gesichtspunkt des Bürokratieabbaus – sicherstellen, dass die getätigten Investitionen nicht vergeblich waren und das erworbene Wissen nutzbringend eingesetzt werden kann. Vor allem ist der Einsparungseffekt für die Unternehmen nicht zu vernachlässigen, denn mit dem ELENA-Verfahren können die Unternehmen jährlich rund 90 Millionen Euro einsparen. Als Fazit kann man festhalten: Nach verantwortungsvoller Prüfung eines eingeführten Instrumentes und der zwischenzeitlichen Einstellung wird ELENA weiterentwickelt und unseren Unternehmen zugutekommen. Dies wäre ein guter Grund, dass die Opposition konstruktiv mitarbeitet. Doris Barnett (SPD): Vor 16 Jahren hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ eingesetzt. In fast vierjähriger Arbeit haben wir alle Aspekte des Themas ausgeleuchtet, ohne I-Phones, I-Pads, Facebook usw. auch nur ansatzweise zu erahnen. Aber was wir damals zu wissen glaubten, liest sich auf Seite 187 im Band 9 des 1998 vorgestellten Schlussberichts wie folgt: „Mit der Einführung der digitalen Signatur, der elektronischen Unterschrift und einer verbesserten Sicherheitstechnik können in absehbarer Zukunft zunehmend mehr Anträge und Bescheide über das Netz abgewickelt werden. Beim Wohnungswechsel wird dann der mehrfache Gang zur Meldebehörde überflüssig.“ In der Tat haben wir damals einen Blick in die Zukunft gewagt, wobei wir schon die eine oder andere Stellschraube kannten, zum Beispiel die digitale Signatur. 2001 haben wir das Gesetz für elektronische Signaturen eingeführt. In 2002 wurde die Job-Card-Initiative, der Vorläufer von ELENA, gestartet. In NRW wurde dieses System sogar in „echt“ getestet; das Ergebnis war positiv. Anfang 2009 wurde ELENA dann endgültig beschlossen und trat am 1. Januar 2010 in Kraft und Arbeitsministerin von der Leyen verkündete zuversichtlich: „ELENA entlastet Arbeitnehmer.“ Und jetzt – drei Monate vor erstmaliger Anwendung, heißt es: Kill ELENA! Damit katapultiert diese Bundesregierung unser Land zurück – nicht ganz in die Steinzeit, aber zumindest ins 20. Jahrhundert! Selbst das kleine Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern ist weit fortschrittlicher als wir. In Deutschland erfunden und entwickelt, verstolpern wir unsere eigenen Innovationen. Und wir sollen attraktiv sein für Computerspezialisten? Wenn die das hier erleben, dann glauben die sich doch in einem Kostümfilm nach dem Motto: So schön waren die 80er des letzten Jahrhunderts. Und warum das alles? Wegen Datenschutz? Nein, der spielt keine Rolle mehr, weil erkannt wurde, dass er den Anforderungen des BVerfG entspricht, ja sogar darüber hinaus geht, was andere wieder als Problem hinstellen. Jetzt ist es die fehlende Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur. Dabei haben wir erst seit zehn Jahren ein Signaturgesetz, das genau für Anwendungen wie ELENA geschaffen wurde. 2007 wurde die Grundsatzentscheidung für ELENA im Bundeskabinett getroffen. Aber weder die Minister Glos, von Guttenberg, Brüderle oder Rösler haben irgendwelche Anstrengungen unternommen, um dieses Authentifizierungsmerkmal unter die Menschen zu bringen. Dabei waren die Minister doch sonst in Sachen Öffentlichkeitsarbeit nie zögerlich. Wie leicht hätte man diese elektronische Signatur an einer anderen Karte mit anbringen können! Jetzt argumentiert diese Regierung, dass man sie mit dem neuen Personalausweis verbinden könnte in Form eines elektronischen Identitätsnachweises. Aber bis jeder einen solchen hätte, schrieben wir nicht nur das Jahr 2020, sondern die Justizministerin hatte schon im Vorfeld ihre Bedenken angemeldet, weil nicht der gleich hohe Schutz wie bei der qualifizierten elektronischen Signatur erreicht würde. Also auch diese Idee für die Katz. Vom Fleck gekommen ist diese Regierung keinen Millimeter. Aber Kosten hat sie erzeugt bei den Betrieben, Unternehmen und Verwaltungen – und das in dreistelligem Millionenbereich. Ob da jemand „Schadenersatz“ ruft oder ob eine Art „ELENA II“ kommt, bei der Vorhandenes verwendet wird? Wieder Fehlanzeige. Die Bundesregierung hat derzeit keine konkreten Pläne für die künftige Nutzung der für ELENA geschaffenen Infrastruktur, aber Hauptsache, das Ding ist weggehauen! Ich nenne ein solches Verhalten plan-, ziel- und kopflos – einer Bundesregierung eigentlich unwürdig. Der Presse war zu entnehmen, dass man ein „projekt-orientiertes Meldeverfahren in der Sozialversicherung“ beschlossen hätte, zunächst als „Forschungsprojekt“! Nicht nur, dass das wieder ein paar Jährchen Zeit kostet: Was wollen Sie denn noch zusätzlich erforschen! Es gibt doch Studien, Gutachten, Erfahrungsberichte zuhauf. Innovation, meine Damen und Herren von der Regierungsseite, sieht anders aus. Dafür muss man das Wort nicht nur schreiben können, sondern auch handeln. Und handeln tun Sie, aber wie: Weil es das Wirtschaftsministerium nicht bringt, soll es jetzt das Arbeitsministerium richten. Und ganz nebenbei haben Sie mit dem „Aus“ für ELENA dafür gesorgt, dass die Steuerberater die nächsten Jahre noch auf ihre Kosten kommen mit dem Ausstellen von Papierbescheiden, gell! Aber eines sollten Sie sich merken: Das Vertrauen, das Sie durch Ihre Verhaltensweise bei Betrieben, Unternehmen und den Menschen in einem so sensiblen Bereich zerstört haben, das können Sie nicht durch einen Ressortwechsel wiederherstellen. ELENA funktioniert – man muss es nur wollen –, aber Sie wollen nicht! Und wir wollen Ihr Abschaltgesetz nicht! Hans-Joachim Hacker (SPD): Ich freue mich, dass ich als tourismuspolitischer Sprecher meiner Fraktion die Gelegenheit habe, die Auswirkungen des vorliegenden Gesetzentwurfes auf den Deutschlandtourismus darstellen zu können. Wie man der Presse entnehmen konnte, boomt der Deutschlandtourismus wie nie zuvor. Deutschland ist das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Im Vergleich zu 2009 ist letztes Jahr die Zahl der Übernachtungen inländischer Reisender um 2 Prozent auf erstmals mehr als 320 Millionen gestiegen, und dies trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch mit 60 Millionen Übernachtungen Reisender aus dem Ausland haben wir einen historischen Höchststand erreicht. Die Übernachtungen in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern nahmen im Vergleich zum Vorjahr um 9 Prozent zu. Deutschland liegt auf Platz eins bei den Übernachtungen europaweit. Die Städte Berlin, München, Hamburg und Frankfurt liegen in der Statistik unter den 15 Städten mit den meisten Übernachtungen auf unserem Kontinent. Knapp 356 Millionen Übernachtungen wurden 2010 in gewerblichen Betrieben über 9 Betten gezählt. Hinzu kommen 87 Millionen Übernachtungen in Privatunterkünften und 24,4 Millionen auf Campingplätzen. Dies wird belegt durch den Sparkassen-Tourismusbarometer 2010. Das Statistische Bundesamt befragt momentan bei der Monatserhebung im Tourismus ausschließlich Betriebe, die 9 und mehr Schlafgelegenheiten anbieten, das heißt mehr als 8 Gäste gleichzeitig unterbringen können. Campingplätze müssen bisher mindestens 3 Stellplätze zur Verfügung stellen, um mit ihren Angaben Eingang in die Statistik zu finden. Das soll sich nach dem Willen der Bundesregierung ändern. Die einheitliche Abschneidegrenze, die die umzusetzende EU-Richtlinie vorgibt, liegt bei 10 und mehr Betten und 10 und mehr Stellplätzen bei Campingplätzen. Keiner hindert uns daran, die statistische Erfassung in Deutschland auf dem bisherigen Niveau zu belassen. Bei dieser Forderung ist sich die SPD-Bundestagsfraktion einig mit Empfehlungen aus der Tourismusbranche. Ich beziehe mich hier insbesondere auf die dem Tourismusausschuss vorliegenden Stellungnahmen des Deutschen Tourismusverbandes und des Bundesverbandes der Campingwirtschaft in Deutschland. Die vorgesehene Erhöhung der Abschneidegrenze stößt aufgrund der spezifischen kleinst- und kleinbetrieblichen Strukturen, insbesondere im ländlichen Raum, auf verständliche Proteste aus der Branche. Eine interne Analyse des Bundesverbandes der Campingwirtschaft in Deutschland lässt darauf schließen, dass nach der geplanten Erhöhung der Abschneidegrenze im Teilmarkt „Wohnmobilstellplätze“ rund 1,5 bis 2 Millionen Touristikübernachtungen künftig nicht mehr durch die amtliche Statistik erfasst würden. Das Übernachtungsangebot auf Wohnmobilstellplätzen ist inzwischen wesentlicher Bestandteil des deutschen Campingangebotes und sollte daher weiter in die amtliche Statistik einfließen. Der Deutsche Tourismusverband weist darauf hin, dass entsprechend den Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland insgesamt nahezu 660 Millionen private und geschäftliche Übernachtungen getätigt werden. Dies sind 280 Millionen Übernachtungen mehr, als die bisherige amtliche Beherbergungsstatistik mit Angaben über mehr als 8 Betten ausweist. In den letzten Jahren ist im Tourismusausschuss und von den Verbänden sowie im Übrigen auch von der Bundesregierung das Zahlenwerk über den Tourismus in Deutschland hinterfragt wurden. Wir waren uns einig, dass die Zielgenauigkeit der statistischen Angaben erhöht werden muss, um für die Entscheidungen im Bereich der touristischen Infrastruktur eine qualifizierte Grundlage zu schaffen. Das liegt im Interesse der Tourismusbranche aber auch der Kommunen und der Länder. Die Aussagekraft der Beherbergungsstatistik wird dagegen nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung verwässert. Das wird auch nicht durch die angebliche Reduzierung von Bürokratiekosten im Umfang von 89 000 Euro jährlich ausgeglichen, deren Betrag sich jedoch durch zusätzliche Befragungen um 40 000 Euro jährlich reduziert. Die Bundesregierung argumentiert in ihren Gesetzentwurf mit der Verpflichtung des Statistischen Bundesamtes zur Lieferpflicht von Tourismusdaten an das Statistische Amt der Europäischen Union. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, das einer differenzierten Erhebung von statistischen Angaben nichts im Wege steht und wir trotzdem die Berichtspflicht gegenüber der Europäischen Union erfüllen können. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass Deutschland mit durchschnittlich 48 Schlafgelegenheiten deutlich kleinere Beherbergungseinheiten als andere EU-Länder wie zum Beispiel Frankreich mit 70 Betten pro Betrieb hat. Die Beherbergungsbranche benötigt umfassende Zahlen, um sich auf Strukturveränderungen einstellen zu können. Und die Politik benötigt ebenfalls aussagefähiges und somit belastbares statistisches Zahlenmaterial. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird diesem Erfordernis aus Sicht der Tourismuspolitik nicht gerecht. Wir stimmen gegen den Gesetzentwurf, weil es keiner Änderung der Beherbergungsstatistik bezüglich der Abschneidegrenze bedarf, sondern wir eine Qualifizierung der Statistikangaben benötigen. Gisela Piltz (FDP): Mit der Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes und des Handelsstatistikgesetzes wird das Ziel von Bürokratieabbau für kleine und mittlere Unternehmen verfolgt. Mit der Umsetzung einer neuen Verordnung der Europäischen Union ist für das Beherbergungsgewerbe insgesamt eine Entlastung von Bürokratielasten verbunden, da in Zukunft nur noch Betriebe, die mindestens zehn Gäste gleichzeitig aufnehmen können, zur Ablieferung von statistischen Daten verpflichtet sind. Für diesen vom Mittelstand geprägten Wirtschaftsbereich bedeutet dies eine große Erleichterung, die wir sehr begrüßen. Durch die Änderung der statistischen Berichtspflichten zur Handelsstatistik im Kfz- und Großhandel werden weniger Datenerhebungen erforderlich, da die Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen erheblich gesenkt wird. Das kommt den kleinen und mittleren Unternehmen zugute, die uns besonders am Herzen liegen. Gerade den Mittelstand von Bürokratielasten zu befreien, ist dieser Koalition ein wichtiges Anliegen, das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vorangetrieben wird. Es gibt aber noch mehr Erfreuliches zu sagen; denn durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen ist ein weiterer Aspekt in dieses Gesetzgebungsverfahren gekommen. Auf Drucksache 15/2315 erklärte die damalige rot-grüne Bundesregierung: „Ziel des Projektes JobCard ist … der Einstieg in die zentrale Speicherung von Arbeitnehmerdaten zur Entbürokratisierung der Verwaltung.“ Am 15. März 2010 erklärte die Partei Bündnis 90/Die Grünen in einer Pressemitteilung: „Seit dem 1. Januar 2010 werden in Deutschland Informationen über Arbeitnehmer/innen wie zum Beispiel Einkommensnachweise zentral elektronisch gesammelt. … Wir lehnen diese massenhafte und unbestimmte Datensammlung ab. Statt Datensparsamkeit gibt es neue Datenberge.“ Vielleicht sollte man den Grünen zu ihrer – wenngleich späten – Einsicht gratulieren. Aber man darf nicht vergessen: Erfunden hat das Datenmonster ELENA Rot-Grün. Man darf auch nicht übersehen: Die Grünen reden gerne über Bürgerrechte; aber wenn sie regieren, dann sieht es doch ganz anders aus. In Baden-Württemberg steht in Ihrem Koalitionsvertrag, dass sie die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen wollen. In der Zeit der rot-grünen Bundesregierung hatten Sie keine Not damit, sich für eine „zentrale Speicherung“ aller Arbeitnehmerdaten einzusetzen. In der erwähnten Pressemitteilung haben die Grünen aufgefordert, sich der Verfassungsbeschwerde gegen das ELENA-Verfahren anzuschließen. Die Verfassungsbeschwerde verfolgt – richtigerweise – die Aufhebung des Gesetzes, das von den Beschwerdeführern für verfassungswidrig gehalten wird. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz erübrigt sich die Verfassungsbeschwerde zum Glück. Wir warten nicht darauf, dass Karlsruhe unsere Arbeit macht. Wir machen sie lieber selbst – und haben nach gründlicher Prüfung entschieden, ein Gesetz, das wir für falsch halten, aufzuheben. Dass es den Grünen aber dann doch nicht darum geht, jetzt schnell und im parlamentarischen Verfahren das zu erreichen, was sie vorgeblich wollen, hat sich gestern im Wirtschaftsausschuss gezeigt: Da haben Sie nämlich versucht, das Verfahren zu verlangsamen und zu verzögern. Da müssen Sie sich schon mal entscheiden, was sie wollen. Wenn es Ihnen ernst ist mit Datenschutz, wenn Sie wirklich meinen, was Sie sagen, dann müssen Sie heute für die Aufhebung des ELENA-Verfahrens stimmen. Ihr Stimmverhalten heute ist der Lackmustest für Ihre Politik. Die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Fraktionen von CDU/CSU und FDP haben sich für das Richtige entschieden: Sie haben die Einsicht, dass die von den Grünen erfundene „zentrale Datenspeicherung“ der falsche Weg ist, umgesetzt und die konsequente Entscheidung getroffen: die Aufhebung des ELENA-Verfahrens. Das ist nicht nur für den Datenschutz eine gute Nachricht, sondern auch für die kleinen und mittleren Unternehmen, die von unnötiger Datensammelwut befreit werden. Es ist zugleich eine gute Nachricht für die Kommunen. Die kommunalen Spitzenverbände hatten errechnet, dass das verfehlte Verfahren die Kommunen mit zusätzlichen 236 Millionen Euro allein in den Bereichen Arbeitsagenturen, Elterngeld und Wohngeld belasten würde. Die kommunalen Spitzenverbände stellten fest, dass das geplante ELENA-Verfahren sogar zu einer zusätzlichen Bürokratiebelastung für die Bürgerinnen und Bürger führen würde, obwohl das Verfahren eigentlich auf das Gegenteil zielen sollte. Wir schauen gleichzeitig in die Zukunft: Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung beschlossen hat, die Erfahrungen des ELENA-Verfahrens zu nutzen, um künftig vernünftige Lösungen für E-Government zu finden. Dabei hat sie eines klipp und klar und unzweifelhaft deutlich gemacht und ihn ihrem Eckpunktepapier auch beschlossen: Eine zentrale Datenspeicherung wird es dabei nicht mehr geben. Der Stopp für das ELENA-Verfahren ist kein Rückschritt in die Bürokratiesteinzeit, sondern die Chance, jetzt ein vernünftigeres und unbürokratisches Verfahren zu entwickeln. Die bereits gewonnenen Erfahrungen in den Unternehmen bezüglich sicherer elektronischer Datenübermittlung können und müssen hierbei ebenso einbezogen werden wie die neueren Entwicklungen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung insgesamt. Insbesondere muss berücksichtigt werden, wie elektronische Verfahren für die Bürgerinnen und Bürger einfach, praktikabel und unbürokratisch ausgestaltet werden können, ohne dabei Datenschutz und Datensicherheit aus den Augen zu verlieren. Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Bundesregierung tatkräftig darin unterstützen, Lösungen zu finden, die für Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger wie auch die Kommunen tragfähig und zukunftsgerichtet neue Medien für Entbürokratisierung nutzbar machen. Sprichwörtlich heißt es: Das Gegenteil von „gut gemacht“ ist „gut gemeint“. Was dabei nämlich herausgekommen ist, dass Rot-Grün es „gut gemeint“ hat, sieht man beim ELENA-Verfahren. Wir hingegen machen es gut. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Das ist der Unterschied für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Daten jetzt nicht mehr anlasslos zentral gespeichert werden, für die Kommunen, deren Haushalte nicht mit sinnlosen Millionenbeträgen für mehr Bürokratie belastet werden, für die kleinen und mittleren Unternehmen, die nicht mehr ohne Anlass Daten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erheben und übermitteln müssen. Das ist der Unterschied für die Menschen in Deutschland. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Das Beherbergungsstatistikgesetz ist eigentlich keine große Sache. Es regelt die Auskunftspflichten der Unternehmen für die Tourismusstatistik. Eine neue EU-Verordnung verpflichtet alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu weiteren statistischen Angaben, und das Gesetz wird nunmehr entsprechend geändert. Für Betriebe der Hotellerie mit mehr als 25 Zimmern werden zusätzlich Angaben zur Zimmerauslastung erhoben. Die von der EU verlangten Änderungen der Beherbergungsstatistik sind sinnvoll. Größere Unternehmen müssen gehaltvollere Informationen liefern, während gleichzeitig kleinere Unternehmen von Berichtspflichten entlastet werden. So weit so gut. Wir hätten zustimmen können, wenn Sie nicht einen bedeutenden Punkt einfach übergangen hätten: Deutschland hat – übrigens wie auch die EU – die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Sie ist in Deutschland seit dem 26. März 2009 geltendes Recht! Die Förderung des barrierefreien Tourismus ist – nicht nur für die Linke und die Behindertenbewegung – eine zentrale Zielstellung in der Tourismuspolitik. Dies wird unter anderem in den tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung und der Koalitionsvereinbarung deutlich. Wir wissen, unter anderem dank des Beherbergungsstatistikgesetzes, ziemlich genau, wie viele Gästezimmer und -betten es in unserem Land gibt. Es fehlen jedoch bis heute Angaben darüber, wie viele barrierefreie Unterkünfte zur Verfügung stehen. Ich weiß aus eigenem Erleben sehr gut, wie schwer es ist, ein rollstuhlgerechtes Hotelzimmer zu finden. Wie oft muss ich nach einer Veranstaltung noch einmal in ein Auto steigen, weil die Hotels am Veranstaltungsort kein barrierefreies Zimmer für mich haben. Das beginnt in Altenberg im Erzgebirge, geht über Bremen, Nürtingen bis nach Zarrentin und Zittau. Wenn wir daran etwas – auch mit Blick auf die Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere auf die Präambel sowie die Art. 9, 20 und 30 – zielgerichtet ändern wollen, brauchen wir genauere Informationen über den Istzustand. Das können wir mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Änderungsantrag der Linken leicht erreichen. Es geht um die Einfügung von zwei Worten und schon wissen wir künftig anhand der geforderten Meldung über die Zahl von barrierefreien Gästebetten und Gästezimmern, wo wir hinsichtlich der Barrierefreiheit in Beherbergungseinrichtungen stehen. Der damit verbundene Mehraufwand ist – auch mit Blick auf Art. 31 „Statistik und Datensammlung“ der UN-Behindertenrechtskonvention – mehr als gerechtfertigt. Leider haben die anderen Fraktionen unseren Änderungsantrag in den Fachausschüssen mit den kuriosesten Begründungen abgelehnt, und ich nehme an, dass dies auch in der folgenden Abstimmung so sein wird. Dies zeigt wieder einmal, wie ernst die Bekenntnisse zur Förderung des barrierefreien Tourismus zu nehmen sind. Es ist – das sage ich auch als selbst Betroffener und Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ – für dieses Hohe Haus einfach nur beschämend. Nun noch einige Bemerkungen zum Handelsstatistikgesetz: In den Bereichen Kfz- und Großhandel sollen bei den monatlichen Erhebungen Mixmodelle eingeführt werden, bei denen die Angaben aus zwei unterschiedlichen Quellen stammen: aus Primärerhebungen und aus Verwaltungsregistern. Diese Mixmodelle entlasten die Betriebe, sichern jedoch vermutlich die notwendige Qualität und Zuverlässigkeit der Daten. Primärerhebungen mit Daten aus Verwaltungsregistern zu kombinieren, ist sinnvoll. Die Zahl der zu befragenden Unternehmen kann gesenkt werden. Eine Halbierung der Zahl auskunftspflichtiger Unternehmen geht allerdings zu weit. Es wäre besser, die Zahl der berichtenden Unternehmen zunächst behutsam zu senken. Denn welche Datenqualität das neue Mixmodell liefert, ist noch ungewiss. Vollkommen lächerlich haben Sie sich aber gemacht, als sie die Abwicklung ihres gescheiterten ELENA-Projekts zur elektronischen Übermittlung von Einkommensnachweisen einfach an die beiden anderen Entwürfe drangehängt haben. Sie wollten sich die Peinlichkeit ersparen, das noch einmal im Scheinwerfer der Öffentlichkeit tun zu müssen. Das ist ja verständlich, aber es entspricht dennoch nicht den parlamentarischen Sitten. Die Linke lehnt aus den genannten Gründen den Gesetzentwurf ab. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit der gestrigen Sitzung des Wirtschaftsausschusses hat das Beherbergungsgesetz erheblich an Brisanz gewonnen. Union und FDP haben dem an sich recht harmlosen Statistikänderungsgesetz die Einstellung des hochumstrittenen ELENA-Verfahrens angehängt. Ein Ende mit Schrecken ist in aller Regel besser als ein Schrecken ohne Ende. Allerdings kommt diese Einsicht von Schwarz-Gelb fast zwei Jahre zu spät. Gestartet ist ELENA Anfang des Jahres 2010. Schnell war klar, dass der eigentlich gute Ansatz, die Unternehmen von Millionen von Papierbescheinigungen zu befreien, zu einem Bürokratiemonster mutiert. Die Kosten des Verfahrens explodierten, und die Verunsicherung bei Unternehmen und Bürgern wuchs. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung im März 2010 war für jeden, der sehen wollte, glasklar, dass ELENA auch datenschutztechnisch völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Wir Grünen haben die Regierung damals aufgefordert, genau das zu tun, was sie jetzt endlich tut, nämlich die elektronischen Meldepflichten der Arbeitgeber aufzuheben und die bereits erfassten Datensätze zu löschen. Union und FDP haben das damals leider abgelehnt, sie brauchten weitere eineinhalb Jahre, um sich das Scheitern ihres elektronischen Meldeverfahrens einzugestehen. Das ist Politikunfähigkeit auf dem Rücken von 2 Millionen vor allem kleinen und mittleren Unternehmen. Diese haben Monat für Monat die gesetzlich geforderten Meldepflichten erfüllen müssen. Mittlerweile stapeln sich 700 Millionen Datensätze bei der zentralen Sammelstelle – ein Aufwand von mehreren 100 Millionen Euro für die Wirtschaft, der den Unternehmen kein bisschen Bürokratieabbau gebracht hat. Auch wenn ELENA noch von der Großen Koalition beschlossen worden war: Die Verantwortung für die ineffiziente Datenflut über viele Monate liegt bei Union und FDP. Das Vertrauen der Unternehmen in den Willen und die Fähigkeit der schwarz-gelben Regierung zum Bürokratieabbau ist schwer beschädigt. Offenbar ist das auch den Koalitionären klar, und vermutlich wurde das Aus für ELENA deshalb heimlich, still und leise in der parlamentarischen Sommerpause verkündet. Peinlich ist auch das jetzige Verfahren: Union und FDP bringen die ELENA-Beendigung per Koalitionsantrag am Normenkontrollrat vorbei in den Bundestag ein. Im Wirtschaftsauschuss wurde dann gestern auch noch der Antrag von uns Grünen, den Normenkontrollrat doch noch hinzuzuziehen, niedergestimmt. Das ist ganz schlechter Politikstil. Wir werden den Gesetzentwurf aus diesem Grund komplett ablehnen. Die erweiterten Möglichkeiten zur Überprüfung von Bürokratiekosten durch den Normenkontrollrat sind damit gleich im ersten Praxistest von der Koalition blockiert worden. Die Koalition hintertreibt ohne Not die von ihr selbst geschaffenen Möglichkeiten. Um die Debatte über ihr gescheitertes Projekt zu vermeiden, nutzen Union und FDP ein Schlupfloch und schwächen die Glaubwürdigkeit bezüglich des Bürokratieabbaus weiter. Offenbar ist der Wille nach mehr Transparenz in der Koalition ein reines Lippenbekenntnis. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Normenkon-trollrat trotz der Absage der Koalition seine Möglich-keit nutzt, die bürokratischen Belastungen durch das ELENA-Aus für die Unternehmen und die Verwaltung festzustellen und wir Abgeordnete das Ergebnis auch erfahren würden. Wichtiger noch ist aber der Blick nach vorne. Die Unternehmen haben viele Millionen Euro in Aufbau und Pflege der ELENA-Strukturen investieren müssen. Das darf nicht umsonst gewesen sein. Die Bundesregierung muss nun umgehend zukunftsfähige und unbürokratische Meldestrukturen aufbauen, die auch den hohen datenschutzrechtlichen Anforderungen gerecht werden. Angekündigt ist jetzt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales federführend ein einfaches und unbürokratisches Meldeverfahren für die Sozialversicherungen erarbeiten soll, das die getätigten Investitionen in der Wirtschaft aufgreift und keine Massenspeicherung von Daten vorsieht. Allerdings steckt dieses Projekt noch in den Kinderschuhen. Es gibt noch nicht einmal einen Zeitplan. Ich hoffe sehr, dass der seit Monaten geführte Zuständigkeitsstreit mit dem Wirtschaftsministerium hier nicht weitergeht, sondern dass wir den Unternehmen endlich den versprochenen Bürokratieabbau ermöglichen können. Noch einmal zurück zur Beherbergungsstatistik: Barrierefreie Beherbergungsmöglichkeiten besser zu erfassen, ist ein sehr sinnvoller Vorschlag der Linksfraktion, der von Bundesregierung und Bundesrat eingehend geprüft werden sollte. Bevor wir eine solche Forderung detailliert ins Gesetz schreiben, sollten wir aber genau überlegen, wie die Meldungen ausgestaltet sein müssen, damit sie auch wirklich aussagekräftig sind. Außerdem brauchen wir eine Abschätzung des Verwaltungsaufwands. Die Länder ächzen ohnehin schon unter dem zusätzlichen Aufwand, ohne von der Bundesregierung unterstützt zu werden. Wir werden uns deshalb bei der Abstimmung über den Antrag der Linksfraktion enthalten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7200, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6851 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Linken auf Drucksache 17/7221 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken und bei Enthaltung von SPD und Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. September 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 21.10 Uhr) Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Burchardt, Ulla SPD 29.09.2011 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 29.09.2011 Hempelmann, Rolf SPD 29.09.2011 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 29.09.2011 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.09.2011 Lühmann, Kirsten SPD 29.09.2011 Nord, Thomas DIE LINKE 29.09.2011 Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.09.2011 Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 29.09.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 29.09.2011 Dr. Stinner, Rainer FDP 29.09.2011 Wicklein, Andrea SPD 29.09.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 29.09.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 29.09.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 29.09.2011 Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Herbert Behrens (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Ausweitung des Euro-Rettungsschirms aus folgendem Grund nicht zu: Meinen Kolleginnen und Kollegen aus meinem gewerkschaftlichen Umfeld habe ich bei meinem Einzug in den Bundestag versprochen: Ich mache mein Abstimmungsverhalten bei allen Entscheidungen davon abhängig, ob es den Interessen der Arbeitenden und Erwerbslosen an Arbeit, gutem Lohn und Sicherheit bei Krankheit und im Alter dient. Diesem Anspruch wird der europäische Stabilisierungsmechanismus in keiner Weise gerecht. Im Gegenteil: Das Gesetz vergrößert die soziale Spaltung der Gesellschaften in den Staaten, die auf die Hilfe der Euro-Staaten angewiesen sind. Der Rettungsschirm zwingt die Menschen in den betroffenen Ländern zu Lohnverzicht, Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit. Das gefährdet den sozialen Frieden in Europa, fördert antieuropäische Ressentiments und Rassismus. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Der Euro ist unsere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern, liegt in deutschem und im europäischen Interesse. Die gegenwärtige Krise einzelner Eurostaaten muss daher so bekämpft werden, dass die europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes gestärkt hervorgehen kann. Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die europäische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockung und Erweiterung der Europäischen Finanzierungsfazilität nicht zustimmen kann. Schon bei Einrichtung der Rettungsschirme habe ich mit meinem Stimmverhalten signalisiert, dass ich sie als Verstoß gegen Europarecht und das Verbot der Schuldenübernahme und damit als rechtswidrig betrachte. Für die Ausweitung des Rettungsschirms gilt das ebenfalls. Die in oben genanntem Gesetz genannten Maßnahmen sind ungeeignet, die Krise zu lösen. Sie führen nicht zu einem Abbau der gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte und Fehlentwicklungen in der Euro-Zone, sondern verlängern sie nur mit immer höheren Kosten. Schon heute ist absehbar, dass die Gesetzesänderungen nicht ausreichen, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Es gilt aus der bisherigen Rettungslogik herauszukommen, um wieder vom Reagieren zum Agieren zu gelangen. Mit der Übernahme der Gewährleistung für verschuldete Staaten haben die Euro-Länder die Sozialisierung privater Verluste in Kauf genommen und das Verbot der Schuldenübernahme ausgehebelt. Der andere Ansatzpunkt ist die Europäische Zentralbank. Deren Übernahme von Staatsdefizitfinanzierung darf nicht weiter erlaubt sein. Die Quasigelddruckmaschine zeigt, dass sich die EZB nicht mehr der Geldwertstabilität verpflichtet fühlt, sondern der Finanzstabilität, also der Banken- und Staatsrettung. Die Banken wiederum müssen gezwungen werden, sich ausreichendes Kapital zu beschaffen, dass dann als Puffer dienen kann für die Risiken von Staatspapieren. Erst nach diesem Eigenbetrag können öffentliche Hilfen zum Einsatz kommen. Wenn wir erst retten und dann erst zu eigener Anstrengung auffordern, bleibt jeglicher Reformwille auf der Strecke. Staaten, die eine disziplinierte und solide Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, bleiben in der Euro-Zone. Sie wird nicht zusammenbrechen. Diejenigen, die objektiv nicht fähig oder politisch nicht willens sind, die mit einer Währungsunion verbundenen anspruchsvollen Konvergenzbedingungen zu erfüllen und die wirtschaftspolitischen Einschränkungen ihrer Autonomie zu akzeptieren, werden sie – gegebenenfalls nur temporär – verlassen. Das stärkt den Euro nach innen und außen. die ausscheidenden Staaten haben mit einer eigenständigen Geld-, Zins- und Währungspolitik die Chance, zum Wachstum zurückzukehren, und werden nicht weiter mit einer überzogenen Deflationspolitik gequält. Eine nachhaltige Lösung der Staatsschuldenkrise von Euro-Ländern erfordert die Rückkehr zu einer strengeren Stabilitätskultur mit automatischer Sanktionierung von Verstößen, zu solider Haushaltführung, zum Erhalt von Steuerungs- und Anreizmöglichkeiten über die Zinshöhen, zu starker Konditionalisierung der Hilfen, falls sie nötig werden, und zur Reformpolitik. Diese Maßnahmen dürfen immer nur Hilfe zur Selbsthilfe bleiben und nicht dazu verführen, sich günstig zu finanzieren. Die verschuldeten Staaten müssen in die Lage versetzt werden, zu eigenverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die vorgeschlagene Erweiterung geht darüber hinaus, weil sie keine wirksame Begrenzung von Finanzhilfen ermöglicht, sondern weiter Anreize zur Sozialisierung privater Verluste und Vergemeinschaftung nationaler Schulden zulasten der deutschen und europäischen Steuerzahler setzt. Differenzen in den wörtlich unterschiedlichen Formulierungen des Gewährleistungsgesetzes und des EFSF-Rahmenvertrages werden zu Verunsicherung in der Auslegung und Anwendung beider führen. Sie sind nicht akzeptabel, da sie nicht dem Grundsatz von Wahrheit und Klarheit folgen. Selbst wenn sie mir noch als unvollkommen erscheint, so befürworte ich doch ausdrücklich die Ausweitung der Parlamentsbeteiligung, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts folgt und auch meine Forderungen zumindest im Wesentlichen erfüllt. Durch dieses wichtige Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrecht des Deutschen Bundestages ist zwar meine grundsätzliche Ablehnung der Rettungsschirmpolitik nicht aufgehoben, aber insofern günstiger gestellt, als dass ich mit Enthaltung votieren kann. Karin Binder (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsmechanismus nicht zu. Diese Entscheidung möchte ich mit dieser Erklärung begründen. In einer parlamentarischen Demokratie bedürfen Entscheidungen, die gravierende negative Folgen auch für kommende Generation haben, der Beratung und demokratischen Beteiligung des Parlaments. Dieser Grundsatz wird mit diesem Gesetz verletzt. Es soll nur noch eine Unterrichtungspflicht gegenüber dem Haushaltsausschuss, nicht aber gegenüber dem ganzen Parlament gelten. Damit werden Parlamentarier unterschiedlicher Rangordnung geschaffen. Das ist mit deren prinzipieller Gleichrangigkeit nicht zu vereinbaren. Die Bundesregierung kann obendrein die Parlamentsbeteiligung ganz umgehen, wenn sie besondere Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit vorgibt. Dann soll nicht einmal mehr der Haushaltsausschuss, sondern ein aus nur wenigen Mitgliedern des Ausschusses bestehendes Sondergremium entscheiden. Diese Beratungen und Entscheidungen mit weitreichenden Folgen werden am Parlament und an der Bevölkerung vorbei getroffen. Das ist nicht hinnehmbar. Doch noch schwerwiegender für meine Entscheidung sind soziale Gründe. Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms vor allem deshalb ab, weil schon die bisherigen Maßnahmen zur Euro-Rettung die Ausweitung der Krise nicht verhindert haben. Im Gegenteil: Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungsschirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgen die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhindern eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärfen die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden dadurch nicht beruhigt. Weiterhin werden gegen die sogenannte Krisenstaaten Wetten abgeschlossen und es wird munter weiterspekuliert. Bereits heute gehen Expertinnen und Experten sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die Aufstockung der EFSF nicht ausreichen wird. Anstatt Konsequenzen aus der gescheiterten Politik zu ziehen, wird der Kurs unerschüttert fortgesetzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner und andere Bevölkerungsgruppen mit Lohn- und Rentenkürzungen. Der größte Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte sorgt dafür, dass private Banken weiter spekulieren können. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Garantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt wird, ist diese Krise nicht unter Kontrolle zu bringen Mit dieser Politik wird die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt. Sie ist ökonomisch gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern. Die Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone und EU ist nicht vorgesehen. Dies gefährdet zunehmend die europäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“, ist daher schlicht falsch. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und demokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in genau die entgegengesetzte Richtung weist, kann Die Linke als Europa bejahende Partei nicht zustimmen. Nicole Bracht-Bendt (FDP): Die Lösungen der Koalition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nicht alle bisherigen oder geplanten Maßnahmen finden meine Zustimmung. Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ich habe in der Fraktion mit Kolleginnen und Kollegen für eine andere Entscheidung gekämpft. Es ist uns nicht gelungen, die Mehrheit der FDP-Fraktion zu überzeugen. Das respektiere ich. Aus Fraktionsdisziplin und Solidarität werde ich daher heute mit meiner Fraktion stimmen. Weiteren wie auch immer gearteten Ausweitungen eines Rettungsschirms werde ich nicht zustimmen. Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelle des Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehne ich ab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt. Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung des Deutschen Bundestages ausgehebelt wird. Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für den Deutschen Bundestag gewesen. Es ist möglich, dass es noch zu stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommt, falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande kommt. Die Kapitalmärkte könnten entsprechend reagieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene und entschlossene Koalition zu setzen. Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstimmungsverhalten berücksichtigt. Aufgrund dieser Abwägung stelle ich meine persönlichen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvorhaben getroffenen Regelungen zurück und stimme den Änderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabilisierungsmechanismus zu. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Die heutige Entscheidung ist fälschlicherweise zur Abstimmung über Krieg und Frieden in Europa hochstilisiert worden. Mit der Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus wird der Versuch unternommen, die Versäumnisse, die bei der Euro-Einführung in der Vergangenheit gemacht wurden, auszugleichen. Den Unmut der Bürger kann ich teilweise verstehen. Denn wir helfen heute den Staaten, die seit Jahren wider besseres Wissen ihre Strukturveränderungen bewusst nicht auf den Weg gebracht haben bzw. auf Kosten der zukünftigen Generationen leben. Damit verhöhnt man die Verträge von Maastricht und die Euro-Stabilitätskriterien, die wir als Deutsche damals wie ein Banner vor uns hergetragen haben, um den Euro so stark und solide wie die DM zu halten. Leider mussten die politischen Voraussagen zum Thema „Eurostabilität und Griechenlandhilfe“ auch von unserer Regierung aufgrund der finanzpolitischen Wirklichkeit ständig überholt werden. Dennoch beanspruche ich für mich, dass ich bei der heutigen Abstimmung nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohle des deutschen Volkes entscheiden werde. Dies streite ich aber auch meinen Kollegen nicht ab, die vielleicht zu einer anderen Entscheidung gelangen. Persönlich hoffe ich, dass wir durch die Fraktionsführung, die betroffenen fachpolitischen Gremien und die Bundesregierung umfassend informiert worden sind. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass unsere Fraktion stärker auch die Kritiker mit eingebunden hätte, unter anderem Wissenschaftler und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft. Beispielsweise hätte man dann in einer Art Synopse die Lösungsvarianten und die daraus abgeleiteten Risiken und Kosten aufzeigen können. Meine heutige Entscheidung, das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus zu unterstützen, treffe ich auch als Schutzmaßnahme für die einheimische, mittel ständische Wirtschaft, die in einem europäischen und weltweiten Wettbewerb steht. Die Zeiten von Wechselkursschwankungen will ich im europäischen Raum für die deutsche Wirtschaft nicht wieder erleben. Mit meiner heutigen Zustimmung verbinde ich die Hoffnung, dass die Bundesregierung all ihre Kraft einsetzt, die europäischen Stabilitätskriterien wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Dabei sollte durch die Einführung von Schuldenbremsen auf Ebene der Nationalstaaten eine Kultur der Stabilität etabliert werden. Außerdem ist es unumgänglich, dass Nationalstaaten auch den Staatsbankrott erleiden können. Nur dann ist gewährleistet, dass der Markt als sensibler Währungshüter frühzeitig eingreift. Wer aus meiner Zustimmung abliest, dass ich weitergehende Finanzbelastungen für die Bundesrepublik Deutschland automatisch und damit ohne die Zustimmung des Parlaments als gewählter Volksvertreter zulasse, der irrt. Eine nochmalige Ausweitung des Verhandlungsspielraums werde ich nicht mittragen und mir entsprechende Konsequenzen für die Zukunft offenhalten. Gemeinschaftlich mit Griechenland sollte die europäische Staatengemeinschaft darüber nachdenken, ob und inwieweit Griechenland durch den Auf- und Ausbau von Solaranlagen einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung Europas leisten kann und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes deutlich verbessert wird. Auch bei der Tourismusentwicklung gibt es Optimierungsmöglichkeiten, die Griechenland dringend nutzen muss, um einen der wichtigsten Wirtschaftszweige wieder zu einem neuen Boom zu verhelfen und die entstehenden Einnahmen der Gesundung seiner Volkswirtschaft zuzuführen. Dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stimme ich aus den oben genannten Gründen zu. Für die Zukunft wünsche ich mir objektivierende Diskussionen über solche Fachthemen. Jede Hausfrau und jeder Normalbürger weiß, dass er Probleme bekommt, wenn er mehr ausgibt, als er einnimmt. Aus diesem Grund muss die Politik dafür Sorge tragen, dass auch in schwierigen Zeiten Haushaltsdisziplin unser oberstes Ziel ist. Wir leben derzeit schon auf Kosten der kommenden Generationen. Eine Umkehr von diesem Weg der Haushaltsdisziplin versündigt sich an der Zukunft Deutschlands und Europas. Michael Brand (CDU/CSU): Diese heutige Entscheidung bedeutet eine große, eine sehr große Verantwortung. Es geht um mehr als um die akute Nothilfe für Griechenland und die Stabilisierung der Euro-Zone. Es kommt darauf an, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Das Wissen um die Folgen dieser schwerwiegenden Entscheidung hat niemand für sich gepachtet, es gibt für diese Operation keine „Blaupause“, kein „Drehbuch“. Die üblichen Sicherheiten und auch manche voll überzeugte Position sind angesichts der sehr unterschiedlichen, gar widersprüchlichen Einschätzungen auch seriöser Experten nicht überzeugend. Es ist jedem klar, dass es keinen Königsweg gibt – wir haben die Wahl und die Pflicht, uns für die Lösungsalternative zu entscheiden, die nach sorgfältiger Analyse die geringsten Risiken und die bestmögliche Aussicht auf die Lösung der Krise birgt. Im Ergebnis aller dieser Sorgen, der Faktoren und Argumente habe ich mehrfach und vielfach nachgefragt und hinterfragt, mich mit den Argumenten der Gegner wie der Befürworter intensiv befasst, bis in die letzten Tage und Stunden hinein. Ich will hier ausdrücklich nur sehr knapp die bekannten Argumente einbringen, die für eine dauerhafte Lösung erforderlich sind. Wir haben keine Euro-, sondern eine Schuldenkrise. Wer zu lange zu stark über seine Verhältnisse gelebt hat, der muss nun die Richtung ändern. Wir haben in Deutschland als dem stärksten EU- und Euro-Land die Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben. Wer die Schulden zu hoch treibt und damit die Verfassung bricht wie kürzlich die rot-grüne Regierung in NRW, wird zur Rechenschaft gezogen. Das muss auch in Europa so kommen, und andere Euro-Staaten haben begonnen, dies ebenfalls in ihren Verfassungen zu verankern. Dazu brauchen wir Sanktionsmechanismen, die den Bruch der Stabilitätskriterien teuer machen, ebenso wie präventive Maßnahmen zur Überwachung staatlicher Haushaltspolitik in den Euro-Ländern. Wir brauchen endlich eine internationale Regulierung der Finanzmärkte, auch wenn das ein bekannt schwieriges Thema ist. Wir müssen das Kasino beenden, und wir brauchen wieder Finanzmärkte, die nicht zocken, sondern seriöse Kredite an seriöse Kreditnehmer vergeben. Auch die Ratingagenturen, die mit ihren falschen, offenbar nicht geprüften Ratings in der Vergangenheit einen Hauptanteil an der Finanzkrise hatten, müssen kontrolliert werden. Die private Finanzwirtschaft muss an der Schadensbehebung unmittelbar beteiligt werden; erste Schritte sind getan, aber weitere müssen folgen, in Eu-ropa und global. Für Staaten und Banken, die der Krise am Ende doch nicht gewachsen sind, brauchen wir geordnete Verfahren für eine geordnete Insolvenz, die eben nicht andere mit in die Krise reißt. Hier könnten wir in Europa und bei den G20 schon weiter sein, wenn die deutschen Argumente stärker berücksichtigt und Protektionismus für die eigene Finanzwirtschaft von Großbritannien und den USA nicht so massiv vorgebracht worden wären. Der Europäische Stabilitätsmechanismus – ESM – und der Europäische Rettungsfonds – EFSF – waren und sind neue Antworten und Instrumente, um auf eine völlig neue Herausforderung zu reagieren. Sie sollen vor allem eines bringen: die gemeinsame Kraft der weltweit immer noch starken Euro-Zone gegen die Krisen in einzelnen Euro-Ländern mit auf die Waagschale zu bringen, um ein Kippen der Lage zu verhindern und den schwierigen Weg aus der Krise geordnet zu gehen – statt in ein Finanz- und Wirtschaftschaos abzugleiten, mit enormen Wirkungen auf die Realwirtschaft, auf Mittelstand und Arbeitsplätze, auch hier in Deutschland. Schon bei der letzten großen Finanzkrise hat sich gezeigt, dass es „Gegenmittel“ gibt, die wir erfolgreich eingesetzt haben – nicht ohne Grund hat Deutschland eine im Vergleich zu anderen noch stärkere Position nach der Krise. Wir haben in der Krise die richtigen, jeweils erforderlichen Schritte eingeleitet, um Wachstum und Beschäftigung abzusichern und den Weg aus der Krise einzuleiten. Dass Wirtschaft und Gewerkschaften gleichermaßen dazu aufrufen, die Ausweitung des europäischen Rettungsschirms zu beschließen, ist ein nicht unwesentlicher Hinweis auf die breite Unterstützung des Kurses der Bundesregierung in dieser komplexen und nicht ungefährlichen Lage. Nicht zuletzt haben wir, die Deutschen, am stärksten vom Euro profitiert. Und wir werden unseren Teil der Verantwortung zur Stabilisierung der Schuldenkrise auch wahrnehmen. Dabei gibt es keinen Freibrief für Schuldensünder – für Hilfe muss Gegenleistung erbracht werden, und das verbindlich. Nachdem ich mich sehr bewusst während der Beratungen mit Argumenten und auch mit Abstimmungsverhalten für eine Verminderung der Risiken für die Steuerzahler und eine Stärkung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages eingesetzt habe, kann ich heute nicht übersehen, dass es hier auch Fortschritte gegeben hat. Die Bürgerinnen und Bürger können sicher sein: Es wird keine zentralen Entscheidungen mehr geben ohne ausdrückliche Beteiligung ihres Parlamentes, in das sie die Abgeordneten mit ihrem Vertrauen entsendet haben. Wir Abgeordneten stehen umso mehr in der Pflicht, sorgfältig zu analysieren und die Sorgen der Menschen aufzunehmen. Wo Unsicherheit vorherrscht, ist Vertrauen mit das höchste Gut. Darum geht es ganz zentral: wieder Vertrauen schaffen. Vertrauen darauf, dass wir in Europa, mit aktiver deutscher Hilfe – als größter Wirtschaft in der EU –, die Krise meistern, wenn auch nicht von heute auf morgen. Vertrauen darauf, dass wir kommende kritische Phasen ordentlich überstehen, mit weniger Erschütterungen. Mittel- und langfristig geht es um die Stabilität unseres Kontinentes in einer sich dramatisch verändernden Welt. Es geht für uns, auch für unsere Kinder, um die Möglichkeit, unsere Rolle in der Welt auch in Zukunft aktiv gestalten zu können. Es ist viel von Vertrauen die Rede in diesen Wochen und Monaten. Und es geht um viel, und vor allem um viel Vertrauen in diejenigen, die handeln und entscheiden können, und müssen. Wir alle sollten ein gesundes, ja tiefes Misstrauen haben gegenüber solchen, die erkennbar alles genau wissen und in keiner Weise nachdenklich zu sein scheinen: Wer bei dieser Dimension nicht nachdenklich auftritt, lässt auch Zweifel aufkommen, dass genug nachgedacht wurde. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich mit Sorgen um den Euro, um ihr Erspartes, auch um die Alterssicherung und die Zukunft ihrer Kinder oder Enkel an mich gewandt. Für mich sind das ernste Sorgen, die ich selbstverständlich sehr ernst zu nehmen habe. Bislang hat die Realwirtschaft in Deutschland keinen Schaden genommen, Deutschland stabilisiert mit seiner starken Wirtschaft, auch mit dem Export weltweit und in die EU den Euro-Raum mit. Die Sorgen der Menschen werden ernst genommen, und auch das schafft Vertrauen, wie die letzten Zahlen zum Konsumklima als einem der wesentlichen Indikatoren für das Vertrauen der Bevölkerung in die wirtschaftliche Zukunft unterfüttern. Keine Lösung ist die Haltung der Opposition, den europäischen Rettungsmechanismus in einen Automatismus auszudehnen, der keine effiziente Kontrolle für Schuldensünder vorsieht. Schon bei der ersten notwendigen Hilfe gegen den Zusammenbruch Griechenlands hatte sich die SPD enthalten, die Lehman-Pleite hatte der damalige Finanzminister Steinbrück in der Wirkung fatal falsch eingeschätzt. Das ist wenig vertrauenswürdig für die Position der Opposition, die zudem mit ihrer damaligen rot-grünen Regierung die fiskalischen Todsünden gegen den Euro-Stabilitätspakt begangen hat: Schröder-Fischer-Eichel waren die ersten, die den von Kohl und Waigel ausgehandelten Stabilitätspakt gebrochen und Kritiker an diesem Bruch verhöhnt haben. Zum anderen wurde ausgerechnet Griechenland in die Euro-Zone geholt, obwohl das Vertrauen in die offiziellen griechischen Zahlen schon damals bei Kennern erschüttert war. Wer so gehandelt hat, kann nicht auf großes Vertrauen zählen, wenn es um die Zukunft des Euro geht. Dass die Bundesregierung sich mit ihrer Forderung nach einer strengeren Regulierung endlich bei der EU-Kommission durchgesetzt hat, ist ein später Erfolg der Bundesregierung. Ebenso klar muss jeder wissen, dass sich SPD und Grüne im Europäischen Parlament in diesen Tagen genau gegen diese Stabilitätskriterien geäußert und gegen diese Vorschläge gestimmt haben. Es ist also kein polemisches, populistisches Theater, das uns hier weiterhilft. Im Gegenteil: Das schafft kein Vertrauen. Wir wollen, ich will für unsere Zukunft, für meine und unsere Kinder, dass wir ein durch die Krise gesteuertes, erstarktes Europa haben und kein geschwächtes oder gar wirtschaftlich abgeschafftes Europa. Insgesamt komme ich so in der Gesamtabwägung aller mir zur Verfügung stehenden Argumente, also des Wissens zu diesem komplexen Thema zur Entscheidung, dass ich diese Ausweitung des europäischen Rettungsschirms dieses Mal mittragen kann. Das ist kein Freibrief für künftige Entscheidungen. Es hat die Entscheidung mitbeeinflusst, dass dank unseres deutlichen Auftretens als Parlament gegenüber unserer Regierung, auch des Präsidenten des Deutschen Bundestages, unseres Kollegen Professor Dr. Lammert, die Rechte des Deutschen Bundestages bei der Stabilisierung der Euro-Zone nochmals deutlich gestärkt wurden. Es wird keinen Automatismus zu weiteren Ausweitungen der Garantien der Bundesrepublik Deutschland geben, weil es diesen Automatismus nicht geben darf. Im Gegenteil: Jeder nächste Schritt wird vom Deutschen Bundestag geprüft, der Deutsche Bundestag muss entscheiden über Ja oder Nein – und erst dann wird, wiederum im Bundestag, im Haushaltsausschuss unter diesen Vorgaben über die Einzelheiten entschieden. Das ist ein wichtiges Signal auch dafür, dass Demokratien diese nationalen und internationalen Herausforderungen besser bestehen als Länder wie China und andere, die keine Rücksichten auf die Sorgen ihrer Bevölkerung nehmen. Der Deutsche Bundestag vertritt den Souverän, das deutsche Volk, auch in diesen Fragen, auch gegenüber und manches Mal gar gegen die Forderungen der EU oder der Euro-Partner. Unter diesen, auch vom Parlament erreichten Rahmenbedingungen fällt es mir nicht leicht, ist aber dennoch die nach Abwägung aller Positionen richtige Entscheidung, heute dem Gesetzentwurf zum europäischen Rettungsschirm zuzustimmen. Bei den weiteren Beratungen bleibe ich kritischer Teilnehmer als Vertreter der Menschen, die mich mit dem Vertrauen ausgestattet haben, ihre Interessen nach bestem Wissen und Gewissen zu vertreten. Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsverhalten am heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, möchte aber folgende Bedenken zu Protokoll geben: Das vorliegende Gesetz hat eine Dimension und eine Tragweite, die selbst Fachleute nicht überblicken können. Ich bin kein Finanzexperte und muss eingestehen, dass ich mich auf die Vorgaben der Fachleute verlassen muss. Ich sehe keine inhaltliche Alternative, die ich für unproblematischer halte, und folge deshalb der SPD-Fraktion und stimme dem Gesetz zu. Zur Darlegung meiner inhaltlichen Kritikpunkte. Eine Politik, die darauf abzielt, Sozialleistungen und Löhne abzubauen und Löhne zu senken, wie das jetzt in Griechenland und teilweise in Südeuropa – auch durch Druck der Bundesregierung – geschieht und wohl weiterhin geschehen wird, ist zweifelhaft. Dies ist eine neoliberale Politik, die ganz sicher zu keiner Stabilisierung der Verhältnisse in Griechenland führen wird. Die Binnenkonjunktur in Griechenland wird unter diesen Maßnahmen leiden. Auch auf die deutsche Exportwirtschaft wird dieses Gesetz Auswirkungen haben. Sie wird zukünftig einen schwächeren Absatzmarkt in Griechenland vorfinden. Zudem sind andere Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich in der Gefahr, dieselben Konsequenzen tragen zu müssen. Die Regulierung der Finanzmärkte ist zwingend erforderlich, wenn wir das europäische Finanzsystem insgesamt stabilisieren wollen. Dies muss nun zügig durchgesetzt werden. Neben der inhaltlichen Abwägung gibt es allerdings noch die Diskussion über die demokratische Kontrolle des Rettungsschirms. Ich sehe meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG sowie dem Demokratieprinzip durch die vorgesehene Lösung gefährdet. Ich halte die Beteiligung des Bundestages bei konkreten Hilfszusagen in jedem neuen Einzelfall für unverzichtbar. Der Kompromiss, der auf Betreiben der SPD-Fraktion gefunden wurde, ist nur eine Mindestlösung. Danach darf der Vertreter der Bundesregierung in der EFSF, der European Financial Stability Facility, einem Beschlussvorschlag, der die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages berührt, nur dann zustimmen, wenn das Parlament zuvor einen zustimmenden Beschluss gefasst hat. Bei besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit sollen die Beteiligungsrechte des Bundestages von einem Unterausschuss des Haushaltsausschusses wahrgenommen werden, dem neun Mitglieder aus allen Fraktionen angehören sollen. Die SPD hat dazu einen Änderungsantrag vorgelegt, nach dem auch in Fällen der Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit der Haushaltsausschuss zustimmen soll – und nicht das Sondergremium. Dies wurde von der Regierung leider abgelehnt. Insgesamt wird es sehr wichtig sein, dass wir genau überprüfen, ob damit auch die erforderlichen Ziele erreicht werden können. Diese Entscheidung reiht sich ein in eine Politik, bei der die Rechte des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten immer weiter eingeschränkt werden. Diese Entwicklung halte ich für bedrohlich. Es wird Zeit, darüber endlich ausgiebig zu diskutieren und gegenzusteuern. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu: Erstens: Die Aufstockung der Mittel des Stabilisierungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinstitute, der Reichen und der Superreichen. Im Haftungsfall werden wie immer die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler getragen. Ich befürchte auch eine Kürzung von Renten und anderen Sozialleistungen. Die Bundesregierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Deshalb lehne ich das Gesetz ab. Den Menschen in den Ländern, die Mittel von der EFSF erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die strengen Auflagen treffen dort vor allem die Geringverdienerinnen und Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner. Die Folge davon ist, dass die Binnennachfrage einbricht. Dadurch werden weitere Menschen arbeitslos, und die Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland. Auch deshalb sage ich Nein zu dem Gesetz. Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanzmärkte, also die Banken endlich an die Kette legen, die Heranziehung der Riesenvermögen zur Schuldentilgung und eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und anderen betroffenen Ländern. Zweitens: Ich lehne das Änderungsgesetz auch deshalb ab, weil es die demokratisch-parlamentarische Kontrolle des Bundeshaushalts aushöhlt. Im Rahmen der EFSF werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen für spätere Generationen haben – so viel zur viel beschworenen Generationengerechtigkeit. Die demokratische Kontrolle durch uns gewählte Abgeordnete kann durch Unterrichtungen und Entscheidungen des Haushaltsausschusses nicht ersetzt werden. Noch weniger ist es mit demokratischen Grundsätzen vereinbar, wenn wichtige parlamentarische Entscheidungen an ein kleines Sondergremium delegiert werden. Auch deshalb sage ich Nein zu dem Gesetz, das die Unterordnung demokratischer Verfassungsprinzipien unter das Diktat der Finanzmärkte bedeutet. Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heute über einen vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen. Lassen Sie mich kurz einführen, warum ich es als wichtig erachte, diesen Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren. In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir dem Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene. Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zu anderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in der internationalen Geschäftswelt ist das angelsächsische Recht auf dem Vormarsch. Das liegt nicht an der Überlegenheit des Common Law. Vielmehr herrscht in der juristischen Fachwelt die Auffassung vor, dass das deutsche Recht im internationalen Vergleich einen sehr hohen Qualitätsstandard für sich beanspruchen kann. Dieser hohe Qualitätsstandard setzt sich in der Rechtspflege fort. Deutsche Gerichtsverfahren führen in der Regel schnell und mit vergleichsweise niedrigen Kosten zu einem für die Rechtsuchenden befriedigenden Ergebnis. Somit eignen sich nicht nur unsere Waren als Exportschlager. Auch unser Rechtssystem könnte einer werden. Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum Common Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Unser Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbewerbsnachteils attraktiver werden: Der angelsächsische Rechtskreis spielt bislang den Vorteil der englischen Sprache als internationale Handelssprache voll aus. Unternehmen weichen häufig auf englischsprachige Gerichtsstände aus oder vereinbaren Schiedsklauseln unter Verwendung der Verfahrenssprache Englisch, weil Englisch meist allen Beteiligten geläufig ist. Die Einführung von Kammern für internationale Handelssachen, in denen Englisch als Gerichtssprache zugelassen werden soll, kann dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rechts international erheblich zu verbessern und die Ausweichbewegungen abzumildern. Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchen Ansatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesgerichtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln, Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungsplänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englisch verhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf § 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägers und des Beklagten die Verhandlung in englischer Sprache geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher verzichten und der Prozess einen internationalen Bezug aufweist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft in Köln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vielen internationalen Unternehmen ist, nur so attraktiv bleiben kann. Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nur erreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in englischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dass auch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigt werden können. Damit kann die Sprachbarriere des deutschen Rechts für internationale Unternehmen weiter abgebaut werden. Um dieses Vorhaben zu prüfen und weiterentwickeln zu können, wird der Rechtsausschuss zu diesem Gesetzentwurf im November eine öffentliche Anhörung durchführen. Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritiker eingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschen Sprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum, unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Es geht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für den internationalen Handelsverkehr, die das Einverständnis aller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ich meine, niemand etwas haben. Sylvia Canel (FDP): Vertrauen in ein gemeinsames Europa mit einer gemeinsamen Währung setzt voraus, dass sich alle Länder an einen nachvollziehbaren und stabilitätsorientierten Ordnungsrahmen halten. Dieser Rahmen sollte eine schlüssige Perspektive und Anreize zum verlässlichen und nachhaltigen Handeln bieten. Eigenverantwortung, Haftung und Kontrolle gehören zusammen und sind Grundlage unserer europäischen Gemeinschaft und nicht voneinander trennbar. Die Länder sind in hohem Maße eigenverantwortlich und dem Maastrich-Vertrag, der die Staatsverschuldung auf ein unkritisches Maß begrenzt, verpflichtet. Die Schwellenwerte von 3 Prozent für das laufende Defizit und 60 Prozent für den Schuldenstand – jeweils bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt – haben einen ausgeglichenen Haushalt zum Ziel, ein Ziel, das mit Nachdruck verfolgt werden muss. Der, der dazu nicht bereit ist, gefährdet die Gemeinschaft und nicht der, der auf die Einhaltung des Ziels besteht. Trotz der Richtigkeit des gemeinsamen Vertrages wurde dieses Ziel immer weiter aus den Augen verloren. Es fehlte der politische Wille zur Umsetzung. Es existiert also kein unmittelbares Regelungsdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit, das die heutige Krise begründet. Die zunehmende Verflechtung der Finanzinstitutionen macht es jedoch auch erforderlich, nachzusteuern und neue Regelungen zu ergänzen. Meine Fraktion hat diese Instrumente maßgeblich erarbeitet. Diese Arbeit unterstütze ich, deshalb stimme ich nicht mit einem Nein. Die vorgelegten Lösungen der Koalition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die Grundlagen für Maßnahmen legen, die es erlauben zielorientierter zu fördern und konsequenter zu fordern. Bedauerlicherweise sind diese Instrumente damit verbunden, dass die Bürgschaftssumme für Deutschland ein weiteres Mal erheblich erhöht wird, was zu einer großen Belastung führt und am Ende zum Verlust der deutschen Kreditwürdigkeit führen könnte. Der Aufbau Europas auf Schulden ist ein Weg, der die politische Gestaltungsmöglichkeit kommender Generationen erheblich einschränkt und deshalb nicht meine Zustimmung finden kann. In Abwägung der unterschiedlichen Positionen enthalte ich mich der Stimme. Dr. Peter Danckert (SPD): Zu meinem Abstimmungsverhalten zum heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich stimme dem Gesetzentwurf zwar zu, möchte aber folgende Bedenken zu Protokoll geben: Ich bin davon überzeugt, dass die Rettungsmaßnahmen, die mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilitätsmechanismus einhergehen, der richtige Weg zur Rettung des Euro-Raums sind. Die haushaltsrechtliche Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages wird jedoch durch die in § 3 Abs. 3 vorgesehene Regelung nicht verfassungsgemäß ausgestaltet. Meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG sowie dem Demokratieprinzip werden durch die vorgesehene Lösung auf verfassungswidrige Weise unterlaufen. Deshalb werde ich voraussichtlich gegen das Gesetz Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben. Die Tatbestandsmerkmale der Vertraulichkeit oder Eilbedürftigkeit sind meiner Ansicht nach keine überzeugenden Argumente, um die vorgesehene Ausgestaltung des § 3 Abs. 3 zu rechtfertigen. Erstens. Fälle besonderer Vertraulichkeit: In den letzte Jahrzehnten gab es meiner Kenntnis nach keinen Fall, in dem ein Abgeordneter die vorgesehene Vertraulichkeit der zu treffenden Entscheidungen – zum Beispiel Dokumente, die als Geheim klassifiziert sind – gebrochen hat. Daher ist es nicht nachvollziehbar, dass man zwischen denjenigen unterscheidet, denen man die Geheimhaltung zutraut, und solchen, die die Vertraulichkeit mutmaßlich brechen. In dieser Handhabung sehe ich eine Verletzung meiner Rechte, sowohl als Abgeordneter, als auch als Person. Zweitens. Fälle besonderer Eilbedürftigkeit: Bei einer eilbedürftigen Situation, die zum Beispiel bei einer Intervention der EFSF am Sekundärmarkt vorliegt, könnten die Mitglieder des Haushaltsausschusses ebenso schnell zusammengerufen werden, wie die Mitglieder des Kleinstgremiums. Wenn mehrere Mitglieder des Kleinstgremiums sich zum besagten Zeitpunkt beispielsweise auf einer Dienstreise in Australien befinden, dann sind sie gleichermaßen schwer zu erreichen. Ich hoffe inständig, dass die verantwortlichen parlamentarischen Geschäftsführer nicht vorhaben, eine Telefon- oder Videokonferenz für diese Fälle vorzusehen, und so die Abstimmung aus der Ferne zuließen. Dies würde in entscheidender Weise die Geheimhaltung gefährden. Ein solches Verfahren widerspricht darüber hinaus den organschaftlichen Verpflichtungen, die der Deutsche Bundestag sich selbst gegeben hat. Es ist in keinem Fall zulässig, die Zustimmung, beispielsweise zum Haushaltsgesetz, per Telefon zu erklären. Es ist stets die Anweisung im Plenum oder im Ausschuss erforderlich. Reiner Deutschmann (FDP): Ich habe Zweifel, ob der zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf der einzig richtige Weg ist, um die Schuldenkrise der Euro-Staaten wirksam zu bekämpfen. Auch wenn ich das Ziel grundsätzlich teile, in Not geratenen Euro-Staaten zu helfen, so muss es nach meiner Überzeugung möglich sein, diejenigen Staaten in eine geordnete Insolvenz zu überführen, die ihr Schuldenproblem nicht mehr bewältigen können oder wollen. Problematisch ist aus meiner Sicht auch, dass die Risiken, die aus der Schuldenkrise einiger Euro-Staaten resultieren, nicht vollumfänglich eingeschätzt werden können. Ich stimme dem Gesetzentwurf dennoch zu, da es derzeit keine anderen schlüssigen Alternativen zur Rettung der Euro-Krisenstaaten gibt. Mit dem Gesetzentwurf beweist die Koalition von CDU/CSU und FDP, dass sie handlungsfähig ist und sich ihrer staatspolitischen Verantwortung stellt, im Bewusstsein der wirtschaftlichen Bedeutung Europas für unser Land sind Union und FDP gewillt, die zur Stabilisierung unseres Finanzsystems notwendigen Schritte einzuleiten, auch wenn dies bedeutet, Deutschland einer verschärften Bürgschaft für Euro-Krisenstaaten zu unterwerfen. Meine Zustimmung erteile ich nur, da festgeschrieben ist, dass jede finanzielle Zusage auf Grundlage dieses Gesetzes von der Zustimmung des Deutschen Bundestages und seiner Gremien abhängig gemacht wird. Damit erfährt das deutsche Parlament eine bis dahin nie dagewesene Stärkung seiner Bedeutung bei finanzpolitischen Entscheidungen europäischen und weltweiten Ausmaßes. Thomas Dörflinger (CDU): Die Erweiterung der EFSF wird nicht die gewünschten Effekte bringen. Nach meiner Überzeugung würde selbst der auf 780 Milliarden Euro erhöhte Garantierahmen nicht ausreichen, falls sich die Krise ausbreitet und Italien oder Spanien erreicht – zumal die EFSF künftig auch Anleihen angeschlagener Euro-Länder kaufen soll. Unklarheiten bestehen weiterhin dadurch, dass die zusätzlich vorgesehenen Kompetenzen des Rettungsschirms noch nicht abschließend geregelt sind. Fraglich ist auch, wie sich die Beschlüsse des Europäischen Rates vom 21. Juli 2011 auf die praktische Arbeit des Fonds auswirken, da die Ausführungsbestimmungen zum EFSF-Rahmenvertrag noch nicht vollständig vorliegen. Warum sollte Deutschland weitere Garantien geben und Gefahr laufen, selbst Kreditwürdigkeit einzubüßen? Eine Schuldentragfähigkeit Griechenlands ist bereits heute nicht mehr gegeben. Mit neuem Geld, neuen Schulden wäre Griechenland nicht geholfen, das schon in der Vergangenheit die Anforderungen der sogenannten Troika nicht erfüllen konnte. Konditionalität: Das führt mich zu einem zentralen Punkt: Mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurden Teile der nationalen Budgetkontrolle an die EU abgetreten. Bisher sehe ich aber nicht, dass die neuen Regeln greifen. Wahrscheinlicher ist, dass gerade hoch verschuldete Länder wie Griechenland immer wieder Wege finden werden, um Verschuldungsregeln zu umgehen. Wir geben zwar Geld, unsere Einflussmöglichkeiten und Durchgriffsrechte auf die zu rettenden Länder sind aber zu gering. Daher halte ich den eingeschlagenen Weg für falsch. Das Signal an die Märkte muss heißen: keine unbegrenzten Hilfen, keine Spekulation gegen ohnehin schon angeschlagene Länder, kein „Weiter-so“ um jeden Preis. Die Politik ist zum Spielball der Finanzmärkte geworden, eine Entwicklung, die dringend der Umkehrung bedarf. Leverage-Effekt: Die aktuelle Diskussion um eine nachträgliche Ausweitung des Rettungsfonds macht außerdem deutlich, wohin die Reise gehen könnte. So existieren Planspiele, die EFSF mit einem „Hebel“ zu versehen, um ihr Ausleihvolumen erheblich zu vergrößern. Ich halte es für durchaus denkbar, dass der Fonds in die Lage versetzt werden soll, selbst Anleihen der Krisenstaaten zu kaufen; diese werden dann bei der EZB als Sicherheit hinterlegt und der Fonds bekäme dafür von der Zentralbank neues Geld für weitere Ankäufe. Das sind Stimmen, die bereits selbst aus der Kommission zu hören sind und einer praktisch unbegrenzten Kreditlinie für den Fonds das Wort reden. Unabhängig davon, wie wahrscheinlich die Aufhebelung des Rettungsschirms ist: Die Märkte eilen der Politik wieder einmal voraus. Der Bundestag stimmt heute über die Aufstockung des Rettungsschirms ab, während die Märkte längst über den nächsten Schritt spekulieren und damit neue Gefahren aufzeigen. EZB-Risiken: Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB birgt erhebliche Risiken. Am Beispiel Italien zeigt sich, dass dadurch die Zinsen für Schuldverschreibungen sinken, wodurch der Anreiz für weitere Sparanstrengungen sinkt. Ein weiteres Problem sind die sogenannten Offenmarktgeschäfte. Bereits heute sind Banken in einigen Ländern allein auf die EZB angewiesen, können sich nicht mehr im Interbankenmarkt finanzieren. Das Resultat ist die Akzeptanz minderwertiger Sicherheiten durch die EZB und für mich die Frage, wie beherrschbar die Risiken sind, die die EZB im Rahmen ihrer geldpolitischen Maßnahmen eingegangen ist. Bonität Deutschlands: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Preise für die Kreditausfallversicherungen deutscher Staatsanleihen deutlich gestiegen sind. Darin sehe ich zumindest ein Anzeichen, dass sich Deutschland mit weiteren Garantieübernahmen überfordern könnte, der Garantieansatz insgesamt an seine Grenzen stößt. Das Vertrauen in die deutsche Zahlungsfähigkeit ist jedoch in der gegenwärtigen Situation von zentraler Bedeutung, weil Deutschland einen Großteil der Unterstützungsleistungen für die Euro-Krisenländer aufbringt. Darauf hat auch jüngst Bundesbankpräsident Weidmann hingewiesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland für die Kreditzusagen auch tatsächlich in Haftung genommen wird, ist zumindest gegeben. Wir dürfen unsere Wirtschaftskraft auch nicht überschätzen. Finalität: Die Erweiterung des deutschen Bürgschaftsrahmens für die EFSF steht in einer Reihe von zahlreichen Hilfsmaßnahmen für verschuldete Staaten, dessen Ende nicht absehbar ist. Bislang sind diese Maßnahmen ohne nachhaltige Wirkung geblieben, die angekündigten Ziele wurden nicht erreicht, insbesondere wurde das Vertrauen der Kapitalmärkte in Griechenland nicht gestärkt. Ich gehe weiterhin davon aus, dass an einer Umschuldung Griechenlands kein Weg vorbeiführt. Dem Argument, mit einer EFSF plus würden Ansteckungsgefahren vermieden, halte ich entgegen, dass neben Griechenland weitere Staaten in Bedrängnis gekommen sind – trotz des Rettungsschirms. Lediglich der formale Zahlungsausfall Griechenlands konnte bislang verhindert werden, das allerdings um den Preis einer europäischen Haftungsgemeinschaft, exorbitanter Garantieleistungen und eines Glaubwürdigkeitsverlustes der EZB. Dagegen wäre der – für mich ohnehin nicht zu vermeidende – Haircut Griechenlands eine Alternative, die auf dieses Land beschränkt bliebe. Irland und Portugal haben nicht die strukturellen Probleme wie Griechenland und können mit dem bisherigen Rettungsschirm stabilisiert werden. Richtig ist, dass Ansteckungseffekte unvermeidlich sind. Jedoch können die tatsächlichen Kosten für beide Szenarien nicht berechnet werden, bei einer Insolvenz Griechenlands gäbe es – das ist der große Vorteil – aber immerhin einen Schlusspunkt. Politisches Signal an die Märkte: Letztlich ist ebenso entscheidend, welches politische Signal an die Märkte gesandt wird. Die Installation von EFSF und ESM ist dem Grunde nach lediglich reaktiv. Der Gesetzentwurf versucht, künftige Risiken zu minimieren oder beherrschbar zu machen. Notwendig wäre ein deutliches proaktives Signal, das einerseits den Willen der Politik kenntlich macht, sowohl durch eine nachhaltige Etatpolitik in den EU-Mitgliedstaaten die Ursachen der Krise anzugehen als auch weitergehende Maßnahmen zur Regulierung der Märkte umzusetzen, zu denen eine Zulassungsprüfung von Finanzprodukten ebenso gehören muss wie das Verbot von Produkten, die die dienende Funktion des Bank- und Finanzsektors für die Realwirtschaft konterkarieren. Das Verbot von Leerverkäufen war ein erster Schritt, dem weitere folgen müssten. Primat der Politik heißt folglich: Die Politik regelt den Markt und nicht umgekehrt! Werner Dreibus (DIE LINKE): Ich stimme aus folgenden Gründen gegen diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung: Erstens. Die Maßnahmen greifen nicht die Krisenursachen an. Von der Ausweitung des Euro-Rettungsfonds profitiert ausschließlich der Finanzmarkt. Banken und Spekulanten werden aus Steuergeldern bedient. Die Ursachen der Krise bleiben gleichzeitig unangetastet. Die Krisenländer werden nicht unterstützt, sondern durch falsches Sparen weiter ausgeblutet. So wird die Krise nicht bewältigt, sondern nur weiter befeuert. Zweitens. Die Falschen müssen zahlen. Statt aus Steuergeldern die Banken zu bedienen, sollten die Krisenfolgen primär von denen getragen werden, die zuvor von dem System profitierten. Ohne eine Börsenumsatzsteuer, eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche und eine Beteiligung großer privater Gläubiger sind die Belastungen und Risiken für diese Erweiterung des Euro-Rettungsschirms zutiefst ungerecht verteilt. Drittens. Die möglicherweise enormen Aufwendungen sind demokratisch nicht ausreichend legitimiert. Nach dem vorliegenden Entwurf kann die Bundesregierung unter bestimmten Umständen die Parlamentsbeteiligung praktisch völlig umgehen. Die Unterrichtungspflichten sind nicht ausreichend. Vielmehr müssen die Finanzmärkte streng reguliert werden, die Banken müssen unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Nur durch diese Maßnahmen ist sichergestellt, dass die Steuergelder im Sinne der Steuerzahler verwendet werden. Viertens. Der Schutz der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist nicht ausreichend. Rentnerinnen und Rentner, Transferleistungsbeziehende und Menschen mit kleinen oder mittleren Einkommen sind auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen. Durch die möglichen immensen Ausgaben im Haftungsfall drohen europaweit ein weiterer drastischer Sozialabbau und Steuererhöhungen für niedrige und mittlere Einkommen. Heute schon verheerend sind die Auswirkungen für die Menschen in den sogenannten Krisenländern: Massenentlassungen, Sozialabbau, Einkommensverluste und Steuererhöhungen greifen in Griechenland bereits um sich und verstärken die Krisenfolgen noch. Alexander Funk (CDU/CSU): Das Gesetz zur Erweiterung der EFSF setzt den aus meiner Sicht falschen Weg der Schuldenkrisenbewältigung durch Bürgschaftsübernahmen fort. Der weiteren Erhöhung der Risiken für unseren Haushalt, die sich durch die Anhebung des Garantierahmens auf 779,8 Milliarden Euro ergeben, sowie der Abschwächung der strikten Konditionalität bei der Gewährung von Kredittransfers kann ich nicht zustimmen und lehne das vorliegende Gesetz ab. In dreifacher Weise ist die Intention der Einrichtung eines temporären Rettungsmechanismus vom 7. Mai 2010 – vor der ich bereits damals gewarnt habe – als gescheitert anzusehen: Mit der Einrichtung der Zweckgesellschaft EFSF nur einige Tage nach der Bewilligung des ersten Griechenlandpaketes in Höhe von 110 Milliarden Euro verband sich die Hoffnung, dass durch eine Gesamtgarantie von 440 Milliarden Euro seitens der Euro-Länder ein Instrumentarium geschaffen worden sei, dass alleine durch seine Existenz die weitere Spekulation auf Zahlungsausfälle überschuldeter Euro-Staaten eindämmen könnte und die notwendige Zeit zu strukturellen Anpassungen und haushälterischen Sparbemühungen schenken würde. Von einer Beruhigung der Finanzmärkte kann indes keine Rede sein, im Gegenteil: Ein Jahr später stehen nicht nur Portugal und Irland vor langjährigen und tief greifenden Anpassungsprozessen, deren Ausgang und Erfolg angesichts der weltweiten Wirtschaftssituation sowie der makroökonomischen und strukturellen Grundlagen der Länder selbst höchst fragwürdig ist. Die Ausweitung des Garantierahmens ist nun auch bereits vor der Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation der Banken in Frankreich, der berechtigten Herabstufung der Bonität Italiens sowie den Zweifeln an einer mittelfristigen Verbesserung der Wirtschaftslage in Spanien zu sehen. Auch rächt es sich, dass seit über einem Jahr die unvermeidbare Insolvenz Griechenlands gegen alle Ratschläge ignoriert und durch Milliardenbürgschaften verschleppt wurde. Das neue Rettungspaket für Griechen-land in Höhe von 109 Milliarden Euro reduziert bereits das effektive Ausleihvolumen der EFSF auf circa 280 Milliarden Euro. Es ist schon jetzt absehbar, dass jede weitere und naheliegende Zuspitzung der Schuldenkrise – etwa ihre Ausweitung auf Italien, Spanien oder gar Frankreich – weder durch die EFSF-Konstruktion noch überhaupt durch eine Erhöhung des Garantierahmens durch Länder mit AAA-Bonität zu beherrschen ist. Überdies hegte man die Hoffnung, durch Kredittransfers in sogenannten Ultima-Ratio-Fällen einerseits Zeit zur Konsolidierung gewinnen zu können, andererseits aber die notwendige Disziplinierung der Schuldenstaaten durch Zinsaufschläge am freien Kapitalmarkt nicht völlig zu suspendieren. Dies ist offenkundig gescheitert, wie die neuen Instrumentarien der EFSF eindrucksvoll belegen: Jede Kompetenzerweiterung der EFSF in der vorgelegten Fassung ist dazu angetan, die disziplinierende Wirkung durch die Kapitalmärkte selbst weiter zu schwächen bzw. restlos auszuhebeln: Niedrigere Zinssätze und längere Laufzeiten für GRE, POR und IRL entlasten weiter von unvermeidlichen Restrukturierungen der Volkswirtschaften bzw. verzögern die griechische Schuldenagonie weiter. Anleihenkäufe durch die EFSF auf dem Primär- und Sekundärmarkt entkoppeln die Kreditaufnahme der Schuldenländer nahezu beliebig von den Bewertungen der Kapitalmärkte selbst und laden dazu ein, die Schuldenspirale weiter zu überdehnen. Die Möglichkeit des Aufkaufs ohne vorherige Integration des entsprechenden Landes in ein Hilfsprogramm führt die angestrebte Konditionalität der Hilfsmaßnahmen ebenso ad absurdum wie die Möglichkeit des präventiven Gebrauchs der Mittel. Mit diesen Instrumentarien wird nun auch offensichtlich versucht, den Sündenfall der Degradierung der EZB zu einer Bad Bank vergessen zu machen: Die eigentlich der Geldwertstabilität verpflichtete EZB ist inzwischen mit 143 Milliarden Euro direkt in Staatsanleihen der Euro-Peripherie investiert, wobei pro Woche zwischen 10 und 15 Milliarden Euro in Stabilisierungskäufe für ITA- und ESP-Bonds hinzukommen. Selbst wenn diese ökonomisch falsche Maßnahme nun seitens der ESFS fortgeführt wird, ist eine Erschöpfung des Ausleihvolumens innerhalb des nächsten halben Jahres absehbar. Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der eingeschlagene Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder zu einer Erweiterung des Garantierahmens führen muss oder zu einer fortgesetzten Umwidmung der EZB zum Finanzierungsinstrument für die Euro-Peripherie. Die Pervertierung ihrer eigentlichen Aufgabe und die Leichtigkeit, mit der offensichtlich die stabilitätsorientierten Vertreter im EZB-Rat überstimmt werden, ohne die nötige politische Rückendeckung zu erhalten, hat zu einem irreparablen Verlust des Vertrauens in die Unabhängigkeit der Notenbank geführt, vor dessen Folgen ich gewarnt habe und weiter warnen werde. Ich lehne es entschieden ab, die Refinanzierungsprobleme einzelner Staaten durch eine Aufhebung der Geldwertstabilität lösen zu wollen. Den Vertretern unseres Landes im EZB-Rat, die sich bis zuletzt gegen die Bad-Bank-Politik gewehrt haben und verständlicherweise ihre persönlichen Konsequenzen gezogen haben, gilt mein Respekt und mein Dank für ihre Bereitschaft, zu ihren richtigen Überzeugungen zu stehen. Auch mit der EFSF-Neufassung wird es nicht gelingen, verlorenes Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit aller Euro-Staaten zurückzugewinnen. Zu Recht gehen Investoren nicht davon aus, dass durch eine Mischung aus rezessiven Mitteln – massive Ausgabenkürzungen und Einnahmeerhöhungen – und Kredittransfers auch nur annähernd die zur Schuldenreduktion benötigte wirtschaftliche Dynamik generierbar sein könnte. Diese Bewertung teile ich uneingeschränkt. Dieser Weg erweist sich immer deutlicher als hoch riskant und zur Krisenbewältigung ungeeignet. Die von uns immer wieder angeregten Alternativen, (Teil-)Rekapitalisierungen von Finanzinstituten, Schuldenschnitte, direkte Verhandlungen zwischen Gläubigern und Schuldner, werden indes weiter ignoriert. Aus diesen Gründen kann ich mich dem Mehrheitsvotum der Fraktion nicht anschließen. Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Ich will deutlich machen, dass ich hinsichtlich der Entscheidungsfindung in dieser Frage sehr mit mir gerungen habe. Warum? Aus meiner Sicht mangelt es derzeit an Klarheit darüber, in welche Richtung Europa, insbesondere die Euro-Zone, sich weiterentwickeln soll und wird. Wie wird das Europa von morgen aussehen? Meine Überzeugung, insbesondere mit Blick auf die Euro-Zone, lautet: Wir brauchen einen neuen institutionellen Rahmen. Wir müssen die Regelungen zur Währungsunion verändern und in Ordnung bringen. Beispielsweise brauchen wir klare Stabilitätsregeln, echte und automatische Sanktionen und spürbare Konsequenzen bei Verstößen gegen die Stabilitätskriterien sowie Schuldenbremsen in den Verfassungen der Mitgliedsländer. Es muss klar sein: Wer zu hohe Schulden macht, kommt um Anpassungen nicht herum. Hingegen entspricht es nicht meiner Vorstellung, dass wir für die Staatsschulden anderer Länder dauerhaft einstehen. Deshalb lehne ich entschieden sogenannte Euro-Bonds, das heißt die Vergemeinschaftung der Schulden im Euro-Raum als Regelfall, ab. Wir würden permanent für die Schulden, die andere machen, haften, ohne dass wir die Politik, die zu diesen Schulden führt, maßgeblich beeinflussen können – dies kann auf Dauer nicht gut gehen. Die Menschen werden dies, so meine Einschätzung, nicht akzeptieren. Die Zustimmung der Bevölkerung zum europäischen Integrationsprojekt würde weiter schwinden, und Europa könnte am Ende großen Schaden nehmen. Bei der Abstimmung heute geht es um den temporären Euro-Rettungsschirm, der ertüchtigt werden soll. Es ist unabdingbar, dass die Mitgliedsländer die Zeit, die sie dadurch gewinnen, nutzen, um ihre Haushalte nachhaltig zu konsolidieren. Die Zeit muss zudem genutzt werden, um in dem oben beschriebenen Sinne die Regelungen zur Währungsunion zu verbessern. Es ist zu begrüßen, und es ist notwendig, dass der Deutsche Bundestag künftig bei Entscheidungen über die Vergabe von Hilfen im Rahmen des Rettungsschirms umfassend beteiligt wird. Hilfsmaßnahmen kann es jeweils nur mit Zustimmung des Bundestages geben, sodass es das Parlament künftig selbst immer wieder in der Hand haben wird, zu entscheiden, ob sich Hilfen im konkreten Fall rechtfertigen lassen oder nicht. Würden wir den Rettungsschirm nicht ertüchtigen, so die Warnungen, besteht die Gefahr, dass es zu unkontrollierten Kettenreaktionen kommen könnte, mitunter mit der Folge erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen. Dies in Kauf zu nehmen, scheint nur schwer verantwortbar. Der ertüchtigte Rettungsschirm soll künftig vorübergehend gerade besser als bisher ermöglichen, im Falle kritischer Situationen einzelner Länder Ansteckungsgefahren für die restliche Euro-Zone entgegenzutreten. Nimmt man all dies zusammen, komme ich in der Abwägung zu dem Ergebnis, dem Gesetzentwurf, trotz Bedenken, zuzustimmen. Gleichwohl erwarte ich, und ich halte es für notwendig, dass die durch die temporären Hilfsmöglichkeiten gewonnene Zeit genutzt wird, um den Weg hin zu einer nachhaltigen Finanzpolitik in der Euro-Zone zu beschreiten und die währungspolitischen Regelungen zur Euro-Zone nachhaltig zu verbessern. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Erstens. Ich wünsche nicht, dass Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner, Geringverdienende in Griechenland, möglicherweise später auch in Spanien, Portugal, Italien oder in anderen europäischen Ländern für falsches Regierungshandeln und Spekulationen zur Kasse gebeten werden. Mir ist klar, dass die Millionäre in Griechenland, die keine Steuern zahlen, eng verbunden sind mit den Millionären und Bankspekulanten in Deutschland. Ich meinerseits bin eng verbunden den Menschen in Griechenland, die sich gegen diese Politik wehren. Zweitens. Ich befürchte, dass mit einer solchen Politik die Europäische Union und damit Europa immer mehr in einen schlechten Ruf gerät. Mir ist es unerträglich, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Eu-ropa an Terrain gewinnen. Ich sage Nein zum Gesetz der Bundesregierung, weil ich Ja sage zu Europa, Ja zu einem anderen Europa der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs. Ja zu einer anderen Europäischen Union. Drittens. Ich sage Nein zum Gesetz der Bundesregierung, weil die deutsche Politik durch ihren Druck auf das Lohnniveau, durch die Aufweichung sozialer Stabilität, wie es die Hartz-Gesetze deutlich gemacht haben, durch eine fast ausschließlich auf den Export orientierte Wirtschaftspolitik den Boden für die heutigen Probleme wesentlich mit geschaffen hat. Heute beweist sich, dass die Haltung der PDS richtig war, die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung an eine Harmonisierung der europäischen Sozial- und Steuerpolitik zu binden. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Heute stimme ich gegen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms. Gerettet werden die Banken, nicht die Menschen. Die Banken können weiter zocken, den Menschen in Griechenland, Portugal und Irland werden Sozialleistungen und Löhne gekürzt. Die Europäische Kommission erzwingt über den Rettungsschirm auch die Privatisierung öffentlichen Eigentums in diesen Ländern. Gegen das Kürzungsdiktat bin ich nicht nur aus Solidarität mit den Menschen in den betroffenen Ländern, die oft ohnehin nur sehr niedrige Löhne und Sozialleistungen bekommen. Die Kürzungspolitik verschärft auch die Krise insgesamt. Außerdem löst sie einen neuen Dumping-Wettbewerb in Europa aus. Der Sozialabbau in den betroffenen Ländern droht wie ein Bumerang zu uns zurückkehren und auch bei uns Renten, Löhne usw. unter Kürzungsdruck setzen. Die öffentlichen Schulden sind Ergebnis einer Steuersenkungspolitik für die Reichen und der Rettungspakete für die Banken. Öffentlichen Schulden stehen gewaltige private Vermögen gegenüber, die sich in den Händen weniger konzentrieren. Die Schuldenkrise kann letztlich nur durch die Umverteilung von Reichtum gelöst werden. Die aktuelle Krise der Staatsfinanzen kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist eine neue Phase der tiefen Weltwirtschaftskrise, die 2008 offen ausgebrochen ist. Sie ist Folge eines Wirtschaftssystems, das darauf basiert, dass das eingesetzte Kapital sich beständig vermehrt. Ser wachsende Kapitalstock stellt immer größere Profitansprüche an die Gesellschaft. Die Profitansprüche müssen aus der gesellschaftlichen Wertschöpfung bezahlt werden. Deshalb entsteht ein Konflikt zwischen den Profitansprüchen einerseits und den Löhnen und der Finanzierung öffentlicher Leistungen andererseits. Notwendig ist eine Demokratisierung der Wirtschaft, damit nicht mehr die Profitmaximierung, sondern das Allgemeinwohl Maßstab wirtschaftlicher Entscheidungen ist. Josef Göppel (CDU/CSU): Das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsmechanismus beinhaltet den dritten Rettungsschirm seit 2008: Deutschland erhöht seine Garantieverpflichtung von 123 auf 211 Milliarden Euro, ohne dass damit eine Regulierung spekulativer Finanzgeschäfte verbunden ist. Das Marktversagen auf dem Finanzsektor ist neben der erhöhten Staatsverschuldung aber eine wesentliche Ursache der gegenwärtigen Krise. Der deregulierte Finanzmarkt ist der politischen Gestaltung entglitten. Täglich wird an den Börsen der Welt das 80-Fache des Produktionswerts aller Güter und Dienstleistungen gehandelt. Solche Summen können mit Steuererträgen aus der Realwirtschaft nicht mehr aufgefangen werden. Neue Anleihen für zusätzliche Rettungsschirme treiben vielmehr die Schuldenspirale weiter an und bieten Ansatzpunkte für neue spekulative Angriffe. Deshalb sind weitere Rettungsschirme ohne rechtliche Regulierung des Finanzsektors nutzlos und nicht verantwortbar. Wir brauchen eine Finanzmarktordnung, die spekulative Überhitzungen eingrenzt, hochriskante Geschäfte verbietet und Finanzakteure zur persönlichen Haftung heranzieht. Der Finanzsektor muss seine Rettungsschirme in Zukunft selbst finanzieren. Die Bankenabgabe in Deutschland ist dafür ein Anfang. Der wirksamste Schritt zur Stabilisierung des Finanzsektors ist international die Finanztransaktionsteuer. Sie muss für die Euro-Zone vor weiteren Bürgschaften beschlossen werden, damit Rettungsaktionen nicht immer wieder verpuffen. Ich bin entschieden für unsere Gemeinschaftswährung und deren Stützung. Das muss aber im Rahmen einer gerechten und nachhaltigen Finanzordnung geschehen, die den Grundwerten der Sozialen Marktwirtschaft entspricht. Das Konzept des europäischen Stabilisierungsfonds bindet in großem Umfang allgemeine Steuermittel, die für andere öffentliche Aufgaben fehlen, und konzentriert den Ertrag bei anonymen Finanzakteuren. Dieser ordnungspolitischen Fehlsteuerung kann ich nicht zustimmen. Die Politik muss ihre demokratische Gestaltungshoheit zurückholen, weil Machtlosigkeit gegenüber dem Markt und die Duldung einer faktischen Nebenregierung letztlich das Vertrauen in die repräsentative Demokratie zerstört. Aus diesen Gründen lehne ich den Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsmechanismus ab. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 60 Jahren ist die Einbindung in die westliche Welt und nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in ein starkes Europa entscheidend gewesen. Wir haben wirtschaftliche Prosperität, Wohlstand und auch die deutsche Einheit erreicht, weil wir uns als verlässlicher Partner erwiesen haben. Diesen Weg sollte Deutschland auch in der jetzigen Krisensituation fortsetzen. Zur Einführung des Euro wurden im Maastricht-Vertrag Konvergenzkriterien vereinbart wie die Begrenzung der jährlichen Nettoneuverschuldung auf 3 Prozent und ein Gesamtschuldenstand von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Kriterien sind nicht von allen Staaten eingehalten worden, auch von Deutschland nicht. In der Folge haben sich verschiedene Länder in einer Höhe verschuldet, die jetzt die Stabilität unserer Währung gefährdet. Die jetzige Situation zeigt die Notwendigkeit, die Einhaltung der Konvergenzkriterien der Länder der Euro-Zone stärker zu überwachen als bisher und gegebenenfalls Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, die Einhaltung der Kriterien auch durchzusetzen. Gestern hat das Europaparlament bei Enthaltung von Grünen und Linken eine Verschärfung des Stabilitätspaktes beschlossen. Deutschlands Volkswirtschaft ist sehr eng mit seinen Nachbarn verzahnt. Eine durch die Insolvenz Griechenlands ausgelöste Bankenkrise würde den deutschen Export und die durch ihn getragenen Arbeitsplätze hart treffen. Daraus ergibt sich, dass Deutschland ein starkes Eigeninteresse daran hat, eine Insolvenz Griechenlands zu vermeiden. Außerdem ist es wichtig, die derzeitige Verschuldenskrise auf die tatsächlich notleidenden Staaten zu begrenzen. Dies ist nach meiner Einschätzung gelungen. Ich werde dem Rettungsschirm zustimmen. Instrumente wie Euro-Bonds, die Schuldnern neue Kredite zu niedrigen Zinsen verschaffen, lehne ich ab. Es dürfen verschuldeten Staaten keine Anreize für eine höhere Verschuldung gegeben werden. Gemeinsame Staatsanleihen sind nur im Rahmen einer gemeinschaftlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik denkbar, die es in der EU nicht gibt und auf weite Sicht nicht geben wird. Es muss gerade in den südeuropäischen Ländern das Verständnis dafür gestärkt werden, dass jedes Land die Mittel zu erwirtschaften hat, die es für die Finanzierung des eigenen Staatswesens braucht. Dafür sind dort grundlegende Reformen notwendig. Dabei sind wir in den letzten Monaten vorangekommen. Spanien wird zum Beispiel nach deutschem Vorbild eine Schuldenbremse in seiner Verfassung verankern. Auch Griechenland hat bereits Reformen auf den Weg gebracht. Ich werde dem Gesetz auch deswegen zustimmen, weil es in den letzten Monaten gelungen ist, einen starken Parlamentsvorbehalt einzuziehen. In den 90er-Jahren hat die FDP darauf hingewirkt, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes der Zustimmung des Bundestags bedürfen. Darüber wird in namentlicher Abstimmung entschieden. Ebenso hat jetzt die FDP-Fraktion darauf hingewirkt und durchgesetzt, dass die Regierung bei allen wesentlichen den Bundeshaushalt betreffenden Fragen der Euro-Stabilisierung das Parlament vorab beteiligt. Das ist kein formaler Akt. Der Parlamentsvorbehalt bindet die Regierung. Das Risiko für die deutsche Volkswirtschaft ist bei einer Verweigerung der Zustimmung nach meiner Einschätzung deutlich größer als bei einer Zustimmung. Die genannten Zahlen sind angsteinflößend, 211 Milliarden sind fast die Hälfte des Volumens des Bundeshaushalts. Doch für eine Exportnation wie Deutschland ist die Zahlungsfähigkeit der Kunden ein hohes Gut. Unsere Bereitschaft zur Solidarität verbunden mit den Forderungen nach Konsolidierung der Haushalte, Reformen der Verwaltung, Privatisierungen hat in den verschuldeten Ländern bereits Wirkung gezeigt. Mir ist das „gemeinsame Haus Europa“ sehr wichtig. Ich habe als Schülerin bereits im ersten Jahr am deutsch-französischen Austauschprogramm teilgenommen und dieses Programm begleitete mich während der Sommerferien in allen weiteren Jahren auf dem Gymnasium. Ich fühle mich meiner damaligen französischen Freundin noch immer verbunden. Mein Vater war Soldat in beiden Weltkriegen. Von ihm habe ich gelernt, dass die deutsch-französische Freundschaft ein sehr hohes Gut ist, die Überwindung der sogenannten Erbfeindschaft eine große politische Leistung und ein Gewinn für die Menschen. Bei der Entscheidung zum vorliegenden Gesetzentwurf sind die eventuellen Auswirkungen auf den Bundeshaushalt wichtig. Es sind aber mindestens genauso wichtig die volkswirtschaftlichen und außenpolitischen Folgen zu bedenken. In diesem Bewusstsein werde ich für den Gesetzentwurf stimmen. Heinz-Peter Haustein (FDP): Meine Kritik an der Politik der Bundesregierung in der Euro-Krise ist elementar. Meine Bedenken sind grundlegender Art und durch kein einziges der Argumente der Befürworter der diversen Hilfsprogramme und Rettungsschirme für schwächelnde Euro-Staaten ausgeräumt. Einzig die Gefahr, dass bei Fehlen einer eigenen Mehrheit der Bundesregierung bei dem Gesetzesvorhaben die christlich-liberale Koalition zerbrechen und nach Neuwahlen eine neue – potenziell rot-grüne – Bundesregierung gebildet werden könnte, die Euro-Bonds den Weg ebnet, lässt mich dem Gesetz zustimmen. Denn Euro-Bonds wären ein noch größeres Übel als der erweiterte EFSF. Im Einzelnen: Aus gutem Grund wurde in der Europäischen Union vertraglich die sogenannte No-Bail-out-Klausel festgehalten, also das Verbot, dass weder die EU als Ganzes noch einzelne Staaten für die Schulden anderer Staaten aufkommen dürfen. Hiermit und mit den Stabilitätskriterien sollte gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten sorgfältig haushalten und die Staatsverschuldung nicht zu einer Staatsüberschuldung wird, mithin solide Finanzpolitik den Grundstein legt für ein wirtschaftlich starkes und prosperierendes Europa. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihr Wirtschaftswunder und den daraus resultierenden und bis heute tragenden Wohlstand nach der auch wirtschaftlichen „Stunde null“ nach 1945 vor allem den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zu verdanken. Das wohl wichtigste dieser Prinzipien ist der Zusammenhang zwischen Rendite und Verlustrisiko. Wer das Risiko trägt, fährt zu Recht den Gewinn ein. Und wer den Gewinn erhält, erhält ihn für ein getragenes Risiko. Diese Gesetzmäßigkeiten haben sich über Jahrzehnte in Deutschland, aber auch anderswo in der Welt mehr als bewährt. Hingegen sind alle staatlichen Versuche, davon abzuweichen und marktwirtschaftliche Prinzipien außer Kraft zu setzen, grandios gescheitert. Gerade für mich als ehemaligen DDR-Bürger ist die Soziale Marktwirtschaft daher nicht verhandelbar. Diese beiden elementaren Grundsätze, die No-Bail-out-Klausel und der Zusammenhang zwischen Rendite und Verlustrisiko, werden mit den Milliardenhilfen für Griechenland, Rettungsschirmen und Stabilitätsmechanismen ausgehebelt. Selbstverständlich gibt es eine Solidarität innerhalb der EU. Das erkenne ich nicht nur an, sondern unterstütze es ausdrücklich. Und selbstverständlich gibt es eine Notwendigkeit zu staatlicher Intervention bei systemrelevanten Gefährdungen, also solchen Schwierigkeiten Einzelner, die das ganze System gefährden. Auch dies ist selbstverständlich. Doch beides, Solidarität und Systemgefährdung, darf nicht dazu führen, dass Grundprinzipien unserer Wirtschaft und geltender Verträge außer Kraft gesetzt werden. Das ist mit den bereits beschlossenen Maßnahmen der Fall und es ist auch bei der Erweiterung des Rettungsschirmes nun wieder der Fall. Immer springen die wirtschaftlich starken Staaten für die wirtschaftlich schwachen Staaten ein. Das bedeutet, dass, wer solide gewirtschaftet, in Krisenzeiten den Konsum gedrosselt und sparsam gehaushaltet hat, bestraft wird und derjenige, der jahre- und teilweise jahrzehntelang über die eigenen Verhältnisse gelebt hat, nun insofern belohnt wird, als dass andere für die entstandenen Schulden wenigstens indirekt oder teilweise aufkommen. Dadurch geht der Leistungsanreiz verloren. Wo aber der Leistungsgedanke untergraben wird, soll Wohlstand auf Kosten der Allgemeinheit möglich sein. Das hat weder in der DDR noch in irgendeinem anderen Land der Welt jemals funktioniert. Wer also von marktwirtschaftlichen Grundprinzipen abweicht, muss diese Abweichung sehr gut begründen. Abweichungen können nur in absoluten Notfällen erfolgen. Insofern ist auch nicht derjenige unter Legitimationszwang, der – wie ich – die Hilfsmaßnahmen ablehnt. Generell müsste die Beweislast bei den Befürwortern der Außerkraftsetzung der Marktwirtschaft liegen. Sie müssen alle Gegenargumente entkräften und erklären, warum hier ausnahmsweise anders verfahren werden soll. Das können sie nicht. Denn niemand kann erklären, welche Risiken noch zu erwarten sind. Alljährlich wird über den deutschen Länderfinanzausgleich diskutiert. Insbesondere den sogenannten Geberländern Bayern und Baden-Württemberg ist nicht zu vermitteln, warum sie dauerhaft die finanzschwachen Länder unterstützen sollen, wenn diese sich Ausgaben leisten, die im Süden Deutschlands längst eingespart worden sind. Auch dabei wird der Leistungsanreiz unterminiert und die Soziale Marktwirtschaft ausgehebelt. Die Aufrechterhaltung dieser Regelung ist nur damit zu erklären, dass es mehr Nehmerländer gibt als Geberländer. Ein hinreichender Grund für den Quasiexport des deutschen Länderfinanzausgleichs nach Europa ist es nicht. In der Sicherheitspolitik gilt aus gutem Grund die Prämisse, dass der Staat nicht erpressbar ist. Mit Terroristen, gleich wen sie als Geisel genommen haben oder welches Drohpotenzial sie haben, wird nicht verhandelt. Denn jedes Entgegenkommen des Staates würde in einer Art Lerneffekt Nachahmer auf den Plan rufen. Wenn ein „Geschäftsmodell“ Erfolg verspricht, mangelt es nicht an Nachahmern. So funktionieren auch die Wirtschaft und die Finanzwelt. Wo ein Geschäftsmodell Erfolg hatte, sind Nachahmer sofort zur Stelle. Mit den Hilfsmaßnahmen ist diese Prämisse, dass der Staat nicht erpressbar ist, aufgehoben worden. Die Euro-Staaten sind erpressbar geworden. Weil alles für systemrelevant erklärt wird, soll immer und überall geholfen werden müssen. Und weil kein Fachmann die noch auf uns zukommenden Risiken benennen kann, droht eine Endlosschleife. Die Wirtschaft ist imstande, schnell zu reagieren. Wenn sich die Situation ändert, sterben Geschäftsmodelle in Sekunden, neue werden geboren. Wo sich zeigt, dass Rendite entsteht, während andere die Risiken tragen – der utopische Traum jedes Geschäftsmannes –, wird mehr und mehr investiert, nicht weniger, solange das Geschäftsmodell trägt. Dieser Mechanismus wirkt bereits: Während andere unglaubliche Zinsen einnehmen, tragen die wirtschaftlich gesunden Euro-Staaten die finanziellen Lasten und halten Griechenland künstlich am Leben. Dieses Wirkprinzip muss zwangsläufig früher oder später zum Systemzusammenbruch führen, und zwar unabhängig davon, wie viele Milliarden vorher gerade mit dem Argument der Systemerhaltung geflossen sind, weil auch die Finanzkraft der wirtschaftlich starken Länder nicht so groß sein kann wie der Renditehunger der Investoren. Es kann kein Weg daran vorbeiführen, dass die ins Straucheln geratenen Länder mit aller Kraft ihre Hausaufgaben machen, ihre Haushalte konsolidieren und notwendige Strukturreformen einleiten. Das und nur das wird die Märkte nachhaltig beruhigen und verloren gegangenes Vertrauen in die betroffenen Länder wieder herstellen. Jede Stützmaßnahme nimmt Reformdruck von den betroffenen Ländern. Das ist kontraproduktiv, weil damit der zwangsläufige Zusammenbruch hinausgezögert und der letztlich verursachte Schaden größer und größer wird, gleich Buchverlusten, die man eine Zeit lang ignorieren, aber früher oder später realisieren muss. Der Volksmund weiß: Wer den Kopf in den Sand steckt, wird früher oder später mit den Zähnen knirschen. Auch die Kanzlerin erklärt mittlerweile, dass wir uns nur immer wieder Zeit erkaufen. Sind Staaten nicht zu den notwendigen Strukturreformen in der Lage, befürworte ich eine geordnete Insolvenz dieser Länder. Eine über Nothilfe hinausgehende Transferunion kann es nicht geben. Und dass Reformen schmerzhaft, aber möglich sind, zeigen Länder wie Irland und Portugal, die große Fortschritte machen und insgesamt auf einem guten Weg sind, wenngleich noch eine große Strecke vor ihnen liegt. Das alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass getreu dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ der Zeitpunkt überfällig ist, an dem wir die Konsequenzen tragen für das völlig entfesselte Schuldenmachen mancher Länder einerseits und für den Irrsinn, dass man mit Schrottanleihen Geld verdienen kann. Und zwar wir alle in den Eurostaaten. Das Kasino muss schließen. Im Übrigen bin ich gewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages und fühle mich daher zu allererst Deutschland verpflichtet und dann Europa. Nur ein Szenario ist noch schrecklicher als die Vorstellung, dass die bisherige Praxis der Finanzhilfen und Rettungsschirme beibehalten wird: Die Idee, der Marktwirtschaft mit Euro-Bonds noch schneller den Garaus zu machen. Sozialdemokraten und Grüne sind sich in dem Ziel der Einführung von Euro-Bonds einig. Sie wollen also die gute Kreditwürdigkeit Deutschlands und anderer wirtschaftlich und finanziell starker Länder aufgeben, um den wirtschaftlich strauchelnden Ländern mit besseren Kreditratings das Schuldenmachen noch zu erleichtern. Dass damit auf Deutschland auch deutlich höhere Zinsen in Milliardenhöhe zukommen würden, ist zwangsläufig. Das wäre eine weitere Unterhöhlung des Leistungsgedankens, der kein Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft zustimmen kann. Und eine rot-grüne Regierung ist ein reales Szenario, wenn man aktuellen Umfragen im Falle von Neuwahlen glauben mag. Nur diese Vorstellung lässt mich heute dem Gesetzentwurf zustimmen, obwohl meine tiefste Überzeugung wie auch die etlicher Experten ist, dass es grundlegend falsch ist und uns die Rechnung für diese Entscheidung in nicht allzu ferner Zukunft präsentiert wird. Leider ist es dann nicht mehr nur unsere Rechnung, sondern auch die unserer Kinder, Enkel und Urenkel. Ich trage am heutigen Tag in Loyalität zu unserem Land und der christlich-liberalen Bundesregierung diesen Gesetzentwurf mit, in einer der entscheidendsten Fragen der deutschen Politik seit Langem und gewiss auf absehbare Zeit. Ich trage damit die christlich-liberale Bundesregierung mit. Ich tue das in der Überzeugung, dass diese Regierung noch immer die viel bessere Alternative für unser Land und seine Menschen ist als eine rot-grüne „Euro-Bond-Regierung“. Aber ich tue es auch in der Überzeugung, dass es ein Fehler ist, der sich rächen wird. Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus zu. Die gemeinsame europäische Währung ist ein Meilenstein der europäischen Integration. Der Erfolg Deutschlands und seiner Wirtschaft hängt entscheidend vom Euro ab, eine Rückkehr in nationale Währungen ist aus heutiger Sicht nicht vorstellbar. Die Stabilisierung des Euro liegt damit im ureigenen Interesse Deutschlands und seiner Europäischen Partner. Ein umfassendes System der Stabilisierung, bestehend aus Reduktion der Staatsverschuldung, Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der EU-Mitgliedstaaten und Stabilisierung der Finanzmärkte, ist meines Erachtens unabdingbar. Die EFSF und ihr Nachfolger, der ESM, als Notfallhilfen dürfen dabei lediglich einen Teil der Gesamtstrategie bilden. Dass der Schutz des Euro-Rettungsschirms dabei nicht „kostenlos“ sein darf, wurde hinreichend erörtert und klargestellt und von meiner Seite als selbstverständlich vorausgesetzt. Dennoch bin ich der Meinung, dass bestehende sowie neu einzuführende finanz- und wirtschaftspolitische Überwachungsinstrumente verstärkt in den Fokus des Stabilisierungssystems gerückt werden müssen. Hierzu zählen insbesondere das kontinuierliche Monitoring der Defizit- und Verschuldensregeln, die Einführung schneller und umfassender Sanktionen bei Nichteinhaltung der Stabilitäts- und Wachstumsregeln, die Etablierung präventiver nationaler Überwachungsmechanismen und die Förderung nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen zur Belebung des Wettbewerbs. Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir darüber hinaus ein Regelwerk, das vorgibt, wie die europäische Währungsgemeinschaft mit Euro-Mitgliedstaaten umgeht, die ihren Zahlungsverpflichtungen dauerhaft nicht nachkommen können und damit zahlungsunfähig sind. Daher ist dringend an einem geordneten Verfahren zur Wiederherstellung der Schuldentragfähigkeit von betroffenen Mitgliedstaaten zu arbeiten. So wie wir Unternehmen und Verbrauchern ein System der geordneten Insolvenz an die Hand geben, müssen Institutionen, Instrumente und Regeln geschaffen werden, die zahlungsunfähigen Staaten die Chance auf eine echte Sanierung ermöglichen. Hierzu müssen Regelwerke geschaffen werden, die in verfassungs- und europarechtlicher Abstimmung in der demokratisch dafür vorgesehenen Institution, dem Deutschen Bundestag debattiert werden müssen. Die parlamentarische Beteiligung des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse bleibt ein wesentliches Element bei der Bekämpfung der Schuldenkrise und bei der Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Christian Hirte (CDU/CSU): Dem Gesetz, das eine Ausweitung des bisherigen Rettungsschirmes vorsieht, stimme ich zu. Dem eingeschlagenen Weg der vergangenen Monate, der mit dieser Ausweitung des Rettungsschirmes weiter beschritten wird, stehe ich mit großer und wachsender Skepsis gegenüber. Ich halte die abermalige Ertüchtigung der EFSF für falsch. Immer neue Kredite helfen Staaten wie Griechenland nicht weiter. Statt konkreter Hilfe, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, werden lediglich Gläubiger mit hohen Zinsen bedient. Warum dennoch die Zustimmung? Die deutliche Kritik der vergangenen Wochen und Monate und die Ablehnung einzelner Abgeordneter für Griechenland- und Portugal-Hilfen, denen ich mich angeschlossen hatte, hat zu spürbaren Verbesserungen der Bedingungen geführt. Vor allem die Beteiligungsrechte des Bundestages wurden erheblich gestärkt. Nicht zuletzt das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat deutlich gemacht, dass vor konkreten Hilfen für einzelne Länder das Parlament befragt werden muss. Kein Geld ohne Zustimmung des Bundestages. Diese Linie darf nach meiner festen Überzeugung nie überschritten werden. Der Widerstand auch in den Reihen der Koalition hat dies ermöglicht. Die aktuelle Diskussion über mögliche nochmalige Ausweitungen der Maßnahmen beunruhigt mich sehr. Die Zusicherung von Kanzlerin Angela Merkel, in einem solchen Fall nichts ohne die Zustimmung des Bundestages zu tun, ermöglicht für die Zukunft, immer im Einzelfall zu prüfen, was richtige Schritte sein können. Die klaren Zustimmungsrechte des Bundestages sind eine wichtige institutionelle Einschränkung des Rettungsschirmes. Dem vorliegenden Gesetz stimme ich auch und vor allem zu, um die Regierung nicht zu destabilisieren. Die parlamentarische Mehrheit bei der Abstimmung ist vorab eindeutig. Die Opposition stimmt weit überwiegend zu, stilisiert aber das Ergebnis der Stimmverteilung innerhalb der Reihen der Koalition zu einer rein politischen Frage, zu einer Machtfrage. Sie möchte die Skepsis gegenüber einer Sachfrage, bei der es um mehrere hundert Milliarden Euro geht, zu einer Personalfrage machen. Diesem Ansinnen der Opposition bin ich nicht bereit nachzugeben. In der von Angela Merkel geführten Koalition sehe ich einen Garanten, eine noch größere Haftung Deutschlands zu verhindern. Insofern ist mein Ja auch ein Nein. Ein Nein zu den Bestrebungen der Oppositionsparteien nach völliger Vergemeinschaftung aller Schulden und der Einführung von Euro-Bonds. Es ist ein Ja zu europäischer Solidarität, von der auch wir profitiert haben, aber ein Nein zur Schuldenunion. Jeder Staat muss zunächst seine Krisen selbst bewältigen, seine Schuldenprobleme selbst in den Griff bekommen. Die ausgeweitete EFSF ändert daran nichts, sondern erhält diesen Status. Es bleibt dadurch zum Beispiel bei jeweils eigenen Zinssätzen der Staaten. Dies halte ich für unverzichtbar, weil nur so der Druck in den jeweiligen Ländern zur Konsolidierung und Lösung der eigenen Probleme möglich wird. Im Hinblick auf künftige Entscheidungen und Abstimmungen, auch mit Blick auf den ESM, sind folgende Punkte Maßstab meiner Entscheidungen: Ich bin für die Erhaltung des Euro. Er ist nicht nur eine Errungenschaft eines geeinten Europa, sondern eine große Hilfe für unsere exportorientierte Wirtschaft. Stabilität der Währung ist ein Wert an sich. Sie ist wohlstandsfördernd für die Bürger in Deutschland und Europa. Eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Gefahr für diese Stabilität. Subsidiarität ist mehr als ein Füllwort für Sonntagsreden. Europa wird nur gelingen, wenn zunächst jeder in seinem Verantwortungsbereich seine Arbeiten erledigt. Dazu gehört auch, Schulden zu machen und diese zurückzuzahlen. Daher halte ich grundsätzlich eine generelle Schuldenhaftung für Staaten bzw. besonders für deren jeweilige Gläubiger für falsch. Eine über den nun festgelegten Rahmen hinausgehende Verschuldungskompetenz des EFSF ist abzulehnen. Dem scheinbaren Vorteil der Hebelwirkung stünde die Austrocknung der regulären Kapitalmärkte für die Euro-Staaten gegenüber. Die jetzt erneut „gekaufte“ Zeit muss dringend genutzt werden, klare Haftungsregelungen für die Gläubiger zu entwickeln. Der Markt, vor allem aber die Bürger, haben einen Anspruch darauf, zu wissen, woran sie sind und wann Grenzen erreicht sind. Europa droht nicht an mangelnder Solidarität zu scheitern, sondern an den nebulösen Unklarheiten, wohin die Kredithilfen führen. Ohne Haftungsausschluss droht ein permanentes Hangeln von Rettungsaktion zu Rettungsaktion. Damit würde sich dauerhaft jede Regierung und Politik als Ganzes unglaubwürdig machen. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Gemeinsam mit meiner Fraktion Die Linke lehne ich den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab. Anstatt die Konsequenzen aus der gescheiterten neoliberalen Politik zu ziehen, wird der Kurs fortgesetzt. Während Banken und Finanzinvestoren geschützt wurden, warfen die Regierungen der Euro-Zone, EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF den Krisenländern Rettungsringe aus Blei zu. In den Krisenländern bezahlen die Werktätigen mit Lohn- und Rentenkürzungen und dem größten Sozialabbau in der europäischen Nachkriegsgeschichte für die Spekulationen der Privatbanken. In Deutschland werden die Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Garantien genommen. Diese Politik beschleunigt die Umverteilung von unten nach oben und setzt so eine zentrale Krisenursache fort. Die Spardiktate verhindern eine ökonomische Belebung der Krisenländer, es sind keine effektiven Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen. Rechtspopulistische und faschistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in nationalistische und europafeindliche Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“ ist daher schlicht falsch. Ich habe heute gegen den erweiterten Rettungsschirm gestimmt, weil man die Krise nur lösen kann, wenn man das Kasino schließt, wenn man die Spekulanten an die Kette legt. Die Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärkten über eine Bank für öffentliche Anleihen finanzieren können. Die Finanzmärkte müssen endlich streng reguliert werden. Die Banken gehören unter öffentliche Kontrolle durch Verstaatlichung. Und die Verursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebeten werden: Durch eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche, durch eine Finanztransaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer privater Gläubiger. Katja Kipping (DIE LINKE): Ein geeintes Europa ist als Vision nur vorstellbar als ein solidarisches Europa. Das, was in den vergangenen Wochen als Euro-Rettungsschirm diskutiert wurde und nun vom Bundestag beschlossen werden soll, hat mit Solidarität nichts zu tun. Mitgliedsländern brutale Sparprogramme als Gegenleistung für Finanzhilfen abzuverlangen, verschärft deren Krise, anstatt sie zu lindern. Die Folge sind Entlassungen, Rentenkürzungen, Kürzungen im Sozialbereich und damit das Bedienen der Abwärtsspirale der Binnenkonjunktur. Reagierte die Bundesregierung mit dem Konjunkturpaket und der Abwrackprämie im Jahr 2010 selbst noch streng antizyklisch, möchte sie nun anderen Ländern das Gegenteil verordnen. Um Hilfe geht es hier nicht – es geht einzig und allein um die Geschäfte deutscher Banken und der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Politik deckt die Risiken deutscher Banken und deutscher Rüstungskonzerne auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – auf diesen Satz lässt sich das, was als Rettungsschirm wirklich ist, ganz einfach reduzieren. Mit keinem Wort erwähnt die Bundesregierung die Waffengeschäfte mit Griechenland – Verträge, bei denen es um Milliarden geht –: Panzer, U-Boote, Kampfflugzeuge. Einzig und allein die „gierigen“ Frührentnerinnen und Frührentner sowie die kleinen Beamteninnen und Beamten sollen schuld sein an der Misere der Staatsfinanzen eines Landes, das pro Kopf, auf die Einwohnerzahl gerechnet, die größte Armee Europas hat. Über 50 Milliarden Euro hat sich Griechenland die Modernisierung seiner Armee in den letzten zehn Jahren kosten lassen – und Deutschland war und ist dick im Geschäft. Von den Finanzjongleuren und Krisengewinnlern, die auf die die Pleite ganzer Staaten wetten, ist bei den Bedingungen für den Rettungsschirm ebenso wenig die Rede. Wer die europäischen Superreichen, deren Vermögen sich auf etwa 10 Billionen Dollar beläuft, nicht zur Kasse bittet, um den Schaden, den sie mit angerichtet haben, zu beheben, vergibt die Chance auf Veränderung. Ich kann im „Euro-Rettungsschirm“, so wie er ist, keinen Sinn erkennen, der mehr als der Egoismus derer wäre, die diese Zustände herbeigeführt haben. Deshalb stimme ich dagegen – für ein gerechtes, friedliches und solidarisches Europa! Harald Koch (DIE LINKE): Ich habe heute gegen den erweiterten Rettungsschirm gestimmt, weil ich Ja zu einem sozialen und solidarischen Europa sage. Die Euro-Krise ist nur zu lösen, wenn man das Zockerkasino schließt, wenn man die Spekulanten und die staatlich gedeckte Finanzmafia an die Kette legt. Die Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärkten finanzieren können, über eine Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanzmärkte müssen endlich streng reguliert werden, schädliche Finanzprodukte sind zu verbieten, und Banken gehören unter öffentliche Kontrolle. Verursacher und Profiteure der Krise muss man stattdessen zur Kasse bitten: durch eine EU-weite Vermögensabgabe für Reiche und Superreiche, durch eine Finanztransaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer privater Gläubiger. Den Ländern, die Gelder aus dem Rettungsfonds erhalten, wird in Wirklichkeit ein Rettungsring aus Blei zugeworfen. Die ökonomisch unsinnigen und sozial ungerechten Kürzungsprogramme treiben diese Länder in die Rezession. Fest steht: Die Krise kann und darf nicht auf dem Rücken der Beschäftigten und sozial Benachteiligten Europas gelöst werden. Manfred Kolbe (CDU/CSU): Ich stimme heute gegen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus auf Bundestagsdrucksache 17/6916, weil die bisherige Rettungsschirmpolitik nicht funktioniert hat. Im Monatsrhythmus beschließen wir neue Rettungsschirme, garantieren Hunderte von Milliarden, und Griechenland geht es dennoch immer schlechter. Tatsächlich finanzieren wir mit den Rettungsschirmen die hohen Zinsen an Banken und Hedgefonds, nicht aber Griechenland. Für Griechenland brauchen wir eine Umschuldung, das heißt, die Gläubigerbanken müssen auf mindestens 50 Prozent ihrer Forderungen verzichten, damit das Land wieder eine echte Chance hat. Wir brauchen in Europa eine Politik der finanziellen Eigenverantwortung und keine Anleiheankäufe durch die EZB oder gar Euro-Bonds, für die alle gesamtschuldnerisch haften. Das einziger wirksame Druckmittel, überschuldete Staaten zur Konsolidierung zu zwingen, sind steigende Marktzinsen, wie bei Berlusconi jüngst erlebt. Eine gesamtschuldnerische Schuldenhaftung gibt es nicht einmal unter den Bundesländern, den Kommunen eines Landkreises oder Geschwistern. Nur ein finanziell solides Europa kann in der Welt mitreden. Meiner Meinung nach stärken Neinstimmen aus der CDU die Bundeskanzlerin. Ihre internationale Verhandlungsposition hat sich, sowohl aufgrund des ihren Spielraum einengenden Urteils des Bundesverfassungsgerichtes als auch durch den Widerstand im Deutschen Bundestag verbessert. Vor Ort ist es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sehen, dass die CDU zwar solidarisch hilft, aber klare Gegenleistungen fordert und eine uferlose Verschuldung nicht zulässt. Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Durch die heutige Änderung des StabMechG werden die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages bei den Maßnahmen zur Euro-Stabilisierung deutlich ausgeweitet. Dies ist uneingeschränkt zu begrüßen. Insbesondere ist hervorzuheben, dass die Bundesregierung Beschlüssen, durch die die haushaltspolitische Gesamtverantwortung berührt wird, nur nach einem positiven Votum des Deutschen Bundestages zustimmen darf. Die Struktur der gefundenen Beteiligung kann allerdings nicht zufriedenstellen. Zum einen ist es unbefriedigend, dass sich das nach § 3 Abs. 3 StabMechG zu bildende Gremium zur Beschlussfassung in eilbedürftigen oder vertraulichen Fällen ausschließlich aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses zusammensetzt. Hier wäre ein breiter aufgestelltes Gremium wünschenswert gewesen. Zum anderen hätte eine Aufnahme des bewährten Instruments der Mitberatung durch weitere Ausschüsse des Deutschen Bundestages in § 4 StabMechG die Möglichkeit geboten, die fachliche Expertise des gesamten Hauses einzubinden. Daher darf die jetzt gefundene Regelung kein Präjudiz für die Beteiligungsstruktur des Deutschen Bundestages im Zustimmungsgesetz für den dauerhaften Stabilisierungsmechanismus ESM sein. Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Die Ausmaße der Schuldenkrise sind immens. Der Euro-Raum ist durch einige Mitgliedstaaten in eine bedrohliche Schieflage geraten. Daran hat Deutschland unter der damaligen Regierung aus SPD und Grünen erheblichen Anteil, wenn sie nicht gar eine wesentliche Ursache für die Probleme sind. Es rächt sich bitterböse, dass die Regierung Schröder/Fischer in unverantwortlicher Weise den Maastricht-Vertrag aufweichte und Griechenland den Weg in den Euro frei machte. Es ist erschütternd, dass erst 2010, ein halbes Jahr nach dem Regierungswechsel, das dramatische Ausmaß in Griechenland bekannt wurde. Die Frage stellt sich, warum frühere Bundesfinanzminister über die Vorgänge und Zustände nicht informiert waren oder – viel wahrscheinlicher – die Öffentlichkeit bzw. das Parlament nicht informiert haben. Es ist schwer nachvollziehbar, warum die Bundesfinanzminister Hans Eichel und Peer Steinbrück entweder kein Wissen über die Zahlungsschwierigkeiten hatten oder vielmehr ihr Wissen der Öffentlichkeit vorenthielten. Nicht nur die Ursachen der jetzigen Krise gehen zu einem gehörigen Teil auf das Konto von SPD und Grünen, sondern auch die verschleppte und vernachlässigte Prüfung seit der Griechenland-Aufnahme in den Euro-Raum. Es ist unerhört, dass die Schuld, die die damals Verantwortlichen auf sich geladen haben, nunmehr nachfolgende Abgeordnetengenerationen abzutragen haben. Geradezu unappetitlich ist es, wenn die damals Verantwortlichen heute meinen, oberkluge Hinweise und wohlfeile Kritiken von sich geben zu müssen. Ich persönlich bin außerordentlich unzufrieden darüber, dass wir nicht nur zur Lösung von Problemen beitragen müssen, die durch falsches politisches Handeln, das meinen politischen Überzeugungen widerspricht, entstanden sind, sondern dafür auch noch von den Verursachern dieser Krise regelrecht beschimpft werden. Diese dramatische und sich stets verschärfende Situation wurde – grob ausgedrückt – durch Ausgabenwollust und unzureichende Einnahmeerhebung politisch Agierender hervorgerufen. Die eigene Schuld verdrängen SPD und Grüne und wollen nunmehr mit Maßnahmen der Schuldenkrise begegnen, die diese Krise erst verursachten. Wäre es nach Rot-Grün gegangen, hätte Deutschland seit 2010 immense Programme aufgelegt und Gelder zur Verfügung gestellt. Diese Gelder wären nicht zur Stabilisierung der Währung oder zur Sanierung der Haushalte genutzt worden, sondern in erster Linie zur Finanzierung der politisch Regierenden aufgebracht worden. Damit hätte sich die Schuldenkrise durch diese rot-grünen Vorstellungen von Anfang an immens vergrößert. Die schwarz-gelbe Koalition muss nun vor allem Vertrauen herstellen, das durch die Schulden verloren ging. Dabei gibt es aus meiner Sicht Zweifel, ob dies durch die bisherigen Maßnahmen gelingen kann. Hilfen für andere Euro-Staaten gehören nicht zu den Kernaufgaben im Euro-Raum. Die Risiken gerade für Deutschland und den deutschen Steuerzahler sind erheblich. Eine geordnete Insolvenz Griechenlands halte ich nach wie vor für einen Weg, der nicht ausgeschlossen werden darf. Fraglich ist für mich, ob unter den vorgegebenen Bedingungen die Höhe des EFSF-Schirms bewusst ausgereizt wird oder für die EFSF gar die Möglichkeit besteht, sich selbst – entgegen seinem eigentlichen Auftrag und Sinn – eigenständig weitere Finanzmittel zu akquirieren. So befürchte ich, dass der Fonds angekaufte Anleihen als Sicherheit zum Beispiel bei der EZB hinterlegt, um sich weitere Mittel zu beschaffen. Dies könnte meiner Auffassung nach zu einer Kreditblase mit erheblichen Folgen führen. Ich habe Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in der Fraktionssitzung der FDP am 26. September 2011 explizit auf den Umstand der Beleihung von Anleihen aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass diese mögliche zusätzliche, aber sehr riskante Einnahmequelle weder Sinn der EFSF noch Wille der Gesetzgeber sein kann. Finanzminister Schäuble hat erklärt, dass dieser Fall durch die Guidelines geklärt werde. Außerdem werde es ausdrücklich keinen Hebel oder einen sogenannten Leverage geben. Auf diese Aussagen vertraue ich. Nach Durchsicht der rar gesäten Vorschläge der Opposition und mit Blick auf die sonstigen dargebotenen Verfahrensvorschläge muss ich als Parlamentarier nach möglichst bestem Wissen und Gewissen abwägen und entscheiden. Diese Entscheidung fällt ohnehin schwer. Inzwischen hat sich allerdings eine öffentliche Meinung aufgebaut, die durch effekthaschende Oppositionsführer und darauf abzielende Medien derart befeuert wurde, dass die eigentliche Sachfrage zunehmend in den Hintergrund rückt und es immer schwerer geworden ist, sachliche Antworten zu geben. Auf der anderen Seite wird vielmehr die Koalition auf den Prüfstand gestellt. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass diese Koalition in der Lage ist, Deutschland zu regieren und eben nicht wie unter Rot-Grün in Sachfragen in inflationärer Weise mit Vertrauensfragen zu verbinden. Insbesondere die Erwartungshaltung und der öffentliche Druck der Opposition sowie die dies verstärkende Medien sorgten dafür, dass ein Zerrbild aufgebaut wurde: Die EFSF-Entscheidung gilt nunmehr als Quasi-Vertrauensfrage – was an sich unfassbar ist – bzw. als Bewährungsprobe für Schwarz-Gelb. Diese Situation macht es mir als Parlamentarier unmöglich, ausschließlich in der Sache abzustimmen. All dies muss ich berücksichtigen und in mein Abstimmungsverhalten einfließen lassen. Globale Umstände, öffentliche Haltung, das geschlossene Vorgehen der Koalition sowie das in der Sache zu berücksichtigende Wissen und Gewissen müssen in ein Verhältnis gesetzt werden. In dieser Abwägung habe ich der EFSF meine Zustimmung erteilt. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms treibt die Spaltung Europas voran! Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Aufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein gescheitertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weiter vertieft. Die bisherige Euro-Rettung hat die Ausweitung der Krise nicht verhindert, im Gegenteil: Während Banken und Finanzinvestoren geschützt und die Ursachen der Krise ausgeblendet wurden, zwingen die „Rettungsringe“ von Ländern der Euro-Zone, EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF die Krisenländer zu Boden. Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine Erholung der Wirtschaft und verschärften durch wegbrechende Einnahmen die Schuldenkrise. Zu einer Beruhigung der Finanzmärkte reichten die Maßnahmen nicht, es wird weiter gegen angeschlagene Euro-Staaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Fachleute und Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht ausreichen wird. Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab, denn der gescheiterte Kurs wird fortgesetzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schülerinnen, Schüler, Studentinnen und Studenten mit Lohn- und Rentenkürzungen, dem größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte und dem Zusammenstreichen der Bildungsausgaben dafür, dass private Banken weiter spekulieren können. In Deutschland wird die gesamte Bevölkerung in Haftung für die milliardenschweren Garantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, die Großbanken vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt werden, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu bringen. Die EFSF-Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind. Sie gefährdet zudem zunehmend die europäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument von Union, FDP, SPD und Grünen, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, Europa zu retten, ist für mich falsch. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und demokratisch gestaltet wird. Da die Euro-Rettung in genau die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich der EFSF nicht zustimmen. Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Der erweiterte Rettungsschirm EFSF trägt nicht zur Beseitigung der aktuellen Staatsschuldenkrise oder zur Verhinderung künftiger Schuldenkrisen bei. Durch den Rettungsschirm drohen die Schulden vielmehr vergemeinschaftet zu werden. Dann haben wir die Haftungsunion, die wir nie haben wollten. Aus diesem Grunde kann ich dem vorliegenden Gesetz nicht zustimmen. Unbestritten ist, dass Deutschland als Exportnation ganz besonders vom Euro profitiert. Unbestritten ist auch, dass der Euro nur in einer Stabilitätsunion eine erfolgreiche Zukunft haben kann und nicht in einer Schuldenunion. Daher haben bereits die Gründerväter des Euro wichtige Instrumente zur Errichtung einer Stabilitätskultur geschaffen: die Europäische Zentralbank zur Sicherung der Geldwertstabilität, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zur Sicherung solider Staatshaushalte sowie die sogenannte No-Bail-out-Klausel, die sichern sollte, dass kein Staat für die Schulden eines anderen EU-Mitgliedstaates haften oder aufkommen muss. Gegen alle drei Grundsätze ist mittlerweile verstoßen worden. Die Folge ist, dass Europa heute in einer tiefen und strukturellen Staatsschuldenkrise steckt. Die Krisenursache ist daher mitnichten das Scheitern der Idee einer Europäischen Währungsunion, sondern das konsequente Ignorieren der Regeln. Angesichts dieses Befundes kann es grundsätzlich nur einen glaubwürdigen Ausweg aus der Staatsschuldenkrise geben: Man greift den Kerngedanken des ursprünglichen Regelwerks wieder auf, indem man zukünftig Verstöße gegen die Stabilitätsziele automatisch ahndet und das Prinzip des Haftungsausschlusses konsequent anwendet. Nur mithilfe dieser klaren Perspektive kann man Staaten zu verlässlichen und nachhaltigen Haushalten disziplinieren. Daher unterstütze ich die derzeit zur Verschärfung der Stabilitätsverpflichtungen diskutierten Durchgriffsrechte voll und ganz. Zu diesen gehört beispielsweise, dass Parlamente im Falle von massiven Regelverstößen ihre fiskalpolitische Souveränität einbüßen oder sogar ganz verlieren. Diese Regelung bedarf freilich vertraglicher Änderungen. Die Erfahrung zeigt, dass solche vertraglichen Änderungen nur schwer durchsetzbar sind. Es bedarf besonderer Umstände, die einen Handlungsdruck erzeugen. Die entscheidende Frage ist nun, ob nach Erweiterung des Rettungsschirms EFSF, der in den ständigen Rettungsmechanismus ESM – Europäischer Stabilitätsmechanismus – übergehen soll, überhaupt noch Handlungsdruck vorhanden ist. Ich meine, nein. Des Weiteren krankt der Rettungsschirm EFSF daran, dass er kein überzeugendes Anreizsystem zur Schuldenvermeidung bietet. Schlimmer noch: Der Rettungsschirm EFSF erlaubt es, dass künftig marode Staatsanleihen angekauft werden können. Der Ankauf von Staatsanleihen aber kommt einer Zinssubvention gleich und verhindert dadurch, dass der Markt für Staatsanleihen die Staaten mit hoher Verschuldung durch eine effiziente Preissetzung zügelt. Gerade ein hoher Anleihezins würde Staaten zu Reaktionen zwingen. Damit ist ein zentraler Hebel zur Disziplinierung von Staaten außer Kraft gesetzt. Kurzum: Der erweiterte Rettungsschirm wird weder das Verschuldungsproblem in Europa noch das Zahlungsbilanzdefizit der Peripheriestaaten oder deren fehlende Wettbewerbsfähigkeit lösen. Meine Sorge ist, dass das Schuldenproblem einzelner Staaten auf ganz Europa übergreifen könnte und damit das Projekt Euro insgesamt gefährdet wird. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungsschirm, weil nicht die Krisenverursacher, die Finanzmarktakteure und Vermögenden für die Kosten der Krise herangezogen werden, sondern die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeitslosen, die Rentnerinnen und Rentner, hier wie auch in Griechenland. Stattdessen wäre eine europaweite Vermögensabgabe und eine gerechte Besteuerung von Vermögen und Kapitaleinkünften zwingend. Die Sparauflagen für die südeuropäischen Schuldnerstaaten verschärfen die wirtschaftliche Krise in den Ländern und führen die Staaten tiefer in die Schuldenkrise. Mit den Delegierten des Gewerkschaftstages von Verdi trete ich daher für ein sofortiges Ende der ökonomisch und sozial schädlichen Sparpolitik in den Schuldnerländern ein. Die europäischen Regierungen und die EU unterwerfen alle Länder nach wie vor dem Diktat der Finanzmarktakteure, statt sie endlich zu regulieren. Eine europäische Finanztransaktionsteuer kann nur der erste Schritt sein. Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm, weil ich für Europa bin. Statt Sparprogrammen ist ein europäisches Zukunftsprogramm zur Sicherung von Beschäftigung und sozialer Gerechtigkeit erforderlich. Nur mit gleichen und gerechten Bedingungen für Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik ist Europa vor den Banken und Hedgefonds noch zu retten. Dorothee Menzner (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus, EFSF, aus folgenden Gründen nicht zu: Eine weitere Aufstockung der Mittel des Euro-Rettungsschirmes ohne eine wirksame Regulierung der Finanzmärkte, die Heranziehung der Riesenvermögen zur Schuldentilgung sowie eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und anderen betroffenen Ländern ist ein Doktern am System ohne Bekämpfung der Ursachen. Es werden keine Konsequenzen aus der gescheiterten Politik gezogen. Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm geknüpften Auflagen radikaler Kürzungen würgen in den Krisenländern die Binnenkonjunktur weiter ab, verhindern eine nachhaltige Entwicklung und Erholung der Wirtschaft und verschärfen somit die Schuldenkrise. In den Krisenländern bezahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner, Studentinnen und Studenten und andere Gruppen der ganz normalen Bevölkerung mit Lohn- und Rentenkürzungen, Entlassungen und dem größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte, während die Reichen und Superreichen, die Banken und Profiteure der ökonomischen Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte ein weiteres Mal ungeschoren davonkommen. In Deutschland werden im Haftungsfall ebenfalls die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und nicht die Profiteure des Kasinos die Zeche für eine Veranstaltung zahlen, an der sie nie teilgenommen haben. Die Risiken werden mittlerweile selbst von der Deutschen Bank auf über 400 Milliarden beziffert, die im Haftungsfall über lange Jahre die Bürgerinnen und Bürger immens belasten werden. Im Zusammenhang mit Bankenhilfe ohne Gegenleistung, Sozialkürzungen und Demokratieabbau ist dies für mich nicht zu verantworten. Die europäische Integration der letzten Jahrzehnte, die Voraussetzung für Frieden unter den Ländern Europas, wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung sozialstaatlicher Mechanismen in seinen Ländern war, wird mit dieser Art der vermeintlichen Stabilisierung aufs Spiel gesetzt. Europa ist mehr als eine gemeinsame Währung. Gerade in der Krise dürfen soziale Standards und Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger Europas, demokratische Mechanismen und Teilhabe aller nicht zur Disposition stehen. Ich verwahre mich gegen alle Ansätze, die Ängste von Bürgerinnen und Bürgern schüren und nationalistisches Denken befördern können. Sie stehen einer zukunftsfähigen Entwicklung Europas entgegen. Ein Europa der Menschen ist notwendiges Ziel und nicht ein Europa, das sich nach den Interessen der Konzerne, Banken und Ratingagenturen entwickelt. Cornelia Möhring (DIE LINKE): Ich stimme heute gegen die Ausweitung und Aufstockung des Euro-Rettungsschirms, weil ich Ja zu einem solidarischen Europa sage. Dieser Rettungsschirm, über den wir heute abstimmen, verhindert ein solches Europa. Er rettet weder den Euro noch die EU oder gar die Menschen in Griechenland – er rettet in Wahrheit nur die Banken und Spekulanten. Statt die Gewinner der Krise für die Folgen ihrer verantwortungslosen Gier zur Kasse zu bitten, soll die Bevölkerung in Europa zahlen: In der Bundesrepublik kommen die Milliarden Euro für den Rettungsschirm aus Steuergeldern. In Griechenland, Irland und Portugal bezahlen die Studierenden, Angestellten und Rentnerinnen und Rentner durch Massenentlassungen, Rentenkürzungen und andere sozial verheerende und volkswirtschaftlich völlig unsinnige Kürzungsprogramme. Zu einer solchen Politik der Entlastung von Banken und Spekulanten und der Belastung der Bevölkerung sage ich Nein. Ich will, dass die Verursacher und Profiteure der Krise zur Kasse gebeten werden. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite Vermögensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe. Statt den Finanzjongleuren weitere Milliarden für ihre Spekulationen in den Rachen zu werfen, sollte die Bundesrepublik an den Ursachen der Krise ansetzen. Die Europäische Union kann nur gerettet werden, wenn sie endlich zu einer wirklichen Sozialunion wird, deren Ziel die Verbesserung der Lage der Beschäftigten und der Armen in allen Ländern der Gemeinschaft ist. Zusammen mit meiner Fraktion fordere ich deshalb: Weg mit Hartz IV und her mit dem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen ein EU-weites Investitionsprogramm und eine stärkere, sozial ausgerichtete Politikkoordination, um den sozial-ökologischen Umbau in der EU voranzutreiben. Ich sage heute Nein zu einem Europa der Banken und Millionäre und Ja zu einem Europa der Millionen. Niema Movassat (DIE LINKE): Ich stimme aus folgenden Gründen gegen den Gesetzentwurf zur Erweiterung der EFSF. Erstens. Die EFSF ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinstitute, der Spekulanten, der Reichen und der Superreichen. Im Haftungsfall werden die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler getragen. Zu befürchten ist auch eine Kürzung von Renten und anderen Sozialleistungen. Die Bundesregierung ist auch nicht bereit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Zweitens. Den Menschen in den Ländern, die Mittel von der EFSF erhalten, wird nicht geholfen: Die diesen Ländern aufgegebenen strengen Sparauflagen treffen dort vor allem die Geringverdiener, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rentner. Die Binnennachfrage bricht ein, Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland. Drittens. Die demokratische Kontrolle des Bundeshaushalts durch das Parlament wird mit dem Änderungsgesetz ausgehöhlt. Die Unterrichtung des Haushaltsausschusses ersetzt die parlamentarische Beteiligung nicht. Mit der EFSF findet eine Unterordnung demokratischer Verfassungsprinzipien unter das Diktat der Finanzmärkte statt. Es braucht einen völlig anderen politischen Weg zur Lösung der Krise: Notwendig ist eine strikte Regulierung der Finanzmärkte und eine Vergesellschaftung der privaten Banken. Die Riesenvermögen in der EU, die in etwa den gesamten Staatsschulden in der EU entsprechen, müssen für die Schuldentilgung herangezogen werden. Es braucht eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und anderen betroffenen Ländern. Dazu gehört auch, dass Deutschland durch nachhaltige Lohnerhöhungen, unter anderem durch Einführung eines gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohns, die eigene Binnennachfrage stärkt und so Exportüberschüsse, die Teil der Ursachen für die Krise in Europa sind, abbaut. Zuletzt möchte ich sagen, dass der Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die soziale Barbarei und wirtschaftliche Unvernunft meine Solidarität hat. Jan Mücke (FDP): Der Haushaltsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung vom 22. September 2011 – Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deutschen Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderter Fassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung. Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussempfehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklärung: Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwar notwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordneten Insolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzungen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisenländer ohne weitere Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugniserweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhaft einzudämmen. Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennoch kam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufen durch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, ob die EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, da letztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. Die Gefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigung der EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieser ordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf Kosten Deutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend notwendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihekäufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutasten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen: Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik muss sich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preisstabilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen Bundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückführen. Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nach Kapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht weiterhin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für risikoreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern überstimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutschland und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden. Beides macht eine Änderung der Satzung der EZB dringend erforderlich. Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insolvenz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen automatischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privater Gläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine bestimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, die mit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen, müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristig sollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen. Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrelevante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodass diese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamte Realwirtschaft mitzureißen. Diese Forderungen stellen nichts anderes als eine Rückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Primat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prinzip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung, dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern verfolgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiter verfolgt wird. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Die Lösungen der Koalition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nicht alle der bisherigen und geplanten Maßnahmen finden meine Zustimmung. In verschiedenen Punkten bleiben bei mir auch weiterhin Zweifel. Einer geordneten Insolvenz zum Beispiel für Griechenland hätte ich dem anstrebten Verfahren den Vorzug gegeben und vertrete die Auffassung, dass diese auch weiterhin als mögliches Instrument in Betracht gezogen werden sollte. Im Grundsatz lehne ich jedoch Hilfen für andere Euro-Staaten nicht ab, wenn diese unter den passenden Rahmenbedingungen gewährt werden. Ich kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht erkennen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro-Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konnten bisher nicht benannt und meine Zweifel daher nicht vollständig ausgeräumt werden. Ich begrüße ausdrücklich, dass nach Angaben des Bundesministers der Finanzen die Erhöhung der Ausleihkapazitäten der EFSF für Deutschland auf 211 Milliarden Euro beschränkt ist. Die Befassung des Bundestages bzw. in bestimmten Fällen des Haushaltsaus-schusses im Falle jedweder Änderung oder Erweiterung der EFSF ist für mich Grundlage meiner Zustimmung; dieses gilt insbesondere auch für den Ausschluss der sogenannten Hebelwirkung. Auch das Bewusstsein, dass es, falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande kommt, zu noch stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommen wird, ist ausschlaggebend für mein Abstimmungsverhalten. Die Kapitalmärkte würden entsprechend negativ reagieren und die Bemühungen zur Stabilisierung somit konterkarieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene und entschlossene Koalition zu setzen. Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstimmungsverhalten zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Abwägung stelle ich meine persönlichen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvorhaben getroffenen Regelungen zurück und stimme den Änderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabi-lisierungsmechanismus zu. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Jede Krise markiert einen Wendepunkt. Insofern kann man auch der Euro-Schulden-Krise etwas Positives abgewinnen: Ein Weiter-So kann es politisch nicht geben. Der vermeintlich einfache Weg, Politik zu machen, indem man Schulden anhäuft und Probleme fremdfinanziert und zinslastig vor sich her schiebt, endet in einer Sackgasse. Ich bin stolz darauf, dass die CSU das längst erkannt und Bayern als erstes Bundesland Haushalte ohne Neuverschuldung aufgestellt hat. Ich bin stolz darauf, dass wir im Grundgesetz eine Schuldenbremse verankert haben. Das war richtungsweisend – nicht nur für den Bund, sondern für Europa. Seither sind die Finanzkrisen allerdings dazu angetan, uns von dem Weg abzubringen. Auch die „impliziten“ Schulden, beispielsweise die Pensionslasten, machen mir Sorgen. Der heutige Beschluss mag im engsten Sinne parlamentarischer Gepflogenheiten keine Gewissensentscheidung sein. Es ist aber eine Entscheidung, die mich schwer belastet – angesichts der finanziellen Dimensionen und der vielen ungeklärten Fragen. Die wiederum wurden von der Wissenschaft nur vieldeutig und widersprüchlich beantwortet. Das Orakel von Delphi wäre hier hilfreicher gewesen. Medien und Opposition haben ihren zweifelhaften Beitrag dazu geleistet, die kritische Sachfrage zu einer Machtfrage hochzustilisieren. Die Frage, ob die Koalition eine eigene Mehrheit hat, ist eben minder komplex als die vielfältigen Sachfragen, die mit der europäischen Schuldenkrise verbunden sind. Die Verunsicherung der Bürger durch eine mitunter unverantwortliche Berichterstattung mancher Medien ist Ausdruck dafür, dass die sogenannte Vierte Gewalt sich ihrer Verantwortung für die Demokratie in unserem Staat oft nicht bewusst ist, und das nicht einmal mit Blick auf das Eigeninteresse der Pressefreiheit. Diese konstruierte Machtfrage muss man heute klar beantworten. Die rot-grün-dunkelrote Opposition bietet eine Alternative, die ich für katastrophal halte: Die Vergemeinschaftung aller europäischen Schulden über Euro-Bonds, die Schuldnerstaaten geradezu animiert, zulasten unserer Bonität und mit entsprechend niedrigen Zinsen weiter Schulden zu machen. Das ist, als wolle man einen Alkoholiker mit Freibier zur Abstinenz bringen. Die EFSF wird heute eine breite Mehrheit bekommen. Eine Gegenstimme ändert daran nicht nur nichts, sie würde dagegen den Eindruck erwecken, dass wir in einer so schwierigen Situation keinen Fonds bräuchten, um eine neuerliche Finanzkrise zu verhindern. Eine Sanierung Griechenlands halte ich persönlich für unwahrscheinlich. Die notwendigen Einsparungen im öffentlichen Bereich und der unabdingbare Reallohnverzicht sind meines Erachtens nicht durchsetzbar. Damit brauchen wir die EFSF als Brandmauer, um bei einer Insolvenz Griechenlands einen Flächenbrand zu vermeiden. Ich habe aber trotz dieser Einsicht während der Debatte innerhalb meiner Fraktion mit Nein gestimmt. Es gehört zu meinen politischen Erfahrungen der letzten neun Jahre, dass ohne diesen Druck gerade in der Europapolitik demokratieferne Lösungen gesucht werden. Wer das anzweifelt, der möge den Antrag zum Parlamentsbeteiligungsgesetz zum Lissabon-Vertrag der Union aus Oppositionszeiten mit dem vergleichen, was dann später in der Regierungsphase beschlossen wurde. Das Ergebnis ist mindestens so beschämend wie die Regelungen zur Subsidiarität im Lissabon-Vertrag selbst. Oder die Tatsache, dass wir mittlerweile das Bundesverfassungsgericht brauchen, um das durchzusetzen, was eigentlich Ehrensache für das Parlament sein müsste: parlamentarische Mitsprache. Richter zu fragen, wie weit man sich entrechten lassen darf: Zeichnet das selbstbewusste, aufrechte Volksvertreter aus? Die, die uns einreden wollen, Europa gehe nur mit Demokratieverzicht, verraten die europäische Idee. Ohne die Rückbindung europäischer Entscheidungen an nationale Parlamente und damit an das Volk wird die geniale europäische Idee scheitern. Es ist dann schon der Gipfel der Ironie, wenn dieselben ihre Kritiker als Europagegner diffamieren. Und es schadet der Sache, wenn sie in einer kritischen (Krisen-)Phase der EU versuchen, ihre Fantasien von den „Vereinigten Schuldenstaaten von Europa“ zu realisieren. Die CSU hat das Europa der Regionen in der Bayerischen Verfassung verankert. Das bleibt unsere Richtschnur. Für geradezu schändlich halte ich es, wenn bei Diskussionen um Ausgestaltung und Vorgehen in einer Krise nicht auf Argumente eingegangen wird, sondern mit viel Pathos über Krieg und Frieden philosophiert wird. Diese Ablenkungsmanöver sind durchschaubar und Teil des Problems. Wir waren noch immer in der Lage, ökonomische Kriterien richtig zu beschreiben: bei der Euro-Einführung beispielweise das Schuldenübernahmeverbot und den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wider besseren Wissens müssen diese Ansprüche aber dann offenbar immer wieder angeblich höherrangigeren politischen Erwägungen weichen. Die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum ist ein klassisches Beispiel dafür. Man kann sagen: Die Griechen haben ihre Zahlen geschönt. Aber die Gegenseite, allen voran die Regierung Schröder, hat die falschen Zahlen doch glauben wollen. Jedenfalls kann man den Bundestagsprotokollen von damals entnehmen, dass CSU-Kollegen auf die Manipulation hingewiesen und von „einem schweren Fehler“ gesprochen haben. Von Europapathos befeuert, wollte man Griechenland im Euro haben. Die Griechen hätten übrigens wegen ihrer Produktivitätsdefizite, die sie nur durch die Abwertung der Drachme hätten ausgleichen können, gut daran getan, dem Euro-Raum nicht beizutreten. Rot-Grün hat im Nachgang auch noch den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht – auch das wider besseres Wissen. Ein wenig mehr Demut in der Debatte hätte ich mir auch von dieser Seite gewünscht. Jetzt geben wir die No-Bail-out-Regel auf, wonach eine gegenseitige Schuldenübernahme wohlweislich nicht infrage kommt. Das beschwert mich besonders. Wir müssen zu einem Weg zurückfinden, der die disziplinierenden Kräfte des Marktes sicherstellt. Höhere Zinsen müssen Schuldner zum Sparen zwingen. Die Griechen haben den Realzinsvorteil nicht für Investitionen, sondern für Konsum genutzt. Mein Anliegen ist es, das, was zu Zeiten Theo Waigels richtig vereinbart wurde, zu verteidigen, insbesondere dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Geltung zu verschaffen. Ich werde weiter eine Insolvenzordnung für Staaten einfordern. Die haushalterischen Eingriffsmöglichkeiten der EU gehören in diesen Kontext. Die EU darf nur in Funktion eines „Insolvenzverwalters“ in nationale Haushalte eingreifen. Alle anderen Maßnahmen zur wirtschafts- und finanzpolitischen Koordination bedürfen einer demokratischen Rückbindung an die nationalen Parlamente. Sie müssen wir stärken, um das Befremden über einsame Brüsseler Entscheidungen zu beseitigen. Ehe wir den ESM dauerhaft installieren, müssen die Wirkmechanismen der EFSF analysiert werden. Hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Mit der heutigen Debatte ist jedenfalls sicher kein Schlusspunkt gesetzt. Jens Petermann (DIE LINKE): Ich stimme gemeinsam mit meiner Fraktion gegen den erweiterten Euro-Rettungsschirm, weil er in eklatanter Weise demokratische Prinzipien in ganz Europa verletzt. Ich bedaure es, dass CDU/CSU, FDP, Grüne und SPD nicht nur diesem neuen Rettungspaket für Banken und Spekulanten zustimmen, sondern auch den Einschränkungen der demokratischen Abgeordnetenrechte und der Rechte des Bundestags im Hinblick auf die Kontrolle des Euro-Rettungsfonds. Ich halte es in diesem Zusammenhang für einer Demokratie nicht würdig, dass alle anderen Fraktionen gegen die Vorschläge der Linken gestimmt haben, wenigstens den Bundestag über die Vergabe der zusätzlichen Milliarden abstimmen zu lassen. Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungsschirm, weil damit die Demokratie den sogenannten Finanzmärkten geopfert wird. Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungsschirm, weil unüberschaubare finanzielle Risiken auf die Bevölkerung zukommen. Mittlerweile qualifiziert selbst die Deutsche Bank die Risiken aus den Bürgschaften des Euro-Rettungsschirms für die Steuerzahler auf über 400 Milliarden Euro. Es ist grob fahrlässig, diesem Bündel aus Demokratiebabbau, Sozialkürzungen und Bankenhilfe ohne Gegenleistung mit unabsehbaren finanziellen Risiken die Zustimmung zu erteilen. Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm, weil die Euro-Krise nur durch Schließung des Spekula-tionskasinos gelöst werden kann. Den Spekulanten muss der Boden entzogen werden. Die Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärkten finanzieren können, über eine Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanzmärkte müssen endlich streng reguliert werden. Und die Verursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebeten werden: Dies kann man durch eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche, durch eine Finanztransaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer privater Gläubiger realisieren. Mein Nein zum erweiterten Euro-Rettungsschirm ist ein Ja zu Europa, ein Ja zur Demokratie und ein Ja zum Primat der Politik über die Finanzmärkte. Richard Pitterle (DIE LINKE): Bei der Abstimmung über die Aufstockung und Ausweitung des Euro-Rettungsschirms, EFSF, im Deutschen Bundestag habe ich mit Nein gestimmt. Auch ich bin der Überzeugung, dass Maßnahmen erforderlich sind, um die Staatsfinanzierung von den privaten Finanzmärkten abzukoppeln, um zu verhindern, dass einzelne Staaten der Spekulation der Finanzmafia ausgesetzt werden. Die Einführung des Euro hatte die PDS im Bundestag zu Recht kritisiert, weil diese nicht mit einer Wirtschafts- und Sozialunion verbunden war. Dennoch ist die Erhaltung des Euro ein richtiges Ziel, weil der Euro, von dem insbesondere die deutsche Wirtschaft profitiert hat, inzwischen mehr als ein ökonomisches Projekt ist. Wenn der Euro scheitert, besteht die große Gefahr, dass auch der europäische Gedanke und das Projekt der Europäischen Union massiv beschädigt werden und dies mit einer Renationalisierung der Politik einher geht. Wir brauchen zur Lösung der gewaltigen Probleme aber nicht weniger, sondern mehr europäische Integration. Wir brauchen und wollen als Linke auch gegenseitige Solidarität und Hilfe in Europa. Darin unterscheiden wir uns von den Gegnern des Euro-Rettungsschirms, deren Motivation darin liegt, den anderen in Schwierigkeiten geratenen Staaten die Solidarität ausdrücklich zu verweigern. Die Politik der Bundesregierung ist darauf gerichtet, den Europäischen Rettungsschirm nicht als Hilfe für die Menschen auszugestalten, sondern im Ergebnis zur Rettung von Banken und Versicherungen. Die Bedingungen, die an die Inanspruchnahme der Mittel aus dem Rettungsschirm geknüpft werden, sind nicht akzeptabel. Senkung der Löhne, Renten, Entlassungen, Erhöhung der Verbrauchsteuern, kurz massiver Sozialabbau für breite Bevölkerungskreise, sind Gift für das wirtschaftliche Wachstum der betreffenden Staaten und machen die Rückzahlung von Krediten objektiv unmöglich. Die Banken und Gläubiger sind durch die Bürgschaft des Rettungsschirms, für die die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften, gegen Forderungsausfall gesichert. Die wirklich Vermögenden in den betreffenden Ländern, ebenso wenig wie in Deutschland, werden hingegen nicht zur Kasse gebeten. Eine Finanztransaktionsteuer, wird halbherzig angekündigt, aber bisher immer noch nicht eingeführt. Mit dieser würden die Spekulanten, die die Finanzkrise verursacht haben, endlich zur Kasse gebeten. Hinzu kommt, dass ohne eine tiefgreifende und nicht nur kosmetische Regulierung der Finanzmärkte die Ursachen, die zur der Notwendigkeit des Rettungsschirms geführt haben, weiter fortwirken und der Rettungsschirm in Kürze von der Dimension her nicht ausreichen wird. Dieser ungerechten Politik, die die Mehrheit der Bevölkerung belastet und die Finanzmafia ungeschoren lässt, kann ich nicht zustimmen, sondern kann nur mit Nein stimmen. Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Gerade als Anhängerin der europäischen Idee kann es für mich heute nur ein klares Nein geben. Die von der Bundesregierung geplante Erweiterung des Euro-Rettungsschirms, der sogenannten EFSF, geht an den anstehenden Aufgaben schlicht vorbei. Ohne eine Lösung der gegenwärtigen Lohnkrise wird es auch keine Lösung der Euro-Krise geben. Denn die Kanzlerin sieht nur die Oberfläche, aber nicht die tieferliegenden Ursachen der Krise. Die schwarz-gelbe Regierung setzt bei ihrer Euro-Politik abermals auf das falsche Pferd – wie so häufig in den letzten Wochen und Monaten. Die Krise der Euro-Zone ist letztlich eine globale Verteilungskrise. Jetzt rächt sich die Umverteilungspolitik von unten nach oben, die in den letzten Jahren alle neoliberalen Parteien in Deutschland mitgetragen haben – von Schwarz, Gelb über Rot und Grün. Die Lohneinkommen stagnieren seit geraumer Zeit weltweit, in Deutschland sind die Realeinkommen der Mehrheit der Menschen sogar gefallen. Nur die Vermögen einiger weniger sind stark angewachsen, die breite Mehrheit hat deutlich verloren. Die Menschen reagieren darauf in der einzig für sie möglichen Art und Weise, nämlich indem sie ihre Nachfrage nach Konsumgütern einschränken. Deshalb stockt die Konjunktur, deshalb stockt die Binnennachfrage, deshalb spekulieren die großen Kapitalien in einem unverhältnismäßigen Umfang, da Realinvestitionen aus ihrer systemimmanenten Sicht sich nicht mehr für sie lohnen. Ohne eine demokratische Kontrolle des Banken- und Finanzsektors, ohne einen enormen Anwuchs der Löhne der „normalen Menschen“, ohne ein Ende des Lohndumpings und ohne eine Besteuerung der Vermögenden wird diese Krise nicht gelöst werden können. Das Missverhältnis von Finanz- und Realwirtschaft kann nur gelöst werden, wenn die Massenkaufkraft und die Masseneinkommen wieder steigen. Aber die Regierung zeigt sich konsequent orientierungslos. Derzeit ist es, als würden Politiker und Politikerinnen der Regierung „Steuerbord“ oder „Backbord“ rufen, ohne zu merken, dass sie eigentlich in einem Zug sitzen. Ingrid Remmers (DIE LINKE): Ich stimme gegen dieses Gesetz, weil die Bedingungen für Länder, die Kredite im Rahmen der EFSF in Anspruch nehmen müssen, nicht akzeptabel sind und die „Rettung“ von einzelnen europäischen Ländern nichts als eine weitere Bankenrettung mit Steuergeldern ist. Die Schuldenkrise ist vor allem eine Folge der Bankenkrise, in deren Rahmen die Verluste von privaten Banken auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler abgewälzt wurden – Verluste von jenen privaten Banken, die mit Wucherzinsen für neue Staatsanleihen den Rettungsschirm erst notwendig machen. Statt die Finanzmärkte endlich strikt zu regulieren, Banken zu vergesellschaften und die Staatsfinanzierung von den Kapitalmärkten abzukoppeln, würgen radikale Kürzungsauflagen die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab. Die Ungleichgewichte im Euro-Raum sind auch Ergebnis der überdimensionierten Exportorientierung der deutschen Wirtschaft bei gleichzeitig stagnierenden Reallöhnen und dauerhaft hohen Exportüberschüssen. Sie führen automatisch zu Defiziten und damit zur weiteren Verschuldung anderer Euro-Länder. Das beste Mittel dagegen ist die Stärkung der Kaufkraft durch Mindestlöhne, die der hohen Produktivität in Deutschland angemessen sind. Die von der Bundesregierung geforderten Zumutungen für die griechischen, irischen oder portugiesischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nicht akzeptabel. Lohnkürzungen, radikale Verkleinerung des öffentlichen Dienstes und Privatisierungen von öffentlichen Gütern führen zu mehr Arbeitslosigkeit, weniger Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und damit in die Rezession. Die unsägliche Neiddebatte vor allem gegenüber Griechenland ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die vor, in und nach der Krise unter der hohen Arbeitslosigkeit und den niedrigen Löhnen in vielen Ländern Europas leiden. Europa ist kein armer Kontinent – bei strikter Regulierung der Finanzmärkte, einer konsequenten Verfolgung von Steuerhinterziehung, echter Umverteilung durch wesentlich höhere Besteuerungen großer Vermögen und Einkommen und den Verzicht auf kostspielige Rüstungsprojekte wären die Staatshaushalte relativ einfach zu sanieren. Dafür steht die Linke. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, möchte aber auf erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der vorgesehenen Parlamentsbeteiligung im Rahmen des europäischen Stabilisierungsmechanismus hinweisen. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen meines Erachtens insbesondere in folgenden Punkten: Ich halte die Übertragung der Entscheidungsbefugnis des Plenums auf einzelne Mitglieder des Haushaltsausschusses – gemäß § 3 Abs. 3 StabMechGÄndGE – für äußerst problematisch. Die Budgethoheit liegt beim Bundestag als Ganzem. Eine Delegation dieser Befugnis auf den Haushaltsausschuss und noch weiter auf einige wenige – deren Status bislang nicht geklärt ist – verhindert die im Grundgesetz – Art. 38 Abs. 1 Satz 2 – garantierte Beteiligung aller Abgeordneten am parlamentarischen Willensbildungsprozess. Daneben sieht das StabMechGÄndGE für bestimmte Fälle regelmäßig eine – von der Bundesregierung definierte – besondere Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit vor, sodass automatisch statt dem Plenum nur einige wenige Abgeordnete an Entscheidungen, die zum Teil Garantien in großem Umfang betreffen, beteiligt werden. Eine Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit im Hinblick auf Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen oder für Kredite zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten, wie sie das Gesetz vorsieht, halte ich für nicht zwingend gegeben. Darüber hinaus ist die Pflicht der Bundesregierung zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates im Grundgesetz garantiert – Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Im StabMechGÄndGE – § 5 Abs. 7 – wird jedoch von „Unterrichtungsrechten“ gesprochen und somit impliziert, dass es in der Hand der Bundesregierung liegt, zu entscheiden, ob und wann sie das Parlament unterrichtet. Diese Beschränkung der Unterrichtung auf einzelne Abgeordnete halte ich für verfassungswidrig. Trotz der verfassungsrechtlichen Bedenken erscheint mir die Zustimmung zum Gesetzentwurf zwingend, da durch die Anpassung der Gewährleistungsermächtigung die auch weiterhin erforderlichen Notmaßnahmen zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit einzelner Euro-Mitgliedstaaten, durch die die Finanzstabilität in der Währungs-union insgesamt sichergestellt werden, ermöglicht werden. Betonen möchte ich jedoch, dass – wie im Entschließungsantrag meiner Fraktion ausgeführt (Drucksache 17/7175) – ich die von der Regierungskoalition vorgelegten Maßnahmen zur Bewältigung der derzeitigen Krise zwar als erforderlich, aber nicht für hinreichend erachte. Insbesondere sind weitere Maßnahmen zur Regulierung des Finanzsektors, die Einführung einer Finanztransaktionsteuer sowie die Schaffung von wirksamen Wachstumsimpulsen nötig. Ich verbinde meine Zustimmung mit der Erwartung, dass bei der vorgesehenen Einrichtung des dauerhaften Stabilitätsmechanismus ESM die Frage der Parlamentsbeteiligung verfassungskonform gelöst wird und die weiteren erforderlichen Schritte zur Krisenbewältigung gegangen werden. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus trotz massiver sachlicher Bedenken zu. Ausschlaggebend für mein Stimmverhalten sind die verantwortungslosen Alternativen der Opposition, welche die Aufgabe der deutschen Haushaltsverantwortung bedeuten würden. Zwischen dem falschen Weg, den Peer Steinbrück in seiner heutigen Rede dargestellt hat, und des aus meiner Sicht noch unzureichend ausgestalteten EFSF und einem noch unklaren ESM ist die Zustimmung zur Ertüchtigung des EFSF der verantwortungsvollere Beitrag. Ein stabiles Europa fußt auf einem stabilen Euro. Seine Stabilität liegt deshalb im tiefsten deutschen Inte-resse. Die bisherigen Versuche, den Euro dauerhaft zu stabilisieren, sind gescheitert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat nicht dazu geführt, Verstöße gegen Stabilitätskriterien wirkungsvoll zu sanktionieren. Auch die im Mai 2010 vom Bundestag beschlossenen Hilfen für Griechenland führten nicht etwa zu einer Stabilisierung der Situation. Entgegen der formulierten Erwartungen ist es Griechenland bis heute nicht gelungen, an den Kapitalmarkt zurückzukehren. Griechenland wird es auch durch die Maßnahmen, die wir einfordern, in absehbarer Zeit nicht schaffen, an die Kapitalmärkte zurückzukehren. Griechenland wird nach meiner Überzeugung nicht um eine Insolvenz herumkommen, und wir müssen Griechenland hierbei helfen und die notwenigen Mechanismen zur Verfügung stellen. Auch die derzeitige Konstruktion des Euro-Stabilisierungsfonds EFSF kann nach meiner Überzeugung auf Dauer nicht zu der notwendigen Stabilisierung führen. Er löst weder das Verschuldungsproblem, noch wird ein überzeugendes Anreizsystem zur Schuldenvermeidung in den Euro-Staaten geschaffen. Im Ergebnis ermöglicht der EFSF neue Kreditzahlungen. Wenn das Problem in der zu hohen Verschuldung einiger Staaten der Euro-Zone besteht, vergrößern wir das Problem durch weitere Garantien nur. Dieses Vorgehen verhindert das notwendige Umdenken in der gesamten Euro-Zone. Der Kapitalmarkt wird sich nicht disziplinieren, wenn er weiß, dass jedes Land stets gerettet wird. Ein Rettungsschirm darf daher nur zwei Auswege kennen: erfolgreiche Sanierung oder Insolvenz. Die Insolvenz Griechenlands ist faktisch sogar schon im Gange. Sollte für eine erfolgreiche Sanierung Griechenlands ein Schuldenschnitt unvermeidlich sein, muss ein Rettungsschirm die Kapitalisierung der Banken sicherstellen, um Ansteckungsgefahren zu minimieren. Um diese Kapitalisierung zu gewährleisten, ist allerdings heute schon absehbar, dass der Umfang des EFSF zu klein ist. Für meine heutige Abstimmung ist aber maßgeblich, dass wir besser einen Rettungsschirm haben, der 440 Milliarden Euro aktivieren kann, als gar keinen Rettungsschirm; denn nach meiner Meinung wird die griechische Umschuldung sehr zeitnah kommen. Mit meiner Zustimmung zur Ertüchtigung des EFSF möchte ich den Weg eröffnen, dass wir zügig über die richtige Konstruktion des ESM nachdenken. Nur durch ein geschlossenes Auftreten des Deutschen Bundestages haben wir die nötige Durchsetzungskraft, in Europa für unsere Position der Stabilität zu werben. Aus diesem Grund stimme ich der Ertüchtigung des EFSF trotz der aufgeführten Bedenken und großer Sorge um Europa zu. Raju Sharma (DIE LINKE): Ich habe dem Euro-Rettungsschirm EFSF heute meine Zustimmung verweigert, denn er stellt keine sinnvolle Lösung zur dauerhaften Beseitigung der Euro-Krise dar. Stattdessen ist der Euro-Schutzschirm eine Maßnahme, die dem privaten Bankensektor einseitig Vorteile zulasten aller Bürgerinnen und Bürger zukommen lässt. Deutsche Banken gehören zu den größten Gläubigern der Mitgliedstaaten der Union, bei denen Zahlungsschwierigkeiten bestehen oder erwartet werden. Im Falle Griechenlands sind es 23 Milliarden Euro, die deutsche Banken an Forderungen in den Büchern stehen haben. Im Falle Portugals sind es 34 Milliarden Euro. Nachdem diese Banken jahrzehntelang gute Gewinne mit Staatsanleihen gemacht haben, sollen nun – geht es nach der Bundesregierung – die Bürgerinnen und Bürger für das Kreditrisiko der Banken haften. Dabei haben die Banken ihre Praxis weder nach dem Platzen der Dotcom-Blase vor zehn Jahren noch nach der Erfahrung Finanzkrise des Jahres 2009 geändert. Sie zocken an den Börsen und belohnen kurzfristige Profite mit hohen Boni. Den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern darf diese Haftung nicht aufgebürdet werden. Die Bundesregierung setzte unabhängig davon, ob sie von Union, FDP, SPD oder Grünen gebildet wurde, darauf, Märkte radikal zu deregulieren und nahm die Risiken billigend in Kauf. Während die Gewinne in privater Hand blieben, mussten und müssen Verluste von der Allgemeinheit getragen werden. Wir müssen dieses Schema endlich durchbrechen und für eine Stärkung der Europäischen Idee streiten, die ein gemeinsames Europa nicht als Spielplatz ohne Regeln für die Finanzwirtschaft sieht, sondern vielmehr auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik setzt, die diesen Namen verdient und den Ursachen der Krise grundlegend entgegenwirkt. Die Vorschläge der Bundesregierung sind dazu gänzlich ungeeignet. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Der Euro ist unsere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern, liegt im deutschen und europäischen Interesse. Gerade unser Land als Exportnation profitiert von einem stabilen Euro. Die Europäische Union gewinnt durch die Gemeinschaftswährung an internationalem Gewicht. Die gegenwärtige Schuldenkrise einzelner Euro-Staaten muss daher so bekämpft werden, dass die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes gestärkt daraus hervorgehen kann. Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die europäische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockung und Erweiterung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität nicht zustimmen kann. Im Gegenteil: Eine Gefährdung des Integrationsprojekts ist dann zu befürchten, wenn die Bemühungen zur Stabilisierung des Euro nicht den erhofften Erfolg zeitigen, weil dadurch das Vertrauen in die Staaten der Euro-Zone geschwächt würde. Schon heute ist absehbar, dass die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität auch nach der Änderung des Rahmenvertrags nicht ausreichend wirksam sein kann, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Es muss daher alles daran gesetzt werden, dauerhaft tragfähige Lösungen für die europäische Staatsschuldenkrise zu entwickeln. Mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion wurden die Grundlagen für die Geldwertstabilität des Euro gelegt: der Stabilitäts- und Wachstumspakt, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das Verbot der Schuldenübernahme. Doch wie vielfache, stets sanktionslose Verstöße gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt zeigen, haben die Euro-Staaten die vorhandenen Instrumente zur Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik – unter deutscher Mitwirkung – ausgehöhlt. Im Zuge der Schuldenkrise hat die Europäische Zentralbank durch den Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt ihre geldpolitischen Kompetenzen weit überdehnt und den Weg zur Vergemeinschaftung nationaler Schulden beschritten. Mit der Übernahme von Gewährleistungen für verschuldete Staaten haben die Euro-Mitglieder die Sozialisierung privater Verluste in Kauf genommen und das Verbot der Schuldenübernahme de facto ausgehebelt. Dennoch wende ich mich nicht generell gegen Finanzhilfen. Dem ersten Hilfsprogramm für Griechenland habe ich ebenso zugestimmt wie der Errichtung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität als befristetem Rettungsschirm. In Notfällen können Finanzhilfen durchaus dazu beitragen, die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes zu wahren, sofern sie als letztes Mittel – Ultima Ratio – unter strikten Auflagen und zeitlich befristet gewährt werden. Der dadurch erkaufte Zeitgewinn muss jedoch genutzt werden – können –, um die Ursachen der Schuldenkrise zu beheben, also um die Staatsverschuldung abzubauen und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederherzustellen. Die Solidarität mit unseren europäischen Partnern stelle ich daher nicht infrage. Doch Hilfe darf nicht grenzenlos gewährt werden. Sie muss zum Ziel haben, dass ein verschuldeter Mitgliedstaat der Euro-Zone zu einer eigenverantwortlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik zurückfindet. Handeln und Haften müssen wieder zusammengeführt werden. Werden Finanzhilfen unter Konditionen vergeben, dann darf es nicht folgenlos bleiben, wenn vereinbarte Sanierungsziele nicht erreicht werden. Hier darf die Grenze von temporären Liquiditätshilfen zu dauerhaften Transferleistungen nicht überschritten werden. Andernfalls würde ein europäischer Finanzausgleich geschaffen, der keinerlei Anreiz zur Lösung der Staatsschuldenkrise böte. Stattdessen würde die Verschuldung noch vergrößert und auf andere Euro-Staaten sowie nachfolgende Generationen abgewälzt. Der Konstruktionsfehler der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität liegt darin, dass dieser Rettungsschirm einseitig auf die Gewährung von Finanzhilfen ausgerichtet ist. Solange aber die politische Zielsetzung aufrechterhalten bleibt, den Zahlungsausfall eines Euro-Mitglieds unter allen Umständen zu vermeiden, wird Investoren die Möglichkeit eröffnet, weiter gegen einzelne Staaten der Euro-Zone zu wetten, weil das Risiko solcher Wetten die Steuerzahler tragen. Der Rettungsschirm setzt damit eine Ursache für spekulative Attacken gegen Euro-Staaten. Das Kalkül solcher Investoren muss gezielt durchkreuzt werden, damit die Staaten nicht zum Spielball der Finanzmärkte werden. Andernfalls droht der Dominoeffekt, dass immer mehr Mitglieder der Euro-Zone unter den Rettungsschirm flüchten müssen – und wegen der niedrigeren Kreditzinsen auch flüchten wollen. Im Gegenzug setzen die Geberländer – und in letzter Konsequenz die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität selbst – ihre eigene Bonität aufs Spiel. Der politische Preis dieses „Euro-Rettungswesens“ wird sehr hoch sein: Die Empfängerländer werden auf Jahre hinaus ihre politische Handlungsfreiheit weitgehend verlieren. Den Geberländern droht die finanzielle Überforderung. Die Staaten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion müssen ihre Gestaltungshoheit wahrnehmen und ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Das erfordert zum Einen eine Regulierung der Finanzmärkte, die deren dienende Funktion für die volkswirtschaftliche Wertschöpfung zum Tragen bringt. Zum anderen müssen Leistungsbilanzdefizite innerhalb der Euro-Zone reduziert werden, indem die nationalen Haushalte entschuldet und wettbewerbsfähige Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen geschaffen werden. Ziel muss es sein, unter den Euro-Staaten eine gemeinsame Stabilitätskultur zu entwickeln, die im Vertrag von Maastricht angelegt ist, zu der bislang aber der politische Wille gefehlt hat. Dazu gehört die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit früheren und schärferen Sanktionen bei Regelverstößen, deren Ahndung allerdings politischem Ermessen entzogen werden muss. Des Weiteren ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank wiederherzustellen, indem der Ankauf von Staatsanleihen beendet wird. Schließlich ist das Verbot der Schuldenübernahme aufrechtzuerhalten, indem eine Restrukturierung überschuldeter Staaten ermöglicht wird. Ein Sanierungsverfahren für überschuldete Staaten ist unverzichtbar, um die Gewährung von Finanzhilfen zu begrenzen und eine Überforderung der Geberländer zu vermeiden. Gerade wer vor den Ansteckungsgefahren eines unkontrollierten Zahlungsausfalls warnt, muss ein Verfahren kontrollierter Sanierung schaffen, das rechtzeitig vor einem Zahlungsausfall eingeleitet werden kann. Ein solches Sanierungsverfahren muss einen Schuldenschnitt einschließlich der zwingenden Haftung aller Gläubiger für die von ihnen bewusst eingegangenen Risiken, die Rekapitalisierung von Banken und ein Programm für den Wiederaufbau beinhalten. Die Feststellung mangelnder Schuldentragfähigkeit ist ohne politisches Ermessen ausschließlich anhand objektiv nachprüfbarer Kriterien zu treffen. Schließlich muss im Rahmen dieses Sanierungsverfahrens – gewissermaßen als letzter denkbarer Schritt zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit – die Mitgliedschaft des überschuldeten Staates in der Euro-Zone zeitweise ausgesetzt werden können, um diesem eine Abwertung zu ermöglichen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass eine solche Vorgehensweise nicht nur die sofortige Realisierung von Verlusten mit sich bringt, sondern zusätzlich den Einsatz erheblicher finanzieller Mittel erfordert. Doch nachdem es eine günstige Lösung ohnehin nicht gibt, ist die schiere Größe der Garantiesumme und des Ausleihvolumens des Rettungsschirms sowie des deutschen Haftungsanteils zwar von hoher Bedeutung, aber nicht entscheidend. Vielmehr kommt es maßgeblich darauf an, dass die Bemühungen zur Stabilisierung des Euro – wenn sie denn schon enorme Anstrengungen erfordern – tatsächlich greifen und nicht erneut von der Wirklichkeit überholt werden. Eine nachhaltige Lösung der europäischen Staatsschuldenkrise erfordert Solidarität unter allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, namentlich unter den Mitgliedern der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Notmaßnahmen dürfen jedoch nicht die Retter selbst in Not bringen, sondern müssen Hilfe zur Selbsthilfe bleiben. Die verschuldeten Staaten müssen mit vereinten Kräften in die Lage versetzt werden, zu eigenverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die vorgeschlagene Erweiterung und Aufstockung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität geht darüber weit hinaus, weil sie keine wirksame Begrenzung von Finanzhilfen ermöglicht, sondern Anreize zur Sozialisierung privater Verluste und zur Vergemeinschaftung nationaler Schulden setzt. Dies kann ich nicht mitverantworten. Die wirtschafts- und finanzpolitische Handlungsfähigkeit der verschuldeten Staaten muss wiederhergestellt werden, wenn die Stabilität des Euro dauerhaft erhalten bleiben soll. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dem Gesetz, mit dem für Notmaßnahmen zugunsten eines Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebiets Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt 211 Milliarden Euro übernommen werden können, stimme ich nicht zu. Ich stimme mit Nein. Auch ich will der griechischen Bevölkerung helfen, aus der Krise zu kommen. Auch ich bin deshalb grundsätzlich für die Verstärkung des Rettungsschirms, EFSF, durch weitere Milliarden. Lieber wäre mir ein drastischer Schuldenschnitt oder eine geregelte Insolvenz, die so gesteuert werden könnte, dass der sozial und einkommensmäßig schwächere Teil der Bevölkerung Griechenlands nicht die Hauptlast trägt. Aber dafür fehlen noch die Regeln im EU-Währungsraum. Eine solche Regelung für eine Staatsinsolvenz muss dringend geschaffen werden. Aber solange es sie nicht gibt, bleibt nur die Hoffnung auf die Wirksamkeit des Rettungsschirmes, wenn auch die Hoffnung sehr trügerisch ist und mit weiteren finanziellen Nachschüssen in Milliardenhöhe gerechnet werden muss. Der jetzt eingeschlagene Weg birgt allerdings Risiken für das europäische Währungssystem, die schon jetzt kaum noch zu verantworten sind. Der wesentliche Grund für meine Nichtzustimmung ist die mangelhafte parlamentarische Kontrolle, die das Gesetz vorsieht. Zwar sieht es vor, dass die Bundesregierung einem EU-Beschluss, der die „haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages“ berührt, nur zustimmen darf, wenn der Bundestag vorher zustimmt. Und diese haushaltspolitische Gesamtverantwortung sei berührt bei Abschluss einer Vereinbarung über eine Notmaßnahme, wesentlicher Änderung einer solchen, Änderungen des EFSF-Rahmenvertrages und bei der Überführung von Teilen daraus in den dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus – ESM. Aber bei besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit sollen dem Gesetz zufolge die Rechte des gesamten Bundestages von nur wenigen Abgeordneten wahrgenommen werden dürfen – höchstens neun. Die Mitglieder dieses Geheimgremiums werden über die erhaltenen Informationen niemandem berichten dürfen, nicht einmal ihrem Fraktionsvorsitzenden. Ich befürchte, dies wird nicht Ausnahme, sondern die Regel werden. Dann bleibt im Regelfall der Bundestag außen vor. Denn eilbedürftig sind Notmaßnahmen stets; jedenfalls wird die Bundesregierung sich darauf berufen. Und Vertraulichkeit macht diese Bundesregierung ebenfalls sehr häufig geltend; damit habe ich bereits reichlich schlechte Erfahrungen gemacht. Mit vielen parlamentarischen Anfragen in den vergangenen Jahren wollte ich zum Beispiel erfahren, zu welchen Bedingungen Kredite, Bürgschaften oder Garantien in Milliardenhöhe für notleidende Banken gegeben wurden und wie hohe Vergütungen sowie Boni deren Manager erhielten. Daraufhin berief sich die Bundesregierung dann regelmäßig auf eben solche Vertraulichkeit wegen Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnissen der Banken und verweigerte die Antwort. Ich fürchte, ebenso wird die Bundesregierung auch in Zukunft begründen, dass Maßnahmen zur Euro-Rettung „vertraulich“ seien, sodass der Bundestag nicht beteiligt werden könne. Nach dem Gesetz soll allein die Bundesregierung die „Eilbedürftigkeit“ oder „Vertraulichkeit“ festlegen. Das Geheimgremium kann zwar widersprechen, aber nur mit Mehrheit, also nur wenn die Abgeordneten mitmachen, welche die Regierung tragen. Wenn es um vorsorgliche Notmaßnahmen geht oder um Kredite zur Rekapitalisierung von Banken oder Ankauf von Staatsanleihen, sind diese regelmäßig eilbedürftig oder vertraulich. Ausgenommen sind nur Änderungen des Rahmenvertrages, Überführung in ESM oder der erstmalige Antrag eines Mitgliedstaates. Wenn es um weniger wichtige Entscheidungen geht, muss der Haushaltsausschuss zustimmen. Aber auch dies kann ersetzt werden durch Zustimmung des Geheimgremiums, wenn die Bundesregierung Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit reklamiert. Damit wird das Haushaltsrecht des Parlaments weitgehend abgeschafft und auf ein Rumpfparlament übertragen : und zwar für Beträge in jeder Höhe, selbst wenn diese größer sind als der gesamte Bundeshaushalt eines Jahres. Das will ich mir als Bundestagsabgeordneter nicht gefallen lassen. Schlimmer noch, außer meinem Entscheidungsrecht soll selbst mein Recht auf Information und Unterrichtung darüber, was mit dem Geld der Steuerzahler geschieht, beschränkt werden können: in Fällen behaupteter besonderer Vertraulichkeit, solange die Gründe dafür angeblich fortbestehen. Das kann Jahre dauern. So etwas geht überhaupt nicht. Wie soll ich dann mein Kontrollrecht wahrnehmen? Es ist doch das Geld der Bürgerinnen und Bürger, um das ich mich sorgen soll. Das ist eine meiner wichtigsten Aufgaben als Abgeordneter. Wie soll das gehen und wie soll ich diese Aufgabe wahrnehmen können, wenn ich nichts erfahre? Es gäbe doch durchaus die Möglichkeit, alle Abgeordneten vertraulich wenigstens zu unterrichten. Ich will nicht, dass ich und 98 Prozent der Abgeordneten unwissend gehalten werden können und außen vor bleiben, wenn für den Gesamtstaat sowie alle Bürgerinnen und Bürger existenzielle Entscheidungen getroffen werden. Die Finanzmärkte sind nicht das Maß aller Dinge. Nach ihnen darf sich nicht richten, was die Vertreter des ganzen Volkes wissen und entscheiden dürfen. Dagegen stimme ich. Sabine Stüber (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu: Erstens. Die Aufstockung der Mittel des Stabilisierungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinstitute und der Reichen. Im Haftungsfall werden die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu tragen sein. Es ist dann auch eine Kürzung von Renten und anderen Sozialleistungen zu befürchten. Die Bundesregierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Deshalb lehne ich das Gesetz ab. Den Menschen in den Ländern, die Gelder aus dem europäischen Rettungsfonds erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die strengen Sparauflagen, mit denen die „Hilfe“ für diese Länder verbunden ist, treffen dort vor allem die Geringverdienenden, die Rentnerinnen und Rentner. Deshalb wird die Binnennachfrage zurückgehen. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken. Damit wird die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewährten Kredite immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland jetzt schon. Auch deshalb stimme ich dem Gesetz nicht zu. Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanzmärkte, die Beteiligung der Reichen mit riesigem Vermögen an der Schuldentilgung und eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und anderen betroffenen Ländern. Zweitens. Ich lehne das Gesetz auch deshalb ab, weil es die demokratisch-parlamentarische Kontrolle des Bundeshaushalts untergräbt. Im Rahmen des Euro-Krisenfonds, EFSF, werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen für spätere Generationen haben. Die demokratische Kontrolle kann nur funktionieren, wenn Unterrichtungen und Entscheidungen durch den zuständigen Fachausschuss, den Haushaltsausschusses, vorbereitet werden. Es ist auch nicht mit demokratischen Grundsätzen vereinbar wenn wichtige parlamentarische Entscheidungen an ein kleines Sondergremium delegiert werden. Mit dem Gesetz beugt sich der Bundestag dem Diktat der Finanzmärkte. Auch deshalb sage ich Nein zu diesem Gesetz. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Ich lehne die Aufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein marktradikales und gescheitertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weiter vertieft. Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungsschirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärften die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden dadurch nicht „beruhigt“; es wird weiter gegen Krisenstaaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Expertinnen und Experten sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht ausreichen wird! Ich lehne den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab, denn anstatt die Konsequenzen aus der gescheiterten marktradikalen Politik zu ziehen, wird der Kurs fortgesetzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schülerinnen und Schüler, Studenteninnen und Studenten, Erwerbslose und sozial Benachteiligte mit dem größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür, dass private Banken weiter spekulieren können. Damit wird die Agenda 2010 mit ihrem Sozialkahlschlag, Lohndumping und ihrer kurzsichtigen Fixierung auf den Export, nach Deutschland nun in Europa installiert. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die milliardenschweren Garantien in Haftung genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt wird, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu bringen. Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone und der EU vorgesehen sind. Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das gemeinsame Projekt eines vereinten und friedlichen Europas befindet sich durch diese Politik des grenzenlosen Kapitalismus in höchster Gefahr. Die Parlamente werden entmachtet und eine europäische „Wirtschaftsdiktatur“ errichtet. Die EU wurde von Anfang an nur im Interesse der Wirtschaft und Vermögenden gestaltet und nicht als ein Europa für alle Menschen. Meine Solidarität gilt den Menschen und nicht Banken oder Kapitalanlegern. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial, solidarisch, friedlich und demokratisch gestaltet wird. Dafür trete ich als demokratischer Sozialist ein. Da die „Euro-Rettung“ in genau die entgegengesetzte Richtung weist, kann Ich als Pro-Europäer nicht zustimmen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich lehne das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus aus folgenden Gründen ab: Als Abgeordnete der Linken bin ich proeuropäisch, denn ich will eine soziale und solidarische europäische Gemeinschaft. Doch diesem Ziel wird der erweiterte Rettungsschirm nicht gerecht. Der Rettungsschirm lässt insbesondere die Bevölkerung von Europa im Regen stehen, denn sie soll für die Krise zahlen, nicht deren Verursacher und Profiteure. Damit vertieft er die soziale und wirtschaftliche Spaltung in der europäischen Gemeinschaft, statt sie sozial, ökologisch und wirtschaftlich zu einen. Die Ursachen der Krisen, vor allem die hochspekulativen, entfesselten Finanzmärkte werden mit ihm nicht beseitigt, sondern fortgeschrieben. Um Profite von Banken, Versicherungen und Spekulationsgewinne zu sichern, werden weiter Milliarden Steuergelder verbrannt. In den Krisenländern müssen dafür die Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Rentnerinnen und Rentner Lohn- und Rentenkürzungen und den größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte hinnehmen. Auch in Deutschland haften die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die milliardenschweren Garantien. Die Alternativen zu diesem schwarz-gelben Rettungsschirm liegen längst auf dem Tisch. Die Ursachen der Krise müssen bekämpft werden – und zwar europaweit. Ohne wirksame Regulierung des Finanzmarktes wird es nicht gehen. Schädliche Finanzinstrumente wie Leerverkäufe und hochspekulative Strukturen wie Hedgefonds oder Schattenbanken gehören verboten. Zur Sicherung einer finanzunabhängigen Staatsfinanzierung sollte eine europäische Bank für öffentliche Anleihen errichtet werden. Das europäische Projekt hat nur eine Zukunft, wenn es demokratisch, sozial gerecht und wirtschaftlich gerecht gestaltet wird. Dazu braucht es dringend ein europäisches Konjunkturprogramm und eine koordinierte Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der EU. Der erweitere Euro-Rettungsschirm zielt in die entgegengesetzte Richtung und gefährdet so das Projekt Europa. Ein so untaugliches Gesetz muss ich ablehnen. Alexander Ulrich (DIE LINKE): Ja zu Europa heißt für mich ganz klar: Nein zur Ausweitung und Aufstockung des Rettungsschirms. Daher habe ich heute gegen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms gestimmt. Der Rettungsschirm rettet nicht den Euro, er rettet nicht die EU – er rettet Banken und Spekulanten. Bezahlen müssen hierfür die Beschäftigten: die Beschäftigten hier, die einen Großteil der Steuergelder zahlen, und die Beschäftigten in Griechenland, Irland und Portugal, die unter sozial verheerenden und ökonomisch völlig unsinnigen Kürzungsprogrammen leiden, die durch den Rettungsschirm diktiert werden. Steuergelder für Bankprofite – nicht mit uns! Ich habe gegen den ausgeweiteten Euro-Rettungsschirm gestimmt, weil ich glaube, dass die EU nur auf anderen Wegen aus der Krise herauskommt: Die Verursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebeten werden, die Spekulanten müssen an die Kette gelegt werden und die Banken unter öffentliche Kontrolle. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite Vermögensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe. Die EU kann nur gerettet werden, wenn sie zu einem Projekt für sozialen Frieden wird. Dazu muss die Lage der Beschäftigten und der sozial Schwachen in der gesamten EU verbessert werden. Damit müssen wir in Deutschland anfangen: Weg mit Hartz IV, her mit dem gesetzlichen Mindestlohn! Auf diese Weise bauen wir die hohen Exportüberschüsse ab und setzen so an den Ursachen der Krise an. Ein EU-weites Investitionsprogramm und eine stärkere, sozial ausgerichtete Politikkoordination sollen den sozial-ökologischen Umbau in der EU vorantreiben. Europa muss sozial sein, oder es wird nicht sein. Arnold Vaatz (CDU/CSU): Der Haushaltsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung vom 22. September 2011 – Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deutschen Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderter Fassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung. Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussempfehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklärung: Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwar notwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordneten Insolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzungen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisenländer ohne weitere Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugniserweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhaft einzudämmen. Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennoch kam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufen durch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, ob die EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, da letztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. Die Gefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigung der EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieser ordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf Kosten Deutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend notwendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihekäufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutasten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen: Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik muss sich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preisstabilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen Bundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückführen. Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nach Kapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht weiterhin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für risikoreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern überstimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutschland und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden. Beides macht eine Änderung der Satzung der EZB dringend erforderlich. Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insolvenz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen automatischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privater Gläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine bestimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, die mit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen, müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristig sollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen. Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrelevante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodass diese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamte Realwirtschaft mitzureißen. Diese Forderungen stellen nichts anderes als eine Rückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Primat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prinzip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung, dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern verfolgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiter verfolgt wird. Johanna Voß (DIE LINKE): Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Aufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein marktradikales und gescheitertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weiter vertieft. Ich wende mich entschieden gegen diese Politik des sozialen Kahlschlags, die mithilfe des Rettungsschirms diktiert wird. Die Länder, die sich unter den Rettungsschirm begeben, werden zu Kürzungen gezwungen, die auf demokratischem Wege niemals durchsetzbar wären. Während sich alle Welt zum Richter über Griechenland aufschwingt und Frau Merkel nicht müde wird zu betonen, die Griechen müssten sich noch mehr anstrengen, wird völlig übersehen, was der griechischen Bevölkerung alles abverlangt wird. Als Gegenleistung für die Finanzhilfen aus der EU mussten sie unter anderem die Mehrwertsteuer von 19 auf 23 Prozent erhöhen, die Renten kürzen, das Rentenalter erhöhen, die Preise für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent erhöhen, die öffentlichen Investitionen um 1,2 Milliarden Euro kürzen, die Mindestlöhne senken und den Kündigungsschutz lockern. Für Portugal und Irland sieht es ähnlich aus. Ich lehne das Gesetz ab, denn der Rettungsfonds ist von den Banken diktiert und nützt nur ihnen, nicht Eu-ropa, nicht Griechenland. Schon die bisherige Euro-Rettung hat die Ausweitung der Krise nicht verhindert, im Gegenteil: Die Banken und Finanzinvestoren wurden geschützt. Doch den Krisenländern warfen die Regierungen der Euro-Zone, die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und der IWF Rettungsringe aus Blei zu: Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärften die Schuldenkrise. Die Ursachen der Krise wurden vollständig ausgeblendet. Die Finanzmärkte wurden durch die „Rettungsmaßnahmen“ nicht beruhigt; es wird weiter gegen Krisenstaaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Expertinnen und Experten und sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht ausreichen wird. Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab, denn der neoliberale Kurs wird beibehalten, anstatt Konsequenzen aus der gescheiterten Politik zu ziehen. In den Krisenländern bezahlen Beschäftigte, Rentnerinnen und Rentner sowie andere Bevölkerungsgruppen mit Lohn- und Rentenkürzungen und dem größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür, dass private Banken weiter spekulieren. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Garantien genommen. Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind. Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“, ist daher schlicht falsch. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt werden, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu bringen. Statt einer weiteren „Rettung“ müssen die öffentlichen Haushalte aus der Abhängigkeit von den Kapitalmärkten befreit werden. Dazu müssen die Staaten die Möglichkeit bekommen, über eine europäische Bank für öffentliche Anleihen zinsgünstige Kredite bei der EZB aufzunehmen. Gleichzeitig ist der Schuldenstand durch eine Beteiligung der Banken und privaten Gläubiger sowie durch eine europaweite Vermögensabgabe für Mil-lionäre drastisch zu senken. Nur so können die Profiteure und Verursacher der Krise angemessen zur Kasse gebeten werden. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und demokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in genau die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus nicht zustimmen. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Ein starker gemeinsamer Wirtschaftsraum und eine starke gemeinsame Währung der Europäer liegen in unserem nationalen Interesse. Gerade unser Land als „kleine“ große Exportnation profitiert davon besonders. Europa darf nicht scheitern, wollen wir in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, wo China, Indien, die rohstoffreichen Länder Afrikas, Lateinamerikas und Russland aufstreben, bestehen. Die aktuelle Staatsschuldenkrise Europas gefährdet das. Sie kam schleichend, aber nicht unvermittelt. Auch Deutschland ist nicht nur mittelbar betroffen; über alle staatlichen Ebenen in unserem Land waren ausgeglichene Haushalte jahrzehntelang Mangelware. Die damit verbundene Lastenverschiebung in die Zukunft ist eine schwere Bürde für die jüngeren und künftige Generationen. Auch die Möglichkeit zu gestaltender Politik sinkt mit jedem weiteren Euro Staatsschulden. Wir Deutschen erkannten erfreulicherweise früher als viele andere, dass ein „Weiter-so!“ in den Abgrund führt. Die neu im Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse war die große Leistung der unionsgeführten Koalition der Jahre 2005 bis 2009. Die christlich-liberale Koalition erfüllt die Schuldenbremse nun mit Leben. Wir sind auf solidem Weg, haben die Chance, bereits vor 2016 die schwarze Null im Bundeshaushalt zu erreichen. Leider sind aber auch in Deutschland noch nicht alle Bundesländer auf so solidem Pfad wie beispielsweise der Freistaat Sachsen seit Jahren und wir nun im Bund. Der Weg ist steinig, Besitzstände stehen infrage – aber wenn etwas ohne sinnvolle Alternative ist, dann das. Und es ist auch unser Erwartungsmaßstab an unsere europäischen Partner. Die Alternative heißt aufwachsende Inflation, Staatspleite, Währungsschnitt. Schon einmal gab es eine deutsche Bundesregierung, die Stabilität für Europa suchte. Das Europabild von Helmut Kohl und Theo Waigel war eines der Stabilität. Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Euro-Kriterien waren die Pfeiler einer Euro-Zone der Stabilität. Das war damals genauso wenig Selbstzweck, wie heute. Ohne Stabilität kein dauerhaftes Prosperieren. Der Fehler von damals war, nicht schärfere Instrumente der Stabilitätskultur zu schaffen. Der ehemalige Chefvolkswirt der Bundesbank und später der EZB, Issing, sagt zu Recht, dass das Mehrheitsprinzip dazu führe, dass Sünder über Sünder richten sollen, was nicht funktioniere. Die ersten Jahre gingen gleichwohl in die richtige Richtung. Die niedergelegten Grundsätze wurden beachtet. Der erste Sündenfall war der Griechenland-Beitritt. Griechenland war zu keinem Zeitpunkt beitrittsreif, alle wussten es. Darüber hinaus waren die schon schlechten Bilanzen noch „geschönt“. CDU und CSU haben damals gewarnt. Die damalige rot-grüne Regierung Schröder hat uns das jetzige Elend rund um Griechenland damals beschert. Und es kam noch schlimmer. Danach begann Deutschland unter Kanzler Schröder, die Schuldenmacherei zur politischen Handlungsmaxime zu machen. Wir wurden vom Vorbild zum schlechten Beispiel, waren die ersten, die das 3-Prozent-Neuverschuldungskriterium nicht einhielten. Und wir fanden Nachahmer. Das war leicht, da die deutsche Regierung zunächst in Europa die richtigen Grundsätze ihrer Vorgänger zugrunde richten musste, um Schulden machen zu können. Wieder gegen den Widerstand von CDU und CSU, die vergeblich kämpften. Die damals gelegte Saat ging in den Jahren auf. Durch die weltweite Finanzkrise drehte sich die Spirale dann schneller. Die Konjunkturspritzen waren in ganz Europa schuldenfinanziert. Das Ergebnis sehen wir nun – wir stehen vor einem Scherbenhaufen und tiefer in den Kreidebüchern der Kreditgeber. Ohne Verschuldung gäbe es keine Möglichkeit zur Spekulation. Wir „kaufen“ nun bisher immerzu neue Zeit, nutzen sie aber nicht ausreichend. Die Gefahr, dass künftige Generationen später dafür viel Geld zahlen müssen, ist nicht unerheblich. Unsere Interessen als Zahlerland müssen wir stärker betonen, und, wenn das nicht möglich ist, auch die Konsequenzen zu ziehen bereit sein. Auch diese würden aber sehr schmerzhaft sein. Die uneinheitliche Sicht der Wirtschaftswissenschaft, insbesondere was „Endszenarien“ betrifft, macht die Entscheidung sehr schwierig. „Pest oder Cholera“, „Skylla oder Charybdis“ – leider sind die Szenarien genau so. Der anstehende ESM-Vertrag, der eine Überarbeitung der Europäischen Verträge darstellt, wird entscheidend. Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit früheren und schärferen Sanktionen bei Regelverstößen, deren Ahndung politischem Ermessen entzogen, automatisiert werden muss, ist die Lösung. Für Griechenland wird das alles nichts mehr helfen; hier brauchen wir eine Sonderbehandlung. Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank muss dringend wiederhergestellt werden, indem baldigst der Ankauf von Staatsanleihen beendet wird. Die Skepsis aufseiten der deutschen Regierungsfraktionen in den letzten Monaten, die auch mich betrifft, hat bereits zu spürbaren Verbesserungen geführt. Wir streiten dabei nicht mit unserer Regierung, sondern mit ihr gemeinsam in Europa. Die Beteiligungsrechte des Bundestages werden nun erheblich gestärkt, sind einzigartig in Europa. Keine neuen Länderprogramme mehr ohne vorherige Zustimmung des Bundestages. Kein „konkretes“ Geld mehr ohne vorherige Zustimmung des Bundestages. Dies wird aber gerade erst wirksam mit dem heutigen Gesetz. Die von SPD und Grünen neben dem Weg in die offene Transferunion geforderten Euro-Bonds, die Vergemeinschaftung von fremden Schulden zu unseren Lasten, wären ein katastrophales Instrument für unser Land. Sie kosteten uns Jahr für Jahr Milliarden und hätten keinen Nutzen. Im Gegenteil reizten sie geradezu dazu, weiter unsolide zu haushalten. Sie wären für Deutschland die schlechteste aller denkbaren Optionen. Dem heutigen Gesetz stimme ich zu, um die Regierung nicht zu destabilisieren, und weil endlich Verbesserungen erreicht wurden. Die rot-grüne Opposition stimmt zu, hebt aber medial das Ergebnis in den Reihen der Koalition zu einer rein politischen Machtfrage. Sie will das Ringen in unserer Fraktion um eine Sachfrage großer Tragweite zu einer Personalfrage machen. Das ist in höchstem Maße unverantwortlich. Diese Koalition und insbesondere Angela Merkel als Bundeskanzlerin sind Garanten für die bestmögliche Wahrnehmung unserer Interessen in Europa unter diesen schwierigen Bedingungen. Harald Weinberg (DIE LINKE): Ich stimme gegen die Aufstockung des Euro-Rettungsschirms, EFSF, weil ich weiß, dass es auf die Krise nur eine linke Antwort geben kann. Die Euro-Stabilisierung darf nicht auf Kosten von Löhnen, Renten und Sozialleistungen gehen. Die Aufstockung der Mittel des Stabilisierungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinstitute, der Reichen und der Superreichen. Den Menschen in den Ländern, die Mittel vom EFSF erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die diesen Ländern aufgegebenen strengen Auflagen treffen dort vor allem die Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner. Die Binnennachfrage bricht ein. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland. Auch deshalb sage ich. Nein zu dem Gesetz. Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungsschirm, denn ein Ja zu diesem erneuten Geschenk an die Banken und Spekulanten würde ein Nein zu Europa bedeuten. Es ist mehr als bedenklich, dass hier im Bundestag alle Fraktionen bis auf Die Linke eine Politik gegen die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und in Europa machen. Die Entscheidung von CDU/CSU, FDP, Grünen und SPD hilft weder Griechenland, noch rettet sie den Euro. Im Gegenteil: Diese Entscheidung ist das Todesurteil für die griechische Ökonomie. Und solange man sich nicht entschließen kann, die Verursacher und Profiteure der Krise zur Kasse zu bitten, wird auch der Euro weiter gefährdet bleiben. Auch die große Mehrheit der Beschäftigten und Gewerkschaftsmitglieder lehnt diese erneute Sozialisierung der Verluste der Banken und Spekulanten ab. Ich begrüße in diesem Sinne auch die Erklärung zur Euro-Krise des letzten Verdi-Bundeskongresses, bei dem auch ich gewesen bin, in der zu Recht kritisiert wird „dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitslose die Zeche der großen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zahlen“. Banken, die es wie die Deutsche Bank lediglich gut verstehen, Gewinne zu privatisieren, aber dann der Öffentlichkeit ihre Unternehmensrisiken überhelfen wollen, sollten vergesellschaftet werden. Auch hier heißt es ganz richtig in der Verdi-Erklärung: „Wir kritisieren, dass Rettungshilfen für Banken, Investmentfonds und Versicherungen nicht nach dem Prinzip ,Leistung nur für Gegenleistung‘ organisiert wurden.“ Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Axel Troost und Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Wir stimmen gegen den Euro-Rettungsschirm. Das Stolpern von Rettungspaket zu Rettungspaket ist hochgefährlich, weil es die Akzeptanz für ein solidarisches Europa untergräbt und die Krise verschärft. Auch dieses Rettungspaket wird die Krise nicht lösen, sondern verlängern. Bereits jetzt ist ersichtlich, dass die Mittel der EFSF nicht ausreichen werden und das nächste Rettungspaket benötigt wird. Die Griechenland aufgezwungene Schocktherapie hat die Finanzsituation des Landes wesentlich verbessert. Sie bedeutet für die Masse der Bevölkerung jedoch eine Katastrophe. Die strukturellen Probleme des Landes können nicht in kürzester Zeit behoben werden. Die drastischen Kürzungen haben die griechische Wirtschaft stranguliert und das Land in eine Rezession gestürzt. Das neue Rettungspaket stellt zwar eine Verbesserung gegenüber bisherigen Maßnahmen dar, weil es auf eine längere Frist angelegt ist und auf Strafzinsen verzichtet. Durch das späte Handeln, die fehlende Entschlossenheit und die unzureichenden Maßnahmen konnte die Krise aber endgültig auf Spanien und Italien übergreifen. Durch Euro-Anleihen hätte die Spekulation gegen einzelne Staaten der Währungsunion wirkungsvoll unterbunden werden können. Staaten würden nicht länger zum Spielball von Spekulanten und Ratingagenturen. Sie hätten auch eine Umschuldung mit einer substanziellen und nicht bloß symbolischen Beteiligung der privaten Gläubiger ermöglicht, welche die drückende griechische Schuldenlast gemindert und Risiken von den Steuerzahlern abgewendet hätte. Wir möchten auch ausdrücklich festhalten: Die Euro-Krise kann nicht ausschließlich auf Versäumnisse einzelner Staaten zurückgeführt werden. Die Währungsunion ist in der jetzigen Form eine Fehlkonstruktion, bei der Krisen wie die jetzige vorprogrammiert sind. Eine wesentliche Ursache für die Krise ist die völlig unzureichende makroökonomische Koordinierung. Die Euro-Mitgliedstaaten haben sich nicht über wesentliche Eckpunkte eines gemeinsamen Währungsraums wie Lohnentwicklung, Wirtschaftssteuerung und eine Politik des sozialen Fortschritts verständigt. Stattdessen haben sie mit der Währungs- und Freihandelsunion eine Staatenkonkurrenz festgeschrieben, von der vor allem das wirtschaftlich übermächtige Deutschland profitiert. Immer mehr Mitgliedstaaten können dem Unterbietungswettlauf um die niedrigsten Sozial-, Lohn- und Steuerkosten nichts mehr entgegensetzen, seit Wechselkurse als Ausgleichsmechanismus wegfallen. Eine Folge sind die gewaltigen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte. Die Leistungsbilanzdefizite von Staaten wie Griechenland sind nur die Kehrseite der gewaltigen Überschüsse von Staaten wie Deutschland. Sie konnten nur aufgebaut werden, weil Regierungen wie die deutsche sich keinen Deut um eine koordinierte Lohnentwicklung geschert haben. Stattdessen wurden durch Lohndumping Vorteile zu Lasten anderer Staaten und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verschafft. Um die Verwerfungen abzubauen, bedarf es zwingend Anpassungsmaßnahmen auch in Deutschland, etwa durch höhere Löhne und öffentliche Investitionen. Die Politik der Staatenkonkurrenz führt dazu, dass seit Jahren die Wohlstandszugewinne nur noch bei Reichen und Unternehmen ankommen. Diese entziehen sich zunehmend der Besteuerung, mit entsprechenden Haushaltsproblemen. Der Masse der Menschen in Europa geht es zusehends schlechter. Aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit, aber auch der Stabilität bedarf es einer Umverteilung von oben nach unten – etwa in Form einer Finanztransaktionsteuer, Steuern auf hohe Vermögen und ein entschlossenes Vorgehen gegen Steueroasen und die Finanzvehikel der Reichen und Mächtigen. Viele Probleme können nur noch international gelöst werden. Europa spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Gestaltung der Europäischen Union als Elitenprojekt war von Anfang an mit Demokratiedefiziten verbunden. Dies gilt auch für dieses Rettungspaket, das nicht das Europäische Parlament, sondern die Regierungschefs der EU zusammen mit Josef Ackermann und einem französischen Spitzenbanker ausgehandelt haben. Werden die Defizite der Währungsunion und das Demokratiedefizit nicht behoben, droht das gemeinsame Projekt gegen die Wand zu fahren. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Dr. Lutz Knopek und Joachim Günther (Plauen) (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Die Lösungen der Koalition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nicht alle bisherigen oder geplanten Maßnahmen finden unsere Zustimmung. Es bleiben bei uns erhebliche Zweifel. Einer geordneten Insolvenz zum Beispiel für Griechenland hätten wir den Vorzug gegeben. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Hilfen für andere Euro-Staaten. Wir können jedoch nicht erkennen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro-Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konnten bisher nicht benannt und Zweifel nicht ausgeräumt werden. Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelle des Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehnen wir ab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt. Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung des Deutschen Bundestages ausgehebelt wird. Leider sind auch von der Opposition keine Konzepte und Alternativen zu den Vorschlägen der Regierung gekommen, die wir für diskussionswürdig hätten halten können. Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für den Deutschen Bundestag gewesen. Aufgrund des durch die Opposition entworfenen Szenarios eines Endes der Koalition besteht nun die Notwendigkeit, die Kanzlermehrheit für das Gesetz zu sichern. Die Aussage der Vorsitzenden von Bündnis 90/ Die Grünen, Renate Künast, dass die heutige Abstimmung über den erweiterten Euro-Rettungsschirm EFSF im Bundestag als Bewährungsprobe für die schwarz-gelbe Koalition zu sehen sei, macht es uns unmöglich, nur in der Sache abzustimmen. Uns ist auch klar, dass es, falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande kommt, zu noch stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommen wird. Die Kapitalmärkte werden entsprechend reagieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene und entschlossene Koalition zu setzen. Das haben wir heute ebenfalls bei unserem Abstimmungsverhalten zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Abwägung stellen wir unsere persönlichen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvorhaben getroffenen Regelungen zurück und stimmen den Änderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabilisierungsmechanismus zu. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Werner Schieder (Weiden), Klaus Barthel, Dr. Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig), Hilde Mattheis, René Röspel und Rüdiger Veit (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Bei der namentlichen Abstimmung über die Erweiterung der EFSF haben wir mit Ja gestimmt. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir ansonsten die falsche Antikrisenpolitik der Bundesregierung unterstützen. Erstens. Wir haben zugestimmt, weil wir es grundsätzlich für richtig halten, mit einem handlungsfähigen Rettungsschirm die Attacken von spekulierenden Finanzmärkten gegen einzelne Länder abzuwehren und so die Refinanzierung von Krisenstaaten zu vernünftigen Zinsen sicherzustellen. Notwendig ist eine glaubwürdige Garantie der gesamten Euro-Zone. Deshalb bedarf es einer Institution, die als Vermittlungsstelle zwischen die Staaten, deren Refinanzierung sichergestellt werden muss, und die aggressiven Finanzmärkte, denen die einzelnen Länder mangels eigener Währung und Zentralbank schutzlos ausgeliefert sind, gestellt wird. Zweitens. Vor diesem Hintergrund ist allerdings auch der erweiterte EFSF unzureichend. Erstens, weil erneut offen bleibt, ob und in welchem Umfang einzelnen Ländern tatsächlich geholfen wird, wenn sie in Refinanzierungsschwierigkeiten kommen. Zweitens ist das begrenzte Ausleihvolumen nicht ausreichend, wenn zum Beispiel auch Länder wie Italien und Spanien in solche Schwierigkeiten – ausgelöst durch Wetten im Finanzmarktkasino – geraten. Drittens. Vielmehr ist es notwendig, den EFSF zu einer „Bank für Staatsanleihen“ weiterzuentwickeln – Euro-Bonds –, die eine verlässliche und glaubwürdige Garantie für die gesamte Euro-Zone darstellt. Diese Bank muss sich bei der EZB refinanzieren können. Ihr effektives Ausleihvolumen ist nicht begrenzt. Zudem entsteht dadurch ein hochliquider Markt für Staatsanleihen in Euro, der für Anleger attraktiv ist. Viertens. Die Bundesregierung muss ihre einseitige Fixierung auf die Staatsverschuldung als angebliche Folge nachlässiger Haushaltspolitik aufgeben. Der Anstieg der Staatsverschuldung seit 2007/2008 ist eindeutig eine Folge der Finanzkrise und damit das Resultat unregulierter Finanzmärkte. Vor der Finanzkrise hatten alle Länder nachweisbar Konsolidierungserfolge erzielt. Das Hochschnellen der Staatsschulden seit Ausbruch der Krise hätte weder durch Schuldenbremsen noch durch einen verschärften Stabilitätspakt verhindert werden können. Fünftens. Neben der Besicherung der Euro-Zone sind die Ungleichgewichte in Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanzen in den Fokus zu nehmen, die den entscheidenden realwirtschaftlichen Hintergrund für die Krise der Euro-Zone bilden. Hier braucht vor allen Dingen Deutschland als mit Abstand größtes Überschussland einen Kurswechsel hin zu einer dauerhaften Ausweitung der Binnennachfrage und einer expansiveren Lohnpolitik. Dem verwehrt sich dogmatisch die Bundesregierung und steuert so die gesamte Euro-Zone in eine anhaltende Phase der Stagnation. Mehr noch: Das Risiko des Auseinanderbrechens der Währungsunion bleibt gerade deswegen virulent mit der wahrscheinlichen Folge, dass ein Teil der Rettungskredite nicht zurückgezahlt wird und die Steuerzahler belastet werden. Für diese denkbare Entwicklung übernehmen wir mit unserer Zustimmung zum Rettungsschirm keine Verantwortung – sie liegt einzig bei der Bundesregierung. Sechstens. Die Bundesregierung hat mit ihrer fatalen Antikrisenpolitik den ökonomischen Niedergang Griechenlands beschleunigt. Ungeachtet der hausgemachten Probleme und Versäumnisse in Griechenland hat die von der Bundesregierung durchgesetzte Politik der radikalen Spardiktate und drastischer Lohn- und Ausgabenkürzungen Griechenland endgültig in eine schwere Rezession mit verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen getrieben. Die Bundesregierung trägt dadurch – aber auch, weil sie alle bisherigen Stabilisierungsmaßnahmen bis zum heute vorliegenden erweiterten EFSF immer erst monatelang abgelehnt hat – eine wesentliche Mitverantwortung für die Eskalation der Euro-Krise und die Gefahr der Ansteckung weiterer Euro-Länder. Siebentens. Wir stellen fest, dass die gegenwärtige Krise nicht verursacht worden ist von Rentnern, Arbeitnehmern und der jüngeren Generation, sondern von unregulierten und maßlosen Finanzspekulanten, die aus rücksichtloser Gier handeln. Wir treten daher weiterhin für eine strenge Regulierung und Redimensionierung der Finanzmärkte ein. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO Des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts (Tagesordnungspunkt 5) Namens und im Auftrag meiner Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen erkläre ich zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts – Drucksachen 17/5896, 17/7069 – Folgendes: Meine Fraktion wird sich der Stimme bei der geteilten Abstimmung über den oben genannten Gesetzentwurf enthalten, soweit sie die in Art. 2 Nrn. 1, 3 bis 7, 13, 16 bis 18 und Art. 10 enthaltenen Vorschriften betrifft. Die darin befindlichen Regelungen zur Beseitigung des sogenannten negativen Stimmgewichts finden zwar die uneingeschränkte Zustimmung meiner Fraktion. Denn mit ihnen wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 in adäquater Weise umgesetzt. Eine Zustimmung zu den genannten Vorschriften des Gesetzentwurfs ist meiner Fraktion dennoch nicht möglich, da selbige inzident auch die Streichung der 5-Prozent-Hürde im geltenden Wahlrecht regeln. Letzteres lehnt meine Fraktion ab. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (Tagesordnungspunkt 7) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Lassen Sie mich am Anfang meiner Rede noch einmal die wesentlichen Ziele des Gesetzes formulieren. Erstens. Wir schaffen über das Anerkennungsgesetz endlich eine verbindliche Möglichkeit, die Lebensleistung von Menschen anzuerkennen, die im Ausland ihren Berufsabschluss oder ihre Berufsqualifikation erworben haben. Dieses ist integrationspolitisch für die betroffenen Menschen ein lang erwarteter wichtiger Schritt. Zweitens. Gerade vor dem Hintergrund des aufkommenden Fachkräftemangels können wir durch das Heben dieser Potenziale eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an die durch den Mikrozensus 2008 festgestellte Anzahl von bis zu 300 000 Migrantinnen und Migranten, die im Ausland eine Ausbildung oder Qualifikation abgeschlossen haben und jetzt möglicherweise diese auch in Deutschland anerkennen lassen können. Drittens. Wir können auch für potenzielle Zuwanderer ein verbindliches Verfahren schaffen, welches ihnen hilft, bereits vor der Zuwanderung ein Anerkennungsverfahren zu durchlaufen. Und letztendlich viertens sei neben der Vereinheitlichung des Verfahrens das Ziel der Entkoppelung der Bewertung und Anerkennung von der Frage der Staatsbürgerschaft genannt. Denn bisher existierte lediglich ein Rechtsanspruch für EU-Bürger und Spätaussiedler auf ein Anerkennungsverfahren, während für alle anderen Staatsangehörigkeitsgruppen keine einheitlichen Rechtsgrundlagen bestanden. Nachdem wir bereits in der Großen Koalition im Rahmen der Qualifizierungsinitiative das Ziel zwischen Bund und Ländern definiert hatten, dass im Ausland erworbene Abschlüsse zügig auf Anerkennung geprüft werden sollen und gegebenenfalls Teilanerkennungen ausgesprochen werden sollen, setzen wir hier die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP um. Dass dieses Verfahren durchaus längere Zeit in Anspruch genommen hat, ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass nicht nur ein Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz erstellt wurde, sondern zudem weitere 60 Berufsgesetze und Verordnungen geändert werden mussten. Dieses musste nicht zuletzt in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Anerkennungsverfahren“ vorgeklärt werden. Ich erwähne das deshalb, weil der Vorwurf, dass dieses Gesetz an den Interessen der Länder vorbeigehe, aus diesem Grund nicht haltbar ist. Es war das Bestreben der Bundesregierung, auch aufgrund der Komplexität der gesamten Thematik, den Prozess der Gesetzeserstellung eng mit den Bundesländern abzustimmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaunlich, dass einige Ministerpräsidenten sich jetzt überraschend kritisch über die Inhalte und handwerkliche Umsetzung des Themas äußern. Wir als Regierungskoalition sind mit den eingebrachten Änderungen seitens der Fraktionen, aber auch der Länder, zufrieden. Wichtig war für uns als CDU/CSU, dass die Psychotherapeuten, entgegen der ursprünglichen Absicht der Bundesregierung, mit in das Gesetz aufgenommen wurden. Sie werden insoweit gegenüber den Ärzten nicht mehr benachteiligt werden. Auch dass wir uns bei den Ärzten aus Drittstaaten auf eine abgestufte Kenntnisprüfung geeinigt haben, die nicht mehr die volle staatliche Examensprüfung darstellt, lag im Interesse unserer Fraktion. Für die Gesundheitsfachberufe gilt in Zukunft, dass für Anpassungsqualifizierungen, sofern diese vom Bewerber anstatt einer Prüfung gewählt werden, der Anpassungslehrgang lediglich mit einer Erfolgskontrolle abgeschlossen werden muss. Viele weitere darüber hinausgehende Veränderungswünsche und Punkte wurden von der Bundesregierung übernommen. Die Wünsche der Opposition allerdings sind in weiten Teilen sowohl bei der Frage der Finanzierung als auch der Umsetzung nicht nur problematisch, sondern auch unrealistisch. Dem Wunsch der SPD entsprechend einen konkreten Beratungsanspruch im Gesetz zu verankern, würde dazu führen, dass wir eine Überfrachtung mit unverhältnismäßig hohen Kosten und Aufwand bekommen hätten. Die Bundesregierung erweitert das Angebot der Beratung deutlich in den nächsten Jahren. Wir selbst als Koalitionsfraktionen haben durch einen Haushaltsantrag bereits im letzten Jahr die Mittel für das Beratungs- und Informationsangebot im Rahmen des Anerkennungsverfahrens um 2 Millionen Euro erhöht. Auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf die passende Nachqualifizierung ist abzulehnen. Der Staat müsste ansonsten ein entsprechendes Angebot bereithalten, welches aufgrund der Breite der Nachfrage extrem aufwändig und teuer geworden wäre. Im Übrigen würde das zu einer Inländer-Diskriminierung führen. Die Opposition müsste wissen, dass wir eine ganze Palette von Angeboten für Qualifizierungsmaßnahmen bereits über die bestehenden Angebote abdecken. Auch die Forderung nach einer zentralen Agentur für Qualitätssicherung würde überflüssige und zusätzliche Strukturen schaffen, die bereits heute regional angeboten werden. Wir wollen und müssen die Verwaltungskosten gering halten und setzen daher auf die Eigenkoordination der Fachbereiche, wie zum Beispiel DIHK oder ZdH. Am Ende des langen Prozesses kann der Deutsche Bundestag konstatieren, dass wir mit dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz ein verbindliches Verfahren auf den Weg bringen, welches hoffentlich vielen der fast 3 Millionen Menschen, die im Ausland eine Qualifikation, einen Beruf oder ein Studium absolviert haben, dazu verhelfen wird, möglichst zügig in diesem Beruf dann auch tatsächlich zu arbeiten. Dieses Gesetz und die geänderten Berufsgesetze und Verordnungen sind dann tatsächlich ein Meilenstein im Hinblick auf die arbeitsmarktpolitische Integration. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren den Prozess der Umsetzung auch als Parlament begleiten und gegebenenfalls bei feststellbaren Problemen auch nachjustieren. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Alle Fraktionen sind sich im Bundestag einig: Eine Verbesserung im Bereich der Anerkennung von Abschlüssen aus dem Ausland ist dringend nötig. Die Zustände heute sind schlecht: Die Leute müssen sich durch einen Behördendschungel durchkämpfen, die Rechtspositionen sind teilweise schwach und unklar, es herrscht ungleiche Behandlung der Anerkennung Suchenden je nach Beruf, Nationalität sowie Herkunft der Abschlüsse. Und nicht zuletzt ist die Praxis in den einzelnen Bundesländern sehr uneinheitlich. Mit einem Wort: Es herrscht Anerkennungschaos. Und das ist nicht akzeptabel, weil die Menschen ihre Fähigkeiten hier nicht einbringen können – das verhindert Integration und das ist vor dem Hintergrund des viel beklagten Fachkräftemangels eine riesige Dummheit. Bis zu 500 000 hier lebenden Menschen wird die Anerkennung verweigert. Ihnen wollen wir Respekt entgegenbringen und eine Anerkennungskultur etablieren. In der letzten Legislaturperiode hatten wir bereits einen Anlauf für ein Anerkennungsgesetz gemacht. Vor zwei Jahren haben wir dann einen Antrag eingebracht. Erst danach zog die Bundesregierung mit Eckpunkten nach. Und dann: Dann gab es ein langes, langes Warten auf einen Gesetzentwurf. Gut Ding will Weile haben, heißt es, doch das vorliegende Ergebnis ist enttäuschend. Man hat den Eindruck: Je länger die Regierungskoalition über das Thema nachgedacht hat, desto leichtgewichtiger wurde das Gesetz. Aber zuerst das Positive: Es wird der richtige Weg beschritten, dieses Gesetz bringt Verbesserungen gegenüber der aktuellen Situation, weil ein Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren definiert wird. Aber das ist fast schon alles – CDU/CSU und FDP haben sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Dabei waren sie schon viel weiter, etwa in ihren Eckpunkten vor zwei Jahren oder im letzten Jahr mit dem Antrag der Koalition zum Thema. Doch wer wirklich Erfolg haben will, der stellt nicht nur ein Verfahren, sondern auch Beratung, Unterstützung und Förderung sicher. Der baut Brücken, die bis ins Erwerbsleben reichen. Wir haben darum eine Reihe von Verbesserungen beantragt. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf umfassende Beratung. Der fehlt im Gesetzentwurf. Es reicht nicht aus, ein Internetangebot zu machen, eine Telefonhotline zu schalten und ein Beratungsnetzwerk zu fördern – alle diese Maßnahmen können auch mit dem nächsten Haushalt wieder einkassiert werden. Wir wollen die Gebühren bundesweit einheitlich regeln und darüber hinaus sicherstellen, dass die Gebühren aufgrund ihrer Höhe nicht zur sozialen Hürde werden. Es können schnell mehrere Tausend Euro auflaufen – viele würden sich das nicht leisten können. Wir wollen die Fristen klar und einheitlich regeln, nämlich drei Monate für alle, mit der Möglichkeit einer ausnahmsweisen Verlängerung um einen Monat. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Ungleichbehandlung und die unbestimmte Öffnung der Frist sind nicht tragbar. Wir wollen ein modernes Kompetenzfeststellungsverfahren, damit nicht nur nach Papierlage, sondern nach Fähigkeiten entschieden wird. Wir wollen für diejenigen, die keine volle Anerkennung erhalten konnten, einen Rechtsanspruch auf sogenannte Anpassungsmaßnahmen, also etwa Lehrgänge, schaffen. Dazu sind Prüfungsvorbereitungsmaßnahmen und berufsspezifische Sprachkurse nötig, damit die Menschen auch wirklich eine Arbeit finden können. Dafür müssen auch Förderungen für diejenigen zur Verfügung gestellt werden, die sozial schwach sind und sich Anpassungsmaßnahmen sonst nicht leisten könnten – das könnte etwa über ein Einstiegs-BAföG oder den Ausbau bestehender Förderinstrumente geschehen. Wir wollen die Bündelung, Vereinheitlichung und Qualitätssicherung der Verfahren. Es darf nicht vom Wohnort abhängen, ob jemand eine Anerkennung erhält oder nicht. Darum müssen wir etwa eine zentrale Agentur für Anerkennungsstandards einrichten. Die ausgestellten Bescheide müssen einheitlich, klar und transparent sein, damit die Arbeitgeber damit auch etwas anfangen können. Und die Berufe müssen stärker als im Gesetzentwurf gleichbehandelt werden. Es werden teilweise sehr deutlich von den Grundsätzen des Gesetzentwurfs abweichende Regelungen für die einzelnen reglementierten Berufe und auch nach Herkunft der Abschlüsse gefunden – das ist jedenfalls in diesem Umfang nicht akzeptabel. Viele dieser Forderungen finden sich in den eigenen Papieren der Regierungskoalition wieder. Doch unsere Anträge wurden allesamt abgelehnt – CDU/CSU und FDP haben sich damit selbst widersprochen, sie haben die eigenen Forderungen abgelehnt! Ihre Argumentation muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Zu den Ausgleichsmaßnahmen teilt Staatssekretär Braun etwa mit, dass davon auszugehen sei, dass der Weiterbildungsmarkt entsprechende Angebote machen werde. Na großartig. Das macht er vielleicht, vielleicht auch nicht – die Bundesregierung kümmert sich nicht darum. Vor allem stellt sich dann auch die Frage, ob sich die Leute, die ja erst in den Beruf wollen, solche Angebote privat finanzieren können. Was sagt der Staatssekretär dazu? Kein Problem, sagt er, es gebe ja die Instrumente der Arbeitsförderung. Was er dabei mal eben vergisst zu sagen, ist, dass die Förderung von eben dieser Koalition zusammengestrichen wird: von 2011 bis 2015 26,5 Milliarden Euro weniger, dazu 12 Milliarden Kürzungen des Bundes beim Zuschuss! Und dann habe ich gestern in der Fragestunde den Staatssekretär gefragt, wie es denn mit geplanten Mehrausgaben im Bereich der Agentur für Arbeit aussieht. Die Antwort kurz gefasst lautet: Null! Dann kommt die Koalition immer mit dem Argument Inländerdiskriminierung. Man dürfe für die Antragsteller nach diesem Gesetz keine Bevorzugung beschließen. Dazu ist zu sagen: Erstens haben es immer noch vor allem Migranten schwerer auf dem Arbeitsmarkt. Und zweitens ist doch das Hauptproblem die Kürzungspolitik dieser Koalition. Die Schlussfolgerung kann doch nicht lauten, nichts mehr zu machen, sondern es müssen generelle Verbesserungen her, etwa im Rahmen eines Erwachsenenbildungsfördergesetzes. Ich betone für die SPD-Fraktion nochmal: Dieses Gesetz ist ein Fortschritt, doch es wird so nicht zu dem erhofften echten Fortschritt führen. Wir wollen nicht, dass nur geguckt wird, ob jemand passt oder nicht – und im Zweifelsfall gibt es ja genug Antragsteller aus dem Ausland. Sondern wir wollen die Menschen, die hier leben, die mittun wollen, unterstützen, ihnen eine Chance geben. Die Koalition warnt vor einem Vermittlungsverfahren, das durch den Bundesrat beschlossen werden könnte. Dieses Gesetz müsse jetzt endlich schnell in Kraft treten, man habe schon lange genug gewartet. Doch es war diese Koalition, die für die lange Wartezeit verantwortlich ist. Da kann man nicht den anderen Beteiligten sagen: „Jetzt macht mal schneller“. Vor allem aber ist es die schwachbrüstige Ausgestaltung des Gesetzes, die das Risiko erzeugt, dass der Bundesrat den Vermittlungsausschuss anruft. Der böte jedenfalls die Chance auf Verbesserungen, zu denen die Koalition trotz Sachverständigenanhörung und trotz unserer Anträge nicht willens oder in der Lage war. Aydan Özoðuz (SPD): Immerhin zeigt die Debatte eins ganz deutlich: Alle Fraktionen sind sich darin einig, dass die verbesserte Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen dringend notwendig ist. Das ist ja schon Mai eine wichtige Voraussetzung, um in einem Thema weiterzukommen, dessen Titel so klingt, als wolle man nur gegenüber Zuwanderern freundlich sein. Zur Wahrheit gehört natürlich dazu, dass wir unserer Gesellschaft und unserem Land keinen Gefallen damit tun, wenn wir Ausbildungen von Menschen schlicht nicht wahrnehmen wollen und diese sogar mit akademischen Abschlüssen als „ungelernt“ in unseren Statistiken und auf den Arbeitsämtern führen. Der Rechtsanspruch auf ein Prüfverfahren ist auch ein Stück Willkommenskultur für Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufsqualifikation. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen denen, die sich für Deutschland entschieden haben, zeigen: Wir brauchen dich mit all deinen Qualifikationen und Kompetenzen. Leider bleibt der Gesetzentwurf in vielen Passagen hinter den Erwartungen zurück. Zu wenig serviceorientiert ist das Anerkennungsverfahren und zu zaghaft ist der Gesetzentwurf bei der Finanzierung und Organisation der Nachqualifizierungen. Dies hat übrigens auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration angemerkt. Im Bundesrat werden wir uns für wesentliche Verbesserungen, die wir auch in unserem Entschließungsantrag formuliert haben, einsetzen. Dass im Gesetz ein Rechtsanspruch auf Beratung fehlt, ist ein wirkliches Manko. Viele Anspruchsberechtigte werden das ihnen zustehende Verfahren nicht durchlaufen, sollten sie überhaupt von ihrem Recht auf das Anerkennungsverfahren erfahren haben. Es fehlt auch eine umfassende Betreuung von Beginn der Antragstellung bis zum Ergebnis des gesamten Verfahrens. Das ist sehr bedauerlich, denn mit einer guten Beratung steht und fällt vieles, wie wir aus anderen Bereichen wissen, sei es im Gesundheitssystem, in der Arbeitsvermittlung oder eben bei der Anerkennung der ausländischen Berufsqualifikation. Wir alle kennen Beispiele aus unseren Wahlkreisen für fehlende Anerkennungen von Abschlüssen: Verzweifelte Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufsqualifikation wenden sich an uns. Und wir sehen, wie kompliziert sich scheinbar einfache Sachverhalte darstellen, zum Beispiel bei der Bund-Länder-Koordination, wo es gemeinsam noch einiges zu klären gibt. Mich erreichte kürzlich das Schreiben einer russischstämmigen Bürgerin, die seit 20 Jahren als Lehrerin in Russland die Fächer Deutsch, Latein, Englisch und Französisch unterrichtet hatte. Ihr Abschluss, aber auch ihre Berufserfahrung, wurden nach ihrem Umzug nach Norddeutschland nicht anerkannt; sie bekam lediglich den Hinweis, ein Studium auf Lehramt ab dem 1. Semester an der Universität aufzunehmen – nach 20 Jahren Berufserfahrung! Die Konsequenz für die Russin: Sie plant mit ihrem deutschen Ehemann die Auswanderung nach Norwegen. Genau das ist das Problem: Hochqualifizierte Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die unser Land so dringend braucht, wenden sich enttäuscht ab und wandern aus. Wir wissen doch ganz genau, dass nur bei einem kleinen Teil der Antragstellerinnen und Antragsteller die vollständige Gleichwertigkeit festgestellt werden wird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist den Betroffenen dann aber wenig geholfen: Die Finanzierung der Nachqualifikationen ist ungeklärt, ebenso fehlen Fördermaßnahmen während der Qualifizierungsphase. Wir hätten ein ambitionierteres Gesetz gebraucht. Leider haben Sie die vielen Verbesserungsvorschläge der Opposition, des Bundesrates und der Sachverständigenanhörung im Bildungsausschuss vom 6. Juli freundlich ignoriert. Wieder einmal hat die Koalitionen eigentlich gutes integrationspolitisches Vorhaben selbst ausgebremst. Heiner Kamp (FDP): Der heutige Tag verdeutlicht, wie eng Deutschland mit Europa und der restlichen Welt verwoben ist. Politik lässt sich nicht länger auf den Nationalstaat begrenzen – wir sind gezwungen, unseren Blick über die Grenzen, ja sogar über die Schlagbäume des Schengener Raums zu richten. Wir haben heute Vormittag die Weichen in Richtung einer Stabilitätsunion für Europa gestellt. Damit haben wir der europäischen Idee ein ökonomisches Fundament geschaffen und die Basis für unseren gemeinsamen Wirtschaftsraum zementiert. Zugleich haben wir dafür gesorgt, dass die parlamentarische Demokratie gestärkt wurde. Es geht kein Weg mehr am Deutschen Bundestag vorbei. Die Mitspracherechte sind nunmehr so stark wie in keinem anderen Mitgliedstaat der Euro-Länder. Nun folgt das sogenannte Anerkennungsgesetz, medial vielleicht mit ein bisschen weniger Beachtung gesegnet, doch nicht mit minderer Wirkung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Das von der schwarz-gelben Bundesregierung eingebrachte Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen ist ein bedeutender Meilenstein auf dem Weg hin zu einem modernen, offenen, leistungsstarken Land. Mit dem Anerkennungsgesetz verwirklichen wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hatte die FDP gefordert, dass es mit den Berufsschranken und Zugangssperren für qualifizierte Ausländer ein Ende haben müsse. Jeder kennt die Berichte von Ärzten oder Anwälten, die nicht praktizieren dürfen. Mit dem Anerkennungsgesetz wollen wir nun einen Schlussstrich unter dieses leidige Kapitel setzen. Wir sorgen dafür, dass die Zahl derjenigen, die an der „gläsernen Trennscheibe“ deutscher Behörden scheitern, deutlich reduziert wird und unser Land endlich von den bis dato vergeudeten Fähigkeiten und Kompetenzen dieser Menschen profitieren kann. Wir behindern Menschen nicht mehr dabei, sich selber helfen zu können – damit wird eine langjährige Forderung der Liberalen endlich Gesetzeswirklichkeit. Vorherige Regierungen wollten das Problem nicht anfassen, sind vor der Aufgabe zurückgeschreckt. Ein zu heißes Eisen für Rot-Grün! Schwarz-Rot hat zumindest über die Anerkennung von Bildungsabschlüssen nachgedacht. Insoweit kann ich die Kritik der Genossen nicht nachvollziehen. Versucht da jemand verzweifelt, Haare in die Suppe zu streuen, die er selbst nicht hat kochen können? Union und FDP haben das Thema gemeinsam und konstruktiv angepackt. Wir haben uns die nötige Zeit genommen und ein Gesetzespaket geschnürt, das sich wirklich sehen lassen kann. Das vorliegende Artikelgesetz ist ein echter Meilenstein. Mit dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz als neuem Bundesgesetz sowie den zahlreichen Anpassungen in den Berufsgesetzen und Verordnungen legen wir als Bund vor. Nun sind die Länder am Zug, in ihrem Zuständigkeitsbereich entsprechend nachzuziehen. Drei Punkte sind mir in unserem neuen Anerkennungsgesetz ganz besonders wichtig. Erstens schaffen wir mit dem neuen Gesetz die Voraussetzung dafür, den Schatz der in unserem Land noch schlummernden Qualifikationspotenziale zu heben. Wir heißen qualifizierte Migranten in Deutschland willkommen. Wir etablieren eine echte Anerkennungskultur. Wir zeigen unsere Anerkennung für Bildungsleistungen im Ausland. Viele Zugewanderte, die bereits bei uns leben, haben aus ihrer Heimat Qualifikationen mitgebracht. Bislang konnten sie diese in Deutschland nicht voll einsetzen. Oder sie mussten sie unter Wert verkaufen. Das wird sich nun ändern. Zweitens öffnen wir das Tor für qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland. Wer aus dem Ausland in Deutschland eine Arbeit anstrebt, kann bereits von seiner Heimat aus überprüfen, ob sein Abschluss hier anerkannt wird. Als Nächstes sollten wir nun ein Punktesystem für eine gesteuerte Zuwanderung auf den Weg bringen. Das Anerkennungsgesetz ist dafür ein geeignetes Instrument. Drittens ist das Anerkennungsgesetz ein wichtiger Beitrag zur Integration. Wir senden ein Zeichen des Willkommens, zeigen unseren Respekt für im Ausland erworbene Qualifikationen und geben die Chance, vorhandene Fähigkeiten zu entfalten. So können künftig auch Ärzte aus Drittstaaten approbiert werden. Wir schauen nur noch auf den Abschluss, nicht auf die Herkunft. Herzlich willkommen! Die Wachstumsfahrt der deutschen Wirtschaft ist beispiellos. Deutschland erfährt weithin Respekt und Anerkennung dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind. Unsere Wirtschaftspolitik hat die Weichen richtig gestellt. Auch wenn sich der heiße Konjunkturkessel nun langsam wieder auf normale Betriebstemperatur herunterregelt, sind die Aussichten doch im Vergleich blendend. Damit sich unsere deutsche Wachstumsfahrt so dynamisch fortsetzen kann, sind qualifizierte Fachkräfte ganz entscheidend. Und hier haben wir bereits heute Engpässe. In den Pflege- und Medizinberufen sowie im MINT-Bereich sind schon jetzt Fachkräfte knapp. Demografie und Wachstum werden dafür sorgen, dass sich dieser Trend verschärft. Einige Branchen suchen händeringend nach Fachkräften und werden nicht fündig, weil der Binnenmarkt praktisch leergefegt ist. Wir müssen attraktiver werden für qualifizierte Zuwanderung. Gemeinsam mit der Ausschöpfung der noch im Land brachliegenden Potenziale können wir dem Fachkräftemangel begegnen. Gemeinsam können wir diesem Engpass unserer deutschen Wachstumsfahrt entgegenwirken. Wir müssen die Lokomotive in Europa bleiben. Das Anerkennungsgesetz ist hierfür ein wichtiger Beitrag. Nun gilt es, das Anerkennungsgesetz gut durch das weitere parlamentarische Verfahren zu bringen. In der Stellungnahme des Bundesrates wurden einige Verbesserungsvorschläge unterbreitet, von denen viele übernommen werden konnten. Manche haben sich auch als nicht erforderlich herausgestellt. Was zählt, ist: Das Ergebnis stimmt. Das haben auch die Anhörung des Ausschusses sowie die Beratungen gezeigt. Wer jetzt einen Verzögerungs- oder Blockadekurs im Bundesrat fährt, lastet dies nicht nur den unmittelbar betroffenen Personen an. Auch diejenigen, die händeringend auf den Einsatz dieser Fachkräfte warten, werden darunter leiden. Das sind nicht nur Fabriken und Handwerksbetriebe. Das sind auch Seniorenheime und Krankenhäuser. Das sind Arztpraxen, Sozialstationen und Hospize. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, helfen Sie mit, dass wir etwas für eine echte Willkommenskultur, eine gesteuerte Zuwanderung und die Bekämpfung des Fachkräftemangels tun. Sprechen Sie mit Ihren Länderkollegen, und tragen Sie dazu bei, dass das Anerkennungsgesetz die letzten parlamentarischen Hürden nehmen kann. „Wer etwas gelten will, muss andere gelten lassen.“ Dieses Goethe-Wort trifft, was wir mit dem Anerkennungsgesetz vorhaben. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Ob sich nun nach Jahren für die in Deutschland lebende Ärztin aus Russland, die putzen gehen muss, die kamerunische Akademikerin, die trotz Promotion als Küchenhilfe arbeitet, oder den deutschen oder iranischen Ingenieur, der Taxi fahren muss, etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Sie haben jetzt zwar einen formalen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren für ihre im Ausland erworbenen Qualifikationen. Doch vielen wird dieser nicht viel bringen. Dafür hat die Bundesregierung mit ihrem inhaltlich und handwerklich unzureichenden Gesetzentwurf gesorgt. Die Bundesregierung hat die Anerkennung vom Geldbeutel und sozialen Status der Betroffenen abhängig gemacht. Viele Antragsteller müssen mit hohen Kosten – es stehen Kosten von bis zu 5 000 Euro im Raum – für ein Anerkennungsverfahren rechnen – und das bei Menschen, denen man jahrelange Dequalifizierung, Diskriminierung und Ablehnung zugemutet hat. Das ist nicht hinnehmbar. Erst schiebt die rot-grüne, dann die Große Koalition und jetzt die schwarz-gelbe Koalition diese Menschen in den Niedriglohnsektor ab. Nun sollen die Betroffenen dafür auch noch derartige Beträge zahlen. Das ist zynisch. Zynisch ist es auch, wenn die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf als großen Wurf feiert. Das ist er keinesfalls. Auf die großspurigen Ankündigungen der Bundesregierung folgt mal wieder die triste Realität ihrer Desintegrationspolitik. Erinnern wir uns: Bereits 2007 legte Die Linke einen Antrag vor (Drucksache 16/7109). Wir machten Vorschläge zur erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. Darüber hinaus forderten wir gezielte Angebote zur Ergänzungsqualifizierung und eine Beratungsstruktur. So sollte eine vollständige Anerkennung ermöglicht werden. Zwei Jahre dauerte es, bis die Bundesregierung überhaupt auf das Problem einging. Im Dezember 2009 legte sie ihre Eckpunkte vor. Erst im März 2011 folgte dann ihr Referentenentwurf bzw. im Juni ihr Gesetzentwurf. Wofür dabei vier Jahre gebraucht wurden, bleibt allerdings vollkommen unklar. Waren schon die Eckpunkte eine Enttäuschung, ist der Gesetzentwurf für die Betroffenen eine Zumutung. Die Bundesregierung kann erneut nicht einmal ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Und der war ja ohnehin noch nie besonders hoch. Mehr Transparenz und Vereinfachung sollte das Gesetz bringen. Doch das Gegenteil ist und bleibt der Fall: Die Kammern sollen die Anerkennungsverfahren durchführen. Damit ist unverändert eine Vielzahl von Anlaufstellen in 16 verschiedenen Bundesländern für die verschiedenen Berufsgruppen zuständig. Sie haben die Gelegenheit verstreichen lassen, eine einheitliche Bewertungsstelle zu schaffen. Es ist eine Zumutung für die Betroffenen, dass die Bewertung ihrer Qualifikationen dem Zufall des Wohnortes überlassen wird. Da reicht es auch nicht, wenn einzelne Kammern eine zentral zuständige Kammer benennen wollen. Wie und ob ihre angekündigte Datenbank hier Abhilfe schaffen soll, steht ja auch noch in den Sternen. Ich hoffe für die Betroffenen, dass es besser läuft als mit dem dialogorientierten Zulassungsverfahren für Studierende. Die warten nämlich schon seit Jahren. Die Linke prophezeit ihnen: Es wird zwischen den Bundesländern auch weiterhin ungleiche Bewertungsergebnisse gleicher Qualifikationen geben. Und genau das sollte ursprünglich endlich der Geschichte angehören. Das ist wirklich beschämend, dass sie nach so langer Zeit eine so mangelhafte Regelung hier vorlegen. Im Widerspruch zu den Eckpunkten wollen Sie einen Anspruch auf Beratung gesetzlich nicht verankern. Ihr Gesetz soll kostenneutral bleiben. Sie verweisen auf bestehende Beratungsangebote. Dabei ist doch klar, wo gespart wird, wenn es finanziell eng wird. Es ist doch völlig absurd, dass das Anerkennungsgesetz ohne den Einsatz zusätzlicher Mittel wirksam werden soll. Denn es müssen ja erst die notwendige Infrastruktur sowie ein Angebot an Ergänzungs- und Anpassungsqualifizierungen über das schon existierende hinaus geschaffen werden. Auch hier fehlt aus unserer Sicht eine gesetzliche Verankerung, die nicht nur für die reglementierten Berufe gilt. Die Linke fordert deshalb, 100 Millionen Euro zusätzlich für die Anpassungs- und Ergänzungsqualifikationen zur Verfügung zu stellen. Denn bereits jetzt ist absehbar, dass die aktuellen Mittel den Bedarf nicht decken können. Es wird deutlich, dass Integration für die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen lediglich eine Floskel ist. Denn wenn es darum geht, die Rahmenbedingungen für die soziale Integration zu schaffen, versagen Sie – und das wissentlich. Lassen Sie endlich den vorwurfsvollen Ton gegen Migrantinnen und Migranten, sie würden sich nicht integrieren lassen! Schüren Sie nicht weitere rechtspopulistische Vorurteile! Verhindern Sie nicht die Integration, sondern ermöglichen Sie diese endlich, indem Sie unserem Antrag zustimmen! Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die bessere Anerkennung ausländischer Berufsausbildungen und -abschlüsse in Deutschland ist seit langem überfällig. Es ist nicht hinnehmbar, dass Hunderttausende weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt oder sogar arbeitslos sind wegen einer schlechten Anerkennungspraxis. Das ist eine Missachtung der individuellen Leistung. Es ist aber auch aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen zutiefst irrational. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist zweifellos ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem bisherigen Status quo. Dass dieser Entwurf nun mit erheblicher Verzögerung vorgelegt wird, sagt nicht nur etwas über die Komplexität der Materie, sondern belegt auch, wie stark nach wie vor die Widerstände verschiedener Interessengruppen gegen eine angemessene Modernisierung auf diesem Gebiet sind. Das spiegelt sich leider auch im vorliegenden Gesetzentwurf wider, der deshalb leider teilweise hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt. Positiv ist, dass im allgemeinen Teil des Gesetzes der Zugang zum Anerkennungsverfahren nicht mehr von der Staatsangehörigkeit abhängig sein soll. Positiv ist auch, dass sich die Anpassungsmaßnahmen und Kenntnisprüfungen auf die festgestellten Defizite gegenüber dem deutschen Referenzberuf beziehen sollen und nicht eine deutsche Gesamtprüfung verlangt wird. Negativ ist aber, dass in den dann anschließenden Fachgesetzen von Regeln und Prinzipien des allgemeinen Anerkennungsgesetzes ohne erkennbaren Grund abgewichen wird. Hier haben sich offenkundig starke Lobbygruppen durchgesetzt. Dies ist auch deshalb bedauerlich, weil zu befürchten ist, dass dies erst recht geschehen wird, wenn die Bundesländer Regelungen für die Berufe treffen müssen, für die sie zuständig sind, und dann Landespolitiker zuhauf mit Horrorszenarien konfrontiert werden, als würden demnächst Klempner zur Patientenbehandlung eingesetzt und Analphabeten zur Brückenkonstruktion. Erkennbar geht es bei diesen Diskussionen meist weniger um Verbraucherschutz, sondern mehr um die Abwehr von Konkurrenz. Da ist von Bildungs- und Integrationspolitikerinnen und -politikern Standhaftigkeit gefragt. Damit komme ich zu einem weiteren Schwachpunkt im Gesetz: Gerade weil zu befürchten ist, dass nicht überall die Anerkennungsverfahren im Sinne einer besseren Integration durchgeführt werden, sondern sich zum Teil auch Exklusionsstrategien durchsetzen könnten, wäre eine zentrale Stelle für die Sicherung und Weiterentwicklung einheitlicher Qualitäts- und Verfahrensstandards, für das Wissensmanagement und die Entwicklung von Fortbildungsstrategien wichtig gewesen. Eine Hotline und eine statistische Datenbank kann dies nicht ersetzen. Hier wurde eine entscheidende Weichenstellung für einheitliche faire Verfahren versäumt. Versäumt wurde leider auch, einen Rechtsanspruch auf dezentrale Begleitung und Beratung im Verfahren im Gesetz zu verankern. Davon werden für viele die Erfolgsaussichten aber abhängig sein. Ohne Rechtsanspruch droht hier eine begleitende Beratung nach Kassenlage, und die sieht bekanntlich vielerorts mau aus. Das ganze Gesetz läuft aber ins Leere und verfehlt seinen Zweck, wenn es nicht ein ausreichendes Angebot an Anpassungsqualifizierungen und für berufsspezifisches Deutsch gibt. Hier scheint mir eine Bund-Länder-Kontroverse auf dem Rücken der Betroffenen geradezu vorprogrammiert. Die Diskussion über das Anerkennungsgesetz und über eine mögliche Diskriminierung von Inländern in diesem Zusammenhang hat auch eines deutlich gemacht: Deutschland ist bei der beruflichen Weiterbildung für Erwachsene noch Entwicklungsland. Ich wünsche mir, dass vom Anerkennungsgesetz ein Impuls dafür ausgeht, dass die Bundesregierung auf dem Feld der Erwachsenenbildungsförderung insgesamt endlich einmal Fahrt aufnimmt. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Zu Beginn zwei Fakten: In Deutschland hat jeder Fünfte Wurzeln im Ausland. Etwa zwei Drittel von ihnen sind zugewandert. Darunter sind viele, die in ihrer Heimat eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert haben. Viele von ihnen können aber nicht in ihrem Beruf arbeiten, weil die Anerkennung fehlt. Zweiter Punkt: der demografische Wandel. Deutschlandweit fehlen Pflegerinnen und Pfleger. Auf dem Land gibt es vielerorts zu wenige Ärzte. Und auch im MINT-Bereich suchen Unternehmen nach qualifizierten Fachkräften. Das Anerkennungsgesetz, über das wir heute entscheiden, leistet einen richtungsweisenden Beitrag dazu, gut qualifizierte Zuwanderer besser in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu integrieren und den Fachkräftebedarf in Deutschland zu decken. Keine Bundesregierung zuvor hat sich dieser komplexen Herausforderung gestellt: Das Gesetz umfasst mehr als 60 Berufsregelungen auf Bundesebene. Etwa 285 000 Menschen sind in unserem Land unterhalb ihrer Qualifikation beschäftigt oder arbeitslos, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden. Es ist Zeit, diesen Menschen Respekt für ihre Lebensleistung zu zollen und ihnen zu zeigen, dass ihre Qualifikationen und ihre Berufserfahrung in Deutschland gebraucht und wertgeschätzt werden. Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiges und überfälliges Signal für Integration. Wir schaffen damit einen gesetzlichen Anspruch auf Prüfung der Gleichwertigkeit ausländischer Berufsausbildungen. Ausschlaggebend wird nur mehr die Qualität des Abschlusses und nicht die Herkunft der Antragsteller sein. Spätaussiedler haben künftig ein Wahlrecht zwischen dem bisherigen und dem neuen Verfahren. Mit dem Anerkennungsgesetz legen wir erstmals bundeseinheitliche Kriterien und weitgehend einheitliche Verfahren für die Gleichwertigkeitsprüfung fest. Eine einmal festgestellte Gleichwertigkeit gilt für ganz Deutschland und kann nicht von einem Land anerkannt und vom anderen abgelehnt werden. Bei den Ausbildungsberufen ist selbst ein ablehnender Bescheid für Betriebe und Antragsteller von Nutzen: Denn zum einen werden damit die vorhandenen Qualifikationen dokumentiert, zum anderen wird erklärt, wo noch Weiterqualifizierungsbedarf besteht. Wer jetzt aber daherkommt und einen allgemeinen Anspruch auf Nachqualifizierung fordert, schießt weit über das Ziel hinaus. Das wäre ein klarer Fall von Inländerdiskriminierung. Klar ist, dass Nachqualifizierungen notwendig sind. Die gibt es aber auch heute schon. Sie stehen zur Verfügung, insbesondere über die Förderung der Arbeitsverwaltung und die Instrumente der individuellen Bildungsfinanzierung. An die Adresse einiger Länder sage ich: Mich verwundert an so mancher Stelle die Kritik, die jetzt laut wird. In einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben wir konkrete Vorschläge zur Vereinheitlichung der Verwaltungspraxis erarbeitet. Diese Vorschläge werden von den Ministerpräsidenten im Oktober erneut beraten. Ich gehe davon aus, dass sich die Ministerpräsidenten an ihre Beschlüsse vom Dezember 2010 erinnern, in denen sie eine schnelle und unbürokratische Neuregelung auch in den Ländern angemahnt haben. Jetzt sind die Länder am Zug. Das Bundesgesetz liegt vor! Das Anerkennungsverfahren haben wir bewusst bei den Stellen angesiedelt, wo schon Sachverstand und Erfahrung vorliegen. Neu ist, dass die Aufgaben auf gemeinsame Stellen übertragen und gebündelt werden können. Die Industrie- und Handelskammern beispielsweise bereiten schon den Aufbau einer zentralen Anerkennungsstelle in Nürnberg vor. Mitentscheidend für den Erfolg des Anerkennungsgesetzes ist ein gut ausgebautes Beratungssystem. In den nächsten drei Jahren investiert der Bund dafür rund 75 Millionen Euro. Wir verzahnen arbeitsmarktbezogene Unterstützungsleistungen in regionalen Netzwerken. Wir richten eine Telefonhotline, ein Informationsportal und bundesweit ein flächendeckendes Netz von Anlaufstellen zur Erstinformation ein. Ein Großteil dieser Erstanlaufstellen arbeitet bereits sehr erfolgreich – es kann also keine Rede davon sein, dass der Bund keine Beratung anbietet. Im Interesse der Menschen mit ausländischen Qualifikationen bitte ich Sie um Unterstützung für dieses Gesetz. Das Anerkennungsgesetz gibt uns die Möglichkeit, angesichts des demografischen Wandels Potenziale zu nutzen, die derzeit zum Schlummern verdammt sind. Wir brauchen dieses Gesetz. Es ist Teil einer Integrationskultur, Teil einer Willkommenskultur. Wer jetzt das Gesetz verzögert, schadet vor allem den Betroffenen, die auf das Gesetz warten! Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen (Tagesordnungspunkt 10) Michael Frieser (CDU/CSU): Was soll man groß zu dem Antrag der SPD sagen? Denn eigentlich ist er völlig indiskutabel und erscheint mir als fraktioneller Schnellschuss. Er bietet mir deshalb in erster Linie als Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion eine gute Gelegenheit, mich hier einmal grundsätzlich zum Thema Beschäftigtendatenschutz zu äußern, bevor wir in den nächsten Wochen das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung erfolgreich beenden werden. Auffällig ist: Sie stehen mit Ihrem heutigen Antrag in Widerspruch zu Ihren bisherigen Zielen und Vorschlägen im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes. Und Sie fallen mit Ihren Forderungen weit hinter Ihre bisherigen Grundsätze zurück. Dies fällt auf, wenn man einmal den Vorschlag Ihres ehemaligen Bundesarbeitsministers Olaf Scholz danebenlegt; den Vorschlag haben Sie ja vor nicht langer Zeit hier in den Bundestag eingebracht. So sollte man davon ausgehen, dass er noch für Sie Gültigkeit hat. Warum Sie davon jetzt abweichen, müssen Sie uns hier erklären. Ich darf Sie erinnern, dass Olaf Scholz mit seinem Entwurf die bestehenden Vorschriften und Gerichtsurteile zum Beschäftigtendatenschutz vereinheitlichen wollte. Dies gesetzlich zu regeln, hat er allerdings nicht hinbekommen. Es ist die christlich-liberale Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Merkel, die den ersten Gesetzentwurf für ein solches Gesetz dem Bundestag vorlegt. Und dieser Entwurf verfolgt genau zwei Grundsätze: Es wird ein Ansatz verfolgt, der zwischen den berechtigten Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgleicht, der sich weitgehend an der vorhandenen Rechtsprechung orientiert. Denn es gibt zwar bereits heute zu vielen Fragen des Beschäftigtendatenschutzes eine einzelfallbezogene Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Diese ist allerdings oft uneinheitlich. Obergerichtliche Urteile sind selten. Der Gesetzentwurf kann daher mit seinen Regelungen zu größerer Rechtssicherheit im Beschäftigungsverhältnis beitragen, für beide Seiten; dies scheinen die Vertreter auf den Oppositionsbänken immer zu vergessen. Die Bundesregierung geht in ihrem Entwurf zum Wohle der Beschäftigten in einigen Bereichen weit über die gegenwärtige Rechtsprechung hinaus. Hierzu gehört eindeutig das Verbot der Überwachung von Mitarbeitern durch versteckte Kameras. Daran werden wir nicht rütteln. Denn diese sogenannte verdeckte Videoüberwachung wird nicht zuletzt aufgrund der vergangenen Datenschutzskandale im Gesetzentwurf ausdrücklich verboten. Es ist meines Erachtens ein für den Schutz der legitimen Interessen der Beschäftigten zentraler Punkt und stellt eine deutliche Verbesserung der gegenwärtigen Rechtslage dar. Ich will hier noch einmal betonen: Die Bundesregierung geht mit ihrem Gesetzentwurf einen bemerkenswerten Schritt: Die Bundesregierung unterbreitete mit ihrem Entwurf dem Bundestag einen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung einer Materie, nach welcher viele Datenschutzexperten mit wachsender Vehemenz seit den 1990er-Jahren gerufen haben. Der Grund für das bisherige Zögern der Bundesregierungen liegt auf der Hand: Der Datenschutz im Beschäftigungsverhältnis steht in einem starken Interessengegensatz von Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmern andererseits. Die Arbeitnehmer sollen sicher vor Bespitzelungen sein. Gleichzeitig müssen aber den Arbeitgebern verlässliche Instrumente für den Kampf gegen Korruption an die Hand gegeben werden. Selbstverständlich geht es bei der Frage nach Datenschutz in Unternehmen auch um den Umgang mit einer wachsender Korruptionsanfälligkeit, um den Umgang mit Geheimnisverrat und um die Bekämpfung von Straftaten. Ich erinnere mich an unsere Debatte im Februar, als ich Ihnen, Herr Kollege Reichenbach, den Begriff „Compliance“ erklären musste. Als kleine Erinnerung: Unter dem Begriff „Compliance“ versteht man das Durchsetzen und das Einhalten von Rechtsvorschriften. Ein Unternehmen kann sich beispielsweise dem Deutschen Corporate Governance Kodex unterwerfen. Grundsätzlich geht es um die legalen Grundlagen. Das kann ich nicht ins Belieben des Unternehmers, des Arbeitgebers oder der Betriebsverfassung stellen. Vielmehr geht es darum, dass sich das Unternehmen verpflichtet, alles zu tun, damit diese Grundregeln wirklich eingehalten werden. Daher ist das Ziel des Gesetzes, einen interessenausgleichenden Ansatz zu verfolgen. Genau diesen Grundsatz aber haben Sie vergessen. Sie sollten sich vor einer Grabenkampfrhetorik hüten: Es ist schlichtweg falsch, die Erhebung der Daten des Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber reflexhaft als einen unzulässigen Eingriff, als etwas Anrüchiges und Unerlaubtes zu verurteilen. Es ist in einem Bundesgesetz nun einmal nicht ausreichend, alles pauschal zu verbieten. Und es reicht auch die pauschale Forderung nach einer Verhinderung von vorangegangenen Datenschutzskandalen nicht, denn dies würde nichts anderes sein als die Forderung: Lasst uns endlich verbieten, was schon illegal ist. Ich helfe Ihnen hier nicht, ein falsches Bild zu malen. Es gibt neben den Daten, die für einen ordnungsgemäßen Betrieb eines Unternehmens erforderlich sind, auch viele Daten, die zugunsten der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber erfragt werden: Hierzu gehören nicht nur die Kontonummer, bei der monatlich das Gehalt eingeht, sondern auch Unternehmens- und Kapitalbeteiligungen, Bonus- und Rabattprogramme, gesundheitliche Vorsorgeprogramme und betriebliche Versicherungen. Bereits in der vorliegenden Fassung der Regierung stellt der Gesetzentwurf eine Verbesserung und Ausweitung des Schutzes der Arbeitnehmerdaten dar. Das Gesetz wird ganz unmittelbar mehr als 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland betreffen. Sie alle werden in diesem nachlesen können, welche personenbezogenen Daten der Arbeitgeber erheben, speichern und verarbeiten darf. Um die Einheitlichkeit des Datenschutzrechts zu gewährleisten, haben wir uns darauf geeinigt, den Beschäftigtendatenschutz im Bundesdatenschutzgesetz, BDSG, aufzunehmen. Es wäre nicht sinnvoll, den Datenschutz im Betrieb über mehrere Gesetze zu verstreuen. Dies hat praktische Vorteile für die Anwendung des Gesetzes durch die betrieblichen Datenschutzbeauftragten und für die Angestellten in den Betrieben und Unternehmen. Diese Entscheidung wurde auch von den Sachverständigen in der Anhörung ausdrücklich begrüßt. In den bisherigen Beratungen wurde deutlich, dass an dem derzeitigen Entwurf an der einen oder anderen Stelle noch technische Änderungen vorzunehmen sind. Dies ist begründet mit der Tatsache, dass wir eine Reihe von konzeptionellen Richtlinien und Betriebsvereinbarungen, aber vor allem eine umfassende Rechtsprechung vorfinden. Das macht es sehr schwierig, eine gelebte Praxis ausfindig zu machen. Ich selber kann mit Blick auf meine Tätigkeit in der freien Wirtschaft sagen: Es ist wichtig und notwendig, sich sehr tief einzuarbeiten, um zu wissen, wie der Datenschutz in den Unternehmen praktisch umgesetzt werden kann. Es geht natürlich um die Frage, inwieweit verschiedene Sphären gegeneinander abgewogen werden können. Auf der einen Seite haben wir die Personalität des Mitarbeiters, des Arbeitnehmers. Er unterliegt der informationellen Selbstbestimmung und muss in seinem Bereich geschützt werden. Auf der anderen Seite haben wir das Rechtssubjekt des Mitarbeiters, der seinen Arbeitsvertrag erfüllen muss. Der Mitarbeiter hinterlässt zu jeder Zeit Daten, die zweierlei Zwecken dienen: erstens der Selbstdefinition als Person, zweitens der Erbringung der Arbeit und der Umsetzung des Arbeitsauftrages. Es ist deshalb entscheidend, dass wir an dieser Stelle die Unternehmen stärken und gleichzeitig die Mitarbeiter schützen; hier liegt die Herausforderung bei diesem Gesetzentwurf. Aus meiner Sicht gehört hierzu das zu strikte Verbot abweichender betrieblicher und individueller Vereinbarungen. Hier gilt es, eine Regelung zu finden, die dem Gedanken der Privatautonomie ausreichend Rechnung trägt, ohne den Schutz des Arbeitnehmers zu vernachlässigen. Unsere Aufgabe ist es daher, Fälle zu identifizieren, in denen wir solche Abweichungen zulassen wollen, und solche, bei denen es der Schutz des Arbeitnehmers verbietet. Die Regelung wird es jedoch nicht zulassen, das Schutzniveau des Beschäftigtendatenschutzgesetzes zu unterschreiten. Erforderlich sind in meinen Augen darüber hinaus Regelungen über eine (auch) private Nutzung von Telekommunikationsmitteln des Arbeitgebers. Es geht darum, wie Mitarbeiter am Arbeitsplatz mit ihren Daten umgehen. Dürfen sie privat telefonieren? Dürfen sie privat ins Internet? Dürfen sie private E-Mails verwenden? Auch hier kann es Fälle geben, in denen der Arbeitgeber unter engen Voraussetzungen Einblick in bestimmte Daten des Arbeitnehmers nehmen können muss. Die Alternative wäre, die private Nutzung des Internets und Telefons am Arbeitsplatz vollständig zu untersagen – eine lebensfremde Vorstellung. Zudem werden wir eine Regelung schaffen, die den Datenaustausch innerhalb eines Konzerns erleichtert. Diese Überlegungen werden Gegenstand eines parlamentarischen Änderungsantrages sein. Ich bin aber überzeugt, dass dieses Gesetz beiden Seiten – sowohl dem Arbeitnehmer wie auch dem Arbeitgeber – Vorteile bringen wird. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): In Ihrem Antrag erheben Sie neben der Forderung nach einer Vielzahl von kleinteiligen Regelungen für einen zukünftigen Beschäftigtendatenschutz auch die grundsätzliche Forderung, den Beschäftigtendatenschutz in einem eigenständigen Gesetz zu regeln. Dies ist jedoch nicht nur antiquiert, sondern geht auch völlig an der Sache vorbei. Ihr Antrag belegt bereits die Verknüpfungen und Verbindungen zum allgemeinen Datenschutzrecht. Sie nehmen schließlich fortwährend auf die allgemeinen Grundprinzipien des geltenden Datenschutzrechts Bezug. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich gelten der Grundsatz der Datenvermeidung und der Datensparsamkeit, der Zweckbindung aber auch die Möglichkeit der Einwilligung in die Erhebung und Verarbeitung von Daten auch im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Es ist daher wesentlich effizienter, den Beschäftigtendatenschutz in das bestehende Bundesdatenschutzgesetz einzufügen und ihn so unmittelbar mit den bereits vorhandenen Normen zu verbinden. Zugegeben, im Verhältnis Arbeitgeber zum Arbeitnehmer kann es auch Konstellationen geben, in denen von den vorgenannten Prinzipien abgewichen werden muss. Nur kann dies mit Sicherheit nicht in dem Umfang erfolgen, den Sie in Ihrem Antrag darstellen. Denn schließlich gilt auch für den Beschäftigtendatenschutz der Grundsatz, dass ein Interessenausgleich zwischen den widerstreitenden Grundrechten der Beteiligten gefunden werden muss. Ich möchte an dieser Stelle daher auch noch einmal deutlich daran erinnern, dass nicht nur Arbeitnehmer Grundrechte haben, auf die sie sich berufen können, sondern selbstverständlich auch die Arbeitgeber bzw. Unternehmen. Es muss daher auch in Zukunft die Möglichkeit für die Unternehmen bestehen, Qualitätskontrollen durchzuführen und Fehlverhalten aufzudecken, um so wirksam ihr eigenes und das Eigentum der Mitarbeiter schützen zu können. In Ihrem Antrag vermisse ich jedoch diese Gedanken völlig. Einseitig fordern Sie neben erheblichen Einschränkungen beim automatisierten Datenabgleich auch ein generelles Verbot der Videoüberwachung von Beschäftigten zur Qualitätskontrolle. Ist Ihnen bewusst, dass Sie damit in erheblichem Maße den Wirtschaftsstandort Deutschland belasten würden? Schließlich genießt Deutschland in der Welt gerade aufgrund seiner Präzision und hohen Qualität bei Waren und Dienstleistungen einen exzellenten Ruf. „Made in Germany“ ist ein echtes Qualitätsmerkmal, welches auch zukünftig Bestand haben muss. Dies setzt aber selbstverständlich auch Qualitätskontrollen und gegebenenfalls auch Videoüberwachung voraus. Zudem führen Sie mit Ihrem Antrag die mittlerweile in Deutschland etablierte Corporate-Governance-Regelung völlig ad absurdum. Unternehmensinterne Regeln haben seit den 90er-Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Sie sorgen vor Ort für Transparenz und einen angemessenen Interessenausgleich. Oftmals vermitteln sie den Arbeitnehmern sogar noch ein höheres Schutzniveau als das geltende Recht. Folgt man jedoch Ihrem Antrag, kann die Einhaltung dieser unternehmensinternen Regelungen zukünftig überhaupt nicht mehr überprüft werden. Schließlich ist eine Datenerhebung zur Aufklärung von Verstößen nicht mehr erlaubt. Darüber hinaus sollen nach Ihrem Antrag Beschäftigte zukünftig datenschutzrechtliche Missstände gar nicht erst ihrem Arbeitgeber mehr melden, wozu sie übrigens zivilrechtlich verpflichtet sind, sondern direkt den Aufsichtsbehörden. Würden wir alle diese Vorschläge umsetzen, würden wir im Gegenzug nicht einen effektiven Schutz von Beschäftigtendaten erhalten, sondern nur ein schlechtes Betriebsklima in den deutschen Unternehmen. Die christlich-liberale Koalition verfolgt deswegen auch ein anderes Ziel: Sie will die bisher in vielen einzelgerichtlichen Entscheidungen der Arbeits-, Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit getroffenen grundlegenden Aussagen zum Beschäftigtendatenschutz kodifizieren und so für mehr Rechtssicherheit und Transparenz für alle Beteiligten sorgen. Die Dauer des Gesetzgebungsverfahrens zeigt, dass es sich dabei nicht nur um eine rechtlich schwierige Materie handelt, sondern auch, dass wir es uns bei der Abwägung der verschiedenen Interessen nicht so einfach wie die Opposition machen. Uns ist das Spannungsfeld, in dem sich der Beschäftigtendatenschutz bewegt, sehr wohl bewusst. Wir wollen die berechtigen wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen auf der einen und das Interesse des Arbeitnehmers an der Einhaltung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf der anderen Seite zu einem schonenden Ausgleich führen und keine Schieflagen produzieren. Wir halten daher Erleichterungen für die Weitergabe von bereits erhobenen Daten innerhalb eines Konzerns für überlegenswert. Schließlich macht es mehr Sinn einen rechtlichen Rahmen für eine solche erleichterte Weitergabe zu schaffen, als die Daten erneut bei den Betroffenen zu erheben. Wir überlassen Verwendungs- und Verwertungsgebote den zuständigen Gerichten. Schließlich haben Verwendungs- und Verwertungsgebote im deutschen Recht einen prozessualen Charakter und sind immer auch auf den vorliegenden Einzelfall zu beziehen. Eine gesetzliche Regelung wird daher immer unvollständig sein. Wir lassen selbstverständlich Fragen zu der Ausübung eines Ehrenamtes zu. Schließlich setzen wir uns für die Förderung des Ehrenamtes ein. Ehrenamtlichkeit mobilisiert Kompetenz und Einsatz für vielfältige soziale und kulturelle Zwecke, die professionell so zielgenau gar nicht verfügbar gemacht werden könnten. Viele Betriebe unterstützen daher zu Recht ehrenamtliches Engagement mit Flexibilität bei den Arbeitszeiten von Mitarbeitern oder Auszubildenden. Ausbildungserfolg und berufliche Leistungsfähigkeit profitieren von den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in ehrenamtlichen Aufgaben erworben werden. Es ist daher völlig absurd, einem Bewerber die Gelegenheit zu nehmen, darzustellen, wie und mit welchem Einsatz er sich für unsere Gesellschaft einsetzt. Ich denke, es ist deutlich geworden, dass sich die christlich-liberale Koalition bereits beim Grundverständnis eines effektiven Beschäftigtendatenschutzes von der Opposition unterscheidet. Auch wenn die Ergänzung des vorgelegten Gesetzentwurfs der Bundesregierung noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen wird, wird sie im Ergebnis zu einem ausgewogenen und schonenden Ausgleich der Interessen führen. Dies wird dann auch zu mehr Rechtssicherheit bei allen Beteiligten führen. Josip Juratovic (SPD): Wir sprechen hier nicht zum ersten Mal über den Arbeitnehmerdatenschutz. Einerseits freue ich mich darüber, dass dieses Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt. Andererseits ist es aber ein Armutszeugnis, dass es die Bundesregierung trotz höchster Dringlichkeit immer noch nicht geschafft hat, dazu ein wirksames Gesetz auf den Weg zu bringen. Wir Sozialdemokraten hatten schon in der großen Koalition ein solches Gesetz eingefordert. Jedoch kam immer der damalige Innenminister Schäuble dazwischen. Es ist schön, dass die Regierung nun lernfähig ist und die Bedeutung des Themas erkennt. Schließlich geht es hier um das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das in einigen Betrieben – ich nenne nur Telekom und Lidl – mit Füßen getreten wird. Wir alle wissen, dass sich die Arbeitswelt entschieden verändert hat. Als ich am Fließband stand, waren alle meine Daten auf einer Karteikarte vermerkt. Wenn mein Arbeitgeber kontrollieren wollte, wofür ich meine Arbeitszeit nutze, konnte er erst nach Ankündigung und Zustimmung des Betriebsrates vorbeikommen und mir zuschauen. Das war sehr transparent. Heute aber gibt es Unternehmen, die wie Kraken Daten sammeln zu allen Lebenslagen, sei es zur Arbeit, zu Krankheiten oder zum Familienstand. Und damit geschieht viel Missbrauch. Oft wird dieser Datenmissbrauch als Kavaliersdelikt abgetan. Aber ein solcher Missbrauch verletzt nicht nur die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Ein solcher Missbrauch gefährdet auch die Leistungsfähigkeit der Betriebe; denn in einem Betrieb, in dem die Mitarbeiter ausgespäht werden, hat keiner mehr Lust, sich für das Unternehmen einzusetzen. Wir brauchen also klare Verhältnisse im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes, damit der Betriebsfrieden erhalten bleibt und der Betrieb mit einem guten Arbeitsklima wirtschaftlich erfolgreich ist. Wir Sozialdemokraten fordern seit langem, dass dies in einem eigenständigen Gesetz geregelt werden soll. Leider will die Bundesregierung den Arbeitnehmerdatenschutz jedoch verwurschteln im Bundesdatenschutzgesetz. Wenn das so kommt, brauchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber unnötigen zusätzlichen Rechtsbeistand, um zu wissen, was jetzt Sache ist. Das Ziel des Arbeitnehmerdatenschutzes muss aber sein, den Menschen Recht und Sicherheit zu geben, anstatt die Juristen zu beschäftigen. In unserem Antrag fordern wir daher detailliert, was sich am Gesetzentwurf der Bundesregierung ändern muss. Derzeit ist dies nämlich eher der Entwurf eines Arbeitnehmerüberwachungsgesetzes. Lassen Sie mich nur auf wenige Beispiele eingehen: Erstens muss im Gesetzentwurf geregelt sein, dass Ortungssysteme nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn sie der Sicherheit des Beschäftigten dienen, also nicht zur Überwachung, wo sich der Mitarbeiter gerade befindet. Zweitens dürfen Daten in einem Konzern nicht einfach an alle Konzernteile weitergegeben werden. Drittens muss die Videokontrolle stark eingeschränkt werden. In Räumen, die auch privat genutzt werden, wie Pausen- und Umkleideräumen, darf keine Kamera mitlaufen. Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, glauben Sie mir, es lohnt sich, die Forderungen aus unserem Antrag in den Gesetzentwurf der Bundesregierung einzubauen; denn nur dann haben wir einen wirksamen Arbeitnehmerdatenschutz, der den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern Nutzen bringt. Gerold Reichenbach (SPD): Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Ein Beschäftigter in einem Unternehmen soll vertrauliche Informationen an die Medien gegeben haben. Die Konzernspitze will wissen, wer. Sie weist die Überwachung der Telefonverbindungsdaten von Mitarbeitern, Aufsichtsräten und Arbeitnehmervertretern an. Daten werden automatisiert abgeglichen. Mitarbeiter werden videoüberwacht. Vorgänge wie diese haben in den letzten Jahren immer wieder zu Skandalen geführt. Sie haben deutlich gemacht, dass beim Arbeitnehmerdatenschutz in unserem Land einiges im Argen liegt. Wir brauchen dringend zusätzliche Regelungen zum Schutze der Arbeitnehmer. Wir haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Sie wollten dem nicht folgen, und die Regierung hat einen eigenen vorgelegt. Dabei haben Sie schon bei der Vorlage im Parlament angekündigt, dass der Gesetzesvorschlag so nicht bleiben kann, sondern geändert werden muss. Und jetzt ist ein Jahr verstrichen, ohne dass etwas passiert ist. Die Experten haben bei der Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages im Mai 2011 den Gesetzentwurf überwiegend kritisiert. Er ist völlig ungeeignet, die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten zu schützen. Aber statt aus diesem Verriss der Sachverständigen Konsequenzen zu ziehen, haben Sie in einem Eckpunktepapier weitere Verschlechterungen angedroht. Der Gesetzentwurf erlaubt den automatisierten Datenabgleich und die Ausspähung ohne Kenntnis des Beschäftigten bereits dann, wenn nur der Verdacht auf eine schwerwiegende Pflichtverletzung besteht. Private Telefongespräche und E-Mails sollen ausgewertet werden können. Der Arbeitgeber darf sogar über einen bestimmten Zeitraum seinen Beschäftigten durch einen Detektiv beobachten lassen, wenn der Verdacht auf eine schwerwiegende Pflichtverletzung besteht, die einen wichtigen Kündigungsgrund darstellen würde. Sie erlauben die ununterbrochene Videoüberwachung der Beschäftigten, wenn der Arbeitgeber sie für die Qualitätskontrolle erforderlich hält. Sie legalisieren Überwachungsmaßnahmen von Arbeitgebern, die einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten darstellen. Die Würde des Arbeitnehmers am Arbeitsplätz wird für Sie zum Abwägungsgegenstand gegenüber Betriebs- und Arbeitgeberinteressen. Ein Szenario wie am Anfang dargestellt, wäre kein Skandal mehr. Es wäre legal. Sie wollen jetzt auch noch, dass der ohnehin schwache Schutz des Gesetzes durch die Einwilligung des Arbeitnehmers und durch Betriebsvereinbarungen ausgehebelt werden kann. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die Konsequenzen aus der Anhörung zu ziehen. Die Würde des Menschen hört nicht am Werkstor auf. Wir wollen sie auch am Werkstor schützen. Darum fordern wir ein Gesetz, das den Arbeitnehmer bereits bei der Bewerbung schützt. Informationen im Netz und bei Dritten sollen nur eingeholt werden dürfen, wenn der Bewerber sie auch als Referenz angegeben hat. Seien wir doch einmal ehrlich: Wenn ein Arbeitgeber bei einem Bewerber anruft und sagt, wir möchten Sie gerne zum Bewerbungsgespräch einladen, aber geben Sie uns doch bitte vorher Ihre „freiwillige“ Einwilligung, dass wir sämtliche Daten über sie erheben dürfen – wer würde denn Nein sagen, wenn er Arbeit sucht? Wir fordern ein Gesetz, das die anonyme Datenerhebung bzw. den Datenabgleich nur zur Aufklärung von Straftaten und nur anlassbezogen zulässt, etwa bei Untreue oder Bestechlichkeit. Ein Gesetz, das arbeitsrechtlich untersagte Fragen, etwa nach Schwangerschaft, nicht offen lässt. Wir wollen auch keine Betriebsvereinbarungen zuungunsten der Beschäftigten oder die nachträgliche Einführung eines Konzernprivilegs. Ziehen sie den Gesetzentwurf zurück, er macht den Skandal legal. Lassen Sie uns die Regierung auffordern, ein Gesetz vorzulegen, das die Arbeitnehmer wirklich vor Datenmissbrauch und exzessiver Überwachung schützt. Die Eckpunkte dazu haben wir in unserem Antrag beschrieben. Stimmen Sie ihm zu. Gisela Piltz (FDP): Grundsätzlich finde ich es ja immer erfreulich, wenn man sich an die eigenen guten Vorsätze von einst erinnert; denn auch Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hatten einmal den wenigstens gut gemeinten Vorsatz, den Datenschutz am Arbeitsplatz reformieren zu wollen. In der Zeit von 1998 bis 2009 blieb es dann auch bei diesem Vorsatz, und der Arbeitnehmerdatenschutz geriet bei Ihnen in Vergessenheit. Über ein Jahrzehnt haben Sie es nicht auf die Reihe bekommen, Ihrer Ankündigungspolitik auch Taten folgen zu lassen. Jetzt kommen Sie mit Anträgen und werfen sich quasi hinter den fahrenden Zug. Im Gegensatz zu Ihnen halten wir unsere Versprechen und räumen endlich auf mit Ihren Versäumnissen der zurückliegenden elf Jahre, in denen Sie immerhin den zuständigen Minister gestellt haben. Dass es diese schwarz-gelbe Bundesregierung ist, die den lang angemahnten Reformbedarf beim Beschäftigtendatenschutz endlich anpackt, muss Ihnen nicht gefallen. Hätten Sie allerdings ein echtes Interesse an einem praxisgerechten Beschäftigtendatenschutz, der die Belange aller Beteiligten angemessen berücksichtigt, würden Sie endlich anfangen, sich konstruktiv in die Diskussion einzubringen, anstatt hier eine Nebelkerze nach der anderen zu zünden. Besonders interessant wird es allerdings, wenn man Ihren Gesetzentwurf aus dem Jahr 2009 mit dem jetzigen Antrag vergleicht. Erstes Bespiel: Datenerhebung im Bewerbungsverhältnis. Was in Ihrem Gesetzentwurf noch ausdrücklich für zulässig erachtet wurde, soll durch Ihren Antrag nun generell – das heißt ohne Ausnahme – verboten sein. Zweites Beispiel: Gesundheitsuntersuchungen im laufenden Beschäftigungsverhältnis; im Gesetzentwurf erlaubt, im Antrag nunmehr grundsätzlich verboten. Drittes Beispiel: internationaler Transfer von Beschäftigtendaten. Was im heute vorgelegten Antrag rundweg abgelehnt wird, sollte über den Gesetzentwurf noch ohne große Hürden – anders formuliert: unter Absenkung des geltenden Schutzniveaus – legitimiert werden. Diese Aufzählung ließe sich weiter fortführen. So geht man nicht mit diesem sensiblen Thema um und auch nicht mit den Betroffenen. Das ist nicht verlässlich. Sämtliche Forderungen, die Sie eigens aufgestellt hatten und von denen Sie jetzt nichts mehr wissen wollen, finden sich nahezu eins zu eins im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Was Sie heute hier tun, ist nichts anderes als ein oppositionelles Spielchen. Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nur damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ihr Gesetzentwurf vom November 2009 war beileibe nicht der große Wurf. Im Vergleich zu dem, was Sie heute hier abliefern, muss allerdings sogar dieser missglückte Entwurf als Sternstunde Ihrer Fachpolitiker eingestuft werden. Die Berichterstatter der Koalitionsfraktionen hatten bereits im Rahmen der ersten Lesung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung deutlich gemacht, dass auch dieses Gesetz den Deutschen Bundestag nicht so verlassen würde, wie es hineingekommen ist. Dieser Maßgabe entsprechend haben wir bereits im Vorfeld der öffentlichen Anhörung im Mai dieses Jahres Vorschläge gemacht, wie der Gesetzentwurf im Detail verbessert werden könnte. Vorschläge, die im Übrigen von zahlreichen Sachverständigen der öffentlichen Anhörung ausdrücklich begrüßt wurden. Hierzu zählt unter anderem, dass die Zulässigkeit von Gesundheitsuntersuchungen im Beschäftigungsverhältnis an engere Voraussetzungen geknüpft werden muss. Hierzu zählt auch, dass es dem Arbeitnehmer weiterhin möglich sein muss, selbstbestimmt in für ihn vorteilhafte Datenerhebungen und verarbeitungen einzuwilligen. Hierzu zählt schließlich auch, dass es den Betriebsparteien weiterhin möglich sein soll, im Bedarfsfall auch datenschutzrechtlich relevante Sachverhalte eigenverantwortlich zu regeln. Ich sage bewusst „weiterhin“. Sie tun ja gerade so, als würden wir mit dieser Regelung eine neue Rechtslage einführen. Dass es seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 1986 allerdings nunmehr ein Vierteljahrhundert lang anerkannt ist, datenschutzrechtliche Belange auch und gerade durch die Betriebsparteien selbstständig regeln zu lassen, verschweigen Sie dabei nur allzu gern. Sie müssen mir schon einmal erklären, meine Damen und Herren von der SPD, warum Sie auf der einen Seite regelmäßig die Rechte der Betriebsräte nie hoch genug ansetzen können, bei Fragen des betrieblichen Datenschutzes der Betriebsrat jedoch schön seinen Mund zu halten hat. Im Gegensatz zu Ihnen sprechen wir den Betriebsräten die Kompetenz im Bereich des Datenschutzes nicht ab. Ihre Bevormundungspolitik wird in diesem Hause keine Chance haben. Das parlamentarische Verfahren zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nahezu abgeschlossen. Ich bin zuversichtlich, dass wir das Gesetz noch in diesem Jahr verabschieden werden. Der heute vorgelegte Antrag wird sich damit in Kürze schlicht durch Zeitablauf erledigen. Petra Pau (DIE LINKE): Es ist höchste Zeit! Erstens. Wir reden wieder einmal über Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die erste Forderung nach einem expliziten Gesetz stammt übrigens aus dem Jahr 1984. Ein entsprechendes Gesetz aber gibt es immer noch nicht. Keine Partei, die seither regierte, hat sich besonders hervorgetan: nicht die CDU/CSU, nicht die SPD, nicht die FDP, nicht Bündnis 90/Die Grünen. Zweitens. Erst die gravierenden Datenschutzpannen und Überwachungsskandale der zurückliegenden Jahre – bei Lidl, bei der Telekom, bei der Bahn AG usw. – scheinen ein Umdenken bewirkt zu haben. Im Frühjahr dieses Jahres hat die aktuelle Bundesregierung endlich einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er wird zu Recht kritisiert, auch von der Fraktion Die Linke. Drittens. Ich stelle deshalb noch einmal grundsätzlich klar: Datenschutz bedeutet nicht, rechtlich zu regeln, wie möglichst viele Daten legal erfasst werden dürfen. Datenschutz bedeutet im Gegenteil, von definierten Ausnahmen abgesehen, das Erfassen, Speichern, Verknüpfen und Weitergeben persönlicher Daten zu unterbinden. Daran gemessen ist der Regierungsentwurf ein Rückschritt. Viertens. Offene Videoüberwachung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern könnte per Gesetz alltäglich werden. Heimliche Videoüberwachungen würden erleichtert. Auf das und mehr haben die Sachverständigen nahezu unisono hingewiesen. Nach Vorstellungen der CDU/CSU und der selbsternannten Bürgerrechtspartei FDP verkäme die Arbeitswelt endgültig zur Castingshow. Das darf nicht sein. Fünftens. Nun hat die SPD einen eigenen Antrag vorgelegt, nach der Linken und nach den Grünen. Ich wünschte, dass die Oppositionsfraktionen endlich gemeinsam auf hohe Datenschutzstandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer drängten, und dies mit den berechtigten Forderungen der Gewerkschaften bündelt. Es ist spät, sehr spät oder, positiv formuliert: Sechstens. Es ist höchste Zeit, zu handeln. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Ein moderner Datenschutz ist gerade in der heutigen Informationsgesellschaft von besonderer Bedeutung. Wir wollen ein hohes Datenschutzniveau … Hierzu werden wir das Bundesdatenschutzgesetz unter Berücksichtigung der europäischen Rechtsentwicklung lesbarer und verständlicher sowie zukunftsfest und technikneutral ausgestalten.“ Klingt gut. Könnte von uns sein. Oder gar vom Kollegen Wiefelspütz. Aber ich zitiere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP. So steht es nämlich in Ihrem Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode mit dem Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“. In diesem Koalitionsvertrag steht auch, dass der Arbeitnehmerdatenschutz in einem eigenen Kapitel des Bundesdatenschutzgesetzes ausgestaltet werden wird. Über zwei Jahre später ist das alles – nichts. Es ist nicht das Papier wert, auf dem es steht. Sie haben großspurig angekündigt und dann nicht geliefert, wie in so vielen Bereichen, eben auch im Datenschutz. Wir hatten hier vor mehreren Monaten eine erste Lesung Ihres Gesetzes mit dünnen Eckpunkten, bei der die Kollegin Piltz gleich eine ellenlange Liste an Änderungen am eigenen Gesetzentwurf anmeldete. Und seither: Still ruht der See. Einige Herausforderungen im Bereich des Datenschutzes haben sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, ja im Koalitionsvertrag erkannt – immerhin. Dennoch haben sie bis heute nichts auf den Weg gebracht. Es gibt keine Stiftung Datenschutz, keine rote Linie und eben auch keine Reform des Bundesdatenschutzgesetzes. Wie es Ihnen hier schon vielfach und zu Recht attestiert wurde: Von einem zeitgemäßen Arbeitnehmerdatenschutzgesetz ist bislang keine Spur. Auch im sonstigen Datenschutz ist diese Bundesregierung weiterhin blank. Das stößt nicht nur bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern auf Unsicherheit und Unverständnis. Inzwischen beklagen auch große Teile der Wirtschaft die Unfähigkeit dieser Regierung, Ihrer Verpflichtung als Gesetzgeber gerecht zu werden, und das völlig zu Recht. Denn Unternehmen und junge Firmen müssen wissen, in welchem Rechtsrahmen sie sich bewegen. Die Entwicklung, Ausbreitung und Qualität der IT-Technologie und des Internets in den letzten Jahrzehnten ist eine Revolution. Aber aufgrund Ihrer Arbeitsverweigerung hantieren wir noch immer mit einem Gesetz aus einer Zeit, als einfache Rechner noch riesig und sehr, sehr langsam waren. Mit den Formulierungen im Koalitionsvertrag zum Internet und zur Digitalisierung wollten Sie sich ein progressives Image geben. Was sie liefern ist analog und 1.0. Zum Arbeitnehmerdatenschutz: Wir wünschen uns auch weiterhin eine eigenständige gesetzliche Regelung. Sie wollen die Normen in ein Gesetz packen, dem sie selbst im Koalitionsvertrag größte Unverständlichkeit bescheinigen. So oder so, ein Beschäftigtendatenschutzgesetz ist dringend erforderlich. Das bestätigen alle unabhängigen Fachleute, das war das Fazit des Skandaljahrs 2008 – Skandale bei der Telekom, bei Lidl, Daimler usw. –, und das ist Ergebnis der Anhörung. Sie hat klar ergeben: Eine Beschäftigtendatenschutzregelung schafft Klarheit in einem Umfeld, in dem Vertrauen die entscheidende Grundlage ist, auch im Hinblick auf die unübersichtliche Rechtsprechung. Wir brauchen dringend effektive Schutzmaßnahmen hinsichtlich ausufernder Datenerhebungen bei Bewerbern sowie ausufernder Datenverarbeitungen zu Zwecken der Verhaltenskontrolle in den Betrieben. Zudem brauchen wir ein verbessertes internes Kontrollsystem. Zum Antrag der SPD: Der Antrag der SPD holt nun lediglich nach, was die SPD in ihrem eigenen Gesetzentwurf verschlafen hat. Dieser Entwurf kam noch aus dem Arbeitsministerium des ehemaligen Kollegen Scholz. Heute ist offensichtlich, dass der Entwurf seinerzeit offensichtlich nicht ansatzweise die Priorität bekam, die angemessen gewesen wäre. Heute stellt sich die Frage, was nun eigentlich vonseiten der SPD gilt: Der Entwurf des Kollegen Scholz oder der vorliegende Antragskatalog? Immerhin deckt sich der Antrag zu 75 Prozent mit dem Gesetzentwurf, den meine Fraktion und ich an dieser Stelle vor einigen Monaten vorgelegt haben. Zumindest die 75 Prozent sind gut. Richtig finden wir zum Beispiel die Klarstellung, dass die Beschäftigten das Recht haben, sich bei Rechtsverstößen direkt an Datenschutzbeauftragte wenden zu können. Dissens haben wir aber zum Beispiel bei der strikten Ablehnung des Konzernprivilegs. Zugegeben, es ist kompliziert, aber das schlichte Verbot hilft niemanden. Wer die Praxis kennt, der weiß, dass es sich um ein berechtigtes Anliegen der Arbeitgeber handelt, das eben beschäftigtenfreundlich ausgestaltet werden muss. Also, wie so oft bei der SPD: Licht und Schatten. Trotzdem geht der vorliegende Antrag in die richtige Richtung. Man kann in der Tat nur hoffen, dass auch die Bundesregierung sich nun endlich besinnt und das Thema endlich ernsthaft angeht. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung – Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nachhaltigkeit global umsetzen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesordnungspunkt 4) Marcus Weinberg (Hamburg)(CDU/CSU): Mit der heutigen Debatte behandeln wir zwei für die Nachhaltigkeit wichtige Aspekte. Mit unseren auf dem Indikatorenbericht 2010 basierenden Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 greifen wir nochmals aktiv in die laufende Konsultationsphase der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ein. Mit dem Antrag „Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“ greifen wir einen zweiten wichtigen Meilenstein der Nachhaltigkeitsagenda auf: die UN-Konferenz Rio+20 im Sommer des nächsten Jahres. Lassen Sie mich zunächst auf den Indikatorenbericht und unsere Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie eingehen. Der Indikatorenbericht 2010 zum Stand der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zeigt, dass wir hinsichtlich der gesteckten Ziele insgesamt auf einem guten Weg sind. Mir geht es in der heutigen Debatte aber nicht so sehr darum, einen Blick zurückzuwerfen und das Erreichte zu bewerten. Mir geht es vielmehr darum, ausgehend von einigen Ergebnissen des Indikatorenberichts 2010 einen Blick nach vorne zu werfen auf den Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Welche Erwartungen an die Fortschreibung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir? Bei der Fortschreibung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ist es aus unserer Sicht wichtig, das Spektrum der Schwerpunktthemen um einen weiteren, gewichtigen Aspekt zu erweitern. Vor dem Hintergrund, dass die Energiefrage durch die aktuellen Ereignisse und Entscheidungen immer stärker an Gewicht gewinnt, sollte Energie als drittes Schwerpunktthema in den Fortschrittsbericht 2012 aufgenommen werden. Die bislang im Entwurf enthaltenen Ausführungen werden aus unserer Sicht der größer gewordenen Bedeutung des Themas nicht gerecht. Hier ist eine Aufwertung zum Schwerpunktthema des Fortschrittsberichtes 2012 absolut gerechtfertigt und geboten. Hinsichtlich der Indikatoren lässt sich deutlich feststellen: Diese sind nicht in Stein gemeißelt. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung derzeit prüft, inwieweit Indikatoren angepasst werden können. Dabei ist es richtig, dass eine gewisse Kontinuität gewahrt werden sollte, um auch über längere Zeiträume vergleichbare Daten vorliegen zu haben. Richtig ist auch, dass nur solche Indikatoren aufgenommen werden sollten, wenn sie mit einem gewichtigen Ziel verbunden sind. Allerdings sollten wir bei Indikatoren, die sich in den zurückliegenden Jahren als ungeeignet erwiesen haben, auch die Kraft aufbringen, diese dann entsprechend zu ändern. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat in seinen Stellungnahmen mehrfach den Finger in offene Wunden gelegt und aufgezeigt, an welchen Stellen er Nachbesserungsbedarf sieht. Bei den Studienanfängerzahlen liegt Deutschland unter dem OECD-Schnitt und zum Teil sehr deutlich unter dem Durchschnitt einzelner Länder. Dies wird dadurch beeinflusst, dass die Berufsausbildung in Deutschland weitgehend im dualen System erfolgt, während in anderen Staaten solche Ausbildungen überwiegend an den Hochschulen erfolgen. Hier wird deutlich: Die Tücke liegt im Detail. Um verlässliche Vergleichszahlen zu erhalten, müssten zunächst die bestehenden Unterschiede herausgerechnet werden. Insgesamt sollte es jedoch nicht um die reine Erfüllung von Akademikerquoten gehen, sondern um die Qualifizierung der Menschen. Unter diesem Aspekt ist Deutschland mit den beiden – beruflichen und akademischen – gleichwertigen Bildungswegen Ländern mit hohem Akademikeranteil eher überlegen. Insofern regt der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung an, statt ausschließlich die Studienanfängerquote auszuweisen, auch die Ausbildungszahlen in die Darstellung des Indikators einzubeziehen. Zum Indikator 15 – Kriminalität – haben wir uns seitens des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung schon oft geäußert. Es ist fast schon so wie mit Cato und Carthago, nur dass wir nicht jede Rede mit unserer Forderung nach Änderung des Indikators Kriminalität abschließen. Nach wie vor wird unsererseits der Tatbestand Einbruchsdiebstahl als nicht signifikant genug gesehen, um für den Bereich Kriminalität einen aussagekräftigen Indikator abzubilden. Im Entwurf zum Fortschrittsbericht 2012 sind weitere Kennzahlen aufgeführt, die wesentlich aussagekräftiger wären. Hierzu gehört unter anderem auch die Aufklärungsquote. Aus Sicht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung kann der Indikator 15 in der bestehenden Form nicht bestehen bleiben. Alternativ bieten sich, wie vom PBNE in seiner Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 zuletzt gefordert, Delikte gegen Leib und Leben sowie die Aufklärungsquote an. Sollte eine Änderung des Indikators absolut unverhandelbar sein, empfehle ich – frei nach Cato –, den Indikator ganz zu streichen. Ein aus Sicht nachhaltiger Entwicklung fast hoffnungsloser Fall ist der Indikator Flächeninanspruchnahme. Der Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche liegt weit über dem in der Nachhaltigkeitsstrategie angepeilten Ziel von 30 Hektar pro Tag. Das hat viele und vor allem vielschichtige Gründe. Allerdings sollte auch einmal darüber nachgedacht werden, inwieweit die Definition der „verbrauchten Fläche“ tatsächlich zielführend ist. Bislang zählt die gesamte Siedlungs- und Verkehrsfläche, also alles, was nicht mehr land- und forstwirtschaftlich genutzt werden kann, zum Flächenverbrauch. Damit fallen auch Grünanlagen, Friedhöfe und Erholungsgebiete in die Kategorie „verbrauchte Fläche“. Dadurch wird es erheblich erschwert, nicht mehr benötigte Gebäude zu „renaturieren“, also abzureißen und durch Grünland zu ersetzen, um den Flächenverbrauch zu reduzieren. Denn sofern renaturierte Flächen nicht uneingeschränkt der Land- oder Fortstwirtschaft zur Verfügung stehen, weil sie zum Beispiel als Park oder Gartenkolonie ausgewiesen sind, verbrauchen Sie weiterhin Fläche. Unter diesen Definitionsvoraussetzungen dürfte es schwierig werden, den Flächenverbrauch signifikant zu reduzieren und die Zielvorgabe zu erreichen. Auch wenn bereits recht viele Indikatoren vorhanden sind und Forderungen nach Ergänzungen eher kritisch gesehen werden, sollte aus unserer Sicht geprüft werden, inwieweit ein Indikator „nachhaltiger Konsum“ aufgenommen werden kann. Das Indikatorensystem ist nicht statisch, sodass eine Ergänzung durchaus möglich ist. Nachhaltiger Konsum ist ein wichtiges Themenfeld nachhaltiger Entwicklung. Dieses sollte auch mit einem passenden Indikator abgebildet werden. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir die Debatte zum Indikatorenbericht 2010 und zu unseren Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 heute führen können. Morgen, also am 30. September, endet das Konsultationsverfahren, das die Bundesregierung zum Entwurf des Fortschrittsberichtes 2012 durchführt. Damit haben wir heute noch einmal die Gelegenheit, neben den bereits abgegebenen Stellungnahmen aktiv in das Diskussionsgeschehen einzugreifen. Noch mehr freue ich mich natürlich, wenn die Bundesregierung unsere Anregungen vor allem hinsichtlich der Weiterentwicklung der Indikatoren und zur Aufnahme eines weiteren Schwerpunktthemas aufgreift. Ziel unseres Antrags „Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“ ist es, dass mit der Konferenz der Vereinten Nationen „Rio+20“ im Juni des nächsten Jahres Nachhaltigkeit und damit die Leitlinien nachhaltiger Entwicklung global stärker umgesetzt werden. Ich freue mich, dass es uns in einem großen Kraftakt gelungen ist, diesen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten und in den Deutschen Bundestag einzubringen. Damit nutzen wir unsere Chance als Parlament, unsere Positionen der Bundesregierung bei ihren Vorbereitungsgesprächen mit auf den Weg zu geben und damit uns in die laufenden Vorbereitungsverhandlungen zur Rio-Konferenz 2012 mit einzubringen. Ein Themenschwerpunkt der Konferenz Rio+20 wird die Frage des Nachhaltigkeitsmanagements auf internationaler Ebene sein. Wie ist die Nachhaltigkeitsstrategie international 20 Jahre nach der Konferenz von Rio 1992 verankert? Bei dieser Frage kommt man auch bei wohlwollender Betrachtung zu dem Ergebnis: eher schlecht. – Es besteht ein Umsetzungs- und Koordinationsdefizit. Die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung ist zudem ineffizient und nur wenig umsetzungsorientiert, und auf Ebene der UN-Mitgliedstaaten gibt es noch viele weiße Flecken ohne nationale Nachhaltigkeitsstrategien. Ziel unseres Antrages ist es, das Nachhaltigkeitsmanagement im UN-Verbund zu stärken. Die Konferenz von Rio im Sommer 2012 ist eine große Chance, das Nachhaltigkeitsmanagement weltweit zu verbessern. Die Stärkung kann auf drei Wegen erfolgen: entweder durch eine Verbesserung der bestehenden CSD-Struktur oder die Verankerung des Themas bei ECOSOC oder in einem eigenen UN-Nachhaltigkeitsrat. Hier können wir uns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf eine Variante festlegen. Aber bei drei zur Verfügung stehenden Alternativen sollte es aus meiner Sicht möglich sein, eine Position zu finden, die dem nicht nur von uns angestrebten Ziel sehr nahekommt. Aber nicht nur die Vereinten Nationen sind gefordert, Nachhaltigkeit stärker zu berücksichtigen und das Nachhaltigkeitsmanagement zu verbessern. Bei der Konferenz von Rio 1992 haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, nationale Nachhaltigkeitsstrategien zu ent-wickeln. Dem sind längst nicht alle nachgekommen, sodass aus unserer Sicht die Konferenz Rio+20 auch genutzt werden sollte, alle Industriestaaten – nochmals – darauf zu verpflichten, eigene nationale Nachhaltigkeitsstrategien mit aussagekräftigen Indikatoren zu entwickeln, sofern sie hier noch nicht tätig geworden sind. Gleichzeitig sollte bei den Entwicklungs- und Schwellenländern dafür geworben werden, stärker auf nachhaltiges Wirtschaften zu setzen. Hier muss stärker auf die Chancen nachhaltiger Entwicklung hingewiesen und Angst bei der Ausgestaltung von „Green economy Roadmaps“ genommen werden. Die heutige Debatte zeigt, wie nah nachhaltige Entwicklung auf nationaler und internationaler Ebene beieinander liegt. Wenn wir uns den Stand der Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland vor Augen führen, sehen wir, dass wir auf einem guten Weg sind, Nachhaltigkeit immer stärker im politischen und gesellschaftlichen Alltag zu verankern. Diesen Weg sollten wir auch international beschreiten und immer wieder verstärkt für die Leitlinien nachhaltiger Entwicklung werben. Dann kann auch von der VN-Konferenz Rio+20 im Juni 2012 ein deutliches Signal für eine Stärkung des Nachhaltigkeitsmanagements ausgehen. Ich freue mich, wenn wir weiterhin gemeinsam sowohl national als auch international den Aspekt nachhaltiger Entwicklung weiter voranbringen. Dr. Matthias Miersch (SPD): Fast 20 Jahre ist es nun her – mit dem Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 wollte die internationale Staatengemeinschaft dem Thema Nachhaltigkeit ein Gesicht geben. Heute stellen wir fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit häufig missbraucht und immer wieder in inhaltsleeren Floskeln verwendet wird. Nachhaltigkeit ist zur Beliebigkeit verkommen. Dabei ist gerade die heutige Zeit großflächiger Krisen eine Zäsur für unsere Lebensart des ungehemmten Wachstums und Raubbaus an den Ressourcen des Planeten: Hungerkatastrophen, Dürreperioden, Finanzdesaster, nukleare Unfälle – ein Umsteuern ist dringend geboten, heute noch deutlich mehr als vor 20 Jahren. Bereits im 18. Jahrhundert setzte sich die Einsicht durch, dass nur ein nachhaltiges Wirtschaften Zukunftsfähigkeit bringt. Im Bereich der Forstwirtschaft entstand die Formel, wonach nur so viele Bäume gefällt werden dürften, wie neue gepflanzt werden. Eine einleuchtende Formel. Wie würde die Welt aussehen, wenn seit dieser Zeit entsprechende Grundsätze in den unterschiedlichsten Politikfeldern berücksichtigt worden wären? Wir hätten keine Finanzkrise, kein rasantes Artensterben, keinen verantwortungslosen Umgang mit natürlichen Ressourcen und keine Armut. Es wäre Rücksicht genommen worden – auch auf die Interessen künftiger Generationen. Es wäre ein Schritt in Richtung eine generationenübergreifenden Verantwortung gewesen. Heute merken wir, dass wir schon jetzt mit den Versäumnissen der vergangenen Jahre umgehen müssen. Und schon heute ist dies eine große Herausforderung. Es gibt also zahlreiche Gründe, den Weltgipfel im kommenden Jahr auch durch das nationale Parlament zu begleiten und vor allem die notwendigen Schlüsse aus der Konferenz zu ziehen. Ich bin deshalb froh, dass es uns im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag zur Konferenz der Vereinten Nationen in Rio im kommenden Jahr auf den Weg zu bringen. Darin betonen wir die Dringlichkeit einer tiefgreifenden Veränderung des globalen Wirtschaftens. Wir sprechen die großen He-rausforderungen der Bekämpfung des Klimawandels, dem Schutz der Ökosysteme oder die Vermeidung von Hungerskatastrophen an. Die Menschheit steht vor enormen ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen. Noch nie war es wichtiger, sich an den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung zu orientieren. Bei der Konferenz in Rio wird es vor allem um zwei Hauptbereiche gehen. Es wird darum gehen, das Thema der nachhaltigen Entwicklung institutionell so zu verankern, dass es sein Nischendasein verliert und in den Mainstream der politischen Arbeit der Vereinten Nationen Einzug hält. Hier sind Veränderungen in der Organisation dringend angezeigt, um Effizienz und Effektivität zu erreichen. Ohne Details zu nennen kann man schon heute prognostizieren, dass es des besonderen Einsatzes der Bundesregierung bedürfen wird, um in dieser Frage substanzielle Fortschritte in Rio erreichen zu können. Hoffen wir gemeinsam, dass wir hier nicht verzagen! Es geht aber auch um die Sicherstellung des interdisziplinären Ansatzes, der stets mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung verbunden ist. So müssen zum Beispiel die Themenbereiche Klimapolitik und Schutz der Biodiversität viel stärker miteinander vernetzt werden. Nach diesem Muster müssen wir versuchen, auf institutioneller Ebene eine Verzahnung zu erreichen, die von allen Beteiligten verlangt, Nachhaltigkeit immer mitzudenken. Der zweite Schwerpunktbereich in Rio wird das Thema umweltverträgliche Wirtschaft im Kontext von nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung sein. Wir müssen endlich die natürlichen Grenzen unseres Planeten respektieren. Glauben wir Prognosen, nach denen in einigen Jahren bereits 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde leben werden, kommen wir nicht umhin, Wachstum und Wohlstand komplett neu zu denken. Es geht dabei auch nicht mehr um die Frage des Ob, sondern nur noch um die Frage des Wann. Wann lernen wir, einen nachhaltigen Umgang mit unserer Umwelt zu pflegen, und schaffen wir diesen Paradigmenwechsel, bevor es endgültig zu spät ist? Wir können als Menschen viele Dinge organisieren, regeln und entwickeln. Die Erde können wir nicht aus den Angeln heben, das müssen wir endlich begreifen. Und in diesem Zusammenhang ist klar, dass es gerade die Industrieländer – gerade die erste Welt ist –, die hier mit guten Beispielen vorangehen muss. Die Entwicklungs- und Schwellenländer betrachten unser Verhalten sehr aufmerksam. Sie haben erkannt, dass es vor allem wir sind, die bislang ihr Wirtschaften in vielen Bereichen nicht nachhaltig ausgerichtet haben. Gerade wir sind es deshalb, die Dinge verändern müssen, bevor wir es anderen Ländern vorschreiben. Wir haben es auf Konferenzen wie in Kopenhagen erlebt, dass Dynamiken entstehen und die Dinge fürchterlich schieflaufen können. Wir haben gesehen, wie sehr schnell viel Vertrauen verspielt werden kann, wenn Zusagen nicht eingehalten werden. Wenn wir den Prozess des Umdenkens aber nicht global organisieren können, weil uns unsere Partner die Hand nicht reichen wollen, werden unsere eigenen Anstrengungen noch so groß sein können, sie werden nicht genügen. Deshalb ist internationale Vertrauensbildung der Schlüssel. Nur so werden wir künftig in den wichtigen Feldern der Ressourceneffizienz, der umweltverträglichen emissionsarmen Wirtschaft oder Überwindung des Wirtschaftens mit endlichen Energieträgern vorankommen. Das sind die Themen, die in Rio eine große Rolle spielen müssen und die wir in unserem Antrag gemeinsam aufgreifen. Wir beraten heute gleichzeitig auch den Fortschrittsbericht, mit dem die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie begleitet wird. Ich halte es an dieser Stelle für einen glücklichen Zufall, diese beiden Themen in einer Rede verknüpfen zu können, denn die Verantwortung Deutschlands ist, wie ich bereits erwähnte, eine ganz besondere. Ohne unser volles Engagement hier in Deutschland werden wir unsere Vorreiterrolle einbüßen und den global ohnehin schwierigen Prozess weiter verlangsamen. Die Klimaverhandlungen in Kopenhagen und die im Nachgang nicht eingehaltenen Zusagen über die Finanzierung des internationalen Klimaschutzes sind uns ein warnendes Beispiel. Der Fortschrittsbericht soll die Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Verantwortung der Politik begleiten. Natürlich begrüßen wir dieses Ziel. Allerdings zeigen uns die Berichte der letzten Jahre, beispielsweise der Indikatorenbericht des Jahres 2010, dass wir diese Entwicklung bisher kaum vollzogen haben. Die Politik ist dringend gefordert, die bisherigen Defizite schnell anzugehen: Wir verfehlen regelmäßig die selbst auferlegten Ziele im Artenschutz, wir versiegeln unsere Umgebung mit Beton und wir leben immer mehr auf Kosten der kommenden Generationen, in dem wir gigantische Schuldenberge auftürmen. Uns mag all dies aus dem Moment heraus notwendig erscheinen, lange werden wir uns dieser Illusion aber nicht mehr hingeben können. Der Fortschrittsbericht 2012 spricht gerade die eben genannten Handlungsfelder leider nur oberflächlich an. Ich betone es deshalb noch einmal: Wir stehen unter internationaler Beobachtung, unsere Glaubwürdigkeit ist ein Pfand in internationalen Verhandlungen im Rahmen einer globalen Umstrukturierung unserer Wirtschaftsweise. Machen wir nicht zunächst unsere eigenen Hausaufgaben richtig, verlieren wir dieses Pfand. Es sollte uns also ein doppeltes Anliegen sein, nicht nur wohlklingende Berichte zu verfassen, sondern unser Handeln an Tatsachen zu messen. Der Fortschrittsbericht schlägt in Bezug auf die UN-Konferenz in Rio vor, den Schwung der Konferenz für die Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie im nächsten Jahr zu nutzen. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung dieses Vorgabe ernst nimmt. Wir werden dafür sorgen, dass dieser Regierung beim Schwungholen für Nachhaltigkeit nicht die Puste ausgeht. Michael Kauch (FDP): Politik für Nachhaltigkeit ist Politik für kommende Generationen. Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie hat Deutschland einen Politikansatz, mit dem über Wahlperioden und Fraktionsgrenzen hinweg Ziele gesteckt werden. Diese Ziele – und das ist bedeutsam – werden regelmäßig durch Indikatoren überprüft: Sind wir auf dem richtigen Weg, oder muss nachgesteuert werden? Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat in seiner Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 verschiedene Vorschläge gemacht, wie die Nachhaltigkeitsindikatoren weiterentwickelt werden können. Weiterhin hat er allgemeine Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 formuliert. Der Entwurf des Fortschrittsberichts 2012 liegt nun vor, und ich freue mich, dass die Bundesregierung wieder in einem öffentlichen Konsultationsverfahren allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern, Verbänden und Institutionen die Möglichkeit gibt, ihre Anregungen einzubringen. Dass bei Änderungen im Indikatorensatz behutsam vorgegangen werden muss, ist klar. Gerade wenn längere Zeiträume betrachtet werden sollen, ist eine gewisse Kontinuität geboten. Wenn sich allerdings bestimmte Indikatoren als offensichtlich ungenügend erweisen, sollte auch der Mut aufgebracht werden, diese zu ändern. Ich freue mich deshalb, dass die Bundesregierung signalisiert hat, den seit Jahren vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung kritisierten Indikator zur Kriminalität zu ersetzen und sich nicht ausschließlich auf die zwar leicht erhebbaren, aber allein wenig aussagekräftigen Wohnungseinbruchsdiebstähle zu beschränken. Neben der Diskussion um die Messung nachhaltiger Entwicklung auf Bundesebene müssen wir in einem föderalen Staat auch ein Augenmerk auf die vertikale Integration bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele legen. Bislang verfügen die Bundesländer teilweise über eigene Nachhaltigkeitsstrategien, aber von unterschiedlicher Qualität und politischer Gewichtung. Eine bessere Vernetzung der Bundes- mit den Länderstrategien ist wichtig, um die Nachhaltigkeitsziele konsequent zu verfolgen. Parallel zur Anbindung der Nachhaltigkeitsstrategie im Bundeskanzleramt sollten die Nachhaltigkeitsstrategien der Länder im unmittelbaren Umfeld der Regierungschefs angesiedelt werden. Zudem wäre eine eigenständige und themenübergreifende Querschnittsarbeitsgruppe in der Ministerpräsidentenkonferenz wünschenswert. Dies würde dem Thema auf Länderebene eine größere Bedeutung beimessen und der Querschnittsaufgabe gerecht werden. Wir debattieren heute neben der Unterrichtung des Beirats den interfraktionellen Antrag zur UN-Konferenz in Rio de Janeiro im nächsten Jahr, auf der es zwei Schwerpunkte gibt: die Reform der Umwelt- und Nachhaltigkeitsinstitutionen bei den Vereinten Nationen sowie die Frage, wie man eine Weiterentwicklung der nationalen Volkswirtschaften hin zu nachhaltigen Wirtschaftsmodellen voranbringen kann. In Deutschland sind wir hier auf einem guten Weg. Wir haben erkannt, dass eine umweltverträgliche Wirtschaft in keinem Widerspruch zu Wachstum steht, sondern ganz im Gegenteil zum Wachstumsmotor werden kann. Diese Entwicklung sollte auch in Entwicklungs- und Schwellenländern angestoßen werden, allerdings ohne dabei neue Formen des Protektionismus zu etablieren. Bei der UN-Institutionenreform stehen wir vor der Herausforderung, die stark fragmentierten Umwelt-Governance-Strukturen effizienter und effektiver zu gestalten. Der Vorschlag der Aufwertung des United Nations Environment Programmes, UNEP, zu einer United Nations Environment Organization, UNEO, scheint hier der Vielversprechendste zu sein. Bei der Nachhaltigkeitsgovernance gilt es, eine Alternative zu der weitgehend ergebnislos arbeitenden Commission on Sustainable Development, CSD, zu finden. Hier stehen verschiedene Vorschläge im Raum. Die Bundesregierung sollte sich im Verhandlungsprozess in Rio dafür einsetzen, dass in einer neuen Governance-Struktur die Bereiche Wirtschaft, Umwelt und Soziales besser vernetzt werden und eine wirkungsvolle Koordination der entsprechenden Arbeitseinheiten der Vereinten Nationen stattfindet. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Nachhaltigkeit in Zeiten der Kapitalkrise und enthemmter Finanzmärke, das ist nicht mehr als die Quadratur des Kreises. Die Bundesregierung hat sich das Gleichgewicht von Mensch, Natur und Wirtschaft als Leitprinzip des politischen Handelns auf die Fahne geschrieben. Nachhaltigkeit soll – ich zitiere aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung – „die Erreichung von Generationengerechtigkeit, sozialem Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahrnehmung internationaler Verantwortung zum Ziel haben“. Leider lassen sich diese ehrenwerten Ziele nur schwer nachprüfen. Da kann auch der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung wenig tun. Denn seine Messinstrumente sind stumpf. Bestes Beispiel ist der Indikator „wirtschaftlicher Wohlstand“. Das weltweite Finanzvolumen ist in den letzten 25 Jahren um über 1 000 Prozent auf 140 Billionen US-Dollar gestiegen. Ein verschwindend geringer Teil der Weltbevölkerung, Manager und Vermögensverwalter, bewegen so viel Kapital wie nie in der Geschichte. Und die Kassen klingeln. In den letzen 20 Jahren ist der weltweite Handel mit Finanzderivaten um sage und schreibe 3 800 Prozent gewachsen – seit Beginn der Messung um jährlich ein Fünftel. Der Derivatenmarkt kommt heute auf über 610 Billionen Euro, also eine 61 mit – lassen Sie mich rechnen – 13 Nullen. Das Problem: Die Geldwirtschaft hat die weltweite Realwirtschaft im Verhältnis 17 : 1 längst abgehängt. Spekulation, Wettgeschäfte und Managergehälter gehen – auch hierzulande – noch zu oft vor Arbeit, Vertrauen und Arbeitsplätze. Taucht diese absurde Realität im Indikatorenbericht auf? Fehlanzeige! Das Bundeskanzleramt gibt die Nachhaltigkeitsindikatoren vor. Das Parlament muss damit zurechtkommen. Zur Messung wirtschaftlichen Wohlstandes dient allein das Bruttoinlandsprodukt. So zeigt der Indikatorenbericht 2010 denn auch – alle Jahre wieder – heiter Sonnenschein. Bei nachweislich steigender Armut von Kindern, Arbeitslosen, Niedriglohnjobbern und Rentnern wird ohne Scham vermeldet, das BIP pro Einwohner sei zwischen 1991 und 2009 preisbereinigt um 20 Prozent gestiegen! Was für ein Hohn! Fragen wir doch einmal die Menschen auf der Straße, was von den 20 Prozent in ihrem Geldbeutel angekommen ist! Wenn sich die Lebenswirklichkeit von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern mangels ehrlicher Indikatoren nicht im Fortschrittsbericht 2012 der Bundesregierung widerspiegelt, dann frage ich mich: Was für ein Fortschritt messen wir eigentlich?! In Deutschland klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Im Sinne des erklärten Nachhaltigkeitsziels Sozialen-Zusammenhalt-Stärken muss endlich ein Maß gefunden werden, das diese gefährliche – ganz und gar nicht nachhaltige Entwicklung – wirklichkeitsgetreu abbildet. Warum machen wir es nicht wie die Vereinten Nationen? In ihrem jährlichen Weltbericht zur menschlichen Entwicklung wird soziale Ungleichheit nach Einkommen und Geschlecht schon seit Jahren thematisiert. Die entsprechenden Indikatoren sind da, sie müssen nur angewendet werden. Aber der Bundesregierung fehlt der Wille fürs genaue Hinschauen. Kein Wunder! Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet vor: Seit den 1990er-Jahren gehen die niedrigsten Einkommen und höchsten Einkommen auseinander. Die Mittelschicht schrumpft. Von 2002 bis 2005 schrumpfte das Durchschnittseinkommen der Bürger um fast 5 Prozent. Bei den reichsten 10 Prozent aber stiegen die Einkünfte um 6 Prozentpunkte. Bei den Superreichen um 17 Prozent, die 650 reichsten Deutschen verbuchten 35 Prozent mehr, die 65 Reichsten sogar 53 Prozent mehr! Der Zusammenhang zwischen mehr Finanzwirtschaft, weniger Realwirtschaft und mehr sozialer Ungleichheit, die in Deutschland das höchste Niveau seit der Erhebung der Ungleichheits-Daten erreicht hat, liegt doch auf der Hand. Die Linke sagt darum: Soziale Ungleichheit darf kein Tabu mehr sein: Oder wollen sie Londoner Verhältnisse? Wir fordern darum einen Ungleichheitsindikator. Die Finanzwirtschaft hat bereits einmal die Realwirtschaft an die Wand gefahren und die Gefahr besteht erneut. Nachhaltigkeit darf nicht zur hohlen Propagandaparole verkommen. Sie von der schwarz-gelben Regierung erinnern uns Linke doch immer mal gerne an die DDR. Ich sage Ihnen: Lernen Sie von diesen Erfahrungen. Auch die DDR vermeldete nachhaltige Planerfüllung, bis zuletzt. Das Ende ist ja hinlänglich bekannt. Also lassen Sie uns gemeinsam ehrliche Nachhaltigkeitskriterien finden und nutzen! Die Linke wird mit Ihnen allen Lösungen suchen. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute Morgen haben wir uns hier in diesem Hause erneut mit der Stabilisierung des europäischen Finanzmarktes beschäftigen müssen – leider. Deutschland hat seinen Anteil am Gewährleistungsrahmen deutlich auf 211 Milliarden Euro erhöht. Das sind zwei Drittel des Volumens eines jährlichen Bundeshaushalts. Ist das nachhaltig oder nicht? Darüber wird heftig gestritten. Wirklich wissen werden wir das erst, wenn alles wieder im Lot ist. Die Finanzkrise macht deutlich, dass wir um eine nachhaltige Wirtschaftsweise nun wirklich nicht mehr herumkommen. Wenn Schulden nicht ausreichend reale Werte gegenüberstehen, klappt das Kartenhaus aus Spekulationen zusammen. Aber es gibt durchaus Wege aus diesem Dickicht he-raus: Ein wesentlicher Baustein ist, dass der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ausreichend Rechnung getragen wird. Davon sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und deren Fortschreibung, über die wir heute reden, noch weit entfernt. Darüber sind wir uns im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung übrigens über alle hier im Bundestag vertretenen Fraktionen einig. Jetzt zur Nachhaltigkeit unseres Naturkapitals; denn wir reden heute auch über den interfraktionellen Antrag zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung nächstes Jahr in Rio de Janeiro. Noch mitten in der Phase des gewaltigen Wirtschaftswachstums nach den Weltkriegen, 1972, wurden wir auf die Grenzen des Wachstums – so lautete der Titel des Buches – aufmerksam gemacht. Manch einer erinnert sich noch an die autofreien Sonntage 1973 zu Zeiten der ersten Ölkrise. Das Phänomen der Verschwendung von Gütern, die nichts kosten, ist schon lange in der Volkswirtschaftslehre bekannt. Sie werden externe Effekte genannt. Treibhausgase, Meeresverschmutzung, die Zerschneidung von Landschaften und Lebensräumen und der damit einhergehende Verlust an Artenvielfalt zählen zum Beispiel dazu. Aber auch die Endlichkeit von Ressourcen bildet sich nicht wirklich im Marktpreis ab. Würden wir die Tiefseebohrungen verbieten, würde der Preis pro Barrel Öl in die Höhe schnellen, weit mehr als die Grünen dies jemals vorgeschlagen haben. Wir verhalten uns bislang so, als hätte die Erde keine Grenzen. Heute wissen wir alle, das wir uns hier geirrt haben. Vorgestern, am 27. September, fand der Earth Overshoot Day statt. Von Feiern können wir da wirklich nicht reden. Schließlich leben wir zulasten unserer nachfolgenden Generationen. Aber immer noch zögern wir, die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Woran liegt das? Gäbe es eine demokratisch legitimierte globale Regierung, eine Global Governance, die Standards setzen würde, so würden sie für alle gelten. Wir haben sie nicht. Aber ohne kompetente Zuständigkeit auf globaler Ebene kommen wir nicht weiter. Wir sollten sie schaffen, zumindest im Umweltbereich, möglichst aber auch im Nachhaltigkeitsbereich, also auch in den Bereichen Ökonomie und Soziales. Das ist eine gemeinsam getragene Forderung im interfraktionellen Antrag, die wir der Bundesregierung mit auf den Weg geben zur Weiterentwicklung des Rio-Prozesses – für die Verhandlungen jetzt im Oktober auf europäischer Ebene und für die im Juni nächsten Jahres auf Ebene der Vereinten Nationen. Zudem benötigen wir einen regulatorischen Rahmen für die Wirtschaftsakteure. Freiwillige Selbstverpflichtungen helfen nur, solange Gewinn gemacht wird. Wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Was ist zu tun? Wir müssen auf der einen Seite umweltschädliche Subventionen abbauen, auf der anderen Seite dafür sorgen, dass Zukunftstechnologien auf dem Markt eine Chance bekommen. Dazu brauchen wir ein politisches Instrumentarium, mit dem in die richtige Richtung gesteuert wird. Die Endlichkeit von fossilen Ressourcen, aber auch der Grad an Emissionen bei Abbau, Transport, Verarbeitung und auch der Wiederverwertung müssen darin zum Ausdruck kommen. Preise müssen also die wahren Kosten widerspiegeln. Erst so schaffen wir die Basis für Effizienz und für echte zukunftsfähige Alternativen. Nehmen wir jetzt unsere Verantwortung wahr, handeln wir und geben wir den weniger entwickelten Ländern ein gutes Beispiel. Sonst setzen wir alles aufs Spiel, auch hier bei uns. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen (Tagesordnungspunkt 12) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Am 28. März dieses Jahres hat die Europäische Kommission ihr Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ vorgelegt. Hintergrund dieses Weißbuches ist, die verschiedenen Herausforderungen der Zukunft, wie zum Beispiel die Nachhaltigkeit und Sicherheit im Verkehr, aber auch die Weiterentwicklung des Binnenmarktes strategisch zusammenzufassen und einen Ausblick bis 2050 zu geben. Dabei legt die Europäische Kommission den Schwerpunkt eindeutig auf die Nachhaltigkeit im Verkehr und den Abbau der Abhängigkeit vom Rohstoff Öl. Das Weißbuch ergänzt damit die zur Umsetzung der europäischen Leitinitiative „Europa 2020“ notwendigen Initiativen im Energie- und Klimabereich. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Weißbuch ist notwendig. Europa braucht eine einheitliche und umfassende Strategie zur Sicherung einer nachhaltigen Mobilität. Auch hier gilt wieder eine Verknüpfung von Ökologie und Ökonomie mit Augenmaß. Die individuellen und wirtschaftlichen Anforderungen an Mobilität bezüglich Wirtschaftswachstum und nachhaltigen Strukturen abzubilden ist eine Herausforderung für uns alle; denn Europa braucht gerade für einen so herausragenden Bereich wie die Verkehrspolitik ein strategisches Konzept. Für uns alle persönlich stellt die Mobilität ein großes Stück Lebensqualität dar. Aber die Mobilitätsbranche, gerade im Industrieland Deutschland, ist auch eine innovative und leistungsstarke ökonomische Größe, die einen hohen Anteil am wirtschaftlichen Wachstum und an der Schaffung von Arbeitsplätzen in unserem Land hat. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, das die zukünftige Verkehrsstrategie der Europäischen Union drei wesentliche Dinge vereint: Wir müssen unsere Mobilität erstens umwelt- und klimagerecht ausgestalten. Wir müssen zweitens darauf achten, dass die Mobilität der Zukunft den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Wir müssen drittens darauf achten, dass die Mobilität der Zukunft den wirtschaftlichen Wachstums- und Entwicklungszielen in Europa sinnvoll und nachhaltig gerecht wird. Nur wenn wir diese drei Grundelemente im Weißbuch vereinen, erreichen wir den Schutz unserer Natur, die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger sowie eine innovations- und wachstumsstarke Mobilitätsbranche. Vor diesem Hintergrund darf ich Ihren Blick auf die Liste der 40 Initiativen, die dem Weißbuch anhängen, richten. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einige Punkte eingehen. Als wichtigste Forderung, auch im Sinne der europäischen Integration, ist die Vollendung eines einheitlichen europäischen Verkehrsraums. Mit der Vollendung des einheitlichen europäischen Eisenbahnmarktes, dem Transeuropäischen Kernnetz oder dem Single European Sky liegen gute Vorschläge auf dem Tisch, die die fairen Wettbewerbsbedingungen und die Marktöffnungsprozesse vorantreiben sowie die Zulassungsverfahren harmonisieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung von Innovation und Nachhaltigkeit. Die Entwicklung und Einführung alternativer Antriebe mindert die Abhängigkeit vom Rohstoff Öl und trägt zur Minderung des CO2-Ausstoßes maßgeblich bei. Auch die Entwicklung und der verkehrsträgerübergreifende Einsatz von Informations- und Kommunikationsmitteln mit dem Ziel einer verbesserten Verkehrssteuerung und -optimierung wird dazu beitragen. Lassen Sie mich als dritten und letzten Punkt die Finanzierbarkeit einer modernen Infrastruktur anführen. Wir müssen das Transeuropäische Kernnetz als ein europäisches Mobilitätsnetz ausbauen. Hierbei ist eine Schwerpunktsetzung nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip notwendig, die einen europäischen Mehrwert bringt. Aufgrund der knappen finanziellen Möglichkeiten infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der daraus resultierenden Konsolidierung in vielen europäischen Ländern muss das Augenmerk auf der Auflösung von Engpässen sowie dem Ausbau vorhandener Kapazitäten gerichtet sein. Hierbei gilt es aber, das Subsidiaritätsprinzip zu wahren. Auch in Zukunft muss die Infrastrukturplanung in der Hoheit der Mitgliedstaaten bleiben. Nur durch die weitere Förderung der Komodalität ist es möglich, die Verkehrsträger in sogenannten multimodalen Personen- und Güterverkehrskorridoren so zu verbinden, dass die angepeilten Klimaschutzziele erreicht werden und auch eine Akzeptanz bei der Bevölkerung erreicht wird. Zudem muss die Infrastruktur bezahlbar sein, auch für die Nutzer. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir sinnvoll zu prüfen, wie neue Finanzierungsmodelle die bestehenden sinnvoll ergänzen. So muss die Internalisierung der externen Kosten alle Verkehrsträger gleichermaßen betreffen. Auch der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung sogenannter Projektanleihen oder ÖPP-Modelle ist zu prüfen. Wichtig erscheint es mir allerdings, dass durch solche Modelle keine Schattenhaushalte aufgebaut werden. Insofern erscheint mir bei den Projektanleihen eine Absicherung über die Europäische Investitionsbank als sinnvoll. Leider finden sich die von mir angesprochenen Punkte – es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Ansätze – nur unzureichend in der Programmatik des Weißbuchs. Aus diesem Grund werden wir demnächst einen Koalitionsantrag vorlegen, mit dem wir aufzeigen werden, mit welchen Justierungen das Weißbuch zu einem Erfolgsbuch in Europa wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD. Ihren heutigen Antrag werden wir ablehnen. Wir lehnen ihn aus zwei Gründen ab. Erstens wollen Sie, dass der Bundestag beschließt, dass die unstrittigen Ziele des Weißbuchs durch noch mehr Regulierung erreicht werden. Zweitens fehlt nach unserer Auffassung in Ihrem Antrag das klare Bekenntnis zu einem detaillierten Gesamtfahrplan, den der derzeitige Entwurf des Weißbuchs nicht hergibt. Einzig die Erreichung der Klimaschutzziele ist hier berücksichtigt und auf die verschiedenen Verkehrsträger umgelegt. Alles in allem ist Ihr Antrag eine Aufzählung von Allgemeinplätzen, eine Art Wünsch-dir-was-Katalog. Da, wo Sie ins Detail gehen, muss man sich schon fragen, ob das denn tatsächlich europäisch geregelt werden muss, so zum Beispiel die Behandlung von Kundenbeschwerden im ÖPNV oder die Verpflichtung der Fahrradmitnahme im Schienenverkehr. Dies wird meiner Ansicht nach dem Ziel einer nachhaltigen, dem Bedürfnis der Bürger angemessenen und ökonomisch sinnvollen Mobilität und der nachhaltigen Entwicklung der europäischen Verkehrswirtschaft nicht gerecht. Deshalb wäre es falsch, würde ich Sie für Ihren Antrag loben. Daran dürfte Ihnen auch gar nicht gelegen sein; denn wer mit falschem Lob motiviert, wird die falschen Motive wecken. Karl Holmeier (CDU/CSU): Das Weißbuch Verkehr, das die EU-Kommission den Mitgliedstaaten vorgestellt hat, kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es soll uns eine strategische Richtung für die europäische Verkehrspolitik bis zum Jahr 2050 vorgeben. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag intensiv mit diesem sowohl zeitlich als auch inhaltlich weitreichenden Thema befasst. Ich freue mich daher auch, dass die Kollegen von der SPD dieses wichtige Thema aufgegriffen haben. Allerdings hätten sie sich vielleicht besser etwas mehr Zeit mit ihrem Antrag lassen sollen. Schnelligkeit ist bei diesem Thema keineswegs der richtige Weg. Der Antrag der SPD enthält durchaus wichtige und aus meiner Sicht auch richtige Aspekte. Er lässt mich aber an einigen Stellen auch einfach nur den Kopf schütteln. So gibt es nicht nur Widersprüche, sondern es fehlen auch wichtige Aspekte, die letztlich für uns alle weitreichende Konsequenzen haben. Der Vorschlag der EU-Kommission, die Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050 um 60 Prozent zu reduzieren, ist meiner Ansicht nach schon mehr als nur ambitioniert. Man sollte diesen Wert daher allenfalls als Orientierungsrahmen sehen und die Realität nicht aus den Augen verlieren. Hier noch draufzusatteln und eine noch ambitioniertere Ausgestaltung der CO2-Reduzierung zu fordern, ist schlichtweg unseriös. Offenbar hat die SPD-Fraktion nichts aus der gescheiterten Lissabon-Strategie gelernt. Auf der anderen Seite fordern die Oppositionskollegen – übrigens sehr richtig –, dass Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger auch bezahlbar bleibt. Diese Aussage teile ich uneingeschränkt. Ich frage mich nur, wie Sie das mit Ihren utopischen Klimaforderungen in Einklang bringen wollen. Wie wollen Sie diesen Zielkonflikt auflösen? Vielleicht muss man in der Opposition keine Antwort darauf haben, verantwortungsvolle Politik sieht allerdings meiner Ansicht nach anders aus. Den Vorschlag der Kommission, bis 2050 im Stadtverkehr auf solche Pkw zu verzichten, die mit konventionellem Kraftstoff betrieben werden, nimmt der SPD-Antrag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu Stellung zu beziehen. Hier muss man doch ganz klar sagen: Eine vollständige und undifferenzierte Verbannung von Verbrennungsmotoren darf es nicht geben! Es kann doch nicht zielführend sein, bestimmte Technologien von vornherein auszuschließen, ohne zu wissen, welche technologischen Möglichkeiten es dazu in 40 Jahren gibt. Die CSU/CSU-Fraktion bekennt sich hier eindeutig zur Technologieoffenheit und wird das auch ausdrücklich gegenüber der EU-Kommission klarmachen. Unsere Position ist es, zu sagen, wir wollen Mobilität ermöglichen und sie nicht einschränken. Dieser Ansatz findet sich genauso im Vorschlag der EU-Kommission wieder und auch der SPD-Antrag begrüßt diesen Ansatz. Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht einzuschränken, sondern zu ermöglichen, darf auch nicht von vornherein einen bestimmten Verkehrsträger ausschließen. Er darf auch nicht einen bestimmten Verkehrsträger bevorzugen. Jeder Verkehrsträger hat seine Stärken und Vorteile. Daher muss auch jeder Verkehrsträger entsprechend dieser Stärken eingesetzt werden, um das Verkehrsaufkommen optimal bewältigen und bestmögliche Mobilität gewährleisten zu können. Eine dirigistische und pauschale Verlagerungspolitik wird dem nicht gerecht. Unser Ziel ist es daher, die einzelnen Verkehrsträger richtig und intelligent miteinander zu verknüpfen. Verlagerung sollte es nur dort geben, wo es auch sinnvoll ist. Alles andere ist kontraproduktiv, schränkt Mobilität ein und verringert die Akzeptanz der Nutzer. Meine Ausführungen zeigen, welche Dimension das Weißbuch Verkehr hat und wie wichtig eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Die SPD-Fraktion lässt diese Ernsthaftigkeit leider vermissen. Ich kann daher nur dringend dazu raten, den hier zur Debatte stehenden Antrag abzulehnen. Michael Groß (SPD): Europa muss zu einem Verkehrsraum zusammenwachsen, um Mobilität klimaschonend, sicher, bezahlbar, mit hoher Qualität und sozialen Standards sicherstellen zu können. Europa muss auf der Straße, Schiene, Wasserstraße und im Luftverkehr zusammenwachsen. Dafür brauchen wir gemeinsame Ziele, ein abgestimmtes Mobilitätsverständnis, kompatible Konzepte und gemeinsame Strategien. Zehn Ziele und 40 Initiativen für einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum, weg von der Ölabhängigkeit, hin zu 60 Prozent Emissionseinsparung und umweltverträglicheren Verkehren bei mindestens gleichbleibender Wirtschaftskraft und wachsenden Verkehren – die kürzeste Umschreibung des Europäischen Weißbuches und des damit verbundenen umfassenden Prozesses im europäischen Verkehr. Der Grund des umfassenden neuen „Fahrplans zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ liegt auf der Hand. Die Analyse zur Halbzeitbilanz zum Weißbuch Verkehr der EU legt offen, dass die Treibhausgasemissionen im Verkehr trotz technischer Weiterentwicklungen, erhöhter Verkehrssicherheit, Verkehrslenkung, verbesserter Kraftstoffe und alternativer Antriebe stetig steigt. Ein Grund sind die enormen Verkehrszuwächse, die global agierender Wirtschaft und global agierendem Handel geschuldet sind. Um die ambitionierten Klimaschutzziele der 20-20-20-Strategie der Mitgliedstaaten zu erreichen, sind ein grundlegender Strukturwandel und ein generelles Umdenken nötig. Die Idee der verkehrsträgerübergreifenden Mobilitätsplanung und die Entwicklung eines hocheffizienten und dabei benutzerfreundlichen Kernnetzes ist sehr zu begrüßen. Die Bundesregierung sollte die Chance mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan nach 2015 nutzen, um sich aktiv in die europäischen Strategien und Mobilitätskonzepte mit ihren Vorstellungen und Anforderungen von einem bundesweiten Verkehrsnetz im europäischen Kontext einzubringen. Mit einer alleinigen Fortschreibung des bestehenden Bundesverkehrswegeplanes wird es nicht getan sein. Hier sind klare Prioritätensetzungen auf Grundlage einer bundesweiten verkehrsträgerübergreifenden Netzstrategie erforderlich. Die Schaffung eines einheitlichen Luft-, Schifffahrts- und Eisenbahnverkehrsraumes, die Möglichkeit der flexibleren Nutzung, aber auch die Vereinfachung des Informationszugangs und Ticketerwerbs ist überaus positiv, und zwar nicht nur für den einzelnen Verbraucher, sondern gerade auch für die Wirtschaftsunternehmen des europäischen und internationalen Marktes. Mit der Anpassung der Systeme, beispielsweise zwischen west-, mittel- und osteuropäischer Verkehrsinfrastruktur, liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich habe gelernt, dass die Deutsche Bahn im bisherigen System zum Beispiel nicht mit genügend IC-Zug-Anhängern nach Schiphol fahren kann, da unterschiedliche technische Voraussetzungen, Bahnhofslängen und Ausstiegsmöglichkeiten Hindernisse darstellen. Wir unterliegen in den einzelnen Mitgliedstaaten unabgestimmten Planungskonzepten und sogar unterschiedlichen Spurbreiten. Der Handlungs- und Abstimmungsbedarf liegt hier klar auf der Hand. Aber gerade auch bei der Einführung neuer und regenerativer Antriebsformen, den damit verbundenen zukünftigen Tank- und Ladestationen wird eine europaweite Harmonisierung und Abstimmung notwendig sein, damit mein alternativ betriebenes Mobil nicht nur in Recklinghausen starten, sondern auch in Brüssel nachladen kann. Hier kann ich nur an die Bundesregierung appellieren, den Zug im wahrsten Sinne des Wortes nicht abfahren zu lassen, den die EU-Kommission hier in Gang setzt. Die Personen- und Güterverkehre des europäischen Raumes sollen verstärkt auf die klimafreundlichere Schiene gebracht werden. Strecken ab 300 Kilometer sollen zukünftig über die Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße abgewickelt werden. Hierfür müssen wir unsere Schiene ertüchtigen, und europäische Verbindungslinien wie beispielsweise die Betuwe-Linie zügig voranbringen. Die TEN-V-Projekte sind Teil des bestehenden Bundesverkehrswegeplanes. Die Hauptlast der Finanzierung von TEN-V 2007 bis 2013 liegt bei den jeweiligen Mitgliedstaaten. Wir haben unsere Projekte noch lange nicht abgearbeitet. Dies gilt ebenso für die Wasserstraßen und ihre Schleusensysteme. Ob die derzeitige Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungen zu einem integrierten europäischen Wasserstraßenkonzept beitragen kann, wage ich zu bezweifeln. Wir müssen von Haustür zu Haustür denken und Mobilität anbieten. In Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet fehlen bedarfsgerechte öffentliche Nahverkehrsangebote. Lange Anreisen, häufige Umstiege mit langen Wartezeiten lassen die Bürger den Pkw bevorzugen. Hier sind wir meilenweit entfernt von den CO2-freien innerstädtischen Verkehren in Ballungszentren bis 2050. Projekte wie der RRX in NRW müssen jetzt umgesetzt werden, wenn wir die ambitionierten Ziele erreichen wollen. Die Straßen füllen sich. Laut Pressemeldungen der letzten Tage stieg allein die Zahl der Neuzulassungen für Nutzfahrzeuge um 15,7 Prozent in der Europäischen Union. Deutschland wird davon als Transitland unmittelbar betroffen sein. Der Verkehrsetat ist gnadenlos unterfinanziert. Bereits aus dem letzten Investitionsrahmenplan wurden 213 Maßnahmen nicht abgearbeitet. Allein für den Bereich der Straße wird der Erhaltungsbedarf nur zu etwa zwei Drittel finanziert, Aus- und Neubau nur zur Hälfte. Mit circa 130 Euro pro Einwohner Investitionen in das Straßennetz liegt Deutschland auf den hintersten Plätzen im europäischen Vergleich – Tendenz sinkend. Der Bundesverkehrsminister selbst fordert 14 Milliarden vom Finanzminister, um die nötigen Verkehrsprojekte aus dem Bundesverkehrswegeplan umzusetzen. Bereits jetzt kann sich der Verkehrsminister nach eigenen Aussagen durch die Mittelbindung der laufenden Vorhaben in den nächsten Jahren grundsätzlich keine Neubeginne erlauben. Mit dem Ruf nach mehr Finanzmitteln schiebt der Verkehrsminister die Verantwortung an den Finanzminister ab oder ruft nach der Pkw-Maut. Ich persönlich halte sie, aber auch viele Fachleute halten sie aktuell für den falschen Weg. Die Pkw-Maut stellt eine zusätzliche Belastung der Autofahrer dar, ohne dem Einzelnen dabei alternative Verkehrslösungen anzubieten. Gerade in den ländlichen Räumen der Europäischen Union sind viele Menschen auf das Auto angewiesen. Außerdem bieten die zurzeit angedachten und favorisierten Modelle zu einer Pkw-Maut keine Steuerungsmöglichkeit. Die Vignette löst weder Probleme der Verkehrslenkung noch trägt sie zur Verbesserung des Klimaschutzes bei. Der Bundesregierung fehlen bisher klare Mobilitätskonzepte. Das fängt, wie von der EU-Kommission gefordert, mit der Priorisierung eines Kernnetzes, und zwar auch eines bundesweiten Kernnetzes im Rahmen eines Mobilitätskonzeptes an. Aber auch die EU-Kommission bleibt die Antwort zur Finanzierungsfrage des Strukturwandels in weiten Teilen schuldig. Für den Ausbau der Infrastruktur werden bis 2030 allein 1,5 Billionen Euro veranschlagt. Der Mittelbedarf bei der Umsetzung der Ziele des EU-Weißbuches für Verkehr wird bis auf 90 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Nach dem Weißbuch soll dies durch den EU-Haushalt, die nationalen Haushalte und den Nutzer finanziert werden. Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, bei der EU-Kommission nachzuhaken. Die Klärung der Finanzierung wird eine der zentralen Fragen für das Gelingen des Strukturwandels sein. Die von der Kommission angestrebte verpflichtende Prüfung der Finanzierung über sogenannte Public-Private-Partnerships, PPP, für jedes Vorhaben muss schon im Sinne der Bürokratievermeidung abgelehnt werden. Eine Finanzierung über PPP muss unter den Vorbehalt der Vorteilhaftigkeit für die öffentliche Hand – also die Bürger und Bürgerinnen – gestellt werden. Notwendig ist eine wissenschaftlich fundierte Auswertung aller bisherigen PPP-Projekte. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen auf den Dreiklang von nachhaltiger, sozialer und wirtschaftlicher Verkehrspolitik in einem grundlegenden Strukturwandel setzt. Die im Weißbuch vorgeschlagenen Sozialdialoge reichen jedoch nicht aus, um die Fragen und die Durchsetzung der Mitbestimmung, der Mindestlöhne usw. zu lösen. Wir müssen soziale Standards auf hohem Niveau europaweit sichern. Keine Frage, Europa braucht wirtschaftliches Wachstum, nachhaltiges Wachstum, um Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Nachhaltigkeit bedeutet das Zusammenspiel von Umwelt und Klimaschutz, sozialen Standards, sozialer Absicherung sowie wirtschaftlichem Erfolg und Vernunft. Die zentrale Frage wird zu klären sein: Welches Wachstum wollen wir vor diesem Hintergrund akzeptieren? Muss demnächst etwas über den Seeweg nach Wilhelmshaven oder Rotterdam transportiert und dort gelöscht werden, um in Italien dem Kunden angeboten zu werden? Eine Tütensuppe, so wurde mir erklärt, enthält 70 Inhaltsstoffe, reist mehr als einmal um den Globus und kostet den Verbraucher 80 Cent. Für die Umsetzung eines funktionierenden europäischen Verkehrsnetzes ist eine europaweite Abstimmung mit nationaler und europäischer Prioritätensetzung notwendig. Hierfür sind zielorientierte Qualitätskriterien als Entscheidungskriterien zu definieren, die nicht in erster Linie Reisezeitverkürzungen und Hochgeschwindigkeitskorridore priorisieren, sondern Zuverlässigkeit, Planbarkeit, kurze Fahrplantakte, Vermeidung von Staus und Überlastung, und dabei Sicherheit, Bezahlbarkeit, Zugänglichkeit, Barrierefreiheit und Mindestservicestandards in den Vordergrund stellen. Europa wächst zusammen und wir müssen intelligent und finanzierbar mithilfe von Infrastruktur eine Mobilität der Zukunft schaffen. Oliver Luksic (FDP): Wenn wir heute über das Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission diskutieren, dann diskutieren wir meiner Ansicht nach über einen der fast wichtigsten Bereiche des vereinten Europas. Denn Mobilität macht im Alltag für den Bürger die Vorteile eines freien Europas deutlich und ganz praktisch – und regelrecht im Wortsinne – erfahrbar. Wir begrüßen es daher, dass die Kommission im März nach langen Debatten im Vorfeld endlich ihr Weißbuch zu ihren Vorstellungen zur Zukunft der Mobilität in Eu-ropa veröffentlicht hat. Ebenso empfinde ich es also sehr positiv, dass gleich vier Bundestagsfraktionen Anträge zum Weißbuch vorgelegt haben bzw. bald vorlegen werden. Deutschland hat gerade als Transitland eine wichtige Funktion innerhalb des europäischen Verkehrssystems; daher sollten wir uns auch intensiv an den Debatten in Brüssel beteiligen – und das so frühzeitig wie möglich. Daher freue ich mich auch besonders über positive Aspekte, die sich im Weißbuch finden: etwa den Aspekt, dass Verkehrskommissar Kallas betont hat, dass die Aussage „Die Einschränkung von Mobilität ist keine Option.“ für ihn den Kernsatz im Weißbuch darstellt. Das unterstützen wir ausdrücklich. Ebenso zu begrüßen ist das klare Bekenntnis, dass sich neue Verkehrskonzepte dem Bürger nicht aufzwingen lassen. Ganz richtig! Nur die Akzeptanz durch den Bürger und die Wirtschaft kann gewährleisten, dass Mobilitätskonzepte in der Praxis wirken. Wir müssen wegkommen von ideologisch motivierter Verkehrspolitik, die die Bürgerinnen und Bürger umerziehen will. Lassen Sie uns die ewigen Eingriffe der Politik in Richtung dieses oder jenen Verkehrsträgers beenden und die Bürger und die Wirtschaft entscheiden, wie sie sich bewegen und wie sie ihre Waren von A nach B transportieren möchten! Auch dass das Weißbuch sich über alternative Finanzierungskonzepte wie ÖPP und Projektanleihen Gedanken macht, halte ich angesichts der Finanzierungsschwierigkeiten der öffentlichen Hand für dringend geboten. Denn ohne eine verlässliche Finanzierungsgrundlage können wir uns hier die schönsten Wunschzettelprojekte ausdenken – aber auf die Umsetzung in die Praxis kommt es an. Aber ich will auch nicht verhehlen, dass wir bei vielen Punkten des Weißbuches Bauchschmerzen haben. Denn der zentrale Satz, dass die Einschränkung von Mobilität keine Option ist, zieht sich nicht so als roter Faden durch das Weißbuch, wie wir uns das wünschen würden. Dafür finden wir zu viel Dirigismus im Weißbuch, etwa das vielzitierte Ziel, dass bis 2050 konventionell betriebene Fahrzeuge aus den Innenstädten verschwinden sollen. Ganz grundsätzlich wird Verkehr zu negativ und vor allem als CO2-Emittent betrachtet. Dabei hatte Kommissar Kallas in seiner Anhörung noch betont, dass Verkehr nicht nur CO2-Reduzierung ist. Dafür widmet sich das Weißbuch zu wenig den zahlreichen anderen Herausforderungen des Verkehrsbereichs wie dem massiven Anstieg der Verkehrsströme in den kommenden Jahren und seiner Bewältigung und den Schwierigkeiten der Speditions- und Logistikbranche Auch fällt das Bekenntnis zur Komodalität unserer Ansicht nach nicht klar genug aus. Der Begriff wird zwar verwendet, allerdings lassen doch einige Vorschläge der Kommission, etwa die quantitativen Verlagerungsziele, eher an Modalshift als an eine faire Komodalität denken. Für uns ist klar: Wir werden in allen verkehrspolitischen Diskussionen der nächsten Jahre streng auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten. Das gilt etwa ganz konkret für das Thema Verkehrsrecht. Ob in Städten Tempo 30 herrschen sollte oder nicht, wird am besten vor Ort und nicht in Brüssel entschieden. Einige Sätze zum SPD-Antrag: Der Antrag hat unserer Ansicht nach richtige Ansätze, er versucht allerdings einen Spagat, der nicht gelingt. Positiv zu erwähnen sind die Bekenntnisse zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrswirtschaft und zur Achtung des Subsidiaritätsprinzips. Bei dem Ziel einer bezahlbaren Mobilität für alle sind wir uns ebenfalls selbstverständlich einig. Dass Sie sich allerdings gegen innovative Finanzierungsinstrumente wie ÖPP und Projektbonds aussprechen, halte ich angesichts der Finanzierungsschwierigkeiten im Infrastrukturbereich für völlig unangebracht. Wieso Mindestlöhne die Lösung für die Probleme im Verkehrssektor sein sollen, erschließt sich mir auch nicht. Für fatal halte ich, dass Sie sich in Ihrem Antrag weiterhin gegen Trennung von Netz und Betrieb im Schienenverkehr aussprechen, ausgerechnet in einem Antrag zur europäischen Verkehrspolitik, wo doch auch im Weißbuch die strukturelle Trennung zwischen Infrastrukturbetreiber und Dienstleister empfohlen wird und derzeit schon ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik läuft. Lassen Sie uns also in der Debatte über den Antrag der Koalitionsfraktionen zum Weißbuch Verkehr noch einmal intensiv über die zustimmungs-, aber auch über die kritikwürdigen Punkte sprechen! Ihr Antrag enthält einige richtige Ansätze, aber auch vieles, dem wir nicht zustimmen können. Sabine Leidig (DIE LINKE): Verkürzte Analyse, ambitionierte Ziele, unzureichende Maßnahmen und im grundlegenden Widerspruch zur Fixierung auf Wachstum und Wettbewerb in Europa – so könnte man das Weißbuch Verkehr der EU-Kommission zusammenfassen. Zur Analyse: Die weltweite Ölförderung geht zurück. Die Konflikte darum nehmen zu. Der Ölpreis wird steigen. Die Treibhausgasemissionen müssen drastisch reduziert werden, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Beides weiß mittlerweile jedes Kind; in Sonntagsreden ist es immer wieder Thema. Aber im Verkehrssektor hat es seit 1990 einen erheblichen Anstieg der CO2-Emissionen gegeben, und zwar um über 30 Prozent. Schaut man sich aber die Verkehrsplanung der Bundesregierung an, dann sieht es so aus, als wäre ein Weiter-so möglich. Die EU-Kommission dagegen formuliert hehre Ziele. Bis 2050 soll der der CO2-Ausstoß im Verkehr um rund 70 Prozent reduziert werden. Selbst dieses Ziel ist nicht ausreichend, weil dann allein der Verkehrssektor noch mehr CO2 emittieren würde als die angestrebte Gesamtemission. Dass die SPD eine Überprüfung und gegebenenfalls Absenkung dieses Ziels fordert, ist ein schwaches Bild. Aber richtig ist: Selbst dieses Ziel ist ambitioniert und erfordert – wie es die Kommission schreibt – einen grundlegenden Strukturwandel im Verkehrssektor. Die Analyse des Weißbuchs geht jedoch nicht in die Tiefe: Während Zahlen das angeblich weiterhin notwendige Wachstum belegen sollen, fehlen wichtige Fakten zu den Umwelt- und Sozialauswirkungen. Ohne eingehende Analyse der bestehenden Infrastruktur, der Auswirkungen des gegenwärtigen Verkehrs und der herrschenden verkehrspolitischen Ansätze kann aber keine Zukunftsstrategie erarbeitet werden. So sind dann auch die vorgeschlagenen Maßnahmen unzureichend. Dies kommt schon im Zwischenziel zum Ausdruck: Reduktion bis 2030 – also etwa zur Halbzeit bis 2050 – um lediglich 20 Prozent gegenüber 2008. Damit lägen die Emissionen dann immer noch über dem Niveau von 1990. Natürlich, ein grundlegender Strukturwandel braucht Zeit, gerade wenn man die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen will. Aber dieses Zwischenziel ist vor allem der Strategie geschuldet, auf noch zu entwickelnde Technologien zu setzen. Das ist aber sehr gefährlich. Gefährlich ist zudem, die Notwendigkeit einer Verkehrsreduktion auszublenden. Bei gleichzeitiger Fixierung auf Wachstum und Wettbewerb als Ziele an sich lassen sich die Probleme nicht lösen. Leider bleibt auch der Antrag der SPD dieser Ideologie verhaftet. Verkehrsvermeidung muss nicht weniger Mobilität für die Menschen bedeuten. Im Gegenteil: Es kann mit mehr Lebensqualität verbunden sein. Dieses setzt aber eine andere Intelligenz voraus, als sie im Weißbuch, bezogen auf intelligente Verkehrsmanagementtechnologien, anvisiert ist. Wir müssen die Gesamtwirtschaft, Stadtplanung und die Bedürfnisse der Menschen zusammendenken. Welche Transporte sind notwendig? Welche Orte wollen die Menschen erreichen? Wie können die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen verbessert werden? Das sind die ersten Fragen, die zu stellen sind. Wenn Verkehrspolitik sich nur der Aufgabe stellt, Verkehrsströme besser zu lenken und Fahrzeuge effizienter zu machen, wird ein grundlegender Strukturwandel nicht gelingen. Trotz dieser strukturellen Unzulänglichkeit enthält das Weißbuch positive Ansätze. Einige sind längst überfällig, die unabhängig vom europäischen Harmonisierungsprozess von der Bundesregierung schnellstens umgesetzt werden sollten. Dazu zählt: Lückenschluss und Ausbau vor Neubau. In diese Richtung hat sich ja nun auch Herr Ramsauer geäußert – es müssen aber noch Taten folgen. Internalisierung der externen Kosten: Hier geht es um die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Kosten von Investitionen, von Lärm und Abgasen sowie von Stau und Unfällen bei der Ausgestaltung der Steuern und Abgaben. Die Sonderstellung von Firmenwagen sowie die Freistellung des See- und Luftverkehrs von Mehrwert- und Energiesteuern ist hier eine der eklatantesten Schieflagen. Bei der Verkehrssicherheit die Orientierung an der „Vision Zero“ – keine Todesfälle im Verkehr. Die soziale Dimension des Verkehrssektors stärken und die Arbeitsbedingungen attraktiver gestalten. Wenn dann aber die verpflichtende Ausschreibung für alle öffentlichen Dienstleistungen und die Abschaffung der Lotsenpflicht gefordert wird, kommt wieder die neoliberale Ideologie zum Ausdruck. Mehr Sicherheit, bessere Arbeitsbedingungen und ein höherer ökologischer Standard sind damit nicht zu erreichen. Zu Recht mahnt die SPD die stiefmütterliche Behandlung des nicht motorisierten Verkehrs an. Fuß- und Radverkehr müssen zusammen mit dem ÖPNV in Zukunft den Hauptteil des städtischen Verkehrs ausmachen. Fazit: Wir müssen so schnell wie möglich weg vom Öl und runter mit den Treibhausgasemissionen. Dafür brauchen wir eine andere Infrastruktur, für die wir heute den Grundstein legen müssen. Den notwendigen grundlegenden Strukturwandel können wir daher nicht weiter in die Zukunft verschieben. Und: Wir müssen das reine Verkehrsmanagement verlassen und zuerst die grundlegenden Fragen stellen: Welche Transporte sind notwendig? Welche Mobilitätsbedürfnisse haben die Menschen? In diesem Sinne ist das Weißbuch völlig unzu-reichend – und leider auch der Antrag der SPD. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das im März dieses Jahres von der EU-Kommission vorgelegte Weißbuch Verkehr ist grundsätzlich zu begrüßen. Es wurde Zeit, dass öffentlich anerkannt wird, wie nötig wir eine Trendwende in der Verkehrspolitik brauchen, um insbesondere die enorme Ölabhängigkeit dieses Sektors zu verringern und natürlich unsere Klimaschutzziele zu realisieren. Dafür braucht es klare CO2-Minderungsziele, ein Bündel an konkreten Maßnahmen und natürlich einen realistischen festgeschriebenen Zeitplan. Was die Ziele betrifft, hat die Kommission mit dem Weißbuch bewiesen, dass sie grundsätzlich weiter denkt, als es hier die Bundesregierung tut. So wird im Weißbuch – anders als in der Koalitionsvereinbarung von Schwarz-Gelb – ein konkretes CO2-Reduktionsziel für den Verkehrssektor genannt. Bis 2050 soll eine Minderung um 60 Prozent gegenüber 1990 erreicht werden. Das Streben nach einem umweltfreundlicheren EU-Verkehrssektor wird damit festgeschrieben. Nun sollte sich endlich auch die Bundesregierung öffentlich zu dieser Notwendigkeit einer neuen Verkehrspolitik bekennen und den Worten dann auch Taten folgen lassen. Bisher haben wir hiervon leider nichts gesehen. Oder möchte uns hier jemand weismachen, dass das Werben für eine drastische Mittelerhöhung zum Straßenneubau – womöglich finanziert über eine Pkw-Maut – und weiterhin eine Priorisierung des Autoverkehrs nach innovativen, nachhaltigen, umweltschonenden Mobilitätskonzepten klingt? Wohl kaum! Auch was die Maßnahmen betrifft, wird in dem Weißbuch zumindest ein künftiger Rahmen abgesteckt, hinter dem die Bundesregierung derzeit deutlich hinterherhinkt. Wir freuen uns deshalb umso mehr, dass auf europäischer Ebene deutlich gemacht wird, wie zentral die Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene ist, dass alle externen Kosten im Verkehrsbereich internalisiert werden müssen und dass dazu beispielsweise die Lkw-Maut sukzessive auf alle Straßen und alle Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen ausgeweitet werden muss. Auch das Ziel von emissionsfreien Städten sowie der Aufhebung von Wettbewerbsverzerrungen durch die ungleiche Besteuerung von Verkehrsmitteln wird in dem Weißbuch genannt und ist selbstverständlich als Aufforderung an die nationalen Regierungen zu verstehen. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, diesen europäischen Vorgaben zu folgen und die nötigen Weichen für eine Trendwende in der Verkehrspolitik zu stellen. Jetzt wäre die Zeit, endlich das seit Januar letzten Jahres angekündigte Energie- und Klimakonzept für den Bereich Verkehr vorzulegen. Jetzt sollte eine Strategie vorgelegt werden, mit der die Ölabhängigkeit entschieden reduziert werden kann, und jetzt sollte ein Aktionsplan erarbeitet werden, der die langfristige Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs sichert. Auch sollte man nicht nur auf Effizienzsteigerungen durch technische Innovationen hoffen, sondern sich auch trauen, über sinnvolle Verkehrsvermeidung nachzudenken. All das lässt schon viel zu lange auf sich warten. Was den Zeitplan des EU-Weißbuchs Verkehr betrifft, muss allerdings festgestellt werden, dass man sich trotz aller großen Worte und ambitionierteren Ziele noch einmal zurücklehnt und die Herausforderung auf morgen und übermorgen verschiebt. So begnügt sich die Kommission bis 2030 mit klitzekleinen Schritten von jährlich 1 Prozent, um bis dahin gegenüber 2008 lediglich 20 Prozent Treibhausgasemissionen einzusparen. Nach diesem Plan lägen wir in gut 18 Jahren immer noch 8 Prozent über dem Niveau von 1990. Es kann aber doch nicht sein, dass wir uns jetzt noch Bequemlichkeit erlauben, während dann künftige Generationen Wunder zu vollbringen haben. Denn ab 2030 sollen plötzlich Riesenschritte folgen, um bis 2050 eine Minderung um mindestens 60 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Selbst wenn dies gelänge, wären die Anstrengungen nicht mit dem selbstgesteckten EU-Ziel einer gesamtwirtschaftlichen Minderung um 80 bis 95 Prozent bis 2050 vereinbar. Angesichts dieses Missverhältnisses fordere ich die Bundesregierung auf, sich für schrittweise Minderungsziele von 25 Prozent bis 2020, 40 Prozent bis 2030, 55 Prozent bis 2040 und letztlich 70 Prozent bis 2050 einzusetzen. Nur mit solchen festen überprüfbaren Wegmarken kann der langfristige Kurs hin zu einer nachhaltigen, ressourcenschonenden und effizienten Verkehrspolitik auch gehalten und verwirklicht werden. Wer an der Machbarkeit dieser Ziele zweifelt und lieber ein Weiter-so propagiert, um das Problem in die Zukunft zu verschieben, der sollte sich überlegen, ob er diese Herausforderung nicht besser anderen überlässt. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tagesordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Mit dem Rechtsschutz für Betroffene von überlangen Gerichtsverfahren schließen wir eine Rechtsschutzlücke, die bereits seit Langem besteht und seit einigen Jahren Gegenstand der EGMR-Rechtsprechung ist. Auch während des Gesetzgebungsverfahrens, das wir heute voranbringen wollen, wurde und wird Deutschland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen des hier mangelnden Rechtsschutzes verurteilt: So hat der EGMR erst im vergangenen Mai in der Sache „Kuppinger gegen Deutschland“ die überlange Verfahrensdauer in einem Familiengerichtsverfahren gerügt. Angesichts der Beschleunigungsmaxime des § 155 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamFG, ist dieser Sachverhalt tatsächlich erschreckend: Zu Beginn des Umgangsverfahrens vor dem Amtsgericht Frankfurt Main im Mai 2005 war das betroffene Kind eineinhalb Jahre alt. Das Verfahren war im Oktober 2010, als das Kind bereits im schulfähigen Alter war, noch nicht abgeschlossen. Als Familienrichterin weiß ich aus eigener beruflicher Erfahrung, welche Bedeutung der zeitliche Aspekt gerade in Verfahren hat, in denen der Umgang mit dem eigenen Kind Streitgegenstand ist. Hier sollte es in den Instanzen eher um Monate als um Jahre gehen, steht doch das persönliche Näheverhältnis in der Eltern-Kind-Beziehung zur Disposition. Angesichts solcher Sachverhalte tritt die Rechtsschutzlücke ganz offen zu Tage. Selbst die klare Beschleunigungsregelung des FamFG vermochte hier nicht, effektiven Rechtsschutz herbeizuführen. Am vergangenen Donnerstag wurde Deutschland in zwei weiteren Verfahren (Köster./.Deutschland und Otto./.Deutschland) wegen Verfahrensdauern, die ihren gerichtlichen Ausgangspunkt beide bereits 1989 hatten, verurteilt. Auch für den heutigen Tag und für Mitte Oktober sind weitere Entscheidungen des EGMR angekündigt, die sich mit unangemessenen Verfahrenslängen in der Bundesrepublik beschäftigen. Dementsprechend bin ich froh, dass wir dem zum 1. Januar 2012 ein Ende setzen werden. Mit dem hier abschließend beratenen Gesetz fügen wir einen weiteren Baustein ins Gesamtgebilde des deutschen Staatshaftungsrechts. Dabei ist das Gesetz kein Schritt hin zu einer einheitlichen Kodifizierung dieses Rechtsgebiets. Wir verbessern lediglich punktuell den Rechtsschutz gegenüber staatlichem Handeln oder eben Nichthandeln. Eine umfassende Reform und damit eine Systematisierung der Vielzahl staatshaftungsrechtlicher Anspruchsgrundlagen steht auch nach Verabschiedung des Gesetzes weiter auf unserer Agenda. Klar ist mit der Schaffung eines Rechtsmittels bei Überlänge eines gerichtlichen Verfahrens, dass künftig auch in Deutschland jedermann, der sich einer nicht mehr hinnehmbaren Verfahrenslänge ausgesetzt sieht, über Rechtsschutzmöglichkeiten verfügt. Ich nutze diese Debatte aber auch gerne, um vorab nochmals festzustellen: Die deutsche Justiz arbeitet insgesamt schnell und auf hohem Qualitätsniveau. Eine knappe Personalausstattung, die in gewissem Maße zu einer längeren Verfahrensdauer beiträgt, hat die Justiz nicht zu verantworten. Vielmehr hat sie die große Aufgabe, im Rahmen der Haushaltsmittel ein bürgernahes und effektives Rechtsschutzsystem zu gewährleisten. Für den Betrag, der hier insgesamt zur Verfügung steht, zeichnet die Politik auf verschiedenen Ebenen verantwortlich, die hier eine Abwägung gegenüber anderen wichtigen politischen Zielsetzungen zu treffen hat, beispielsweise der Finanzierung von Bildung, Sozialleistungen oder Infrastruktur. Deshalb kann es kein Anliegen sein, hier über die Angemessenheit hinaus besonders hohe Entschädigungs- bzw. gar vollumfängliche Schadenersatzansprüche zu schaffen. Bei der konkreten Bemessung der Entschädigungshöhe geraten wir in den Beratungen regelmäßig in einen Überbietungswettbewerb. Deshalb war der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen betreffend eine Entschädigung für Nichtvermögensnachteile in Höhe von 1 000 Euro pro Monat der Verzögerung nicht zielführend. Das Geld würde an anderer Stelle fehlen. Jedem muss doch in Zeiten der Schuldenbremse und des Abbaus der Staatsverschuldung klar sein, dass hohe Forderungen in einem Bereich zu Kürzungen in anderen Bereichen führen. Außerdem würde eine monatliche Bemessung den Eindruck erwecken, dass sich die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens in Monaten bemessen würde. Es geht hierbei aber immer um Zeitspannen, die in Jahren zu bemessen sind. Ich denke, wir haben im parlamentarischen Verfahren einige wesentliche Verbesserungen zum Regierungsentwurf vorgenommen: So passen wir die Rechtsfolgenseite des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG an die Rechtsprechung des EGMR an, indem wir einen Anspruch auf angemessene Entschädigung vorsehen. Damit gehen wir bewusst von schadenersatzrechtlichen Erwägungen im Regierungsentwurf ab, die nicht zuletzt Ansprüche hinsichtlich entgangenen Gewinns umfasst hätten. Hiermit wären wir einerseits als Gesetzgeber weit über die Straßburger Vorgaben hinausgegangen. Andererseits hielte ich es nicht für vertretbar, die Landeshaushalte mit der Regelung eines staatshaftungsrechtlichen Teilbereichs einem solch erheblichen zusätzlichen Kostenrisiko auszusetzen. Ferner befinden wir uns bei den nun normierten Ansprüchen im Bereich der verschuldensunabhängigen Haftung. Hier sehe ich für Ansprüche nach den §§ 249 ff. BGB keinen Raum. Im deutschen Staatshaftungsrecht hat sich ein ausgewogenes Verhältnis von Verschulden/Verschuldensunabhängigkeit einerseits und dem Anspruchsumfang andererseits ausgeprägt. Mit der angemessenen Entschädigung bei Nachteilen wegen überlanger Gerichtsverfahren entsprechen wir nun dieser Systematik. Ferner sieht § 198 Abs. 3 und 4 GVG die Möglichkeit der Entschädigung immaterieller Nachteile „auf andere Weise“ vor, welche beispielsweise in der gerichtlichen Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer liegen kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir uns systematisch richtigerweise nicht im Bereich des Schadenersatzrechts, sondern vielmehr im Entschädigungsrecht befinden. Mit der Vermutungsregelung hinsichtlich des Vorliegens eines immateriellen Nachteils bei bloßem Vorliegen einer Verfahrensüberlänge tragen wir den Beweis- und Darlegungsschwierigkeiten der Betroffenen in diesem Bereich Rechnung. Materielle Nachteile hingegen sind mit den allgemeinen Regeln, beispielsweise des Anscheinsbeweises oder der Berücksichtigung typischer Kausalverläufe, angemessen geregelt. Um hier aber letzte Sicherheit zu bekommen, werden wir die Erfahrungen bei der Geltendmachung materieller Nachteile evaluieren. Ich muss zugeben, dass ich mir noch einige weitere Verbesserungen gewünscht hätte. So weiß ich um einigen Unmut aus den Regionen, die in einem OLG-Bezirk liegen, welcher nicht den Sitz der Landesregierung umfasst. Wie nun die Richterkollegen beispielsweise im OLG-Bezirk Karlsruhe der Beurteilung ihrer Verfahrenslängen durch das OLG Stuttgart gegenüberstehen, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen. Hier hätte ich, hätte die Union keinen Anlass gesehen, auf der Ebene des Entschädigungsverfahrens den OLG-Bezirk zu verlassen. Wir werden beobachten, ob das Gesetz auch in diesem Punkt den eingespielten Abläufen in den Landesjustizverwaltungen nicht entgegensteht. Auch wäre es meines Erachtens hilfreich gewesen, mit dem Tatbestandsmerkmal „überlange Dauer“ in § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen sprachlich deutlicheren Bezug zur EGMR-Rechtsprechung im Gesetz zu verankern. Es sollte nicht das Signal an die Rechtsanwender ausgesendet werden, dass bereits vergleichsweise geringe Verzögerungen zur sogenannten Rüge berechtigen. Dennoch besteht die Hoffnung, dass die Praxis aus der Gesetzesbegründung und nicht zuletzt aus den Plenarprotokollen entnimmt, dass die nun normierte „Unangemessenheit“ der Verfahrensdauer allein auf die „Ausreißer“ bezogen ist, die der EGMR in seiner Recht-sprechung zum Gegenstand macht. Die Verfahrenslängen liegen hier bei mehreren Jahren, die in den Instanzen nicht selten in den zweistelligen Bereich gehen, wie „Sürmeli gegen Deutschland“ aus 2006 mit Verfahrensbeginn 1982 oder die beiden eingangs genannten Fälle, die ihren Ausgang beide im Jahr 1989 hatten. Aus all diesen Erwägungen werden wir schließlich evaluieren. Wir wollen genau beobachten, welche Erfahrungen die Rechtsuchenden und die Justizverwaltungen mit den Neuregelungen machen. Auch wenn ich fest davon ausgehe, dass der Entschädigungsanspruch für erlittene materielle Nachteile von den deutschen Gerichten nicht unterhalb des Maßstabs der bisherigen EGMR-Rechtsprechung angesetzt werden wird, wollen wir prüfen, ob den Belangen der Betroffenen mit den jeweils ausgeurteilten Entschädigungshöhen hinreichend Rechnung getragen wird. Gleiches gilt für die Anforderungen an den Nachweis eines kausalen Vermögensnachteils. Die parlamentarischen Beratungen können sicherlich nicht alle Unwägbarkeiten in Bezug auf die künftige Handhabung des neuen Rechtsmittels auflösen. Wenn beispielsweise befürchtet wird, dass künftig ein rügebefangenes Verfahren vorrangig gegenüber anderen Streitsachen behandelt wird, oder wenn die Sorge vor einer Schwemme von unangemessenen Verzögerungsrügen geäußert wird, so liegt es an den Gerichten selbst, dies auszuräumen. Ich bin zuversichtlich, dass der Rechtsstaat auch an dieser Stelle in der Lage ist, Rechtsverletzungen präventiv zu verhindern oder eben angemessen zu entschädigen. Um jedoch zum Kontext, in dem dieses Gesetz steht, zurückzukehren: Gerade vor dem Hintergrund einer künftigen umfassenden Reform des Staatshaftungsrechts ist es aus meiner Sicht richtig, die Erfahrungen mit einem neuen Rechtsmittel detailliert zu erfassen und in allgemeine staatshaftungsrechtliche Beratungen einfließen zu lassen. Nicht umsonst haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, das Staatshaftungsrecht zu kodifizieren und einheitlich auszugestalten. Angesichts eines solch umfassenden Projekts, für das es in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrere gescheiterte Anläufe für ein Staatshaftungsgesetz gab, ist es wichtig, auch einzelne Rechtsmittel wie das gegen Verfahrens-überlängen so auszuformen, dass sie ihrerseits der bisherigen Systematik entsprechen. Mit dem nun gestalteten Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren behalten wir die bisherige historisch entwickelte staatshaftungsrechtliche Systematik bei. Das deutsche Staatshaftungsrecht ist mit seiner Vielzahl von Normen und Anspruchsgrundlagen bisher nicht transparent geregelt. Wenn es uns gelingt, die Regelungen in einem einheitlichen Gesetz zusammenzuführen, könnten wir eine nun mehrere Jahrzehnte diskutierte offene Wunde der Rechtspolitik schließen. Dabei geht es gar nicht so sehr um Veränderungen der Haftungsmaßstäbe und die Ausweitung des Entschädigungsumfangs, sondern um eine Systematisierung der Anspruchsgrundlagen. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Schließung von wichtigen Baustellen wie dem Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren in absehbarer Zeit auch ein transparent und schlüssig gestaltetes Staatshaftungsrecht auf den Weg bringen werden. Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und, was nicht vergessen werden darf, bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Worum geht es bei diesem Gesetzentwurf? Es geht darum, das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen und eine Rechtsschutzlücke im deutschen Recht zu schließen. Kurz: Es geht darum, dass die Verzögerungsrüge und unter Umständen die daraus folgenden Entschädigungszahlungen im Detail gesetzlich geregelt werden. Ich bin überzeugt, dass wir mit der in den Beratungen gefundenen Regelung dazu beitragen, dass das Vertrauen in die Arbeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften, letztlich in den deutschen Rechtsstaat, gestärkt wird. Die Normen sind verfassungsrechtlich notwendig. Denn Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 GG sowie die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1 fordern einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in angemessener Zeit. Die Regelungen sind aus der gerichtlichen Praxis heraus auch tatsächlich geboten. Sie werden eine Verkürzung der Dauer des Verfahrens bewirken. Tatsächlich wird das Gesetz zu einer Bewusstseinsbildung und -schärfung auch mit Blick auf die Geschäftsverteilung der Gerichte führen. In Zukunft wird zum Beispiel ein Gerichtspräsidium Maßnahmen wie Umverteilungen innerhalb eines Gerichtes eher vornehmen, um Gerichtsverfahren gerade schneller zu erledigen und sich damit nicht dem Vorwurf eines überlangen Verfahrens auszusetzen. Auch wird es präventiv dazu führen, dass jeder Richter sich bemühen wird, zumindest vermeidbare Verfahrensverlängerungen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen, zu verhindern. Der Präsident des Finanzgerichts in Baden-Württemberg, Dr. Hans-Peter Korte, hat es im Rahmen der öffentlichen Anhörung zu dem Gesetzentwurf am 23. März 2011 auf den Punkt gebracht: Er hat ausgeführt, dass „ein zeitgerechter Abschluss eines Verfahrens auch ein hohes Qualitätsmerkmal“ ist. „Qualität der Justiz ist nicht nur, geschliffene Urteile zu schreiben, sondern auch in angemessener Zeit ein Verfahren zum Abschluss zu bringen.“ Sicherlich ist es so, dass man Richter nicht dem Vorwurf aussetzen sollte, lieber schnell anstatt richtig im Verfahren zu entscheiden. Aber die Befürchtungen, die auch immer wieder vom Richterbund geäußert werden, die richterliche Unabhängigkeit werde dadurch beeinträchtigt, dass durch das Instrument der Verzögerungsrüge unzulässiger Druck auf diese ausgeübt werde, halte ich für abwegig. Auch ist die Befürchtung, dass mit dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über die einzelnen Gerichte hereinbrechen könnte, sicherlich übertrieben. Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der vorliegende Gesetzentwurf aus meiner Sicht sachgerecht erscheint. Wir als SPD Bundestagsfraktion begrüßen zudem ausdrücklich das Ziel des Gesetzentwurfs, durch eine Konzentration der Verfahrens bei einem Gericht eine möglichst einheitliche Rechtsprechung in einem Land zu erreichen. Der pauschale Entschädigungsanspruch für immaterielle Schäden in Höhe von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung ist zwar eher gering als zu hoch einzuschätzen. Aber durch die in dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen eingeführte Evaluierung des Gesetzes nach zwei Jahren kann diese Höhe im Rahmen der Evaluierung nochmal überprüft werden. Aus Sicht der SPD wird dieses Gesetz generalpräventiv Druck auf die Gerichte insgesamt ausüben, die Verfahrensdauer von Gerichtsverfahren insgesamt zu verkürzen. Dabei darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Fachgerichtsbarkeit – zum Beispiel bei den Sozialgerichten – eine ordentliche Personal- und Finanzausstattung vonnöten ist. Gleichwohl ist dieses Gesetz aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion das Ergebnis einer sach- und fachgerechten Abwägung der berechtigten Interessen der Gerichte und ihrer Richter auf der einen, aber auch der rechtsuchenden Bürger – und deren Anspruch auf schnelle Entscheidung – auf der anderen Seite. Christian Ahrendt (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass wir den Betroffenen überlanger Gerichtsverfahren nun ein wirksames Mittel in die Hand geben, um sich gegen unangemessen lange Prozesse zur Wehr zu setzen. Es ist untragbar, wenn die übermäßige Verfahrensdauer zu einer persönlichen und finanziellen Belastung der Betroffenen führt. Jeder soll Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz in angemessener Zeit haben. Gerichtsverfahren dauern trotzdem vereinzelt zu lang, auch wenn Deutschland bei der Prozessdauer im internationalen Vergleich gut dasteht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, hat in der Vergangenheit von Deutschland bessere Rechtsbehelfe bei überlangen Verfahren verlangt. Bei vier von fünf Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR ging es um überlange Prozesse. Aber auch das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte haben mehrfach den Stellenwert des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer bekräftigt. Zu lange gab es bei überlangen Gerichtsverfahren im deutschen Recht keine speziellen Rechtsschutzmöglichkeiten. Dem wird nun ein Riegel vorgeschoben. Mit diesem Gesetz schaffen wir nun die notwendigen Voraussetzungen für mehr Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsprozessen und schließen damit die Rechtsschutzlücke, die sowohl nach den Anforderungen des Grundgesetzes als auch nach denen der Europäischen Menschenrechtskonvention besteht. Betroffene müssen zunächst im Ausgangsverfahren auf die Verzögerung hinweisen. Dies gibt den Richtern erst einmal die Möglichkeit, bei berechtigter Kritik Abhilfe zu schaffen. Auch soll eine Verzögerungsrüge erst nach einer Wartefrist von sechs Monaten wiederholt werden können, damit Gerichte nicht durch mehrfache Rügen unnötig belastet werden und ein Richter ausreichend Zeit hat, wirksam zu reagieren und somit das Verfahren zu fördern. Aus dem gleichen Grund kann im Anschluss an eine Verzögerungsrüge auch frühestens nach sechs Monaten Klage beim Entschädigungsgericht eingelegt werden. Die ausschließliche Zuständigkeit für die Entschädigungsklagen gegen ein Land liegt bei dem Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat, für Klagen gegen den Bund beim Bundesgerichtshof. Bei einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer sind dem Betroffenen die daraus resultierenden Nachteile zu ersetzen. Der Ersatz umfasst die materiellen Nachteile und, soweit nicht nach den Einzelfallumständen Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, auch die immateriellen Nachteile. Dieser Ansatz bietet damit nicht nur einen effektiven Rechtsschutz, sondern vermeidet auf der anderen Seite unnötige Mehrbelastungen für die Justiz. Die Betroffenen konnten bisher nur versuchen, sich mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Richter oder äußerstenfalls mit einer Verfassungsbeschwerde zu wehren. Für den Ausgleich von Nachteilen gab es nur den allgemeinen Amtshaftungsanspruch, der oft nicht weiterhalf, da er nur für schuldhafte Verzögerungen gilt, um die es in vielen Fällen aber nicht geht. Außerdem deckt die Amtshaftung keine immateriellen Nachteile ab, wie etwa seelische oder gesundheitliche Belastungen durch überlange Gerichtsverfahren. Der Entwurf setzt auf Prävention vor überlangen Prozessen und auf Kompensation der daraus resultierenden Folgen. Aufgrund der Unterschiede bei der zeitlichen Behandlung von Rechtssachen ist von den Justizverwaltungen und den für die Haushalte der Länder verantwortlichen Stellen zu erwarten, dass der im Gesetzentwurf vorgesehene Anspruch auf Entschädigung zum Anlass genommen werde, die Ressourcen der Justiz zu verbessern. Durch den Druck, der durch die Entschädigungsvoraussetzungen ausgeübt wird, wird man zudem dem Beschleunigungsgebot angemessen gerecht und fördert konkludent das Verfahren. Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt, sollte besonders gut werden. So hatte ich meinen Beitrag in der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes im Januar begonnen. Doch weder eine öffentliche Anhörung, noch Änderungs- und Entschließungsanträge der Regierungskoalition konnten diesem Gesetzentwurf die nötige fachliche und praktische Brillanz verleihen. Auch meine Fraktion hat durch die Einbringung eines Änderungsantrages in den Rechtsausschuss versucht, sich konstruktiv zu beteiligen. Leider wurde unser Antrag abgelehnt, und leider nehmen Sie unsere Argumente immer erst dann ernst, wenn sie diese ein paar Jahre später vom Bundesverfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hören. Mit Ihrem Entwurf sind Sie wieder einmal im Verzug, ein fast schon gewohntes Phänomen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Bundesrepublik Deutschland am 2. September 2010 verpflichtet, binnen eines Jahres einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbehelfe einzuführen. Jede Anwaltskanzlei, die so nachlässig gesetzte Fristen missachtet, hätte schon längst Insolvenz anmelden müssen. Anscheinend ist es sinnvoll, einen Rechtsbehelf gegen überlange Gesetzgebungsverfahren oder eine Untätigkeitsrüge gegen die Bundesregierung einzuführen. Der EGMR stellt in seiner Entscheidung fest, dass es sich bei den überlangen Gerichtsverfahren in Deutschland um ein strukturelles Problem handelt. Das in dem Regierungsentwurf vorgesehene Rechtsmittel ist allenfalls die zweitbeste Lösung für dieses Problem. Als solches sieht nämlich der EGMR ein vorbeugendes Rechtsmittel an. Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausreichende personelle und sachliche Ressourcen zu Verfügung zu stellen, damit es nicht erst zu überlangen Verfahren kommt. Durch das nun vorgeschlagene Entschädigungsverfahren werden unnötig Kapazitäten bei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzögerungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch die Entscheidung über den Entschädigungsantrag gebunden. Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsacheverfahren, liegen. Die von der Koalition angedachte Beschleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt. Anscheinend gehen sie davon aus, dass die Richterinnen und Richter im Moment noch über ausreichend freie Arbeitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzögerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so, und das sage ich Ihnen aus 20-jähriger Erfahrung als Arbeits- und Sozialrichter. Es besteht die Gefahr, dass die betroffenen Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingang einer Verzögerungsrüge auf Kosten anderer – ebenfalls wichtiger und dringlicher Verfahren – vorziehen. Ich habe einen anderen Lösungsvorschlag: Sorgen Sie für eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben Sie der Justiz mehr Autonomie, dann bekommen wir die Probleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff. Die Gründe für überlange Verfahrensdauern sollten nicht immer bei den Gerichten gesucht werden. So wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswidrige Hartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den Sozialgerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs Jahren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der Sozialgerichtsbarkeit geführt. Da muss sich niemand mehr wundern, wenn aufgrund der Vielzahl von sozialrechtlichen Verfahren beispielsweise ein rentenrechtliches Verfahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über die Instanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigt und im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen überlanger Verfahrensdauer abgeschlossen wird. Wo wir gerade beim SGB II sind: Was bleibt eigentlich einem Hartz-IV-Empfänger, wenn er eine Entschädigung für ein mehrere Jahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt? Wahrscheinlich nichts; denn diese wird wohl auf seine Regelleistungen angerechnet. Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbetrages, der Nicht-Vermögensschäden ausgleichen soll, lehnen wir ab. Stattdessen sollte ein Betrag für jeden Monat der Verzögerung als Untergrenze und nicht als feste Entschädigung festgelegt werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlichen psychischen Belastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinnvoll. Mit einem Änderungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzentwurf versucht die Koalition den Anspruch zu beschränken. Indem man die „Entschädigung“ in eine „angemessene Entschädigung“ umwandelt und dann erklärt, dass damit eine verschuldensunabhängige Haftung gegeben ist, darf der tatsächlich entstandene Schaden nicht mehr ersetzt werden. Die Haftung für den entgangenen Gewinn ist damit ausgeschlossen. Da man sich aber auch noch nicht sicher ist, ob dieses neue Instrument missbraucht werden oder überhaupt bei den Gerichten auf Zustimmung stoßen wird, sieht die Koalition in einem Entschließungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzentwurf vor, die praktischen Folgen dieses Gesetzes nach zwei Jahren zu überprüfen. Dabei werden Sie merken, dass Ihre Lösung nicht den Anforderungen des EGMR entspricht, was wir Ihnen aber schon heute sagen können. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleisten den Anspruch jedes Bürgers und jeder Bürgerin auf Rechtsschutz – und zwar in angemessener Zeit. Wir alle wissen: Die große Mehrzahl der gerichtlichen Verfahren in Deutschland wird zeitnah abgeschlossen. Dennoch gibt es einzelne Verfahren, die Jahre oder gar Jahrzehnte dauern. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat deshalb zu Recht die Bundesrepublik in über 50 Fällen wegen unangemessener Verzögerung von Gerichtsverfahren verurteilt. Zusätzlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass wir im deutschen Recht noch keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren haben. Er hat auch Mindestanforderungen an einen solchen Rechtsbehelf aufgestellt. Diese Anforderungen müssen und wollen wir gesetzlich umsetzen. Aber warum sollten wir uns auf diese Mindestvorgaben beschränken? Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention geben lediglich den äußeren Rahmen für die Gesetzgebung vor. Die Ausgestaltung dieses Rahmens ist unsere Aufgabe im Bundestag. Hier gilt es, möglichst wirkungsvoll zu arbeiten und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung konzentriert sich auf die Einführung einer Verzögerungsrüge und einer nachträglichen Entschädigungslösung. Die Entschädigung für immaterielle Nachteile kann nur verlangt werden, „soweit nicht“ – so der Wortlaut des Entwurfs – „Wiedergutmachung auf andere Weise“ ausreichend ist. Die „Wiedergutmachung auf andere Weise“ soll insbesondere durch eine gerichtliche Feststellung erfolgen, dahin gehend, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. In welcher Weise kann solch eine Feststellung aber etwas wiedergutmachen? Und: Welchen Nutzen soll der Betroffene aus dieser Feststellung ziehen? Wir Grünen setzen uns für eine Umkehr der Rangfolge im Entwurf ein: In der Regel ist die Entschädigung in Geld zu leisten; nur in Ausnahmefällen kann die Wiedergutmachung auch auf andere Weise erfolgen. Hinzu kommt: Der Entwurf sieht eine Entschädigung von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung vor. Das bedeutet zum einen, dass derjenige, dessen Verfahren sich zum Beispiel um elf Monate verzögert, keine Kompensation erhält. Zum anderen könnte es für Bund und Länder günstiger sein, überlange Verfahren hinzunehmen, anstatt an den Strukturen in der Justizverwaltung zu arbeiten und eventuell auch neue Richter und Richterinnen einzustellen. Diese Entschädigung ist viel zu niedrig. Angemessen wäre ein Entschädigungsbetrag von 1 000 Euro pro Monat. Eine nachträgliche Entschädigungslösung ist aber auch nicht ausreichend. Wir müssen auch präventiv denken. Um sicherzustellen, dass Gerichtsverfahren in angemessener Zeit abgeschlossen werden, schlagen wir deshalb eine Regelung vor, gemäß der das Präsidium des Gerichts ein Verfahren an den Vertretungsrichter übertragen kann, wenn der zuständige Richter verzögert arbeitet. Bewusst stellen wir die Entscheidung hierüber in das Ermessen des Präsidiums, um die Unabhängigkeit der Richter zu wahren und den Gerichten eine Entscheidung im Einzelfall zu ermöglichen. Die Arbeit der Justiz hängt natürlich zudem von der sachlichen und personellen Ausstattung der Gerichte ab. Der Schlüssel zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes liegt also auch in der Bereitstellung von ausreichenden Mitteln für die Justiz. Wir meinen deshalb, dass das Präsidium des Gerichts feststellen sollte, wie viele Richterstellen voraussichtlich zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufgaben benötigt werden. Diese Feststellung sollte das Präsidium dann dem Haushaltsgesetzgeber zuleiten können. Wir Grünen fordern mit unseren Änderungsanträgen zum Regierungsentwurf dazu auf, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben. Wir wollen das Ziel – die Gewährung effektiven Zugangs zum Recht – umfassend anzugehen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen – EURATOM auflösen (Tagesordnungspunkt 14) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe, möchte ich eine grundlegende Überlegung vorwegstellen: In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, schlagen Sie eine duale Vorgehensweise vor: Zum einen wollen Sie im Lichte des Reaktorunfalls von Fukushima nicht nur die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Atomgemeinschaft, Euratom, beenden, sondern sprechen sich darüber hinaus auch für deren grundsätzliche Auflösung aus. Zum anderen aber wollen Sie die Forschung im Bereich erneuerbarer Energien auf europäischer Ebene stärken. Diese antagonistische Betrachtungsweise der Dinge teile ich grundsätzlich nicht. Die Europäische Atomgemeinschaft gehört zu den drei Vertragsregimes, auf deren Grundlage das verfasste Europa entstanden ist. Sie wurde zeitgleich mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG – der späteren Europäischen Gemeinschaft, EG –, in den Römischen Verträgen von 1957 begründet und besteht seither ohne wesentliche Änderungen fort. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 ging die EG in der Europäischen Union, EU, auf; damit bleibt nur die Euratom als eigenständige Organisation bestehen, ist jedoch in ihren Strukturen vollständig an die EU angegliedert. Was sind überhaupt die Aufgaben von Euratom? Art. 1 des Vertrags führt aus: Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es, durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen. Heute geschieht dieses insbesondere über die Forschungsaktivitäten. Hierzu hat sich in den letzten Jahrzehnten der gesellschaftliche Konsens in Deutschland tatsächlich verändert, worauf ich später nochmals eingehen werde. Politisch wichtig ist aber, dass die Gründung von Euratom darüber hinaus stets das Ziel der europäischen Friedenssicherung verfolgte – indem ähnlich wie schon bei der Montanunion durch „Vergemeinschaftung“ der Nukleartechnik eine gegenseitige Kontrolle ermöglicht wird – Art. 2 Buchstabe e. Diese Zielsetzung in diesem sensiblen Bereich der Hochtechnologie ist bis heute gültig. Jenseits dieser grundsätzlichen Dimension ist aber vor allem zu beachten, dass die Energiepolitik für alle europäischen Staaten und damit auch für Deutschland vor großen Herausforderungen steht. Die Sicherheit unser aller Energieversorgung wird maßgeblich durch zwei Entwicklungen vor völlig neue Herausforderungen gestellt: Erstens führt der gewaltig steigende Energiebedarf der aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indien sowie anderer Schwellenländer bei begrenzten Energiereserven und -ressourcen zu einem deutlichen Anstieg des globalen Energieverbrauchs und damit zu einer verschärften Nachfragekonkurrenz auf den internationalen Energiemärkten. Zweitens wächst die Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten aus politischen Krisenregionen. Beide Entwicklungen machen deutlich, dass die Frage der Versorgungssicherheit ein Anliegen nationaler Sicherheit nicht nur für Deutschland darstellt. Die außen- und sicherheitspolitische Dimension des Themas wird in anderen Staaten bereits seit geraumer Zeit berücksichtigt. Außerdem ist die Energieversorgung seit 2001 Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, der Europäischen Union. Wenn man aber diese zentralen strategischen Aspekte der Versorgungssicherheit vernachlässigt, erhält man kein vollständiges Bild des Zusammenhangs, in dem wir Euratom zu bewerten haben. Meine Damen und Herren von der Linken, das macht sehr deutlich, dass Ihre im Antrag erhobene Forderung nach genereller Auflösung von Euratom in Europa keine Mehrheit finden würde, da wesentliche Partnernationen wie Frankreich und Großbritannien an Nuklearenergie als strategisch wichtigem Bestandteil ihrer jeweiligen Energieversorgung festhalten. Energiepolitik unter Einbezug von Nuklearenergie bleibt auf europäischer Ebene ein Faktum – auch wenn wir in Deutschland einen anderen Weg gehen wollen. Ob der zweite Teil Ihrer Forderung – also der nach einem einseitigen Austritt Deutschlands – weise überlegt ist, bezweifele ich außerdem. Es ist nicht nur so, dass es mutmaßlich rechtlich sehr schwierig wäre, einen solchen Schritt zu vollziehen. Aber angenommen, Deutschland würde austreten: Es würde an Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechten, beispielsweise in Bezug auf die Einhaltung von Sicherheitsstandards in Atomkraftwerken, verlieren. Das kann gerade mit Blick auf die in den Nachbarstaaten betriebenen Kernkraftwerke nicht unser Interesse sein. Auch deshalb lehnt die Fraktion von CDU und CSU nicht nur eine allgemeine Auflösung von Euratom ab, sondern auch einen einseitigen Austritt Deutschlands. Sehr viel mehr Sympathie habe ich für Ihre Forderung nach Stärkung der Erforschung erneuerbarer Energien. So geht ein Bericht der EU-Kommission über die Versorgungssicherheit der EU von 2005 davon aus, dass die Abhängigkeit der EU von Energieimporten von 50 Prozent auf 70 Prozent im Jahr 2030 steigt. Bis dahin wird die EU 90 Prozent ihres Erdölbedarfs und 70 Prozent ihres Erdgasbedarfs importieren müssen. Zugleich wird sich die weltweite Energieförderung auf immer weniger Länder – vor allem in der instabilen Region des erweiterten Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas, MENA – konzentrieren: 65 Prozent aller Erdölreserven und 34 Prozent aller Gasreserven finden sich im Persischen Golf. Ein politisch in höchstem Maße krisenanfälliges Land wie der Iran verfügt nach Saudi-Arabien über die weltweit zweitgrößten Erdölvorkommen und nach Russland über die weltweit zweitgrößten Erdgasvorkommen. Diese Abhängigkeiten müssen reduziert werden – und deshalb ist die Förderung erneuerbarer Energien richtig, ja notwendig. Mit den Beschlüssen zur Energiewende wird die Bundesregierung die weltweit führende Rolle Deutschlands bei Konzepten und Technologien im Bereich der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien nutzen, um die Abhängigkeit unserer Energieversorgung weiter zu reduzieren. Dazu müssen wir alles tun, die technologische Führungsrolle zu verteidigen und auszubauen – hierzu fördern wir national, aber auch europäisch bereits heute in erheblichen Größenordnungen. Ob dann die von Ihnen vorgeschlagene Konstruktion einer Europäischen Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien allerdings der richtige Weg ist, wage ich zu bezweifeln. Der historische Trend seit den 1950er-Jahren läuft doch gerade genau andersherum: Vergemeinschaftung und Integration anstatt Zersplitterung und Differenzierung. Insofern liegt die Zuständigkeit zur Förderung dieser neuen Energieträger im Kontext des europäischen Forschungsrahmenprogramms genau richtig, nämlich bei der Europäischen Kommission. Die Gründung einer neuen europäischen Gemeinschaft ist demnach institutionell sinnlos, politisch unklug und alles andere als zeitgemäß. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich bin bekanntermaßen ein Verfechter der erneuerbaren Energien, und ich bin stolz darauf, dass wir in Deutschland sagen können: Erneuerbare lieferten im ersten Halbjahr 2011 mehr als 20 Prozent des Stroms in Deutschland. Das ist eine Leistung des deutschen Gesetzgebers – eine Leistung, die auf das unter Helmut Kohl eingeführte Stromeinspeisegesetz zurückzuführen ist, auf dem heute das EEG basiert und das benannte Output von heute mehr als 20 Prozent Erneuerbare geschaffen hat. Das ist mir wichtig zu sagen, wenn Sie in Ihrem Antrag etwa formulieren: Der Umstieg von Atomenergie auf erneuerbare Energien ist sowohl politisch als auch finanziell längst überfällig. Guten Morgen, meine Kollegen von den Linken! Deutschland hat in Europa in Sachen Aufbau von Erneuerbaren und Ausstieg aus der Kernenergie eine – wenn auch sehr mutige und optimistische – Vorreiterrolle eingenommen. Das Thema Aufbau der Erneuerbaren haben wir politisch in Deutschland längst auf den Weg gebracht. In den nächsten Jahren werden unsere europäischen Nachbarstaaten sicherlich ein besonderes Augenmerk darauf haben, wie wir in Sachen Speicher und Netze vorankommen, damit auch nach unserem sukzessiven Ausstieg aus der Kernenergie die Netzstabiliät genauso gewährleistet werden kann, wie die Grundlast und Bedarfsspitzen abgedeckt werden können. Die Praktikabilität unseres deutschen Ausstiegs aus der Kernenergie, das wird das A und O sein, nach dem der deutsche Ausstieg in Europa und international beurteilt wird. Hierauf muss unser Augenmerk liegen. Wenn die Linke nun in Ihrem Antrag eine weitere Institutionalisierung über eine „alternative Europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeinsparung“ vorschlägt, dann stellt sich mir als Ökonom die Frage: Mit welcher Zielrichtung? Unseren deutschen Weg werden wir vor allen Dingen mit markt- und energiewirtschaftlichen Fakten belegen müssen. Ich darf am Rande daran erinnern: Wir haben bereits eine internationale Organisation für erneuerbare Energien – nämlich IRENA, eine internationale Organisation, die sich ausschließlich auf erneuerbare Energien konzentriert – auf den Weg gebracht. Das Gründungsstatut haben die Europäische Union und fast 150 Staaten längst gezeichnet. IRENA wird dabei eng mit anderen internationalen Organisationen, etwa der Internationalen Energie-Agentur, auch kurz „IEA“ genannt, sowie mit Netzwerken wie REN21, zusammenarbeiten. Eine weitere Institutionalisierung vorzuschlagen – ihre Zielrichtung ging dabei wohl mehr dahin, Ihren Antrag formal aufzufüllen. Aber dessen ungeachtet lassen Sie mich einen kurzen Exkurs machen: Was wäre die Zielrichtung einer solchen europäischen Institution? Wollten Sie damit das leidige Harmonisierungsthema im Bereich Erneuerbare in Europa beflügeln, um über die Europäische Union zu versuchen, unser EEG-Erfolgsgesetz durch eine Quotenregelung zu ersetzen? Durch eine solche Quotenregelung würden wir Wertschöpfung im eigenen Land – und zwar gerade im Herzstück der deutschen Wirtschaft, dem Mittelstand – verlieren. Außerdem hätten wir bei einer Quotenregelung nicht mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem eigenen Land unabhängiger zu werden. Von Effektivitätsfragen ganz zu schweigen! Wir haben mit dem EEG eben nicht zufällig für Deutschland eine Vorreiterrolle bei den Erneuerbaren erzielt. Das dürfen wir nicht einfach im Zuge einer europäisch initiierten Gleichmacherei dulden. Aber nun zum zentralen Anliegen Ihres Antrags, Euratom aufzulösen, das ist ja bereits aus sich heraus als schlicht untauglich zu bewerten. Zunächst vorab: Was ist Euroatom? Vielleicht liegt der Grund dafür, dass Ihr Antrag unbrauchbar ist, schlicht darin begründet, dass Sie den Kern des Euratom-Vertrags nicht verstanden haben: Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, also der Euratom-Vertrag, gehört zu den 1957 geschlossenen sogenannten Römischen Verträgen. Die Regelung der friedlichen Nutzung der Kernenergie durch den Euratom-Vertrag hat sich historisch bedingt aus der Nachkriegszeit heraus entwickelt. Dabei geht die Regelung aber weit über den Bereich der Nuklearenergie im engeren Sinne hinaus und betrifft etwa auch den Anwendungsbereich der nuklearen Medizin sowie der Forschung und Wissenschaft. Wichtig ist: Deutschlands Entscheidung eines vorzeitigen Ausstiegs aus der Kernenergie wird durch den Euratom-Vertrag nicht beeinträchtigt. Klar muss uns in Deutschland aber auch sein, dass unser deutscher Weg in Sachen Energiepolitik ein Sonderweg war, den Europa nicht einfach so mitgehen wird, und wir können die Mitgliedstaaten auch nicht dazu „verhaften“. Hierzu gibt es schlicht keine Rechtsgrundlage. Wir können nur auf dem beschriebenen Weg – mit energie- und wirtschaftspolitischen Fakten – Überzeugungsarbeit leisten. Zu Ihrem Antragsanliegen, Euratom aufzulösen: Der Euratom-Vertrag sieht kein Kündigungsrecht vor. Vielmehr regelt Art. 208, dass der Vertrag auf unbegrenzte Zeit geschlossen wird. Hier gilt: Pacta sunt servanda. Das heißt: Verträge sind einzuhalten. Will heißen: Es gibt das Gebot der Vertragstreue. Und an dieses Gebot hat man sich in demokratischen rechtsstaatlichen Gefilden zu halten – auch wenn das jenem Teil der Linken, die dem alten SED-Geschwader angehörten, vielleicht noch heute nicht in der Gänze verständlich erscheint. Ich darf zusammenfassen: Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der Europäischen Atomgemeinschaft ist eben nicht vorgesehen. Anhaltspunkte für das, was Juristen „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ nennen, gibt es keine. Allein der EU-Vertrag sieht eine Kündigungsmöglichkeit für EU-Mitgliedstaaten vor, der Euratom-Vertrag nicht. Deswegen wäre ein Verlassen des Euratom-Vertrages nur bei einem Ausscheiden aus der EU möglich. Eine EU-Mitgliedschaft ohne Mitgliedschaft in der Europäischen Atomgemeinschaft ist unionsrechtlich ebenso wenig vorgesehen wie eine Mitgliedschaft in der Europäischen Atomgemeinschaft durch nicht der EU angehörende Drittstaaten. Und darf ich hier angesichts der Tragweite einer solchen Entscheidung einmal zaghaft nach der Sinnhaftigkeit eines Ausstiegs aus Euroatom fragen? Wenn man beim Thema „nukleare Sicherheit“ Maßstäbe setzen möchte, dann muss man das im internationalen Verbund tun. Der Euroatom-Vertrag und andere internationale Verträge und Konventionen tragen dafür Sorge und tragen dem Rechnung. Deshalb wäre es – unabhängig von der nationalen Entscheidung eines früheren Ausstiegs aus der Kernenergie in Deutschland – fatal, anzunehmen, man bräuchte die deutsche Mitglied-schaft in Euroatom nicht mehr. Denn damit würde die deutsche Mitsteuerungsmöglichkeit ausgeschlossen – und das ist nicht im deutschen Interesse. Vorab hatte ich bereits auf den Regelungsbereich von Euroatom hingewiesen: Die Regelungen von Euroatom greifen weit über den Bereich der Nuklearenergie im engeren Sinne hinaus und betreffen ja beispielsweise auch Anwendungsbereiche der nuklearen Medizin etc. Deshalb muss man zusammenfassend sagen: Ihr Propagandaantrag 17/6151 – das kann man so klar und deutlich zusammenfassen – ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist. Marco Bülow (SPD): Im Sommer haben wir zum zweiten Mal den Atomausstieg beschlossen. Nachdem Union und FDP den rot-grünen Atomkonsens zwischenzeitlich aufgelöst und die Laufzeiten verlängert hatten, stehen endlich alle Fraktionen zum Ausstieg. Mit den Bundestagsbeschlüssen vom Sommer haben wir allerdings nur den Atomausstieg in Deutschland. Wir wissen aber, dass von jedem Atomkraftwerk, von jeder Atomanlage auf dieser Welt eine Gefahr für Mensch und Umwelt ausgeht – und zwar über nationalstaatliche Grenzen hinaus. Die Abschaltung der deutschen Atomkraftwerke macht Europa sicherer und verstärkt die Chance zu einer wirklichen Energiewende. Es ist völlig inkonsequent, infolge der Ereignisse im japanischen Fukushima die Atomkraftwerke in Deutschland nach und nach abzuschalten, aber kein Problem darin zu sehen, dass in benachbarten Ländern gefährliche Atomanlagen auf Dauer weiterbetrieben werden. Direkt in Grenznähe zu Deutschland laufen zum Teil mit völlig veralteter Technik betriebene Atomkraftwerke wie Temelin, Fessenheim oder Cattenom noch viele Jahre weiter. Von daher müssen wir jetzt den nächsten Schritt gehen und für einen internationalen Atomausstieg kämpfen. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung mit Hermesbürgschaften den Neubau von Atomkraftwerken in Brasilien absichert. Wenn wir es ernst meinen, müssen wir uns in Europa jetzt für einen EU-weiten Atomausstieg engagieren. In Deutschland auf der einen Seite auszusteigen und den über 50 Jahre alten und kaum veränderten Euroatom-Vertrag auf der anderen Seite weiterhin so zu belassen, wie er ist, das passt nicht zusammen. Die Ausrichtung des Euroatom-Vertrags mit dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ ist schon lange nicht mehr aktuell. Die Entwicklung der Atomenergienutzung in Europa muss zu Ende gehen. Jetzt sollte die Abwicklung das Ziel sein. Der Euratom-Vertrag muss daher grundlegend reformiert werden. Diese Erkenntnis gibt es allerdings schon länger. Die Bundesrepublik hat gemeinsam mit anderen europäischen Mitgliedstaaten eine Erklärung zur Schlussakte von Lissabon vom 13. Dezember 2007 abgegeben, in der sie ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Veränderung des Euratom-Vertrags dokumentiert hat. Eine substanzielle Veränderung hat es bisher aber nicht gegeben. Man könnte sich natürlich hinstellen und sagen: Wir treten aus der Europäischen Atomgemeinschaft aus. Ob das überhaupt möglich ist, bleibt umstritten. Obwohl die Europäische Atomgemeinschaft eine eigenständige Rechtspersönlichkeit ist, wäre ein Austritt aufgrund der Finanz- und Personalunion von EU und Europäischer Atomgemeinschaft kaum umsetzbar. Selbst wenn es möglich wäre, würde man dadurch auch den Einfluss verlieren, den Vertrag zu ändern. Den auf unbestimmte Zeit geschlossenen Euratom-Vertrag jetzt einfach auflösen zu wollen, ist gemessen an den in Europa herrschenden Verhältnissen auch unrealistisch. Wir müssen uns vielmehr ans Werk machen und in Europa Überzeugungsarbeit für einen Atomausstieg leisten. Wir müssen Europa und der ganzen Welt zeigen, dass man es nicht nur ohne Probleme schaffen kann, aus der Atomenergienutzung auszusteigen, sondern dadurch auch noch massiv gewinnt. Wir gewinnen nicht nur deutlich mehr Sicherheit, wir gewinnen auch ökologisch und wirtschaftlich: ökologisch, weil wir mit einem konsequenten Umbau der Energieversorgungsstrukturen viel stärker auf eine umweltfreundliche und klimaschonende Energieversorgung setzen, wirtschaftlich, weil durch den Ausbau der erneuerbaren Energien viele Arbeitsplätze entstehen und gesichert werden und weil Deutschland hier auf dem Weltmarkt eine Führungsrolle einnimmt. Je mehr Länder aus der Atomenergie aussteigen und gleichzeitig vorrangig auf erneuerbare Energien setzen, umso mehr profitiert auch Deutschland. Wir hätten ein immenses Plus an Sicherheit. Wir würden davon profitieren, dass der CO2-Ausstoß sinkt. Es würden sich aber vor allem auch neue Märkte erschließen. Deswegen ist es einfach nur logisch, sich in Europa für einen Atomausstieg einzusetzen, und deswegen kann der Euratom-Vertrag nicht so bleiben, wie er ist. Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Atomenergie muss beseitigt werden. Alle Passagen, die Investitionen in die Atomkraft begünstigen, müssen gestrichen werden. Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Kernspaltung darf sich nur auf Sicherheits- und Gesundheitsfragen beschränken. Hauptaufgabe muss sein, in Europa einheitliche Sicherheitsstandards auf höchstem Niveau zu garantieren und die Entwicklung von Endlagerkonzepten voranzutreiben. Diesen Forderungen des Bundesratsantrags des Landes Nordrhein-Westfalen kann ich mich nur anschließen. Euratom muss so umgebaut werden, dass die geordnete Abwicklung der Atomenergie im Mittelpunkt steht und, solange Atomkraftwerke in Europa noch am Netz sind, das höchste Sicherheitsniveau gewährleistet wird. Unabhängig davon sollten wir die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien anstreben. Sollten wir hier nicht rechtzeitig handeln, so müssen wir uns nicht wundern, wenn der Protest gegen eine rückwärtsgewandte Energiepolitik erneut auf die Straße getragen wird. Ich kann friedliche Demonstrationen und Aktionen für die Abschaltung beispielsweise des französischen AKW Fessenheim nur unterstützen. René Röspel (SPD): Vor über 50 Jahren haben sich europäische Regierungsvertreter in Rom zusammengefunden und die Europäische Atomgemeinschaft, heute Euratom, gegründet. Damals lebte man noch in der Überzeugung, dass „… die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt …“. Ich glaube, diesen Satz teilt heute keiner mehr in diesem Parlament. Insofern wird hier auch keiner mehr dafür eintreten wollen, „... entschlossen die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen ...“. Genau diese beiden Sätze stehen aber so im Euratom-Vertrag – und zwar bis heute – und spiegeln damit den Geist des Euratom-Vertrages wider. Von der heutigen politischen Einschätzung zur Kernenergie ist dies aber weit entfernt. Insofern ist klar, dass dieser Vertrag reformiert werden und der Realität angepasst werden muss. Bereits 2007 hat Deutschland unter der rot-grünen Bundesregierung zusammen mit den Regierungen von Irland, Ungarn, Österreich und Schweden auf europäischer Ebene dazu aufgefordert, die Substanz des Vertrages an die aktuellen Verhältnisse anzupassen. Leider hat sich seitdem wenig – besser gesagt nichts – getan. Das hat auch mit dem Regierungswechsel in Berlin zu tun. Denn CDU/CSU und FDP glaubten bis Fukushima ja immer noch an das Heil der Atomkraft. Aktuell hat die rot-grüne Landesregierung meines Bundeslandes Nordrhein-Westfalen einen Entschließungsantrag in den Bundesrat eingebracht, der ebenfalls eine Reform des Euratom-Vertrages anmahnt. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD zusammen mit den Grünen beschäftigt sich schon lange und intensiv mit dem Thema Euratom. Um die Ziele des Euratom-Vertrages zu erreichen, wurde seitens der EU-Kommission im Rahmen des aktuellen 7. Forschungsrahmenprogramms für den Zeitraum 2007 bis 2011 insgesamt über 3 Milliarden Euro für Forschungsaktivitäten zur Verfügung gestellt. Über 2 Milliarden Euro gingen dabei in die Fusionsforschung, insbesondere für die kontrovers diskutierte Entwicklung des Fusionsforschungsreaktors ITER. Für den Zeitraum 2012 bis 2013 wurde der Betrag für Euratom auf 2,5 Milliarden Euro festgelegt. Auch hierbei geht der größte Anteil des Geldes an ITER, nämlich 2,2 Milliarden Euro. Fakt ist also, dass der Forschungsförderungsbereich im Euratom-Vertrag derzeit vorwiegend zur Finanzierung der Fusionstechnologie genutzt wird. Ob das Geld dort gut aufgehoben ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Wir haben da große Zweifel. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Deutschland einseitig zum Beispiel durch Kündigung aus dem Euratom-Vertrag aussteigen kann. Unabhängig davon finde ich eine andere Argumentation überzeugender: Einen Verein oder eine Partei verändert man am besten von innen. Beim Euratom-Vertrag ist das nicht anders. Deshalb verstehe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihre Argumentation in diesem Punkt nicht. Sie fordern im vorliegenden Antrag eine Reform und gleichzeitig den Ausstieg aus Euratom. Wenn man aber etwas verändern will, kann man doch nicht einfach aus dem Entscheidungsgremium aussteigen. Völlig logisch ist doch, dass sich Euratom nach einem Ausstieg Deutschlands gar nicht verändert. Übernahme von Verantwortung sieht meiner Meinung nach anders aus. In Deutschland wird 2022 endlich das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen. Der strahlende Müll wird hingegen noch Generationen nach uns beschäftigen. Denn eine Lösung haben wir dafür immer noch nicht. In Europa wird es nach heutigem Stand leider auch über das Jahr 2022 Atomkraftwerke geben. Wir als Deutsche haben deshalb ein großes Interesse, dass die EU für alle Atomkraftwerke sowie Zwischen- und Endlager höchste einheitliche Sicherheitsstandards vereinbart. Im Bereich der Sicherheits- und Endlagerkonzepte besteht somit europäischer Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Auch in der medizinischen Forschung wäre eine stärkere europäische Zusammenarbeit von Vorteil. Ich denke dabei zum Beispiel an die Behebung des Technetium-99-Mangels. Klar muss aber auch sein, dass die Forschungsförderung zum Ausbau oder sogar Neubau von Atomkraftwerken zur Energiegewinnung nicht Aufgabe einer gemeinsam finanzierten Forschungsförderung sein darf. Ob die Fusionsforschung im heutigen Finanzrahmen weitergeführt werden sollte, bleibt ebenfalls zu diskutieren. Die verstärkte Förderung von erneuerbarer Energie ist notwendig und richtig. Hierfür sind mehr nationale und europäische Anstrengungen nötig. Ob auf europäischer Ebene ein eigener Vertrag das adäquate Mittel ist, muss nun geprüft werden. Grundsätzlich halten wir den Schwenk von der europäischen Atompolitik hin zur Förderung von Effizienz und erneuerbaren Energien für unausweichlich, unverzichtbar und mit großen Chancen verbunden. Ich freue mich somit auf die weiteren Diskussionen zu den angesprochen Punkten mit Ihnen im Ausschuss. Heinz Golombeck (FDP): Der Euratom-Vertrag verpflichtet die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht, die Kernkraft zur Energiegewinnung zu nutzen bzw. den Kernenergiesektor in den eigenen Ländern auszubauen. Die Vorschriften des Vertrags bilden vielmehr den Rahmen für eine Zusammenarbeit der europäischen Mitgliedstaaten auf den Gebieten der nuklearen Sicherheit und der Entsorgung, wie etwa bei den jüngst beschlossenen EU-weiten Risiko- und Sicherheitsbewertungen für Kernkraftwerke. Diese sind daher aus nicht verbreitungspolitischen Gründen und unter Aspekten des Strahlenschutzes unabdingbar. Der Euratom-Vertrag erleichtert zudem die Zusammenführung von Wissen, Infrastrukturen und Finanzmitteln für die Kernenergie. Er gewährleistet die Sicherheit der Kernenergieversorgung im Rahmen eines zentralisierten Überwachungssystems. Die Euratom-Forschung findet im Rahmen mehrjähriger Programme statt, die aus dem EU-Haushalt finanziert werden. Gemäß dem Euratom-Vertrag sind die Euratom-Rahmenprogramme auf fünf Jahre begrenzt. Die EU-Kommission will das Euratom-Budget entsprechend dem Siebten Forschungsrahmenprogramm der EU bis 2013 verlängern. Es handelt sich um einen formal notwendigen Schritt, um die Laufzeit des Euratom-Rahmenprogramms der siebenjährigen Laufzeit des allgemeinen Siebten Forschungsrahmenprogramms, RP7, der EU anzupassen, das 2013 ausläuft. Der Vorschlag beinhaltet keine Änderung der Politik. Die EU-Organe hatten bei der Einleitung beider Programme im Jahr 2007 seine Vorlage bereits eingeplant. Bei Verabschiedung des vorgelegten Vorschlags durch den Rat könnten die laufenden Forschungsarbeiten fortgesetzt werden, die insbesondere der Erhöhung der nuklearen Sicherheit und dem Strahlenschutz dienen. Das Euratom-Rahmenprogramm soll die Führung Europas im Bereich der Kernenergie aufrechterhalten, indem es vorkommerzielle Forschung unterstützt und den Technologietransfer zwischen Hochschulen und Industrie erleichtert. Insbesondere soll es zu einem sehr hohen Niveau im Bereich der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr sowie zur Nichtverbreitung von Kernwaffen beitragen. Der Schwerpunkt wird auf der Ausbildung liegen, auf der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der bestehenden Nuklearindustrie und auf der Schaffung einer neuen spitzentechnologischen Industriebranche für die Fusionsenergie. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist die Investition in Zukunftsenergien, die keine das Klima schädigenden Emissionen, keine Endlagerprobleme und keine Proliferationsprobleme mit sich bringen und die die Energieversorgung in der Grundlast dauerhaft sichern, lohnend und vielversprechend. Wir unterstützen daher die Forschung sowohl auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien als auch auf dem Gebiet der Kernspaltungs- oder Kernfusionsforschung. Nur so können wir die Herausforderungen einer sich rasch wandelnden Umwelt bewältigen. Nicht zuletzt sind am ITER-Projekt führende deutsche Forschungseinrichtungen beteiligt. Dies unterstützen wir maßgeblich, damit die deutsche Forschung auch weiterhin im internationalen Vergleich leistungs- und wettbewerbsfähig bleibt. Das vorgesehene Budget für das Euratom-Rahmenprogramm von 2,5 Milliarden Euro für die Jahre 2012 und 2013 umfasst etwas mehr als 2,2 Milliarden Euro für die Kernfusionsforschung (86 Prozent), bei der der Schwerpunkt im Wesentlichen auf dem Bau des internationalen Fusionsversuchsreaktors ITER in Frankreich liegt. Für die Forschungsprojekte im Bereich der Kernspaltung – einschließlich Strahlenschutz – werden 118 Millionen Euro bereitgestellt. Die Nuklearforschungsarbeiten und die Arbeiten zur Gewährleistung der kerntechnischen Sicherheit der Gemeinsamen Forschungsstelle der Kommission werden mit 233 Millionen Euro unterstützt. Die FDP unterstützt die Arbeit der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission in der Weiterführung ihres Kernforschungsprogramms. Wir werden auch in Zukunft Unterstützung leisten bei der Entwicklung politischer Optionen für den geeignetsten „Energiemix“ für das 21. Jahrhundert, der den Zielen des Europäischen Strategieplans für Energietechnologie – SET-Plan für die Entwicklung von Technologien mit geringen CO2-Emissionen – entsprechen soll. Bestrebungen in Richtung einer einseitigen Kündigung des Euratom-Vertrages erteilt die FDP aus den ebengenannten Gründen eine entschiedene Absage. Es ist unser aller Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass kein Mitgliedstaat sich einseitig von seiner jeweils übernommenen Verantwortung für die nukleare Sicherheit in Europa verabschiedet. Eine Änderung des Euratom-Vertrages ist nur im Konsens aller EU-Mitgliedstaaten möglich. Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der Europäischen Atomgemeinschaft, EAG, ist unionsrechtlich nicht vorgesehen. Ein Austritt aus der EAG kann vielmehr nur im Paket mit einem Austritt aus der EU erfolgen. Die FDP-Fraktion setzt sich für eine Führungsrolle Europas im Bereich der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr sowie für die Nichtverbreitung von Kernwaffen ein. Die Unterstützung der Euratom-Rahmenprogramme ist, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung politischer Optionen für den geeignetsten Energiemix der Zukunft, dringend notwendig. Dieses Ziel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen. Wir lehnen ihn daher ab. Alexander Ulrich (DIE LINKE): Seit dem Bestehen der Europäischen Atomgemeinschaft, Euratom, also seit 54 Jahren, wird die Atomenergie in Europa von allen EU-Mitgliedsländern und damit von all ihren Bürgerinnen und Bürgern mit Milliarden subventioniert und gefördert. Dies geschieht im Wesentlichen von der Öffentlichkeit unbemerkt – nicht etwa weil die Menschen nicht interessiert daran wären, zu wissen, wohin ihr Geld fließt, nein, die Wahrheit ist vielmehr, dass sie davon gar nichts wissen können! Denn das Entscheidungsverfahren und die Finanzierung von Euratom verläuft intransparent und damit völlig undemokratisch. Die Bürgerinnen und Bürger der EU können weder Einfluss auf die Kreditvergabe und Forschungsförderung für Atomkraftwerke und Atomenergie nehmen, noch könnten sie sie verhindern. Aber selbst wenn das Verfahren transparenter wäre, hätten sie rechtlich nicht die einmal Möglichkeit, zu intervenieren. Denn die Finanzierung der europäischen Atomgemeinschaft unterliegt keiner demokratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament. Dies ist aus mehreren Gründen mehr als skandalös. Zum einen ist die öffentliche Meinung mehrheitlich gegen den Ausbau der Atomenergie, mehrere Länder betreiben keine Atomkraftwerke, haben einen Ausstiegsbeschluss oder haben die Atomfreiheit, wie es in Österreich der Fall ist, in der Verfassung fest verankert. Trotzdem aber werden sie alle über den Euratom-Vertrag verpflichtet, Atomenergie weiterhin zu fördern. Selbst Firmen wie Siemens überlegen inzwischen, aufgrund des hohen Risikos der Atomenergie aus der Kernenergieforschung auszusteigen, auch hier fehlt es aufgrund des Euratom-Vertrages an politischer Unterstützung. Zum Zweiten stellt diese milliardenschwere Subventionierung der Atomenergie in Europa einen Skandal angesichts der Ereignisse allein der letzten Monate dar. Die Nuklearkatastrophe von Fukushima, die Explosion im Atomkraftwerk Marcoule in Südfrankreich sowie die Feststellung von erhöhten Strahlenwerten in Gorleben haben gezeigt, dass die Nutzung der Atomenergie eine immense Gefahr für Mensch und Umwelt bedeutet und dass sie trotz dieser Milliardeninvestitionen und Subventionierungen keineswegs sicherer geworden ist. Mit Blick auf die angeblichen Ambitionen der EU-Kommission und der Bundesrepublik Deutschland, eine Energiewende hin zu erneuerbaren Energien vorantreiben zu wollen, gewinnt das Ganze eigentlich sarkastische Züge. Denn es ist entlarvend, dass die EU seit Jahrzehnten die größten Summen – und dies hat sich auch mit der Nuklearkatastrophe in Japan nicht geändert – nicht etwa in die Förderung der erneuerbaren Energien steckt, sondern in das Euratom-Programm. Und es ist auch entlarvend, dass die größten Summen des Euratom-Budgets nicht, wie offiziell behauptet wird, in den Strahlenschutz oder in die Verbesserung der Sicherheitsstandards investiert werden, sondern in die Erforschung der Kernspaltung und besonders der Kernfusion. Ebenso wird die doppelgleisige Fahrt deutlich, indem die Bundesregierung die Milliardenbürgschaft für den Bau des brasilianischen Atomkraftwerkes Angra 3 verlängert hat und keine Ambitionen zeigt, aus dem Euratom-Vertrag auszutreten oder ihn wenigsten einmal zu kritisieren, um damit einen am Ende sinnvollen Schritt hin zur Energiewende möglich zu machen. Auch dass SPD und Grüne, Letztere als angebliche Protagonisten der Umweltpolitik, keine konsequente Initiative gegen und Kritik am Euratom-Vertrag und somit an der EU-weiten Förderung der Atomenergie starten, zeigt ihre heuchlerische Haltung in Sachen Atomenergie. Denn die Aufrechterhaltung des Euratom-Vertrages verwässert und konterkariert den von der Bundesregierung und von SPD und Grünen gestützten „Ausstiegsbeschluss“. Denn ein ernst gemeinter Atomausstieg ist nur ohne Euratom möglich! Die Milliarden Euro, die in Euratom fließen, hätten längst für den Ausbau von erneuerbaren Energien und die hierfür benötigte Forschung verwendet werden müssen. Dies hätte uns gewiss schon ein großes Stück weitergebracht. Dieses Geld ist dringend nötig, um eine umweltverträgliche, arbeitsmarktorientierte und verantwortungsvolle Energieversorgung zu ermöglichen. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für die Auflösung von Euratom und den Abschluss eines neuen europäischen Vertrages einzusetzen, auf dessen Grundlage eine alternative europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeinsparung eingerichtet wird. Die Linke fordert zudem, dass die Bundesregierung, solange die Auflösung von Euratom noch nicht durchgesetzt werden konnte, eine Initiative für die Entflechtung der vertraglichen Grundlagen der EU und von Euratom zu ergreifen und den Euratom-Vertrag einseitig zu kündigen. Auf nationaler Ebene muss die Bundesregierung sich für den vollständigen Atomausstieg bis 2014 einsetzen und den Atomausstieg im Grundgesetz verankern. Strompreise sollen sozial abgefedert, und die Marktaufsicht soll wahrgenommen werden. Nicht zuletzt müssen die großen Energiekonzerne entmachtet und die Energiewende demokratisiert werden. Die Energiewende aufgrund neuer Technologien wird viele neue Arbeitsplätze schaffen. Wir müssen diese Chance nutzen und eine dezentrale und für alle Menschen bezahlbare Energieversorgung mit einer transparenten und demokratischen Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung, mit verbindlichen Konzepten für faire Übergangsstrategien, die die Arbeitnehmerinteressen in den Vordergrund stellen, und mit Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen endlich auf den Weg bringen. Die vielen Mitgliedsländer der EU und ihre vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich inzwischen deutlich gegen die Nutzung der Atomkraft aussprechen, müssen in ihrer Meinung endlich politische und rechtliche Unterstützung finden. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der im breiten gesellschaftlichen Konsens und fraktionsübergreifend beschlossene Atomausstieg bringt Deutschland nicht nur in die Vorreiterrolle für die umweltverträgliche Energieversorgung. Es liegt auch im Interesse Deutschlands, aus europäischer Verantwortung zum Motor bei der Neuausrichtung europäischer Verträge zu werden. Der deutsche Wissenschafts- und Produktionsstandort profitiert von der Weichenstellung hin zu einer an Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ausgerichteten Industriepolitik. Deutsche Traditionsunternehmen, zum Beispiel Siemens, folgen bereits dem nun nach 2001 schon zum zweiten Mal eingeschlagenen Pfad des Atomausstiegs und ziehen sich aus dieser Risikotechnologie zurück. Das stärkt die Marktführerschaft im Sektor der erneuerbaren Energien und die Ausrichtung an den großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel und dem Schutz der natürlichen Ressourcen. Ein praktisch seit 1957 unverändert bestehender Vertrag, wie Euratom, entspricht nicht mehr den energiepolitischen und gesellschaftlichen Anforderungen der heutigen Zeit. Heute gilt es, die Entwicklung und Förderung erneuerbarer Energien voranzutreiben, um so eine Energieversorgung ohne unbeherrschbare Technologierisiken sicherzustellen. Die Ausrichtung des Euratom-Vertrages mit dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ ist heute ein Anachronismus, der dringend neu verhandelt gehört. Nicht nur eine neue Risikobewertung führt zu dieser Einsicht, auch die Entsorgungsfrage ist nach wie vor ungelöst. Heute sind wir uns der Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen durch die falsche Weichenstellung der Kernenergienutzung weit mehr bewusst als vor über einem halben Jahrhundert. Daher muss die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Atomenergie endlich abgeschafft werden. Insbesondere sollen alle Passagen des Euratom-Vertrages gestrichen werden, die Investitionen, Forschungsförderung und Genehmigungsprivilegien der Atomkraft einschließlich der Kernfusion begünstigen. Mit der Erklärung zur Schlussakte von Lissabon 2007 hat auch die Bundesregierung auf die zeitgemäße Anpassung des Euratom-Vertrages gedrängt. Da ohnehin 12 der 27 EU-Mitgliedstaaten keine Atomkraftwerke betreiben und sicherlich weitere Staaten dem Vorbild Deutschlands folgen, werden sich auf einer einzuberufenden Regierungskonferenz auch Mehrheiten für die grundlegende Überarbeitung von Euratom finden. Sollte diese Neuausrichtung auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar sein, fordern wir die Bundesregierung auf, den Euratom-Vertrag von deutscher Seite aus zu kündigen. Jetzt gilt es, den europaweiten Ausstieg aus der Atomkraft vorzubereiten. Der Euratom-Vertrag steht dabei grundsätzlich infrage und muss mit einem Enddatum versehen werden. Bei seinem Abschluss 1957 war Euratom auch ein Bekenntnis zur Gemeinschaft. Um dieses Bekenntnis zeitgemäß zu erneuern, fordern wir statt Euratom die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen – Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten der Kommunen im Grundgesetz verankern – Antrag: Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Tagesordnungspunkt 15 a bis c) Peter Götz (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tag nicht nur für Europa, sondern auch für Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland. Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen, das wir in erster Lesung beraten, ist der Einstieg in die größte Entlastung der Kommunen seit Bestehen der Bundesrepublik, und zwar ohne dass neue kostenträchtige Aufgaben und sonstige Ausgabenpflichten übertragen werden. Es steht im Kontext mit dem bereits beschlossenen Bildungspaket. Zusammen gesehen entlastet der Bund die Kommunen bis zum Jahr 2020 in einer Größenordnung von mehr als 50 Milliarden Euro. Dies reiht sich nahtlos in die kommunalfreundliche Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung ein. Seit 2009 leisten wir in unterschiedlichsten Bereichen immer wieder wichtige Beiträge zugunsten kommunaler Kassen. Wir stärken so die Handlungsfähigkeit der Städte, Gemeinden und Kreise systematisch. So haben wir für die Kommunen durchgesetzt, dass sie die wichtigen Investitionen des Konjunkturprogramms II einfacher umsetzen können; dass sie vom Wachstums- und Arbeitsmarktimpuls seit 2010 profitieren; dass mit der Hartz-IV-Organisationsreform das Prinzip der Hilfe aus einer Hand in eine verfassungsfeste Form überführt wurde; dass sich noch mehr Kreise und Städte auf eigenen Wunsch hin selbstständig um Langzeitarbeitslose kümmern können; dass der Ausbau der Kinderbetreuung und die frühkindliche Sprachförderung mit zusätzlichen Bundesmitteln massiv unterstützt werden; dass das Bildungspaket bei voller Kostenerstattung durch den Bund in kommunale Zuständigkeit überführt wurde; dass ihnen zusätzlich drei Jahre lang 400 Millionen Euro für Schulsozialarbeiter und Hortmittagessen zustehen; dass sich der Bund an den Hartz-IV-Unterkunftskosten mit einer festen Quote an den tatsächlichen Kosten beteiligt – um nur einige Punkte zu nennen. Heute beseitigen wir einen kommunalfeindlichen Akt der früheren rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr 2003. Die Kommunalpolitiker in unserem Land wissen ganz genau, wem sie die Kostenexplosion der vergangenen Jahre im sozialen Bereich zu verdanken haben. Gerhard Schröder und Rot-Grün hatten die Altersgrundsicherung im Jahr 2003 eingeführt und auf die Kommunen übertragen, ohne für die notwendige Finanzierung zu sorgen. Seit ihrer Einführung haben sich die Kosten der Grundsicherung verdreifacht. Sie belaufen sich zurzeit auf jährlich 3,9 Milliarden Euro – mit dynamisch steigender Tendenz. Von der Übernahme der Grundsicherung im Alter profitieren verstärkt Kommunen mit strukturellen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Sie leiden besonders unter Finanzproblemen, weil sie in der Regel wenige Einnahmen, dafür aber besonders hohe Sozialausgaben haben. Der Anteil der Menschen mit einer schwachen Erwerbsbiografie ist in den Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit besonders hoch. Das heißt, dort leben viele Menschen, die auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sind und damit die kommunalen Kassen überproportional mit besonders hoher Dynamik belasten. Durch die Übernahme der Grundsicherung wird die kommunale Selbstverwaltung wieder möglich. Der Deutsche Städtetag kommentierte dazu beispielsweise: „Die drückende Last der Sozialausgaben wird sich dadurch auf Dauer spürbar verringern.“ Bereits im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und FDP auf rasche und nachhaltige Hilfe für Städte, Gemeinden und Kreise verständigt – obwohl nach der Finanzverfassung die angemessene Finanzausstattung der Kommunen in die Zuständigkeit der Länder fällt. Wichtig ist uns, dass am Ende des Tages die Bundesmittel tatsächlich vor Ort ankommen und nicht an den klebrigen Fingern der Länderfinanzminister hängen bleiben oder über den kommunalen Finanzausgleich der Länder wieder abgeschöpft werden. Ich rate deshalb den kommunalen Spitzenverbänden, ob in NRW, Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg: Schauen Sie in den nächsten Jahren besonders genau ihren Landesregierungen auf die Finger! Wenn wir heute eine Debatte über die Kommunen führen, sollten wir uns auch anschauen, wie sich die kommunalen Investitionen entwickelt haben. Die Bilanz ist eindeutig: Ein Teil des unter Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 aufgebauten kommunalen Investitionsstaus konnte unter unserer Führung aufgelöst werden. In den Jahren der Finanzkrise 2009 und 2010 stammte jeder sechste in den Kommunen investierte Euro aus den Mitteln der Konjunkturpakete des Bundes. Allein 2010 bedeutete dies eine Steigerung der kommunalen Bauausgaben um 10,5 Prozent auf 18,6 Milliarden Euro. Ich fasse also zusammen: Der wirtschaftliche Erfolg gibt Deutschlands Reformpolitik recht. Die Politik hat die Weichen frühzeitig gestellt und gute Rahmenbedingungen geschaffen. Noch vor Ausbruch der weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise initiierten CDU und CSU die Modernisierung unserer bundesstaatlichen Ordnung. Mit der Föderalismusreform wurde die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebauschte Verflechtung von Bund und Ländern gestoppt. Die Aufgabenzuweisung vom Bund an die Kommunen wurde ausgeschlossen, und so wurden die Kommunen nachhaltig geschützt. Das Staatswesen insgesamt wurde handlungsfähiger gemacht. In einer zweiten Reform sicherte die unionsgeführte Bundesregierung die langfristige Stabilität der Staatsfinanzen. Es gelang eine effektive Schuldenbegrenzung der öffentlichen Haushalte zu formulieren und diese im Grundgesetz einzumeißeln. Heute gilt die deutsche Schuldenbremse europaweit als Vorbild für nachhaltige Stabilität und Generationengerechtigkeit. Sie wird zunehmend von anderen europäischen Ländern übernommen. Die Koalition hat wichtige Ziele erreicht: Der Arbeitsmarkt ist in der besten Verfassung seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Erwerbstätigen ist größer als je zuvor. Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Als Träger der Sozialhilfe und der Unterkunftskosten von Hartz IV profitieren die Kommunen von dieser positiven Entwicklung ebenso wie von den kräftig steigenden Einnahmen bei der Gewerbesteuer. Kurzum, heute steht Deutschland sehr gut da! Und bei der internationalen Diskussion um die Stabilität in Europa schaut genau deshalb die ganze Welt auf uns. Die Kommunen in Deutschland stehen trotzdem noch vor vielen gewaltigen Aufgaben. Diese reichen vom Ausbau frühkindlicher Betreuung und Bildung über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern bis zur Bewältigung der demografischen Herausforderung. Die städtebauliche Entwicklung und die Infrastruktur gilt es ebenso an die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen anzupassen wie die örtlichen Strukturen zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört übrigens auch die anstehende Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Nur mit starken Kommunen, die sich im Wettbewerb langfristig behaupten, kann in Deutschland Wohlstand gesichert werden. Wir vertrauen auf die Kraft und Leistungsfähigkeit unserer Gemeinden, unserer Städte und Kreise. Wir wollen, dass die Menschen vor Ort ihre Heimat selbst gestalten können. Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen ist dazu ein wichtiger Beitrag des Bundes. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam fortsetzen! Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist ganz wichtig, dass wir Lösungen zur Stärkung der Finanzkraft der Städte und Gemeinden finden. Es darf nicht sein, dass Kommunen ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr erbringen können, weil ihre Kassen leergespült sind. Wir können uns ein Gemeinwesen, das immer stärker ausblutet, nicht leisten. Deshalb haben wir uns im Vermittlungsausschuss zur Reform der Regelsätze im Januar und Februar dieses Jahres auch für die Kommunen stark gemacht. Wir haben durchgesetzt, dass die Grundsicherung im Alter vom Bund übernommen wird. Bisher zahlen dies zum größten Teil die Kommunen. Es hat mit den Ländern eine Vereinbarung gegeben, wie dies umgesetzt werden soll. Man hat sich auf drei Stufen beginnend ab 2012 mit einer Entlastung ab 2014 von 4,4 Milliarden Euro pro Jahr verständigt. Heute liegt uns nun der Gesetzentwurf der Ministerin vor. Man staune: Wir finden im Gesetz nur die Absicherung der ersten der insgesamt vereinbarten drei Stufen ab 2012 mit einem Volumen von 1,2 Milliarden Euro. Also mich wundert es nicht, dass die Kommunen von diesem Gesetzentwurf enttäuscht sind. Ich bin es im Übrigen auch. Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs finden wir dann den Hinweis, warum zurzeit nur der erste Schritt möglich sei und die vereinbarte Anhebung der Bundesbeteiligung – also die Stufen zwei und drei –, ich zitiere, „einem weiteren Gesetzgebungsverfahren vorbehalten bleibt“, das allerdings erst im Laufe des Jahres 2012 erfolgen könne. Überzeugend ist diese Begründung nicht. Warum, so frage ich Sie, Frau Ministerin von der Leyen, haben Sie nicht frühzeitiger mit der Arbeit begonnen und rechtzeitig Ihre Hausaufgaben gemacht? Die Einigung im Vermittlungsausschuss liegt doch schon sieben Monate zurück. Schwarz-Gelb verunsichert mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf die Kommunen und bringt sie um die dringend notwendige Planungssicherheit. Nach der Einigung im Vermittlungsausschuss haben die Kommunen, der Deutsche Städtetag und natürlich auch die Länder zu Recht erwartet, dass die Regelung der vereinbarten Übernahme der Grundsicherung in einem Gesetzgebungsakt erfolgt. Der Bundesrat hat sich dazu klar positioniert – auch CDU-geführte Länder wollen das ganz genau so. Der Gesetzentwurf führt aber auch noch an einer weiteren Stelle zur Verunsicherung. Wie soll die Kostenerstattung gegenüber den Kommunen aussehen? Die Kommunen haben sich darauf verlassen, dass die tatsächlich anfallenden Kosten der Grundsicherung wie verabredet in 2012 zu 45 Prozent, in 2013 zu 75 Prozent und dann ab 2014 zu 100 Prozent übernommen werden. Der Gesetzentwurf sieht jetzt jedoch vor, dass nicht die jeweils aktuellen Ausgaben, sondern lediglich die des Vorvorjahres als Berechnungsbasis gelten sollen. Die Städte und Gemeinden müssen also die Kostensteigerungen von zwei Jahren selbst tragen. Für Berlin wären das beispielsweise 40 Millionen Euro. Ich kann die Enttäuschung der Kommunen darüber verstehen und wäre an ihrer Stelle auch misstrauisch. Wichtig ist, dass es rasch zu einer Einigung mit den Ländern kommt, denn der Gesetzentwurf braucht nicht nur die Zustimmung im Bundestag, sondern auch den Segen des Bundesrates. Die Entlastung bei der Grundsicherung im Alter ist für die Kommunen von großer Bedeutung: Im Jahr ihrer Einführung, 2003, bezogen etwa 439 000 Personen diese Leistung und bis zu den letzten verfügbaren bundesweiten Daten 2009 stieg die Zahl fast kontinuierlich auf knapp 764 000 an. Dementsprechend steigerten sich auch die Ausgaben von 1,45 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf über 4 Milliarden Euro für 2009. In einer Stadt wie Lübeck, aus der ich komme, mit gut 210 000 Einwohnern wuchsen die Kosten kontinuierlich von rund 18 Millionen Euro im Jahr 2006 an, und sie werden dieses Jahr etwa 24 Millionen Euro erreichen. Abzüglich der bisherigen Erstattungen durch Bund und Land würde die Kostenübernahme durch den Bund für meine Hansestadt eine Entlastung von knapp 15 Millionen Euro jährlich bedeuten. Das ist ein toller Erfolg, den wir im Vermittlungsausschuss ausgehandelt haben. Allerdings werden aufgrund der von der Ministerin gewählten Abrechnungsbasis auch meiner Stadt 2 Millionen Euro fehlen. Die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter werden sich durch die demografische Entwicklung weiter erhöhen. In meinem Wahlkreis wird von jährlichen Steigerungen von bis zu 5 Prozent ausgegangen. In anderen Städten wird es ähnlich aussehen. Was können wir tun, um die Kosten der Grundsicherung im Alter nicht aus dem Ruder laufen zu lassen – ganz egal, wer sie zahlt? Die Antwort ist eigentlich recht einfach: Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU und FDP, machen Sie endlich eine Politik, die den Menschen hilft, gute Arbeit zu finden und faire, mindestens existenzsichernde Löhne zu erzielen; denn dann sind sie im Alter nicht auf Grundsicherung durch den Staat angewiesen. Stimmen Sie endlich einem gesetzlichen Mindestlohn zu. Sorgen Sie dafür, dass Menschen nicht mehr von einem befristeten Arbeitsverhältnis ins nächste geschoben werden. Stellen Sie gleichen Lohn für gleiche Arbeit sicher. Legen Sie den Niedriglohnsektor trocken. Frauen sind überproportional von Grundsicherung im Alter betroffen, weil sie trotz guter Bildungsabschlüsse mit miesen Jobs und unfairen Löhnen abgespeist werden. Frauen im Westen Deutschlands erhalten nur eine halb so hohe Rente wie die Männer. Das ist eine soziale Schieflage, die sich unsere Gesellschaft nicht leisten darf. Handeln Sie endlich, und verbessern Sie die Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Ich fürchte, wir haben nicht viel in dieser Richtung von Ihnen zu erwarten. Statt die Chance sinkender Arbeitslosigkeit zu nutzen, um Menschen wirksam zu helfen, die es auf dem Arbeitsmarkt trotzdem weiterhin schwer haben, streichen Sie die arbeitsmarktpolitischen Instrumente planlos zusammen und sparen so an den Ärmsten in unserer Gesellschaft. Das ist der falsche Weg. Wir werden dies ändern – spätestens 2013. Kirsten Lühmann (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen. Das ist ein starker Name für ein längst überfälliges Vorhaben, ein Vorhaben, das die Länder im Vermittlungsausschuss nach zähen Verhandlungen mit dem Bund erstritten haben. Ein starker Name, in der Tat. Aber das ist leider auch alles, was dieser Gesetzentwurf zu bieten hat. Meine Kollegin Frau Hiller-Ohm hat es bereits aufgezeigt. Aber lassen Sie mich den Sachverhalt trotzdem noch einmal kurz zusammenfassen: Mit der Einigung im Vermittlungsausschuss zum SGB II Anfang 2011 ist auch vereinbart worden, dass der Bund schrittweise und ab 2014 vollständig die Grundsicherung im Alter übernimmt. Ziel ist es, damit die Kommunen von Sozialausgaben zu entlasten. Diese Vereinbarung ist durch die Bundesregierung in der abschließenden Sitzung der Gemeindefinanzkommission Mitte Juni 2011 noch einmal ausdrücklich bestätigt worden. Das jetzt angelaufene Gesetzgebungsverfahren zu der Umsetzung der Vereinbarung lässt allerdings erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Bundesregierung überhaupt eine vollständige Entlastung der Kommunen vornehmen will; denn der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet nur die Anhebung der quotalen Beteiligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung auf 45 Prozent in 2012. Dies ist jedoch nur die erste Stufe der Vereinbarung. Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass die weiteren Schritte erst einer umfassenden Abstimmung mit den Ländern und den Kommunalen Spitzenverbänden bedürften. Das, meine Damen und Herren, ist jedoch nur ein Spiel auf Zeit, ein Spiel auf Zeit zulasten der Kommunen und damit auch ein Spiel auf Zeit zulasten der Bürgerinnen und Bürger, denn die Kommunen können ihren umfassenden Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nur dann gerecht werden, wenn ihre finanzielle Leistungsfähigkeit mittel- und langfristig gesichert ist und die Kommunen damit handlungsfähig bleiben. Die finanzielle Lage der Kommunen ist ohnehin dramatisch. Der summierte Finanzierungssaldo der Jahre 2009 bis 2011 beläuft sich nach Schätzung der Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände auf 23 Milliarden Euro. Allein 2011 beliefen sich die Kosten für die Kommunen, insbesondere durch weiter steigende Sozialausgaben, auf über 42 Milliarden Euro. Aber auch durch eine stetige Ausweitung von bereits bestehenden Aufgaben durch die Bundesgesetzgebung wird die finanzielle Notlage der Kommunen stetig verschärft. Der Bundesregierung scheint dies aber völlig gleichgültig zu sein. Sie setzt sogar noch an überaus erfolgreiche Programme wie beispielsweise die „Soziale Stadt“ gnadenlos den Rotstift an. Durch dieses verantwortungslose Handeln entwickelt sich die Krise der Kommunen zusehends zu einer großen Strukturkrise. Die Bundesregierung scheint dies jedoch noch nicht im Ansatz realisiert zu haben. Im Gegenteil: Sie scheint sogar der Auffassung zu sein, sie habe mit der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter ein Allheilmittel in der Hand, welches sie vor jeglicher finan-zieller Verantwortung gegenüber den Kommunen schütze. Ganz gleich, um welche finanziellen Vorhaben oder Kosten zulasten der Kommunen es geht, die Bundesregierung bezieht sich gebetsmühlenartig auf die Kostenübernahme der Grundsicherung im Alter. Man bekommt gar den Eindruck, diese Maßnahme sei für die Bundesregierung ein Dukatenesel, mit dem sie das Land bereist und jede zukünftige Mehrbelastung bei den Kommunen bezahlen kann. Ein jeder, der die Grundrechenarten auch nur halbwegs beherrscht, wird erkennen können, dass diese Rechnung vorne und hinten nicht aufgeht. Schlimmer noch: Die Bundesregierung erweckt dadurch den Eindruck, sie würde mit der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter in Vorleistung treten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Dies ist eine längst überfällige Nachleistung, die in der jetzigen Form bei weitem nicht ausreicht, um die in Zukunft für die Kommunen entstehenden Kosten zu decken. Was die Bundesregierung überdies überhaupt nicht auf der Rechnung hat, sind die Befürchtungen der Kommunen, dass die vom Bund zu erstattenden Kosten nicht vollständig oder nur unter Bedingungen an die Kommunen weitergegeben werden. Hier muss der Bund dringend handeln und mit den Ländern in den Dialog treten. Lassen Sie mich abschließend sagen: Ein Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft wäre dringend geboten und erforderlich. Die uns vorliegende Drucksache ist ein erster Schritt in diese Richtung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In den kommenden parlamentarischen Beratungen wird noch einiges zu klären sein, damit dieses Gesetz seinem eigenen Anspruch annähernd gerecht wird. Pascal Kober (FDP): Mit dem heute eingebrachten Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen vollziehen wir einen weiteren Schritt bei der Umsetzung des Vermittlungsergebnisses der Hartz-IV-Verhandlungen aus dem Februar dieses Jahres. Mit dem Gesetz beschließen wir den ersten Schritt zur Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Nettoausgaben in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Gemeindefinanzkommission hat in ihrer Sitzung am 15. Juni dieses Jahres das Ergebnis des Vermittlungsverfahrens einvernehmlich begrüßt. Es sorgt dafür, dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012 und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euro entlastet werden. Noch nie wurden die Kommunen auf einen Schlag so stark entlastet. Obwohl die angemessene Finanzausstattung der Kommunen in der Zuständigkeit der Länder liegt, leistet der Bund mit der Kostenübernahme einen gewaltigen Beitrag zur Stärkung der Kommunalfinanzen. Die Kostenübernahme für die Grundsicherung im Alter ab dem Jahr 2013 werden wir nach Klärung aller offenen Fragen mit den Ländern in einem eigenständigen weiteren Gesetzgebungsverfahren angehen. Es steht aber außer Frage, dass es zur Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter kommen wird. Es gibt aber noch Gesprächsbedarf über das Wie der Ausgestaltung. Ab dem Jahr 2013 treten wir durch die Kostenübernahme in eine Bundesauftragsverwaltung ein, da der Bund über 50 Prozent der Kosten übernimmt. Dies erfordert eine Vielzahl von Rechtsänderungen sowie eine Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bundes. Da die Ausgaben für die Grundsicherung trotz der in die richtige Richtung gehenden Vorhaben von Dr. Ursula von der Leyen im Rahmen des Rentendialogs im Alter künftig wohl weiter steigen werden, ist mit der Kostenübernahme auch für eine nachhaltige Entlastung der kommunalen Finanzen gesorgt. Zudem können wir auch aufgrund einer erfolgreichen Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik dieser schwarz-gelben Bundesregierung positive Zahlen bei den Kommunalfinanzen feststellen. So lag das Defizit der Kommunen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nur noch bei 4,8 Milliarden Euro und damit um 3,5 Milliarden Euro niedriger als im letzten Jahr. Das Statistische Bundesamt führt dies vor allem auf eine Steigerung der Einnahmen um 7,4 Prozentpunkte zurück. Die Steigerung ist vor allem auf ein Plus von 12,8 Prozent bei den Steuereinnahmen zurückzuführen. Sie machen innerhalb des Einnahmeplus den größten Teil aus. Dies ist vor allem durch die Gewerbesteuer bedingt und damit sehr konjunkturabhängig. Leider konnten die Kommunen im Rahmen der Gemeindefinanzkommission nicht davon abgebracht werden, an der Gewerbesteuer festzuhalten. Die FDP hätte die Einnahmen der Kommunen gerne konjunkturunabhängiger und damit auch nachhaltiger gestaltet. So kann ich schon jetzt vorhersagen, dass wir in der nächsten konjunkturellen Flaute wieder vermehrt Klagen aus den Kommunen über zu geringe Mittel hören werden. Sollte es dann wieder Initiativen geben, dass auch Freiberufler Gewerbesteuer zahlen sollen, wie dies heute auch wieder im Antrag der Grünen gefordert wird, werden wir dies entschieden ablehnen. Freiberufler sind eine wesentliche Säule der deutschen Wirtschaft und schaffen eine Vielzahl von Arbeitsplätzen. Sie tun dies unter persönlicher Haftung und leisten mit ihrer Eigenverantwortung einen enormen gesellschaftlichen Beitrag, der unsere Anerkennung verdient. Die Einführung der Gewerbesteuer, wie sie Ihnen vorschwebt, würde zu einer zusätzlichen steuerlichen Belastung für Selbstständige führen, was wiederum für Bürgerinnen und Bürger zu Preissteigerungen führen würde, die entweder direkt oder durch höhere indirekte Kosten zum Beispiel im Gesundheitswesen und dann durch höhere Sozialversicherungsbeiträge durchschlagen würden. Sie von Bündnis 90/Die Grünen kritisieren die Steuersenkungsabsichten der Koalition. Dabei sind Sie doch die größte Steuersenkungspartei in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in Ihrer Regierungszeit die Steuern in einem Volumen von 32 Milliarden Euro gesenkt. Ziel der FDP bleibt eine nachhaltige, solide Finanzierung der Kommunalfinanzen. Einen ersten Schritt schaffen wir mit diesem Gesetz. Katrin Kunert (DIE LINKE): Die Entlastung der Kommunen ist der Koalition so wichtig, dass sie die erste Lesung des „Gesetzentwurfs zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen“ an das Ende der heutigen Sitzung platziert hat. Am 15. Juni 2011 hat die Gemeindefinanzkommission ihre Arbeit eingestellt. Nach mehr als einem Jahr hat sie ihr klägliches Laienspiel beendet. Positiv schlägt zu Buche, dass Schwarz-Gelb mit dem Versuch gescheitert ist, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Negativ ist, dass sich an der Finanznot vieler Kommunen nichts ändert wird. Hier hat die Gemeindefinanzkommission versagt. Die Reform der Gemeindefinanzen bleibt auf der Tagesordnung. Die Finanznot der Kommunen kann man nur lindern, indem man sie stärker am Gesamtsteueraufkommen beteiligt und indem man die Einnahmen aus der Gewerbesteuer stabilisiert und sie in Form einer Gemeindewirtschaftsteuer verlässlicher gestaltet. Die Linke wird hierzu auch weiterhin initiativ werden. Wir werden auch alle Initiativen im Bundestag unterstützen, die eine wirkliche Stärkung der Finanzkraft der Kommunen zum Ziel haben. Einziges Ergebnis der Gemeindefinanzkommission im Bereich Finanzen ist die Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung im Alter. Die Bundesregierung hat erklärt, die Kosten hierfür schrittweise und ab 2014 ganz zu übernehmen. Sicher wäre dies zu begrüßen, wenn nicht andere Entscheidungen dies ins Gegenteil verkehren würden. Anmaßend und zynisch finde ich es, den uns vorliegenden Gesetzentwurf „Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen“ zu nennen. Zur Stärkung der der Finanzkraft der Kommunen gehört mehr als eine Entlastung der Kommunen im Bereich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Außerdem werden im gleichen Atemzug die Kommunen an anderer Stelle wieder belastet und ein Teil der Mittel – 400 Millionen Euro – mit dem Gesetzentwurf bereits verplant. Die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung soll durch eine drastische Reduzierung der Bundesbeteiligung an der Arbeitsförderung refinanziert werden. Dadurch werden weniger Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen, was zulasten von Arbeits- und Erwerbslosen geht. Die Kommunen brauchen zwar dringend eine Entlastung bei den Sozialausgaben, dies muss aber geschehen, ohne dass es gleichzeitig an anderer Stelle zu entsprechenden Kürzungen kommt. Sowohl die Grundsicherung im Alter als auch die Arbeitsmarktinstrumente dienen der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken, für die nicht die Kommunen, sondern die Bundesregierung zuständig sind. Die Kommunen sind nur für die örtlichen Risiken und deren Lösung zuständig. Die Bundesregierung erwartet, dass die Kommunen die frei werdenden Mittel für eine dauerhafte Finanzierung des Mittagessens in Schulhorten oder für Schulsozialarbeit einsetzen. Das ist ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung, den Die Linke nicht mittragen wird. Darüber hinaus ignoriert der Gesetzentwurf auch schwerwiegende Kritikpunkte der kommunalen Spitzenverbände und des Bundesrates. Ich möchte an dieser Stelle auf drei Punkte eingehen. Erstens. Es ist nach wie vor offen, wie sichergestellt werden soll, dass das Geld bei den Kommunen vollständig ankommt. Die Kommunen haben hier bereits leidvolle Erfahrung gemacht. Die Länder haben in der Vergangenheit Mittel des Bundes für die Kommunen nicht oder nicht ausreichend weitergeleitet. Der Forderung der Kommunen, hier eindeutige Regelungen zu schaffen, sind Sie von der Bundesregierung nicht nachgekommen. Das aber ist Voraussetzung dafür, dass die Kommunen wirklich entlastet werden. Ich fordere Sie daher auf, dies umgehend nachzuholen. Zweitens. Bisher sollen der Berechnung der Bundesbeteiligung nicht die tatsächlichen Ausgaben der Länder und Kommunen für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zugrundegelegt werden. Berechnungsgrundlage sollen die Ausgaben im jeweiligen Vorvorjahr sein. Das aber bedeutet, dass Länder und Kommunen den Anstieg der Ausgaben im laufenden Jahr im Vergleich zum Vorjahr selbst finanzieren müssen. Damit entsteht für sie ein dauerhafter Fehlbetrag. Allein an dieser Regelung wird deutlich, wie ernst Sie es meinen mit der Entlastung der Kommunen. Drittens. Der Referentenentwurf des BMAS vom 6. Juni 2011 regelte noch die Kostenübernahme für die Jahre 2012, 2013 und 2014. Der nun vorliegende Gesetzentwurf regelt nur die Kostenübernahme für 2012. Die weiteren Steigerungsschritte sollen später geregelt werden. Die Begründung der Bundesregierung dafür lautet, ich zitiere aus der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates: „Die Erhöhungsschritte für die Jahre 2013 (auf 75 Prozent) und 2014 (auf 100 Prozent) bleiben einem gesonderten Gesetzgebungsverfahren vorbehalten, weil aufgrund des Erreichens und Überschreitens eines hälftigen Anteils der Bundesmittel an den Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab dem Jahr 2013 nach Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes Bundesauftragsverwaltung eintritt. Da die Erhöhung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2012 bis zum Jahresende 2011 beschlossen werden muss, steht im vorliegenden Gesetzgebungsverfahren nicht ausreichend Zeit zur Regelung der Umsetzung der Bundesauftragsverwaltung zur Verfügung.“ Liebe Bundesregierung, das wussten Sie bereits im Februar. Es war also genügend Zeit, um diese Änderungen mit dem heutigen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich meine, dass Sie sich mit der jetzigen Regelung eine Hintertür offen lassen wollen. Möglicherweise wollen Sie Ihre Entscheidung noch einmal überdenken? Ich kann Ihnen versprechen, die Linke wird sehr genau hinschauen und darauf drängen, damit Sie Ihrer Verantwortung nachkommen. Sollte sich an dem Gesetzentwurf nichts ändern, wird meine Fraktion dieses Gesetz ablehnen. Es ist nicht nur mit großen Mängeln behaftet, es ist auch ein vergiftetes Geschenk an die Kommunen. Auch wenn sich die Einnahmen aus der Gewerbesteuer nach dem krisenbedingten Einbruch insgesamt wieder erholen, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die Entlastung der Kommunen – auch das sei an dieser Stelle gesagt –, die nur einem Teil der Kommunen zugutekommt, ist keine befriedigende Lösung. Die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung machen nur 10 Prozent der gesamten Sozialausgaben aus. Das strukturelle Defizit wird nicht beseitigt. Und das Problem, dass Bund und Länder ständig neue Aufgaben auf die Kommunen übertragen und dafür nur unzureichend Mittel zur Verfügung stellen, wird auch nicht gelöst. Der Bund kann zwar nicht mehr auf direktem Wege den Kommunen Aufgaben übertragen. Dieser Weg ist dem Bund seit der Föderalismusreform verwehrt. Aber er hat die Möglichkeit, über die Länder den Kommunen neue Aufgaben zu übertragen und bereits übertragene Aufgaben qualitativ und quantitativ zu erweitern. Und davon macht er zur Genüge Gebrauch. Ein aktuelles Beispiel: Am 26. September 2011 fand eine Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen statt. Das Anliegen des Gesetzes ist sicher zu begrüßen. Was nicht zu begrüßen ist, ist, dass wieder einmal versucht wird, neue Aufgaben über die Länder auf die Kommunen zu übertragen bzw. bestehende zu erweitern, ohne sie auskömmlich zu finanzieren. Die Kommunen erhalten dafür nicht die Mittel, die notwendig wären, um die Aufgaben in der entsprechenden Qualität zu erfüllen. Ich zitiere aus der Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zum Gesetzentwurf: „Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet … einige ganz wesentliche Aufgabenverdichtungen und ebenso einige ganz grundsätzliche neue Aufgaben der Jugendhilfe. Hierzu erfolgt eine nicht nachvollziehbare Kosteneinschätzung seitens des BMFSFJ, dessen Auskömmlichkeit vor dem Hintergrund des Umfangs der mit dem Gesetzentwurf verbundenen Aufgaben grundlegend bezweifelt wird. … Neben der Auskömmlichkeit dieser Mittel steht hier zu befürchten, dass nach Auslaufen der befristeten Bundesfinanzierung eine kommunale Verstetigung erwartet wird.“ Weitere Beispiele sind: Änderungen im Vormundschafts- und Betreuungsrecht, im Eichwesen, die Einführung des elektronischen Aufenthaltstitels und die Einführung des elektronischen Personalausweises haben zur Erweiterung der Aufgaben geführt, ohne dass die dafür notwendigen Mittel bereitgestellt worden wären. Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dass auch für sie gilt: Wer die Musik bestellt, muss zahlen. Die Einführung eines Konnexitätsprinzips dürfte eigentlich in diesem Hause auf breite Zustimmung stoßen. Es ist nicht nur unsere Auffassung, auch Bündnis 90/Die Grünen und SPD erheben diese Forderung. Und selbst die FDP hatte in der letzten Wahlperiode immer wieder die Einführung eines Konnexitätsprinzips gefordert. Sie haben nicht nur einen Antrag zur Einführung eines Konnexitätsprinzips eingebracht, sondern auch jede sich bietende Möglichkeit genutzt, dies zu fordern. Insbesondere Frau Piltz hat zum Beispiel am 29. August 2007 im Zusammenhang mit dem Kitaausbau erklärt: „Das Hickhack um die Finanzierung zeigt einmal mehr, dass es ein kapitaler Fehler war, im Rahmen der Föderalismusreform kein Konnexitätsprinzip im Grundgesetz zu verankern. Wenn sich bei einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe wie der Kindertagesbetreuung eigentlich alle einig sind, dass etwas getan werden muss, ist es unverantwortlich, dass die Kostentragung nicht schnell und unkompliziert geklärt werden kann. Die FDP wird sich daher weiterhin für die Verankerung des Grundsatzes ‚Wer bestellt, bezahlt‘ im Grundgesetz einsetzen.“ Ich bin gespannt, wie die FDP sich zu unserem Antrag verhalten wird. Die Einführung eines Konnexitätsprinzips im Grundgesetz ist dringender denn je. Es schützt die Kommunen vor Mehrbelastungen und eröffnet ihnen die Möglichkeit, gegen den Bund – wenn erforderlich – auch gerichtlich vorzugehen. Bisher können durch den Bund ausgelöste Aufgabenübertragungen von den Kommunen nicht auf dem direkten Rechtsweg angegriffen werden. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, mit dem die Bundesbeteiligung an der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit neu geregelt werden soll. Diese finanzielle Unterstützung seitens des Bundes ist bereits im Februar im Zuge des Hartz-IV-Kompromisses vereinbart worden. Sie ist für die strukturell unterfinanzierten Kommunen eine dringend notwendige Maßnahme, werden doch ausweislich des Gemeindefinanzberichtes die Ausgaben der Kommunen für soziale Leistungen allein in diesem Jahr von 42 Milliarden Euro auf 45 Milliarden Euro steigen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 26 Milliarden Euro. Die Kostenentwicklung bei den sozialen Pflichtleistungen ist mithin dramatisch. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, sind im Februar durch die Lande gezogen und haben den Kommunen eine Entlastung von rund 4 Mil-liarden Euro ab dem Jahr 2014 versprochen. Dabei haben Sie nicht erwähnt, dass Sie von den Kommunen im Gegenzug verlangen, dass sie ab diesem Jahr auch das im Hartz-IV-Kompromiss vereinbarte Hortessen und die Ausgaben für die Einstellung von 3 000 Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern finanzieren sollen. Jedenfalls versuchen Sie nun, im Gesetzentwurf durch die Hintertür eine Zweckbindung zu erreichen, indem Sie in der Begründung erwähnen, dass die Kommunen nun auch genügend Mittel zur Übernahme dieser Kosten hätten. Für die Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden ist es kein gutes Signal, dass Sie die Vereinbarung zur Grundsicherung im Alter aus dem Vermittlungsverfahren zu Hartz IV auch im Schlussbericht der Gemeindekommission abfeiern mussten, damit Sie dort überhaupt ein Ergebnis zu vermelden haben, nachdem Sie mit Ihrem Projekt, die Gewerbesteuer abzuschaffen, zum Glück gescheitert sind. Damit hätten Sie die Gemeindefinanzen weiter geschwächt. Jetzt, da Sie die Chance haben, Ihre Versprechen einzulösen, regeln Sie mit dem Gesetzentwurf nur den ersten Schritt der vereinbarten Entlastung: die Erhöhung des Bundesanteils von 16 auf 45 Prozent im Jahr 2012. Die Kommunen, die in 2011 trotz besserer Steuereinnahmen immer noch ein Defizit von 5 Milliarden Euro ausweisen, brauchen jetzt dringend ein Zeichen für Planungssicherheit. Warum säen Sie jetzt Zweifel, dass Sie auch gewillt sind, sich ernsthaft an Ihre Zusagen, nämlich 75 Prozent in 2013 und 100 Prozent in 2014 zu übernehmen, zu halten? Die Begründung im Gesetzentwurf, dass die Umsetzung der weiteren Schritte daran scheitere, dass es zu einer Bundesauftragsverwaltung käme, greift nicht. Die Bundesregierung hatte seit Februar dieses Jahres, als der Hartz-IV-Kompromiss besiegelt wurde, Gelegenheit, ein Abstimmungsverfahren mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden dazu einzuleiten. Auch der Bundesrat sieht in seiner Stellungnahme vom 23. September 2011 offenbar kein Problem darin, alle vereinbarten Schritte sofort in diesem Gesetzentwurf umzusetzen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, das Versprechen, die Grundsicherung im Alter ab 2014 vollständig zu übernehmen, jetzt auch gesetzlich umzusetzen. Offenbar wollen Sie die Ausgaben für die Grundsicherung auch nicht eins zu eins an die Kommunen weiterleiten. Der Gesetzentwurf sieht eine Kostenerstattung auf Basis der tatsächlichen Ausgaben des Vorvorjahres vor. Anstatt eine Spitzabrechnung vorzunehmen, schieben Sie den Kommunen die Last der Vorfinanzierung von zwei Jahren zu. Vor dem Hintergrund von jährlichen Steigerungsraten von 7 Prozent enthalten Sie Kommunen damit eine halbe Milliarde Euro vor. Das ist nicht trivial. Einer Stadt wie Bielefeld, die heute rund 19 Millionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, fehlen dadurch 2,7 Millionen Euro. Damit ließe sich kommunal eine Menge auf die Beine stellen oder so manches Haushaltsloch stopfen. Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, mit der von Ihnen eingerichteten Gemeindefinanzkommission die Einnahmen der Kommunen, insbesondere durch Reformen der Gewerbe- und der Grundsteuer, zu stärken und zu stabilisieren, sollten Sie wenigstens das einzig nennenswerte Resultat dieser Kommission vollständig umsetzen. Statt mit Trickspielen die Abrechnungen zugunsten des Bundes zu schönen, sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort in den Städten und Gemeinden zeigen, dass Sie es ernst meinen mit Ihrem Versprechen, die Gemeinden von den wachsenden Belastungen aus der Grundsicherung im Alter zu entlasten. Angesichts dramatischer Haushaltsnotlagen, insbesondere bei Gemeinden in strukturschwachen Gebieten, kann die Übernahme der Grundsicherung im Alter nur ein erster Schritt zur Stärkung der Kommunalfinanzen sein. Die Länder machen sich inzwischen auf, Entschuldungsprogramme für ihre Kommunen in Haushaltsnotlagen umzusetzen. Vor dem Hintergrund der Schuldenbremse ist dies für die Länder, insbesondere für Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, ein großer finanzieller Kraftakt. Diese Entschuldungsprogramme werden trotz harter Sparvorgaben bei den betroffenen Kommunen ins Leere laufen, wenn die Kommunen bei den sozialen Pflichtleistungen nicht weiter nachhaltig entlastet werden. Wegen des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit, Unterkunftskosten und kommunalen Kassenkrediten plädieren wir Grüne weiter für höhere Bundesanteile an den Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende. Die Kostenaufwüchse der Vergangenheit und künftige Kostensteigerungen dürfen nicht mehr einseitig allein von den Kommunen getragen werden. Hier haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ein weiteres Mal schlecht für die Städte und Gemeinden gesorgt, als Sie in dem besagten Hartz-IV-Kompromiss die Bundesanteile an den Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende auf 25,1 Prozent eingefroren haben. Ich erinnere Sie daran, dass Ihre Parteikollegen in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den Grünen und der SPD eine Bundesbeteiligung von 50 Prozent gefordert haben. Schließlich fordert meine Fraktion in unserem Antrag, finanzschwache Kommunen ohne Sozialabbau zu unterstützen. Völlig inakzeptabel ist die Gegenfinanzierung der Übernahme der Grundsicherung im Alter durch eine Streichung des Bundeszuschusses für die Arbeitsagentur in gleicher Höhe. Flankiert durch die sogenannte Instrumentenreform bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen drohen massive Kürzungen in der Arbeitsmarktpolitik vor Ort. Wir Grüne sind deshalb zu Recht im Februar aus dem Vermittlungsverfahren um Hartz IV ausgestiegen. Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen setzen wir die Protokollerklärung des Vermittlungsausschusses vom Februar dieses Jahres um, indem der Bund schrittweise die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig übernimmt und die Kommunen damit im Milliardenbereich jährlich entlastet. Die Annahme der Protokollerklärung hat maßgeblich zur Einigung in dem jahrelangen Streit über die Höhe der Regelbedarfe in der Sozialhilfe und in der Grundsicherung für Arbeitsuchende beigetragen. Ich glaube, dass es sich lohnt, daran zu erinnern, wie der Streit eigentlich entstanden ist. Vor zehn Jahren, im Jahr 2001, hat die damalige Bundesregierung mit der damaligen Parlamentsmehrheit beschlossen, die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in der Form einzuführen, dass bei Bedürftigkeit im Alter auf enge Familienangehörige nur noch dann Rückgriff genommen wird, wenn das Jahreseinkommen dieser engen Familienangehörigen mindestens 100 000 Euro beträgt. Der den Kommunen insbesondere daraus entstehende sogenannte grundsicherungsbedingte Mehraufwand wurde im Jahr 2001 von der damaligen Bundesregierung ursprünglich auf 600 Millionen DM oder 307 Millionen Euro pro Jahr geschätzt. Nur diese Summe sollte aus der Sicht der im Jahr 2001 im Bund Regierenden den Mehraufwand der Kommunen ausgleichen. Eine Dynamisierung war nicht vorgesehen. Entsprechend hat eine Rednerin der SPD-Fraktion am 26. Januar 2001 unter dem Beifall ihrer Fraktion in diesem Hohen Haus festgestellt, dass – ich zitiere – „die den Kommunen dadurch“ – durch den Verzicht auf den Unterhaltsrückgriff – „entstehenden Kosten vom Bund getragen werden. Die Kommunen werden also nicht belastet (…).“ Zitat Ende. Entsprechend heißt es auch in der Gesetzesbegründung, dieser Betrag stelle sicher – ich zitiere –, „dass der Bund den Ländern diejenigen Mehrausgaben ausgleicht, die den Kreisen und kreisfreien Städten als Trägern der Sozialhilfe wie auch als Trägern der Grundsicherung unmittelbar aufgrund der gegenüber dem Sozialhilferecht besonderen Regelungen im Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung entstanden sind.“ Zitat Ende. Dem sich anschließenden Vermittlungsverfahren ist es zu verdanken, dass der Betrag zumindest auf 409 Millionen angehoben wurde. Ich bin froh darüber, dass heute niemand mehr ernsthaft der Meinung ist – anders als vor zehn Jahren, als die damalige Opposition schon erklärt hat, das sei zu wenig für die Kommunen, sich aber nicht durchsetzen konnte –, dass mit 409 Millionen Euro oder gar nur 307 Millionen Euro der grundsicherungsbedingte Mehraufwand gedeckt ist. In der Großen Koalition ist die absolute Summe der Bundesbeteiligung dann auf eine prozentuale Summe umgestellt und dynamisiert worden, so dass wir heute bei einer Beteiligung von 15 Prozent sind und nach der geltenden Rechtslage im nächsten Jahr bei einer Beteiligung von 16 Prozent wären, die wir aber nicht umsetzen wollen, weil der Bund in der Protokollerklärung zugesagt hat, seinen Anteil an den Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2012 auf 45 Prozent‚ im Jahr 2013 auf 75 Prozent und vom Jahr 2014 an auf 100 Prozent zu erhöhen. Zu dieser übernommenen Verpflichtung steht der Bund ohne Wenn und Aber. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in der Protokollerklärung keine Verabredung getroffen worden ist, diese Zusage in einem einzigen Gesetz in diesem Jahr umzusetzen. Dazu besteht auch keine Notwendigkeit. Wir legen hier einen Gesetzentwurf vor, der vorsieht, für das nächste Jahr die Beteiligung des Bundes in Höhe von 45 Prozent festzusetzen. Kritik wurde dahin gehend laut, dass die Bundesregierung aufgrund des Eintretens von Bundesauftragsverwaltung die weiteren Erhöhungsschritte der Bundesbeteiligung in einem separaten Gesetzgebungsverfahren regeln will. Bundesauftragsverwaltung liegt unstreitig dann vor, wenn mindestens 50 Prozent der Geldleistungen vom Bund erbracht werden. Bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bringt sie erhebliche Veränderungen mit sich, mit denen im Sozialhilferecht Neuland betreten wird. Es gibt bislang kein in der Dimension vergleichbares Sozialleistungssystem, das in Bundesauftragsverwaltung durchgeführt wird. Ich denke nur daran, dass sich die Ausführung auf rund 450 Sozialhilfeträger verteilt und dass rund 770 000 leistungsberechtigte Personen betroffen sind. Niemand wird erwarten, dass der Bund Ausgaben von jährlich etwa 5 Milliarden Euro übernimmt, ohne die gemeldeten Ausgaben und ihre Verwendung überprüfen zu können. Bundesauftragsverwaltung wird auch in Zukunft nicht das gesamte Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch betreffen, sondern nur den Teilbereich der genannten Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung; im Übrigen bleibt es bei der Eigenverwaltung. Bei der Umsetzung der Bundesauftragsverwaltung geht es folglich auch um die Frage, ob Eigenverwaltung und Auftragsverwaltung in einem Gesetz nebeneinander stehen können, ob sich hieraus ein funktionsfähiges und verfassungskonformes Gesetz ergibt. Das alles sind komplizierte Rechtsfragen, die zu erörtern sind. Was die Kritik an der im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Orientierung an den Ausgaben des Vorvorjahres bei der Erstattung betrifft, so ist festzustellen, dass die entsprechenden Daten des Statistischen Bundesamtes zur Sozialhilfestatistik für ein Kalenderjahr nicht früher vorliegen. Das heißt, verdeutlicht an einem Beispiel: Im Jahr 2011 wurde die Bundesbeteiligung am 1. Juli an die Länder gezahlt. Erst zum 1. April 2011 lagen – über das Statistische Bundesamt – die endgültigen Ergebnisse der Nettoausgaben bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für das Jahr 2009 vor. Ich glaube, es ist unser gemeinsames Interesse, zu einer korrekten, sorgfältigen und verfassungsfesten Umsetzung der Protokollerklärung zu kommen. Deswegen legen wir einen Gesetzentwurf vor, der zunächst in diesem Jahr die für das nächste Jahr notwendigen Schritte vornimmt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der Bund zu seiner Zusage einer nachhaltigen finanziellen Entlastung der Kommunen steht. Im heute zu beratenden Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen sind die entsprechenden finanziellen Auswirkungen schwarz auf weiß dargestellt. Die Erhöhungsschritte für 2013 und 2014 mit ihren finanziellen Auswirkungen bis zum Jahr 2015 sind darüber hinaus in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes enthalten. Die finanziellen Auswirkungen für den Bund sind in entsprechende Beschlüsse der Bundesregierung und in den vorliegenden Gesetzentwurf bereits eingepreist. Ich betone: Die bei der Einführung des Gesetzes vor zehn Jahren für die Kommunen vorgesehene Finanzausstattung war nicht ausreichend. Ich bin froh, dass es gelungen ist, hier einen Konsens herzustellen. Mit dem vorliegenden Gesetz leistet der Bund einen großen Beitrag zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Kommunen. Bereits in der Großen Koalition haben wir diesen Weg eingeschlagen. Jetzt gehen wir ihn in der christlich-liberalen Koalition konsequent weiter. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern (Tagesordnungspunkt 16) Erika Steinbach (CDU/CSU): Die Welt ist in Bewegung, in einer ständigen Bewegung rund um den Globus. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich seit Beginn des Jahres auf die Umwälzungen im arabischen Raum, den arabischen Frühling. Der Erfolg der Aufständischen in Tunesien und Ägypten steckte junge Menschen in der gesamten Region, von Marokko bis Saudi-Arabien geradezu an, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Die zu befürchtenden Repressionen der seit Jahrzehnten herrschenden autokratischen Regime hielten die Menschen nicht mehr auf. Deutschland leistete im Rahmen der Transformationspartnerschaften mit Tunesien und Ägypten unter anderem flankierende Hilfe, um die Entwicklung hin zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu ermöglichen. Eine möglichst breite Beteiligung der Menschen am Übergangsprozess in ihren Ländern war das Ziel. Deutschland hat zahlreiche Projekte für Demokratieförderung, Berufsbildung und Jugendbeschäftigung sowie für Kredite an kleinere und mittlere Unternehmen auf den Weg gebracht. Nachhaltiger Stabilität den Weg zu bahnen, ist die Absicht. Erste humanitäre Hilfsmaßnahmen, wie medizinische Notversorgung für die Libyer, leistete Deutschland bereits im Februar. Für die Betroffenen der Auseinandersetzungen wurden rund 15 Millionen Euro in den Monaten Februar bis August bereitgestellt. Das ist Hilfe, die dazu beiträgt, Situationen zu entschärfen und stabilisieren. Oberste Priorität muss es sein, die Menschen in ihren Heimatländern zu unterstützen und Flucht verhindern zu helfen. Doch sind die Zahlen der Vertriebenen und Flüchtlinge allein in Libyen in der Tat erschreckend hoch. Rund 970 000 Menschen waren im Mai den Schätzungen OCHAs zufolge auf Hilfe angewiesen, 330 000 Binnenvertriebene unter ihnen. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass gerade Libyen durchaus ein Land ist, das ohne unsere finanzielle Hilfe sprichwörtlich „auf die Beine kommen“ wird. Die UNO hatte bereits Ende August 1,5 Milliarden US-Dollar freigegeben, die an libyschen Geldern eingefroren waren. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kündigte schon Anfang des Monats an, dass rund 15 Milliarden Euro sofort freigegeben würden. In der Zentralbank in Tripolis fanden sich 16 Milliarden Euro; die Opposition fordert die Freigabe weiterer 170 Milliarden Euro. Seit Jahren sind wir mit der Problematik konfrontiert, dass afrikanische Flüchtlinge versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Bis Mitte des Jahres sind 32 000 Menschen auf diesem Weg aus Nordafrika nach Italien gekommen, vorwiegend Wirtschaftsmigranten. Migration kann jedoch nicht die Lösung für die Probleme der Herkunftsländer sein. Die Regierungen der Staaten sind ebenfalls und in erster Linie in der Pflicht. Die Flüchtlinge, die Italien erreichen, wollen nicht dort bleiben, sondern in andere Länder Europas weiterreisen, um Arbeit aufzunehmen. Die Weiterreise ist mit den von italienischen Behörden ausgestellten temporären Aufenthaltsgenehmigungen möglich. Deutschland hat im vergangenen Jahr 41 332 Flüchtlinge aufgenommen. Das ist eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr und Platz 2 innerhalb der Europäischen Union; nur Frankreich nahm eine noch größere Zahl an Flüchtlingen auf. Italien steht mit 8 200 aufgenommenen Flüchtlingen im Jahr 2010 bei der Betrachtung der relativen Zahlen, dem Verhältnis der Asylbewerber zur Bevölkerungszahl, auf Platz 17. Die Aufnahmeleistung Italiens entspricht einem Anteil von 0,01 Prozent Asylbewerber pro Einwohner. Zweifelsohne steht Italien vor einer großen Herausforderung, nicht aber von einer Überforderung. Hilfe, die Deutschland angeboten hat, wurde von italienischer Seite nicht angenommen. Schlepperbanden finden in Situationen der Instabilität den größten Markt für ihr verbrecherisches Treiben. Genau diese Situation beobachten wir mit großer Sorge verstärkt in den vergangenen Monaten. Auf seeuntüchtigen und völlig menschenüberladenen Booten schicken Schlepperbanden Flüchtlinge auf illegalem Weg von Nordafrika nach Europa. Doch seit Jahren erreichen uns Meldungen, dass Menschen dabei auf See den Tod finden. Jedes Jahr ertrinken mehrere Hundert Menschen bei dem Versuch, als illegale Einwanderer das Mittelmeer von Nordafrika in Richtung Italien oder Spanien zu überqueren. Die Antwort kann nur lauten, dass Migration konsequenter Kontrolle bedarf. Die Überwachung der Seeaußengrenzen der Europäischen Union trägt dazu bei, im positiven Sinn. Sie verhindert oder verringert nicht Migration, sondern ihre Wege, die – wie wir sorgenvoll feststellen müssen – auf hoher See lebensgefährlich sind. Wem also keine Hintertür geöffnet werden darf, ist der organisierten Kriminalität, den Schleppern und Menschenhändlern. Sie passen die Wege und Mittel ihres menschenverachtenden Geschäfts so rasant den vorzufindenden Rahmenbedingungen an, dass es ihnen ein Leichtes ist zu behaupten, sie würden seenotrettend unterwegs sein. Deshalb ist ein genereller, grundsätzlicher Schutz vor Strafverfolgung und die Forderung des finanziellen Ausgleichs für „Seenotrettende“ nicht ansatzweise zielführend. Die Rettung Schiffbrüchiger ist in der Tat ist ein wichtiges Anliegen. Die Forderung jedoch, jederzeit einen Raum wie das Mittelmeer dahin gehend zu überwachen und abzusichern, ist schlichtweg unrealistisch und nicht zu leisten. Hier lautet die Antwort wiederum, die Wege der Migration sind zu verändern und zu kontrollieren, um der Menschen willen. Lobend und beispielhaft erwähnen will ich die Organisation der Seenotrettung in Deutschland. Sie wird durch die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, DGzRS, eine nichtstaatliche Rettungsorganisation, durchgeführt. Die Gesellschaft finanziert sich überwiegend durch freiwillige Zuwendungen und komplett ohne Steuergelder. Die erste deutsche Rettungsstation wurde 1809 in Memel gegründet. Heute betreibt die DGzRS eine Flotte von 61 Seenotkreuzern und Seenotrettungsbooten auf 54 Stationen. Seenotrettung ist grundsätzlich Teil nationalstaatlicher Kompetenz. Würde die Seenotrettung für das Mittelmeer europäisch geregelt, welches Hochseegewässer würde dann der nationalen Seenotrettung weiterhin unterstehen und welches nicht, oder organisiert und finanziert die EU dann auch die Seenotrettung im Atlantik, dem Schwarzen Meer und in der Nord- und Ostsee? Wolfgang Gunkel (SPD): Es gibt eine seit Jahrhunderten geltende stolze Tradition der Seefahrt, die in nahezu allen Kulturen und Regionen der Welt Geltung hat. Ich spreche vom selbstverständlichen Gebot, Menschen in Seenot Beistand zu leisten. Das völkerrechtliche grundsätzliche Übereinkommen, Schiffbrüchigen das Recht auf Hilfe zu garantieren, findet sich folgerichtig auch im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen wieder. Dort heißt es: Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes (…) jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; Insofern muss es sehr verwundern, dass wir einen Antrag kontrovers debattieren, der im Kern schlicht und einfach die Einhaltung der völkerrechtlichen Pflicht zur Seenotrettung einfordert, mithin eine unstrittige rechtsstaatliche Grundwahrheit. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen spricht von mindestens 2 000 Menschen, die in diesem Jahr bereits im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken sind. Das Bundesministerium des Innern geht von etwa 50 000 – wie es dort heißt – Migranten aus, die bis heute aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind. 9 000 Menschen wurden laut BMI in Seenot gerettet. Über Fälle, in denen Boote abgedrängt oder zum Kentern gebracht wurden, wie es immer wieder von Menschenrechtsorganisationen zu hören ist, liegen dem Bundesinnenministerium keine Informationen vor. So jedenfalls wurde im Menschenrechtsausschuss des Bundestages berichtet. Aber natürlich kennt auch die Bundesregierung die von Nichtregierungsorganisationen genannten Zahlen, hinter denen Schicksale von Menschen auf der Flucht stehen, die auf hoher See verhungert, verdurstet oder ertrunken sind. Die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, kurz Frontex genannt, koordiniert, wie wir wissen, auch die Einsatzkräfte der EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeer. Menschenrechtsorganisationen weisen seit langem auf die – vorsichtig ausgedrückt – problematische Rolle hin, die Frontex im Umgang mit den Flüchtlingen nicht nur im Mittelmeer, sondern auch an der griechisch-türkischen Grenze spielt. So behauptet zum Beispiel Human Rights Watch, dass Frontex eine Mitschuld trage, wenn sie Migranten wissentlich Bedingungen aussetze, die eindeutig gegen internationale Menschenrechtsstandards verstoßen. Die EU müsse dringend die Regeln für Frontex-Einsätze verschärfen und sicherstellen, dass zur Verantwortung gezogen wird, wer diese Regeln nicht einhält. Auf Anfrage heißt es aus dem Bundesinnenministerium zwar, dass Frontex sich nach den einschlägigen menschenrechtlichen Leitlinien richte, sich an das Verbot einer Ausschiffung von Flüchtlingen halte und auch das Nonrefoulement-Prinzip achte – also keine Flüchtlinge zwangsweise in Staaten zurückgewiesen werden, in denen sie unmittelbare existenielle Bedrohung zu befürchten haben. Dennoch scheint man Handlungsbedarf erkannt zu haben. So plant die EU-Kommission ein Projekt zur besseren Überwachung der Seesicherheit im Mittelmeer, an dem 6 Mitgliedstaaten und 37 Behörden beteiligt sein sollen. Außerdem soll bei Frontex ein Menschenrechtsforum angegliedert werden, in dem auch das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen eine Stimme erhält. Ein Verhaltenskodex in Menschenrechtsfragen ist für Frontex geplant, der Sanktionen bei Verstößen vorsieht. Im Rahmen der gemeinsamen europäischen Asylpolitik will man die Rechtssicherheit bei Frontex-Einsätzen verstärken. So weit, so gut. Nur wissen wir aus bitterer Erfahrung: Papier ist geduldig. Den geplanten Maßnahmen der Bundesregierung und der EU-Kommission, mit denen Menschenrechtsverletzungen geahndet und bestenfalls sogar verhindert werden sollen, müssen nicht nur beschlossen, sondern auch effektiv umgesetzt werden. Es ist ja nicht so, dass Frontex zentral gesteuerte eigene Einsatzkräfte hätte. In vielen Fällen handeln Einsatzkräfte eines EU-Mitgliedstaates allein und mit Unterstützung von Frontex. So gibt es zum Beispiel beim Einsatz „Hermes“ vor Lampedusa im Mittelmeer keine Rettungs- oder Marineschiffe von Frontex. Frontex beteiligt sich nur an der Finanzierung italienischer Einsatzmittel und Einsatzkräfte. Lediglich die Maßnahmen an Land bei der Registrierung der Flüchtlinge und beim sogenannten Screening finden unter Beteiligung von Frontex statt. Auch bei der Luftüberwachung unterstützt Frontex den Einsatz. Die Maßnahmen auf See entziehen sich aber der unmittelbaren Kontrolle jedweder EU-Behörden. Kurz: Ohne ein funktionierendes Kontrollregime bleibt ein Verhaltenskodex und Menschenrechtsforum für Frontex ein Papiertiger. Wie wenig die geplanten Maßnahmen zur Überwachung der Seenotrettung auf EU-Ebene einem tatsächlichen politischen Durchsetzungswillen folgen, zeigt zugleich ein anderer Aspekt, der – aus welchen Gründen auch immer – in der Debatte kaum zu hören ist: Die Seenotrettung liegt gar nicht in der Kompetenz des für Frontex zuständigen Innenministeriums, sondern in der des Bundesverkehrsministeriums. Und hier gibt es weder eine Koordinierung unter den EU-Mitgliedern noch eine Initiative, eine solche zu institutionalisieren. Wie also soll ein Verhaltenskodex für den Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer umgesetzt und kontrolliert werden, wenn es in der Europäischen Gemeinschaft überhaupt keine Koordinierung der Seenotrettung gibt? Es ist überhaupt keine Frage, dass die EU angesichts der Flüchtlinge aus Nordafrika vor sehr großen Herausforderungen steht. Einfache Antworten und Lösungen der Probleme wird es hier nicht geben. Aber es verbietet sich auch nur der Gedanke, potenzielle Flüchtlinge vor ihrem Weg nach Europa abzuschrecken, indem man unter anderem tatenlos zusieht, wie Tausende Menschen auf hoher See ertrinken. Gerade darum geht es in dem Antrag, den wir hier einstimmig beschließen sollten. Es geht darum, alles uns Mögliche in die Wege zu leiten, um das Sterben auf hoher See zu beenden. Dazu bedarf es einer Koordinierung der EU-Staaten bei der Seenotrettung, einer rechtlichen Regelung für Seenotrettende, einer finanziellen Unterstützung für die EU-Mitgliedstaaten an den Seegrenzen, und schließlich brauchen wir dringend eine gemeinsame europäische Asylpolitik, um humanitäre Antworten auf die drängende Flüchtlingsfrage zu finden. Deshalb kann die Ablehnung des Antrages durch CDU/CSU und FDP auf nichts anderes als Unverständnis stoßen, gerade auch weil die offiziellen Begründungen für ihr Votum wenig zielführend sind. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag hätte die geschlossene Unterstützung eines solch genuin humanitären Antrags mit Forderungen an die Bundesregierung gut zu Gesicht gestanden. Serkan Tören (FDP): Das Parlament beschäftigt sich in der heute vorliegenden Beschlussempfehlung mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern“. In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung zu Folgendem auf: eine völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung im Mittelmeerraum innerhalb der Europäischen Union konsequent durchzusetzen. Wenn das Thema nicht so ernst, so emotional bewegend und so sensibel wäre, könnte berechtigterweise gefragt werden, was Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 im Bereich der Seenotrettung im Mittelmeer bewegt hat. Denn die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer gibt es ja nicht erst seit der Regierungsübernahme der christlich-liberalen Koalition im Jahr 2009, auch wenn die militärischen Handlungen in Libyen aus jüngster Zeit resultieren. Es war Bundesinnenminister Otto Schily, der noch im Jahr 2004 unter Rot-Grün forderte: Wir brauchen Auffanglager in Afrika. Er sagte: „Afrikas Probleme müssen in Afrika gelöst werden.“ Wie zynisch und selbstgerecht ist es nun von den Grünen, die aktuelle christlich-liberale Bundesregierung für das eigene Versagen von 1998 bis 2005 verantwortlich zu machen. Jetzt in der Opposition, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, fordern Sie lautstark Reformen bezüglich der Seenotrettung im Mittelmeer. In Ihren eigenen sieben Jahren Regierungszeit haben Sie in dieser Hinsicht nichts getan und vollkommen versagt. Mit erschütternder Regelmäßigkeit erreichen uns dramatische Nachrichten von Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer Schiffbruch erleiden und umkommen. Die schwierige Situation in Nordafrika und die Hoffnung auf Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Lage treibt viele Personen, besonders junge, dazu, eine von Strapazen gekennzeichnete Reise zu unternehmen, um von dort aus die Seereise in die EU anzutreten. Auf ihrem langen Weg sind diese Menschen oft korrupten Beamten ausgeliefert und müssen sich für den Transfer über das Meer nach Europa in die Hände von skrupellosen Menschenschleppern begeben. Um der Verhaftung zu entgehen, zwingen diese Schlepper die Flüchtlinge regelmäßig, noch vor Erreichen der europäischen Küste ins Meer zu springen und die restliche Strecke zum rettenden Land schwimmend zurückzulegen. Für viele Flüchtlinge endet diese letzte Etappe tödlich. In anderen Fällen erweisen sich die Boote schon während Überfahrt als nicht seetüchtig, sodass die Menschen an Bord Schiffbruch erleiden. Wir dürfen nicht außer Acht lassen: Kriminelle Schleuser locken Menschen aus Geldgier mit falschen Versprechungen nach Europa. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen: Solche Schlepperbanden nehmen sogar den Tod der Verschleppten auf See billigend in Kauf. Wenn sich Menschen, durch falsche Versprechungen verlockt, selbst in Gefahr bringen, etwa auf See, dann ist Seenotrettung zwar notwendig, aber keine Ursachenbekämpfung. Vielmehr muss sowohl in den Herkunftsländern der Migranten als auch in der EU darauf hingewirkt werden, dass solche Tragödien gar nicht erst stattfinden. Nun zu dem Antrag: Im Großen und Ganzen lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab. Der Antrag enthält zwar einzelne Punkte, denen man zustimmen kann. Es gibt aber aus Sicht der Liberalen im Wesentlichen zu viele kritische Aspekte. Zum einen wird in dem Antrag verlangt, eine europarechtliche Regelung einzuführen, um Seenotrettende vor Strafverfolgung zu schützen. Dem ist entgegenzuhalten: Die Thematik der Seenotrettung ist völkerrechtlich geregelt. In europarechtlicher Hinsicht gehört die Seenotrettung nicht zu den vergemeinschafteten Bereichen. Hier ist nationales Handeln vorrangig. Ferner muss auch gefragt werden, wer hier geschützt wird. Dies ist insofern ein großes Problem, als unklar ist, wie zwischen Rettern und Schlepperbanden unterschieden werden kann. Es besteht folgende Gefahr: Schlepperbanden nutzen eine derartige Vorschrift aus, um ihrem Geschäft ungestört nachgehen zu können. Es darf keine Hintertür geöffnet werden, die den Menschenhändlern das Leben noch einfacher macht. Hier ist deshalb eine Einzelfallprüfung nötig, ob ein Straftatbestand vorliegt. Eine pauschale Regelung zur Straflosigkeit ist aus unserer Sicht keine Lösung. Der Menschenhandel ist leider heutzutage noch profitabler geworden als der Drogenhandel. Aus unserer Sicht muss die Politik weiterhin in der Lage sein, im Einzelfall zwischen Flüchtlingen und kriminellen Schlepperbanden zu differenzieren. Hier fordert der Antrag der Grünen de facto eine Blankovollmacht und malt zu sehr schwarz-weiß. Wir müssen für Folgendes sorgen: Vor Ort muss geholfen werden, damit die Menschen sich nicht genötigt sehen, ihre Heimat zu verlassen. Sie brauchen Perspektiven im eigenen Land. Seit Jahresbeginn sind 57 000 Migrationsbewegungen festgestellt worden: zunächst junge, männliche Tunesier, derzeit Personen aus Libyen, Eritrea, Äthopien und dem Tschad. In über 9 000 Fällen hat Frontex Seenothilfe geleistet. Deutschland hat sich mit zwei seenotrettungstauglichen Helikoptern an der Mission beteiligt und zeitweilig auch Personal zur Identitätsfeststellung mutmaßlicher Flüchtlinge nach Lampedusa entsandt. Dieses Angebot hält die Bundesregierung aufrecht, auch wenn es zurzeit nicht abgerufen wird. Die von der Opposition genannten Kritikpunkte sind für uns nicht unbedingt an den Fakten orientiert. Das es angeblich glaubwürdige Berichte gibt, wonach Frontex durch Abdrängmanöver Schiffe zum Kentern gebracht hat, ist für uns nicht verifizierbar. Insgesamt darf die Frontex-Mission auch nicht als Allheilmittel missverstanden bzw. als Alleinverantwortlich verteufelt werden, wie in dem Antrag der Grünen leider geschehen. Frontex wird in erster Linie im Bereich des Grenzschutzes tätig. Im Rahmen des kommenden EU-Ministerrates wird allerdings eine zusätzliche Verordnung erlassen werden. Diese bildet dann die Grundlage für die Schaffung eines Menschenrechtsbeauftragten durch den Frontex/Verwaltungsrat. Auch werden durch die kommende Verordnung zahlreiche menschenrechtsrelevante Standards verbindlich. Zur Kontrolle von Frontex ist zu sagen: Hier hat das Beispiel der Grenzmission Griechenland-Türkei gezeigt: Allein die Anwesenheit und Berichterstattung deutscher Bundespolizisten führt zu einer Erhöhung von Menschenrechtsstandards im Bereich grenzpolizeilicher Maßnahmen. Die Rettung Schiffbrüchiger ist ein wichtiges Anliegen. Die Forderung der Grünen, dies jederzeit für das gesamte Mittelmeer zu leisten, ist allerdings schlichtweg unrealistisch. Lassen Sie mich zum Abschluss aufgrund der Aktualität der Libyen-Krise noch Folgendes sagen, was die Definition des Begriffes „Seenotrettung“ angeht: Aus unserer Sicht ist ein Seenotfall anzunehmen, wenn der Kapitän eines in Not geratenen Bootes oder Schiffes einen entsprechenden Notruf absetzt bzw. wenn erkennbar ist, dass sich Personen auf See in Lebensgefahr bzw. in Seenot befinden. Völkerrechtlich besteht hier für die Schifffahrt die Pflicht zur Hilfeleistung. Gesetzlich verankert ist dies im Art. 98 Abs. 1 des UN-Seerechtsübereinkommens. Im Falle von Seenot auf der hohen See ist der Kommandant eines Schiffes, das sich vor Ort befindet, verpflichtet, alles Notwendige zur Rettung von Schiffbrüchigen zu veranlassen, soweit keine unvertretbare Gefährdung eigener Kräfte besteht. Wenn er in sonstiger Weise von einem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, eilt er Personen in Seenot zu Hilfe, wenn dies vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann. Es gelten die durch die Internationale Seeschifffahrts-Organisation, IMO, festgelegten Standards auch für Kriegsschiffe. Folgendes muss aus unserer Sicht im konkreten Fall in Bezug auf Libyen beachtet werden: Ein Arbeitsübereinkommen zur Zusammenarbeit zwischen der NATO und Frontex besteht nicht. Bei den im Rahmen der Frontex eingesetzten Schiffen zur Seegrenzüberwachung handelt es sich bis dato ausschließlich um Schiffe der italienischen Behörden. Diese unterliegen in Fällen von Seenot ebenfalls dem UN-Seerechtsübereinkommen. Darüber hinaus gilt die Ergänzung des Schengener Grenzkodexes, die sogenannte Frontex Leitlinie. Diese enthält verbindliche Vorschriften für das Abfangen und den Aufgriff von Schiffen bzw. Booten sowie Leitlinien für die Durchführung von Such- und Rettungsmaßnahmen an den Seegrenzen. Neben der Beachtung der Pflicht zur Hilfeleistung auf See unterliegt Deutschland als Nichtanrainer-Staat im Mittelmeer keinen weitergehenden Pflichten zur Verbesserung der Seenotrettung. Da sich die Bundesrepublik Deutschland im Mittelmeer nicht an der NATO-Operation mit Seekriegsmitteln, Schiffen, Booten beteiligt, wurden seitens der Bundesregierung auch insoweit keine speziellen Maßnahmen initiiert. Abschließend ist daher zu sagen: Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt, dass die Koordination auf EU-Ebene funktioniert und darüber hinaus weiter verbessert wird. Die neuen Frontex-Regeln, wie etwa die Einsetzung eines Frontex-Grundrechtebeauftragten, werden in Kürze in Kraft treten. Annette Groth (DIE LINKE): Was sich seit Jahren an den Außengrenzen der Europäischen Union abspielt, ist ein moralischer Skandal. Die humanitären Katastrophen vor den Grenzen der „Festung Europa“ haben wir mit unserer Politik zu verantworten. Die „Festung Europa“ wurde unter rot-grüner Bundesregierung maßgeblich fortentwickelt und heute unter schwarz-gelber Bundesregierung weiter aufgerüstet. Diese „Festungspolitik“ hat eine legale Einreise für Migrantinnen und Migranten in die EU faktisch unmöglich gemacht. Die Politik der Abschottung zwingt Menschen, sich menschenverachtenden Schleuserbanden zuzuwenden, welche die Not der Menschen ausnutzen und sie auf seeuntüchtigen Booten zusammenpferchen. Bei der Diskussion über Schleuser dürfen wir jedoch nicht Ursache und Folgen verwechseln. Ursache der zunehmenden Schleusertätigkeiten an den EU-Außengrenzen ist die EU-Politik der Abschottung. Ich möchte daran erinnern, dass es die rot-grüne Regierung war, die Frontex maßgeblich zur heutigen Flüchtlingsabwehragentur aufgerüstet hat. Das zeigt sich auch deutlich an der Grundausrichtung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen: Ich vermisse in dem Antrag eine grundsätzliche Kritik an Frontex! Alleine in den Jahren 2009 bis 2011 liegt das Budget für die EU-Grenzschutzagentur Frontex bei jährlich etwa 88 Millionen Euro. Human Rights Watch hat in seinem kürzlich vorgelegten Bericht darauf hingewiesen, dass die Frontex-Behörde Migrantinnen und Migranten unmenschlicher und erniedrigender Behandlung aussetzt. Die Linke fordert, die Ausrichtung der Aufgaben von Frontex grundsätzlich zu verändern. Ebenfalls fehlt in dem Antrag eine scharfe Kritik an der Untätigkeit der NATO-Stellen, die das Mittelmeer lückenlos überwachen. Der Antrag greift daher in einiger Hinsicht zu kurz. Die Fraktion Die Linke unterstützt im Grundsatz eine Ausweitung der Seenotrettung. Von den Staaten der Europäischen Union fordern wir, großflächige Kapazitäten für die Rettung von Menschen im Mittelmeer zur Verfügung zu stellen. Die Argumentation, dass hierdurch der angebliche „Flüchtlingsstrom nach Europa“ zunehmen würde, ist nicht nur zynisch, sondern auch falsch. Das hat mit der Realität der Flüchtlingszahlen nichts zu tun. Im Jahr 2010 gab es etwa 44 Millionen Flüchtlinge. Das waren ungefähr 400 000 mehr als im Jahr 2009. Über 80 Prozent aller Flüchtlinge waren Binnenflüchtlinge oder Menschen, die in die direkten Nachbarländer flohen. Nur jeder fünfte Flüchtling schaffte es in die westlichen Industrieländer. 2010 lebten die meisten Flüchtlinge in Pakistan – 1,9 Millionen –, im Iran – 1,1 Millionen – und in Syrien – 1,0 Millionen –. In Deutschland leben zurzeit knapp 600 000 Flüchtlinge. Also sind es die armen Länder des Südens, die den Großteil der Flüchtlingsbewegungen aufgenommen haben! In einem neuen Positionspapier beklagt Amnesty die völlig ungenügende Bereitschaft der meisten europäischen Länder, die etwa 5 000 Flüchtlinge aufzunehmen, die aufgrund der Kämpfe aus Libyen fliehen mussten. Die Antwort der EU fiel, wie zu erwarten, bisher sehr zögerlich aus: Neben den USA, Australien und Kanada haben sich nur acht europäische Länder zur Aufnahme von insgesamt lediglich 800 Menschen bereit erklärt. Die Europäische Union baut immer höhere Mauern zur Abwehr von Flüchtlingen auf. Menschen werden ganz bewusst im Stich gelassen und müssen qualvoll im Mittelmeer ertrinken. Alleine in diesem Jahr sind mehr als 2 000 Menschen ertrunken, als sie versuchten, in die Europäische Union zu gelangen. Die Gemeinschaft der europäischen Staaten schaut hier bewusst weg. Am 20. September brach im Zuge von Protesten ein Brand in einem überfüllten Flüchtlingslager auf der italienischen Insel Lampedusa aus. Der UNHCR erklärte hierzu, der Brand sei die Folge der wachsenden Spannungen unter den Flüchtlingen, die zu lange in haftähnlichen Bedingungen in den übervollen Lagern festgehalten werden. Mehrere Hundert minderjährige unbegleitete Flüchtlinge leben zurzeit unter unzumutbaren Bedingungen auf Lampedusa, manche bereits seit über sechs Wochen. An der griechisch-türkischen Landgrenze werden aufgegriffene Migrantinnen und Migranten in völlig überfüllte, menschenunwürdige Haftzentren überstellt. Diese Bilder sollen abschrecken und Menschen davon abhalten, um Hilfe in der EU zu bitten. Diese menschenunwürdige Behandlung ist ein Armutszeugnis für Europa und seine humanitären Grundsätze! Genau hier muss eine effektive und humane Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union beginnen. Die Fraktion Die Linke fordert auch seit vielen Jahren eine solidarische Flüchtlingspolitik für die Europäische Union. Staaten, die an der Außengrenze der EU liegen, dürfen wir nicht alleine lassen. Wir wollen, dass Kapitäne und Schiffsbesatzungen verpflichtet werden, Menschen in Not zu helfen. Das internationale Recht muss so weiterentwickelt werden, dass Kapitäne, die Menschen in Seenot nicht helfen, sich für ihr Verhalten strafrechtlich verantworten müssen. Unterlassene Hilfeleistung auf See muss ein schwerwiegender Straftatbestand sein. Der im Antrag der Grünen eingebrachte Vorschlag, Schiffe, die Menschen in Seenot helfen, dafür eventuell auch zu entschädigen, ist intensiv zu prüfen. Gleichzeitig zeigt dieser Vorschlag auch die gesamte Perversität der heutigen Diskussion um die Seenotrettung auf: Menschen in Seenot werden deshalb im Stich gelassen, weil hierdurch wirtschaftliche Interessen berührt sind und eventuell zusätzliche Kosten für die Reedereien entstehen. Der Tod von Menschen auf hoher See wird also bewusst in Kauf genommen, weil hierdurch die wirtschaftlichen Gewinne von Reedereien geringer ausfallen könnten! Das ist eine wahrhaft traurige Bilanz für unsere humanitären Grundsätze. Hier müssen wir endlich umdenken und zu einer menschlicheren Politik finden. Stattdessen erleben wir sogar, dass Kapitäne, die Menschen auf See retten, wegen angeblicher Schlepperei angeklagt werden. Der Prozess gegen den ehemaligen Cap-Anamur-Vorsitzenden, Elias Bierdel, hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Auch der Fall des Fischers Zenzeri, der am 8. August 2007 auf ein kaputtes Schlauchboot mit 44 Flüchtlingen aus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien, Marokko, Togo und der Elfenbeinküste stieß, ist ein Skandal. Die Tageszeitung berichtet, dass das kaputte Boot bei schwerer See manövrierunfähig in maltesischen Hoheitsgewässern trieb. Der Fischer tat das einzig Richtige: Er entschied, dass das Boot, auf dem auch zwei Kinder, eines von ihnen behindert, und zwei schwangere Frauen waren, so schnell wie möglich an Land musste. Nachdem die Fischer SOS abgesetzt hatten, schickten die italienischen Behörden kein Boot zur Hilfe, sondern eine Patrouille der italienischen Küstenwache. Für diese Hilfe wurde dem Fischer sein Schiff abgenommen, und heute steht er vor Gericht mit einer Anklage wegen Schlepperei. Das ist unfassbar! Solche Anklagen müssen in Zukunft unmöglich sein. Die Rettung von Schiffbrüchigen muss als oberstes Ziel und verbindliche Verpflichtung in den internationalen Abkommen, aber auch in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten der EU festgeschrieben werden. Die Linke begrüßt, dass mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen die überfällige und notwendige Debatte über den Schutz von Flüchtlingen durch die Staaten der EU in Gang gekommen ist. Dieser Antrag muss jedoch weiterentwickelt werden, damit wir endlich zu einer Flüchtlingspolitik finden, die Menschen in Not und auf der Flucht nicht mehr als Last begreift. Die Hilfe für solche Menschen muss zu einem wesentlichen Bestandteil des humanitären Handelns von Staaten und Staatengemeinschaften werden. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Januar 2011 haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes 2 000 Menschen auf ihrer Flucht vor Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Armut ihr Leben im Mittelmeer verloren. In Anbetracht dieser Todesfälle ist es vollkommen unverständlich, wenn nun die Regierungsfraktionen unseren Antrag zur Seenotrettung mit der Begründung ablehnen möchten, es gebe bereits Verbesserungen, und es müsse nichts mehr getan werden. Wenn Tausende Menschen vor den Küsten Europas ertrinken, ist der Handlungsbedarf doch offensichtlich. Die Bundesregierung sollte sich in dieser humanitären Katastrophe drei zentrale Prinzipien einer menschenrechtlich vertretbaren Flüchtlingspolitik in Erinnerung rufen. Erstens. Die Rettung von Menschenleben hat oberste Priorität. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, die Seenotrettung im Mittelmeer gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu verbessern. Die Ursachen der Schiffsunglücke sind nicht auf ein lückenhaftes völkerrechtliches Regelwerk zurückzuführen, sondern vielmehr auf die mangelnde Durchsetzung der bereits bestehenden seerechtlichen Verpflichtungen. Die derzeitige Situation ist humanitär und menschenrechtlich unhaltbar. Da es kaum noch Möglichkeiten gibt, die EU auf legalem und sicherem Weg zu erreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risiken ein, um Schutz in Europa zu finden. Es muss ein sicherer Korridor geschaffen werden, der das Überleben der Flüchtlinge sichert. Europäische Maßnahmen dürfen nicht mit dem Schutz der Grenzen und dem Verbarrikadieren der „Festung Europa“ beginnen. Es geht zuallererst um den Schutz von Leib und Leben der Flüchtlinge an der Grenze. Es ist für Europa als Ganzes unwürdig, dass mit Frontex zwar eine sehr effiziente Agentur zum Schutz der Grenzen gefunden wurde, es aber keine europäische Institution gibt, die das Mittelmeer in der Frage der Seenotrettung sichert. Die Rettung von Menschenleben als oberste Priorität nicht zu erkennen, ist eine Katastrophe. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon und Deutschland mit seinem Grundgesetz können es sich nicht leisten, sehenden Auges die Menschen zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Europa muss sich entscheiden, der Tragödie zuzusehen oder zu helfen. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden uns nachfolgende Generationen zu Recht vorwerfen, dass Deutschland zwar die Menschenrechte weltweit gepredigt, beim Drama im Mittelmeer aber tatenlos zugesehen hat. Zweitens. Die Flüchtlingsfrage ist keine nationale, sondern eine europäische Angelegenheit. Die Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention betont nicht ohne Grund, dass eine befriedigende Lösung nur durch eine Zusammenarbeit der Staaten erreicht werden kann. Humanitäre Pflichten, die mit der Aufnahme von Flüchtlingen einhergehen, dürfen nicht allein den Ländern des Südens überlassen bleiben. Deutschland trägt Mitverantwortung für das, was in anderen EU-Mitgliedstaaten und was im Mittelmeer geschieht. Am 21. Januar 2011 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bedingungen in griechischen Flüchtlingslagern als menschenunwürdig und erniedrigend verurteilt. Laut Human Rights Watch tragen Frontex und beteiligte EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, eine Mitschuld an den Menschenrechtsverletzungen, da sie Flüchtlinge wissentlich menschenunwürdigen Bedingungen aussetzen. Jetzt haben auch Unionspolitiker nach ihrer Reise nach Griechenland erkannt, dass die Situation menschenrechtlich untragbar ist. Die entscheidende Frage aber bleibt, ob die Bundesregierung die richtigen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zieht. Hierzu gehört, die Aussetzung von Rückführungen nach der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland auf unbefristete Zeit zu verlängern. Außerdem sollte die Bundesregierung ihre Blockadehaltung gegenüber einem einheitlichen europäischen Asylsystem aufgeben. Gemeinsame Regeln für die Bearbeitung von Asylanträgen und einheitliche Aufnahmebedingungen sind unbedingt notwendig. 2009 lag die Wahrscheinlichkeit, dass ein Iraker Asyl erhielt, in Frankreich bei 82 Prozent, in Griechenland nur bei 2 Prozent. Insgesamt sollte für Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen eine europäische Lösung gefunden werden, die allen Menschenrechtsnormen gerecht wird. Dazu gehört auch eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas. Die Bundesregierung beruft sich immer noch auf die Dublin-II-Verordnung. Das ist für Deutschland ohne EU-Außengrenzen bequem, sieht aber keine gerechte Teilung der Verantwortung vor. Drittens sollten wieder alle Staaten eng mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Hierzu gehört die finanzielle Unterstützung seiner Arbeit, zum Beispiel bei der Bewältigung der humanitären Katastrophe am Horn von Afrika, aber auch die Aufnahme von einer bestimmten Anzahl von Flüchtlingen. Der UNHCR hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich am 15. März 2011 gebeten, die dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Libyen in Deutschland zu ermöglichen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk sucht 8 000 solcher Resettlement-Plätze für Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopien und dem Sudan. Diese können weder nach Libyen noch in ihre Heimatländer zurückkehren. Weltweit stehen bisher nur 900 Plätze zur Verfügung. Ägypten und Tunesien tragen weiterhin die Hauptverantwortung bei der Aufnahme der Flüchtlinge aus Libyen. Weniger als 1 Prozent dieser Flüchtlinge sind nach Europa gelangt. Die abschlägige Antwort der Bundesregierung ist daher besonders beschämend. Und sie steht im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention, die Staaten zur Kooperation mit dem UNHCR verpflichtet. Deutschlands Einsatz für einen demokratischen Wandel und einen besseren Schutz der Menschenrechte in Nordafrika muss auch die Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen einschließen, die durch den Konflikt in Libyen ihre Zuflucht verloren haben. Mit der Umsetzung dieser drei Prinzipien kämen wir den Grundwerten einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik ein Stück näher. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, Flüchtlinge zu retten. Europa muss sich dieser Verantwortung stellen. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zur Seenotrettung zuzustimmen. 1Anlagen 2 bis 5 2Ergebnis Seite 15236 C 3 Ergebnis Seite 15320 A 4 Ergebnis Seite 15325 D 5 Anlage 7 6 Anlage 8 7 Anlage 9 8 Anlage 10 9 Anlage 11 10Anlage 12 11Anlage 13 12Anlage 14 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 15238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15239 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 15290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15289